Undine Gruenter: Deutsche Schriftstellerin mit Ziel Paris [1 ed.] 9783737011976, 9783847111979


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Undine Gruenter: Deutsche Schriftstellerin mit Ziel Paris [1 ed.]
 9783737011976, 9783847111979

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Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten

Band 6

Herausgegeben von Monika Wolting und Paweł Piszczatowski

Stephan Wolting

Undine Gruenter Deutsche Schriftstellerin mit Ziel Paris

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Dieser Band ist peer-reviewed. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Natascha Wolting, »Place Dauphine« Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2629-0510 ISBN 978-3-7370-1197-6

Für Monika, Nana, Olo und Fabi und zum Gedenken an meine verstorbenen Eltern Emma (1926–2013) und Hanns-Wilhelm Wolting (1930–2018) und an meinen Mentor und Freund Prof. Dr. Wilhelm Gössmann (1926–2019)

Inhalt

0. Abkürzungen der Werke Gruenters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.1. Kürzel der Gespräche, Mail- und Briefwechsel . . . . . . . . . . . 0.2. Häufig benutzte Zeitungen und Abkürzungen . . . . . . . . . . .

9 9 10

1. Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

2. Einführung: Undine Gruenter, bekannte Unbekannte . . . . . . . . . 2.1. Forschungsinteresse und Grenzziehung der Untersuchung . . . .

13 15

3. Standortbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Quellensituation und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . 3.2. Versuch einer methodischen Positionierung . . . . . . . . . 3.3. Bezüge und Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Raumverfremdung: Ort, Bild und Stimmung . . . . . . . . . 3.5. Paris als Zentralmotiv des Gesamtwerks . . . . . . . . . . . . 3.6. Exkurs: Literarische Blicke fremdsprachiger Autorinnen und Autoren auf die Stadt Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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21 21 27 36 47 52

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58

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4. Zur Person Undine Gruenters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Biographie ihres Denkens und Schreibens als Poeta doctus und Femme de lettres: Literarische Orte und geistige Heimat(en) . . 4.2. Die Eltern – das ungewollte Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Der Vater: Der Literaturwissenschaftler Rainer Gruenter . 4.2.2. Die Mutter: Die Schriftstellerin Astrid Gehlhoff-Claes . . . 4.3. Gruenters Darstellung der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Der Ehemann: Der Literaturtheoretiker und Essayist Karl Heinz Bohrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Gruenters Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Stille letzte Jahre, früher Tod und lauter Nachruhm . . . . . . .

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71

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80 92 95 105 110

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114 126 135

8 5. Das Gesamtwerk Undine Gruenters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Das Frühwerk (die 80er Jahre): Auf dem Weg nach Paris . . . . . 5.1.1. Konkrete Orte und surreale Räume: Ein Bild der Unruhe (1986) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2. Poetische Warteräume: Nachtblind (1989) . . . . . . . . . . 5.2. Die mittlere Phase (die 90er Jahre): Die Pariser Zeit und die Jahre der Zentripetalkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1. Leere Räume und Menschen fremde Orte: Das gläserne Café . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Reale Pariser Straßen, Häuser und das fiktive Tarduz: Vertreibung aus dem Labyrinth (1992) . . . . . . . . . . . . 5.2.3. Textzimmer und Zeit-Raum: Epiphanien, abgeblendet . . . 5.2.4. Gruenters »Poetologie«: Der Autor als Souffleur . . . . . . . 5.3. Das Spätwerk (nach 2000): Zentrifugalkräfte von Paris über Trouville an die Marne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1. Cité des Platanes: Das Versteck des Minotaurus (2001) . . . 5.3.2. Die beiden posthum erschienenen Zentralwerke . . . . . . . 5.3.2.1. In der Normandie: Sommergäste in Trouville (2003) 5.3.2.2. Das Retreat an der Marne: Der verschlossene Garten (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Weitere posthum herausgegebene Werke . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1. »Schnappschüsse« und »Standfotos«: Pariser Libertinagen (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2. Raumwelt als »lyrisches Triptychon«: Durch den Horizont. Ein Poem (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass . . . . . . . . . . . . . 5.5.1. Lyrische Versuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1.1. Gedichtzyklen und einzelne Gedichte . . . . . . . . . 5.5.2. Vereinzelte Fragmente dramatischer Versuche . . . . . . . . 5.5.3. Unveröffentlicht gebliebene Prosa . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.4. Der Briefwechsel Undine Gruenters . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

139 139 139 159 192 192 220 247 264 272 272 304 306 330 340 340 345 358 360 362 374 380 383

6. »Nie war ich irgendwo so zu Hause.« Ziel Paris als »kulturelles Anderswo« und »literarischer Echoraum« . . . . . . . . . . . . . . . .

395

7. Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

405

0.

Abkürzungen der Werke Gruenters

AS BU DH EA GC NB PL ST VG VL VM

Der Autor als Souffleur Ein Bild der Unruhe Durch den Horizont. Ein Poem Epiphanien, abgeblendet Das gläserne Café Nachtblind Pariser Libertinagen Sommergäste in Trouville Der verschlossene Garten Vertreibung aus dem Labyrinth Das Versteck des Minotaurus

DLA

Deutsches Literaturarchiv Marbach, unter: A: Gruenter, Undine. HS 2008.0001, fortan zitiert unter DLA, A: Gruenter, Undine: HS 2008.0001, Kleine Prosa, Briefe von ihr, Briefe an sie o. ä.

0.1. Kürzel der Gespräche, Mail- und Briefwechsel Betz, Albrecht, Prof. Dr. (Korbach, Paris, vormals Aachen): Briefwechsel, Mailwechsel, Telefongespräche (u. a. am 22. 12. 2018), persönliche Gespräche am 25. 01. 2019 in Berlin und am 21. und 22. 07. 2019 mit Frau Ariadne Betz in Korbach, Gespräche zwischen dem 14. und 17. 10. 2019 in Wrocław/Breslau Bohrer, Karl Heinz, Prof. Dr. (London, vormals Paris und Bielefeld): Briefwechsel, Telefongespräche, persönliche Gespräche (vor allem am 02. 06. 2017 in London) Bollmann, Stefan, Dr. (C.H. Beck-Verlag, München, vormals Paris und Düsseldorf): Telefongespräch am 19. 10. 2018, Mailwechsel Brock, Bazon, Prof. Dr. Dr. (Denkerei, Berlin, vormals Wuppertal): persönliche Gespräche am 02. 11. 2018 und am 15. 01. 2019 in der Denkerei Berlin, zwischen dem 26. und 29. 10. 2019 in Wrocław/Breslau, anlässlich des Vortrags des Verfassers in der Denkerei am 02. 04. 2019, Mailwechsel

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Abkürzungen der Werke Gruenters

Delarbre, Jean-Gilbert (Deutschlehrer und Übersetzer, Paris): mehrere Gespräche zwischen 2015 und 2019 in Paris, Berlin und Wrocław/Breslau, Mailwechsel, Telefongespräche Herweg, Nicole, Dr. (Deutsches Literaturarchiv Marbach): Mailwechsel Hugi, Anita (Regisseurin, Paris, vormals Zürich und Montreal): persönliche Gespräche, vor allem am 24. 07. 2018 in Paris und am 02. 04. 2019 in Berlin, Mailwechsel, SkypeGespräche Kalisky, Mechthild (Bildhauerin, Paris): Briefwechsel, vor allem Brief vom 24. 01. 2019 Kinder, Anna, Dr. (Leiterin Referat Forschung, Deutsches Literaturarchiv Marbach): Mailwechsel Kehrein, Bruno (Verleger, Grupello-Verlag Düsseldorf): persönliches Gespräch am 09. 11. 2018 in Düsseldorf), Mailwechsel Köhler, Andrea (Literaturkritikerin, Autorin, NZZ, DIE ZEIT, Berlin): Gespräch am 14. 10. 2018 in Berlin-Steglitz, Mailwechsel Krüger, Michael (Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, vormals Hanser-Verlag, München): Telefongespräch am 19. 09. 2017, Mailwechsel Matz, Wolfgang, Dr. (Lektorat, Hanser-Verlag, München): Mailwechsel, Telefongespräche am 22. 02. 2019 und am 05. 04. 2019 Nothnagel, Barbara und Manfred (Neubrück/Niederrhein): Gespräch am 11. 07. 2017 in der Neubrücker Mühle/Niederrhein, Mailwechsel Oehler, Dolf, Prof. Dr. und Oehler-Sebastian, Ulrike (Bonn): Briefwechsel, Gespräch am 30. 08. 2018 in Bonn Schwindt, Jürgen Paul, Prof. Dr. (Heidelberg): mehrere persönliche Gespräche, vor allem am 28. 06. 2017 und 12. 06. 2019 in Berlin, Mailwechsel Westerwelle, Karin, Prof. Dr. (Münster): Telefongespräch am 16. 10. 2018, Mailwechsel

0.2. Häufig benutzte Zeitungen und Abkürzungen DER SPIEGEL DIE ZEIT FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) FR (Frankfurter Rundschau) NZZ (Neue Züricher Zeitung) RP (Rheinische Post) SZ (Süddeutsche Zeitung) WZ (Westdeutsche Zeitung)

1.

Vorwort und Dank

Man lebt eingeschlossen im Reich der Erinnerung, der Zwangsvorstellung. Man sagt: als ich dich sah […] als du neben mir gingst [ …] als wir in einem Raum voller Fremder, aber unter einem Dach standen, entfernt voneinander und doch nichts eindringlicher spürend als die süße Gegenwart, die alles verschlingende […] so sagt man zu sich und bleibt verwüstet zurück nach jeder neuen Welle der Erinnerung, nach jeder Klage, die ohne Echo bleibt. Man sagt, ich werde sterben daran. (AS, 64)

Diese Arbeit wäre ohne fremde Hilfe niemals vollendet worden. Neben den vielen Ungenannten, denen hier pauschal gedankt sein soll, möchte ich vor allem einigen Personen des ehemaligen Um- bzw. Bekanntenkreises von Undine Gruenter danken, die sich bereitwillig zu Auskünften für diese Arbeit zur Verfügung stellten, sowie darüber hinaus anderen, die nicht zur Entourage Gruenters gehörten, aber weiterführende Hinweise lieferten. In erster Linie gilt mein Dank Prof. Dr. Albrecht Betz und seiner Frau Ariadne Betz (Korbach/Paris), Dr. Stefan Bollmann (München), Prof. Dr. Dr. Bazon Brock (Berlin), Jean Jacques Delarbre (Paris), Prof. Dr. Wilhelm Gössmann (✝, Düsseldorf), Anita Hugi (Zürich, Montreal, Paris), Mechthild Kalisky (Paris), Bruno Kehrein (✝, Düsseldorf), Andrea Köhler (Paris, New York, Berlin), Michael Krüger (München), Prof. Dr. Melanie Möller (Berlin), Dr. Wolfgang Matz (München), Barbara und Manfred Nothnagel (Mühle, Neubrück bei Grevenbroich/Niederrhein), Prof. Dr. Dolf Oehler und Ulrike Oehler (Bonn), Dr. Monika Salmen (Wuppertal/Düsseldorf), Prof. Dr. Jürgen Paul Schwindt (Heidelberg), Prof. Dr. Karin Westerwelle (Paderborn) und insbesondere Prof. Dr. Karl Heinz Bohrer (London), der durch das persönliche Gespräch, aber auch durch wichtige Hinweise brieflicher Art, ganz maßgeblich zum Zustandekommen dieser Arbeit beigetragen hat. Zu Dank verpflichtet bin ich darüber hinaus den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Außerdem möchte ich dem Institut der Angewandten Linguistik und der Neuphilologischen Fakultät und dem Rektor meiner Universität für die finanzielle Unterstützung dieser Arbeit, meiner Hochschule, der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´, für die Forschungsfreisemester Wintersemester 2016/2017 und Sommersemester 2017 und last, but not least meiner Ehefrau Prof. Dr. Monika Wolting für ihre fachliche Beratung und moralische Unterstützung danken sowie meinen Kindern Natascha, Alexander und Fabian, deren Wohlwollen und Geduld mir diese Arbeit ermöglicht haben. Des Weiteren sei gedankt: Prof. Thomas Anz (Marburg), Lucas Cejpek (Wien), Christian Döring (Paris), Dr. Marion Gees (Chemnitz), Iris Radisch (Hamburg),

12

Vorwort und Dank

Urban Saxer (Basel), Annette Schlünz (Kehl), Dr. Gustav Seibt (Berlin) und Dr. Rainer Weiss (Frankfurt/M.). Poznan´/Berlin, im September 2020

2.

Einführung: Undine Gruenter, bekannte Unbekannte Unbeweglichkeit – das ist das Zauberwort, das geheime Zentrum, um das mein Schreiben kreist. (AS, 47)

Im Mittelpunkt dieser Studie steht das literarische Werk einer zu Lebzeiten in der Öffentlichkeit eher mäßig bekannten, von der Kritik aber zum großen Teil hochgelobten Autorin1, das in der einschlägigen Forschung bislang nicht zum Gegenstand einer Monographie gemacht worden ist. Undine Gruenter gilt nach wie vor als »große bekannte Unbekannte«2 innerhalb der deutschsprachigen, vielleicht europäischen Literatur: Unbekannt, weil ihr Werk bis heute einem größeren Lesepublikum relativ verschlossen geblieben und ihr Name selbst Germanistinnen und Germanisten nicht unbedingt geläufig ist, und bekannt, weil sie mit vielen Größen des öffentlichen Literaturbetriebs der Bundesrepublik Deutschland in Kontakt stand3 und darüber hinaus Rezensionen ihrer Werke in allen bekannten bundesrepublikanischen Tages- oder Wochenzeitungen erschienen. So sendete der Fernsehsender WDR 3 bereits 1987 einen kurzen Beitrag über sie und ihren ersten Roman »Ein Bild der Unruhe« innerhalb der Reportage »Stadtaugen«4; danach wurde es viele Jahre wieder »still« um Undine Gruenter. 1 Reich-Ranicki spricht davon, dass die Literaturkritik der 1980er und 1990er Jahre über sie »respektvoll und wohlwollend« geurteilt hätte, aber dass die Autorin diese Kritik und Kritiker etwas »ratlos« zurückgelassen hätte. Vgl. Reich-Ranicki: Das künstliche Paradies. Undine Gruenters letzter Roman »Der verschlossene Garten«. In: DER SPIEGEL 11/2004, 08. 03. 2004. Vgl. auch Bohrer (2017), 433, wo er darauf verweist, dass das Werk nach Neuausgabe des Romans »Das Versteck des Minotaurus« auf der Spitzenposition der Bestenliste des Südwestfunks (SWR) stand. 2 So lautete die Ankündigung eines Filmessays der Schweizer Regisseurin Anita Hugi über siehe: http://www.anitahugi.net/journalismus/freie-publikationen-seit-2005/undine-gruenter-dasprojekt-der-liebe-le-projet-daimer-film-52-min/. 3 Um 1994 (nicht exakt datiert) schickt sie ein Foto ihrer Lektüren mit dem Titel »Jeune Paroles« von Serge Reggiani an Siegfried Unseld, »dem Leiter des Suhrkamp-Verlags gewidmet« mit der Bemerkung: »[…] für Siegfried Unseld, von Undine Gruenter, die nicht mehr weiß, ob Goethes Gartenhaus noch steht. Im Sommer fährt sie nach Weimar, wo sie als Kind spazieren ging.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr) 4 Im Übrigen beinhaltet dieser Film, der 1987, etwa zeitgleich mit der Verleihung des einzigen Preises Gruenters entsteht, des Förderpreises des Landes Nordrhein-Westfalen, das einzige

14

Einführung: Undine Gruenter, bekannte Unbekannte

Außer in der ZDF-Sendung »Das literarische Quartett«, worauf an anderer Stelle zurück zu kommen sein wird, fand sie erst in den letzten Jahren wieder vereinzelt mediale Aufmerksamkeit: Am 27. 12. 2015 widmete ihr der Schweizer Sender SRF einen Abend mit dem oben genannten Filmessay unter dem Titel »Das Projekt der Liebe«5, der am 06. 01. 2019 auf 3SAT gezeigt wurde. In der gleichfalls vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlten Sendung »Literaturclub« vom 22. 12. 2015 wurde Gruenters Werk von der Moderatorin Nicola Steiner zur Weihnachtslektüre empfohlen. Es mutet wie eine Reaktion auf die sich in jüngster Zeit abzeichnende kleine mediale Renaissance, besser Entdeckung Gruenters an, dass 2016 eine unkommentierte Neuauflage von »Der Autor als Souffleur« (zuerst erschienen 1995) bei Suhrkamp erschien. Überhaupt sind alle ihre Werke fast ausschließlich bei anspruchsvoll bis renommiert zu nennenden Verlagen wie Hanser, Suhrkamp, Fischer6 oder im Berliner Taschenbuch Verlag veröffentlicht worden. Ansonsten hat Gruenters Werk noch auf eine andere Weise in jüngerer Zeit Resonanz gefunden. Im Juni 2018 wurde im Deutschen Literaturarchiv Marbach eine große Ausstellung »Die Erfindung von Paris« (13. 06. 2018–31. 03. 2019) aus Sicht der deutschsprachigen Literatur veranstaltet, innerhalb derer einige Exponate Undine Gruenters ausgestellt wurden wie das Manuskript von Gruenters Roman »Das Versteck des Minotaurus« aus dem Jahr 2000, eine Manuskriptseite von »Durch den Horizont« oder eine Aktenmappe von Gedichten Gruenters mit einem Foto ihres Pariser Arbeitsplatzes u. ä. (Brogi/Strittmatter 2018, Köhler 2018). Im Zusammenhang mit dieser Ausstellung wurde ihr am 13. 12. 2018 innerhalb der Veranstaltungsreihe »Zeitkapsel« (Veranstaltung Nr. 53, »Pariser Libertinagen«), ein Abend im Humboldtsaal des Deutschen Literaturarchivs Marbach gewidmet, auf dem die Autorin, Journalistin und Gruenterfreundin Andrea Köhler mit dem ehemaligen Gruenterlektor Wolfgang Matz vom Hanser»Interview« mit Undine Gruenter. Sie wird dort als die »junge Autorin Undine Gruenter« eingeführt. Die Journalistin Barbara Maria Vahl plante 1994 noch ein Autorinnenportrait für den WDR Hörfunk, was aber nicht realisiert wird. 5 Bei diesem Titel handelt es sich um ein Gruenter-Zitat: AS, 41. Der Film ist Teil der zweiten Filmreihe zu Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts (Sternstunde Kunst: Cherchez les femmes), der vorwiegend international bekannten Schriftstellerinnen gewidmet ist. Er wurde mit dem renommierten Literaturfilmpreis LiteraturVision der Landeshauptstadt München ausgezeichnet und feierte im Wettbewerb des 34. Kunstfilmfestivals FIFA (Montreal, Canada) internationale Premiere. Darüber hinaus wurde er in Anwesenheit der Regisseurin am Freitag, dem 04. 05. 2018, am Goethe-Institut Paris sowie am 02. 04. 2019 in der Denkerei in Berlin gezeigt, innerhalb einer Veranstaltung unter dem Titel »Der Himmel erhalte mir das bisschen Humanität« – weibliche Personen als verschwiegene Träger des Humanismus. Die Präsentation war mit einem Vortrag des Verfassers: Die »große bekannte Unbekannte« der europäischen Literatur – zum Zusammenhang von ästhetischer und biographischer Maske in Leben und Werk der Schriftstellerin Undine Gruenter (1952–2002) verbunden. 6 Dort erscheint im Januar 1994 die Taschenbuchausgabe von »Das gläserne Café«.

Forschungsinteresse und Grenzziehung der Untersuchung

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Verlag über den Bestand des Gruenter-Nachlasses im Deutschen Literaturarchiv Marbach diskutierte. Tragischerweise hat Undine Gruenter ihre Nobilitierung innerhalb der literarischen Öffentlichkeit durch den dann doch noch einsetzenden »Publikumserfolg«7, insbesondere in Form ihrer beiden letzten, posthum erschienenen Werke, nicht mehr miterleben können, wenngleich ihr Ehemann Karl Heinz Bohrer darauf verweist, dass sie bereits mit ihrem ersten Buch »Ein Bild der Unruhe« die Literaturkritik in Deutschland auf sich aufmerksam gemacht habe, dass zudem die Erzählung »Nachtblind« »ihr viel Kritikerbeifall eingebracht«, während der Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« »distanziertere Reaktionen« hervorgerufen habe.8 (Bohrer 2017, 379) Gleichwohl bloggt Ricarda Gleichauf noch im Jahre 2016, dass Undine Gruenter quasi in Vergessenheit geraten sei.9 Die Intention des Verfassers dieser Abhandlung bestand darin, diesem Umstand abzuhelfen und so einem möglichen Vergessen der Autorin entgegen zu wirken.

2.1. Forschungsinteresse und Grenzziehung der Untersuchung Insofern stellt diese Arbeit den Versuch der kritischen Würdigung einer Schriftstellerin dar, deren Werk innerhalb der deutschsprachigen »Gegenwartsliteratur« so singulär wie ungewöhnlich zugleich ist und deren literarische Qualität über jeden Zweifel erhaben zu sein scheint. Das Forschungsinteresse konzentriert sich auf die Darstellung der Spannung des Motivs von Paris als »kulturellem Anderswo« und »literarischem Echoraum«, wovon sich der Verfasser im hermeneutischen Sinne einen angemessenen Zugang zum Werk der Autorin versprach. Unteraspekte bilden dabei Phänomene und Kategorien wie 7 Das ist relativ im Vergleich mit den anderen Werken Gruenters zu verstehen, weshalb es hier in Anführungszeichen gesetzt wurde. In einem absoluten Sinne, selbst im Verhältnis anderer Autorinnen und Autoren, lässt sich, was die Verkaufszahlen betrifft, nicht von einem Publikumserfolg sprechen. 8 Gleicher Auffassung sind Köhler, die das Werk trotzdem für einen guten Roman hält, und Matz während des angeführten Gesprächs im Literaturarchiv Marbach. Köhler geht so weit zu behaupten, dass dies damit zusammenhängen könnte, dass Gruenter sich einem »realistischen, psychologischen oder authentischen Schreiben, wie es damals populär war, verweigert habe«. 9 Vgl. Gleichauf (2016): »Undine Gruenter ist heute praktisch in Vergessenheit geraten. Dabei hat die früh verstorbene Schriftstellerin in ihrem Schreiben etwas versucht, was alle Zeiten überdauern müsste: Die Welt über die ›Beschreibung ihrer Reste‹ zu verstehen« [Hervorhebung SW]. Aus dem, was übriggeblieben ist, sei es von der Liebe oder nach dem Tod, ist das herauszulesen, was vielleicht die Essenz menschlicher Beziehungen darstellt.« Köhler hatte in einem Nachruf in DIE ZEIT vom 08. 10. 2002 von den »zerbrechlichen Resten des Glücks« geschrieben.

16

Einführung: Undine Gruenter, bekannte Unbekannte

Bild, Fremde, Stimmung, Motiv oder Topos10 und der vielsagende Hinweis der Autorin selbst auf die Funktion ihrer Literatur als »Selbstmaskierung«. Das Ausweisen der literarischen Qualität der Autorin bei gleichzeitiger kritischer Würdigung des Paris- Motivs in ihrem Werk, gipfelt in der Frage, inwieweit der (fremd-) kulturelle Background der Schriftstellerin und die potenzierte Fremdheit der literarischen Darstellung sich reziprok beeinflusst und befruchtet haben, eingedenk ihrer an Oscar Wilde angelehnten Position, dass »sie die Kunst nachahmen werde« (AS, 403) und nicht umgekehrt. Diesbezüglich liegt der Fokus der Untersuchung auf dem Gesamtwerk, was nicht unbedingt als schiere Selbstverständlichkeit zu verstehen ist, dem in diesem Zusammenhang aber deshalb explizit der besondere Fokus gilt, weil sie sich als Schriftstellerin und Künstlerin in der Tradition einer »surrealistischen Avantgarde« verstand11, innerhalb derer das künstlerische Oeuvre absolut im Mittelpunkt zu stehen hat. Eigene Betrachtung verdient von daher die »Spaltung von Ich und Text« (AS, 145) oder der Unterschied zwischen dem »textexternen Schriftsteller-Künstler und der sich im Text niederschlagenden SchriftstellerPersönlichkeit.«12 Gruenter betont nicht nur einmal, dass für sie »jeder Mißbrauch der Kunst als Instrument sei′s idealistischer, sozialistischer oder allgemein humanistischer Programme suspekt und anzulehnen sei«13 (AS, 191) Gemäß dessen sind stilistische nicht mit psychologischen Interpretationskategorien zu vermischen. An anderer Stelle unterstreicht sie, dass »ihre (fanatische) Weltanschauung […] vor allem die Kunst und Künstler« (AS, 344) meint, »Wissenschaft und Wissenschaftsbetrieb« für sie »von geringerem Interesse« wären. Sie lässt in diesem Zusammenhang »keinen Zweifel daran«, dass sie »der Kunst […] einen höheren Rang einräumte«. (AS, 345) Davon nicht unberührt blieb ihre Wahl von Paris als Lebensmittelpunkt und Schaffensort14, der 10 Suchort ist die deutsche Entsprechung des Begriffs Topos wie Aristoteles diesen zum Teil verstand. 11 Bemerkenswerterweise lässt sich eine solche Tradition in der deutschsprachigen Literatur ansonsten kaum feststellen, von ganz wenigen Ausnahmen wie Unica Zürn (1916–1970) abgesehen, wenn man Kafka nicht so labeln möchte. 12 Vinokur (1921), zit. nach Wolf (2009), 190. 13 Zugleich wehrt sie sich an dieser Stelle aber zugleich gegen einen l’art pour l’art-Begriff, wo sie schreibt: »Andererseits: Was ich von der Inkommensurabilität der Kunst erwarte, ist der Widerstand gegen jene gesellschaftlichen Normierungen und Prozesse, die jeweils bestimmte Seiten des Menschen unterdrücken. Es geht mir also nicht um den Widerstand der Kunst als l’art pour l’art, sondern letzten Endes um den moralischen, um eine Anti-Moral, die nicht moralisch ist, sondern sich (von mir aus im moralischen Gewand des Bösen) gegen die normierte Moral der Allgemeinheit richtet und insofern eine tiefere, eigentlichere, menschlichere Moral ist.« (AS, 191) 14 Vgl. Amthor (2008), 278: »Denn Kunst und Wirklichkeit, Vergangenes und Gegenwärtiges, Traum und Realität bilden in Gruenters Texten ein poetisches Amalgam, für das Paris die Folie abgibt. In dieser Stadt ist jedes Zeichen mit poetischer Energie aufgeladen […].« Mit

Forschungsinteresse und Grenzziehung der Untersuchung

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»Hauptstadt der Dichter« (Köhler 1995), »die für seine Schriftsteller immer mehr ist als eine Stadt« war, nämlich »Lebensform und das Nationaltheater, auf dem die französische Kultur aufgeführt wird.« (Radisch 2017, 38f.15) Der Aufenthalt in der französischen Metropole verhalf ihr dazu, eine Art »ästhetischer Existenz« in Übereinstimmung von Werk und Leben zu führen, darin – wenngleich weniger expressiv – den von ihr begeistert rezipierten Surrealisten um André Breton, Louis Aragon oder Paul Eluard ähnlich. Dazu lässt sich zunächst ganz banal festhalten, dass fast alle ihre Werke in Frankreich spielen, vorwiegend in Paris. Es ist verschiedentlich die zugleich wichtige wie hypothetische Frage gestellt worden, ob das Werk Undine Gruenters ohne Paris oder Frankreich überhaupt denkbar sei.16 Oehler macht geltend, dass »nach Paris aufbrechen […] von jeher, eine Künstler- oder Schriftstellerexistenz entweder erobern oder sichern und ausbauen« bedeutete. (Oehler 1988, 513) Man setzte sich mit seiner ganzen Existenz dieser Stadt aus. Insofern passt es dazu, wenn Köhler in dem Film von Hugi bekräftigt, dass sie selten jemanden gekannt habe, der so »existentiell das Leben einer Schriftstellerin« im Sinne der Verbindung von Leben und Werk geführt habe wie Undine Gruenter. Zugleich muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Autorin nicht gerne öffentlich über sich und ihr Leben sprach, dafür umso lieber über ihr Werk oder die Werke anderer.17 Es mag mitunter erstaunlich anmuten, dass zu Gruenters Lebzeiten gerade mal sieben ihrer Werke veröffentlicht wurden, vier sind posthum erschienen (darunter die Hauptwerke »Sommergäste in Trouville« und »Der verschlossene Garten«). Grundlage dieser Betrachtung sind neben den veröffentlichten Werken unveröffentlichte Dokumente, epische wie lyrische Werke, aber auch dramatische Versuche, die im Jahre 2008 aus dem Privatbesitz ihres Ehemanns Karl Heinz Bohrer in den Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach gelangten. Innerhalb der vorliegenden Studie ist versucht worden, den Bestand des Werks so vollständig wie möglich zu erfassen. Trotz noch so genauer und umfassender Recherche kann der Anspruch auf Vollständigkeit aber nicht

dem Fokus auf die Vagabundenfiguren im Werk Gruenters stellt sie weiter hinaus: »[…] Ziel dieses Spuren-los vagabundierenden Lebens ist das Erreichen eines anderen Zustands«. (2008, 69) (Vgl. hierzu: »die Verwandlung der Orte«, in: VL, 168f. oder: »Die Verwandlung der Dinge in magische Augenblicke […]«, in: VL, 253. Vgl. auch AS, 33f.) 15 Mit Radisch, die von ihrem Werk ebenfalls sehr begeistert ist und es eine »Rhetorik des Herzens« nennt, verbindet Gruenter ein Briefwechsel von April bis Oktober 1997, wo es um ein Interview geht. (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie) 16 Diese Frage stellt Matz in jenem Gespräch mit Köhler. 17 Aus ihrem Bekanntenkreis erfuhr der Verfasser, dass Gruenter beispielsweise mit Köhler einmal stundenlang über Virginias Woolfs Roman »Orlando. Eine Biographie« (zuerst erschienen 1928) gesprochen hätte.

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Einführung: Undine Gruenter, bekannte Unbekannte

völlig eingelöst werden. In Briefen an Christian Döring18, Siegfried Unseld und Thomas Ahrend, dem Nachfolger von Döring bei Suhrkamp, vom 13. 02. 1995, 15. 05. 1996 und 11. 10. 1999 wird beispielsweise deutlich, dass Gruenter ein Manuskript lyrischer Texte in zwei Teilbänden mit den Titel »Panoramen« und »Topographien« einreichte, wovon einige separat in den Dokumenten auftauchen.19 Im Brief an Döring vom 13. 02. 1995 legt sie ihre damalige Auseinandersetzung mit der »künstlerischen Darstellung von Gewalt« offen: »Die Auseinandersetzung mit der literarischen (künstlerischen) Darstellung von Gewalt spielte eine Rolle, die Auseinandersetzung mit Peter Weiß, de Sade, Francis Bacon, Bataille, und die Frage nach dem Stil der Evokation und nicht von Zukleistern in der Benennung/Beschreibung. Es gibt auch interessante Passagen in Susan Sontags Essay zum Gewaltthema. Theater der Grausamkeit und die Abgrenzung von (faschistoider) Heroisierung von Gewalt. Die Gratwanderung, wann die Darstellung von Gewalt umkippt in deren Affirmation ist auch ein Thema von Bohrer, der die Tabuzone, in der Gewalt immer schon aus der kritischen Distanz zu bearbeiten ist, immer wieder untersucht hat – am Beispiel auch von Filmen wie Deer Hunter, Clockwerk Orange und Jubilee, nicht zuletzt auch an angelsächsischer und französischer Dekadenz. (Apropos: sowohl Bohrer als auch ich sind nicht nur von Kritikern, sondern auch von Freunden immer wieder wegen dieser Thematik angegriffen worden, übrigens bleibt es auch nach Habermas Urteil bei Bataille eine Faszination durch die Gewalt – in Der philosophische Diskurs der Moderne).« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr)

18 Mit Döring führt sie von 1992–1996 einen äußerst intensiven Briefwechsel, was ihr Werk betrifft. Im Archiv befinden sich mehr als dreißig Briefe. In diesem Briefen zeigt sich von Dörings Seite eine fast hymnische Verehrung, was das Werk »Der Autor als Souffleur« betrifft, wo er schreibt: »Sie haben mir einen wahren Schatz, ein Manuskript vollgefüllt mit sinnenreichen Beobachtungen, reflektierenden Selbstverständigungen und sich fortsprechenden Lektüren hinterlassen.« (Brief vom 10. 12. 1993) Zugleich lehnt er aber auch an einer anderen Stelle die oben angeführten Werke ab. (Brief vom 19. 05. 1996, unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie) 19 Für Gruenter spielten die beiden Bände eine wichtige Rolle, wenngleich sie nicht gedruckt wurden: »Die beiden Bände (Topographien und Panoramen) sind aufeinander bezogen komponiert. Der erste Band bestand ursprünglich aus ca. 130 Gedichten, Anfang der 80er Jahre geschrieben und von mehreren Zeitschriften abgelehnt, Vorabdrucke. 92/93 brachte ich ihn in die vorliegende Form. 1983 wandte ich mich dann dem Bild der Unruhe zu, wie Sie sehen, entspringt die Mentalität derselben geistigen Epoche.« Im Gespräch vertrat Brock die Ansicht, dass es sich hierbei um ein an der Bergischen Universität begonnenes Projekt der Panoramisten unter dem gleichnamigen Titel gehandelt hätte. Gruenter war in ihrer »Wuppertaler Zeit« zeitweilig Hörerin der Vorlesungen des emeritierten Professors für Ästhetik und Kulturvermittlung Bazon Brock an der Bergischen Universität Wuppertal. Des Weiteren ist darüber spekuliert worden, ob es einen Roman mit dem Titel »Vergessen« gegeben hat. Es gibt Anzeichen dafür, dass Undine Gruenter vor allem zur Zeit ihrer Krankheit einige ihrer Werke zerstört hat. Zugleich ist davon auszugehen, dass sie relativ viel geschrieben, aber im Verhältnis dazu wenig veröffentlicht hat. »Schreiben« war für sie ihre Lebenshaltung, worauf Köhler wie Matz im Gespräch im Deutschen Literaturarchiv verweisen.

Forschungsinteresse und Grenzziehung der Untersuchung

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Gruenter bezeichnet in diesem Zusammenhang ihre »Arbeit als ein Abfragen bestimmter Kategorien der Moderne« und hierzu gehöre für sie die Kategorie der Zerstörung, wozu sie sich u. a. auf Tapies, Benjamin20 und als Gegenmodell zum Erhabenen auf Bohrer bezieht21, was sie selbst »das Sublime« nennt. Insofern scheint gerade in Hinblick auf die Begrifflichkeit und intertextuelle Voraussetzungen eine Standortbestimmung ihres Werks vonnöten.

20 In: Walter Benjamin: Der destruktive Charakter. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. (1920–1940). Hg. von Siegfried Unseld. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010. 21 In gewissem Sinne hat das Erhabene durchaus mit dem hier behandelten Themenkomplex Berührungen, weil es die »äußerste Steigerung einer ästhetischen Wirkung« bezeichnet und sich somit mit Grenzphänomenen auseinandersetzt. Nach Jahrzehnten der Vergessenheit geht man von der poststrukturalistischen Wiederentdeckung des Erhabenen aus. Von daher war für Bohrer Lyotard ein wichtiger Autor, der das Erhabene als ein Ereignis, das gewohnte Ordnungen des Darstellens oder des Diskurses durchbricht und durch einen fundamentalen, unauflösbaren Widerstreit charakterisiert ist, was für Bohrer in Bezug auf Lyotards Aufsatz durchaus mit dem Schrecken zu denken war. (Vgl. Bohrer: Kurt Scheel. Eine Erinnerung. In: Merkur 1. 10. 2018. Vgl. auch: Jean Francois Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Wien: Passagen 42014, 117ff. (zuerst 1989)

3.

Standortbestimmung

3.1. Quellensituation und Forschungsstand Das Deutsche Literaturarchiv Marbach besitzt in der Handschriftensammlung zwölf Kästen zu Gruenter (davon ein Kasten fein geordnet und elf Kästen geordnet, 92 Mappen22): Darunter befinden sich Manuskripte und Typoskripte von unveröffentlichten Gedichten (Sammlungen und Konvolute, insgesamt 11 Mappen) von unveröffentlichten oder posthum veröffentlichten Epen (neun Mappen), Handschriften und Typoskripte von dramatischen Werken, 14 Mappen), Originalhandschriften veröffentlichter Prosa sowie Typoskripte unveröffentlichter Prosa (55 Mappen), eine Rezension (eine Mappe), ein Konvolut verschiedener unveröffentlichter Entwürfe (eine Mappe) dazu eine Abschrift des Chansons von Edith Piaf »L’accordeoniste« (eine Mappe). Dazu liegen Originalbriefe an Gruenter (von ca. 60 verschiedenen Absendern) und 18 Briefe von Gruenter an diverse Adressaten im Archiv vor.23 Konkret befinden sich im Marbacher Nachlass die Manu- und Typoskripte ihres schriftstellerischen Werks, u. a. von »Ein Bild der Unruhe« (Roman, erschienen 1986), »Nachtblind« (Erzählungen, herausgegeben 1989), »Das gläserne Café« (Erzählungen, herausgegeben 1991), »Vertreibung aus dem Labyrinth« (Roman, herausgegeben 1992), »Das Versteck des Minotaurus« (Roman, herausgegeben 2001), »Sommergäste in Trouville« (Erzählungen, posthum herausgegeben 200324) und »Der verschlossene Garten« (Roman, posthum herausgegeben 2004). Daneben ist ein beträchtlicher Teil ihrer Korrespondenz mit 22 Viele davon in den für Frankreich markanten »Clairefontaine Collegeblocks«. 23 Im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek finden sich zwei Einträge und 27 Positionen (davon 26 am Standort Leipzig und 23 am Standort Frankfurt/M.). Dabei handelt es sich ausschließlich um Ausgaben ihrer Werke, nicht um Sekundärliteratur zu dem Oeuvre bzw. zu einzelnen Erzählungen. 24 Matz weist in dem mehrfach angeführten Gespräch im Literaturarchiv Marbach darauf hin, dass das Werk inm strengen Sinne nicht als posthum bezeichnet werden kann, da es bereits vor Gruenters Tod komplett abgeschlossen war und dem Verlag vorlag.

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Standortbestimmung

Verlagen wie Hanser, Suhrkamp, Insel sowie Kiepenheuer&Witsch, wie zugleich Briefwechsel mit bedeutenden öffentlichen Personen des Literaturbetriebs der Bundesrepublik Deutschland25 im Archiv hinterlegt, u. a. mit Marcel Reich-Ranicki zu der Zeit, als er sich für den Literaturteil der FAZ verantwortlich zeichnete26, aber auch mit anderen Fernseh- bzw. Radiojournalisten, Verlegern, Literaturkritikern oder Universitätsprofessoren, dagegen kaum mit anderen Autorinnen oder Autoren (vgl. Kap. 5.5.3.), die sie im übrigen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht las. Die neben den lyrischen Versuchen unveröffentlichten dramatischen Werke aus dem Nachlass finden sich nur in kurzen, unabgeschlossenen Fragmenten. Nur einige wenige ihrer Texte sind in andere Sprachen übersetzt worden (siehe Bibliografie). Es existieren französische Übersetzungen der Erzählbände »Nachtblind« und »Sommergäste in Trouville«, des Romans »Der verschlossene Garten« (vgl. Schneider 2004) sowie jeweils eine französische und russische des Werks »Das Versteck des Minotaurus.«27 Der Verleger Michael Krüger stellt den Kontakt zu dem bekannten amerikanischen Übersetzer Richard Sauder aus Maryland her, der zwei ihrer Erzählungen ins Englische überträgt.28 Polnische Übersetzungen liegen bis heute, außer in Ansätzen von Dorota Stroin´ska29, nicht vor. International scheint die Autorin so bekannt unbekannt zu sein wie sie es zu Lebzeiten und zur Zeit ihres Todes war.30 Es ließe sich hier noch anmerken, dass 25 Wie z. B. ihre Korrespondenz mit Michael Krüger dokumentiert, dem sie den Text »Neue Adresse« in »Pariser Libertinagen« widmet, ab 1986 literarischer Leiter des Hanser-Verlags und ab 1995 Geschäftsführer und Herausgeber der »Akzente«. Es wirkt dabei immer wieder von Neuem frappant, wie persönlich Gruenter trotz ihrer Vorbehalte gegen alles »Private« sowohl in »Der Autor als Souffleur« wie in »Pariser Libertinage« zum Teil in Bezug auf Familie oder Freundes- bzw. Bekanntenkreis wird. Krüger wird sowohl von Gruenter als auch von Bohrer (2017) in den »autobiographischen« oder »pseudoautobiographischen« Schriften ausgiebig gewürdigt. Er wird von Bohrer als ihr »literarischer Entdecker« bezeichnet. (Bohrer 2017, 434) 26 Reich-Ranicki wurde 1974 Nachfolger Bohrers als verantwortlicher Redakteur des Literaturteils der FAZ. Bohrer (der von 1968–1974 diese Position und Funktion innehatte) wie Reich-Ranicki erwähnen beide diesen Sachverhalt in ihren Memoiren. (vgl. Bohrer (2017), 185f., Reich-Ranicki (1999) und Honsza/Wolting (2007), 119ff.) 27 Gruenter hat sich intensiv mit zeitgenössischen russischen Autorinnen und Autoren auseinandergesetzt, Brodsky, Achmatowa und immer wieder Zwetajewa u. a., von den klassischen Autoren vorzugsweise mit Tschechow und Gogol. 28 Anlässlich des Internationalen Literaturfestivals Köln 1993, dem Vorläufer der lit.COLOGNE (so die eigene Schreibweise des Festivals). 29 Auf Nachfrage des Verfassers bekennt die Übersetzerin, dass sich große Teile von »Der verschlossene Garten« übersetzt seit zwölf Jahren in ihrer Schublade befänden, dass sie Undine Gruenter für eine ihrer Lieblingsschriftstellerinnen halte, dass aber die Verleger aufgrund der »Intellektualität ihrer Prosa« (Gruenters) keinen Bedarf in Polen für die Übersetzung sehen würden. [Mail/Facebook vom 04. 07. 2017, liegt dem Verfasser vor] 30 Karl Heinz Bohrer lebt seit dieser Zeit wieder in London, wo er früher als Auslandskorrespondent der FAZ tätig war. Er ist wiede rverheiratet, mit Angela Bielenberg (geb. von der

Quellensituation und Forschungsstand

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deutschsprachige Schriftstellerinnen oder Schriftsteller, was die Gegenwartsliteratur betrifft, weder im Inland noch im Ausland selten eine große Popularität erreichten, wenn wir an W.G. Sebald, Anne Weber oder andere denken31. Die direkte Forschungsliteratur bzw. Sekundärliteratur zu Undine Gruenter nimmt sich, euphemistisch ausgedrückt, ausgesprochen bescheiden und überschaubar aus. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang eine größere Arbeit und zwei Artikel von M. Wolting (2009/2009a/2008), zwei Artikel des Verfassers (Wolting 2005, 2019), der Aufsatz von Öhlschläger (2013), der Ausstellungskommentar von Zahler (2018), die Beiträge von Amthor (2008), Benz (2013 und 2013a, 153ff.)32 Schmeling (2007, 2008, 2017) und Sill (2009)33 zu einzelnen Aspekten bzw. Motiven, dazu die Essays von Günther (2003) und von Gees (2006), von der ein Brief an Undine Gruenter existiert und die in ihrem Werk »Paris als Schreibort – Eine Studie zur deutschsprachigen Tagebuchliteratur« der Autorin ein Kapitel widmet. Bemerkenswerterweise lässt sich innerhalb der portugiesischen Germanistik ein Artikel zu ihr ausweisen. (Vilas-Boas 2003) Des Weiteren erscheinen Rezensionen in diversen Zeitschriften (siehe Kap. 7. Bibliografie). In Briefwechseln Gruenters mit unterschiedlichen Personen des öffentlichen Lebens der Bundesrepublik Deutschland finden sich weitere Hinweise zu Rezensionen im Zusammenhang mit dem Erzählband »Das gläserne Café«.34 Undine Gruenter ist ins »Handbuch der Kunstzitate« aufgenommen worden35, sie erscheint in der 34. Ausgabe als CD-Rom von »Wer ist wer?« 1995/199636, und

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Schulenburg). Sie und ihre Schwester sind Töchter von Charlotte von der Schulenburg, der Witwe des in den 20. Juli verwickelten Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, der am 10. August 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde.« (vgl. SZ-Magazin 40/2012) Selbst Benjamin war zu seiner Pariser Zeit relativ unbekannt, die große Benjamin-Rezeption setzte erst viel später Ende der 60er Jahre ein, nachdem Adorno (1955) und Scholem (1966) seine Schriften neu ediert hatten. Vgl. dazu auch: AS, 383. Vgl. die Erwähnung im Fachdienst Germanistik, Bd. 24. München: Iudicium-Verlag 2006. Vgl. Brief vom 07. 12. 1993 an Rainer Weiss, den langjährigen Lektor des Suhrkamp-Verlags und späteren Herausgeber der »Weissbooks« oder Brief von Stefan Bollmann vom 06. 03. 1992 an die Autorin. Vgl. Wolf (2011), 251f.;Wolf verweist auf die Korrespondenz von Text und Bildender Kunst in den Romanen »Vertreibung aus dem Labyrinth« und »Der verschlossene Garten«: »Die Vielfalt der Wort-Bild-Konstellationen in Undine Gruenters Texten reicht von den – manchmal ausführlichen, manchmal skizzenhaften – Bildbeschreibungen über die motivischen Analogien zwischen erzählten Begebenheiten und evozierten Bildern bis zu den Überlegungen zu der bildnerischen Darstellungstechnik und ihrer Übertragbarkeit auf die Texte. […] Gruenters Vorstellung von der idealen Struktur des literarischen Werks verdankt sich detaillierten Betrachtungen der Bildflächen und -kompositionen sowie […] der Theorie einer nicht-illustrativen, doch nicht abstrakten Kunst […].« Vgl. AS, 29: »Keine Beschreibung. Die Dinge nicht benennen. Sie müssen nicht durch die Darstellung (mit Hilfe der Wörter), sondern in der Darstellung (in den Worten) plastisch werden.«

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Standortbestimmung

wird in einem Artikel im »Killy-Literaturlexikon« (Höppner 2008) vorgestellt sowie in der »Kurzen Literaturgeschichte« von Weidermann (2006) ausführlicher behandelt.37 Es gibt den Hinweis darauf, dass sie in »Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur« erfasst ist. Kurze Erwähnung hat sie in Verena von der Heyden-Rynschs Werk »Belauschtes Leben« (von der Heyden-Rynsch 1997) gefunden sowie in Sandra Markewitz’ Aufsatz.38 Von Kurbacher (2011) wird sie in dem Aufsatz »Die Grenze der Grenze« zitiert. Darüber hinaus ist ihr »ein Monat« d. h. ein Foto, zusammen mit Bohrer als »literarische Paare« im »Arche Literatur Kalender 2012« gewidmet, das mit einem Zitat von ihr unterschrieben ist, in dem der Raum (vgl. dazu: AS, 477) erwähnt wird: »[…] sich dem anderen gegenüber einen »Raum von Geheimnis« [Hervorhebung SW] […] zu bewahren, […] immer einen Raum zu haben, den man mit niemandem teilen kann.« Daneben wird ihr Werk von anderen Autorinnen als Lektüre empfohlen, wie z. B. von Heidenreich39 oder Bongartz40: »Ich lese die Schriften von Undine Gruenter, im Augenblick Der Autor als Souffleur, ihre Notizen. Sie ist eine sehr unterschätzte Schriftstellerin gewesen – und leider so früh gestorben. Ich mag die Bilder und Atmosphären, die sie in ihren Erzählungen und 36 Dort wird sie wie folgt aufgeführt: »Gruenter, Undine, Schriftstellerin (Künstlername Gruenter) – Am Botanischen Garten 47, 50735 Köln, 1973–1979 Stud. Rechtswissenschaft Heidelberg u. Bonn, 1980–1986 Literatur u. Philosophie, Wuppertal. 37 Vgl. Weidermann 2004: »Das Buch endet mit zwei Daten. ›23. Juni 2002‹ steht da am Schluss in kleiner Schrift. Und darunter ›Überarbeitete Fassung: 10. August 2002‹. Zwei Monate später war Undine Gruenter tot. […]. Eine Lähmung hatte schon seit Jahren weiter und immer weiter von ihrem Körper Besitz ergriffen. Am Ende konnte sie kaum noch sprechen. Undine Gruenter hat dieses Buch, ihren letzten Roman, diktiert, in einem täglichen Gewaltakt dem weiter und weiter fortschreitenden Verstummen, der vollkommenen Lähmung entrissen. Und hat dabei eines der leisesten, der zartesten, der klarsten und verschwiegensten, eines der traurigsten und schönsten Bücher der letzten Jahre geschrieben. Ein Buch über die vollkommene Liebe und das Ende von allem. Über Menschen, die man einst kannte wie sich selbst und die einfach verschwinden aus dem Leben. Die einfach verschwinden.« Natürlich ist dem Verfasser bekannt, dass der »biographische Ansatz« Weidermanns oder seine Art von »Biographismus« (Hubert Winkels) zum Teil sehr kontrovers diskutiert wird (Vgl. Greiner etc. 2006, vgl. Anmerk. 245). 38 Markewitz (2010), 126–141. Vgl. dazu: Stein (2007), hier vor allem: 156ff: Der größte Rausch: Undine Gruenter. Sandra Markewitz war Hörerin der Vorlesungen Bohrers in Bielefeld (vgl. Bohrer 2017, 337) und hat zu Wittgenstein und Kleist gearbeitet. 39 In der von Elke Heidenreich geleiteten ZDF-Sendung »Lesen« (2003–2008) wird Gruenters Roman: »Sommergäste in Trouville« am 10. Juni 2003 u. a. von Reich-Ranicki empfohlen. Vgl. dazu: Neuhauser/Draf/Hinz (2003): »Elke Heidenreich: Lesen ist das Glück meines Lebens.« In: DER STERN, 25. 07. 2003: Frage: »Man beschreibt Sie auch als ›die Literaturkritikerin für die Spaßgesellschaft‹, die nur Bücher mittleren Ehrgeizes und mittlerer Güte empfiehlt«. Antwort Heidenreich: »Na, das ist eine Kränkung für Max Aub und Eric-Emmanuel Schmitt und Undine Gruenter!« 40 Die 1957 wie Gruenter in Köln geborene Autorin hat ebenfalls, darin Gruenter ähnlich, aber dennoch auf ganz andere Weise, über Paris geschrieben, u. a. einen autobiographischen Roman mit dem Titel: Der Tote von Passy. (Berlin: Dittrich Verlag 2007) verfasst.

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Romanen entwirft. An ihr (die ich nicht persönlich gekannt habe) mag ich, daß sie sich so konsequent aller Öffentlichkeit entzogen hat, unbeirrbar ihren ganz eigenen Weg gegangen ist. Sie war wohl sehr eigensinnig, sehr radikal, diese schöne, filigrane Frau.«41

Über sie wurde der mehrfach angeführte Filmessay »Das Projekt der Liebe«42 verfasst, ihre Werke »Nachtblind«, »Das gläserne Café« und »Ein Bild der Unruhe« wurden in »Das literarische Quartett« vom 18. 07. 1991 besprochen.43 Außerdem stellte Reich-Ranicki sie in der FAZ wiederholt lobend heraus44 und hat sie in DER SPIEGEL rezensiert (Reich-Ranicki 2004). Sie schrieb vereinzelt Rezensionen und Feuilletonartikel (z. B.in der FAZ über den früh verstorbenen Kölner Lyriker Rolf Dieter Brinkmann,45 Gruenter 1992)46, über Georges Bataille »Die Welt verletzen« (Gruenter 1997a) und über Nathalie Sarrautes Werk »Hier« den Beitrag »Worte sind wie Wandschirme« in der ZEIT (Gruenter 1997b) sowie in der NZZ den Text »Glasfabrikanten« über Künstler in Paris (Gruenter 1995). Sie hat Gedichte in »Der Merkur« veröffentlicht, wie sie in einem Brief vom 21. 04. 1994 an den 2018 gestorbenen Merkur (Mit-)Herausgeber Scheel schreibt. Darin spricht sie ihn mit »Monsieur cher Unhold« an und gibt ihm genaue Anweisungen, wie sie bestimmte Begriffe verstanden haben möchte (z. B. »auslaufend«, »rinnend«, »Rücksitz«, »Blutströme« u. ä.). Kurze Zeit später, am 31. 05. 1994, kritisiert Gruenter die nicht ganz korrekte Veröffentlichung des Gedichts »Zeilen

41 Barbara Bongartz im Interview mit Sabine Grunwald. In: AVIVA-Berlin.de, Beitrag vom 19. 03. 2007 (zuletzt abgerufen: 16. 04. 2019). 42 Der Begriff taucht genauso bei Gruenter auf: AS, 41. 43 Reich-Ranicki behauptet in dieser Sendung von »Das literarische Quartett«, dass »Undine Gruenter eine ungewöhnliche Autorin« sei, Ulrich Greiner spricht dort von »Sehnsucht, Entsagung, Geschichten von Leuten, die nicht an ihr Ziel kommen, nicht an ihr Ziel wollen.« Einige Arten der Fremde werden genannt, etwa das Schreiben aus der Perspektive eines Mannes bzw. aus männlicher Perspektive. 44 Vgl. Reich-Ranicki (2008 und 2015). 45 Gruenter stand in schriftlichem Kontakt mit Gunter Geduldig, dem langjährigen Direktor der Universitätsbibliothek Vechta, dem Geburtsort Brinkmanns, und Vorsitzenden der von 1992 bis 2003 existierenden Rolf-Dieter Brinkmann-Gesellschaft, in deren Gedenkband sie 2000 den Text »Kein Tango in Köln«, ein Langgedicht zum 25. Todestags Brinkmanns, veröffentlichte. Außerdem wird ein Fragebogen von ihr »über ihr Verhältnis zum Autor und Petrarcapreisträger« gedruckt (24. 07. 1998). Darin bekennt sie, dass sie »ihn liebt«, er für ihr Schreiben allerdings kaum Bedeutung (gehabt) hätte und bezeichnet als ihr Lieblingsbuch: »Standfotos (mit den selbstgemalten Wolken)«. Daneben betont sie die Lakonie & Pathos als ihr Thema, wobei sie »für sich die analytische, nicht aggressiv-rhetorische Sprachgeste« gewählt habe. (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr) 46 Ein Beitrag von ihr zu Georg Trakl war bereits vorbereitet, der aber von Ranicki abgelehnt wurde, weil es sich um ein Prosastück handelte. (Vgl. die Auswertung der Archivmaterialien, ab Kap. 5.5.1)

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in Grünspan«47. Zudem sind mindestens drei einzelne Texte von ihr in Anthologien erschienen.48 Darüber hinaus existieren zu Gruenter einige kurze Wikipedia-Einträge auf Deutsch, Polnisch, Italienisch und Arabisch sowie ein inzwischen wieder im Netz gelöschter Eintrag auf Englisch, außerdem seit 2017 ein relativ gut recherchierter Beitrag auf Französisch, in jener Sprache bzw. Kultur, in der sie sich mehr als fünfzehn Jahre ihres Lebens bewegte und derer ihre ganze Faszination galt.49 Hinzuzufügen ist in diesem Zusammenhang, dass sich zu Undine Gruenter einige wenige journalistische Publikationen oder Rezensionen in französischen Gazetten finden. Nach intensiven weiteren Recherchen, u. a. mit Hilfe französischer Kolleginnen und Kollegen vor Ort in Paris, lässt sich feststellen, dass sich bis auf ein paar Übersetzungen (siehe Bibliographie), eine Erwähnung in »Radio France International« als Teil einer Serie über unbekannte Orte (www.rfi.fr/ france/2018) und einige wenige in den letzten Jahren erschienene Artikel, u. a. in einer »regionalen Beilage« von »LeParisien« für Villiers-sur-Marne (in jener Gegend, in der »Der verschlossene Garten« spielt50), nur vereinzelt Einträge zu Undine Gruenter nachweisen lassen. Bemerkenswerterweise sind Anstrengungen, Gruenter und ihr Werk dem Vergessen zu entreißen, u. a. von ihrer ehemaligen Buchhändlerin Gisela Kaufmann ausgegangen, die drei Erzählungen Gruenters auf Französisch herausgab (Gruenter 2011), und die über mehr als

47 Julika Griem. In: Der Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Gegründet 1947 – heute. Hg. v. Christian Demand/Ekkehard Knörer. Berlin. Jahrgang 67, Heft 770, Heft 07, Juli 2013. 48 Vgl. Malchow/Winkels (1991), Jüssen (2002) und Siegmund-Schultze/Rheinsberg (1995). Letzteres bestand in einer Anthologie unter dem Motto »Die Seele sucht ihre eigene Gesellschaft, Frauen schreiben über Tiere«. In einem Brief vom 24. 05. 1995 bedanken sich die Herausgeberinnen bei Gruenter für »ein wundervolles Stück Prosa […], eine raffiniert betörende Geschichte.« 49 Dass die französische Sprache großen Einfluss auf ihr Werk gehabt hatte, ist von einigen Kritikern wie Reich-Ranicki (1999) oder Weidermann (2006) behauptet worden, ohne eigentliche Belege dafür anzuführen. Es empfiehlt sich, mit einer solchen Einschätzung vorsichtig zu sein, weil Gruenter in ihrer Anfangszeit in Paris des Französischen kaum mächtig war und vorwiegend Übersetzungen französischer Literatur las. Es gab einen Hinweis auf die Einflüsse Francois Sagans und Guy de Maupassants auf das Werk Gruenters in Hinblick auf die »kurzen Sätze«, die als Satzteile daher kommen, was der Verfasser aber nach nochmaligen intensiven eigenen Recherchen nicht unbedingt bestätigen kann. 50 Die »Location«, neudeutsch gesprochen, für »Der verschlossene Garten« wird in dem berühmten Joinville (dem »französischen Babelsberg«) mit den Guinguettes-Lokalen, wo man tanzen, essen und trinken konnte und noch heute kann, oder in Champigny-sur-Marne, vermutet. In beiden Orten befinden sich Villen direkt an der Marne, wo der Roman spielen könnte.

Versuch einer methodischen Positionierung

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30 Jahre die »Librairie Buchhandlung« in der Rue Burq 3 im Montmartre (gleich um die Ecke der belebten Rue des Abbesses51) führte.52 Trotzdem scheint sich die Vermutung zu bestätigen bzw. der »Anfangsverdacht« zu erhärten, dass Gruenter in ihrer Wahlheimat Frankreich fast vergessen ist oder besser gesagt, nie einen wirklichen Bekanntheitsgrad erreicht hat. Kann man dies aus kultur- und literaturtransferiellen, komparatistischen, fremdhermeneutischen oder welchen Gründen sonst als »Ironie des Schicksals« bedauern, so entspricht es doch den Tatsachen.

3.2. Versuch einer methodischen Positionierung Es erscheint nicht ohne Brisanz, sich mit dem Werk Gruenters wissenschaftlich auseinander zu setzen, zu sehr hat sie, die selbst so belesen war und sich mit theoretisch-programmatischen Positionen gut auskannte, zugleich immer wieder deutlich gemacht, dass sich einem ästhetischen Werk nicht mit wissenschaftlichen Kategorien oder Parametern zu nähern sei.53 Außerdem stand sie 51 In der Kirche St. Jean-L’Évangeliste, auch St. Jean-de-Montmartre genannt, in der Rue des Abesses, fand die katholische Trauerfeier für Undine Gruenter statt. Im Café des 2 Moulins wurden große Teile des Films »Die fabelhafte Welt der Amelie« gedreht. 52 Die Buchhandlung wurde am 14. 07. 2018, dem französischen Nationalfeiertag, geschlossen und war die bekannteste deutschsprachige Buchhandlung in Paris neben der »Librairie Allemande« von Iris Mönch-Hahn in der Rue Frédéric Sauton (eröffnet im Mai 2015, geschlossen am 14. 07. 2017, wiedereröffnet in der Rue Sommerard 2, im Februar 2018) und der Buchhandlung Marissal direkt gegenüber dem Centre Pompidou in der Rue Rambuteau, eine Filiale der Hamburger Marissal, wo öfter deutsche Autorinnen und Autoren lasen. Diese Buchhandlung war (Leiterin Petra Kringel von 1986 an, 2015 geschlossen) lange Zeit eine der wenigen deutschsprachigen Buchhandlungen für die ca. 50.000 deutschsprachigen Bewohner bzw. an deutscher Literatur im Original interessierten Einwohner in und um Paris. Daneben bestand noch der 3. Buchladen L’Alinéa (am 30. Mai 2015 geschlossen), den das deutschsprachige Paar Catherine Houssay und Abel Gerschenfeld im Viertel von Bercy führten sowie die 1992 geschlossene Buchhandlung »Le Roi des Aulnes« (Erlkönig) von Nicole Bary, einer Übersetzerin, Veranstalterin und Lektorin der Editions Métailié. Außerdem existierte das »Calligrammes« im 5. Arrondissement oder die legendäre Buchhandlung des Schriftstellers Martin Flinker am Quai des Orfèvres mit bibliophilen Schätzen. Darüber hinaus lud Siegfried Unseld seine Suhrkamp-Autoren wie Max Frisch. Paul Nizon o. ä. regelmäßig einmal im Jahr nach Paris in verschiedene Hotels bzw. verschiedene Orte ein. Gruenter berichtet von einem der Treffen, bei dem sie anwesend war, in der Passage Vero-Dodat in »Wandern die Augen« (Gruenter 2001, 65). Eine ihrer eigenen Fotografien von Gruenters Lektüren ist auf der Rückseite Siegfried Unseld gewidmet. (undatiert 1994, vgl. auch Brogi/Strittmatter (2018, 253) 53 Auch wenn es eine nicht nur stillschweigende Übereinkunft zwischen »Bohrer« (den sie in den Schriften häufig B. oder nur Bohrer nennt) und Gruenter gab, nicht über die eigene Arbeit zu sprechen, so gab es doch gegenseitige Beeinflussungen, vor allem von seiner Seite in Hinblick auf ihr Schreiben, bei aller Unterschiedlichkeit von Philosophie (Bohrer) und Literatur (Gruenter). Vgl. Bohrer (1981), 51: »Diese Ähnlichkeit ist eine Ähnlichkeit der Fra-

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jeder Art von Bildungsidee durch Wissenserwerb per se sehr skeptisch gegenüber, wo sie schreibt: »13. November 1990. [Jahreszahlergänzung SW] Es gibt nichts, daß ich nicht aus mir selbst, aus mir ganz allen gelernt hätte oder weiß – alles andere ist an mir abgeflossen wie Wasser, was mich nicht interessiert, so lerne ich nicht, lernt kein künstlerischer Mensch, die ganze Bildungsidee ist Vergewaltigung einer Person, die vielleicht wenig weiß, aber auf einem Gebiet etwas kann. […] Wissen ist für Spießer, für Teesalons, für Oberseminare.« (AS, 444)

Von daher sei im Sinne der Autorin betont, dass sich das Werk von Undine Gruenter nicht im eigentlichen Sinne »analysieren« lässt und letztlich als nicht völlig erschließbar bzw. aufschlüsselbar betrachtet werden muss. Innerhalb dieser Arbeit soll dennoch, trotz oder gerade wegen obiger Vorbehalte, eine wissenschaftliche Annäherung an ihr Werk sowie ihrer »Poetik« zw. Poetologie54 versucht werden, unter Berücksichtigung der angedeuteten Widersprüchlichkeit ihres Lebens, vor allem aber ihres Schreibens und Wirkens (vgl. Kap. 4.): Von der Literaturkritik stark beachtet und hoch dekoriert, von der Leserschaft beinahe vergessen, bleibt sie unbenommen eine herausragende Schriftstellerin wie außergewöhnliche Persönlichkeit. Um eventuellen falschen Annahmen gleich von vorne herein zu begegnen, wird hier von der Voraussetzung ausgegangen, dass sich zwar ansatzweise Parallelen zum Werk ihres Ehemanns Karl Heinz Bohrer auffinden lassen, dass Undine Gruenters Werk aber keinesfalls als »schriftstellerische Reformulierung« der programmatischen Vorgaben des »Literaturprogrammatikers« und Vertreter der Plötzlichkeit in der Literaturtheorie Karl Heinz Bohrer verstanden werden kann. Dazu war sie in ihrem Schaffen wie als Persönlichkeit viel zu autonom. Dass sie sich gegenseitig beeinflussten und zum Teil zur gleichen Zeit ähnliche Literatur gelesen lasen, steht außer Frage, aber dennoch wird auf der Eigenständigkeit ihrer genauso wie seiner Arbeiten bestanden. Allerdings betont sie in einem Brief vom 13. 02. 1995 an ihren ehemaligen Lektor Christian Döring vom Suhrkamp Verlag, dass sie »freundliche Fragen« bekomme, ob ihre »Texte um-

gestellung, während die sprachliche Annäherung an das von beiden gesuchte Phänomen die aufschlussreiche Differenz zwischen Dichter und Philosoph bringt. Unser Interesse an dieser Differenz ist geleitet vom hermeneutischen Ausgangspunkt, daß literarische Texte nicht relevant erfasst werden können durch außerästhetische Begriffe.« [Hervorhebung SW] 54 Es soll hier keinerlei »Grundsatzdiskussion« darüber geführt werden, inwiefern Literaturkritik, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft sich gegenseitig ergänzen bzw. voneinander abzugrenzen sind. Der Einbezug literaturkritischer Positionen oder Rezensionen hat seinen Grund im Mangel an literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zu Gruenter. Außerdem hat Gruenter zum ehemaligen »Papst« der Literaturkritik Reich-Ranicki einen intensiven Briefwechsel unterhalten, auf den zurückzukommen sein wird. (vgl. Kap. 5.5.3.)

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gesetzte Bohrer Theorien wären«: »Ich antworte dann gerne brechtisch: Ich bin eine Seelenverwandte […].« Nichtsdestotrotz hat sie wiederholt auf inhaltliche und geistige Unterschiede zwischen ihnen hingewiesen, dass es für sie neben der Plötzlichkeit Bohrers noch den Aspekt der Ewigkeit geben würde, wie Bohrer im Gespräch erklärt. Sie grenzt sich an einer anderen Stelle deutlich von Bohrers Konzeption der Plötzlichkeit mit dem Satz ab: »Bohrers Plötzlichkeit ist nicht mein Vergessen«. »Die einzige Gemeinsamkeit« sieht sie darin, dass beides Bewusstseinszustände bzw. Kategorien sind, »keine realisierbaren Lebensformen«: »Als Kategorien sind sie nur denkbar durch ihren Gegenpol: Plötzlichkeit mit Dauer; Vergessen mit Erinnerung. [Hervorhebung SW] Beide Bereiche stehen jeweils für sich allein genommen (ohne Bezug auf den komplementären), sind totalitär (AS, 325).«55 Neben dieser Art öffentlich gemachter inhaltlicher Abgrenzungen ist davon auszugehen, dass sie sich nicht unmittelbar oder direkt während des Schreibprozesses beeinflussten. Es bestand eine von Bohrer in dem SZ-Interview herausgestellte »unausgesprochene Vereinbarung, dass wir nicht über unsere Arbeit reden.«56 Darüber hinaus unterschied sich Bohrers Meinung zu Gruenters literarischem Schreiben deutlich von Gruenters Einstellung zu Bohrers akademischer Welt: »Meine stille Bewunderung galt dem Lakonismus ihrer Wahrnehmung und ihrer Fähigkeit, Sachverhalte brutal zu benennen. Undine hatte eine tiefe Skepsis gegenüber meinen Wissenschaftskollegen. Auch den typischen gedankenvollen, kulturkritischen Aufsatz im Merkur fasste sie, wenn überhaupt, nur mit spitzen Fingern an. Im Namen von etwas für etwas zu sein, fand sie unerträglich.« (Bohrer 2012, ebd.)

Die Entscheidung Gruenters für eine Existenz als Künstlerin bzw. Schriftstellerin verbunden mit einer Absage an jegliche Form einer wissenschaftlichen Existenz oder akademischen Karriere (evident in der Aufgabe ihrer begonnenen Dissertation über Franz Hessel57), ist als stilistisch-ästhetische Position und zudem vielleicht leicht überhöht oder überpointiert gesprochen, als »existentielle Hal55 Der Verfasser erfuhr in Gesprächen mit Bekannten, dass Undine Gruenter von Bohrer als dem »Plötzlichkeitsbohrer« sprach und dass dieser Begriff weit über die theoretische Konzeption hinaus mit der Person Bohrers existentiell und in Hinsicht auf seine Lebenseinstellung verbunden war. Köhler hatte gleichfalls auf das »Augenblickshafte« von Gruenters Schreiben hingewiesen. So charakterisiert Köhler Gruenters Schreiben als die Darstellung des Vergehens im Moment (in jenem Gespräch mit Matz). 56 Bohrer im Interview mit Sven Michaelsen »Ich habe einen romantischen Blick.« In: SZMagazin 40/2012 Literatur. 57 Es war damals an verschiedenen Hochschulen in Deutschland möglich, einen Promotionsstudiengang zu belegen, ohne vorher ein anderes Examen gemacht zu haben. Zum anderen Stichwort Franz Hessel sei hier eine weitere Bemerkung erlaubt: Im Werk »Der Autor als Souffleur« wird an einigen Stellen die Verfilmung des Lebens Hessels in »Jules und Jim« von François Truffaut erwähnt (AS, 140 u. 157).

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tung« oder noch pathetischer als »Lebenseinstellung« zu denken. Das betrifft insbesondere ihre ästhetische Haltung, worin sie sich wieder mit Bohrer traf, der ebenfalls dem Essayistischen (also dem Künstlerischen) gegenüber einem bloß Epistemologischen oder gar positivistisch empirischen Wissenschaftlichen den Vorrang gewährte. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass es Bohrer war, der einen neuen Diskurs hinsichtlich der Einschätzung der deutschen Romantik als »theoretische, die Ästhetik des Kunstwerks miteinbeziehende (das »Phantastische« und »Imaginative« sowie das »Unbewusste«)« initiierte, dabei das »Unheimliche«58 oder die selbstreflexive und innovatorische Richtung bezüglich der Moderne59 betonte und sich zugleich gegen einen vermeintlich einseitigen Irrationalismus der (deutschen) Romantik als Vorläufer des Nationalsozialismus wandte.60 (vgl. Bohrer 1989, 25ff.) In dieser Hinsicht lassen sich weitere Schnittmengen zwischen dem Werk Bohrers und Gruenters erkennen. Diese »Form einer ästhetischen Diskussion«, die Bohrer nach Kaube, einem der vier Herausgeber der FAZ und Nachfolger von Frank Schirrmacher im Feuilletonteil, in Deutschland lostreten wollte61, ist durchaus im Sinne Gruenters gewesen.62 Es war für Gruenter wie für Bohrer u. a. ein Grund des Weggangs aus Deutschland, dass dieser Versuch zum Scheitern verurteilt sein sollte, nicht zuletzt deshalb, weil die Kunst, aber vor allem die »öffentliche Figur des Schriftstellers« nach Kaube aufhörte, in der bundesrepublikanischen Gesellschaft dieser Jahre »eine besondere Rolle« zu spielen, wie sie ihr nach Bohrer und Gruenter zugestanden hätte. Zudem war neben dem Niedergang einer nicht primär engagiert sein wollenden, aber dennoch engagierten Kunst, die Einflussnahme des Intellektuellen trotz Habermas etc. in Deutschland auf ein Minimum reduziert, worauf sich Gruenter in »Der Autor als Souffleur« explizit bezieht: »In Deutschland hat das Wort Intellektueller eine negative Bedeutung, wenigstens in gewissen bürgerlichen Kreisen […]. Die Ausgrenzung der Intellektuellen ist der Versuch einer Abwälzung auf eine Minderheit – wann aber werden die Intellektuellen in Deutschland selbst aufhören, sich zu verteidigen, wann werden sie anfangen, auf die Geschichte des Wortes Intellektueller seit Beginn der Dreyfuß-Affäre hinzuweisen, wann werden sie sagen, ich bin ein Intellektueller.« (AS, 46f.)63 58 Ein Wort, das Undine Gruenter sehr gefiel, wie Michael Krüger im Film von Anita Hugi betont. 59 Vor allem: 1. Kap. Die moderne Wiederentdeckung der Romantik. 60 Vgl. hierzu: Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. München: Hanser 152007. 61 Jürgen Kaube: Wider die Einspießerung des Intellektuellen. In: FAZ, 26. 09. 2012. 62 Anlässlich von Bohrers 80. Geburtstags »Erstens, weil Jürgen Habermas, den man brauchte, um in diesem Land eine große Kontroverse zu bekommen, weder negativ auf Bohrer noch positiv auf Ästhetik ansprang.« (Kaube, ebd.) 63 Darüber hinaus finden sich bei Gruenter durchaus kritische Bemerkungen zum Intellektuellen: »Weshalb ich lieber mit unserer Concierge rede als mit irgendeinem klugredenden

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Die angeführten Gründe und darüber hinaus die große Faszination für die andere, die französische Kultur, in der die Künstler wie Intellektuellen respektive die Schriftstellerinnen und Schriftsteller von je her eine größere Rolle spielten64, verbunden mit der Anziehung des »Bekannten im Fremden« wie Bohrer65 es im Gespräch im Literarischen Kolloquium Berlin66 formuliert, ließen umgekehrt Gruenter und Bohrer in Deutschland immer mehr »fremdeln« bzw. sich fehl am Platz fühlen.67 Das bezog sich in erster auf ein Verständnis der Kunst bzw. Selbstverständnis des Künstlers in Anbetracht der in jüngster Zeit viel diskutierten, von Bandura (1977, 1993, 1997) in den öffentlichen Diskurs gebrachten Kategorie der Selbstwirksamkeit68, in dem Falle jene des Schriftstellers oder Intellektuellen in der Öffentlichkeit. Im Zusammenhang damit wirft sich die Frage auf, inwieweit Paris sowohl als kulturelles Anderswo als auch als literarischer Echoraum eine besondere Rolle für ihr Werk spielte, unter Berücksichtigung der von Gruenter selbst vorgegebenen Funktion ihres Schreibens bzw. der »Funktion der Literatur als Selbstmaskierung«. (AS, 95) Im Vorfeld der Studie sind Überlegungen angestrengt worden, um im Sinne Gruenters eine dem Werk von außen mehr oder weniger bezugs- oder motiva-

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Intellektuellen – das hat nichts mit geistiger Faulheit zu tun, sondern damit, daß die reine Ideenwelt der Intellektuellen immer ein Machtinstrument ist für den, der Bescheid weiß, auf alle anderen hinabsieht und sich selbst zugleich gesichert fühlt (also nicht ausgesetzt). Auch damit, daß die existentielle Beziehung der meisten Intellektuellen zu ihren Ideen nicht existiert, die Debatte spielt sich im luftleeren Raum ab, mit schönen Formeln.« (AS, 193) Gruenter nimmt dabei des Öfteren unterschiedliche und widersprüchliche Positionen zu Phänomenen ein, insbesondere in »Der Autor als Souffleur«, ist sie sich dessen aber durchaus bewusst. (vgl. AS, 447) Es finden bei ihr sich außerdem vereinzelt Stellungnahmen zu den DDR-Intellektuellen (AS, 391) oder zu den »östlichen Intellektuellen.« (AS, 447) Man denke nur an Mitterands Faible für die Literaten und an dessen Traum, Schriftsteller zu werden. Bei Bohrer war es im Gegensatz zu Gruenter über viele Jahre eher die englische als die französische Kultur, was seinen Niederschlag bis in die Kleidung hinein fand. Anlässlich der Vorstellung seines letzten Werks (2017) im Berliner Literarischen Colloquium (LCB) am Wannsee am 13. 02. 2017. Gruenter spricht sogar von der »mörderischen Verzweiflung der letzten Jahre in Deutschland«, die sie in Paris nicht mehr kannte. (vgl. AS, 134) Interessanter Weise bezieht sich Bohrers Bekanntheitsgrad ebenfalls vorwiegend auf die deutsche Literatur- und Kulturlandschaft, auf jene Kultur, in der er nicht mehr leben konnte oder wollte. Im Gespräch mit dem Verfasser am 26. 08. 2018 in Paris im Café de la Mairie an der Place Sulpice, wo u. a. die letzte Begegnung von Sartre und Camus stattfand, betont Anita Hugi, dass Bohrer selbst in der Schweiz relativ unbekannt geblieben sei. Im von der Zeitschrift »Cicero« herausgegebenen Ranking deutscher Intellektueller vom 29. 01. 2019 (5-Jahres-Ranking) findet sich Bohrer auf Platz 226 (113 Plätze abgerutscht), gleich gefolgt von Bazon Brock, der 32 Plätze dazu gewonnen hat. Albert Bandura: Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change. Psychological Review 1977, 84, 191–215; Albert Bandura: Perceived self-efficacy in cognitive development and functioning. Eudcational Psychologist 28(2) 1993, 117–148; Albert Bandura: Self-efficacy: The exercise of control. New York: W. H. Freeman 1997.

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tionslos »übergestülpte« oder besser: überzogene methodische Annäherung, zu vermeiden. Das hat seine Ursache nicht allein in der von unterschiedlichen Positionen innerhalb der Literaturkritik behaupteten schwierigen »hermeneutischen Zugänglichkeit« des Werks Gruenters69, sondern insbesondere in den angedeuteten zahllosen Äußerungen ihrer selbst als Abwehr gegen einen »vereinnahmenden wissenschaftlichen Zugriff« auf ihr Werk bzw. einzelne ihrer Werke. Stellvertretend sei hier eine weitere dieser Äußerungen hervorgehoben, bei der sie, wie so oft über die Interpretations ihres Werks hinausdenkend, Deutungen von »Systemen« auf existentielle und anthropologische Situationen generell ablehnt, und zugleich ihre durchgängige Reserve vor allem gegen interpretierende Systeme, welcher Art auch immer, durchscheinen lässt70: »3. Januar 90. Theoretische Systeme – etwa Psychoanalyse, Marxismus, Strukturalismus, Existenzialismus – sind nicht weniger, aber auch nicht mehr das jeweils der Epoche am meisten angemessene Interpretationsmodell. Das heißt. die Systeme sind Instrumente, sie sind für den Menschen da und nicht umgekehrt, der Mensch für die Systeme.« (AS, 365)

Insofern schien es geboten – wenngleich es die Interpretation das Geschäft der Literaturwissenschaftlerin bzw. des Literaturwissenschaftlers sein mag –, sich methodisch dem Werk mit äußerster Behutsamkeit zu nähern, eingedenk der von der Autorin selbst formulierten Vorbehalte.71 Wollte man ihr Werk allerdings nur in dem von ihr geforderten Sinne auslegen, so wäre damit jede wissenschaftliche Betrachtung überhaupt verunmöglicht, gerade in Hinsicht auf eine kulturelle oder kulturwissenschaftliche Perspektive, da wie Bohrer behauptet ein »kulturelles Vorverständnis« jegliche ästhetische Annäherung an ein Werk zunichtemachen würde (vgl. Anmerk. 709). Hinzu kommt, dass Gruenter wiederholt formalästhetisch den »Kunstwerkcharakter« ihrer Texte betont, dem nicht mit

69 Vgl. z. B. Otte (2001). Die Rezensentin von Wysocki betont im Zusammenhang mit »Pariser Libertinagen«, dass man »frankophil und sehr belesen« sein müsse, um dem Werk zu folgen. In: DIE ZEIT, 13. 10. 2005. 70 Selbst unter der Einschränkung, dass in »Der verschlossene Garten« Teile aus Luhmanns »Liebe als Passion« konfiguriert werden (vgl. Luhmann 1994 und ihre Luhmann-Lektüre, die in »Der Autor als Souffleur« dokumentiert ist, AS, 200f.), lässt sich davon ausgehen, dass Gruenter eher eine phänomenologische Position im Sinne eines Individualismus’ bzw. Singularität und Partikularismus, verbunden mit einer Hinwendung zur Literatur und Abwendung von der Wissenschaft einnimmt. Sich auf die Genese und »Technik« ihres Erzählbands »Nachtblind« kaprizierend, benutzt sie den Ausdruck selbst: »30. Mai 1986.[Jahreszahlergänzung SW] Die Erzählungen 1) Verzögerung: langsamer, quasi filmischer Erzählstrang, phänomenologisches Vorgehen, stockende Satzkonstruktion.« (AS, 112) Vgl. hierzu: Bohrer (2017), 271. 71 Im Übrigen verstand sie sich in erster Linie als Schriftstellerin oder Künstlerin, in der Tradition der französischen Symbolisten und Surrealisten und hatte wie – mehrfach ausgeführt – gegen jede Art von Wissenschaft einen nicht unerheblichen Vorbehalt. (vgl. AS, 11)

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wissenschaftlicher »Sezierung« im Sinne einer Analyse beizukommen sei. Diese Haltung ist der surrealistischen Tradition ihrer Texte geschuldet: »[…] Der Satz, die Kunst sei theoretisch geworden, lässt sich auch umdrehen, indem man sagt, die Theorie wurde zur Metapher und als symbolische Handlung benutzt. Seit den Attacken des frühen Surrealismus gegen Normativität und wissenschaftliche DenkTraditionen ist dieser Widerspruch der Literatur inkorporiert.« (Bohrer 1981, 30)

Auf gewisse Weise steckt jede wissenschaftliche Annäherung an ein Werk in diesem Dilemma, was aber in Hinsicht auf Gruenters Werk besonders virulent erscheint, nicht zuletzt aufgrund der anti-akademischen und anti-wissenschaftlichen Positionen der Autorin. Gruenter hatte gegen jede »Sinngebung« oder »Bedeutungssetzung« von außen Bedenken per se (auch Bohrer 2017, 201 und 408). Darüber hinaus ist das Gesamtwerk Undine Gruenters nicht nur hermeneutisch schwer erfassbar, sondern es zeichnet sich zudem durch äußerste ästhetische Vielschichtigkeit aus, was aber zugleich wiederum unterschiedliche Zugriffe und Perspektiven auf das Werk eröffnet. Indes darf die Autorin selbst als Stichwortgeberin im Hinblick auf die Einflüsse ihres Werks zitiert werden. Selbst wenn ihre konkrete Bibliothek relativ klein war und sich zudem kaum Werke in französischer Sprache darunter befanden72, war sie dennoch eine »große Leserin«73 und kannte sich, ihrem Philosophiestudium und dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft74 sowie einer lebenslangen Lektüre philosophischer und erkenntnistheoretischer, kunsthistorischer oder musikwissenschaftlicher Texten geschuldet, in der europäischen Geistesgeschichte bzw. Literatur und darüber hinaus exzellent aus. Sie spricht in diesem Kontext von ihrer fortgesetzten »Erkundung der fremden 72 Der Verfasser hatte dank freundlicher Genehmigung Karl Heinz Bohrers Gelegenheit, Einblick in die Bibliothek Undine Gruenters zu nehmen, die sich jetzt in London in Bohrers Haus befindet, aber genauso aufgestellt und geordnet ist, wie sie in Paris in der letzten gemeinsamen Wohnung an der Rue Robert Planquette 11 existierte. 73 Zum Teil lässt sich »Der Autor als Souffleur« als Beschreibung ihrer Lektüren lesen. Die Buchhändlerin Gisela Kaufmann betont in der erwähnten Veranstaltung des Goethe-Instituts Paris zur Präsentation des Films von Anita Hugi, dass Undine Gruenter bei ihr deutsche Übersetzungen französischer surrealistischer Texte bestellt und gekauft habe. Sie war zugleich bewusst eine große Nichtleserin, etwa von Nietzsche oder zum Teil von Rilke oder Vertreterinnen und Vertretern der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur oder Philosophie. 74 Sie begann eine Promotion über Franz Hessel, dessen Name aber kurioser Weise in ihrem Werk, das von Namen der Kunst, Philosophie, Literatur- und Kulturgeschichte nur so wimmelt, kaum auftaucht. Vgl. Bohrer (2017), 281: »Undine war in einen besonderen Zustand geraten: Sie hatte schon in Deutschland aufgehört, in die Universität zu gehen, und ihre Dissertation abgebrochen: Stattdessen hatte sie begonnen, einen Roman zu schreiben. Wir sprachen nicht über ihn, getreu unserem Gesetz, uns nicht auszukundschaften, oder noch genauer gesagt: Wir waren überzeugt davon, dass man sich gegenseitig immer als etwas fremd ansehen sollte, weil man in der Tat auch eigentlich fremd bleibt.«

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Bücherregale«. (AS, 315) Dennoch sei die besondere Eigenständigkeit und Singularität ihres Werks dagegengehalten: Gruenter hat etwas Neues, Eigenes innerhalb der (deutschsprachigen) Literatur geschaffen75 und nahm andere, vorwiegend surrealistische Positionen, eher als Impuls oder Ausgangspunkt bzw. als »programmatische Staffage« oder als »Maskierung«. (vgl. 226, 403) An anderer Stelle betont sie zugleich ihre »realistische Haltung«: »[…] Ich ging jahrelang nach surrealistischer Tradition mit meinem Hund spazieren, und wir waren uns ein erlesener Zirkel, wie Baudelaire mit der Schildkröte in den Passagen. Die Nase wanderte über den Boden, die Augen wanderten über die Fassaden, und ganze Zyklen mit Gedichten über Pariser Plätze entstanden, keine écriture automatique, Dichtung als Rückzug in die Oase, Rückzug vor den Wüsten gesellschaftlicher Realität? Nun, immerhin hatten wir die Füße auf dem Boden bei unseren Spaziergängen, Die Füße als materiellen Garanten, der die Beziehung zur Realität herstellt.« (Gruenter 2002, 65f.)

Von daher erscheint es nicht unproblematisch, Gruenter in bestimmte literarische Traditionen einzuordnen oder Motivanalogien herzustellen wie es Zahler (2018) versucht, wenn sie sie in die Tradition der Flaneure verortet. Sicherlich ist Undine Gruenter, so lange es ihr physisch möglich war, viel durch Paris »spazieren gegangen« und hat das »geheime Credo der Flaneure« betont (»Denn nur wer sich den Abwegen überlässt ist ein Künstler des Gehens.« Manuskript von »Das Versteck des Minotaurus« aus dem Jahr von 200076), aber zugleich erklärt sie die »Unbeweglichkeit« als Ziel ihres Schreibens und hat konkrete Orte eher als Ausgangspunkt ihres Schreibens genommen. (AS, 46) Zudem schreibt sie im angeführten Brief vom 13. 02. 1995 an Döring im Zusammenhang mit ihren beiden unveröffentlichten Lyrikbänden: »Wichtig. es geht weniger ums altbekannte Flanieren, wenn auch Aragon, Apollinaire, Baudelaire immer schon Pate standen – es geht um die phänomenologisch rezipierten/ auftauchenden Reste – in Topographien um die zerstückelten, katastrophischen, in Panoramenum die sich zusammensetzenden, korrespondierenden von Stadtlandschaften.« (ebd.) [Unterstreichungen der Autorin, SW] 77

Die Autorin lässt sich zweifelsohne als poeta doctus wie als femme de lettres bezeichnen, die zum Teil, selbst in ihren genuin poetischen Werken, deren In-

75 Von daher könnte ihr Faible eher für Außenseiter der Literatur stammen. 76 Zit. nach Zahler (2018), 253. 77 An einer anderen Stelle weist sie, Hessel zitierend, auf den Zusammenhang von Flanieren und Lesen hin: »Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze, Seiten eines immer neuen Buches ergeben.« (AS, 176; Hessel 2012, 156)

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terpretation gleich mitliefert78, womit sie in einer literarischen Tradition von Selbstreflexion steht, wie sie in der deutschen Romantik beginnt79. Schmeling (2007, 1995, 1987) verweist in seinen Arbeiten auf die literarischen Allusionen, besonders des Werks »Das Versteck des Minotaurus«, auf Texte und Motive der Antike wie den »Minotaurus« oder das »Labyrinth«, aber vorrangig auf Texte der französischen Moderne bzw. des Symbolismus’ oder des Surrealismus’.80 Gruenter vermag es, auf »engstem Raum« eine Art unendlicher Bezüglichkeit herzustellen, was die Texte zugleich schwer »greifbar« oder »nacherzählbar« macht. Außerdem finden sich bisweilen in ihren Texten »analytische« Begriffe, wie man sie ansonsten in literarischen Texten eher selten vorfindet, dafür überwiegend in philosophischen Traktaten bzw. Abhandlungen oder kunst- bzw. literaturtheoretischen Werken.81 Diese werden besonders in ihrem poetologischprogrammatischen Werk »Der Autor als Souffleur«82, in den posthum herausgegeben Prosatexten »Pariser Libertinagen« oder in unveröffentlicht gebliebenen Briefen virulent. Gruenter benutzt eine solche Art von Aufzählungen, »additives Vorgehen« wie sie das nennt (AS, 429), ebenso gerne in anderen Zusammenhängen, z. B. innerhalb »biographischer Bruchstücke«. (AS, 468)

78 Weshalb es bei einigen Kritikern Probleme mit der Gattungszuschreibung gibt und das Essayistische oder »Traktathafte« etwa in Hinsicht auf die Interpretation von »Der verschlossene Garten« herausgehoben wird. Vgl.: Müller (2004). 79 Vgl. hierzu: Bohrer (1989), 11, 17 u. 26 etc. 80 Allen voran Aragons »Paysan de Paris« und Bretons »Nadja«. Vgl. Bohrer (2017), 291, Aragon (42015). Breton (52015). Der Begriff des »Pariser Bauern« geht noch weiter auf Nicolas Edme Restif de la Bretonne (1734–1806) zurück, den Aragon gelesen hat, besonders sein Werk »Der verunglückte Bauer« (1776). Vgl. dazu: Stierle (1998), insbesondere: 128ff, Yong-Mi Quester: Frivoler Import. Die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland (1730– 1800). Mit einer kommentierten Übersetzungsbibliographie. Berlin: de Gruyter 2006. 81 Sie nennt in »Der Autor als Souffleur« gehäuft Begriffe oder Sätze wie: Identität (als Maske im Sinne von »Ich ist ein anderer« nach Rimbaud), Fremde, Entfremdung, Erinnerung, Gedächtnis, Warten, Topographie, Erkenntnis, Traum, Tagtraum, Halluzination, Somnambulität, Stil, Schreiben, Text, Moderne, Subjekt, Dinge, Hermetismus, Autobiographie, Wahrheit, Experiment, Projekt, Liebe, Freiheit, Kosmos, Paris, Einsamkeit, Idealismus (für D), Materialismus (für F), Figur, Erzählung, Erzählfluss, Literatur, Psychoanalyse, Exil, Werk, Fiktion, Libertinage, Ambivalenz, Grenze von Kunst und Leben, Selbstverlust – Selbstzerstörung – Selbstbewahrung – Selbstauslieferung, Ich-Sagen (Widerwille) Selbst, Wohnung, Straßen, Negation, Bild, Wort, Labyrinth, Selbsterkenntnis, Textzimmer oder Raum, um hier nur die wichtigsten zu nennen. 82 Bohrer nennt diese Schrift »das Beste, was in der autobiographischen Form nach dem Krieg in Deutschland geschrieben wurde«. In: Bohrer (2017), 398.

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3.3. Bezüge und Einflüsse Auf eine gleiche Weise wie die oben vorgenommene Aufzählung zentraler Einflüsse oder Begriffe hätte man Namen von Schriftstellerinnen oder Schriftstellern, Philosophinnen und Philosophen, Künstlerinnen und Künstlern etc. nennen können83, die Gruenter beeinflusst haben bzw. mit denen sie sich literarisch, philosophisch oder künstlerisch auseinandergesetzt hat.84 In einem weiteren unveröffentlichten Text mit dem vielsagenden Titel »B, B und wieder B« spricht sie ironischer Weise von ihren »geistigen Okkupanten«: »Kein Zuhörer verstand den Anlaß, doch ab und zu murmelte sie einen rätselhaften Kommentar vor sich hin – B, B, und wieder B. Wer sie kannte, machte sich einen Reim daraus – wer A sagt, muß auch B sagen. Das B, lakonisch in B, B, und wieder B zitiert als das eherne Gesetz ihres Lebens, auf A folgt B? Wer sie kannte, machte sich einen Reim darauf: das B ist unausweichlich. Von Dauer-Okkupanten ihres Kopfes angefangen – Bataille, Breton, Baudelaire, Brodsky, Bassani, Beckett, Benjamin, Blanchot, Bernhard, Borges, Brecht, Brinkmann, Bunˇuel, Butor, Bohrer (K.H.) – bis zu Zufalls-Belagerern Bazon Brock und Albrecht Betz zum Beispiel […].« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Kleine Prosa) 83 Es handelt sich mitunter um Schriftstellerinnen und Schriftsteller unterschiedlicher Kulturen, die aber zugleich jeweils Solitäre oder Außenseiter waren, von denen hier nur einige exemplarisch genannt werden sollen: Über zahlreiche bereits Genannte wie Aragon, Artaud, Benjamin, oder Breton hinaus, spielen Achmatowa (im Vergleich mit Zwetajewa, AS, 90, 115, 138, 145, 295, 331, 336 u. 377, Apollinaire, der von 1937 bis 1945 in Berlin lebende iranische Schriftsteller Atabay, Balzac, D. Barnes, Bataille, Baudelaire, Beauvoir, Beckett, Brodsky, Camus, Colette (AS, 259f. »Lehrjahre«, AS, 426), Cortazar, Duras, Flaubert, Green (Leviathan), Gombrowicz (AS, 262ff., 271 u. a.) Günderrode, Hofmannsthal (vor allem der LordChandos-Brief, AS, 430), Heine, Ionesco, Joyce (AS, 16, 36 u. 38f.), Leiris, Kafka, Maeterlinck, Mansfield (AS, 260), Musil, Pavese, Paz, Plath, Proust, Pessoa, Rimbaud, Rousseau (eine lange Auseinandersetzung mit der Biographie Rousseaus von Jean Starobinski, AS, 409ff.), Stendhal, Tschechow, und V. Woolf, Zola oder Zwetajewa eine besonders große Rolle und werden verstärkt genannt, dazu noch Cioran (AS, 21f., 38). Aus der deutschsprachigen Literatur werden vorzugsweise Dramatikerinnen und Dramatiker wie Bernhard, Jelinek, Müller, aber auch Lyriker wie Brinkmann oder Kunert sowie Prosaisten wie Handke, H. Müller oder Kronauer genannt. Außerdem tauchen Künstler wie die Choreographin Bausch, der Theatertheoretiker Brook und die Filmregisseure Truffaut, Rohmer oder Fassbinder u. a. auf. Zudem finden sich Auseinandersetzungen mit philosophischen und soziologischen Texten, wie Habermas’ Kritik an Bataille (AS, 395f.), Christian Enzensbergers »Versuch über den Schmutz«,(AS, 384), mit Texten Peter Widmers, dem Vater des Schriftstellers Urs Widmer (»Subversion des Begehrens«, AS, 372) oder mit Max Weber (AS, 402) etc. Außerdem weist das Werk ungezählte Bemerkungen zur Bildenden Kunst (etwa AS, 445) auf, zur Musik, mit Ausnahme von Händel, weniger. 84 Vgl. etwa AS, 11 u. 55, wo sie Breton, Bataille, Artaud oder Aragon u. a. nennt. Bohrer weist darauf hin, dass sie Nietzsche nicht gelesen habe. (vgl. Bohrer 2017, 380) Sie nennt aber Nietzsche (direkt: AS, 181 oder indirekt: AS, 75, das »Apollinische« und »Dionysische«), auch Heidegger (AS, 9f., 395), Roland Barthes und Derrida, aber insgesamt tauchen die französischen Poststrukturalisten eher vereinzelt auf.

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Im Sinne von Kristevas Begriff der Intertextualität85 lassen sich darüber hinaus textuelle Anspielungen auf einzelne Werke86 bzw. Namen von Orten, Plätzen, Straßen und Wohnungen in Paris feststellen: Häufig genannt werden insbesondere Orte des Surrealismus’87 wie die Place Sulpice (z. B. AS, 108, 405 hier im Zusammenhang mit der Kirche St. Sulpice88), die Place Jules Joffrin (wie ursprünglich eine Erzählung heißen soll, vgl. AS, 109, 132) oder die Place Dauphine (wie eine Erzählung tatsächlich heißt, GC, 7–19, auch AS, 373), wo ein Kapitel von Bretons »Nadja« spielt.89 Schneede (2006, 57) betont die Bedeutung der Orte bezogen auf Bretons »Nadja«: »Aber vor allem auch wird die Place Dauphine sowohl für Bretons Werk Nadja als auch für Aragons Paysan de Paris eine besondere Rolle spielen: Die Place Dauphine, mit ihrer schmalen Öffnung zur Ile de la cité als Vagina gedeutet, sollte in Nadja einer der geheimnisvollsten Orte der Begegnung zwischen dem Autor und einer seiner Hauptfiguren werden.« (Schneede 2006, 57f.)

Die Plätze, konkreten Orte und künstlerischen Räume der Surrealisten, die Straßen, in denen sie ihre Wohnungen hatten, aber etwa genauso das surrealistische Motiv des Flohmarkts (wie in der Erzählung aus »Nachtblind« »Postkarten vom Marché aux Puces«), spielten gerade in der ersten Zeit des Aufenthalts von Gruenter und Bohrer in Paris biographisch eine durchaus bedeutende Rolle: »In den ersten Tagen dort, wenn Undine beglückt am Cafétisch an der Place Jules Joffrin saß, sagte ich: »Undine, guck nicht so, Benjamin wohnt hier nicht mehr um die Ecke. Benjamin hatte hier ohnehin nicht gewohnt, aber die Surrealisten. […] Wir verfielen auf den Einfall, die äußersten Viertel von Paris zu durchwandern. Aragons Paysan de Paris und Bretons Nadja dienten als geheime Landkarte. Zunächst erkundeten wir die unmittelbare Umgebung, von wo aus unsere graue Straße hinaus zur Gare du Nord führte und die Atmosphäre der Arbeiterviertel atmete. Dann die Goutte d’Or, das Viertel der

85 Vgl. Kristeva (1969). Kristeva wird von Gruenter selbst genannt: AS, 236, auch im Zusammenhang mit der von Kristeva »analysierten« Depression Duras’. Sasse verdankt der Autor den Hinweis auf den »literarischen Raum als der »einzigen Dimension, in der sich die Bedeutung durch eine Verbindung von Unterschieden artikuliert.« (vgl. Kristeva 1967, 345–375, hier: 347; auch: Sasse 2012, 225–240, hier: 227) 86 Sie betont, dass die »Bedeutung eines Textes kaum noch in ihm selbst liegt. Denn jeder Text steht mit vielen anderen, eigenen und fremden, in Beziehung.« (AS, 77) 87 Den sie ähnlich wie Bohrer, aber über Antonin Artaud vermittelt (den Bohrer seltsamer Weise nicht nennt, vielleicht, weil er sich nicht explizit zum Theater äußert), in Richtung des Schreckens denkt. (vgl. dazu auch: Bohrer 1970) 88 Eine ausführliche Beschreibung des Platzes und des Viertels findet sich bei Hazan (2006), 143f. 89 Jener dreieckige »Vaginaplatz« Bretons; es gibt Hinweise darauf, dass sich Undine Gruenter viele Jahre wie eine Figur aus Bretons Nadja oder wie Nadja selbst, einer Figur der 30er oder 40er Jahre, schminkte. Auf diese Weise hat sie wiederum versucht, ihr Leben nach der Literatur zu formen.

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nordafrikanischen Einwanderer, Araber und auch Schwarzen aus den Gebieten südlich der Sahara.«90 (Bohrer 2017, 281f.)

Oft war die literarische Beschäftigung Gruenters mit einer Schriftstellerin oder einem Schriftsteller in Paris mit einer wortwörtlich zu verstehenden örtlichen Erkundung oder Terrainsondierung verbunden. Sie hätte sicherlich das eingefordert, was Köhler für Nizon behauptet hatte, dass es der literarische Ort sei, an dem er abgeholt werden möchte. (Köhler 1995) So hätte sie es wahrscheinlich für sich und alle ihre Orte reklamiert bzw. eingefordert. Den Satz Goethes aus dem »Westöstlichen Divan« leicht abgewandelt, hieße das dann auf Gruenter bezogen: »Wer den Dichter will verstehen, muss seine Wohnverhältnisse sehen.« Sie erkannte in diesem Zusammenhang genauso deutlich die Gefahr einer (Selbst- wie Orts-) Mythologisierung und behielt sich neben ihrer starken identifikatorischen Vorgehensweise wie mit dem Besuch der Wohnungen, bzw. der Orte, an denen bestimmte Schriftsteller gelebt hatten91, den »analytischen« Blick von außen vor, der ihr zugleich die eigene Entwicklung in Hinsicht auf den Prozess ihres Lesens, Denkens und Schreibens verdeutlichte: »Da ich selbst nach der Aufklärer-Epoche (Bonner Zeit) den anderen Strang (Bataille etc.) identifikatorisch durchexerziert habe, gehen mir heute radikale SchriftstellerExzesse gegen Gesellschaft, Familie, Kritik, kurz das Pochen auf die eigene Selbstherrlichkeit – genauso auf den Wecker wie die, ebenso selbstherrliche Gruppe der Objektiven, die sich andauernd um Stadt, Land, Fluß Sorgen machen.« (AS, 342)

Neben der Lektüre der Werke oder der Besuche der Orte spielt darüber hinaus die Auseinandersetzung mit Tagebüchern bedeutender Schriftsteller wie Pavese92, Pessoa, Paz, Camus, Ionesco, Tabucchi, Svevo oder Gombrowicz eine exponierte Rolle für ihr Schreiben. In gleicher Weise betont sie ihre große Affinität zu den »Monologisten des 19. und 20. Jahrhunderts« wie Beckett oder zu den angeführten Proust, Joyce und Kafka. (AS, 123) Des Weiteren wird Musil von ihr

90 Die Place Jules Joffrin spielt in dem Film über Undine Gruenter eine Rolle. Es handelt sich um eine Metro-Station im Norden von Paris, wo u. a. das Rathaus des 18. Arrondissement steht. In der Nähe haben sich Gruenter und Bohrer fast jeden Samstag mit dem Ehepaar Oehler in dem von einer kalabrischen Familie geführten Restaurant L’Etoile des Montmartre getroffen. Dolf Oehler folgte 1991 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft nach Bonn, weshalb Oehlers ihren Lebensmittelpunkt dorthin verlegten, aber noch bis 2015 (von 1981) eine Wohnung in Paris besaßen. 91 Nicht alleine jener der Surrealisten, sondern auch etwa jenen des serbischen, später lange in Paris lebenden Schriftstellers Danilo Kisˇ. (vgl. AS, 108 u. 313) 92 Paveses Tagebuch wird darüber hinaus von Bohrer breiter Raum gewährt, auch bezogen auf Undine Gruenters Lektüre und ihrem »Journal« und im Zusammenhang mit Camus’ Tagebüchern bzw. Baudelaires »Intimen Tagebüchern« und seinem darin beschriebenen Verhältnis zu Frauen. Vgl. Bohrer (2017), 401ff.; Charles Baudelaire: Intime Tagebücher. Übersetzung: Rudolf Palester. Bern: Scherz Verlag 1952.

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genannt: Blok, den Protagonisten aus »Vertreibung aus dem Labyrinth«, nennt sie eine »Kunstfigur, den Mann ohne Eigenschaften«. (AS, 366) Auf Basis ihrer Lektüren entwickelt sie gleichwohl eine eigene »(anti-) literaturtheoretische«, poetologische oder programmatische Positionen, beispielsweise dort, wo sie ihre Nähe zum Surrealismus93, zu einer bestimmten Konzeption der Klassischen (französischen) Moderne94 und zur Bildenden Kunst sowie die Wichtigkeit des Raums95 für ihr Schreiben herausstellt.96 Sie erteilt Realismus97, Naturalismus98 und Psychologismus eine Absage (AS, 129) und redet der Hermetik99 ihres Werks das Wort100. In Auseinandersetzung mit Moderne und Postmoderne versucht sie, den Autor zu retten (AS, 188) oder spricht von der magischen Anziehungskraft der Fremde101 bzw. des Textes als Fremde.102 Selbst 93 Übrigens vermittelt über Benjamins Essay, der den Surrealismus (bei ihm Sürrealismus geschrieben, taucht in dieser Schreibweise bei Gruenter ebenfalls auf (VM, 156) mit dem Simulationsraum in Verbindung bringt. Vgl. Benjamin (1977), 295–310: »Raum ist nämlich jene Erscheinung, »von dem die Lyrik des Sürrealismus Bericht gibt.« (ebd., 301) Und mit der Koppelung revolutionärer und poetischer »Intelligenz« (Benjamin verschränkt kommunistische, anarchistische und surrealistische Ideen) wird dieser Raum zum intellektuellen Standort der 1910er und 1920er Jahre. Benjamin schlüsselt den Raum dazu in zwei verschiedene Phänomene auf: Leibraum und Bildraum. Vgl. dazu: Claudia Breger/Tobias Döhring (Hg.) (1998); auch Bohrer (2017), 127 bezieht sich viele Male auf Benjamins Surrealismuskonzeption. Vgl. dazu auch: Kaffenberger (1998), 39–63, Bachmann-Medick (1998), 19–36. 94 Vgl. Bohrer (2017), 261 und 265, wo er im Kontext seines Prinzips der Plötzlichkeit die Namen der »klassischen Avantgarde« erwähnt: Walter Benjamin, Marcel Proust, Virginia Woolf, James Joyce und Friedrich Nietzsche. An anderer Stelle distanziert sie sich aber wie erwähnt von Bohrers Konzeption der Plötzlichkeit. (In: AS, 324. Vgl. 29, 398 in dieser Abhandlung). 95 Vgl. die Betonung der Texträume »wie ein Haus« (oder wie ein »Essen«) (VM, 181). 96 AS, 167: »Schreiben heißt, sich in einen Raum hineinzubewegen, wo man völlig allein ist, mit den Dingen, mit sich.« 97 AS, 314: »[…] die Selbstgerechtigkeit der Leute, die an die Realität glauben und an den nach wie vor gefeierten Stil des Realismus.« 98 AS, 456: »[…] der Naturalismus habe gelehrt, alles zu vermeiden, was nicht Handlung sei […].« 99 Sie benutzt den Ausdruck selbst (AS, 49, 55, 71 u. 466) oder spricht von ihrem »gläsernen Hermetismus« (AS, 129 oder AS, 19: »Leidenschaft der Form [im Text kursiv gedruckt, Ergänzung SW] – Hermetische Sprache als Abgrenzung gegen die Banalität des Alltags, der Sprache, des postmodernen Kulturbetriebs.«) 100 AS, 129: »[…] andererseits ist meine Abneigung gegen Psychologismus und Naturalismus nach wie vor ungebrochen.« Wiewohl sie dieser Hermetik, die sie als »Hermetismus« bezeichnet, an anderer Stelle wiederum entgegentritt. 101 AS, 53: »Warum ist die Figur der Liebe immer der Fremde? Ist es das Plötzliche, das Überraschende? Weiter, weil das auf den Aspekt der Sensation anspielt. Stattdessen signalisiert die Figur des Fremden in der Liebe den Ausbruch aus Finalität und Wert – der Fremde ist der über den kein gesichertes Urteil möglich ist, über den man nichts weiß, der nichts verbürgt, den man nicht in eine Planung, Zukunft, in Gewißheit überführen kann. Die Liebe zum Fremden zeigt deshalb die Struktur der Leidenschaft in reinster Form: ohne Zwang, ohne

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wenn es auf den ersten Blick wie ein Widerspruch anmuten mag, lag es insofern doch nahe, ihren »literaturtheoretischen Positionen«, die nicht viele Autorinnen und Autoren für sich reklamieren können, als den von ihr formulierten Vorgaben Rechnung zu tragen. Zu beachten und auf sie selbst anwendbar bleibt dagegen die von ihr geäußerte Skepsis in Anbetracht von »Selbstkommentaren« und programmatische Äußerungen von Autoren: »Im Übrigen: das, was der Künstler als Manifeste über seine Ästhetik, seinen Stil, die Form etc. schreibt, deckt sich zumeist nicht mit dem im Text tatsächlich Erreichten. Beides weicht voneinander ab, läuft parallel, überschneidet sich selten – überflüssiges und notwendiges Zusammenspiel zugleich.« (AS, 360) Allerdings sei, fast kontrapunktisch oder im Sinne einer Gegenführung, an die angeführte gegenseitige, wenngleich nicht immer gewollte und bewusste Beeinflussung zwischen Gruenter und Bohrer (Bohrer 2017, 407) erinnert, worauf Bohrers Bemerkung abzielt, dass zwei seiner Bücher im Regal Gruenters standen, als sie sich kennen lernten: »Undine, die ich sehr selten bei den abendlichen Einladungen ihres Vaters gesehen hatte, las mehr oder weniger alles, was ich geschrieben hatte. Vor allem mein erstes Buch, Die gefährdete Phantasie, und das letzte Buch über die Plötzlichkeit nahmen sie in Beschlag. Mir war das aufgefallen, als ich, zu Gast bei der Familie, in Undines Arbeitszimmer übernachtet hatte. Beide Bücher standen da, übersät mit Anmerkungen und Ausrufezeichen.« (Bohrer 2017, 261)

Überdies weist umgekehrt Bohrers Werk von 1989 »Die Kritik der Romantik«, das erscheint, als beide bereits in Paris lebten, was Namen und programmatische Überlegungen betrifft, Überschneidungen zu Gruenters Werk auf, in Hinblick auf die Einflüsse von Benjamin, Blanchot103, Baudelaire, Apollinaire104, Breton,

Ziel, ohne Erfolg oder Nichterfolg, einfach vom Brennen des Körpers initiiert. Die Gesellschaft geht auf Dauer, die Liebe auf Brennen – das ist die Energie, die uns lebendig macht, das ist sie, die Herzzeit.« Hier ließe sich an Georg Simmels »Exkurs über den Fremden« (1968) denken. 102 AS, 355: »Dann: das Geheimnis. Der eigene Text ist fremd, sobald er den Schreiben anblickt [hiermit spielt sie auf ein Adorno-Zitat an, SW], ist nicht mehr Echo und Ausfluß des schreibenden Ich, sondern Text als Abwesenheit von Zeit, als Stille. Das Ich ist als Nicht-Ich im Zentrum der Sprache – in der Stille – aufgehoben. Deshalb kann der Schreibende im Text niemals seine Identität suchen, finden oder ausdrücken (auch keine anderen realen Personen), weil der Text- der eigene, enteignete – das Andere ist, das Fremde. Im Schreibprozeß drückt sich das so aus, daß Schreiben kein Definitionsprozeß, sondern ein Lauschen und Einkreisen ist (Das Andere, was in ihm spricht, durch ihn spricht).« 103 Vgl. AS, 354 und Bohrer (1989), 17, verweist auf Breton, der das »Athenäum« der Brüder Schlegel in Frankreich bekannt machte. 104 Bohrer (1989), 40 u. 48: Bohrer weist darauf hin, dass der Vor- oder Nichtsurrealist Apollinaire den Begriff des Surrealismus erfand, das erste Mal 1917 in einem Programmheft zu Eric Saties Ballett Parade benutzt wird. Vgl. dazu auch: AS, 137.

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Cortazar105, Aragon oder konkreter Werke wie das Langgedicht »Zone« von Apollinaire. Gruenter bringt in diesem Kontext und darüber hinaus Bilder von Seurat in Stellung, »die in jenem, von den Parisern im 19. Jahrhundert Zone genannten Bereich angesiedelt sind, das auch Niemandsland heißt.« (AS, 26) Bohrers Position der »Rezeption der deutschen Romantik« durch die Surrealisten Breton und Aragon wird von Gruenter allerdings nicht durchweg geteilt106, allein deshalb nicht, weil sie sich explizit für die deutsche Romantik kaum bis gar nicht interessiert. Dennoch finden sich gedankliche bzw. reflexive Übereinstimmungen mit dem Surrealismus, was die Texte von Aragon »Le Paysan de Paris« (vgl. Bohrer 1989, 57) und Breton »Nadja« (Bohrer 1989, 59) betrifft. Ebenso wenig wird das Phantastische im Sinne des Bösen (Bohrer 1989, 18ff.) in dieser Ausschließlichkeit von Gruenter in ihrem literarischen Werk aufgenommen, es taucht allerdings ansatzweise in ihren »programmatischen Schriften«107 und einigen unveröffentlichten Entwürfen auf. Sie weist im Zusammenhang mit einer Breton-Ausstellung in Paris darauf hin: »14. August 1992 [Jahreszahlergänzung SW]. In der Breton-Ausstellung. In einer Vitrine mit Buchausgaben der Märchen Achim von Arnim, mit Illustrationen von Valentine Hugo und dem Vorwort Bretons, der Arnim erst eigentlich für Frankreich entdeckte, ist, in einem vollkommen quadratischen Rahmen, der, für die Kleinheit des Bildes, recht breit ist. Mit abgestuften Reliefs in rötlich geflecktem Gold, eine lavierte Zeichnung, eher ein Aquarell (von Hugo) zu sehen.« (AS, 465f.)

Freilich muss daneben betont werden, dass sich gerade im ersten Teil »Die moderne Wiederentdeckung der Romantik« von Bohrers Werk »Die Kritik der Romantik« einige Denkbilder und Vorstellungen befinden, die mit Gruenters Konzepten in Verbindung gebracht werden können. Es ließe sich dabei an die von Bohrer in Anlehnung an Benjamin exponierten Phänomene wie »das Wunderbare (im Alltäglichen)« (vgl. auch AS, 427) und dessen Absetzung vom romantisch »magischen Wunderbaren«, die »Selbstreflexivität des Kunstwerks«, das »täglich Wunderbare« bei Aragon oder die ebenfalls von Aragon herausgestellte 105 AS, 110, 297, 311 u. 343 (das Werk bzw. den »Paris- und Buenos Aires-Roman« nach dem Kinderspiel Himmel-und-Hölle, span. Rayuela. Vgl. hierzu: Julio Cortázar: Rayuela. Himmel und Hölle. Aus dem Spanischen von Fritz Rudolf Fries. Mit einem Nachwort von Christian Hansen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, 351 u. 456. Vgl. auch Bohrer (1989), 39 u. 56. 106 Obwohl sich bei ihr vereinzelt Hinweise darauf finden, vor allem in Hinblick auf den Traum, vgl. AS, 285: »[…] aber das romantische und surreale Projekt der Ineinanderschiebung von Realität und Traum: das ist weder ein psychisches Problem als ein intellektuell ästhetisches Konzept.« 107 Von postmodernen Theoretikern tauchen nur Roland Barthes und sehr vereinzelt Derrida, Foucault oder Lacan auf. Es erscheint erstaunlich, dass sie, selbst in Paris lebend und wohnend, von den poststrukturalistischen »Pariser Denkern« kaum etwas aufnimmt. (vgl. auch Bohrer 2017, 274). Für Bohrer war Lyotard zentral, den Gruenter ebenso nicht nennt.

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»Metaphysik der Orte«108, denken. Benjamin spricht in diesem Zusammenhang von »mystischen Orten« als »Ufer des Unbekannten und des Schauders«, als »Gefühl des Fremdartigen«. (Benjamin 2017, 55f.) Gedacht werden könnte ebenfalls an Benjamins Begriff bzw. Vorstellung der »profanen Erleuchtung« (vgl. AS, 196, auch EA, 65). Gruenter nimmt das Wunderbare bewusst mit in ihre »Stadtmythologie« auf, wo sie schreibt: »Gestern Abend im Palais Royal. Unter der Arkadendecke, über den Geschäften, muß es Wohnungen geben […] Diese Wohnungen – kein Tageslicht – sind noch seltsamer als die Wohnungen in Passagen. Es sind Höhlen, Kästchen – nicht für Menschen, sondern für Märchenfiguren. Wer kann da leben? […] Es gibt diese Orte, die plötzlich (wegen ihrer Architektur, ihrer Verlassenheit oder einer anderen zufälligen Eigenschaft) irreal wirken. In diesem Fall kommt es vom gelblichen Licht der Laternen. Kurz: das Wunderbare ist der Sprung. (Es gibt es nicht, es existiert, wie das Einhorn, nur im Bewußtsein.) Aus der Realität der Dinge in die Psyche und umgekehrt.« (AS, 335)

Unter diesen hier angeführten Voraussetzungen lassen sich durchaus Konstanten bzw. Kontinuitäten im Werk Gruenters festzustellen. Selbst bei jedem nur oberflächlichen Blick ist die »Schaffung einer französischen Welt« deutlich erkennbar: Es handelt sich dabei nicht um die französische Welt, die eher als »Inspirationsraum« und »Imaginationsraum« fungiert, sondern um eine von der Autorin erst geschaffene Pariser Welt109, eine literarische »Ethnographie von Paris« im Sinne der Kreation eines künstlerischen Kosmos’110. Dabei wird immer von konkreten Orten ausgegangen, im wahrsten Sinne des Wortes werden diese »aufgesucht«. »Wir gingen also zeitlos durch diese grauen Viertel, ohne viel zu reden. Die Art von Melancholie, die dieses Grau ausdrückte, führte nicht ins Depressive, sondern ins Träumerische. Eine gewisse Gleichförmigkeit, die es in London nicht gegeben hatte, wo sich die Farben der Häuser, an den ich entlang gegangen war, lebhafter brachen und die unterschiedlichsten Formen aufeinanderstießen, weil sie vom Impuls einzelner Bauherren so entschieden worden waren, nicht von einem großen Plan. Aber das Ergebnis eines großen Plans hatte in Paris keine architektonische Misere angerichtet. Undine hatte natürlich immer den Paysan de Paris im Kopf. Sie dachte zu dieser Zeit auch noch

108 Vgl. Louis Aragon (1975), 17; vgl.: ders. (1973), 65ff., Bohrer (1989), 59 und AS, 186. 109 Bemerkenswerterweise taucht Gruenter in der bekannten Anthologie von Paris-Texten »Licht über Montmartre. Ein Paris Lesebuch.« (hg. v. Loquai 2009), nicht auf. Vgl. hierzu das Werk von Eva Léandre, einer ehemaligen klassischen Tänzerin, die die Wohnung auf der Rue Robert Planquette nach Bohrer und Gruenter bezog, im Film von Hugi auftritt und mit dem Fotografen Jim Monfort Werke zu Montmartre veröffentlicht hat. Vgl. Léandre (2009). 110 Hier im Sinne von Cassirer (2006) verstanden. Der Begriff wird von Gruenter in Bezug auf den künstlerischen Schöpfungsprozess benutzt (vgl. AS, 223 u. 359). Hierzu finden sich viele weitere Textbelege sowohl bei Gruenter als auch bei Bohrer (2017), vgl. etwa: 287 oder 408.

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immer »progressiv«. Sie träumte sich in Aragons Dunkel der Vorhöfe als zukünftiger Explosionsorte sozialer Entwicklungen.« (Bohrer 2017, 292)

Bohrer unterstreicht, dass Gruenter durchaus eine Art »romantischen Blick« bis hin zu beinahe »sublimen Kitsch« entwickelte.111 Wortwörtlich prononciert er: »Tief innen war sie eine Romantikerin, ein »romantisches Phantasiegeschöpf«, die Atmosphären und noch mal Atmosphären darstellte, auf der Suche nach den Orten der Surrealisten, diese Perspektive dann aber später in ihrem Werk wendete«. Überhaupt scheint »Kitsch« und die Diskussion darüber durchaus immer wieder ein Thema in den Gesprächen im Freundeskreis wie in theoretischen Diskussionen gewesen zu sein. So stellt Oehler, der neben Betz zusammen mit seiner Frau Ulrike bis Anfang der 90er Jahre zur engsten Entourage von Gruenter und Bohrer gehörte, in einer geistreichen Skizze bzw. einem Essay von 1989 im »Merkur« einen Zusammenhang oder scheinbaren Gegensatz und eine Verbindung zugleich zwischen dem Kitsch und dem Erhabenen her, der wie eine Entgegnung zu Gruenter verstanden werden könnte, wo er in einer Art sokratischem Dialog zwischen einem Kollegen (Er) und dem Erzähler (Ich) schreibt: »Kein Mensch will das Triviale verteidigen: Nur warum in aller Welt muß es gleich das Erhabene sein, das an seine Stelle tritt?« (Oehler 1989, 791) Der Dialog legt zudem nahe, dass das Erhabene112, ähnlich wie der Kitsch, allerdings ex negativo, mit einem »moralischen Anspruch«, einem Appellcharakter« (ebd., 792) daherkommt, was es dann wiederum politisch so gefährlich macht, wie die deutsche Geschichte gezeigt hat. Insofern könnte der folgende Satz wie ein Kommentar zu Gruenters Prosa verstanden werden: »Es gibt also einen erhabenen Stil in der Moderne, der eine Auseinandersetzung mit dem Kitsch voraussetzt, anders gesagt: das Erhabene ist, ohne die Kritik am Kitsch nicht zu haben.« (ebd., 795) Diese Suche nach dem Erhabenen, an anderer Stelle dem Sublimen bzw. dem Anmutigen, wird mit Positionen des »deutschen Idealismus’« verbunden. Wie in einigen Merkur-Artikeln, wird hier bei Oehler in guter hegelianischer Tradition, ein Phänomen des Ästhetischen mit seinen politischen oder gesellschaftlichen Folgen und Implikationen, im Verweis auf Heine und seiner Kritik an der Romantik in Verbindung gebracht. Oehler nimmt in diesem Zusammenhang die Verbindung bzw. Unterscheidung zwischen »ästhetischer bzw. literarischer Selbstfindung« und »messianischer-engagierter-revolutionärer Literatur« vor, was im Zusammenhang mit der deutschsprachigen Paris Literatur insgesamt 111 Gruenter hat sich ebenso mit dem Begriff Kitsch auseinandergesetzt, den sie »falsches Denken« nennt (AS, 239). 112 Bei dem Begriff des Erhabenen sei an Friedrich Schillers Epoche machende Abhandlung von 1801 »Über das Erhabene« erinnert, der wiederum den Begriff von Kant übernahm und veränderte. Vgl. Friedrich Schiller 1966: Werke in drei Bänden. Werke II, 607–618. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München: Hanser 1966; Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Band 10 der Werksausgabe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974.

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bedeutsam erscheint. (vgl. Oehler 1988, 513) Die Verbindung bzw. die Nähe des Erhabenen zum Begriff des Sublimen wird von Gruenter selbst hergestellt, wo sie in einem Brief vom 13. 02. 1995 an Döring schreibt: »Zur Kategorie der Zerstörung – ich betrachte meine Arbeit als ein Abfragen bestimmter Kategorien der Moderne – lese ich sehr gern Tapies und Walter Benjamin (Der destruktive Mensch) zum Erhabenen beschränke ich mich praktischerweise auf K.H.B., auch wenn ich es für mich wieder das Sublime nenne. [Unterstreichung Gruenter, SW] […] Ich hoffe, der Brief dient Ihnen als kleines Wappenschild.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr)

Zudem interessierte sich Gruenter für die Surrealisten desgleichen durchaus im Sinne einer »unrealistischen«, politisch-sozialen Utopie (genauso wie Benjamin), dem Ungewöhnlichen, der Revolution, besser der »Konvulsion einer Revolte«, wie das »Bekenntnis« von Breton (findet sich in ähnlicher Form auch bei Aragon) für »konkrete Orte« lautet.113 Aber es bleibt bei Gruenter stets semiotisch-ästhetisch gewendet wie bei den Motiven von Belleville bzw. den »Arbeitervierteln«. (vgl. Halay 2015) Im konkreten gesellschaftlichen Sinne spielt »das Politische« für sie, respektive ihr Schreiben, wenn überhaupt, eine eher untergeordnete Rolle. Selbst bei der »Stadt Paris« handelt es sich um eine durch die Literatur, Bildende Kunst oder den Film künstlerisch vermittelte Stadt am Beispiel der Kanäle, Straßen, Plätze oder Orte in Paris114, wie das durch die Nebelfilme der Nouvelle Vague über Marcel Carné bekannt gewordene »Hôtel du Nord« (AS, 128)115. Letzteres geschah darüber hinaus durch die Chansons von Charles Tre113 Wie sie auch Benjamin verstand, dem der Surrealismus zunächst fremd war. Vgl. Eilenberger (2018), 376f. Es sei daran erinnert, dass es mindestens zwei Richtungen innerhalb des französischen Surrealismus gab: Zum einen diejenige von Breton, der sich selbst in den späten »Manifesten« von 1928 etc. immer für eine individuelle lebensweltliche Haltung aussprach und jene von Éluard und später Aragon, die eher auf eine politisch-kollektive Richtung setzten, dokumentiert durch ihre Moskau-Besuche in den dreißiger Jahren. 114 Wiederholt taucht bei ihr der Canal St. Martin auf (vgl. AS, 106 u. 128), an dessen Ufer Gruenter gerne spazieren ging, ebenso wie am Quai d’Orleans oder an der Île St. Louis (AS, 276). Gruenter nennt in einem unveröffentlichten Fragment mit dem Titel »Friedhofssitzung«, als sie mit einem befreundeten jungen Comic-Zeichner auf einer Bank im Cimetièrere Montmartre sitzt, ihre Lieblingsplätze in Paris: »[…] meine Plätze. Der Friedhof Montmartre, der Garten im Palais Royal, das Café an der Place St. Sulpice, der Square an der Rue Caulaincourt, die Bänke am Canal St. Martin.« (unveröffentlichtes Manuskript, unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Kleine Prosa) 115 Das Hotel du Nord am Canal St. Martin, früher eine No-Go-Area, ist besonders durch den Roman von Eugène Dabit von 1931 und durch die Verfilmung von Marcel Carné von 1938 so berühmt geworden, dass es fast zu einem Pariser Wahrzeichen geworden ist. Vgl. dazu: Tilmann Krause: An der Seine wird ganz schön geschuftet. In: DIE WELT, 14. 04. 2015, unter: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article139531980/An-der-Seine-wird-ganzschoen-geschuftet.html (zuletzt abgerufen am 12. 09. 2019). Tilman Krause: Bleibe in der Stadt des Noch. In: Die Literarische Welt, 11. April 2015, 8. Carné drehte im gleichen Jahr noch »Hafen im Nebel« in Le Havre, der bis heute als eines der bedeutendsten Beispiele des

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net, aber ebenso über diejenigen von Jacques Brel (AS, 33) oder Juliette Greco, Edith Piaf, Georges Brassens bzw. Ives Montand. Nach Auffassung Bohrers führte all dies mit zu der Vorstellung von Paris als einem »imaginären Ort der Phantasie« (Bohrer 2017, 280f.) Es sei in diesem Kontext noch einmal besonders hervorgehoben, dass sie an »realen Orten ansetzte«, wie Bohrer schreibt, und dass es sie beide – »solange Undine noch gehen konnte« – ohne einen Stadtplan zu bestimmten Gegenden von Paris zog: »Undine und mich zog es vor allem in die Gegend jenseits des Friedhofs von Montparnasse. Vorbei an den Mauern des Gefängnisses, dann weiter zur Rue de la Gaȋté in Richtung Rue d’Alésia. […] Das dahinter liegende Viertel hatte gar keinen besonderen Charakter, wie etwa die Gegend von Belleville, die Avenue des Pyrenées hinunter bis zur Place Gambetta und bis an den Rand der Stadt, ganz zu schweigen von der Rue Ménilmontant, in der die alten Chansons zu hören waren. […] kleine Gemüseläden, Metzgereien, wo die Schweine noch geschlachtet vor der Tür hingen. […] es kam uns zustatten, dass keine Karte von Paris zu Rate gezogen wurde, geschweige denn ein Reiseführer. Vor allem kein Reiseführer! Von dem offiziell berühmten Paris nahmen wir keine Kenntnis [Hervorhebung SW] […].« (Bohrer 2017, 287)

Dabei handelt es sich hier zu gleichen Teilen um eine Art identifikatorisches wie zugleich im künstlerischen Akt sich distanzierendes Verhältnis zu den Orten in Paris. Ebenso wenig ging es Gruenter um das bekannte Paris der Moderne, jenes von Rilke116, Claudel oder Rodin117. Es galt ein anderes, metaphorisch ausgedrückt, »unterirdisches«, ästhetisches und künstlerisch gewendetes, palimpsestartiges Paris zu suchen und zu finden, das an jene Vorstellung erinnerte, wie sie Benjamin in seinen »Städtebildern« oder Hessel in seinem Werk »Heimliches Berlin« beschrieben hatten, »eine Stadt, in der man sich verlieren kann«, die einem »un-heimisch« wie »unheimlich« zugleich werden konnte.118 Nach Hessel machte das die eigentliche Kunst der Stadterkundung aus. Selbst wenn er nicht weiter explizit von Gruenter genannt wird, so bleibt sie doch in Hinblick auf seine Überlegungen und Perspektiven nicht unbeeinflusst von Hessels Ansatz. Es war

französischen poetischen Realismus gilt und der Kaurismäki für seinen gleichnamigen Film von 2011 inspirierte. 116 Sie nimmt nur ganz kurz Bezug auf Rilkes Werk »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« in dem Essay »Wandern die Augen«. Vgl. Gruenter (2002), 66. 117 Ohne zu sehr zu psychoanalogisieren, könnte man darauf verweisen, dass darin evtl. eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater lag, der die Moderne, allen voran Paul Claudel, aber auch Rilke, besonders schätzte. 118 Hessel (1982), 93. Müller-Funk (2016, 77ff.) weist darauf hin, dass der Begriff des »Unheimlichen« die Logik des Deutschen der Vorsilbe un- durchbricht bzw. dass die Konnotation von heimlich keinesfalls mit heimelig, zum Haus gehörend, verstanden werden kann, sondern genau das Gegenteil meint.

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die Suche danach, wie jemandem eine Stadt wieder neu fremd werden konnte119, ein Impetus, von dem gleichwohl Hessels Freund Benjamin angetrieben war, wie er in der berühmten Formulierung schreibt, dass man »Berlin schneller von Moskau aus sehen lernt«.120 Zugleich bedeutete dies ein Sich-Abstoßen von dem Gewohnten, vom Eigenen. Die Autorin markiert deutlich eine Distanz zu jener Welt, der sie entstammte und in der sie einmal gelebt hatte (in diesen Fall die Bonner Republik respektive das Rheinland).121 Diese Art von Distanzierung lässt sich in Ansätzen später ebenso hinsichtlich der »realen Pariser Welt«, in der sie lebte und die sie fast pathetisch als »ihr Zuhause« oder ihre »Heimat« bezeichnete, beobachten (AS, 161). Insofern ist der von ihr herangezogene Begriff des Exils122 durchaus in einem kulturellen Sinne hierauf zu beziehen, aber im Dafürhalten Gruenters in einem ästhetisch gewendeten Sinne zu verstehen123, ähnlich wie es Oehler für Nizon feststellt: »Auch Nizon ist in gewisser Hinsicht Flüchtling, obschon kein politischer – was bei einem Schweizer ja auch kaum vorstellbar ist -, sondern Flüchtling in einem übertragenen Sinne, jemand, der aus der Enge – des bürgerlichen Alltags im allgemeinen, seiner Heimat im besonderen – hat ausbrechen wollen, ausbrechen müssen, um nicht zugrunde zu gehen. Ein solcher moralischer Flüchtling hat immer auch etwas von einem Ausreißer an sich, einem »Flüchtling«, wie Nizon selber sagt, er ist immer Rebell und Taugenichts in einer Person, und in dem Pathos seiner Flucht steckt immer ein Gran Leichtsinn. Was ihn treibt und in Bewegung hält, ist die fixe Idee, im Leben ankommen

119 AS, 464: »[…] über das Zum-Ersten-Mal-Sehen der Dinge. […] Es geht darum, sich für jene unverhofften Zustände offen zu halten, in denen die Dinge in ungewohnter Beleuchtung auf uns zu rücken, um das, was Breton beschreibt, wenn er sagt, daß ihm plötzlich bei der Betrachtung eines Gegenstands ein Wind um die Schläfen zu wehen scheint und die Haare wie elektrisiert vom Kopf abstehen.« 120 Walter Benjamin: Städtebilder. Fotografiert von Anna Blau. Mit einem Nachwort von Peter Szondi. Frankfurt: Suhrkamp 1992, 7. Benjamin steht dabei ebenfalls unter dem Einfluss surrealistischer Konzeptionen, wie Gruenter im Zusammenhang mit dem Ersten-Mal-Sehen nahelegt (AS, 464). 121 Vgl. dazu die Provinzialismus-Debatte im »Merkur«, 1. 11. 1990, siehe dazu auch: Bohrer (2012). 122 Dieser Begriff wird von ihr selbst mehrmals gebraucht, auch in Zusammenhang mit (geistigem) Asyl: vgl. z. B. AS, 291, 492: »Thema Exil. Was ich neulich in einem Fernsehinterview mit Brodsky schon so angenehm fand: die Entsentimentalisierung des Exils für den Schriftsteller.« Gruenter spricht von ihrem »Alltags- und Sprachasyl«, vgl. AS, 106. Man könnte auch von einer Art »Selbstasyl« sprechen. 123 Gruenter war sich der vielen gesellschaftlichen bzw. kulturellen Rollen, bezogen auf »Identitäten«, der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen, oder wie Hansen das nennt, »Primär- und Sekundärkollektiven« (Hansen 2009), die sie zu spielen hatte, durchaus bewusst, genauso wie sie ihre Individualität als Schriftstellerin betont. Vgl. AS, 290f.: »U.G. als Schriftstellerin, nicht als Tochter, Geliebte, Freundin, Schwester, oder was man sonst noch für Rollen zu spielen hat.«

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zu müssen, im wahren Leben, das, nach dem Wort Rimbauds, »anderswo« ist.« (Oehler 1985, 163)

Trotz dieser Bemerkungen, aber wegen des oben zuvor Ausgeführten wäre es allerdings unangemessen, Gruenters Schreiben ein realistisches Schreiben zu nennen. Prinzipiell wehrt sie sich gegen einen Realismus-Begriff wie den folgenden: »3. November 1988 [Jahreszahlergänzung SW]. Ich habe noch nie an die Realität der Realisten geglaubt. Die Realität ist weder nur das Augenscheinliche, so wie das Phantastische niemals nur das Wunderbare ist.« (AS, 247) Aber sie geht fast durchweg von konkreten realen Plätzen, Orten etc. aus, wie dargestellt wurde. Von daher kommt dem Begriff des Raums besondere Bedeutung zu.

3.4. Raumverfremdung: Ort, Bild und Stimmung Der konkretere Begriff Ort124 wird von ihr häufig im Gegensatz zum weiteren von Raum125 benutzt. Sie spricht gleichfalls von der Literatur als dem »Ort der Wahrheit« (AS, 36) wie dem »Ort des Begehrens« (AS, 41), und kommt immer wieder auf konkrete Orte zurück, indem sie für ihr Schreiben betont: »Ich bin immer von einem Ort, einem Bild, einer Stimmung ausgegangen zu Beginn des Schreibens. Niemals von einer Geschichte.«126 (AS, 46) Insofern kann der Begriff des Realismus dennoch mit als eine Matrix herangezogen werden127, gerade in

124 Vgl. AS, 67 bezogen auf die Orte der Surrealisten Breton oder Aragon, AS, 335: »Es gibt diese Orte, die plötzlich (wegen ihrer Architektur, ihrer Verlassenheit oder einer anderen auffälligen Eigenschaft) irreal wirken. […] das Wunderbare ist der Sprung.« Sie nennt in diesem Zusammenhang die surrealistischen Techniken des hasard objective (AS, 178, 455) und der ecriture automatique (AS, 456). 125 Auch »metaphysischer« im Sinne von Kants Anschauungsformen von Raum und Zeit. Vgl. AS, 130: »Zwischenraum«, AS, 419: »Raum der Zeit« (oder in einem unveröffentlichten Werk »Raum der Erinnerung«), AS, 421: »Familie, die nicht Raum lässt.« 126 An einer anderen zentralen Stelle betont sie im Zusammenhang mit der Technik ihres Schreibens: »[…] die Spannung zwischen erinnerten Bruchstücken und der je neu zu findenden Form der Fiktion – man könnte sie auch den Imaginationsraum nennen – ohne Wände oder wenn, mit transparenten, verstellbaren), als Imaginations-Raum nicht als das Duo von Objekt und Hülle, kristallisiert sich der Raum aus den Gegenständen (Imaginationen) [Hervorhebung SW] selbst heraus.« Sie betont den »Prozeßcharakter, bei dem »nichts zuvor Gegebenes (Raum/Form), (Inhalt/Imagination) feststeht«, woraus sich »der Imaginations-Raum am (zufälligen), [im Original kursiv gedruckt, SW] Ende eines Textes herausgebildet hat (ist also kein Ergebnis eines – etwa architektonischen/berechenbaren – Plans.« (AS, 477) 127 Gruenter drückt das wie folgt aus: »Wie das Gleichgewicht finden zwischen der Fülle (sinnlicher) Alltagserfahrung des Realismus und der Seelenintensität des somnambulen Sprechens, des Lauschens nach innen?« (AS, 130)

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Absetzung davon128, weil es sich hierbei um einen »stilistischen und erzähltechnischen Begriff«129 handelt, der unter Einbezug von ökonomischen, finanziellen oder sozialen Details eine Wirklichkeit simuliert, eine »Konkretisierung der erzählten Welt vornimmt, die in allen ihren Einzelheiten evoziert wird«.130 Gruenter betont allerdings an verschiedenen Stellen zugleich »die Ortslosigkeit der Figuren«, die sich meist in transkulturellen Räumen oder Durchgangsorten befinden wie z. B. Hotels, und die sich in ihrem eigenen Ambiente wie »Eindringlinge« fühlen.131 Auf der zeitlichen Ebene hebt sie die Erinnerung als den einzigen Ort hervor: »Die Erzählungen sind meist erinnerte Geschichte, die erzählt wird in einer gegenwärtigen, aber statischen Situation (wie ein Fuß auf einem Stuhl in einem Zimmer).« (ebd.) Insofern durchziehen fast durchweg realistische Elemente ihre Erzählungen, sowohl auf der zeitlichen wie auf der räumlichen Ebene.132 Fludernik spricht in einem anderen Kontext von einer »Authentifizierung der Geschichte« (Fludernik 2006, 68) und führt dazu weiter aus: »Die Illusion, auf der der Realismus im Roman aufbaut, besteht also primär im »Trick« die Romanwelt als Teil der realen Welt erscheinen zu lassen, nicht, wie meist behauptet wird, eine reale Welt im Roman abzubilden.« (Fludernik 2006, 68f.) Gruenter bildet nicht Welt und erst recht nicht Wirklichkeit ab, sie »beschreibt« sie nicht allein, sondern schafft eine eigene Welt, eine »Metaphysik der Orte« im Sinne Aragons (vgl. Anmerk. 108) unter Benutzung von »Realien«. Diese Orte fungieren zum einen als »konkrete Ort«, zum anderen werden sie zu Punkten in einem Bedeutungsraster, und auf diese Weise im Sinne von Lotmans zu »künstlerischen Räumen«, vor allem zu »literarischen bzw. literarisierten Orten« bzw. Topoi. Sie mutieren durch diese Art von ästhetischer Transformation zu »fremden Orten«, noch deutlicher pointiert, zu fremd-französischen Orten im Sinne des Erzählers oder der Erzählerin. Dabei ist zwischen einer topologischen und topographischen Betrachtungsweise zu unterscheiden: 128 An dieser Stelle soll keinesfalls einem »naiven Realismus« das Wort geredet werden, aber Gruenters Werk hat auf der anderen Seite mitnichten etwas mit einem »Magischen« oder in ihrem Zusammenhang genannten »phantastischen Realismus« zu tun, dazu ist ihr Schreiben zu »realistisch« und weit von jeder auch immer gearteten Phantastik entfernt. 129 Der Begriff des Stils spielt sowohl für Gruenter als auch für Bohrer eine entscheidende Rolle, aber gerade nicht als rein »technisches Mittel«, sondern als Haltung. Vgl. etwa AS, 16, 178, 254, 277, 286, 469 u. 482. Vgl. dagegen Georg Simmels Reserve dem »Stil« gegenüber: Georg Simmel: Der Bildrahmen – Ein ästhetischer Versuch. In: Der Tag. Nr. 541, Berlin: 18. November 1902. 130 Fludernik (2006), 67. 131 Gruenter, Anmerk. zu »Affentänze, Kleine Prosa«, unveröffentlicht, unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Kleine Prosa. 132 Die zeitliche Ebene erscheint dabei viel indirekter, sie kommt beispielsweise in dem bestimmten Zeitgeschmack der Musik etc. zum Ausdruck. Zeitangaben an sich, mit Ausnahmen von Jahreszeitenangaben, kommen in den Werken nicht vor.

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»Während topologische Untersuchungen die Struktur. Architektur, Form oder Figurativität des Textes zu konzeptualisieren, befassen sich topographische sowohl mit Beschriftungsprozessen als auch mit Fragen der Darstellbarkeit konkreter und imaginärer Räume.« (Sasse 2012, 235f.) Der Übergang von konkreten Orten zu imaginären Räumen, die dann zu den »Protagonisten« der Werke werden, ist das eigentliche Thema von Gruenters Schreiben. Die Autorin nennt dies »Imaginationsraum« und beschreibt diesen Raum in Zusammenhang mit dem Schreiben von Memoiren bzw. autobiographischen Bruchstücken als einen »[…] Raum ohne Wände, oder wenn, mit transparenten, verstellbaren.« (AS, 77) »Imaginationsraum nicht als das Duo von Objekt und Hülle, sondern der Raum kristallisiert sich aus den Gegenständen (Imaginationen) selbst heraus. Prozeßcharakter, bei dem nichts zuvor Gegebenes (Raum/Form), (Inhalt/Imaginationen) feststeht, sondern der Imaginationsraum hat sich am (zufälligen) Ende eines Textes herausgebildet (kein Ergebnis eines – etwa architektonischen/berechenbaren – Plans.« (ebd.)

Damit nähert sich die Autorin der Konzeption Lefebvres’ vom espace vecue an, der Darstellung der Entstehung eines »gelebten Raums133 bzw. der Konzeption, dass »ein Raum durch Wahrnehmung und Interpretation zur Situation«134 werden kann.135 Dazu wäre an die Vorstellung de Certeaus zu denken (1988), der zum einen von Raum als »Praktiken im Raum« spricht, sowie zum anderen vom genauen Gegenteil davon, von jenen Orten, die »durch Unbeweglichkeit gekennzeichnet« sind und »spezifischen Äußerungen, Rhetorik und Poetiken folgen«. Gruenter nennt darüber hinaus allerdings ihr Konzept des »leeren Raums«, wie der »leeren Zeit« (AS, 126), das ist das »Ausmerzen des Überflüssigen als Gegenstück zur ständigen Verschwendung, die das Leben bereithält, das uns unaufhörlich Tausenden von Eindrücken aussetzt«. (AS, 247) Von daher lässt sich erneut an Lotmans Konzeption vom künstlerischen Raum denken, den er wie folgt beschreibt: »Die räumliche Abgegrenztheit des Textes vom Nicht-Text zeugt von der Entstehung der Sprache des künstlerischen Raums als ein besonderes Modell bildenden Systems. Folgendes Gedankenexperiment verdeutlicht das: Man denke sich eine Landschaft und stelle sich diese entweder als eine Aussicht aus einem Fenster vor (die Fensteröffnung selbst fungiert dann als Rahmen) oder als ein Gemälde. Die Wahrnehmung dieses (ein und desselben) piktoralen Textes wird in jedem der beiden Fälle unterschiedlich sein: Im ersten Fall rezipiert man den Text als sichtbaren Teil eines größeren Ganzen, und die 133 Vgl. dazu: Christian Schmid: Stadt, Raum, Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raums. Stuttgart: Frank Steiner Verlag 2005. 134 Bernd Hamm/Ingo Neumann: Siedlungssoziologie, Umweltsoziologie und Planungssoziologie. Stuttgart: utb 1996, 254. 135 Eine Vorstellung, die im übrigen Oskar Schlemmer für das Bauhaus entwickelte, den Gruenter anführt. Vgl. AS, 205f. Vgl. dazu ebenso: Konrad Wünsche: Bauhaus, Versuche, das Leben zu ordnen. Berlin: Wagenbach 1997.

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Frage, was sich in dem für den Blick des Betrachters unzugänglichen Teil befindet, ist durchaus berechtigt. Im zweiten Fall nimmt man das in einem Rahmen an der Wand aufgehängtes Landschaftsbild nicht als Ausschnitt einer umfassenden realen Ansicht wahr. Im ersten Fall empfindet man das gemalte Landschaftsbild lediglich als Wiedergabe einer real oder potentiell vorhandenen Ansicht. Im zweiten Fall gewinnt dieselbe Landschaft neben den genannten Fluchtlinien wieder hinzu […].« (Lotmann 1999, 266)

Aber dieses Konzept verfängt bezogen auf Gruenters Werk ebenso nicht vollständig, weil Lotman den Raum in Bezug auf das Theater in der Interaktion der Protagonisten bereitstellen bzw. sich konstruieren lässt.136 Außerdem lässt Gruenter eher Environments entstehen, ein Begriff, der bislang im Zusammenhang mit ästhetischen Überlegungen zuvörderst für die Architektur und die Bildende Kunst benutzt wird.137 Zudem hatte die Autorin die »Unbeweglichkeit als das geheime Zentrum ihres Schreibens« (AS, 47, vgl. 13, 34, 49 dieser Abhandlung) bezeichnet. Bei Gruenter bietet es sich deshalb an, nicht von Performanz138, sondern eher von einer Installation oder Simulation im künstlerischen Sinne zu sprechen. Überhaupt bleibt die Nähe von Gruenters Werks zur Bildenden Kunst virulent, so dass für Gruenters Werk mit Ott festzustellen wäre, dass »[…] der Raum die letzte umfassende Bezeichnung für die zeitgenössische Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen« (Günzel 2012, 25) darstellt. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Es erschien aus den oben dargelegten Gründen sinnvoll, das Motiv bzw. die Interpretationskategorie, wenn nicht das kulturwissenschaftliches Paradigma Raum, behutsam mit in die Überlegungen

136 Außerdem könnte man Gruenter als Subjekt bezogener im Sinne von Schmarsow oder Herrmanns bezeichnen. Vgl. Schmarsow (1894), 1–29, Herrmann (2006), 501–525. 137 Im Besonderen wird dieser Begriff in surrealistischen Konzeptionen betont, zum einen, um die Beziehung von Umwelt und Objekt herzustellen, zum anderen, um die Trennung von Leben und Kunst aufzuheben. Vgl. dazu das »Dadaistische Manifest« von Huelsenbeck (1918): In: Richard Huelsenbeck (Hg.); Dada-Almanach. Berlin: Erich-Reiss-Verlag 1920, 35–41. Gruenter hat sich sehr mit Malern und Bildenden Künstlern verbunden gefühlt, wie die zahllosen Hinweise auf Beeinflussungen gerade auch im Sinne von Besuchen von Ausstellungen bildender Künstler (die Surrealisten, die Kubisten (AS, 361), Mondrian (AS, 361), Kupka (AS, 360), Seurat (AS, 27), Moreau (AS, 23), Delacroix, Sardanapal (beide AS, 23), Schiele (AS, 357), Tizian, Leonardo, Caravagio, Lebrun (alle AS, 445) etc.) oder Böcklin, Runge, Bonnard, Matisse, Marc, Renoir, Fuessli, Monet, Kandinsky (alle AS, 361), Caspar David Friedrich (AS, 473) belegen. Des Weiteren wird bei ihr eine Verbindung zum Hyperrealismus deutlich, wie er sich innerhalb der Bildenden Kunst in Werken von Claes Oldenburg, Edward Kienholz oder Duane Hanson zeigt, später zeitgenössisch bei Jeff Koons. 138 Hier nicht im linguistischen Sinne in Bezug auf Searle, sondern eher im alltäglichen Sinne als »Aus- bzw.– Aufführung« verstanden.

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zum Werk Gruenters einzubeziehen.139 Dieser Raum soll hier im doppel- und mehrfachen Sinne von Topoi (nach Aristoteles in seiner heuristischen Funktion als »Suchort« oder »Suchformel«140) als Schaffung eines konkreten wie ästhetischen Raums betrachtet werden. Darüber hinaus wird dem fremden Raum und dem Schreiben von »Literatur aus der (kulturellen) Fremde«141 (unter Einbezug kultursemiotischer Positionen zu fremden Zeichen, »französischen Zeichen«142 im Sinne einer bestimmten Bildungstradition wie des Surrealismus’143, Ästhetizismus’) Raum eingeräumt.144 Zudem wird die von der Autorin eingeforderte und praktizierte Schaffung künstlerischer Räume unter besonderer Berücksichtigung von Verfremdungstendenzen145 im Sinne surrealistischer Positionen und Konzepten der Konstruktion von ästhetisch fremden oder verfremdeten 139 An anderer Stelle sind Phänomene der Zeit wie das Warten zur Interpretation zu Teilaspekten ihres Werks herangezogen worden oder ein spezifischer Raum wie das Labyrinth, Aspekte, die man mit gleicher Berechtigung für die Interpretation und Lesart ihres Werks heranziehen könnte, wenn gleich hier dem Raum Priorität eingeräumt wird. Vgl. z. B. Bd. 3: Öhlschläger/Perrone Capano 2013, Öhlschläger 2013a, 147–161, Schmeling (2007) oder Benz (2013). 140 Vgl. Aristoteles: Die Topik. Berlin: Epubli Verlag 2018, vor allem: Topik 101b38, dazu auch: Walter Veit: Toposforschung: Ein Forschungsbericht. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Band 37, 1963, 120–163; Peter Jehn (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation (= Res Publica Literaria). Band 10. Frankfurt/M.: Athenäum1972, 20–68. 141 Dem Begriff der Fremde bzw. dieser Kategorie wird sowohl von Gruenter als auch von Bohrer herausragende Beachtung geschenkt, vgl. z. B. Bohrer (2017), 354: »Fremde ist das richtige Wort. Jede andere Benennung wäre ein prätentiös-modisches Verfehlen des Sachverhalts. Ein alberner Anspruch. Dazuzugehören, weil man häufiger im Café de Flore sitzt und dort mit einem Pariser Intellektuellen Gespräche führt: Undine transformierte die Fremde durch ihre semantische Innerlichkeit, ich transzendierte sie durch das von mir seit Jahren aufrechterhaltene Bewusstsein von der Möglichkeit des Lebens als Abenteuer […].« 142 Bei dem Begriff des Zeichens aus semiotischer Perspektive ist jedoch bei Gruenter wiederum Vorsicht geboten, zum einen bezieht sie sich insgesamt kaum auf semiotische Ansätze, zum anderen nennt sie Zeichen »Instrumente des Totentanzes« (AS, 367). Darüber hinaus spricht sie davon, dass die »Welt nicht bedeutungsschwer ist« (AS, 316), sondern wir als Interpretierende sie durch Zeichen erst dazu machen und dass die »Macht der Zeichen (über mich) gebrochen werden muß« (AS, 336). 143 Sie begründet ihre (literarischen) Vorbilder: Breton und Bataille. Vgl. AS, 11f, auch Artaud: AS, 55: »[…], weil sie in der Kunst nach dem Heterogenen streben. Kunst ist nicht Ausdruck von etwas, das ist, sondern Ausdruck eines Verlangens.« Breton wird in »Der Autor als Souffleur« von ihr sehr oft genannt (AS, 9f., 177, 302, 311, 335 u. 465, auch im Zusammenhang mit der angeführten Breton-Ausstellung in Paris, die Gruenter besucht). 144 Vgl. Bohrer (2017), 284: »Dort trafen wir wöchentlich einmal mit neuen Bekannten, einem deutschen Romanisten und seiner Frau, zusammen, die beide fließend Französisch sprachen und uns Paris wie aus der Westentasche nahebrachten, so dass Undine und mir unsere eigene Unkenntnis von Sprache und Stadt immer bewusst blieb.« 145 Explizit sei schon an dieser Stelle darauf verwiesen, dass die Art von Verfremdung nichts mit dem V-Effekt von Brecht zu tun hat, wozu sich die Autorin in »Durch den Horizont« äußert (vgl. Kap. 5.4.2.).

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Räumen Beachtung geschenkt. Auf diese Weise kommt dem »Stadtkörper«146 Paris eine exponierte Rolle zu. »Die gewaltige Anziehungskraft von Paris prägte Undine in allem, was sie zu diesem Zeitpunkt dachte und schrieb. Hervor trat bei ihr eine prinzipielle Differenz im Stil gegenüber den zeitgenössischen westdeutschen Schriftstellern. Es war ein sachlicher Stil ohne Sachlichkeit. Beobachtungen, Darstellungen von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, die ohne den Blick auf politische und gesellschaftliche Vorkommnisse auskamen. Keine indirekten Meinungsmomente. Aus der Nennung französischer Straßennamen und Plätze entwickelten sich unmerklich Geschichten, in denen Menschen wie zu enträtselnde Phänomene auftraten.« (Bohrer 2017, 352)

Anknüpfend an diese Bemerkung respektive Beobachtung ergeben sich beinahe zwangsläufig einige wichtige Aspekte und Motivbereiche in Hinblick auf das Gesamtwerk, worauf im Folgenden einzugehen sein wird.

3.5. Paris als Zentralmotiv des Gesamtwerks Bohrer verwies im Gespräch auf zentrale Aspekte des Werks Gruenters, die für ihn essenziell für das Verständnis der Prosa Undine Gruenters seien, etwa ihre Vorliebe für Stillleben, die natures mortes, wie er (2017, 408) betont: »Stattdessen drängte es sich auf, an einer der letzten Bemerkungen ihres Journals hängenzubleiben und darüber zu reden. Obwohl sie trivial klingen mochte: Immer trifft mich das Verfließen der Zeit wie ein Messerstich.« […] Das Stillleben in der Kunst gehörte zu ihren Lieblingsmotiven. Sie schaute sich lange Abbildungen von Goyas Stillleben an, seine geschnittenen roten Salmstücke zum Beispiel aus dem Buch, das ich ihr vor drei Jahren zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Bei manchen Stillebenmotiven kam die Ähnlichkeit mit ihren eigenen Szenen zum Vorschein: das Unheimliche, das Stillleben haben können. Das hatte sich in den Epiphanien intensiv ausgedrückt. […] Sie sah sich auch Raphaells Peales trompe l’oeil von 1822, Venus rising from the sea – a deception, lange an, ein aufgehängtes weißes Tuch, dahinter nur schwach sichtbar eine nackte weibliche Gestalt.«147

Gruenter betrieb nach Bohrers Schilderung geradezu einen regelrechten Kult des Stilllebens148, was die Frage aufwirft, welche Stillleben gemeint waren. Dabei 146 Vgl. dazu: Gargano (2013), 28–39, hier vor allem: 39. Vgl. dazu ihren Begriff der »Verwandlung der Toponyme«, 34; vgl. dazu: Günzel (22009), Hallet/Neumann (2009), 11–32, Nünning (2009), 33–52. 147 Vgl. dazu: Bohrer (2017), 380 noch einmal zu den Epiphanien: »Diese Prosa entwarf Dramen als Stillleben.« Vgl. auch: Bohrer (1997). 148 Köhler betont in jenem Gespräch mit Matz im Deutschen Literaturarchiv Marbach, dass Undine Gruenter gern Karten mit selbstgemachten Fotographien als Stillleben verschickte, wie zu Beginn ihrer Freundschaft eins aus ihrer Küche mit dem Titel »Tote Fische«.

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handelte es sich keinesfalls allein um berühmte oder bekannte Stillleben: Sie bewegte sich dabei fort von der symbolisch-allegorischen Deutung in Richtung einer anderen Art künstlerischer Annäherung. In diesem Sinne wäre ihre Rezeption fast im Sinne der Mystik und ihr Werk beinahe kontemplativ zu verstehen. Sie spricht von ihren »geliebten Stilleben von Chardin« (AS, 337)149, oder nennt Stillleben von Nikolaus van Gelder (in der Ausstellung des Warschauer Nationalmuseums in der Alten Pinakothek, München, AS, 358) und von Jean Fautrier (AS, 348ff.). Die Beschreibung Gruenters nimmt sich wie eine Formulierung ihrer eigenen »Technik« aus; zumindest die von ihr selbst gemachten Fotos stellen ebenfalls Stillleben dar, was sie wiederum in ihrem Schreiben beeinflusste: »Vorgestern zeigte ich B. im Louvre meine geliebten Stilleben von Chardin – wenige Dinge, reduziert auf eine stumpfe, eher in dunklen Farben gehaltene Plastizität, auf ihre Essentialität, die klare Linie. Da gibt es kein höfisches Arrangement, keine funkelnden Trauben und matt glänzenden Gläser, kein Damast und keine irisierenden Farbeffekte, und genau das gefällt mir, wie auf den Stilleben von L. Melendez. Das gefällige und artifizielle Arrangement tritt zurück hinter den Dingen selbst, die Bilder stehen unter dem Gesetz der Zurücknahme, nicht des Überflusses.« (AS, 337)

Die Autorin spricht in einem anderen Kontext von der Schaffung von tableaux vivants (AS, 287) oder Standfotos (AS, 475, vgl. auch 335 u. 457) durch ihr Schreiben und »entwarf« außerdem in Form von Photographien kleine »Stillleben« mit unterschiedlichsten Motiven wie Badewannen, Schlössern oder alten Häusern. Es handelt sich hierbei um fast meditative oder zumindest kontemplative Bilder, bei denen das Innen ins Außen übergeht und umgekehrt (darin im Übrigen der Bauhaus-Konzeption verwandt).150 Genauso gehört ihre substantielle Affinität zur »meditativen« Landschaft des Niederrheins in diese Entwicklung, außerdem die Darstellung von Phänomenen der Leere und Langsamkeit, die sie in Paris sucht und die sie selbst in der schieren Akkumulation wie den Markthallen von Les Halles, dem »Bauch von Paris«, entdeckt. (vgl. DH, 106,

149 Der französische Maler Jean Simeon Chardin (1699–1799) zeichnete sich durch seine individuellen Portraits, Stillleben und Genrebilder aus. An einer anderen Stelle stellt Gruenter eines seiner Werke heraus (AS, 302): »Im Louvre sah ich auf einem Nature-Morte-Bild von Chardin, Les Attributs de Musique, neben Mandoline, Kerze, Korn – Was? – ein Buch und: einen Flaschenhals. Zu den Attributen der Musik gehörten also Kerze, Buch und Weinflasche. Ein wunderschönes Bild, leider hängt es zu hoch.« 150 Auf gewisse Weise erinnert diese »Technik« auch an Peter Handkes Werk »Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt.« Frankfurt/M.: Edition Suhrkamp 1969. Hellmuth Karaseks Kritik dazu in der ZEIT ließe sich wie folgt auf Gruenters Schreiben anwenden: »Jemand, der in scheinbar vertrautester Umgebung auf einmal alles als unheimlich, unvertraut, fremd empfände […].« In: DIE ZEIT, 04. 04. 1969, https://www.zeit.de/1969/14/in-der-zwangsja cke-der-sprache/komplettansicht (zuletzt abgerufen: 07. 10. 2019).

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AS, 127f.)151 Diese Phänomene stellt sie in der Betrachtung der Wolken dar (in Anlehnung an Baudelaires berühmten Text152), dem Innehalten vor und an konkreten Orten oder in der Darstellung von Motiven absoluter Verlassenheit. Wieder ist man bei der Darstellung kleiner bäuerlicher Stätten außerhalb von Paris versucht, an Stillleben zu denken, aber auch an Interieurs französischer Restaurants und Bars in Paris, die Bohrer in der Beschreibung Gruenters »leicht anrüchig, traurig, existentiell« nennt. Ebenso gehören Motive oder »Requisiten« wie Zimmer und Gleise (vorwiegend der Vorstädte oder der Zone) oder halb zerfetzter, leicht zerstörter Stangen zu dieser Tendenz. Sie nimmt eine existentiell externalisierte Aktualisierung der Orte vor (weniger auf der Suche nach der verlorenen Zeit, als auf der Suche nach dem erfüllenden Jetzt oder dem Moment). Diese Art von »Suche« geht bei ihr später über Paris hinaus, wie die »Bilder« aus der Normandie153 bzw. von Trouville etc. zeigen. Es geht um semantisch vorgefasste Wirklichkeit(en)154, geprägt und gefiltert von Werken großer französischer Schriftsteller wie z. B. von Proust155 oder den Realisten um Emile Zola156, Guy de Maupassant157, von einer Art Urlandschaft der französischen Literatur, die sich auf den ersten Blick durch eine gewisse Gegenständlichkeit auszeichnet und zugleich doch Anteile des Realismus’ wie des Symbolismus’ und des Surrealismus’ enthält. Das gilt auch für die Darstellung ihrer Figuren. Gruenter spricht in diesem Zusammenhang von den zwei »Modernen« (AS, 380) oder den »zwei Polen der Moderne (AS, 457 u. 468), »entweder den klassischen, d. h. einen relativ geschlossenen, von charakteristischen Merkmalen festgelegten Personenkern, oder den radikalen, d. h. ein nur in seinen Brüchen erkennbares Splitter-Subjekt«. (ebd.) Die eigentliche klassische Moderne, wenn man denn so will, spielt in ihrem

151 AS, 127f.: »[…] das Wasserrieseln eines Brunnens, eines Schlauchs in einem Hinterhof. Und dann das Licht – das so spirituell ist, daß selbst in der größten Mittagshitze das Pflaster nicht von dumpfen, sinnlich-trägem Honiglicht schwer wird, sondern fast transparent und weißlich flimmert. Die Square Constant Pecqueur. Mitten in dieser hektischen Großstadt – Stille, Kontemplation.« 152 Es ließe sich hier an das berühmte Zitat von Baudelaire denken, das auch Bohrer exponiert: »Der Fremde: »wen liebst du am meisten, rätselhafter Mensch, sag? […] »Ich liebe die Wolken…die Wolken, die vorüberziehen…dort… dort in der Ferne…die wunderbaren Wolken.« (Charles Baudelaire: »Der Spleen von Paris.« Kleine Prosagedichte. Herausgegeben, übertragen und eingeleitet von Irène Kuhn. Darmstadt: Lambert Schneider Verlag 2011, 2f.); vgl. dazu: Bohrer (1981), 16. 153 Auch von dem inzwischen verkauften kleinen Haus in Trouville auf der Avenue Cassagnavère im normannischen Stil. 154 Vgl. Stierle (1998), 339ff., vor allem: 1.1. Balzacs Entwürfe einer Stadtsemiotik. 155 Anders als Proust suchte sie aber nicht die verlorene Zeit, sondern eine Art ästhetischzukünftiger Utopie. (vgl. AS, 16). 156 Der als Realist oder Naturalist in Hinsicht auf Gegenständlichkeit nicht unumstritten ist. 157 Den es aufs Land zog, genau wie Aragon den Bauer nach Paris brachte; wieder darf dabei Gruenters Benjamin-Lektüre nicht vergessen werden.

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Werk kaum eine Rolle.158 Unter Umständen zeigt sich hierin zugleich die Auseinandersetzung mit dem Vater, der Claudel und Rilke sehr verehrte. Von Gruenter gemachte Fotos geben beredte Auskunft über die Art und Weise ihrer Wahrnehmung. Öhlschläger (2013, 57) betont die Bedeutung der Stillleben oder »Stillstellungen« wie sie das nennt, für das Werk »Epiphanien, abgeblendet«: »Bildlich umgesetzt werden nun solche Stillstellungen von reiner Zeit in aus Sprache geformten natures mortes einerseits, die keine mimetische Referenzqualität besitzen und sich zur Zeit der dargestellten, fiktiven Wirklichkeit quer stellen. Ihnen eignet die Signatur traumverschlüsselter Rätsel. Die Protagonistin richtet sich in diesem Raum der Zeitlosigkeit ein, sie zögert, beobachtet und wartet, setzt Handlungen aus. Sowohl der an die Gegenwart gebundene Augenblick wie die ins Unendliche gedehnte Zeit der Zukunft werden zurückgewiesen.« (ebd.)

Diese Stillleben besitzen »keine mimetische Referenzqualität« (ebd.). Sie werden im Sinne August Wilhelm Schlegels zu einem unbestimmten Raum als »imaginärer Ressource« der Kunst. So entsteht ein künstlerisch »begrenzter Ort im Raum«, sei er »illusionistisch vorgespielt« oder »als Erfahrungsraum inszeniert«159 bzw. »als künstlerische Einlösung der phänomenologischen Überzeugung« zu verstehen, dass Kunstwerke unsichtbare Raumverhältnisse artikulieren. (Günzel 2012, 24) Dies erstreckt sich auf »Bilder« im Sinne semantisch besetzter Orte, die in Gruenters Darstellung artistisch neu »aufgeladen« werden. In der Erzählung »Place Dauphine« (in GC, 7–13) z. B. wird der Platz so »verfremdet«, dass weder von dem realen Ort noch vom literarischen Platz Bretons etwas überbleibt.160 Durch die »1. Moderne hindurchgegangen« ergeben sich nach Gruenter auf diese Weise Möglichkeiten neuer Darstellungen von Räumen161 im Sinne von Präsentation, Konstruktion, Simulation und Konstitution, in Auseinandersetzung mit dem Autorenstatus (AS, 486) und in Absetzung von der »klassischen Avantgarde«. Bei allen Überlegungen darf dabei nicht vergessen werden, dass sich Gruenter massiv gegen eine Auffassung vom Verschwinden des Subjekts oder den Tod des Autors wehrt, wo sie schreibt:

158 Wie erwähnt finden sich bei ihr kaum Einflüsse von Rilke, Claudel, Rodin etc. 159 Vgl. Ott (32012), 24f.: August Wilhelm Schlegel fordert in seinen »Vorlesungen über philosophische Kunstlehre« (1798–99) zusammen mit seinem Bruder Friedrich die Aufhebung der Gattungsgrenzen innerhalb der Bildenden Kunst und die Erweiterung des poetischen Raums ins Unendliche (»progressive Universalpoesie« wie er das nennt). Vgl.: dies. (2006), 433–443 und Manovich, Guattari/Gilles Deleuze 1993. 160 Ein Hotel wird erwähnt, das Henry IV., das aber seit einigen Jahren (seit 2015) geschlossen ist und dessen Gebäude renoviert wurde. 161 Übrigens auch im Sinne der Neomoderne. Vgl. Schmidt-Salomon (1999) oder Hornscheid (2007).

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»Die Theorie vom Verschwinden des Subjets ist soziologisch politologisch nichts als Anpassung und Unterstützung eines in den technischen Demokratien stattfindenden Prozesses, sie ist reaktionär, antihumanistisch, antigeschichtlich – und gibt sich entweder naturwissenschaftlich (Luhmann) oder anarchistisch (Derrida).« (AS, 188f.)

Zugleich besteht Gruenter auf dem »Grad der Leidenschaft für die Form«162 und darauf, dass man »nie über etwas schreiben« sollte, sondern dass »die Worte dieses Etwas selbst sein müssen.« (AS, 30, undatiert, vor November 1986) Sie »bekennt« zudem ihre Abneigung einer Literatur gegenüber, die sich in einer Art von Storytelling erschöpft: »Einige Leute scheinen immer noch nicht bemerkt zu haben, daß sich die Literatur vom Geschichtenerzählen emanzipiert hat. Die Story ist nur ein Medium, Transportmasse – die Qualität eines Textes entscheidet sich am Grad der Leidenschaft für die Form.« (AS, 16, undatiert, vor November 1986) Es sei noch der Hinweis darauf erlaubt, was diese Untersuchung nicht zu leisten vermag. Zum einen werden sowohl Gruenters »Liebeskonzeption« als auch Gruenters »Zeitkonzeption« nur implizit im Zusammenhang mit den anderen Untersuchungskategorien oder Paradigmata behandelt. Dass die Trennung von Raum und Zeit eher eine künstliche, »methodische Trennung« sei, darauf weist Böhme in Bezug auf Bachtin (vgl. Anmerk. 163) hin, wo er schreibt, dass Raum und Zeit eigentlich nicht getrennt werden können und Kultur beispielsweise einen »Chronotopos« darstellt.163 Das soll die Bedeutsamkeit der erwähnten beiden anderen Aspekte nicht schmälern, zu denen zum Teil aber schon Arbeiten vorliegen. Es hätte aber den Fokus zu sehr ausgeweitet und den Umfang einer solchen Arbeit bei weitem gesprengt164, selbst wenn Bohrer auf den Band »Nachtblind« bezogen nicht zu Unrecht behauptet: »Undines zentrale Thema war die Liebe. Die Möglichkeit der Liebe, die Unmöglichkeit der Liebe, die Vollendung der Liebe. Warum war ihre Schilderung reiner Vorgängigkeit – ohne tiefere Bedeutung ganz in meinem Sinne – so ungeheuer interessant? Weil in dieser Konzentration auf das Vorgängige etwas anderes verschwiegen wurde? Eine Atmosphäre, die man früher »existentiell« genannt hätte, war dabei spürbar. Als das

162 Es sei in diesem Zusammenhang an Gottfried Benns Diktum »Gott ist Form« erinnert. In: Gottfried Benn: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Prosa und Autobiographie. Teil II, Doppelleben. PA. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt/M.: Fischer 1984, 472. 163 Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von John Dewey. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006 (1983). Vgl. dazu: Böhme (2008), 191: »Es ist immer verkehrt, Raum und Zeit gegeneinander auszuspielen, die in jedem kulturellen Element miteinander verflochten sind – eine ebenso triviale wie robuste Wahrheit. In welcher Variante auch immer: Kultur ist ein Chronotopos.« 164 Man könnte mit dem Titel von Liane Dirks daran anknüpfend fragen: »Und die Liebe, frage ich Sie?« Köln: Kiepenheuer&Witsch 1998.

Paris als Zentralmotiv des Gesamtwerks

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Buch fertig war, als es erschien und besprochen wurde, wusste ich, dass wir nicht mehr nach Deutschland zurückgehen würden.«165

Mit ähnlicher Berechtigung hätte man – gerade bezogen auf Untersuchungen zum Phänomen der Zeit und daran anknüpfend – Teile des Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurses166 mit in die Untersuchung einfließen lassen können167, vornehmlich, wenn man bedenkt, dass Gruenter über die Mehrheit ihrer Figuren sagt, dass sie »nicht leben, sondern sich erinnern.« (AS, 96) In einigen Passagen der Untersuchung wird sich darauf bezogen, es stellt aber nicht den eigentlichen Gegenstand der Studie dar. Ansonsten wäre es darüber hinaus möglich gewesen, stärker auf die Figuren- bzw. Personenkonstellation einzugehen, etwa so, wie Amthor (2008) auf die Stadtstreicher (in Absetzung zu den Flaneuren, die im Benjaminschen Sinne wieder in Verbindung mit dem Ort der Passagen zu stellen wären) Bezug nimmt: »Gruenter, die ihre Figuren als Stadtstreicher inszeniert, als Vagabunden des Auges und der Sinne, verleugnet ihren bildungsbürgerlichen Hintergrund in keinem ihrer Texte, gespickt mit »Traumbildern, Stillleben, kunstgeschichtlichen, literarischen und anderweitigen Anspielungen« wird ihrem Werk zuweilen »bildungsbürgerlicher Ballast« attestiert und bringt ihr den »Vorwurf des Prätentiösen« ein. Dabei verschränken sich in Gruenters Texten die Anspielungen auf ihr elaboriertes Bürgertum mit dem Anspruch, die Erwartungen gerade dieser Herkunft zu unterminieren. Doch die Kombination von »essayistischen Auslassungen« und einer Unmenge »literaturwissenschaftlichen Bezugswissens« mit dem wiederkehrenden Prinzip des »Kreisenden und Labyrinthischen« und den erzählerischen Verfahren von Variation, Echo oder sogar fast Kopie, das die Lesererwartungen durchkreuzt, verärgert oder verwirrt viele Rezensenten, weil die Spannung und Kohärenz des Erzählzusammenhangs dauerhaft auf der Strecke bleiben.«168

Von daher lässt sich festhalten, dass jede, und genauso diese Abhandlung, an ihre »natürlichen Grenzen« stößt, um im Bild zu bleiben. Für den Verfasser lag diese Form von methodischer Herangehensweise im wahrsten Sinne des Wortes am nächsten. Denn die Kategorie des Raums lässt sich an den Einzelbetrachtungen der Werke am deutlichsten ausweisen, wie im Folgenden nach einem kurzen

165 Bohrer (2017), 352f. Auch der Film über Gruenter heißt mit einem Zitat von ihr »Das Projekt der Liebe.« (vgl. AS, 41). In manchen Gesprächen mit der Entourage Gruenters wird betont, dass sie »verloren in der Liebe« war. 166 Sowohl der Begriff der Erinnerung als auch jener des Gedächtnisses taucht wiederholt bei Gruenter auf. (vgl. AS, 64, 107, 108, 169, 199, 313, 327, 399, 434, 477, 480 u. 489 (Erinnerung), 34, 107 u. 394 (Gedächtnis), zudem wird der Begriff Erinnerungsarbeit genannt, AS, 313). 167 Den Gruenter allerdings vorzugsweise ex negativo nennt, in Zusammenhang von Raum – Bild – Erinnerung. Vgl. hierzu: Kuharenoka (2013), 175–189. 168 Amthor (2008), 283.; vgl. dazu: Petra Günter: Undine Gruenter Essay. In: KLGonline 2013, 2–6.

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Standortbestimmung

Exkurs zur fremdkulturellen Parisliteratur und der Darstellung biographischer Aspekte (Kapitel 4) zu sehen sein wird.

3.6. Exkurs: Literarische Blicke fremdsprachiger Autorinnen und Autoren auf die Stadt Paris »Alles ist von vibrierender Lebendigkeit, und in dieser Stadt fühlt man die Isolation nicht nur schmerzhaft, sondern auch als Droge – sie betäubt, indem man abgekapselt, zugleich teilnimmt, Alles spielt sich ja auf der Straße ab, im Café, in den Geschäften, im unaufhörlichen Dialog – wie in mediterranen Breitengraden und zugleich ist es eine nördliche Stadt mit einem Atlantikhimmel und nördlichem Klima und Melancholie und Häuservierteln wie Festungen.« (AS, 182)

Beileibe soll hier nicht dem Eindruck das Wort geredet werden, dass der literarische Mythos von Paris (Stierle 1998) oder die »Erfindung von Paris« (Hazan 2006) vorrangig von außen, d. h. von Nicht-Parisern, Schriftstellerinnen und Schriftstellern, geschaffen worden sei. Oehler behauptet, dass »schon seit langem die beste Paris-Literatur von Flüchtlingen und Exilanten – auch solchen freilich des inneren Exils« stamme, hatte dabei aber zuerst Baudelaire, als Repräsentant eines Pariser »Exilanten« im Auge. (Oehler 1985, 162) Er stellt die Schicksalshaftigkeit der Stadt heraus (»[…] Wer über Paris schreiben will, dem muss die Stadt Schicksal geworden sein […] ebd., 153) und die Intensität der Begegnung mit der Stadt (ebd.), was sicherlich nicht falsch ist. Gruenter schreibt allerdings leicht ironisch in dem zunächst unveröffentlichten gebliebenen Fragment »Künstler«, später (1995) unter dem Titel »Glasfabrikanten« in der NZZ veröffentlicht), dass »Pariser Künstler garantiert aus dem Ausland kommen würden«. Auf der anderen Seite sind aber die Zeugnisse der französischen Literatur von der Spätaufklärung bis heute zu vielfältig (wesentlich die der Romanciers des 19. Jahrhunderts wie Balzac, Dumas, Hugo, Zola etc., vgl. Hazan 2006), als dass diese Position so uneingeschränkt aufrechtzuhalten wäre. Sei es darum: Paris gilt als »unerschöpfliches Archiv« als eine »Enzyklopädie« oder als eine Art »kollektiven Gedächtnisses«. (Loquai 2009, 512) Es würde den Umfang einer solchen Arbeit sprengen, darzustellen versuchen, was hierzu an Werken und Arbeiten veröffentlicht wurde, weshalb auf die Bibliografie zu verweisen ist. An dieser Stelle sei der erneute Hinweis auf die Arbeit von Oehler (1988) erlaubt, der eine zeitliche wie eine systematische Unterteilung von »autobiographischer Paris Literatur deutschsprachiger Autoren im 20. Jahrhundert« versucht. Innerhalb der zeitlichen Einteilung handelt es sich um: »[…] Texte aus den Jahren vor dem 1. Weltkrieg (Rilke, Kafka), 2. Texte aus der Zeit des Nazi-Regimes und der Okkupation (von Benjamin einerseits, von Jünger und Hartlaub andererseits) und 3. Texte aus den 70er Jahren (Weiß, Hanke, Nizon).« (Oehler 1988, 512)

Exkurs

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Innerhalb einer systematischen Unterteilung stellt Oehler folgende Akzente in Opposition: »[…] etwa die zwischen erklärtermaßen autobiographischer (Tagebuch-) Literatur (Kafka, Jünger, Handke) und Mischformen von Autobiographie und Fiktion (Rilke, Nizon), autobiographischer und essayistischer Schreibweise (Benjamin), Roman, Autobiographie und Essay (Weiß); oder die zwischen Texten, in welchen die Städteerfahrung, solche, in denen die Ich-Erfahrung und andern, in denen die Zeiterfahrung überwiegt.« (ebd.) »In gewissen Texten erscheint die Stadt vorwiegend als Beobachtungs- und Erlebnisraum (in ihnen wird der Nachdruck im allgemeinen auf die Neuheit und Andersartigkeit von Paris gegenüber der Heimat gelegt), in anderen ist sie vorwiegend Erfahrungs-, Meditations- oder gar Kultraum, in welchem ein einsames Subjekt mit dem genius-loci Zwiesprache hält, in wieder anderen ist sie wesentlich Geschichtsraum: Ort, an dem der Besucher Zeuge weltgeschichtlicher Entscheidungen wird.« (Oehler 1988, 513)

Dabei scheint diese systematische Unterteilung den Blick hinsichtlich der Schreibweise Gruenters in Bezug auf Paris vornehmlich in Hinblick auf ihre »autobiographischen Anspielungen« zu schärfen. Oehler behandelt nicht nur streng autobiographische Werke, wenn man an Rilke, Handke oder Nizon denkt. Köhler (1995) hat in einem Artikel für die NZZ Parallelen wie Unterschiede zwischen Gruenter und Nizon festgestellt: »Ein Schweizer Autor und eine deutsche Autorin im Paris der achtziger Jahre: Beide beschwören das gross geschriebene »LEBEN-Wollen« und noch grösser geschriebene SCHREIBEN-MÜSSEN, der eine trägt sein Ich wie eine Monstranz vor sich her, die andere ficht mit ihm den Kampf von David und Goliath. Und beide haben sie einen gemeinsamen Traum: Paris, Bar au Rêve.« (Köhler 1995)

Während Nizon nach Köhler »schiere Authentizität« nur behauptet (»Selbstausschüttung auf dem Papier«. Köhler 1995) in einer Zeit, in der je »mehr das Ich an Glaubwürdigkeit verliert, desto größer die Faszination persönlicher Zeugnisse« zu sein scheint (ebd.), verteidigt Gruenter das Projekt der Liebe als ästhetisches Programm; »[…] während Nizon sich entblößt, gibt Gruenter sich preis«. (ebd.) Dies erlaube ihr, »[…] die poetische Rolle sowohl intellektuelle Distanz als auch rücksichtslose Ehrlichkeit gegen sich selbst gebietet; rücksichtslos manchmal auch gegen andere«. (ebd.) Man mag diese Meinung Köhlers teilen oder nicht, festzuhalten bleibt, dass Gruenter wie Nizon in der literarischen Tradition deutsch- bzw. fremdsprachiger Paris Literatur stehen und dabei einige Parallelen aufweisen. Ebenso gilt es festzuhalten, dass es oft Solitäre oder einsame Künstler bzw. Schriftsteller sind, die aus dem Ausland nach Paris kommen, eine Art Krisenmoment erleben und sich dort einer »existentiellen wie literarischen« Herausforderung stellen. (vgl. Oehler 1988, 513) In eben diesem Sinne spricht Matz mit Rücksicht auf Rilkes

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Stadtroman von einer ästhetischen wie existentiellen Grenzerfahrung. (Matz 2018) Hieran macht sich zudem der Unterschied zwischen Rilke und Gruenter im Paris-Erleben und -Beschreiben fest: Während Gruenter sich Paris in erster Linie ästhetisch nähert, liegt für Matz die Paris-Wirkung auf Rilke in der Verbindung und »mythischer Stilisierung von großer Kunst und existentieller Verzweiflung« (Matz 2018, 33), was Gruenter in dieser Form nicht kannte. Matz nennt in dieser existentiellen einsamen Grenzsituation außerdem Joseph Roth, während Oehler zuvörderst auf Kafka und seine Tagebucheintragungen in Paris abzielt. Beiden ist gemeinsam, dass sie – anders als Gruenter – ein eher gespanntes, wenn nicht gar ablehnendes Verhältnis zu Paris entwickeln. (vgl. Oehler 1988, 162ff.) Damit befinden sie sich in bester Gesellschaft mit Italo Calvino oder Witold Gombrowicz, der vom Louvre als »einem der dümmsten Orte der Welt« spricht169 und »sich als Intimfeind von Paris gebärdend, die Stadt mit den allergiftigsten, allerrespektlosesten, zu erledigen trachtet«. (Oehler 1988, 169) Calvino, der sich als »Eremit in Paris« bezeichnet (Calvino 1974), versucht nach Oehler (1988, 164) ähnlich wie Nizon in der Stadt »unterzutauchen« und betont, dass er »in Paris wie in einem Landhaus lebe, von der Stadt so gut wie nichts zu sehen bekomme, außer der Metro, mit der er jeden Morgen zu dem Zeitungskiosk sich begebe, an dem er die heimischen Gazetten kaufe«. (Oehler 1988, 164, vgl. auch Calvino 1974, 3ff.) Allein dieser hier nur knapp skizzierte literarische Blick auf die Stadt »von außen« legt nahe, wie »besetzt« Paris ästhetisch-semiotisch ist. Italo Calvino spricht trotz seiner zuvor betonten Reserve gegenüber der Stadt von Paris als der »inneren Landschaft der Weltliteratur«: »Nur war Paris so oft in der Weltliteratur die innere Landschaft, in so vielen Büchern, die wir alle gelesen haben, und die uns in unserem Leben etwas bedeuteten. Bevor Paris in meiner Vorstellung zu einer Stadt der realen Welt wurde, war es für mich wie für Millionen Menschen in anderen Ländern eine Stadt, von der man sich durch Bücher eine Vorstellung macht, die man sich lesend aneignet. Man fängt als Kind an, mit den Drei Musketieren, dann den Elenden; gleichzeitig oder unmittelbar danach wird Paris zur Stadt der Geschichte, der Französischen Revolution; später, mit dem Fortschritt der Jugendlektüre, wird es zur Stadt Baudelaires, zur Stadt der großen Poesie seit mehr als hundert Jahren, zur Stadt der Malerei, zur Stadt der großen Romanzyklen. Balzac, Zola, Proust.« (Calvino zit. n. Loquai 2009, 21)

Des Weiteren sei daran erinnert, dass als das vielleicht wirkungsmächtigste Buch über Paris »Das Passagenwerk« von Benjamin gilt.170 (vgl. Loquai 2009, 581) Im

169 Witold Gombrowicz: Die Tagebücher. Band 3. Aus dem Polnischen übersetzt von Walter Thiel. Nachwort von Rudolf Harting. Pfullingen: Verlag Günther Neske 1970, 96f. 170 Vgl. dazu auch Hazan (2006), 60, der darauf verweist, dass Benjamin die Idee zu seinem Passagenwerk durch die Passage L’Opera in Aragons »Der Pariser Bauer« kam.

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Nachwort zu den »Pariser Libertinagen«171 bemerkt Hillgruber zudem, dass zum »Mythos von Paris« in der Literatur nicht zuletzt fremdsprachige oder nichtfranzösische Literatur beigetragen habe.172 Sie nennt dabei die Wahl-Pariserin und Rumänin Mathe Bibesco, die von Walter Benjamin in seiner Kritik »Paris als Göttin« aufgenommen wird: »Unter dem Titel Catherine-Paris erschien 1928 ein französischer Roman in deutscher Übersetzung, der einem geneigten Rezensenten zufolge »Leitartikel und Liebeslied« zugleich war – Leitartikel und Liebeslied auf Paris, »die Göttin der Hauptstadt von Frankreich in ihrem Boudoir, träumerisch ruhend, […] in einer Vase die zehn Lilien des nächtlichen Wappens«, wie er inspiriert im Tenor des Buches weiterfabulierte. Verfasst hatte die feierliche Liebeserklärung mit autobiographischen Zügen keine Einheimische, sondern eine Wahl-Pariserin namens Marthe Bibesco, die 1955 Aufnahme in die Académie Francaise fand.« (Hillgruber 2005, 183)

Neben den berühmten Paris-Enthusiasten Henry Miller173 oder Ernest Hemingway174 sind es überdies die fremdsprachigen oder nicht französischen Autorinnen und Autoren wie Irène Nemirovsky175 oder Victoria Wolff 176, die zum »Mythos Paris« mit beigetragen haben.177 Innerhalb der deutschsprachigen Literatur ist namentlich an Rilkes »Parisroman« »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« zu denken, auf den sich Gruenter allerdings kaum bezieht. Das erscheint umso erstaunlicher, als dass Rilke neben seiner »Markierung von 171 Man bemerke hier die Eindeutschung des Begriffs Libertinage mit der deutschsprachigen Pluralendung -n. Der Begriff von Gruenter, den sie darüber hinaus in »Der Autor als Souffleur« benutzt, spielt auf das Werk von Louis Aragon »Libertinage, die Ausschweifung« an. Vgl. Aragon (1973). 172 Hillgruber betonte, dass »niemand die Pariser Farben so wie Undine Gruenter malte.« Vgl. Hillgruber. Nachwort, (PL, 184); vgl. auch: Wolf (2011), 251–256. Es nimmt nicht Wunder, dass Gruenter in diesem Handbuch Erwähnung findet, im Zusammenhang mit der Fotografie von Doisneau in »Wie war der Himmel blau« (NB, 5) oder den Bildern von Kupka (AS, 360f.), Gustave Moireaus »Salomé« (1871) oder den impressionistischen Bildern Monets von Trouville. Bilder von Trouville befanden sich auch in der letzten Wohnung Gruenters in der Rue Robert Planquette, wie der Film von Hugi zeigt. 173 Vgl. Bohrer (2017), 283: »Im Restaurant Weppler an der Place Clichy gab es vor allem Fisch, aber auch die erzfranzösischen Gerichte wie Coq au vin und Ente in Gelee. Der Name des Restaurants ist berühmt geworden, weil hier Henry Miller seine Lieblingsprostituierten traf, mit denen er dann zu Fuß nach Clichy zog.« 174 Vgl. AS, 371: »Hemingway, den ich gestern las, mein Lieblingsbuch, »Paris, ein Fest fürs Leben«, kommt mir zur Zeit ganz flach vor mit seinen engen Adjektiven; gut, schön, wunderbar. Das ist mir nicht einfach genug, es kommt mir zur Zeit vor wie der Nachdruck des Einfachen.« 175 Irène Nemirovsky: Suite francaise. München: Albert Knaus Verlag 2005. 176 Victoria Wolff: Das weiße Abendkleid. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag (btv) 2006, 162. 177 Man hätte ungezählte andere Vertreter der französischen Literatur wie Jean-Jacques Rousseau, Victor Hugo, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, Guillaume Apollinaire, Marcel Proust etc. und weitere andere als Beispiele für die Perspektive des »fremdkulturellen Blicks« nennen können. Vgl. Louquai (2009).

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Räumen« im Roman zudem ein großer Baudelaire-Rezipient war. Im Roman taucht Baudelaires Gedicht »Une Charogne/Ein Aas« explizit auf und zum anderen wird gleich zu Beginn in die »Schrecknisse von Paris« einführt: »So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest.«178 Warum nun aber nimmt Gruenter bis auf die beiden angeführten Textstellen so selten Bezug auf Rilkes Paris-Roman, dass man versucht ist, von einem fast bewussten Ignorieren zu sprechen? Denn sie war ja eine große Leserin genauso wie eine große bewusste Nicht-Leserin, wenn wir an Bohrers Bemerkung denken, dass sie Nietzsche nicht las. In unveröffentlichten Texten finden sich allerdings doch das eine oder andere Nietzsche-Zitat. z. B. die »Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft« im Entwurf zu einem unveröffentlichten Theaterstück »Monolog vor dem Spiegel, ein Stationenleben« vom Mai 1997, das später in »Offene Anstalt« unbenannt wurde, ein Stück über eine Reha-Klinik in Süddeutschland, das Gruenter selbst als »Groteske« bezeichnete. Vielleicht kann die Einschätzung Oehlers von Rilkes Paris Roman einen Hinweis geben. Oehler, der sich nicht auf Gruenter bezieht, hält den Roman Rilkes für ein Werk eines zu »Selbstmitleid und Selbstverhätschelung neigenden Bewusstseins« (Oehler 1988, 515), und zählt ihn zu den schwächsten oder schwächeren Werke Rilkes, was von Rilke selbst so eingeschätzt wird.179 Er macht dafür zwei Gründe verantwortlich: Zum einen liegt es an der Haltung des vermeintlichen Autors in der »narzisstisch sensiblerischen Rückbezüglichkeit« (ebd.), und zum anderen an der Sprache jenes »süßlichen Bibel- und Offenbarungstons, den das 19. Jahrhundert bis zum Exzess kultivierte, gleichsam privatisierenden Sprache, einer Sprache, die einmal als Synonym des Poetischen galt«. (ebd., 516) Verbunden bleiben Gruenter und Rilke in ihrer BaudelaireRezeption und in Hinsicht auf le spleen de Paris. Der Ausdruck der oder le spleen de Paris geht auf das gleichnamige Werk von Charles Baudelaire mit 50 »Prosagedichten« zurück.180 Bohrer verweist darauf, 178 Rilke (1982), 9. 179 Vgl. Rainer Maria Rilke, Lou Andreas Salomé: Briefwechsel. Hg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1975, 174, wo er schreibt von »dieser schrecklichen und schweren Stadt, für die ich zu weich und zu wehleidig war.« 180 Vgl. Baudelaire (2011). Das Werk wurde zwei Jahre nach Baudelaires Tod veröffentlicht; damit teilt er mit Gruenter das Schicksal, dass eines seiner Hauptwerke erst nach seinem Tod veröffentlicht wird. Charles Baudelaire taucht relativ häufig im Werk von Gruenter auf. (vgl, z. B. AS, 93) Irene Kuhn weist im Vorwort zum oben genannten Werk darauf hin, dass das Prosagedicht keineswegs »definiert ist« und mit Bezug auf Aragon spricht sie vom »Geheimnis«(XIII) und verweist an anderer Stelle auf die »Dissonanz« als Stil, die unharmonischen schrille Klänge als Darstellung des Lebens in der Großstadt ((XX), zudem verweist sie auf jenen »Überrealismus, der mit Baudelaires Werk in die literarische Welt kommt« und

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dass Baudelaire auf eine ähnliche Art nach dem »vieux Paris« suchte wie er bzw. Gruenter nach dem Paris der Surrealisten, nur in zeitlicher Verschiebung. »Als ich Baudelaires Beschreibung des alten Paris nach der Neugründung durch Haussmann im Gedicht Le cygne wieder las, da fand ich den Satz, der mir das Unglück über die Veränderung auch von London ausdrückte: Le vieux Paris n ést plus (la forme d’une ville/ change plus vite, hélas! Que une coeur d’un mortel.« – »das alte Paris ist nicht mehr (die Gestalt einer Stadt ändert sich rascher, ach! Als das Herz eines Sterblichen«). Der letzte Satz war es, der alles enthielt. Ich las Baudelaires Gedicht nicht nur als Schlüssel zu Baudelaires Melancholie, zu seinem Bewusstsein vom Verschwinden eines gerade noch empfundenen Augenblicks. Es erklärte mir auch die Enttäuschung – wobei es eigentlich so viel mehr war als eine Enttäuschung – über die Veränderung Londons. Baudelaires Trauer galt einem Paris, das durch ein Paris ersetzt worden war, das nun wiederum ich für unersetzlich ansah.« (Bohrer 2017, 499)

Damit ist primär eine Konzeption bzw. Konstruktion gemeint, die auf die Moderne anspielt und auf das von Benjamin so genannte Paris als »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«181. Hier kündigt sich bereits all das an, was im Sinne des Bamberger Soziologen Gerhard Schulze manchmal bisweilen oft vorschnell mit dem Begriff der Erlebnisgesellschaft etikettiert wird182: die Passagen, die Warenwelt, das Leben in den Städten (der Metropolismus) und ähnliches, also das Paris der Moderne, nicht mehr jenes »vieux Paris«, dem schon Baudelaire nachtrauerte. An diese Art der Faszination für eine der bedeutendsten Metropolen des 19. Jahrhunderts, der Moderne, setzte Undine Gruenters Paris-Begeisterung an.183 Eine solche Weise der Mythologisierung von Paris scheint heutzutage kaum noch vorstellbar, der Mythos ist schon vor Jahren oder Jahrzehnten an sich selbst der für Gruenter noch bedeutsam werden soll, und der in Zusammenhang mit der »Imagination der Phantasie« steht: »Wenn also die Poesie der realistischen Nachahmung diametral entgegengesetzt ist, müssen wir uns fragen, was es mit jenem »surnaturalisme«, jenem »Übernaturalismus« auf sich hat, den Baudelaire als wesentliche Qualität der Poesie und der Kunst im Allgemeinen betrachtet. (XXII) Und an einer weiteren Stelle heißt es: »Eine Poesie, die Phantasie und Freiheit in den Dienst des Geheimnisvollen und des Übernatürlichen stellt und daraus ihre grundlegenden Eigenschaften macht, wird sich notgedrungen abwenden von der strengen Form der klassischen Poesie.« (XXIV) Das darf keineswegs mit Formlosigkeit verwechselt werden, die Fantasie muss im Sinne Baudelaires »geordnet, muss unter Kontrolle gebracht werden.« (vgl. dazu auch: Stierle (1998), 697ff.: III. Ein Leser in der Stadt: Der Lyriker Charles Baudelaire) 181 Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. In: Ausgewählte Schriften 1920–1940: vor allem C. Baudelaire und die Straßen von Paris. Leipzig: Reclam 1984. 182 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M.: Campus 2005 (Studienausgaben 2000 und 2005). 183 Sie benutzt den Ausdruck Metropole bzw. Weltstadt mehrfach selbst, etwa dort wo, sie eine Art Definition gibt (AS, 141): »23.X.87 Unterschied der Provinzstadt zur Weltstadt: in der Weltstadt geschieht alles beiläufig. Das Selbstverständliche, Geläufige – da, wo in der Provinz immer großes Aufsehen gemacht wird.« (vgl. auch Matz 2018, 23)

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zugrunde gegangen184, worauf Gees in dem Werk »Schreibort Paris« hinweist185 und dazu einige andere Schriftsteller als Zeugen aufruft. Nicht zuletzt hatte Bohrer in einem Beitrag über »Heinrich Heines Erfindung von Paris« in seiner Zeitschrift »Der Merkur« behauptet, dass »das Abenteuer Paris endgültig zerstört sei.«186 Koeppen hatte bereits Ende der 70er Jahre darauf aufmerksam gemacht, dass es »immer die Träume seien, die an die Seine führten.« (Koeppen 1978, 110) Zudem sei in Paris vieles so semiotisch besetzt, dass von einer Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Paris keine Rede mehr sein könne. So heißt es bei Koeppen auf Paris bezogen weiter: »Die Luft ist für alle Zeit von den Impressionisten gemalt, die Leuchtfeuer des Abends stammen von Picasso und Miró, die Natur ringsum ist domestiziert und auf das anmutigste zerstört, Monets Frühstück im Grünen und Maupasssants fröhlich-traurige Ruderpartie ereignen sich immer noch, aber die steingefassten Wege sind von Kentauren bevölkert, von blechbepanzerten gummibereiften Herden, die von den breiten Autostraßen ausbrechen und gierig zu ihnen zurückströmen.« (Koeppen, ebd.)

Paris ist bezogen auf den »literarischen Fundus« lange keine »(Kultur-) Hauptstadt des 20.«, geschweige denn des 21. Jahrhunderts mehr, dazu ist es viel zu sehr von Bedeutungen überfrachtet und semiotisch besetzt187, worüber sich Gruenter

184 Vgl. hierzu auch: Karl Heinz Stierle (2016), 6, Einleitung: »Das Ganze der Stadt ist nur in zeichenhaft vermittelten Annäherungen erfahrbar.« Vgl. Louquai (2009), dazu auch: Minder (1982 und 1987). 185 Vgl. Gees (2006). Gees stand in brieflichem Austausch mit Gruenter (während ihrer Vorbereitung des Bandes »Schreibort Paris«). Im April 1998 kam es zu einer Begegnung und einem Gespräch in Gruenters Pariser Wohnung, das in einem Café (nicht weit von der Place de Clichy) fortgesetzt wurde. Bereits im Januar 1998 scheint sich der Kontakt über Bohrer angebahnt zu haben, am 17. Januar 1998 schreibt sie an Gruenter, dass sie bei einem Vortrag von Wolfgang Lange in Bielefeld, bei dem ebenso der Autor und Journalist Manfred Bauschulte anwesend war. Am 3. Juli 1998 bedankt sich M. Gees für einen Antwortbrief Gruenters und einen Auszug aus ihrem laufenden »Journal«: »Haben Sie Dank für Ihre Zeilen. […] Was für eine Vehemenz in ihren Texten. […] der Glaube an eine radikale Selbstbefragung.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie) 186 Vgl. Bohrer: »Heinrich Heines Erfindung. Paris – Glanz und Elend eines Phantasmas.« In: Merkur, Nr. 682. 2006. Vgl. hierzu die »Pariser-Reportagen Heines«, d.i.: Heinrich Heine: Französische Zustände. Hg. v. Christian Liedtke. Hamburg: Hoffmann & Campe 2010. 187 Vgl. hierzu auch: Stierle (2016), 8, Einleitung: »Die große Stadt ist ein Spannungsfeld von Erscheinung und Verwesung. Alles Erscheinende verweist in ihr auf die Übermächtigkeit des Abwesenden und wird so zum Zeichen. Paris ist par excellence ein solcher Zeichenort [Hervorhebung SW] und eine beständige Herausforderung, die Stadt in der unendlichen Vielfalt ihrer Erscheinungen und urbanen Zeichenwelten zu Bewusstsein zu bringen oder aber imaginär zu überschreiten.« […] Das Ganze der Stadt ist immer nur in zeichenhaft vermittelten Annäherungen erfahrbar. An ihrem Horizont steht aber eine Grenze der Erfahrbarkeit, wo die Lesbarkeit der Stadt zusammenbricht und das Unerklärliche, das radikal Fremde, das Unlesbare, sich zu Gestalten verdichtet. Dies begründet eine spezifische Phantastik der Stadt, die oszilliert zwischen subjektiver Erfahrung und objektiver Struktur,

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durchaus im Klaren war und weshalb sie es trotzdem oder gerade deshalb zum »Protagonisten« vieler ihrer handlungsarmen Werke machte. In diesen erscheinen zum Teil paralysiert oder mit Gruenter gesprochen »somnambul« wirkende Personen, die oft in der Vergangenheit leben188 und sich einen Erinnerungsraum schaffen, in dem die Zeit stillsteht, weil die Erinnerung bewahrt bleiben bzw. unangreifbar gemacht werden soll. Dazu nimmt Gruenter literarisch einen weiteren gedanklichen Impuls auf, den Georg Stefan Troller wie folgt formuliert: »Paris ist überhaupt eine Stadt der Nuancen. […] Man lernt sich genau festlegen, seine Gefühle untersuchen (und ihnen mißtrauen), haarscharf ausdrücken, warum man dies liebt und hasst, und nicht jenes. Jedes Haus, jede Straße, jeder Gegenstand fordert einen zu subtilen Reaktionen heraus.«189

Diese Nuancen hat Gruenter in ihrer Art des (über-) präzisen und hyperrealistischen Schreibens stets gesucht. In der Tat wird der französischen Kultur im Sinne von Kulturstandards- oder Kulturdimensionen – wenn man denn solche Positionen überhaupt zugrunde legen will – immer eine besondere Art des Partikularismus’ zugeschrieben, im Sinne der difference190, gerade in einem phänomenologischen Sinne. Bei Gruenter wird dies unter anderem an der Beschreibung von Exterieurs wie dem Garten, aber ebenso an der von einigen Interieurs, ganz besonders deutlich. Letztere hatte sie vorzugsweise in Form der Beschreibung von »Zimmern« darzustellen versucht (AS, 467), die für Paul Nizon die dem Zufallsgenerator der Stadt entspringt. Der Einbruch des Phantastischen wird als eine eigene Dimension der Stadterfahrung dargestellt.« 188 Es handelt sich zum einen um das individuelle Gedächtnis, es ließe sich aber auch an europäische Erinnerungsorte im Sinne des kulturellen Gedächtnissees denken, auch ex negativo an das berühmt-berüchtigte Hotel Lutetia, das zum einen Treffpunkt des antifaschistischen Lutetia-Kreises war, aber zur Zeit des 2. Weltkriegs ebenfalls zum Hauptquartier der SS, von Spionage und Abwehr, umfunktioniert wurde und in dessen Keller viele Foltern und Misshandlungen der SS stattfanden, und was in »Vertreibung aus dem Labyrinth« eine besondere Rolle spielt. Vgl. dazu: Matz (2018), 22f.: »Das Lutetia hat auch eine politische, sehr deutsche Geschichte, und erst sie vollendet den schillernden Ruhm des siebengeschossigen Palasts am Boulevard Raspail, Ecke Rue de Sèvres. Zu den Intellektuellen, Literaten und Künstlern, denen Paris eine Reise wert ist, kommen nach 1933 dann solche, die keine Wahl mehr haben. Die deutschen Emigranten machen das Hotel zum Treffpunkt einer Gruppe, die sich sogar den Namen ausborgt: »Lutetia-Kreis« ist die Kurzform für den »Ausschuss der Vorbereitung einer deutschen Volksfront«, die im September 1935 das erste Mal zusammentritt; am 2. Februar 1936 tagen dort mehr als 100 Delegierte, darunter Heinrich Mann und Klaus Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller. Der Versuch, von Paris aus, den deutschen Widerstand zu organisieren, scheitert dennoch bereits Jahre bevor die Wehrmacht, im Juni 1940 die Hauptstadt besetzt; das Lutetia wird zum Sitz von militärischer Abwehr und Geheimer Feldpolizei. Vgl. dazu auch: Cécile Desprairiers: Villes lumières, annés noirs. Les lieux de Paris de la collaboration. Paris: Gallimard 2008, 102ff. 189 Georg Stefan Troller: Pariser Journal. Hamburg: Marion von Schröder Verlag 1966, 11. 190 Vgl. Jacques Derrida: Die différance. In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Ditzingen: Reclam 2004, 82.

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(AS, 312f.), bei dem sie während ihrer Pariser Zeit zum Geburtstag eingeladen war191, gleichfalls eine zentrale Rolle spielen: »Das Zimmer ist mein Arbeitsraum hier und jetzt in Paris, es ist der Schauplatz, Behälter, Ort des Niederschlags meiner jetzigen Lebenssituation, meiner eigenen Gegenwart, und es ist zugleich der kleinste Ausschnitt der Welt zum jetzigen Zeitpunkt, ein Guckloch und Fixpunkt […] Ich schreibe – das Zimmer ist voll.« (Nizon 2004, 16)

Aber selbst Paul Nizon, auf den Gruenter sich ebenfalls, allerdings in Absetzung, explizit bezieht (vgl. u. a. AS, 107 u. 131)192, ist sich der Unaktualität des Topos’ Paris bewusst, beispielsweise dort, wo er schreibt: »Nun: Die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts ist erledigt. Und unsere Liebe zu solchen Städten ist damit rückwärtsgewandt. […] Vielleicht ist alles, was wir lieben und tun in diesen Städten, etwa in Paris, angefangen mit dem frühmorgendlichen Gang zum Boulanger, vorbei an den schäumend-weißen Brandmauern, dieser Gang im »Odem der Weltstadt« nurmehr Zeremonie, vergleichbar einer kultischen Handlung, wenn nicht überhaupt nur ein erinnerungsverklärter Traum.«193

Auf diese Weise wird Paris zum Gedächtnisort oder zum Schreibort respektive zu beiden zugleich. Gruenter entdeckt dabei literarisch aber ihr eigenes Paris mit starken Bezügen zu jeder erwähnten besonderen Form der Moderne (Benjamin) sowie zu surrealistischen Malern und Schriftstellern. Hingewiesen sei in diesem Kontext noch auf andere deutschsprachige Schriftsteller mit Paris-Enthusiasmus wie Heinrich Heine194, Friedrich Hebbel, Rainer Maria Rilke, Heinrich Mann, Joseph Roth, Franz Hessel, Joseph Breitbach, Siegfried Kracauer195, Ernst Jünger, Felix Hartlaub, Theodor W. Adorno196, Wolfgang Koeppen, Friedrich Sieburg, Peter Bichsel, Urs Widmer, Peter Weiß, Paul Nizon, Peter Handke, an erster Stelle 191 Der Kontakt hatte sich über das Ehepaar Oehler ergeben, die bis heute mit Nizon gut befreundet sind. 192 Auch: AS, 312 in Hinsicht auf Kundera; vgl. Köhler (1995). An dieser Stelle wirft sie Nizon und Bohrer vor, dass sie die Lebensbedingungen der Migranten nur als »unterste Zivilisationsstufe« anprangern, nicht als »Kehrseite unserer glorreichen europäischen Zivilisation.« 193 Ebd.,16f., vgl.: auch Peter Bichsel: Zur Stadt Paris. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993 (worin kein Satz über die Stadt Paris zu lesen ist); Widmer (2000) 132003. 194 Es wäre angebracht, Heine einen kleinen Exkurs zu widmen, weil er als der »Klassiker in Paris« derjenige ist, der die Paris-Sehnsucht der deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller erst entfacht. Davon musste aus Gründen der Platzökonomie leider abgesehen werden. Interessant ist der der Hinweis von Albrecht Betz, dass Benjamin ähnlich wie Brecht, Canetti oder zunächst sogar Adorno Heine wohl unter Karl Kraus’ Verdikt »Heine und die Folgen« Heine gar nicht gelesen habe. Vgl. Betz (1997), 19ff. Evtl. ließe sich von einer »literarischen Schützengrabenmentalität« sprechen. Ähnliches ließe sich für Gruenter vermuten, die Benjamin las, während Heine bei ihr kaum Erwähnung findet. 195 Leo Löwenthal/Siegfried Kracauer: In steter Freundschaft. Briefwechsel 1921–1966. Hg. v. Peter Erwin Jansen/Christian Schmidt. Springe: zu Klampen Verlag 2003, 183ff. 196 Theodor W. Adorno: Tagebuch der großen Reise, Oktober 1949. In: Rolf Tiedemann (Hg): Frankfurter Adorno-Blätter. München: Edition Text&Kritik 2003, 101ff.

Exkurs

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aber der oft angesprochene Walter Benjamin etc., die sich mit Paris als Fremde auseinandersetzt haben – allerdings keiner auf eine ähnliche Weise wie Gruenter –, wenngleich die meisten ebenfalls »fremdkulturelle Werke« zum Paris Motiv verfassen.197 Aber selbst bei ihnen oszilliert in vielen Erzählungen das »deutsche System der Intellektuellen« im Kontrast zu dem der Künstler »im französischen (politisch, gesellschaftlichen oder kulturellen) System«, wenn man denn von solch einer Vorstellung ausgehen will. Resümierend lässt sich festhalten, dass Gruenter in einer Tradition fremdkultureller »Paris-Rezipienten und Apologeten« steht. Sie verharrt dabei nicht in der Rezeption, sondern nimmt semiotisch »französische Zeichen« auf, verändert sie aber in einem künstlerisch-ästhetischen Sinne. Gruenter schafft eine eigene Welt, die Paris-Semiotik wird bei ihr zunächst evoziert und dann neu geriert. Anders als der Literaturnobelpreisträger 2019 Peter Handke, der in der »Niemandsbucht« (Handke 1994), der Ile de France verbleibt, beschreibt sie in der Tat Orte und Plätze in Paris, die sie der Zeit entzieht, die Orte (Interieurs wie Exterieurs) verfremdet, ihre Figuren wie Bohemiens oder »Vagabunden« der Realität enthebt und oft ohne sozialen Kontext darstellt. Somit erhalten die Orte eine neue Bedeutung und Sinnhaftigkeit, die sie zu ästhetisch »gekerbten Orten« im Sinne von Guattari/Deleuze (1993) werden lassen. Es existiert aber darüber hinaus dazu gleichwohl eine Art Gegenbewegung nicht-französischer Schriftsteller, die in Hinblick auf Paris für sich andere, gegenteilige Positionen einnehmen, wie Peter Bichsel oder Milan Kundera. Was die literarische Darstellung von Paris in dieser Beziehung betrifft, so ist der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel fast als Antipode zu Gruenter zu begreifen, sowohl im Sinne einer ästhetischen Verfremdung, wie im Sinne der Beschreibung kultureller Fremde, die bei ihm mit einer Fremdheit besser Verfremdung verbunden ist. »Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich Peter Bichsel erstmals vorschlug, nach Paris zu fahren. Er reagierte wie unter Schock und sagte, das könne er nicht tun, denn er habe sich geschworen, niemals in diese Stadt zu gehen. Ich dachte schon, ich müsste mir meinen Film abschminken, aber dann einigten wir uns darauf, bis in die Gare de l’Est zu reisen. Ich reservierte im Bahnhofhotel für Peter die »202« und für uns die Nachbarzimmer. Ein Programm gab es nicht, das Abenteuer konnte beginnen.« (Eric Bergkraut, Regisseur und Autor des Films Zimmer 202 – Peter Bichsel in Paris.)198

197 Vgl. hierzu: Betz (1986). 198 Vgl.: https://der-andere-film.ch/filme/filme/titel/wxyz/zimmer-202-peter-bichsel-in-paris, zuletzt abgerufen am 17. 07. 2017. So schreibt der Autor des Dokumentarfilms »Zimmer 202 – Peter Bichsel in Paris«, Eric Bergkraut, 1957 in Paris geboren, mit vier Jahren in die Schweiz gereist, Schauspielakademie Zürich, TV- und Kinofilme in Deutschland, der Schweiz und Frankreich, seit 1992 Dokumentarfilmregisseur.

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Der international renommierte und wie Gruenter in Paris lebende, von Gruenter genannte (AS, 312), auf Französisch schreibende, tschechische Autor Milan Kundera199 nimmt in seinem Werk »Die Unwissenheit«200 den Begriff der Fremde, dazu des Fremdseins in Paris201 auf und bezieht dies in seiner literarischen Verarbeitung namentlich auf die Odyssee von Homer, eine der ersten Gebrauchsformen des Themas und Motivs der Fremde in der abendländischen Literatur.202 Aber anders als bei Gruenter, die die andere Kultur feiert wie zugleich ästhetisch verfremdet, ist dieses Thema der Fremde hier von Anfang an dialektisch mit einer besonderen Art der Heimatlosigkeit bzw. der Suche und Sehnsucht nach Heimat203 im Anschluss an die Odyssee, die Heimkehr, gerade im Lukácsschen Sinne204, verbunden. Kundera macht neben der Einschätzung als fremd durch andere noch auf einen anderen wichtigen Punkt aufmerksam: auf das Nicht-mehr-Teilen-Können 199 Hier wäre auf die wenigen Schriftsteller hinzuweisen, die ebenfalls in einer anderen als der Muttersprache geschrieben haben wie Joseph Conrad, Vladimir Nabokow oder innerhalb der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur Wladimir Kaminer, Katja Petrowskaya, Mariana Gaponenko u. a. 200 Milan Kundera: »Die Unwissenheit.« München, Wien: Hanser 2001, vgl. auch: Milan Kundera: »Die Identität.« Frankfurt/M.: Fischer 2000. 201 Man könnte in diesem Zusammenhang an Woody Allens wundervollen Film »A night in Paris« von 2011 denken, für dessen Drehbuch er 2012 den Oscar erhielt. 202 Kundera ist in den letzten Jahren mehrfach unterstellt worden, zur kommunistischen Zeit geheimer Mitarbeiter des tschechischen Geheimdienstes in der ersten Zeit des Kommunismus’ gewesen zu sein. Was seine Literatur betrifft, so sei darauf hingewiesen, dass er als einer der wenigen fremdsprachigen Schriftsteller in die seit 1931 vom renommierten Verlag Gallimard herausgegeben »Bibliothèque de la Pleiade« aufgenommen wurde, was eine Art literarischen Ritterschlag bedeutet, wo insgesamt nur 18 Schriftsteller bislang aufgenommen wurden und vorwiegend französische Schriftsteller vertreten sind, darunter Namen wie René Char, Paul Claudel, André Gide, Julien Gracq, Julien Green, Eugène Ionesco, Claude Lévi-Strauss, André Malraux, Roger Martin du Gard, Henry de Montherlant, Nathalie Sarraute, Saint-John Perse, Marguerite Yourcenar, Jean d’ Ormesson, Philippe Jaccottet, Milan Kundera, Mario Vargas Llosa und Philip Roth. 203 Überhaupt lässt sich unter Berücksichtigung der beiden wichtigsten Bücher abendländischer Kultur, nämlich der »Odyssee« sowie der Bibel, wo im Neuen Testament beispielsweise die Reise der »Eltern Christi« von Maria und Joseph, die spätere Flucht nach Ägypten etc. beschrieben wird, behaupten, dass dieses Motiv von den Anfängen der europäischen Kultur eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, nicht zuletzt innerhalb der Geschichte deutschsprachigen Literatur, wenn man nur an den »ersten Roman in deutscher Sprache«, den Simplicissimus von Grimmelshausen, oder aber an die Märchen der Brüder Grimm wie Frau Holle denkt. Wierlacher hat in diesem Zusammenhang an eine Literaturgeschichte aus der Perspektive der Fremde gemahnt. Es erstaunt, dass in den einschlägigen literarischen Nachschlagewerken bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts dieses Motiv kaum bis gar nicht erfasst wird, beispielsweise nicht in dem Standardwerk von Elizabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Kröners Taschenausgaben KTA. Stuttgart: Kröner (62015). 204 Vgl. Georg Lukács: Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. München: Luchterhand 101986.

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gemeinsamer Erfahrungen, jene Art von innerer oder kommunikativer Fremde, die direkt an das anknüpft, was Freud das »innere Ausland« des psychischen Apparats genannt hat (dass der moderne Mensch in sich selbst nicht mehr Zuhause ist). Dieser Wunsch der »Nostalgie« als einer Rückkehr nach Hause zum Eigenen205, lässt sich bei Gruenter allerdings so nicht feststellen, ganz im Gegenteil, weshalb sich hier die Gemeinsamkeiten erschöpfen. Hinzuweisen ist darauf, dass Kundera dabei eher von einem inhaltlichen Impetus, Gruenter eher von einem formal ästhetischen geleitet wird, was in der Bewertung Kunderas durch Gruenter genau so zum Ausdruck kommt: »Die Duras hat viel Kitsch geschrieben – das ist das Problem ihrer Schreibweise. Aber ihre guten, ganz auf der Reduktion, auf der Schwingung jedes Wortes, der Wiederholung, der Intensivierung anstatt der Stoffausbreitung beruhenden Bücher sind so unendlich viel besser als das, was zum Beispiel ein Kundera schreibt. Das Problem des heutigen Schreibens ist ein Bewußtseinsproblem. Schriftsteller wie Kundera oder auch Nizon benennen ihre Figuren (etwa: »runzliges Gesicht«, »fahle Haut«, »müde Mundwinkel« – und dergleichen mehr.« (AS, 312)

Gruenter will in ihrer Prosa keine Rückkehr, weder inhaltlich noch formalästhetisch, sie empfindet weder Heimweh noch benutzt sie die Literatur, um das Exil oder das Sein in der Fremde zu verarbeiten, ganz im Gegenteil. Aber trotz allem verbindet Gruenter, Bichsel und Kundera die Darstellung einer spezifischen Existenzform der Fremde in Paris, sich dabei auf unterschiedliche Begriffe beziehend und auf verschiedenen Schreibkonzepten beruhend. Gruenter hat diese Art von Existenzform sehr weit getrieben, indem sie sich politisch und gesellschaftlich aus ihrem (französischen) Alltag und ihrer Umgebung herausgehalten hat und nur ihrer Welt der Literatur gelebt und darin geschrieben hat, eine Tendenz, worin sie sich im Übrigen mit vielen ihrer Exilkolleginnen und -kollegen trifft. In diesem Sinne hat sie von ihrem Zufluchtsort, dem Pariser Exil gesprochen. Über viele Jahre hinweg galt dort Heinrich Heine »vielen Emigranten als der Intellektuelle im Exil par excellence«. (vgl. Betz 1997, 20) Der Begriff Exil beinhaltet die Konnotation von Verbannung bzw. des gezwungenen, unfreiwilligen Aufenthalts außerhalb der Heimat, aufgrund bestimmter (vorwiegend: politischer) Strukturen, die es den Exilanten nicht mehr erlauben, in ihrem Heimatland bzw. ihrer eigenen Kultur zu leben. Bei Gruenter, die diesen Begriff auffallend häufig gebraucht, wird dieser je nach Begrifflichkeit streng genommen zweckentfremdet: Niemand hat sie politisch, gesellschaftlich 205 Biblisch wäre hier in etwa das Motiv des Auszugs z. B. das Gleichnis vom Verlorenen Sohn und das (Nicht-) Bewähren in der Fremde zu nennen. Viele Märchen nehmen das Motiv ebenfalls auf (z. B. Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen). Zudem ließe sich ein Bogen zum Bildungsroman schlagen. Insofern wäre die Forderung nach einer »literarischen Kulturgeschichte der Fremde« nicht völlig von der Hand zu weisen.

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oder ökonomisch gezwungen, außerhalb der eigenen Kultur zu leben: Die Autorin bzw. viele der Protagonistinnen und Protagonisten ihrer Werke tun dies aufgrund eines als absolut unzureichend empfundenen kulturellen Hintergrunds der eigenen Herkunft. Es handelt sich um den Versuch der Autorin, im Schreiben sich den von Greverus herausgestellten Handlungsraum zu schaffen bzw. die eigene biographische wie künstlerische Selbstwirksamkeit zu steigern (vgl. 31, Anmerk. 68). Greverus hatte, sich auf die biologische Verhaltensforschung beziehend, von zwei anthropologischen Grundkonstanten in Anlehnung an das Revierverhalten gesprochen, was sie dann Heimat nennt: das Sicherheitsbedürfnis und der Handlungsraum. (Greverus 1972, 178ff.) Auf Gruenters Werk bezogen ist auf ähnliche Weise von einer doppelten oder sogar einer Art multiplen Fremde zu sprechen, einer soziologischen Fremde im Sinne ihrer alltäglichen Existenz als Schriftstellerin sowie von einer kulturellen Fremde, als Deutsche in Paris lebend. Dieses letztgenannte Motiv wird in einigen ihrer Erzählungen immer wieder konkret aufgenommen und vorwiegend aus der Erfahrung der Migration, der Fremde, als Immigrantin heraus, beschrieben.206 Erst in ihrem letzten großen Wurf, dem Werk »Der verschlossene Garten« wagt sie es, wohl möglich ihres langen Aufenthalts in Frankreich geschuldet, sich ausschließlich französische Protagonisten auszuwählen, die dann aber wiederum zum Teil »konstruiert« wirken, was sie offen eingesteht.

206 Die Frage nach der Identität in Hinblick auf Immigration und Migration scheint dabei nicht unwichtig zu sein.

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Zur Person Undine Gruenters

[…] eine Publikation, […], wenn Sie etwas von den zauberischen Eigenschaften dieser Person vermitteln könnten. […] Gerade das Schwirrende, Aufgekratzte, Ekstatische von ihr, was immer Vorbote tiefer Niedergeschlagenheit war […] (Michael Krüger in einer Mail an den Verfasser)

Es muss vorausgeschickt werden, dass es sich bei den folgenden Bemerkungen zum Leben Gruenters keinesfalls um das Konzept eines biographischen Ansatzes handelt. Dazu sind die biographischen Hinweise zum einen zu lückenhaft, zum anderen hätte sich Gruenter jede Art von »Biographismus« verbeten. Insofern sollten die zusammengetragenen biographischen Hinweise als flankierende Bemerkungen zum Werk Undine Gruenters verstanden werden. Undine Gruenter kommt 1952 in Köln als ungewolltes Kind zur Welt, hervorgegangen aus einem One-Night-Stand des Germanistikprofessors und späteren Gründungsrektors der Bergischen Universität Wuppertal Rainer Gruenter und der Schriftstellerin Astrid Gehlhoff-Claes, die sich zunächst nicht offiziell zu dem Kind bekennen wollen. Bei allen weiteren »Bewertungen« sind immer die Moralvorstellungen der damaligen Zeit in der Bundesrepublik Deutschland mit zu berücksichtigen. (vgl. Bohrer 2017) Der Verfasser entschied sich zudem, in Ansehung von Biographischem sehr präskriptiv vorzugehen und möglichst von jeder Art moralisierenden Kommentars abzusehen, um vorrangig der Autorin wie dem Werk gerecht zu werden. Die Mutter Astrid Gehlhoff-Claes wird in germanistischen Fachkreisen über ihre Autorinnentätigkeit hinaus auf eine andere Art bekannt: Sie unterhält über einige Jahre eine enge, ausschließlich geistige Beziehung zu Gottfried Benn, schreibt die erste Doktorarbeit über ihn (Gehlhoff-Claes 2003) und gibt später gegen den Wunsch einer langjährigen Geliebten Benns, Ursula Ziebarth, ihren Briefwechsel mit dem Dichter heraus. (vgl. Anmerk. 290) Nachdem Undine Gruenter die ersten anderthalb Jahre ihres Lebens in einem Kinderheim verbracht hat, nimmt sie die Großmutter väterlicherseits auf. Sie zieht mit ihr nach Jena (in die am 7. Oktober 1949 gegründete DDR, vormals Sowjetische Besatzungszone (SBZ)207, nachdem diese nach der Scheidung von 207 Vereinzelt erinnert sich Gruenter an die Jenaer Zeit, vgl. AS, 133: »In solchen Augenblicken bin ich ein überquellendes Gefäß, in dem sich alles, die frühesten Zeiten in Jena, der Kindheit, der Reisen mit B., ein regnerischer Herbstabend in Rouen, wie eine Nacht im

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Zur Person Undine Gruenters

ihrem ersten Mann Gruenter den Philosophieprofessor Hermann Johannsen208, geheiratet hat, der nach seiner Emeritierung mit ihr in den Westen, in die Neubrücker Mühle in die Nähe von Neuss an den Niederrhein zieht.209 Die Zeit bei und mit ihrer Großmutter bezeichnet Undine Gruenter als die glücklichsten Jahre ihrer Kindheit, worauf sie beinahe verklärend zu sprechen kommt. (AS, 119)210 Als sie acht Jahre alt ist, entschließt sich ihre leibliche Mutter, sie in ihr Haus auf zu nehmen (in die Kaiserstraße 34a nach Düsseldorf-Oberkassel). Fortan entwickelt sich eine Konkurrenz der beiden Frauen um das Kind. Undine, die eine enge Beziehung zur Großmutter entwickelt hat (AS,10f.), muss sich dem Wunsch der leiblichen Mutter fügen und zieht in deren »gutbürgerliches« Haus ein. Diese ist mittlerweile mit Joachim Gehlhoff verheiratet, einem Korrespondenten der Welt. Der nach außen hin äußerst »zugängliche und liebenswürdige Mensch« verhält sich Undine gegenüber mitunter aggressiv bis hin zur Verabreichung von Schlägen, was die Mutter wohl offensichtlich mehr oder weniger akzeptiert. Zwischen ihr und der Mutter herrscht von Anfang an emotionale Eiszeit, man begegnet sich mit Mitteln psychologischer Kriegsführung. Gruenter hat diese unerträgliche Situation und die für sie daraus folgenden Konsequenzen in »Der Autor als Souffleur« beschrieben: »Irgendwann im Laufe des Gesprächs sagte ich, das Schlimmste an der Situation sei, daß alle von außen von der Intaktheit und Integrität dieser Familie überzeugt wären, daß vor allem meine Mutter so als überzeugende und moralische Person wirkte, daß niemand Garten, bei Windstille und Flußrauschen, all die Straßen, der Staub und die Städte, die Stimmen all der Personen, die auf mich eingeredet haben, vermischt.« In einigen Gesprächen mit Personen des dem Freundeskreises Gruenters wurde deutlich, dass Undine Gruenter noch viele Jahre später den Kontakt zu einer Tante in Jena aufrecht gehalten hat und manchmal zusammen mit Bohrer per Taxi in die ehemalige DDR gefahren ist. Undine Gruenter hatte am Ende ihres Lebens eine Phobie vor dem zu langen Aufenthalt in geschlossenen Räumen mit anderen Menschen, so dass sie keine Zugfahrten mehr unternahm. Aus einem Taxi konnte man jederzeit aussteigen. 208 Johannsen ist Lehrstuhlinhaber in Jena für Logik und Erkenntnistheorie und wird 1956 emeritiert. Vgl. Helmut Metzler: Logik an der FSU in den 1950er Jahren. In: Tabularasa. Jenenser Zeitschrift für Kritisches Denken. Ausgabe 44 (August 2011), Jena 2011. Vgl. dazu auch: Lothar Kreiser: Logik und Logiker in der DDR. Eine Wissenschaft im Aufbruch. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, 148. 209 Von ihm ist beim Anblick der Mühle der Satz kolportiert: »Was ist das denn für ein Loch.« 210 Dazu finden sich im Nachlass einige Briefe und Postkarten an das »liebe Undinchen« vorwiegend in den Jahren von 1973–1977 (etwa 25 Briefe und einige Postkarten). Besonders interessant erscheint der Brief vom 29. 04. 1973 schon an die Heidelberger Adresse, wo die Großmutter schreibt, dass Undine »genug Vorschriften bekommen hätte und dennoch das Studium der Juristerei ihr gemäß ausgewählt hätte: »Denn schon von deiner Wesensart gehörst du eher zu den Konservativen, die trotz ihrer angeblich veralteten Auffassung sehr modern sein können.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie)

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mir glaube, wenn ich von der psychotischen Struktur dahinter erzählte. Außerdem wäre meine Überlebensstrategie die äußere Anpassung an dieses System, weil jedesmal, wenn ich mich gewehrt hätte – wie zum Beispiel meine Flucht 68 und 71 –, wären noch weitere Restriktionen die Folge gewesen. Mein Problem bestünde auch darin, ob ich diese Spaltung in zwei Ichs, in ein immer wahres und ein äußeres falsches, je überwinden würde/könnte. Irgendwann kniete mein Vater sich dann vor mich und umarmte mich und sprach von dem Attraktivitätsschock und Bezauberungsschock, den er schon lange durch mich gehabt hätte, wenn wir uns gesehen hätten, und auch davon, daß wir einen Vertrauensbasis aufbauen müssten für uns und für die Dauer des nächsten Jahres, bis ich mein Abitur gemacht und mündig geworden wäre.« (AS, 279f.)

Zweimal versucht Undine Gruenter also, von Zuhause auszureißen. Während ihres gesamten Lebens wird sie die Familie als »Gefängnis« empfinden und immer wieder Gedanken des Ausbruchs und Ausreißens formulieren.211 Jedes Mal wird die Situation nach ihrer Rückkehr eher noch schlimmer. Die Mutter erlaubt ihr keine Bekanntschaften, erst recht nicht während der Pubertät zu Jungen ihres Alters. Um dieses Vorhaben umzusetzen, scheint ihr jedes Mittel recht. So bezieht die Mutter schließlich den leiblichen Vater Rainer Gruenter in ihre Erziehungsversuche mit ein, zu dem sie darüber hinaus keine Beziehung mehr unterhält, und sie zitiert ihn von Zeit zu Zeit zu sich in ihr Haus in Düsseldorf-Oberkassel, auf dass er der Tochter ins Gewissen reden möge. Sie wendet sich damit direkt an jenen Mann, der sich bis dahin kaum um Undine gekümmert hat und der sich als Schöngeist, Frauenliebhaber mit »Adelstick«212, und Gründungsrektor der Bergischen Universität Wuppertal einen Namen macht und der neben literaturwissenschaftlichen Neigungen und außergewöhnlichen Fähigkeiten durchaus administrative Talente aufweist. Im Gegensatz zum Verhältnis zum Vater wird sich die Beziehung bzw. Nicht-Beziehung zu ihrer Mutter von Undines Seite aus, ein Leben lang kaum ändern. Darüber legt sie sich im Journal »Der Autor als Souffleur« Rechenschaft ab, wo sie schreibt, dass sie sich dagegen wehrt, »in die Inszenierungen ihrer Mutter« mit einbezogen zu werden. Zeit ihres Lebens wird sich ihre negative Einstellung zu dieser Familie, zur Institution Familie überhaupt, nicht mehr verändern. Sie fragt sich des Öfteren, ob sie ihr Image bzw. »ihren Stempel als höhere Tochter als 211 In AS, 418 spricht sie von einem »Ausreißer-Komplex«, in den Jahren 1968 und 1971 vgl. dazu: AS, 474 u. a. 212 »Darunter tat er es nicht« war eine der Äußerungen der Bekannten, von denen er insgeheim »Hermelinfloh« genannt wurde. Außerdem »spannte« er Peter Wapnewski dessen Frau, die Adelige Caroline Finck von Finckenstein, »aus«, die er während dessen Forschungsaufenthalt in den USA betreuen sollte, und heiratet sie, die bis kurz vor ihrem Tod 2015 in Berlin-Charlottenburg lebt. In diesem Sinne war er Rilke, einem seiner bevorzugten Schriftsteller sehr ähnlich wie Klaus Modick schreibt, dass Rilke ein manisches Faible für den Adel hatte, »einen Adelstick, wie Paula Modersohn-Becker sagte […].« In: Klaus Modick: Konzert ohne Dichter, Köln: Kiepenheuer&Witsch 2015, 68.

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Literatin jemals ablegen kann.« (AS, 98) Autobiographische Spuren hierzu finden sich in der Erzählung »Postkarten vom Marché aux Puces« aus dem Erzählband »Nachtblind«, wo es um die Beziehung der Erzählerin (Sie) zu ihrer bettlägerigen, kranken Mutter und einem Jungen mit Namen Georges geht, der seinem Onkel an einem Stand auf dem berühmten Maché aux Puces an der Port de Clignancourt hilft: »Die Stimme fragte: »Wohin gehst du?« Eine Sekunde die Gewißheit: sie wird es verbieten. Sie kannte das, Strafen aus heiterem Himmel, tagelanges Schweigen. In letzter Sekunde werden Verabredungen, Kinobesuche, Ausflüge verboten. Wenn sie in den umliegenden Geschäften ihre Einkäufe besorgte, fragten die Leute nach der Mutter. »Diese zarte, kranke Frau, und so tapfer«, sagten sie. Aber keiner weiß von dem unsichtbaren Drahtzaun, den die Mutter um ihr Leben errichtet hat: nichts entging ihrem untrüglichen Instinkt, und sobald eine Sache ihr wichtig war, fing sie an, sie zu zerstören.« (NB, 32)

Zwischenzeitlich unterhalten Mutter und Tochter über mehr als zehn Jahre keinen Kontakt mehr. Als sich wieder eine erste Annäherung anbahnt (von welcher Seite die Kontaktaufnahme geschieht bleibt unklar), bittet Undine ihren Ehemann, sie zu ihrer Mutter zu begleiten. Das Gespräch verläuft in einer ruhigen und unspektakulären Atmosphäre. Die Schilderungen ihrer Mutter bezüglich der Beziehung der beiden in »Inseln der Erinnerung« (Gehlhoff-Claes 2002) weichen zum Teil deutlich von denen Undine Gruenters in »Der Autor als Souffleur« ab.213 Entspannung von »dem Eingesperrtsein in einer hochneurotischen, post-faschistoiden Familie« (AS, 168f.)214 wie Gruenter schreibt, bieten Undine die Aufenthalte in »Mühle«. Sie gewähren ihr Muße und Geborgenheit in der ehemaligen Wassermühle in Neubrück bei Grevenbroich direkt am kleinen, an 213 Die Mutter scheint unter der lange Jahre andauernden Nichtbeziehung zu ihrer Tochter sehr gelitten zu haben. Einige Jahre, nachdem sie sich von Gehlhoff getrennt hat (»seit ich allein lebe«), schreibt sie am 3. Februar 1980 einen Brief an Undine, in dem sie die Bitte äußert, »[…] daß ihr wieder mit mir sprecht. […] Sie fragt, ob »ihr, dass nicht auch wollte« und beklagt »euer lebenslänglich« und setzt hinzu: »Wir haben außer den letzten schlimmen Jahren vorher auch viele andere zusammen gehabt.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie) 214 An mehreren Stellen wird die Familie von ihr als »Gefängnis« bezeichnet, vgl. AS, 169, an dieser Stelle als das zweite Gefängnis nach dem »Gefängnis der Kindheit und Jugend« und vor dem dritten Gefängnis der Universität, des Studiums und des Erwachsenen-Alltags: »[…] das normale Leben ein Alptraum, so hielt ich mich versteckt – geborgen, falsch geborgen, weil selbst entfremdet -, weil mir grauste vor dem profanen Leben, in dieser inzestuösen-familiären Enklave.« Oder an einer weiteren Stelle spricht sie von ihrem »Doppelleben«, dem »Widerspruch von Intimität und höchster Autonomie« und eine »differenziert ausgebildete Fähigkeit der Verstellung«: »Ich habe diese Fähigkeit seit meinem fünften Jahr entwickeln müssen: in der engsten Familiengesellschaft meine wahren Gedanken und Leidenschaften verbergen (müssen), weil sie nicht erwünscht, weil sie verfolgt und unterdrückt wurden. Weil Freiheit verboten war.« (AS, 69). Außerdem: AS, 474.

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manchen Stellen reißenden Fluss Erft, westlich von Neuss am Niederrhein, die die Großmutter und Undines leiblicher Vater inzwischen angemietet haben. Darüber hinaus versteht sie sich gut mit ihrer Stiefschwester (väterlicherseits) Pucku, manchmal taucht sie als »Pucki« (oder Pu.) in den Schriften auf. Erst als sie 21 Jahre alt wird, nimmt der Vater wieder Kontakt zu ihr auf: Bald darauf kommt es zu einer inzestuösen Beziehung. In allen Schilderungen Gruenters schneidet der Vater trotz alledem deutlich besser als die Mutter ab215; die Großmutter väterlicherseits und die genannte Stiefschwester Pucku nehmen eine prominente Rolle als Bezugspersonen ein. Der Vater sorgt schließlich dafür (ihre Mutter nimmt nach Gruenters Schilderung keinen Anteil daran), dass sie in Heidelberg studiert (sie hat dort ein unschönes sexuelles Ereignis, auf das sie in »Der Autor als Souffleur« (AS, 371) und dem unveröffentlichten Prosastück »Heidelberger Sommer« Bezug nimmt) und sie fährt mit dem Vater das erste Mal nach Paris. Über ihren Vater wird sie in gewisse »Kreise« wie den Adel oder die »akademische Welt« bzw. die Welt der Intellektuellen eingeführt, was psychologisch für sie nicht folgenlos bleiben wird. Hier ist die Ursache für ihre Abneigung, ja bisweilen ihren Hass auf den Adel zu suchen. Als sie zu Beginn einmal bei der neuen Frau des Vaters Caroline Gräfin Finck zu Finckenstein zum Essen eingeladen ist und bekennt, wie gut ihr das Essen schmeckt, wird sie von der Gräfin verbessert: »Undine, so reden wir hier nicht.«216 Diese Art von Demütigung(en) wird sie nie wieder vergessen. Sie bricht ihre Studien jeweils ab, sowohl das Jurastudium nach dem Abitur in Heidelberg und Bonn (1973–1979) mit dem Ziel Jugendrichterin zu werden, und das Studium der Philosophie und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wuppertal (1980–1986), wo sie u. a. bei Bazon Brock hört. Über ihren Vater lernt sie den mit ihm befreundeten Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer kennen217, der des Öfteren im Hause Gruenter zu Gast ist und

215 Was sie allerdings nicht davon abhält, die Briefe des Vaters Freunden vor zu lesen und sich lächelnd darüber zu mokieren, wo sie aus einem seiner Briefe Sätze zitiert wie: »Der Graf war diesmal sehr gnädig.« (Damit war offensichtlich der Sohn aus erster Ehe seiner späteren Frau Caroline Finck von Finckenstein gemeint.) 216 Später scheint sich die Beziehung verbessert zu haben, als Caroline zeitweise mit in die Mühle einzieht. Darüber hinaus finden sich im Nachlass Gruß-, Postkarten und Briefe zum Teil ebenso mit dem Vater an Undine, vor allem aus den Jahren 1973–1978 aus Eutin (wo sie auf der Wilhelmhöhe eine Wohnung hatten), Hamburg, Helsinki, Leningrad, Schweden, von einer Ostseereise (24. 08. 1977), zum Teil mit dem Vater und der Tochter Pucki, Undines Stiefschwester, die aber außer Grüßen und zum Teil hohen Restaurantrechnungen nichts Signifikantes enthalten und oft von Aufenthaltsorten des Vaters (wie z. B. Oxford etc.) geschrieben wurden. 217 Wie weit die »Freundschaft« ging, ließ sich nicht genau eruieren, bekannt ist, dass Gruenter Bohrer 1982 für den Lehrstuhl der Literaturwissenschaft/Neueren Deutschen Literaturgeschichte in Bielefeld vorschlug, für ihn, der vorher nicht unbedingt an eine akademische

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von Zeit zu Zeit in ihrem Zimmer in der väterlichen Wohnung in der Mühle übernachtet. Es fällt ihm auf, dass sie seine Werke sehr ausführlich studiert hat, insbesondere zwei von ihnen, jenes zur »Plötzlichkeit« (Bohrer 1981) und das zur »Gefährdeten Phantasie« (Bohrer 1999) sind »mit vielen Zetteln markiert«. Ab 1983 lernen sich näher und besser kennen, verlieben sich ineinander und heiraten nach einigen Turbulenzen innerhalb der Beziehung endlich in Düsseldorf auf dem Standesamt in der Inselstraße in Nähe des Hofgartens, bevor sie wieder nach Paris abreisen. Man geht in einer kleinen Gruppe, u. a. mit dem Verleger Stefan Bollmann und seiner Frau im Hafen Essen. Undine ist noch in der ersten Hälfte ihrer zwanziger Jahre, als sie die wichtigste Bezugsperson ihres Lebens kennen und lieben lernt. Spätestens jetzt kühlt sich die Beziehung zu ihrem Vater und zugleich die Freundschaft Bohrers zu ihm deutlich ab. Bohrer erhält nach der Leitung des Literaturteils bei der FAZ und während einer Professur an der Universität Bielefeld, die Möglichkeit einer zweijährigen Gastdozentur an der Pariser École des Hautes Études am Boulevard Raispail. Undine sieht den Weg für die konkrete Umsetzung ihres Paris Enthusiasmus’ im Sinne eines gemeinsamen Aufenthalts geebnet, zur Übersiedlung in jene Stadt, die sie Jahre zuvor das erste Mal mit ihrem Vater besucht hatte und der ihre lebenslange Begeisterung gelten wird.218 In gebrochenem Französisch, »radebrechend« wie Bohrer schreibt (Bohrer 2017, 277), mietet sie für beide die erste Wohnung in der Rue Lapeyrère im Montmartre an.219 Insgesamt verzweifelt sie beinahe an den Bedingungen, in der französischen Metropole eine Wohnung zu suchen, wie sie schreibt: »Habe heute mindestens 30 Immobiliers abgeklappert. Frankreich ist so bourgeois oder kapitalistisch wie eh und je. Es gibt kaum Wohnungen zu mieten. Man kauft. Wenn man mietet, muß man eine Gehaltsbestätigung etc. vorlegen. Gibt es da noch Freiheit, Anonymität, Wechsel? Ein falscher Name – wie in Amerika – undenkbar. Ich hasse diese Karriere gedacht hatte, was aber unterschiedlich dargestellt wird. Andere Bekannte sind jedoch davon überzeugt, dass er immer die Absicht hatte, Professor zu werden. 218 Es ist erstaunlich, wie Undine Gruenter einige der Vorlieben ihres Vaters teilte, wie die Begeisterung für Paris oder für die spirituelle und meditative Landschaft des Niederrheins mit ihren Wassern und Wassermühlen, Schlössern und Klöstern, jene »Pfingstlandschaft«, wie Joseph Roth sie einmal nannte. 219 Sie schreibt über die erste Zeit: »Wunderbarer Spätnachmittag/Frühabend. Überall Pfützen – zum Hineinspringen. Funkelndes Pflaster, blau, gespiegelter Himmel nach Regen. Machte einen Spaziergang durch mein neues Viertel, das Marais, zum Bazar de L’Hotel de Ville. Die Häuser leuchten seltsam weiß im Zwielicht, davor die kalten Bäume, ich ging durch die Rue des Archives in Richtung Seine, guckte in jedes Geschäft, kaufte später Fleisch und Wein und traf auf dem Rückweg auf der Treppe eine Hausbewohnerin, die ein Gespräch mit mir anfing. Diese tausend Szenen, Bilder, Erinnerungsfetzen von 18 Monaten Paris haben sich mir so eingeprägt – nein, habe ich mir so einverleibt, wie das vergleichbar niemals in Deutschland früher möglich war, Paris ist auch eine Schule in Realität.« (AS, 258, vgl. auch: AS, 305f. etc.)

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Mentalität, die mein Vater positiv als esprit d’ordre bezeichnet. Es ist Kälte, Mechanik und völlig unsozial. Dazu fehlt alles Spielerische, alles ist commerce. Die Deutschen dagegen geradezu friedlich und langsam. Diese verdammte Schnelligkeit hier. Dieses ständige Auf-dem-Punkt-Sein.« (AS, 107f.)

Es sollen noch zwei weitere Pariser Wohnungen folgen: In Belleville (dem alten Arbeiterviertel220, das zur Beschreibung des »surrealistischen Frühlings« durch die Surrealisten herhalten muss und zudem für einige von ihnen im politischen Sinne als »konvulsivische Utopie« galt), in der Rue des Gatines 24 (in der Nähe der Place Gambetta und dem Père Lachaise im 20. Arrondissement, Belleville), wo sie ebenfalls zur Miete wohnten und später auf der Rue Robert Planquette 11 (im alten Montmartre), wo Bohrer und sie eine Eigentumswohnung kauften, die als biographische Vorlage zu »Das Versteck des Minotaurus« diente.221 Außerdem bewohnten sie eine pied-à-terre-Wohnung in der Rue Gabrielle 7, wo Picasso in der Nummer 49 ein Atelier hatte und wo neben der Rue des Abesses, kurz vor Gruenters Tod, Teile des Films »Die wunderbare Welt der Amelie« (2001) gedreht wurden. Diese Wohnung liegt ganz in der Nähe von Sacré Coeur und dennoch bis heute abseits des Touristenstroms. Es scheint so, als ob Gruenter relativ nahe an touristische Plätze heranrückte und doch immer wieder Orte fand, die davon beinahe unberührt blieben.222 Die Wohnungen werden von den Bekannten als durchgehend sehr ästhetisch bezeichnet, sowie als sehr großzügig und großbürgerlich eingerichtet, mit einem großen Tisch in der Mitte, auf dem ein Blu220 »Arbeiterviertel« ist hier nicht im Sinne eines Orts des Industrieproletariats (miss-) zu verstehen, sondern es fanden sich dort viele Handwerker und Kleinbetriebe. Heutzutage gilt es als Einwandererviertel, das erst 1860 eingemeindet wurde (wie Montmartre), in dem Edith Piaf geboren und in der Kirche St. Jean Baptiste im 19. Arrondissement getauft wurde. Dieses Viertel taucht zum Beispiel in der Erzählung »Wie war der Himmel blau« in dem Erzählband »Nachtblind« als Wohnort der Protagonistin auf. In diesem Viertel, in der Rue Ramponeau, wurde 1871 der Aufstand der Pariser Kommune niedergeschlagen. Es war lange Jahre der Sitz der Kommunistischen Partei Frankreichs, manche bezeichnen es als die »Wiege der Revolutionen« in Frankreich. Vgl. dazu auch: Didier Daeninckx: Auf den Hügeln von Belleville. In: Loquai (2009), 311–322, hier: 312: »Hier ist jede Straße ein Rätsel, besitzt jedes Haus eine Legende, verbirgt jedes Gesicht einen Schatz, und auch wenn es sich bei den Bewohnern um einfache Leute handelt, so ist ihr Leben keineswegs gewöhnlich.« Vgl. dazu auch: Morier (1994) und Hazan (2006), 326ff. Belleville gilt bis heute als eines der »hypen« Viertel von Paris (Traveller-Guide Januar 2018) und taucht bis heute in verschiedenen literarischen Werken als Szeneviertel auf, vgl. z. B. auch den jüngst erschienenen Roman von Guadalupe Nettel: »Nach dem Winter.« Übersetzt von Carola Fischer. München: Blessing 2018. 221 Vgl. hierzu: Kevin Poireault (im Gespräch mit Anita Hugi): Lieux oubliés: Villa des Platanes, la bourgeoisie entre sex-shops et fast-food. In: Le Voix du Monde. 14. 08. 2018. http://www. rfi.fr/france/20180814-lieux-oublies-villa-platanes-ilot-bourgeoisie-sex-shops-pigalle-bou levard-clichy. (zuletzt abgerufen: 04. 09. 2018) 222 Ähnliches lässt sich über ihre Motive behaupten: Über die Liebe und Paris lässt sich kaum noch angemessen schreiben und doch hat sie darüber geschrieben in einer solchen Art von »Verfremdung«, dass etwas Neues und Unwiederholbares in ihrer Prosa entstand.

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menpokal stand und oft große Kunst- bzw. Bildbände auf dem Tisch oder den Kommoden lagen. Zudem spielte im Gruenter-Bohrerschen Haus die Gastfreundschaft eine große Rolle. Zwischenzeitlich versuchen sie noch einmal eine Rückkehr nach Deutschland respektive nach Köln: Nach dem Tod von Bohrers Vater223 wohnen sie in Bohrers elterlichem bzw. väterlichem Haus am Botanischen Garten 47, aber bald erkennen sie, dass sie in Deutschland nicht mehr leben können. Sie kehren nach Paris zurück, wo Undine Gruenter 1999 in der »Charcot-Klinik« im Süden von Paris die Krankheit amyotrophe Lateralsklerose (ALS) attestiert wird. Bis heute existiert kein Gegenmittel gegen diese Krankheit: Undine weiß nun, dass sie nur noch wenige Jahre zu leben hat224, was sie Bohrer zunächst verschweigt und er sich erst über die Freundin Andrea Köhler darüber informiert, die im Netz dazu recherchiert, um was für eine Krankheit es sich dabei handelt. Sie verfasst noch ihre Masterpieces: Zunächst schreibt sie auf einer in Anbetracht der fortschreitenden Krankheit extra für sie angefertigten Schreibmaschine den Erzählband »Sommergäste in Trouville«. Dann diktiert sie auf dem Krankenbett225 ihrem Mann den Roman »Der verschlossene Garten« ohne jede Vorschrift bzw. jedes Manuskript, auswendig aus dem Kopf, 20 Minuten am Morgen, 20 Minuten am Nachmittag. Nach einem halben Jahr ist der Roman (begonnen Mitte Januar) Anfang August 2002 fertig. (Bohrer 2017, 435) Undine Gruenter stirbt drei Monate später, am 05. 10. 2002, in der besagten Klinik im Süden von Paris. Sie wird auf dem Friedhof Montmartre begraben. An der Beerdigung nehmen nur Freunde und Familienmitglieder teil, insgesamt zwischen 40 und 60 Personen (die Angaben schwanken hier). Bohrer bestand darauf, dass sie katholisch begraben werden sollte. Außer Bohrer hat sie, abgesehen von Universitätsprofessoren, kein prominenter Repräsentant des bundesrepublikanischen literarischen Lebens auf ihrem letzten Weg begleitet, selbst Michael Krüger nicht, der langjährige Leiter des Hanser-Verlags, der alte Freund Bohrers und »literarischer Entdecker« Gruenters, wie Bohrer schreibt.226 (Bohrer 2017, 434, vgl. Anmerk. 25) Ihr Leichnam 223 Bohrers Vater war der promovierte Volkswirt Hermann Bohrer, (seine Ehefrau Elisabeth Bohrer eine geborene Ottersbach), der sich zwar nicht groß um den Sohn kümmerte und ihn aufs Internat Birklehof bei Hinterzarten im Schwarzwald schickte, der ihm aber mehrere Immobilien in Köln hinterließ. Die Bohrers waren aus Frankreich nach Deutschland gekommen. Karl Heinz Bohrer empfand aber dennoch eine wohl noch größere Affinität zur englischen als zur französischen Kultur. 224 Schon im Brief an Thorsten Arend vom 11. 10. 1999 gibt sie andeutungsweise Auskunft über ihre Situation, vgl. 98. 225 Bohrer (2017), 433: »Seit dem Frühjahr 2001 konnte sie nicht mehr selbst aus dem Bett aufstehen.« 226 Mit Krüger hatte sie sich Jahre zuvor wegen einer schon geplanten, plötzlich abgesagten Lesereise für den Hanser-Verlag, zerstritten, aber er besucht sie und ihren Mann noch

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wurde in einer Leichenhalle in der kleinen Kirche St. Jean-Évangeliste in der Rue d‹Abesse aufgebahrt. Der Trauerzug bewegte sich von dieser Leichenhalle über die Rue Epic, dann über den Boulevard Clichy mit seinen Vergnügungsstätten zum Friedhof Montmartre. Ein letztes Mal zog sie durch das Viertel, das sie so geliebt hatte.227 Ihr Grab schmückt eine schlichte schwarze Marmortafel mit einer dort eingelassenen Vase und mit der Aufschrift versehen: Undine Gruenter, Ecrivain allemande (27. 08. 1952–05. 10. 2002).228 Jahrelang zierte den Grabstein Gruenters eine von Zeit zu Zeit immer wieder erneuerte weiße Rose. Ihr Zimmer und ihre Bibliothek sind über viele Jahre (von 2002–2012) nicht angerührt worden. Bohrer wohnte dort immer, wenn er nach Paris kam. Inzwischen ist die Wohnung wieder vermietet229 und soll, ähnlich wie das kleine Häuschen in Trouville schon vor Jahren, verkauft werden. Die Bibliothek Gruenters ist in dem Zustand, wie sie war, nach London verfrachtet worden. Auf diese Weise schließt sich das Kapitel Undine Gruenter in Paris biographisch endgültig. Undine Gruenter hat den »Publikumserfolg« ihrer letzten beiden Werke nicht mehr miterleben können. Von der literarischen Kritik ist sie bereits seit ihrem ersten Buch »Ein Bild der Unruhe« wahrgenommen worden (dieser erster Roman wurde u. a. von Gerd Mattenklott230 rezensiert), ein Werk, zu dem der Vater bemerkt haben soll: »Hätte sie es doch unter einem anderen Namen veröffentlicht.« Sie veröffentlichte bei Hanser, im eher unbekannten, heute nicht mehr existierenden Bollmann-Verlag, bei Fischer und später sogar in der edition suhrkamp (mit dem teilweisen Vorabdruck von »Der Autor als Souffleur« in der FAZ).

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einmal kurz vor ihrem Tod und beeinflusst sie dahin gehend, einen »deutschen Titel« des letzten Romans, der zunächst »Hortus conclusus« heißen sollte, zu wählen. An der Trauerfeier bzw. Beerdigung nahmen die engsten Freunde u. a. der Germanist Albrecht Betz und seine Frau Ariadne, die Romanistin Karin Westerwelle, der Altphilologe Jürgen Paul Schwindt und der Schriftsteller Stephan Krass, André Kolbe, der Literaturwissenschaftler Wolfgang Lange, Reinhard Steiner und seine Frau Irmela, eine Münchner Rechtsanwältin, der Romanist André Stoll, Stephan Schleef u. a. teil. Bollmann hat im Gespräch betont, was für ein Schock der Tod Gruenters für ihn und für viele ihres Bekanntenkreises gewesen sei, nicht zuletzt deshalb, weil Gruenter eine »besondere Erscheinung« dargestellt habe. Bezeichnenderweise wird hier die männliche Form ecrivain, nicht écrivaine, aber mit der weiblichen Adjektivendung gebraucht. Für den Friedhofsbesucher sei mitgeteilt, dass sie dort in der Datei als Grunter gespeichert ist. Das zu wissen, erleichtert die Suche nach dem Grab. Hier sind zudem Teile des Films von Anita Hugi gedreht worden. Zu dem relativ jung gestorbenen Literaturwissenschaftler Gerd Mattenklott (1942–2009) unterhielten Gruenter und Bohrer trotz gänzlich unterschiedlicher politischer Einstellung eine freundschaftliche Beziehung.

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Bis zum Ende ihres Lebens erlebt und bekennt sie sich dazu, eine Außenseiterin zu sein, eine Solitäre, was sich in ihrer durchgängigen Empfindung äußert, ihr ganzes Leben nirgendwo hin zu gehören, am ehesten noch nach Paris (»Paris, meine Heimat« schreibt sie einmal, AS, 161). Sie klagt über die eigene finanzielle Misere (vgl. AS, 14) und darüber, dass sie kaum etwas verdient, sich nicht selbst finanzieren kann und immer auf Bohrer angewiesen sei, den sie wegen einer Affäre Ende der Achtziger/Anfang der 90er Jahre für kurze Zeit verlässt (es war nicht genau zu eruieren, mit wem, sie schreibt nur, »mit einem bulgarischen Intellektuellen«, der in Paris lebte, AS, 177 u. 183). Schließlich kehrt sie wieder zu ihm zurück und widmet ihm das Werk »Nachtblind«.231 Obendrein leidet sie unter der mangelnden Anerkennung seitens der Leserschaft und mitunter darunter, dass sie in Deutschland nicht mehr leben kann. Bohrer hilft Gruenter, ihr letztes Werk zu beenden und muss dabei feststellen, dass, konzediert es gäbe Anteile seiner Person beim Protagonisten Soudain, er weder als literarische Figur reüssiert noch in Hinblick auf sein Werk weiterhin geltenden Einfluss auf sie besaß. Equilibres »deutscher Lehrer« in »Der verschlossene Garten« ist Niklas Luhmann, der Antipode Bohrers und Kosellecks in der Bielefelder Zeit.232

4.1. Biographie ihres Denkens und Schreibens als Poeta doctus und Femme de lettres: Literarische Orte und geistige Heimat(en) »Es gibt zwei verschiedene Sorten von Schriftstellern: für die einen hat ihre Literatur die Funktion der Selbstausstellung (-darstellung, -ausdruck), für die anderen die der Selbstmaskierung. Zu den letzteren gehöre ich.« Undine Gruenter (AS, 95)

Rekapitulierend sei festgehalten: Undine Gruenter wurde am 27. August 1952 in Köln geboren und verstarb am 05. Oktober 2002 in Paris an jener amyotrophen Lateralsklerose233, eine weltweit eher nicht häufig anzutreffende unheilbare Er231 Über andere Beziehungen Undine Gruenters lässt sich nur spekulieren. Es gab einen Grundsatz innerhalb ihrer Familie, den sie öfter wiederholte und der sowohl für ihre Mutter und ihren Vater galt: »In der Liebe ist alles erlaubt.« Sie sprach wohl vor Freunden einmal davon, dass sie sehr verliebt sei, daraufhin aus Paris abreiste und sich mit einem Mann in der Provence traf. Um wen es sich dabei handelte oder wie die Begegnung verlief, ob es sich eher um eine platonische oder poetische Beziehung handelte, davon ist nichts bekannt geworden. Bei Gruenter ist dabei aber immer Vorsicht geboten, weil es sich um eine Art von »Poetisierung« ihrer Wirklichkeit handeln könnte, eine Bemerkung, die sich nicht allein auf diesen Vorfall, sondern auf ihr Leben und Werk insgesamt zu beziehen ist. 232 An mehreren Stellen wird in »Der verschlossene Garten« von ihrem deutschen Lehrer« oder »deutschen Philosophen« gesprochen. (u. a. AS, 140) 233 Sie beschreibt einmal ihre Sprache als »Sprache der Lähmung«. (vgl. AS, 89)

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krankung des motorischen Nervensystems, die von »Freuds Lehrer« Jean-Martin Charcot das erste Mal festgestellt und deren Krankheitsverlauf beschrieben wurde und deshalb manchmal »Charcot-Krankheit« genannt wird.234 Es handelt sich um eine Degeneration der Nervenzellen, die sich für die Muskelbewegungen verantwortlich zeigen.235 Bohrer gibt über die letzte Zeit und den Einfluss der Krankheit auf ihr Werk und ihr Sitzen im Rollstuhl Auskunft: »Meine Frau hatte amyotrophe Lateralsklerose, eine fortschreitende Lähmung der Muskeln, die nach drei Jahren zum Tod führt. Als Undine dieses Buch [»Der verschlossene Garten«, Ergänzung SW] erfand, war sie nicht mehr in der Lage zu schreiben. Sie war auch nicht mehr in der Lage, eine Seite umzublättern. Sie hat mir dieses Buch im Jahr ihres Todes ohne jede Unterlage aus dem Kopf diktiert, morgens eine Dreiviertelstunde und nachmittags eine Dreiviertelstunde. Mehr Kraft hatte sie nicht. Wenn sie in die Luft starrend einen Satz sprach, schrieb ich ihn auf. Danach haben wir das Geschriebene gemeinsam korrigiert. Die letzte Überarbeitung endete am 10. August 2002. Am 5. Oktober starb sie. Kurz nach ihrem Tod habe ich das Manuskript auf Tonband gesprochen und die Bänder an den Hanser Verlag geschickt. […] Ohne jetzt albern auf theoretischen Differenzen zu bestehen: Undines schrecklicher Tod war eine Katastrophe, keine Tragödie im klassischen Definitionssinn. Ich kann es heute im Rückblick gar nicht mehr richtig verstehen, dass die Jahre ihrer Krankheit nicht schrecklich waren. Obwohl wir wussten, dass sie sterben würde, war es eine zum Teil sehr erhebende Zeit – sie konnte ja sprechen.«236

Die Art und Weise, wie sie die letzten Jahre verbrachte, leistete der Entstehung eines Mythos’ im Sinne einer beinahe religiösen Allusion auf den Schriftsteller bzw. die Schriftstellerin Vorschub, die quasi auf dem Sterbebett ihrem Mann ihr letztes Werk als Vermächtnis in die Feder diktiert.237 In Anbetracht dieses Um234 Freud besuchte 1895 auf einer Studienreise die Klinik am Hôpitale de la Salpêtrière, wo Charcot Versuche zur Behandlung mit Hypnose und Suggestion machte. In jüngster Zeit gibt es mehr dokumentarische, literarische, populärwissenschaftliche oder künstlerische Publikationen über dieser Krankheit. Vgl. hierzu: Nina Zacher/Karl Heinz Zacher 2018: »Such dir einen schönen Stern am Himmel.« Krankheit ALS. Die Geschichte eines Abschieds. Mit Dorothea Seitz. Frankfurt/M.: Fischer-Verlag, Mitch Albom (292002): Dienstag bei Morrie. Die Lehre eines Lebens. München: Goldmann (Original: Tuesdays with Morrie, New York: Doubleday), was als Fernsehfilm 1999 von Mike Jackson verfilmt worden ist, oder das dreimal mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnete Filmdrama und Psychogramm eines ehemaligen Preisboxers Herbert, der nach und nach die Kontrolle über seinen Körper verliert von Thomas Stuber (D 2015). 235 Die Krankheit ist eine der letzten Krankheiten, die absolut tödlich verläuft. Sie ist relativ selten: Weltweit erkranken pro Jahr etwa 100.000 Personen an der Krankheit. Es handelt sich um eine fortschreitende und irreversible Schädigung des ersten Motoneurons, das sich in der Hirnrinde sowie des zweiten Motoneurons, das sich im Rückenmark befindet. (vgl. SZ, Forum Spitzenmedizin. Juli 2017) 236 Karl Heinz Bohrer im Interview mit Sven Michaelsen »Ich habe einen romantischen Blick«. In: SZ-Magazin 40/2002 Literatur. Vgl. auch: Bohrer (2017), 381. Vgl. dazu: Kap. 2.7. 237 Vgl. Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München: dtv (Deutsche Verlagsgesellschaft) 11 2005.

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stands ließe sich die Frage stellen, ob es sich hier nicht wieder um eine Beschreibung jener mythologisierenden Schriftstellerinnen- und Schriftstellerexistenzen handelt, von denen es innerhalb der deutschsprachigen Literatur einige bemerkenswerte Fälle gibt, wieder eine jener zu Lebzeiten verkannten, erst nach einem frühen Tod zu Ruhm gelangten Schriftsteller- bzw. Schriftstellerinnenexistenzen, in der Nachfolge Hölderlins, Kafkas oder anderer, woran die deutschsprachige Literatur so reich ist. Demnach würde es sich einmal mehr um eine Autorin für die »Nachwelt« handeln, in dem Sinne wie Schlaffer schreibt: »In Deutschland hat die Mitwelt meistens die falschen Bücher gelesen. Lichtenberg, Lenz, Novalis, Hölderlin, Kleist, Büchner, Robert Walser, Kafka, Benjamin sind Schriftsteller für die Nachwelt: Philologen mussten die »Werke«, die als solche gar nicht existierten (man denke an Lichtenbergs Sudelbücher, Hölderlins Hymnen, Benjamins Passagen) zusammenstellen und edieren, ehe sie als ein wesentlicher Teil der deutschen Literaturgeschichte erkannt wurden.« (Schlaffer 2002, 19)

Dieser Eindruck könnte sich weiterhin einschleichen, wenn man bedenkt, dass sich vieles, was Bedeutung und Bedeutsamkeit dieser Schriftstellerin in Hinsicht auf die Rezeption ihres Werks betrifft, erst nach ihrem Tod erschlossen hat. Aber weiter ließe sich diese Annahme nicht erhärten. Köhler, die mehrfach sowohl in »Der Autor als Souffleur« als auch im Werk von Bohrer (2017) genannt wird, bzw. sich unter der Abkürzung A. verbirgt (AS, 165), bezeichnet sie in einem Nachruf in der NZZ als eine der »begabtesten und verborgensten Schriftstellerinnen ihrer Generation.«238 An anderer Stelle ist darauf verwiesen worden, dass sie in jener Tradition steht, »die das Grundlegende und Einzigartige der deutschsprachigen Literatur ausmacht: die Verbindung von Poesie mit der Philosophie.« (vgl. Wolting 2005, 277) Verschiedene Arten von Polaritäten und deren Beschreibung wie künstlerischer Auflösung in der Literatur durchziehen in vielerlei Hinsicht das Werk. Köhler schreibt von einer »doppelten Buchführung« in dem Kommentar zur Marbacher Ausstellung: »Diese »doppelte Buchführung« [Marschieren und Flanieren, Ergänzung SW], die schon Heinrich Heine in seinem Exil empfand, hat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts niemand passionierter und zugleich spitzzüngiger zum Ausdruck gebracht als die im Jahr 2002 verstorbene Schriftstellerin Undine Gruenter, die den Traum von Paris als der Stadt der Literatur weiter träumte, auch wenn er ihr, wie in einem hier ausgestellten Manuskriptauszug, unter der schreibenden Hand »zu Asche zerfiel«.« (Köhler, NZZ, 23. 08. 2018)

Was sich bei vielen anderen Autorinnen respektive Autoren sich im Nachhinein als mehr oder weniger zufällig ergeben zu haben scheint, erscheint bei Undine Gruenter beinahe nur folgerichtig und konsequent, wie z. B. ihre »mediale Ab238 Köhler (2002).

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stinenz oder Abwesenheit« zu Lebzeiten, denn wenn sie alles war, dann war sie eins gewiss nicht: eine »mediale Schriftstellerin«, wie dies in den letzten Jahrzehnten, ausgewiesen durch die Hochglanzfotos von Autorinnen und Autoren im Einband, von Verlagen und literarischer Öffentlichkeit immer häufiger gefordert wird.239 Sie hat sehr genau darauf geachtet, sich in der Öffentlichkeit zurückzuhalten oder sich ganz daraus zurück zu ziehen, was in dem Satz gipfelt, dass in Hinsicht auf den Zeitgeist »nichts wichtiger sei, als sich von ihm fernzuhalten.«240 Zugleich hat sie die vermeintliche Aufgabe des Schriftstellers in der Öffentlichkeit stark kritisiert, wo sie schreibt: »23. November [1991, Jahreszahlangabe SW]. Die Öffentlichkeit des Schriftstellers ist heute eine Permanent-Show – der Einzelgänger als Guru für den Voyeurismus der Medien.« (AS, 445) Die Behauptung, Undine Gruenter hätte kein öffentliches Leben geführt, käme geradezu einem Euphemismus gleich. Man ist geneigt zu schreiben, sie hat ein die Öffentlichkeit scheuendes Leben geführt, und das selbst in einer so medialen Stadt wie Paris oder am Rand davon. Folgerichtig gibt es nur wenige Aussagen oder Interviews von ihr, genau genommen nicht mal ein Interview, das von ihr geblieben ist. Zudem ist nur ein einziges Foto von ihr im Netz zu finden (abgesehen von jenen in dem angeführten Bericht in WDR 3 »Stadtaugen«.241 Darüber hinaus fanden Lesungen oder Lesereisen im Auftrag des Verlags von ihr eher selten statt (sie hat sich später aufgrund der Krankheit dagegen gewehrt).242 Ihre 239 Auf der anderen Seite lassen sich Gegenbeispiele nennen, wie Patrick Süßkind oder die in jüngerer Zeit vieldiskutierte italienische Autorin Elena Ferrante (L’amica geniale), die unter einem Pseudonym schreibt, weil sie die Öffentlichkeit scheut, nicht öffentlich auftreten will und ihr Werk für sich selbst sprechen lassen möchte. Vgl. dazu: Klaus Brinkbäumer: »Identität aufgedeckt. Das Ende von Elena Ferrante. In: SPIEGEL-ONLINE 02. 10. 2016, ohne Verfasserangabe; vgl. auch: »Austausch mit einem Phantom. Interview mit Schriftstellerin Elena Ferrante. In: SPIEGEL-ONLINE Ausgabe 34/2016, 21. 08. 2016. Oder man kann beispielsweise an den »postsowjetischen« Roman »Blasse Helden« (München: Knaus 2018) denken, der unter dem Pseudonym Arthur Isarin veröffentlicht wurde. 240 Vgl. AS, 13: »Zeit-Geist. Nichts ist wichtiger, als sich von ihm fernzuhalten. Aus dem Zeitgeist ist noch nie ein bedeutender Gedanke entstanden. Deshalb die Lärm verbreitende Atemlosigkeit derjenigen, die einer gegenwärtigen Strömung hinterhecheln und triumphal auf das Gewonnene blicken, als wären sie den anderen um eine Gedankenlänge voraus. In Wirklichkeit ist’s nur eine Nasenlänge in die Richtung, aus der der Wind weht.« Vgl. auch Dorothea Dieckmann, Die Zeit steht still. In: DIE ZEIT, 27. 03. 2003, Nr. 14. Einschränkend sei gesagt, dass der Begriff Zeitgeist von jeher umstritten war, vgl. Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit. Sammlung Göschen Berlin: De Gruyter 51998. 241 In einem Brief an Döring vom 12. 07. 1993 bezeichnet sie sich selbst als »photoscheu«, Fotos, die Bohrer von ihr gemacht hat, bezeichnet sie darin als die »letzten und besten«. Allerdings muss es noch weitere öffentliche Fotos von ihr geben, wie Briefe von ihr an Peter Peitsch, einen Berufsfotografen aus Hamburg, belegen. In einem Brief vom 22. 08. 1993 bittet sie ihn, ihr mehrere Abzüge in die Rue des Gatines zu schicken von den Aufnahmen, die er »86 auf der Buchmesse von ihr gemacht hätte«. 242 Aus den Briefwechsel geht hervor, dass es durchaus einige Lesungen in bekannten Häusern gab, wie im Heinrich-Heine-Haus in Paris (Briefwechsel mit dem damaligen Leiter Dr.

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Identität bestand im Schreiben, nicht mal in erster Linie im Veröffentlichen, und das allein war für sie mit einer Art »Größenwahn« verbunden, der nicht noch einmal extra medial aufgeladen werden musste. »Thema Größenwahn: ein Schriftsteller muß einen gewissen Größenwahn entwickeln, d. h. ein inneres Bild von sich selbst entwerfen, das mit dem seiner Umgebung nicht übereinstimmt. Gleichzeitig gibt es so etwas wie eine soziale Regel der Bescheidenheit […]: Darüber hinaus aber ist Schreiben auch in einem sozialen, nicht nur existentiellen Sinn Selbstrettung und Selbstbehauptung; der Schriftsteller verdoppelt sich in eine imaginäre Figur von sich selbst (U.G. als Schriftstellerin, nicht als Tochter, Geliebte, Freundin, Schwester, oder was man sonst noch für Rollen hat) und ordnet dieser Figur von sich selbst alle anderen möglichen Selbstbilder unter. Fazit: mißtraue jeder dick aufgetragenen Demutshaltung. Umgekehrt auch der Götterpoesiehaltung. Denn der notwendige Größenwahn darf sich nur auf sich selbst beziehen, aber nicht auf einen Anspruch eines Dichter-Sehers in der Gesellschaft. Man steckt im Paradox: einerseits zum Größenwahn zu stehen, andererseits darüber zu lachen,« (AS, 290f.)243

Nicht unerheblich trug zu Gruenters Haltung die Abneigung bei, über die eigene Person zu sprechen, vor allen Dingen über ihre Kindheit und Jugend. Sie wollte, hierin ganz wertkonservativ, dass ihr Werk und ihr Schreiben in Erinnerung bleiben sollte, alles Bio- bzw. Autobiographische schien ihr suspekt, wo sie schreibt: »Das Ich in meinen Romanen ist keins einer autobiographischen Geschichte, sondern einer ästhetischen Reflexion.« (AS, 38) Bezeichnender Weise finden sich in ihrem einzigen poetologisch-programmatischen Werk »Der Autor als Souffleur«, aus dem sich vielfach biographische Bezüge ableiten lassen, an vielen Stellen Bemerkungen zum biographischen Schreiben – und zwar in deutlicher Absetzung davon: »18. August 1989 [Jahreszahlergänzung SW] Eins hat sich herausgestellt – ich kann weder über meinen Vater noch über meine Mutter schreiben, weil der Text mich ganz Martin Raether am 20. 11. 1991 und am 16. 01. 1992), eine Lecture rencontre im Palais Beauharnais, der Residenz der Deutschen Botschaft in Paris, die Zusage für das Literaturfestival 1994 in Köln (Brief vom 15. 06. 1993 an die Veranstalter Barbara Nolden und Michael Kulse von der Universität zu Köln. Außerdem erhält sie eine Einladung zur BR-Sendung Lesezeichen, die sie aber ablehnt. Zudem wird sie auf Betreiben von Frank Schirrmacher, der von ihrer Prosa sehr angetan ist (Brief vom 15. 11. 1990) um »Erzählerisches« für die FAZBeilage »Bilder und Zeiten« vom 03./04. 04. 1992 gebeten. Dr. Semmelroth vom Amt für Wissenschaft und Kunst lädt sie nach drei Jahren (»Liebe, Lust und Laster«) erneut zum Literarischen Mittwoch in der Kommunalen Galerie im Leinwandhaushaus Frankfurt/M. unter dem Titel »Die große Stadt als literarische Erfahrung« ein, was ihr neben Flug und Übernachtung 800 DM Honorar einbringt. (unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie) Dokumentiert ist eine Lesung innerhalb des Tukan-Kreises, eine der ältesten literarischen Institutionen Münchens, in der Seidl-Villa in München am Nikolaiplatz 1b (Kulturzentrum) am 24. 11. 1992, wozu sie 800 DM Honorar erhält. 243 Sie zieht in diesem Zusammenhang mehrmals eine Analogie zu Rimbauds »Ich ist ein Anderer.« vom »doppelten Ich« des Schriftstellers«. (vgl. z. B. AS, 45, 48, 264, 266 oder 424)

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anderswohin trägt, weil mich das Identifikationsproblem an sich viel mehr interessiert als irgendwelche alten Geschichten, weil das Erfinden mir viel mehr liegt als das Aufzeichnen, kurz, einen autobiographischen Roman wird es von mir nicht geben – es gibt immer wieder nur Bruchstücke von Personen, aber die sind schon im Schreiben so überarbeitet worden, daß auch da keine Wahrheit mehr übrig bleibt. Identität, Selbstzerstörung, Illumination, Ich-Verlust, das Fragment einer Intellektuellen-Problematik, Paris, die Dinge, die Liebe, die Gewohnheit, die Ideologie, die Selbsttäuschung – das Leben nicht als ein Traum, sondern eine Kette von Selbsttäuschungen – der Traum, das Wunderbare, die verhinderte Metaphysik, das In-der-Zeit-Sein und das Aus-der-ZeitSein, all das interessiert mich viel mehr als Autobiographisches und kristallisiert sich zu eigenen Bildern.« (AS, 348)

In diesem Sinne kann man den inzwischen beinahe klassisch zu nennenden rezeptionsästhetischen Grundsatz, der von vielen Schriftstellern vertreten wird und der in jüngerer Zeit im Zusammenhang der Herausgabe des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan eigentümliche Aktualität erfahren hat, auf sie anwenden: Das Leben, das Private, die Intimsphäre eines Schriftstellers äußert sich in seinem Werk, nirgends anders sonst und schon gar nicht in spekulativ anmutenden biographischen Aussagen244: »Das wirkliche Ich eines Schriftstellers manifestiert sich nicht in seinem Leben, sondern einzig und allein in seinen Schriften. Man verweise, wenn Freunde ihr Erstaunen darüber äußern, daß die Texte ihres Schriftsteller-Freundes so sehr von seinem Temperament verschieden seien, daß sie ihn nicht erkennen, auf Prousts Feststellung, daß ein Buch das Produkt eines anderen Ich ist als dasjenige, das wir in unseren Gewohnheiten, in der Gesellschaft und in unseren Lastern zeigen.« (undatiert, vor November 1986, AS, 36) In eine ähnliche Kerbe schlägt Greiner in einem Beitrag in der ZEIT vom 25. 09. 2008. Hier finden sich die den Artikel resümierenden Sätze: »Angewendet auf die Literatur, wäre der Gedanke so zu fassen: Das biografische Interesse ist letzten Endes ein Irrweg, der das Persönlichste des Autors dort sucht, wo es gar nicht liegen kann: im beklagenswert Allgemeinen, das er mit vielen Zeitgenossen oder Leidensgenossen teilt, wie etwa die Angeberei und Prahlsucht Poes oder die depressiven Verstörungen und Verfolgungsängste Celans. Das Persönlichste, Intimste des Autors ist nichts anderes als der literarische Text.«245

244 Bertrand Badiou/Hans Höller/Andrea Stoll/Barbara Wiedemann ( Hg.): Herzzeit – Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. – Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. 245 Ulrich Greiner: Falsche Intimität. Biographien sind Irrwege. Das Allerpersönlichste der Dichter ist nicht ihr Leben, sondern ihr Text. In: DIE ZEIT. Hamburg 25. 09. 2008.

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Dass man in Anbetracht der Verbindung des Erzählens mit dem Erinnerungsbzw. Gedächtnisdiskurses246 dennoch manchmal nicht umhin kommt, auf biographische Spuren im Oeuvre zu stoßen, liegt in der Recherche selbst begründet und war seitens des Verfassers nicht immer zu verhindern. Darin kann aber nicht der primäre Zugang zum Werk bestehen247, obwohl sie sich durchaus in »biographischen Bruchstücken« versuchte, wie sie das nennt: »Mutter und die Musik. Vater und die Malerei. Der Ex-Freund und die Katze. Ich und die Rosen. Der Vater und die Glatze. Ich und das hellgrüne Laub weißer Rosen. Wir und die Herbstblätter im Park. Die Mutter und unzählige Petits Rouges in den Cafés. Ich und die Straßen. Die Mutter und die Zeitungen. Der Vater und die Gedichte. Papierkörbe und Liebesbriefe. Pariser Höfe und Telephonklingeln. Wir und die Psychoanalyse. Wir und die Künste. Die Küchen und die Kochkunst. Park und Meer. Die Freunde und das Theater. Inszenierungen des Alltagslebens. Die Muse und ihre Kontinente. Verlorene Katzen. Kurzgeschichten und die Sirenen der Pompiers. Mischfiguren. Schritte über dem Kopf und Sanierungsarbeiten in den Häusern. Spiegeleier, Architekten und die Unrettbarkeit des Es. Bahnhöfe und Blumensträuße. Les Temps de Gares. Diavorführungen im der Grande Bourgeoise. Die Damen, die Wohltätigkeit, die Künste. Hauskonzerte. Tanztheater, Tourneen und Exilkünstler. Jazz und Ausflüge in die Vergangenheit. Schreibmaschine und Siegelring. Das Motto von Tania Blixen, Seefahrt tut not, Leben tut nicht not. Die Mottos meines Lebens. Die Frau im Glashaus. Chantal Akkermann und Türenschlagen, Ganze Tage in des Meeres Wellen. Die Liebe und die Abfalleimer. Katzenklos und Von-der-Leine-Lassen. Ich-Bilder im Nacht-Fenster.« (AS, 429f.)

Allerdings spricht der »Zustand« der Texte eher für eine Art Anti-Biographie (selbst der vorangegangene Text, der stark ästhetisch »geformt« ist), die in der Mehrheit keineswegs leicht eingängig sind, eher als hermetisch gelten, oftmals 246 Der Hirnforscher und Neurologe Markowitsch verwendet »literaturwissenschaftliche Begriffe« wie das »autobiographische Gedächtnis«. Vgl. Hans Markowitsch: Das autobiographische Gedächtnis. Stuttgart: Klett-Cotta 2005. Hans Markowitsch: Das Gedächtnis. München: C.H. Beck 2009. Vgl. dazu: Stephan Wolting: Fiktion und Fremde in Hans-Josef Ortheils Romanen »Die Erfindung des Lebens« und »Die Moselreise«. In: Zwischen Fremdheit und Erinnerung. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Hg. v. Carsten Gansel u. a., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (V &R) 2015b, 43–55. 247 Es kann und soll nicht verschwiegen werden, dass es Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die eine diametral andere Position einnehmen. Stellvertretend sei etwa der vor einigen Jahren verstorbene englische Schriftsteller Gilbert Adair genannt, der seiner Protagonistin in den Mund legt: »Nun, ich weiß wohl besser als die meisten anderen, dass es kein wirksameres Wahrheitskriterium als die Fiktion gibt. Obwohl Schriftsteller[…] glauben mögen, dass alles an ihrem Werk ausschließlich das Ergebnis ihrer Einbildungskraft ist, dringt die Wahrheit, die Wahrheit über die eigene Psyche, ihre eigenen Obsessionen doch auf hinterlistige Art und Weise in das Gewebe und die Form ihres Werks ein, so, wie Wasser noch den schmalsten Spalt, den winzigsten Riss im Boden nutzen wird, um in die Wohnung darunter zu tröpfeln.« (Evadne Mount, Gilbert Adair: Ein stilvoller Mord in Elstree. (Erstveröffentlichung 2007). München: Heyne 2009, 276f.

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ihre geistigen Wurzeln im »Zitat der Moderne« haben und hierin Texten über Paris im Sinne des Schaffens eines eigenen Kosmos’ jenem von Rilke ähnlich, der ebenfalls vom spleen von Paris248 angezogen wurde. Denn es sind nun mal nicht die »Touristen auf Gran Canaria« oder »Mallorca«, die sie zum Titel ihrer Erzählung macht, sondern die »Sommergäste in Trouville«. Ihre Sehnsucht gilt einem Paris, jener »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«; um mit Benjamin zu sprechen249, eventuell noch jener bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, gerade wo »Baukomplexe der Moderne« wie die Cité des Platanes, worin sie am Montmartre lebte250, in dem Werk »Das Versteck des Minotaurus« mit einbezogen werden.251 Gleichwohl lässt sich mit Böttiger festhalten: »Aber es steckt in dieser Prosa auch das Wissen darum, dass dieses Paris ein Paris der Sehnsucht ist: Es existiert schon nicht mehr, während es so beschrieben wird.«252 Das alles macht ihre Texte medial auf den ersten Blick weniger attraktiv, zumal die Texte ein weiteres Kriterium auszeichnet, das nicht recht in die heutige Zeit passen mag: Man kann diese Texte nicht mal so eben zwischendurch oder schnell lesen, die Texte erfordern ausgiebige Zeit bei der Lektüre, durch jene Technik ihres Schreibens erzeugt, die als Hyperrealismus bezeichnet worden ist. Der Begriff Hyperrealismus gilt literaturwissenschaftlich noch nicht als durchweg akzeptiert. Er steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff des Surrealismus bzw. des Supranaturalismus253 – wird manchmal synonym benutzt – und meint eine »überschärfte Realität«, eine überspitzte und übergenaue Darstellung der 248 Vgl. Baudelaire (2011). Vgl. dazu auch: Bohrer (1997). 249 Der Text ist 1935 als Exposee erschienen, von Benjamin selbst als sein Hauptwerk angesehen worden und posthum als Das Passagenwerk erschienen. 250 Undine Gruenter bewohnte (allein und u. a. mit Karl Heinz Bohrer) verschiedene Wohnungen in Paris. Die Rue Lapeyrère war Ende der 80er Jahre die erste Pariser Adresse (18. Arr.). Daraufhin folgte Anfang der 90er Jahre die Rue des Gâtines, Nähe Place Gambetta und Père-Lachaise im 20. Arr. (Belleville), dann der Umzug nach Köln, und in Paris als piedà-terre die Wohnung in der Rue Gabrielle, schließlich die Wohnung in der Robert Planquette. Vgl. auch Gehlhoff-Claes (2002, 67f.), die mit in die Wohnung in der Robert Planquette investiert hat, bezieht sich auf die Wohnung in der Rue Gabrielle: »Was? Dieses kleine Geschöpf, aus dem das geworden war? Hatte sie in der Nacht gefragt. Sie hatte sich aufgesetzt und im Dunkeln aus dem Fenster auf den hübschen Platz geblickt, an dem das kleine Hotel dicht unter dem Gipfel des Montmartre lag; auf die Platanen im Schlaf, die leeren Bänke, die Laternen mir ihrem blassen Licht; zu den Türmen von Sacre-Coeur hinauf; zur Rue Mont Cenis hinunter, wo die Wohnung ihrer Tochter war.« 251 VM, 87. Vgl. dazu die Rezensionen von Yvonne Gebauer in der SZ vom 02. 03. 2002, von Joachim Otte in der FR vom 10. 11. 2001 und von Andrea Köhler in der NZZ vom 09. 10. 2001. 252 Helmut Böttiger: »Skizzen der Bohème. Undine Gruenters Erzählungen aus dem Nachlasse.« In: Deutschlandradio Kultur. 18. 01. 2006. 253 Betz weist darauf hin, dass Heine schon 1831 den Begriff prägt, »der in Frankreich große Karriere macht: Über Baudelaire und Nerval führt er zum surréalisme Appolinaires und Bretons.« Vgl.: Betz (1997), 23.

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Wirklichkeit254, die keine Unterscheidung mehr zwischen wichtigen und unwichtigen Details in der Bedeutungszuweisung trifft, was deshalb solche Texte schwer lesbar macht, weil diese für die Perzeption im Gehirn bzw. innerhalb der Erinnerung nicht ausreichend hierarchisiert werden können.255 Gruenter könnte programmatisch u. a. durch die Lektüre von Baudrillard damit in Verbindung gekommen sein, der den Begriff und dessen Beschreibung in einigen Werken (Baudrillard 1976 und 1981) in Zusammenhang mit den Termini Simulation und Simulakrum verwendet. »Eine solche ›Verdoppelung‹ oder auch ›Vervielfachung‹ des ›Realen‹ zeichnet nicht nur photorealistische Arbeiten, sondern ganz allgemein das sogenannte ›Hyperrerale‹ aus. […] Nach Baudrillard geht die Realität im Hyperrealismus unter, in der ›reduplication‹ minutieus du réel, de préférence à partir d’une autre medium reproductif – publicité, photo etc.: ›de medium en medium‹, so Baudrillard, ›La reel de volatilisé‹. Das Hyperreale wird dementsprechend als »ce qui est toujoures déj’reproduit« bezeichnet.«256

Eine Annäherung und Ahnung, was darüber hinaus damit gemeint sein könnte, liefert die Autorin Gruenter selbst, worauf Köhler hinweist: »Sie habe angefangen zu schreiben, um ein bestimmtes Ziegelrot an einer Mauer festzuhalten, hat Undine Gruenter einmal erklärt. Ob eine Straße zu einer bestimmten Tageszeit, eine Landschaft im Mittagslicht oder ein Augenblick der Liebe – immer gehe es darum, einen Eindruck wach zu halten oder zu beschwören, der in der Erinnerung mit der Vorstellung von Glück verbunden sei. Insofern sei die Arbeit des Schreibens nichts anderes als der Wunsch, »die zerbrechlichen Reste« zu sammeln, bei denen das Verlangen nach Glück gegen besseres Wissen durchschlägt. Es ist dieses zerbrechliche Glück, das Undine Gruenters Bücher zu den verlockendsten und raffiniertesten Labyrinthen der deutschen Gegenwartsliteratur kürt; Bücher von existenziellem Ernst und anarchistischer Heiterkeit.« (Köhler 2001)

254 Die beispielsweise Aragon in »Le Paysan de Paris« verwendet. Paris: Edition Gallimard 1926. 255 In der Bildenden Kunst hat sich diese Stilrichtung durchaus erhalten, Künstler wie Alyssa Monks (New York), Paul Cadden (Glasgow), Diego Grarvinese (Buenos Aires), Juan Francisco Casas, aber auch Davis Mauro (Neapel) oder Gottfried Helnwein (ursprünglich Wien) oder Jeff Koons (York, Pensylvania), der neben Gerhard Richter mit der Versteigerung eines Balloon Dogs (Orange) für 58,4 Millionen US-Dollar im New Yorker Auktionshaus Christie’s zum teuersten lebenden Künstler der Welt aufstieg, zählen zu den bedeutendsten Vertretern dieser Richtung. Vgl. dazu auch: Peer Kriesel: Mehr als nur hyperrealistisch – Psychologischer Realismus geprägt durch Ron Mueck, Kunst- und Kulturgeschichte. Potsdam 2007: FH-Publikation; Axel Hinrich Murken: Zwischen Surrealismus und Hyperrealismus. Die Bilderwelt des belgischen Malers Roland Delcol. Oberschöna: Dr. Schilke Medizinischer Verlag 2001; John Russell Taylor, Maggie Bollaert: Exactitude – Hyperrealist Art Today. London Thames & Hudson 2009. Siehe den Katalog zur Ausstellung: Hyperrealistische Bildhauerei 1973 bis 2016. 834 internationale Künstlerinnen) im Museum der Schönen Künste Bilbao, Bilbao 2016 (Guggenheim Museum). 256 Irina O. Rajewski: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne. Tübingen: Narr-Verlag 2003.

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Welche Paradoxie des Schicksals, dass die Herausgabe respektive die Herausgeber mancher Texte Gruenter noch posthum und ungewollt in ihrer Haltung zur literarischen Öffentlichkeit zu bestätigen scheinen, weshalb es bei der Neuausgabe ihrer Werke zu einigen Kuriosa kommt. So wird auf der Rückseite der Taschenbuchversion des Erzählbands »Nachtblind«257 von der Autorin des Bestsellers »Ein Sommer in Trouville« gesprochen wird, man hatte offensichtlich Bertrand Taverniers Film »Ein Sommer auf dem Lande« im Sinn, ein Werk258, das zum einen kein Bestseller war, wenngleich es gut verkauft wurde, zum anderen aber nicht »Ein Sommer in Trouville« hieß, sondern eben »Sommergäste in Trouville«. In Anbetracht des Feuilletonistischen der Epoche im Sinne von Karl Kraus259, hat man bei dieser Neuausgabe des angeführten Taschenbuchs gleich darauf verzichtet, den Urheber des Zitats auf der Rückseite des Einbands zu nennen. Es wird nur darauf verwiesen, in welcher Zeitung es veröffentlicht worden ist. Das heißt nun vollends die literarische, geistige und künstlerische Position Gruenters zu konterkarieren. Etwas polemisch wie ironisch zugleich ließe sich zugleich nachfragen, ob hier Gruenters Skepsis gegenüber jedem Zeitgeist und jedem zu schnellem Konsumieren von Kunst, im Nachhinein bestätigt werden soll. Dessen ungeachtet scheint ihre Lebensgeschichte durchaus Zutaten zu liefern für jenen Stoff aus dem die (Medien-, Roman- oder Erzähl-) Träume sind. Allein die Aufzählung ihrer wichtigsten Lebensstationen machte sie als Erzählstoff absolut »medien- und erzähltauglich«, der sich wie folgt zusammenfassen ließe: Hervorgegangen aus einer Liaison des bekannten Germanisten Rainer Gruenter mit der Schriftstellerin und Gottfried-Benn-Briefpartnerin und Germanistin (Philologin) Astrid Gehlhoff-Claes, verbringt sie die ersten anderthalb Lebensjahre im Waisenhaus, wo sie offensichtlich zunächst »versteckt« werden soll, nimmt später den Namen ihres Vaters an260, wächst anschließend die ersten Jahre bei der Großmutter auf, später nimmt ihre Mutter sie zu sich nach Düsseldorf . Undine Gruenter studiert Jura (in Heidelberg und Bonn 1973–1979), Philosophie 257 Die Genese des Werks wird unter anderem an einigen Stellen in dem Werk »Der Autor als Souffleur« reflektiert, beispielsweise AS, 388: »Inquisitionsfragen: Für wen habe ich Nachtblind geschrieben?« 258 Bertrand Tavernier: Ein Sonntag auf dem Lande. Gedreht 1984 nach dem Roman von Pierre Bost Monsieur »L’admiral va bientôt mourir«. 259 Karl Kraus hätte man als weiteren Kronzeugen einer »antifranzösischen Ästhetik« aufrufen können, wenn er in »Heinrich Heine und die Folgen« schreibt: »Wenn man einem deutschen Autor nachsagt, er müsse bei den Franzosen in die Schule gegangen sein, so ist es erst dann das höchste Lob, wenn es nicht wahr ist. Denn es will besagen: er verdankt der deutschen Sprache, was die französische jedem gibt. Hier ist man noch sprachschöpferisch, wenn man dort schon mit den Kindern spielt, die hereingeschneit kamen, man weiß nicht wie.« In: https://gutenberg.spiegel.de/buch/essays-9818/15 (zuletzt abgerufen 17. 09. 2019) 260 In diesem Sinne ist Gruenter in der Tat ein Künstlername, zuvor hieß sie Gehlhoff, wie auch einige Briefe an sie nach Heidelberg belegen: »An das liebe Fräulein Gehlhoff«.

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und Literaturwissenschaft (1980–1986 in Wuppertal), lernt den Essayisten und Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer kennen, mit dem sie ab 1987 mit kleinen Unterbrechungen in Paris lebt, erkrankt die letzten Jahre ihres Lebens an amyotropher Lateralsklerose (ALS) und bleibt deshalb bis zu ihrem Tod im Jahre 2002 an den Rollstuhl gefesselt. So liest sich in aller Kürze die Beschreibung ihres Lebens. Bohrer beschreibt im Interview in der SZ die genaueren Umstände ihrer Herkunft, wohingegen von Gruenter dazu nur wenig Aussagen überliefert sind: »Gottfried Benn unterhielt mit Undine Gruenters Mutter eine erotisch eingefärbte Brieffreundschaft. Mit 68 Jahren schrieb er ihr: ›Zu Ihrem neulich gesandten Bild: mich stört der Säugling auf Ihrem Arm, sieht so blöd aus.‹ ›Frage: Der Säugling war Ihre Frau, die in einem Waisenhaus landete?‹ Bitte vermerken Sie mein Zögern, Ihnen über diese traumatischen Familienverhältnisse Auskunft zu geben. Als Undine geboren wurde, war ihr Vater, der Germanist Rainer Gruenter, Habilitand, die Mutter, Astrid Gehlhoff, schrieb an ihrer Promotion über Gottfried Benn und wollte Schriftstellerin werden – was ihr dann ja auch gelungen ist. Zu den Geldnöten der beiden kam die Schande der unehelichen Geburt, wie das damals hieß. Der Vater konnte seine Tochter nicht annehmen, da er noch mit einer anderen Frau verheiratet war. Das hätte seine Professorenkarriere gefährdet. So ist der Skandalfall zu erklären, dass Undine für eineinhalb Jahre in ein Heim kam. Anschließend lebte sie fünf Jahre bei ihren Großeltern.«261

Gruenter suchte später oft die Flucht in die andere Kultur bzw. Literatur. So kam es, dass sie früh eine starke Affinität zur französischen Kultur entwickelte, wenngleich sie bis zu ihrem Tod nur auf Deutsch schrieb und das von ihr gesuchte und beschriebene Paris zugleich das Paris jener besonderen Moderne ist, das sie poetisch für sich wieder zu gewinnen versuchte durch jenen von Köhler beschriebenen Moment, »in dem das Vergangene im Gegenwärtigen aufscheint.« »Der magische Moment, in dem das Vergangene im Gegenwärtigen aufscheint, war das zentrale Motiv dieser Autorin, die die poetische Wiedergewinnung von brachliegenden Zeiträumen als Einspruch ›gegen die Geschäftigkeit des mit der Zeit rechnenden Alltags‹ verstand. Das hingerissene und zugleich melancholische Sehen hat Undine Gruenter den Großstadtflaneuren des 19. Jahrhunderts abgeschaut. Die Klangfarbe und Leichtigkeit der Sätze aber verdankt sich nicht nur den im Labyrinth herumgeisternden Vorbildern von Baudelaire bis Bataille, sondern auch den Inversionen eines Stils, der deutlich an der Melodie der französischen Sprache orientiert ist.« (Köhler 1993)

Dies hat sie allerdings nicht davon abgehalten, selbst während ihrer Pariser Jahre zu versuchen, in ihre frühere Heimat, nach Köln und das Rheinland, zurück zu kehren, obwohl sie nach eigenen Angaben schon früh nicht mehr in der Lage war, dort zu leben. So thematisiert sie dies bereits in ihrem ersten Roman »Ein Bild der Unruhe« (von 1986), wo ihr Protagonist in einer amorphen Stadt Nordrhein-

261 Vgl. Anmerk. 290.

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Westfalens (voraussichtlich Wuppertal262 oder einer Kombination verschiedener Städte des Ruhrgebiets oder vom Rand des Ruhrgebiets) lebt, wobei nicht weiter expliziert wird, um welche Stadt es sich dabei handelt, und am Ende in Paris landet. Bereits in diesem Werk macht sie zudem keinerlei »didaktische Kompromisse« gegenüber dem (insbesondere deutschsprachigen) Leser (Wolting 2006, 273), der mit der französischen Kultur vielleicht nicht so vertraut wie sie ist, weshalb unter anderem ihr Werk als »Französisches Universum« bezeichnet wurde, wie Ina Hartwig in einem Nachruf schreibt: »Undine Gruenters Universum ist so französisch, dass man sich unweigerlich fragt, wieso sie überhaupt an der deutschen Sprache festgehalten hat in all den Jahren, die die 1952 geborene Rheinländerin in Paris lebte. Dies aber tat sie mit größtem Eifer; ihr gefeiltes Deutsch zu lesen, ist eine Wonne. Sie muss in einer eigenwilligen, disziplinierten Doppelwelt existiert haben. Und insofern das Deutsche sich hier mit einem französischen Geist verbindet, vermag auch die moralistische Sicht mit der surrealistischen eine Liaison einzugehen, gegen alle Wahrscheinlichkeit.« (Hartwig, FR, 19.03. 2003)263

Sie nimmt in ihren Werken beinahe durchgängig französische Motive auf. Fünfzehn Jahre ihres Lebens verbringt Undine Gruenter in Paris, wenn man so will in der geographischen wie kulturellen Fremde. Überhaupt schreibt sie die meisten ihrer Werke aus der Erfahrung jener Fremde heraus.264 Deshalb wäre methodisch sich diesem Werk und ihrem Leben genauso mit der Kategorie der Fremde und mit einer Begrifflichkeit von Exil etc. nähern.265 Es scheint unzweifelhaft, dass ihr Blick »aus der Fremde« den Blick für das Eigene schärft, wobei in den späteren Jahren beides oszilliert und dann nicht mehr exakt differenziert wird zwischen dem Fremden und dem Eigenen.266 Jedes Mal, wenn sie fortan 262 Es gibt einen weiteren unveröffentlichten Text von ihr mit dem Titel »Frühstück im Zoo«, der sich um Wuppertal, die Berufung ihres Vaters als Rektor der Universität und seine damaligen Schwierigkeiten wegen eines unehelichen Kindes mit Gertrud Höhler dreht. Darin wird Wuppertal als die »Stadt der Tuche und Farben«, als ein »kleines Manchester« bezeichnet, das seine beste Zeit allerdings lange hinter sich habe: »[…] alte Fabriken und Schlote aus rotem Backstein, selbst das Gefängnis in Barmen sieht aus wie aus einem Roman von Dickens, rußgeschwärzt, finstere Architektur aus der Blüte des industriellen Zeitalters.« (unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Kleine Prosa) 263 Hier wäre der Kritikerin entgegen zu halten, dass Undine Gruenter des Französischen nicht mächtig genug war, um selbst in dieser Sprache zu schreiben. 264 Etwa die Aufzeichnungen in dem posthum erschienenen »Pariser Libertinagen«: Vgl. die Rezension in DIE ZEIT vom 13. 10. 2005 von Gisela von Wysocki, die meint, der Leser müsse »frankophil und belesen« sein, um Undine Gruenter auf diesen Wegen durch Paris folgen zu können. Joachim Otte hatte in einer Rezension zum »Labyrinth des Minotaurus« dieses Werk als »nicht lesbar« bezeichnet, weil es sich in dem Labyrinth der eigenen Lektüren selbst verfange. 265 Hauptsächlich deshalb, weil Gruenter den Begriff häufig nennt. 266 Hierzu liegt das Modell der Akkulturationsstrategien des kanadischen Migrationsforschers Berry vor, der in diesem Zusammenhang die Begriffe »Integration«, »Assimilation«, »Se-

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nach Deutschland kommt, hat sie »die französische Brille« auf, die den Blick für Phänomene schärft, die sie der deutschen267 oder der regionalen Kultur zuschreibt, wo sie anlässlich eines Besuchs bei Bohrer in Bielefeld schreibt: »Ging heute durch die Bielefelder Fußgängerzone in der Innenstadt, und das erste Wort, das ich hörte, war dieses (sehr deutsche): »Gemeinschaft«. Im Bus klebte ein Schild: Liebt die Wahrheit und den Frieden – der Bus als Wanderprediger.« (AS, 390) Gruenter hat unter der Verunmöglichung der Rückkehr nach Deutschland aber auch gelitten. Sie hat dabei von ihrem »Pariser Exil« gesprochen. (AS, 115f.) Begraben liegt sie in Paris auf dem Friedhof Montmartre, »in unmittelbarer Nähe zu Heine und den Brüdern Goncourt«. (vgl. Gees 2006, 106)

4.2. Die Eltern – das ungewollte Kind Autobiographische Notiz: mein ganzes Leben habe ich mich durch Verbote, Unterdrückung, Einschränkung und Auslöschung meiner Subjektivität von außen bedroht gefühlt. Undine Gruenter (AS, 89)

Die Autorin hat sich besonders im Werk »Der Autor als Souffleur« über die Beziehung zu ihrer Familie geäußert. Dabei fällt auf, dass es sich – etwa was ihre Mutter betrifft – um fast durchweg kritische oder negative Bemerkungen handelt, wie das folgende Zitat ausweist, wo sie sogar vom »schleichenden Mord an ihrem Wesen« (ebd.) spricht: »Ich habe einen Schleier im Gehirn und einen Abstumpfungsschild auf der Seele, als ob man mich langsam zu Tode betäube und ruhig stellte – wie der glatte Mord, der schleichende Mord an meinem Wesen. Zugleich habe ich immer das Gefühl, in einer Prüfung zu sein – da hält mir Ul. einen Montblanc-Füller hin mit umgekehrter Feder, so wie ich früher geschrieben habe. Lauter Erinnerungszeichen – als übten im Nachhinein die Eltern noch einmal den Mord an mir, indem sie mir ihre Realität (denn woher sonst kämen die Informationen über diese Lebensdetails) meine eigene erlebte zum Schweigen bringen.« (AS, 327) gregation« und »Marginalisierung« geprägt hat. Vgl.: John W. Berry: Marginality, Stress and Ethnic Identification in an acculturated Aboriginal community. In: Journal of Cross-Cultural-Psychology. Nr. 1, 1970, 239–252. Aber auch Autorinnen und Autoren haben sich damit beschäftigt, wenn wir an Peter Handke und sein berühmtes Interview »Der Alltag ist schändlich leblos« in DER SPIEGEL 16/1990 vom 16. 04. 1990) denken. Vgl. dazu den Film von Corinna Belt: Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte. Biografie 2016. 267 Es sei nach den Studien von Hansen zu »Kultur – Kollektiv – Nation« darauf verwiesen, dass sich im Sinne der »Kollektivtheorie« nicht mehr so einfach vom »Deutschen« etc. reden lässt. Vgl. Hansen (2009).

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Selbst wenn diese problematische und »neurotische« Familienstruktur ihr einen Impuls für ihr Schreiben gab, so hat sie gleichfalls darauf hingewiesen, dass sie weder über den Vater noch die Mutter schreiben könne.268 In diesem Kontext hat sie sich verschiedentlich über die negativen Folgen der Institution Familie für das gesamte spätere Leben geäußert, wo sie schreibt, dass »uns die Familie wie eine Kugel im Kopf sitzt«: »Doch sind es weniger die katastrophalen Brüche, mit denen wir auseinandergehen, die uns zusetzen, als das erbärmliche Gespinst von Intrigen, das uns tagtäglich einfängt, und die unendliche Anstrengung der Feinfühlungsstrategien, weswegen wir uns gelähmt, versklavt, unter dem Bann eines Fluchs finden. Stärkstes Druckmittel gegen den, der ausschert: die Moral wird ins Spiel gebracht gegen die Freiheit. […] Die wenigsten schaffen es, mit dem Gefühl, ein Schuft zu sein, zu leben, das verhindert die von Kindheit infiltrierte Anfälligkeit für Sentimentalität und seelische Erpreßbarkeit. Familie zeichnet sich durch die Unfähigkeit zur Reflexion und Analyse ihrer eigenen Motivation aus – alles verstrickt in einem Gewirr von Meinungen, Vorwürfen, Ritualen, Verbrämungen, ständigem Rechtfertigungstrieb – ständiger Fluß von Mundbewegungen (Geschwätz).« (AS, 9)

Beide Elternteile, die diese negative Haltung der Familie gegenüber in ihr verankerten, hatten große berufliche Ambitionen, er wissenschaftliche, sie literarisch-künstlerische (später auch soziale bzw. politische). Sucht man Äußerungen von Gruenter zu diesem Thema, so finden sich diese wiederum hauptsächlich im Werk »Der Autor als Souffleur«. Wenn hier im Sinne der Autorin auf keinen Fall einem »Biographismus« das Wort geredet werden soll, so fällt doch an nicht wenigen Stellen auf, wie schonungslos und offen sie das Verhältnis zum Vater schildert. Wenngleich man nicht von einer wirklichen »Abrechnung« sprechen mag – da bleibt sich Gruenter in ihrer »literarisch-künstlerischen Darstellung« treu –, so findet sich kaum eine Stelle, außer im Verhältnis zur Großmutter, in der die Situation der Familie als positiv bewertet wird oder was die Rolle der Mutter wie die künstlerische Qualität ihres Werks betrifft. Tochter und Vater sind sich in der Einschätzung der Literatur der Mutter und deren mangelnder literarische Qualität sowie in der Auffassung einig, dass diese, um dies zu kompensieren, ins »Gefängnis« ginge, wo sie Gefängnisinsassen ihre Texte vorliest. Insgesamt kommen aber sowohl die Mutter als auch der Vater schlecht in der Beschreibung ihrer Lebensentwürfen weg: So betont Gruenter, dass sie bis ins Erwachsenenalter gezwungen war, eine »Scheinexistenz« zu führen. Zum einen Teil wird über beide oder die ganze Familie zusammen gesprochen (oder über die Großmutter, bei der sie wie herausgehoben nach dem Waisenhaus einige Zeit aufwächst, AS, 20f.), zum anderen Teil nur über den Vater oder die Mutter. 268 Vgl. hierzu: AS, 451: »Erfindung/Findung. […]«

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»In Gegenwart meiner Mutter, meines Vaters, bin ich gezwungen, eine Scheinexistenz zu führen. Es […] liegt an einer zunehmend sich verschärfenden Differenz der Mentalität (geistig, seelisch, moralisch, sozial). Wir lesen völlig verschiedene Bücher, denken völlig verschieden – und ich kann mich dem Gutsheitssyndrom, als alle anderen Bereiche mit einer idealistisch-verlogenen Zuckersicht beeinträchtigt, nicht anschließen. Keine Schärfe im Denken, keine Genauigkeit im Fühlen, zu beidem gehört eine gewisse Strenge und Unerbittlichkeit, vor allem in der Selbstanalyse. Haupteinwand: mehr noch als bei meiner Mutter habe ich bei meinem Vater bemerkt, daß er sich niemals in Frage stellt. Keine Krisen, keine Zweifel, keine Selbstanklagen – nur Selbstgerechtigkeit – (Selbststilisierung des Vaters; der Prophet gilt nichts im eigenen Lande; Selbststilisierung der Mutter: die große barmherzige Samariterin der Bedürftigen – erstickt jedes Ausleben der eigenen Subjektivität oder ist ihr zumindest nur so weit gestattet, daß sie der aufgebauten Übergröße der Selbststilisierten nicht in die Quere kommt. Die mir zugeschriebene Rolle, bei allem konventionell zur Schau getragenen Interesse an meiner Person, die des Statisten, des Zuhörers, der Kulisse – des Publikums.« (AS, 75)269

Aber insgesamt wird die Familie über den Vater und die Mutter hinaus als äußerst problematisch angesehen und negativ dargestellt, etwa wo es um Erbstreitigkeiten sowie die materielle und finanzielle Gier innerhalb der Familie geht, selbst wenn Familienmitglieder nicht explizit genannt werden. (AS, 20f.) Gruenter gewährt ihrer Familie in »Der Autor als Souffleur« im wahrsten Sinne des Wortes »viel Raum« und spricht in diesem Zusammenhang von ihrem »Doppelleben« (AS, 283), das sie zu führen gezwungen war und das sie auf ihr Versteckspiel innerhalb der Familie zurückführt, das sie aber später als Schriftstellerin im Sinne jenes Maskenspiels270 und der literarischen »Verdoppelung« (AS, 290) nutzt und die »Reiseroute eines inneren Doppellebens weiter verfolgen« (AS, 419) will. Sie war gezwungen, sich innerhalb der Familie zu verstellen, es gab da keinen Ort, an dem sie authentisch sein konnte: »Ich beobachte mich bei meinem Doppelleben wie einen Fremden, dessen verbogenem Geheimnis [Hervorhebung SW] ich auf die Spur kommen möchte. Der Widerspruch von Intimität und höchster Autonomie, unablässigem inneren Drama meines leidenschaftlichen Widerlebens. […]. Es ist keineswegs nur Verstellung – beide Leben, das äußere und das innere sind ganz wirklich. Es ist eine differenziertest ausgebildete Fähigkeit, auf verschiedenen Gleisen zugleich ganz zu leben. Ich habe diese Fähigkeit seit meinem fünften Jahr entwickeln müssen. In der engsten Familiengesellschaft meine wahren Gedanken und Leidenschaften verbergen (müssen), weil sie nicht erwünscht, weil sie verfolgt und unterdrückt wurden. Weil Freiheit verboten war. Auf der zweiten 269 An dieser Stelle wird die Mutter sogar explizit positiv beurteilt. 270 Köhler (1995) schreibt zur Haltung Gruenters: »[…] sie pflegt, mehr noch, einen erklärten Widerwillen gegen das Ich-Sagen. In ihren Büchern dominiert die dritte Person Einzahl: der Mann, die Frau, die Liebe. Es bleibt, trotz dieser Konstellation, meist beim Singular – was Mann und Frau einzig verbindet, ist die Unmöglichkeit, zueinander zu finden. Die Liebe ist nichts als ein einsames »Delirium der Phantasie.«

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Stufe: wieder Ausbildung zur Lüge. Im Herzen der Familie das Leben der höheren Töchter führen und zugleich die verbotenste Beziehung, im Angesicht der Öffentlichkeit, verborgen, zu führen.« (AS, 70f.)

Letztendlich führt sie ihre »unglücklichen Ketten von Lebensverweigerungen« auf Umstände zurück, die in ihrer Kindheit liegen oder mit ihrer Familie zusammen hängen: […] das erste Gefängnis Kindheit und Jugend, die Isolation, das bereits angedeutete »Eingesperrtsein in einer hoch-neurotischen, post-faschistoiden Familie«, das zweite Gefängnis: der Inzest, und die Unfähigkeit, mich da rauszuwinden, weil schon eingetreten war, was die Folge des ersten Gefängnisses war.« (AS, 169) Sie spricht an gleicher Stelle von ihrer »Isolation« die ihr »zur Natur« geworden war, in dieser »inzestuös, familiären Enklave«, davon, wie sie sich »selbst entfremdet« war, und dass dies alle ihre späteren Begegnungen, den Kontakt mit Gleichaltrigen in der Schule oder später in der Universität (ebd.), entscheidend negativ beeinflusst habe. Es kann hier nicht der Ort sein, diese Äußerungen Gruenters zu kommentieren oder bewerten, vielleicht sei nur der Hinweis auf den Satz von William I. Thomas erlaubt, wo er sinngemäß übersetzt sagt, dass »wenn Menschen eine Situation als wirklich wahrnehmen, dann ist diese in ihren Folgen wirklich.«271 In diesem Sinne sind Gruenters Äußerungen zu ihrer Familie zu verstehen: Sie hat es so empfunden, dann ist es für sie so gewesen und es klingt äußerst plausibel, dass diese Erfahrungen ihre ganzen späteren Begegnungen entscheidend mitgeprägt haben.

4.2.1. Der Vater: Der Literaturwissenschaftler Rainer Gruenter Der Vater Undines war der in Fachkreisen bekannte (Alt-) Germanist und Historiker Rainer Gruenter (1919–1993), der 1972 vom damaligen Wissenschaftsminister und späteren Bundespräsidenten Johannes Rau zum Rektor der damaligen Gesamthochschule Wuppertal und späteren Bergischen Universität Wuppertal (bis 1983) berufen wurde.272 Rainer Gruenter gab unter anderem ei271 Das bekannte, sogenannte Thomas-Theorem: »If men define situations as real, they are real in their consequences«. Vgl. William I. Thomas zusammen mit Dorothy Swaine Thomas: The child in America: Behavior problems and programs. New York: Knopf 1928, 572. 272 Der spätere Bundespräsident Johannes Rau entwickelte den Ehrgeiz für das aus 18 aktiven evangelischen Gemeinden und Freikirchen bestehende Wuppertal eine Universität zu gründen. Wuppertal gilt als Stadt der größten verschiedenen christlichen Religionsgemeinschaften in Deutschland und als einer der ältesten Textilindustriestandorte in Europa. Nicht zufällig entstammte Friedrich Engels einer Wuppertaler Industriellenfamilie. Rau wandte sich mit seinem Anliegen und der Bitte um Gründung einer Universität u. a. an Rainer Gruenter, der wiederum die Bewerbung Bazon Brocks an dem Lehrstuhl für Ästhetik und Kulturvermittlung förderte und später in der Berufungskommission für Bohrer an der Universität Bielefeld saß und dessen Bewerbung unterstützte. Durch Rainer Gruenter kamen

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nige Jahre lang die Fachzeitschrift »Euphorion« mit heraus.273 Auf dem Campus der Universität ist eine Straße nach seinem Namen benannt. Rainer Gruenter erhielt zahlreiche Ehrungen, darunter den Ehrenring der Stadt Wuppertal (1983), 1986 den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen und 1993 den Titel des Ehrensenators der Universität, der ihm kurz vor seinem Tod verliehen wurde. Gruenter war zweimal verheiratet, zunächst mit Babette Gruenter und später dann eben mit Caroline Gräfin Finck von Finckenstein, und hatte drei Kinder: Abel, der aus einer Mesalliance mit der bekannten Germanistin und späteren Unternehmensberaterin Getrud Höhler hervorging274, Undine und Pucku, aus der Ehe mit der Gräfin Finck von Finckenstein. Wer der Vater von Abel war, kam offiziell erst 2015 heraus (intern war es wohl schon lange bekannt), als Michael Rutschky275 schreibt: »Der Vater des Kindes von Gertrud Höhler ist Rainer Gruenter. Die Mutter von Undine Gruenter – […] – ist inzwischen mit Peter Wapnewski verheiratet. Heute kam ein Brief von ihr an Bohrer, schwarzes Papier, silberne Schrift. Ironische Anmerkungen zu seinem ersten Merkur-Heft. Bei solchen Geschichten sagt Scheel (damals erst seit kurzem dort Redakteur) erwacht immer der Jakobiner in mir. Das ganze Pack muss unter die Guillotine. Nicht erschießen, köpfen. Gruenter, Wapnewski, sagt Kathrin [die früh verstorbene Frau des Autors, Ergänzung SW], hätten bei der Altgermanistik bleiben sollen. Da waren sie gut. Aber sie wollten doch auch noch Schriftsteller werden.« (Rutschky 2015, 41)

dann sowohl Bohrer als auch Brock mit Undine Gruenter in Kontakt. Undine Gruenter beschreibt diese Atmosphäre in dem bereits angeführten Text »Frühstück am Zoo« (vgl. Anmerk. 262) wie folgt: »Ein Sonntag, Anfang der 70er Jahre, die Stadt lag in einer neuen Epoche geistiger Veränderung, Nicht nur, daß Pina Bauschs Tanztheater langsam an Ruhm gewann, die pietistischen Zirkel sollten bald aufgehoben werden durch eine neue Gründung (die Gründerzeit lag 100 Jahre zurück), von linker Regierung war eine neue Hochschule geplant.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Kleine Prosa) 273 »Euphorion« ist eine »Zeitschrift für Literaturgeschichte« und wurde bereits 1894 von Ulrich Sauer, einem österreichischen Literaturhistoriker, gegründet. Rainer Gruenter wurde in Düsseldorf geboren, promovierte in Köln, war Lektor am King’s College in London, Mitglied des International Seminar in Harvard (von Henry Kissinger gegründet), habilitierte sich an der FU Berlin und hatte vor seiner Wuppertaler Zeit Professuren in Heidelberg, Köln und an der Wirtschaftshochschule Mannheim, heutigen Universität Mannheim, inne. 274 Vgl. Anmerk. 276, wo sie als »Tochter des Wuppertaler Superintendenten der Evangelischen Kirche« charakterisiert wird, die sich, »von Verehrern umlagert, Klavier spielend, bepreiste Gedichte verfassend, in ihren Professor verliebt« hatte. (unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Kleine Prosa) 275 Der Schriftsteller und Essayist Michael Rutschky (Jahrgang 1943), der zuvor mit für den Merkur schrieb, gab von 1985–1997 die Zeitschrift »Der Alltag. Sensationen des Gewöhnlichen« heraus. Er erlag am 17. März 2018 in Berlin-Kreuzberg einem Krebsleiden. Wie der Verfasser von Freunden erfuhr, war innerhalb der Familie und bei einigen Freunden, durchaus bekannt, dass Rainer Gruenter der Vater von Abel Höhler war, was Undine Gruenter wusste, wie sie bekannte.

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Gruenter wohnte viele Jahre mit seiner Mutter in der Neubrücker Mühle am Niederrhein (später mit seiner zweiten Frau), von Undine Gruenter manchmal kurzerhand »Mühle« genannt. Ähnlich wie seine Tochter Undine liebte er die Gegend des linken Niederrheins, vor allem hatte er ein Faible für die Gärten, die Parks, die Schlösser und die Gutshäuser. Was Undine Gruenter mit ihrem Vater besonders verband, war der Aufenthalt in der Neubrücker Mühle an der Erft, eine der typischen Wassermühle des Niederrheins, einer Mehl- und Sägemühle aus dem 17. Jahrhundert, die 1956 umgebaut wurde, seit 1960 wieder bewohnt ist und die seit 1962 u. a. von der Gruenter– »Sippe« bewohnt wurde. In dieser Atmosphäre beschreibt Undine einen der wenigen unbeschwerten Tage ihrer Kindheit: »[…] beim Anblick der leuchtenden Bahnhofsfenster der ganze Sommer 1973 im Gedächtnis. Dieser warme erste und so melancholische Freiheitssommer, Mo. im Garten, malend. Sein weißes, weites Hemd. Großmutter, weißköpfig im Hintergrund. Immer adrett, mit Schleifchen, Spitzenbluse, Silberkrücke. Pu. Spielend, halbnackt. Mager. Gummitwist auf den Wegen. Ein heißer Sommer. Ca. und Hei. beim Endschoten von Erbsen. Man ißt, rund um den Mühlstein, Pfirsiche. Die Finger kleben. Triefen. Mo. malt allen ein Bild. Hei. ein Stilleben, Ca. ein Mühlenbild, mir den last train. Während er malt, während Ca. und Hei Gemüse putzen, Großmutter zuhört, Pu. spielt – alles in hochgewachsenem Gras – lese ich vor: aus den Wahlverwandtschaften. Am Abend, am Mittag gibt es unterm Holunder, unterm Nußbaum, eiskalten Sekt (die Rekonstruktion der perfekten Idylle).« (AS, 119)

Die Mühle befindet sich seit vielen Jahrzehnten in Besitz der ehemaligen Müllerfamilie Görgens. Heute wird die Mühle von vier Parteien bewohnt. Zur Zeit Gruenters war sie oft Lokalität von Festen und Feiern, bei denen oft Adlige sowie Großindustrielle (vorzugsweise aus der Gegend um Wuppertal) zu Gast waren: unter anderen Graf von Lambsdorf, die Gräfin Fugger, der inzwischen verstorbene Germanist Jürgen Carl Jacobs (1936–2011), der Bibliothekar, Germanist und »Retter« und Direktor der Frankeschen Stiftungen in Halle Paul Raabe (1927–2013) oder die jüngst verstorbene Gabriele Henkel (1931–2017), die alle zur Beerdigung Rainer Gruenters kamen.276 Rainer Gruenter starb kurz vor seinem 75-jährigen Geburtstag277, der von seiner Frau dennoch in einem Festzelt gefeiert wurde, wo seine Hinterlassenschaften wie die Hüte oder Fliegen, die er besonders gern trug, verteilt wurden. Gruenter wurde auf dem Klosterfriedhof des Nikolausklosters, ein Kloster der 276 Diese Gesellschaft wird von Gruenter in dem oben genannten, unveröffentlichten Text »Frühstück am Zoo« wie folgt beschrieben. »Reste einer (protestantischen) High Society im Tal, Golf spielend, Feste feiernd, Musik liebend, mit Wohnungen an der Cȏte d Àzur und in der Schweiz und mit Bildern der Klassischen Moderne an den Wänden, Franz Marc und Schmitt-Rottluff. Protestantische High-Society […].« 277 Seine letzten Worte beim Heraustragen aus der Mühle sollen gewesen sein: »Der Wein ist nicht nur ein Freund des Menschen.«

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Oblaten-Mönche, in der Nähe von Schloss Dyck am Niederrhein (wo zu Gruenters 90. Geburtstag ein wissenschaftliches Symposion veranstaltet wurde) begraben, hinter den Mauern eines jener Klöster, die er so geliebt und wohin er oft von ihm selbst geführte Ausflüge für Freunde von auswärts veranstaltet hatte. Er konnte dort nur begraben werden, weil Caroline vorher zum Katholizismus konvertiert war. Caroline zog ein Jahr nach seinem Tod nach Berlin, in die Pücklerstraße 4a, später in ein Altenheim nach Biberach und dann in der gleichen Gegend in ein Hospiz, wo sie verstarb. Es finden sich kaum Äußerungen seinerseits über die Tochter, umgekehrt dagegen durchaus auf Seiten Undines einiges über ihren Vater. Mag es als eine zu kritische oder zu »moralische« Bemerkung wahrgenommen werden, so scheint es doch, dass es bei ihm wie bei so vielen Karrieristen war, dass ihn hauptsächlich das eigene berufliche Weiterkommen und die gesellschaftliche Stellung interessierten und er am Leben seiner Tochter zunächst keinerlei Anteil nahm, so dass Undine Gruenter die ersten Jahre ihres Lebens in einem Kinderheim (AS, 184) verbringen musste278. Ein Kind passte einfach nicht in das Lebenskonzept dieser beiden Menschen, denen offensichtlich primär das eigene Wohl und der eigene berufliche Werdegang am Herzen lagen. Undine hat das wie folgt beschrieben: »Ich denke an meinen Vater, der eine ungebrochene Lebensbejahung aus der Tatsache zieht, daß er mit Genuß nach wie vor auf der Bühne vor/mit anderen agiert. Eine scheinbar nie nachlassende Spannung aus dem Genuß der Selbstdarstellung. Bei B. und mir das Gegenteil. Vielleicht ist dies sogar der Punkt, an dem wir uns am meisten treffen. Der übermächtige Hang zum Alleinsein.« (AS, 194)

Sie erzählt dies dabei so selbstverständlich, dass es beinahe irritierend wirkt. Die längste Passage eines Fragments im Journal »Der Autor als Souffleur« betrifft die Beziehung zu ihrem Vater, die sie auf mehr als fünf Seiten expliziert (AS, 279– 284) und die sich wie eine Kriminalgeschichte liest; die Mutter taucht insgesamt sehr viel weniger auf. Lakonisch und auf schockierende Weise nüchtern beschreibt sie den Anfang der sexuellen Beziehung zu ihrem Vater »an einem Samstag, dem 19. März 1972« (AS, 279, 1. Februar 1989), der zu dieser Zeit das Haus neben der Großmutter gemietet hatte. Sie verständigen sich unter Alkoholeinfluss über die Einschätzung der Beziehung der beiden zur Mutter Undines und ihrer beider gemeinsamen Haltung zu deren Erziehungsversuchen. Undine beschreibt den »psychischen Terror der Mutter« und den »physischen des (Stief-) Vaters« beinahe »hyperrealistisch« aus der Perspektive des Vaters. Anknüpfend 278 Vgl. AS, 184f.: »Gestern Abend erklärte ich Si. und B. beim Spargelessen, daß der Grundstein für meine Einsamkeitsthematik und meine eigene (aber nicht nur negativ besetzte) Verankerung in der Einsamkeit sicher in den ersten 1 ½ Jahren im Kinderheim gelegt worden ist. Ich war ein zurückgebliebenes, nicht sprechendes, ein Bein nachschleifendes Kind. Sie fanden, das träfe wahrscheinlich genau zu.«

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an das zuvor Ausgeführte ließe sich bezogen auf die »literarische Autorenmaske« allerdings genauso behaupten, dass es sich um »literarische Fiktionen« im Sinne von Kafkas Text »Von den Gleichnissen«279 halten könnte. Allerdings wirken die Beschreibungen dafür dann doch wieder zu realistisch: »[…] und mein Vater erinnerte mich/sich daran, wie er, ein halbes Jahr zuvor, in die Kaiserstraße zitiert worden war, um einen Brief vorgelesen zu bekommen, der von Harvey, einem Jungen, der in mich verliebt war, an mich geschrieben war, Ich selbst saß dabei und mußte diese öffentliche Lesung eines privaten Briefes mitanhören – das Ganze ging darum, mir den Umgang mit dem Jungen zu verbieten, der sowieso in einer Weise eingeschränkt und kontrolliert war, daß es erstaunlich war, daß der Junge überhaupt noch an mir festhielt. Kurz, mein Vater sagte mir jetzt, innerlich habe er vollkommen auf meiner Seite gestanden – diese »familiäre Gerichtssitzung« sei »die Zerstörung jeglicher individuellen Feigheit gewesen, oder besser: die Demonstration«. (AS, 281)

Die ihr damals insbesondere seitens ihrer Mutter zugefügten seelischen Verletzungen – zumindest hat sie das so empfunden – hat Undine nie ganz verwinden können. Seit dieser Zeit litt sie an dem von ihr fast beiläufig herausgestellten Rechtfertigungszwang (AS, 267) oder »Selbstrechtfertigungstrieb« (AS, 317), den sie anderen insgeheim ebenfalls unterstellte. Das Schlimmste für sie war aber offensichtlich, dass sie sich niemandem anvertrauen konnte und dass sie auf keinerlei Hilfe von außen hoffen konnte, weil ihre Mutter als eine gesellschaftlich integre Frau galt. (AS, 279f.) Undines Art jenes »autobiographischen Schreibens« muss nicht mit der damaligen Realität übereinstimmen oder einem Anspruch auf Wahrheit genügen. Man könnte es ebenfalls als Fiktion, also Literatur lesen, im Sinne der zitierten Autorenmaske. Selbst auf Basis der Gespräche ließ sich der Wahrheitsgehalt nicht abschließend klären. Mit Einschränkung wird hier erneut die Trennung des textexternen Schriftsteller-Künstlers von der sich im Text niederschlagenden Schriftsteller-Persönlichkeit (vgl. 16) virulent. Das einzige, was man vielleicht folgern könnte, wäre, dass alleine der Text schon aufgrund der Länge der Beschreibung eine besondere Bedeutung für Gruenter zu haben schien, in dem

279 In Kafkas bekanntem Text geht es um den Sinn und die Bedeutung von Gleichnissen, dass diese auf die Realität verweise, ohne Realität zu sein und dass man abschließend nicht weiß, ob man sich noch im Gleichnis oder schon in der Realität befindet: Darauf sagte einer: »Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.« Ein anderer sagte: »Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.« Der erste sagte: »Du hast gewonnen.« Der zweite sagte: »Aber leider nur im Gleichnis.« Der erste sagte: »Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren. In: Kafka, Franz (1950ff.): Von den Gleichnissen (Erstveröffentlichung 1921). Erzählungen aus dem Nachlass (1904–1924). In: Franz Kafka: Gesammelte Bände. Bd. 7. Frankfurt/M.: Fischer.

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Sinne eines Zitats von Giordano Bruno: »Se non è vero, e molto ben trovato.« (Wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden).280 Gruenter äußert sich über den Vater in der Liebesbeziehung wie über einen beliebigen Liebhaber, wo sie betont, dass sie nicht »im geringsten in ihn verliebt gewesen sei«, sondern eher froh darüber gewesen sein, »in einem Mischmasch vom Überdrehtheit, Bedrücktheit (»wegen meiner familiären Situation«) und Erleichterung, in meinem Vater einen Verbündeten gefunden zu haben«. Sie spricht in dem Zusammenhang von ihrem »romantischen Liebesideal […]«, dem ihr Vater bzw. die Beziehung zu ihrem Vater aber in keinster Weise entsprach. Sie schränkt insofern ein – und dessen ist sie sich sehr bewusst –, dass es sich um ein sexuelles Problem handeln würde, »weil ich unbewußt das Verhältnis zu meinem Vater als Mißachtung meiner Person (Identität) empfand, weil ich umgekehrt unbewußt dadurch die Sexualität als zentralen Punkt meiner Bedeutung für ihn sah. So vertrackt es klingt: hätte ich mich von ihm geliebt gefühlt, wäre mein Identitätsproblem anders ausgefallen.« (AS, 280) Unter der Voraussetzung, dass die Äußerung für authentisch gehalten werden könnte, so überrascht hier erneut die Abgeklärtheit und Sachlichkeit, mit der sie die Beziehung und die Anziehung beider beschreibt, so als wäre zwischen ihnen kaum etwas geschehen. Zwischen den Zeilen liest man den Vater als eine äußerst unglückliche Figur heraus, der nur der eigenen Bedürfnisbefriedigung lebt, an dem alten Macho-Ideal festhält, der erste sein zu wollen, und doch empfindet Gruenter das Verhalten der Mutter als schlimmer, weil sie versucht, den Schein zu wahren. Fast lakonisch beschreibt sie den Anfang der erotischen Beziehung zum Vater: »Mein Vater legte sich dann zu mir ins Bett, wir verbrachten die Nacht gemeinsam mit dem, was man Petting nennt. Später stellte sich dann heraus, daß er annahm, ich hätte mit dem Jungen geschlafen, der den Brief geschrieben hatte. Er jedenfalls wollte in der Nacht nicht mit mir schlafen, fragte mich aber, ob ich wolle, und ich sagte ja. (Ich glaube, vor allem wollte ich meine dämliche Jungfräulichkeit loswerden, was ja bis jetzt immer durch die Verbote und Einschränkungen zu Hause nicht möglich war.« (AS, 281)

Die Beziehung entwickelt sich dann zu einer fast »normalen Beziehung«: Nur einen Tag nach dem ersten Mal fahren sie mit der Großmutter zu einem Spaziergang und zum Teetrinken zum Schloss Georgshausen. Den Vater mit seinem Faible für Schlösser, Parks und Adel zog es nach wie vor an solche Orte.281

280 Giordano Bruno, Von den heroischen Leidenschaften. Übersetzt und herausgegeben von Christiane Bacmeister. Mit einer Einleitung von Ferdinand Fellmann. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1996, II, 3. 281 Schloss Georgshausen ist ein barockes Wasserschloss im Bergischen Land in der Gemeinde Lindlar. Von dort erhält sie von ihrer Großmutter des Öfteren eine Postkarte (z. B. am 03. 10. 1972) in die Kaiserstraße 35 nach Heidelberg, so dass davon auszugehen ist, dass es ein Lieblingsausflugsort der Familie war. Überhaupt schreibt die »Omi aus der Mühle«, wie sie

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Ziemlich unverständlich erscheint es, dass es hier immer noch am Vater ist, Forderungen zu stellen: »[…] und mein Vater sagte, was geschehen sei, sei geschehen, es käme allein auf die Vertrauensbasis zwischen uns an und eine Art geheimen Paktes.« (AS, 280) Es scheint sich um eines jener bildungsbürgerlichen Häuser der deutschen Nachkriegszeit zu handeln, in denen sich die Männer noch »alles erlauben« konnten. Beim Lesen dieser längeren Passage entwickelt der aufgeklärte Leser bzw. die Leserin von heute schon eine gewisse Wut und Empörung, dass dies möglich war und dass diese Art von Männern von dieser Gesellschaft offensichtlich noch geschützt wurden.282 Gruenter scheint an alledem nichts wirklich Widerwärtiges gefunden zu haben, es sagt aber – wie sie selbst erkennt und sie dahingehend ein Bewusstsein entwickelt – viel über die Voraussetzungen ihrer späteren Beziehungen und der lebenslangen Suche nach Identität aus. Vielleicht ist dieser lakonische Stil, dem sie in ihrem gesamten Werk treu bleibt und der in einzelnen Werken vielfach mit klugen »kalten«, beinahe essayistischen Reflexionen versetzt ist, eine Art Schutzfaktor, die einzige Möglichkeit, über solche Verhältnisse zu sprechen oder zu schreiben, anders als dies z. B. Liane Dirks in ihren beiden »Inzestbüchern« »Die liebe Angst« und »Vier Arten, meinen Vater zu beerdigen« vollzieht.283 Dabei sollte nicht vergessen werden – ohne die Sache an sich damit in irgendeiner Weise moralisch zu rechtfertigen –, dass Gruenter bereits volljährig ist, als sie eine erotische Beziehung zu ihrem Vater aufnimmt – zu jenem Vater, der den Kontakt mit ihr bis dato eher gemieden hat und ihr nach Gruenters eigenen Angaben keine Unterstützung gewährt hat –, was die Angelegenheit moralisch betrachtet aber nicht besser macht. Relativ konventionell schenkt er ihr zu »Weihnachten […] einen blauen dreieckigen Saphir an der goldenen Kette«, den sie »als Talisman« trug. Sie fährt in der Beschreibung dieser Treffen fort: »Diese wenigen Treffen waren, solange sie nicht in der Familie, in der Kaiserstraße oder Mühle stattfanden, von der Thematik unserer Vertrauensbemühung und von der Ausformulierung unserer wechselseitigen Attraktivität erfüllt. Darüber hinaus mein absolutes Versprechen und der Wunsch, ihn vor meiner Mutter zu schützen, die niemals etwas von der besonderen Beziehung erfahren durfte.« (AS, 281) Man mag nur darüber spekulieren, wie die Mutter dann auf das Outen dieser Beziehung in »Der Autor als Souffleur« reagiert haben mag, der Vater lebte bei der Veröffentlichung des Werks bereits nicht mehr. Da diese kurz nach seinem sich selbst manchmal nennt, neben Briefen immer wieder Postkarten an Undine, zum Teil mit dem Vater zusammen an die Stud. Jur. (z. B. 09. 01. 1974). 282 Was wir uns, von heute aus gedacht, immer weniger vorstellen können. Vgl. in diesem Zusammenhang die aktuelle #me too-Debatte. 283 Vgl. Liane Dirks: Vier Arten, meinen Vater zu ermorden. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002 und Liane Dirks: Die liebe Angst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007.

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Tod geschah, erscheint es als wahrscheinlich, dass Undine mit der Veröffentlichung bis nach seinem Tod wartete. Nach einer ersten Eingewöhnungszeit wird die Beziehung enger wie offener zugleich. Er begleitet sie am Anfang zu ihrem Studienort nach Heidelberg. Gruenter schreibt von dem »Drama ihres Studienorts«; dem Verfasser war es nicht möglich, genau zu eruieren, aus welchem Grund sie das betont. Eine Spur vermittelt ein unveröffentlichter Text unter dem Titel »Heidelberger Sommer«, in dem sie ihr erstes Semester und die Ankunft in Heidelberg in der dritten Person (»Sie«) beschreibt. Sie spricht von einem »ereignislosen Sommer«, von Leonard Cohens »Suzanne« als Hit der Saison, von ihrem ersten Semester, von der Vermittlung eines Zimmers in einer alten Heidelberger Villa über Freunde ihres Vaters. Sie erzählt von den Spaziergängen am Neckar, »zu blau, zu romantisch, ein Taugenichts-Blau für ein Erstsemester.«284 In diese idyllische Beschreibung fügt sich dann plötzlich die Beschreibung eines »Stalkers« ein, der ihr auflauert und der sie zu vergewaltigen versucht, dem sie aber entkommen kann. Was fortan bleibt, ist die Angst. Ansonsten gibt sie in der kleinen Erzählung – hier wieder in der dritten Person geschrieben – einiges über ihre erste Heidelberger Zeit und deren Wahrnehmung preis, vom Gundolf-Zitat »Dem deutschen Geist« über den »Pforten der Universität«, über »Wein & Freiheit & akademische Zirkel & rechtsphilosophische Diskussionen über Naturrecht und geltendes Recht« bis hin zu Einkäufen eines »fünfarmigen Kitschleuchters« und einer Bodenvase sowie der Beschreibung ihrer Kleidung (»Schottenrock, Slipper, Wildlederjacke« und »immer das Aktenmäppchen für das Kolleg unter dem Arm«285). Ab und an kommt sie ihr Vater in Heidelberg besuchen. Was Orte betrifft, hegen sie ja gleiche Vorlieben. Er kommt oft mit einer Flasche Champagner vorbei und bezeichnet ihre neuen Freunde, die Vermieter und Mitbewohner, mit denen sie bisweilen zusammen im Garten sitzt, als »Gartenzwerge«, einen über Milton promovierenden Anglisten (das Politische des Ästhetischen), ein Pärchen, er Musiker, sie Lehrerin. Gruenter führt dazu weiter aus: »Am Abend geht’s wieder rauf, und die Gartenfreuden setzen sich fort, sie erzählen sich Anekdoten aus ihrem Leben. Das wird ihr Leben – in Gärten sitzen. Der Wein fließt und die Gespräche. Lektüren und der Alltag – wenn die Pflicht erfüllt sein wird, wenn die Todesstrafe, der Homosexualitätsparagraf endgültig abgeschafft sind und als historisch zu Ende debattiert.«286 In diesen Jahren verbringt Undine viel Zeit mit dem Vater, manchmal in Heidelberg, aber vor allem in den Semesterferien in trauter Zweisamkeit in der 284 Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Kleine Prosa. 285 Ebd. 286 Ebd.

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Mühle oder sie unternehmen ihre von beiden so geliebten Ausflüge an den Niederrhein und an die holländische Grenze im Volvo, mit dem Dienstwagen der Universität und dem Fahrer des Vaters. Lakonisch, kritisch und ohne sich irgendwelchen Illusionen hinzugeben, was ihren Vater betrifft, schreibt sie weiter: »[…] unter dem Vorwand, der Vater müsse sich endlich um die »neue Tochter« kümmern, ihre Zuwendung zeigen, Neues zeigen, erklären etc. Tatsächlich geschlafen haben wir dann am 24. November zusammen, im gelben Zimmer oben, nachmittags. Ca. [Caroline, Ergänzung SW] war in Hamburg (oder mit Pu. an der Nordsee, das habe ich vergessen), und danach ging ich rüber und trank mit Omi Kaffee. Sexuell habe ich nichts davon gehabt, es tat nur weh und mein Vater bekam die Deflation voll mit. Daß ich anfing, Lust zu haben, war erst später, kurz vor Weihnachten in Bonn.« (AS, 281)

Es kann hier nicht darum gehen, diese Textteile aus »Der Autor als Souffleur« zu detailliert zu präsentieren, weil sie biographisch besonders »spektakulär« wären, sondern ganz im Gegenteil, weil die Beschreibung Gruenters so »unspektakulär« daherkommt. Zudem darf nicht vergessen werden, dass sie diesem Verhältnis in »Der Autor als Souffleur« den größten zusammenhängenden Text widmet. Dazu geht der Vater in einer Art Business als usual seinen alltäglichen Verpflichtungen nach, etwa während der Veranstaltungen bei der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) oder beim DAAD (Deutschen Akademischen Austauschdienst) o. ä.: »Die Struktur sah also so aus: einerseits Familienleben, andererseits unsere exklusive Vertrauensbasis und geistiges Gespräch. Drittens, bei Gelegenheit, Sexualität. In der Mühle nur, wenn C. weg war, also sehr selten. In Bonn öfter, er kam zur Rektorenkonferenz oder zum DAAD, nahm sich immer, fast immer, ein Zimmer im Schloßhotel und verbrachte nachmittags oder nachts einige Stunden bei mir. Gekoppelt war das immer mit ausgiebigen Gelagen. Manchmal nachmittags stand F., der Fahrer, im Wagen vor der Tür. Schließlich: auf Reisen zu zweit: etwa nach Tübingen oder Colmar oder an den Bodensee, Reisen, die wir manchmal vor der Familie verschwiegen, manchmal nicht.« (ebd.)

Nach immerhin sieben Jahren bricht Undine 1979 die sexuelle Beziehung ab. Sie spricht in dem Zusammenhang davon, dass nicht das Tabu der Sexualität an sich das Problem gewesen sei, sondern das »Doppelleben« und bekräftigt, dass: »[…] nachdem ich die sexuelle Beziehung 1979 abgebrochen habe wegen meiner Liebe zu B. (nach Marburg), […] mein Vater dann auch die exklusive Freundschaft aufgab, besser, sich weiter nicht für mich interessierte – so daß ich mir am Ende sagen muß, daß die Sexualität mit ihm von mir aus auch eine Schutzsuche und ein Bindungsmittel war.« (AS, 279f.) Beinahe en passant erfährt der Leser, dass ihr Vater irgendwann aufgehört hat, sie finanziell zu unterstützen; zwischen den Zeilen liest man heraus, dass sie dann

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in einer Modeboutique in Heidelberg arbeitete, um sich das Studium zu finanzieren und dass ihr dadurch die Zeit für das Eigentliche wie das Schreiben oder das Studium fehlte: »Mir hat es nichts genützt, als mein Vater mir kein Geld mehr gegeben hat, ich bin unter anderem aus Geldmangel in sein Haus gezogen, habe in blödsinnigen Modeboutiquen rumgestanden, anstatt daß ein vernünftiger Zeit-Geld-Plan entwickelt worden wäre. Das Geldverdienen hat mir die Zeit für entweder Schreiben-Entwickeln oder fürs Seminar-Scheine-Machen genommen.« (AS, 388)

Viel mehr ist über die Vater-Tochter-Beziehung von Undine Gruenters Seite her, zumindest auf ihre Texte bezogen, nicht zu eruieren. Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Vater zumindest in den Schilderungen Gruenters eine ungleich größere, wenngleich zwiespältigere Rolle spielt als die Mutter, zu der sich nur relativ vereinzelt Bemerkungen finden. Es fällt auf, dass die Identität Undines bzw. ihre Identitätskonstruktion sehr mit der des Vaters verbunden zu sein scheint. Das bezieht sich auf ihren Namen und den ihres Vaters, den sie erst später annahm. »1. September 1990. [Jahreszahlergänzung SW] Ich, Undine Gruenter, achtunddreißig Jahre alt. Ich lebe in Paris. Ich schreibe. Der Name gefällt mir nicht. Aber vorläufig habe ich ihn. Undine ist zu theatralisch. Gruenter ist eine Geschichte in drei Geschichten: es ist der Name des Vaters, der nicht Vater sein wollte bei der Geburt, 2. nicht Vater sein wollte später, 3. Liebhaber war.– Die Namen, die ich vorher hatte, gefallen mir auch nicht. Auch aus sogenannten menschlichen Gründen. Ich werde mir selbst einen geben.« (AS, 423)

Es handelt sich um ein äußerst ambivalentes Verhältnis zum Vater, der in einem soziologischen Sinne offensichtlich die »große Welt« suchte, was wiederum der Tochter nicht viel bedeutete. In diesem Zusammenhang war auf die adlige Welt verwiesen worden. Die Tochter durchschaut dabei die Widersprüchlichkeit dieser Vater-Tochter-Beziehung, was, wenn man den Schilderungen Undines über ihrem Vater glauben will, von diesem nicht anzunehmen ist. »Absahnen [Im Original kursiv, Ergänzung SW]. Ein Vater, gewohnt, das zu führen, was man ein großes Haus nennt, läßt enttäuscht über seine Tochter, die, erwachsen geworden, die Segnungen dieses Hauses floh, verlauten: all die Jahre hat sie genommen, was in diesem Haus geboten wurde, hat profitiert von gesellschaftlichem Glanz, von materiellen und geistigen Genüssen, von der Begegnung mit ausgewählten Besuchern. sie hat abgesahnt, was ihr schmeckte […]. Denn in dem indirekten Vorwurf der Undankbarkeit der Tochter gegenüber den vom Vater gebotenen Privilegien steckt ja gerade deren Einschätzung als höchster Wert – und in der sich moralisch gebenden Entrüstung die Empörung über die Anmaßung, mit der wortlosen Flucht diesen Wert für null und nichtig zu erklären.« (AS, 20)

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Die Bekanntschaft zwischen Rainer Gruenter und Karl Heinz Bohrer wird von Bohrer beschrieben. Für ihn gelten beide Männer als Vorlagen für die Figur des Soudains in »Der verschlossene Garten«. Die Entfremdung der beiden Männer hat seiner Meinung nach mit Undines sich entwickelnder, stärker werdenden Beziehung zu ihm zu tun. Zwischen den Zeilen liest man aber heraus, dass es sich dabei eher um geistige oder bewusstseinsartige Unterschiede handelte. Damit ist der Abschied vom und der innere Abstand zum Vater markiert und das Ende der Beziehung endgültig besiegelt. »Am Anfang taten Undine und ich so, als ob unser Zusammensein nichts als ein Experiment wäre. […] Undine, die ich sehr selten bei den abendlichen Einladungen ihres Vaters gesehen hatte, las mehr oder weniger alles, was ich geschrieben hatte. Vor allem mein erstes Buch, Die gefährdete Phantasie, und das letzte Buch über die Plötzlichkeit nahmen sie in Beschlag. Mir war das aufgefallen, als ich, zu Gast bei der Familie, in Undines Arbeitszimmer übernachtet hatte. Beide Bücher standen da nebeneinander, übersät mit Anmerkungen und Ausrufezeichen. Das markierte den Anfang ihrer Entfremdung von ihrem Vater und seiner Distanz mir gegenüber. Nichts war Undines Vater fremder als die Bücher Bretons und Aragons. Er kultivierte Dichter wie Claudel. Darüber habe es, so erzählte Undine, bei den zeremoniell gehaltenen Sonntagsfrühstücken derart heftige Streitgespräche gegeben, dass sie sich für Stunden zurückgezogen habe.« (Bohrer 2017, 265)

Abschließend sei festgehalten, dass die Beziehung zu ihrem Vater für Undine Gruenter in Hinsicht auf spätere, andere Beziehungen eine wichtige wie prägende Rolle spielte. Dabei ist auf die Zwiespältigkeit dieses Verhältnisses verwiesen worden. Diametral anders gestaltete sich die Beziehung zu ihrer Mutter, die von Undines Seite als fast durchweg negativ beschrieben und bewertet wird.

4.2.2. Die Mutter: Die Schriftstellerin Astrid Gehlhoff-Claes287 »Eine Mutter, die es versteht, mich noch mit 35 Jahren in ihre Selbstinszenierungen als Statistin hineinzuziehen. Eine Mutter, mit der ich wieder, immer noch, verkehre, ohne jemals eine Aussprache gehabt zu haben. Aus Ablehnung einer Rache, die mich selbst vergiften würde.« Undine Gruenter (AS, 159) 287 Lothar Schröder betont in einem Nachruf »Trauer um Dichterin Astrid Gehlhoff-Claes« (In: RP-Online, 18. 01. 2012) die besondere Beziehung der Schriftstellerin zu ihrem Hund Noah, einem reinrassigen »Cavalier King Charles«, der sie überallhin begleitete – »zu all ihren Lesungen, auf Reisen, oft nach Rom.« Er bezeichnet Astrid Gehlhoff-Claes als eine »eigensinnige, feinnervige, beeindruckende Erscheinung – in ihrer Dichtung wie in ihrem Leben.« Für ihn ist sie in erster Linie als »Lyrikerin« in Erscheinung getreten. Die Nachricht ihres Todes, 83-jährig in einem Düsseldorfer Pflegeheim, wurde der Öffentlichkeit erst mehr als einen Monat nach ihrem Tod am 1. Dezember übermittelt.

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Im obigen Zitat wird die ungeheuer komplizierte Beziehung zwischen Undine Gruenter und ihrer Mutter angedeutet. Diese lässt sich literarisch von beiden Seiten betrachten, weil ihre Mutter selbst ein biographisches Werk verfasste.288 Die Beziehung zur Mutter, die später den Welt-Korrespondenten Joachim Gehlhoff heiratet und mit ihm eine weitere Tochter Rachel289 hat, neben Pucku Undines weitere Stiefschwester, wird insgesamt als äußerst »problematisch« (mit viel Eifersucht beladen) geschildert und bleibt nicht folgenlos für jede andere Beziehung Undine Gruenters, wie folgende Passage zeigt: »Da haben wir wieder die Seite, für die ich meiner Mutter dankbar bin – die frühe Lektüre von allem. Zugleich fällt mir die Geschichte ein, wie ich, gerade aus Jena zurückgekehrt, aus den Ferien (60/61?), Heimweh im Herzen, in der Küche auf der roten Küchenbank saß. […]. Ich hatte eine – sicherlich scheußliche – Babypuppe mitgebracht, von der Großmutter geschenkt. Meine Mutter machte nun aus Eifersucht – diese Puppe so herunter, wie häßlich sie sei, sie müßte weg aus ihrem Haushalt – und ich weinte nicht mal, weil ich (fast) nie weinte, aber ich hing eben an der Puppe, und die Puppe war Symbol für alles, was mir fehlte, und typisch war, daß meine Mutter die Häßlichkeit der Puppen nicht auf sich nahm und sie mir ließ. Vielleicht ist auch das ein Anteil meiner – falschen? – Beziehung zu B. (abgesehen vom reinen Gernhaben: daß ich die Puppe und die Mutter zugleich bin und niemals jemandem etwas wegnehmen will, was dem anderen Puppe ist, also woran sein Herz hängt.« (AS, 272f.)

Die Mutter Astrid Gehlhoff-Claes, Tochter des ersten Bürgermeisters der Stadt Leverkusen Dr. Heinrich Claes (der von 1930–1933 und von 1945–1946 Bürgermeister war), wuchs bis zur NS-Machtergreifung in Leverkusen auf und machte sich bis zu ihrem Tod als Schriftstellerin, insbesondere als Lyrikerin, aber auch als Übersetzerin englischer und italienischer Literatur ins Deutsche (Wystan Hugh Auden, Daniel Defoe, Charles Dickens, James Joyce, Henry James u. a.) einen Namen. Gegen den starken Widerstand einer seiner vormaligen Geliebten Ursula Ziebarth gab sie unter anderem ihren Briefwechsel mit Gottfried Benn heraus290, 288 Vgl. Gehlhoff-Claes (2002). Hierin ist das Kapitel »Abschied in Paris« (ebd., 67–72) von besonderer Bedeutung. Vgl. die Rezension von Nadine Gottschling: »Schiffbrüchig. Astrid Gehlhoff-Claes erzählt von den »Inseln der Erinnerung«. In: Literaturkritik.de, 06. 06. 2003. 289 Die beim MDR Radio – Kulturradio (ehemals Radio Figaro, u. a.: Das Buch der Woche) arbeitet. Mit Rachel gibt es außerdem in der frühen Zeit, ihrer Jugendzeit einen relativ ausgiebigen Briefwechsel zwischen 1973 und 1979. 290 Vgl. Teil 2, 1; Benn 2002. Wieder steht hier ein anderer Name als Herausgeber. Es scheint wohl ihr Schicksal gewesen zu sein, dass ihr Name immer hinter den von Männern (wie Benn oder später Witte, der dann noch mit dem Verlag per einstweiliger Verfügung die Herausgabe erstritt) zurückstehen musste, obwohl Benn ihre lyrischen Fähigkeiten durchaus anerkannte. Vgl. die Rezension in der FAZ, 27. 04. 2002, Nr. 98, 52. »Von Benn gefördert, begann Astrid Claes Gedichte zu schreiben. Ihr allererstes, »The Raven«, das von den schwarzen Vögeln handelt, die den Schatz im Londoner Tower bewachen, las sie selbst zum Abschluss der Feier und zitierte Benns lobende Worte dazu: »Ich wollte, es wäre von mir«, schrieb er der 25-Jährigen, und im letzten Brief betonte er, das Gedicht »bleibt eine der

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der ihre Lyrik zum Teil sehr gelobt hatte und über den sie im Jahre 1953 bei Richard Alewyn an der Universität zu Köln (wo sie neben der Universität London Germanistik und Geschichte studierte) die erste Dissertation zu Benn, über den »lyrischen Sprachstil Gottfried Benns«291 verfasste und auf diese Weise mit Benn in brieflichen Kontakt trat. Über die Beziehungen der beiden Lyrik schreibenden Frauen gibt sowohl das Werk wie die Rezension in der FAZ vom 27. 04. 2002, Nr. 98 Auskunft: »Die Frauen! Fast zwanzig Jahre nachdem Gottfried Benn dem Freund Oelze seine Vorliebe für Affären mit eher ungebildeten Damen mehr herausposaunte als gestand (Brief vom 29. Juli 1938), verwickelte sich der Dichter in eine Doppelaffäre mit zwei jungen Literatinnen, die den fast siebzigjährigen Dichter häufig in intellektuelle Dispute verwickelten über seine Verse ebenso wie über die eigene Lyrikproduktion. Denn Ursula Ziebarth und Astrid Claes, wiewohl grundverschieden, schrieben beide, Lyrik wie Prosa, und zögerten nicht, den Meister in deutlichen Worten zu kritisieren, wenn es ihnen nötig schien.«292

Am 29. 06. 1954 kommt es zu einem persönlichen Treffen zwischen Benn und Gehlhoff-Claes in Kassel im Parkhotel Hessenland, später noch zu einem Abschiedsessen im Dom-Hotel in Köln, zu dem sie mit ihrem damaligen Verlobten Gehlhoff erscheint, was das Ende der Begegnung mit Benn markiert. Sie arbeitet danach über einige Jahre in einem Kölner Verlag und betätigt sich nebenbei weiter wissenschaftlich: Unter anderen schreibt sie 1957 eine weitere größere Arbeit über Else Lasker-Schüler »Das Gesicht und die Maske«, die von der DFG (Deutschen Forschungsgemeinschaft) gefördert wird und editiert 1959 LaskerSchülers Briefe an Karl Kraus.293 Darüber hinaus engagiert sie sich sozial, gründet 1975 den Verein »Mit Worten unterwegs – Schriftsteller arbeiten mit Inhaftierten«, von nicht wenigen als ihr »Lebenswerk« bezeichnet, was von Undine dagegen als Ersatz für mangelnde Mutterliebe gewertet wird (vgl. AS, 319): wunderbarsten Melodien, die ich je gehört habe.« In: WZ, 06. 01. 2008, Ewa Pfister: »Lyrik: Mit Worten unterwegs. Zum 80. Geburtstag von Astrid Gehlhoff-Claes.« Zu ihrem 80. Geburtstag richteten das Heine-Institut Düsseldorf und das Literaturbüro zu Ehren der Schriftstellerin eine Matinee aus. 291 Es war die erste Dissertation über Gottfried Benn überhaupt. Bemerkenswerterweise wurde die Dissertation erst 50 Jahre nach ihrer Einreichung veröffentlicht. Vgl. Astrid GehlhoffClaes (2003). 292 FAZ, v. 27. 04. 2002, Nr. 98, 52, vgl. dazu: Johannes Saltzwedel: Dichter. Die Frau als Gegenstand. In: DER SPIEGEL 29. 04. 2002, wo auf die seltsamen Umstände der Veröffentlichung hingewiesen wird: »Fünf Jahre später als geplant, bei Nacht und Nebel […] Ursula Ziebarth hatte dem Verlag Klett-Cotta eine einstweilige Verfügung wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte androhen lassen.« Vgl. dazu: »Hernach«. Briefe von Gottfried Benn an Ursula Ziebarth. Nachschriften von Ursula Ziebarth, Kommentar von Jochen Meyer, Göttingen: Wallstein Verlag 2002. 293 Else Lasker-Schüler: Briefe an Karl Kraus. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1959.

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»Viel später wird sie, vielleicht auch in Erinnerung daran, ihr Lebenswerk gründen »Mit Worten unterwegs. Dichter arbeiten mit Inhaftierten« (1975–2000), einem gemeinnützigen Verein von Dichtern, vor Gefangenen lesend, wovon manche sich selber schreibend therapieren, mit denen sie wiederum zusammen mit Dichtern eine Anthologie herausgibt: »Bis die Tür aufbricht« (1986).«294

Außerdem erhält sie einige literarische Preise wie 1964 den Literaturförderpreis der Stadt Köln, 1965 den Förderpreis zum Immermann-Preis der Stadt Düsseldorf, 1986 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 1989 ähnlich wie Rainer Gruenter den Verdienstorden des Landes Nordrhein Westfalen und 1992 ist sie Ehrengast in der Villa Massimo. Auf Einladung Henry Kissingers weilt sie darüber hinaus einige Semester an der Stanford-University. In der Biographie von Gehlhoff-Claes finden sich Hinweise darauf, dass sich, zumindest von ihrer Seite her, das Verhältnis zu ihrer Tochter in späteren Jahren verbessert hatte.295 Sie schlägt in dem Kapitel »Abschied in Paris« einigermaßen versöhnliche Töne an, wenngleich nicht durchgehend einsichtig ist, wie die Erzählperspektive funktioniert und wer eigentlich gemeint ist: Es wird von »Ich«, zwei verschiedenen »Sies«, der Undine, von einem »Er« und von einem »Du« gesprochen: Die Erzählerin bringt der Tochter offenbar ein paar »alte Kinderschuhe« beim »Wiedersehen in Paris« mit, die sie ihr aber dann doch nicht übergibt, weil der Schmerz offenbar zu groß ist, der Schmerz über das Versäumte296: »Früher. Auf dem Platz mit dem Grünen Wallace-Brunnen und den Tauben, den Tauben, hatte ihr ihre Tochter von diesem Früher erzählt: wenn sie doch nur früher in diese Stadt gekommen wäre. Viel früher. Jetzt, während sie ihre Schuhe aus dem Schrank nahm, sie zusammenlegte und in den Koffer schob, dachte sie über dieses »wenn sie dich nur« nach. Den Kinderschuhen entwachsen, das war gewiss normal. Und sie hatte ja die Schühchen, so wie sie da standen, abgestaubt und poliert, auch nur mitgebracht als ein kleines Andenken an einen Trampelfuß, einen Schmerz, der Freude war, dieses Kind mit dem Hündchen, an eine heitere Zeit. […]« (Gehlhoff-Claes 2002, 67f.)

Gehlhoff-Claes beschreibt den »Kontrast zu den Schuhen«, die ihre Tochter damals beim Wiedersehen trug. Daran schließt sich beinahe essayistisch eine Überlegung über den Stil an: über den Stil der Schuhe wie den der Lektüre und jenen der Literatur ihrer Tochter. Sie spricht auf diese Weise über »das Zu294 Ingrid Hein: 80. Geburtstag von Astrid Gehlhoff-Claes. Am 6. Januar 2008 feiert die Dichterin Astrid Gehlhoff-Claes ihr vollendetes 80. Lebensjahr. Aber sie feiert in – Düsseldorf! Soll Köln da überhaupt auch gratulieren? In: RP, 04. 01. 2008. 295 In einem Brief vom 3. Februar 1980, nachdem sie sich von Gehlhoff getrennt hatte, äußert sie den Wunsch nach einer Verbesserung der Beziehung (wohl zu beiden Töchtern), Vgl. Anmerk. 213. 296 In der Zeit, als sie keinen Kontakt hatten, ruft die Mutter manchmal bei Freunden an und erkundigt sich danach, wie es der Tochter geht oder wo sie ist.

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fluchtsuchen ihrer Tochter in der Literatur«, insbesondere in die Lektüre von Simone de Beauvoir und Marguerite Duras297 […], »deren Bücher ihre Tochter nicht las, die sie ausschlürfte, deren Stil sie nachahmte, einen eleganten, handlungsschmalen Stil, der nur ein Stil war.«298 Zwischen den Zeilen gibt Gehlhoff-Claes dabei einiges über ihre Beziehung zu ihrer Tochter Undine preis299: »So wie sie es nicht wusste, warum sie ihre Briefe nach Paris in diesen zwei Jahren nie abschickte. Warum sie die Kinderschuhe nicht geben würde, die sie doch mitgebracht; die noch im Schrank des Hotels standen, während sie ihren Koffer schloß. »Es gibt aber erwachsene Kinder«, sagte sie, »die ihrer Mutter einmal im Jahr eine Karte schicken mit ›es geht mir gut‹. Das tun viele, das ist die Mehrheit, du kannst von Glück sagen.« Von Glück hatte sie immer gesagt. Über diese Tochter, über dieses Kind. Es stand aus der Wiege auf und sprang in den Tag. Es drückte ihre Hand, es preßte das Hündchen an sich; es freute sich, am Leben, an dem lebendigen Geschenk. Sie sah es vom Fenster, in den schweren Schuhe hüpfte es.« (Gehlhoff-Claes 2002, 69f.)

Die Stimmung beim Abschied ist beinahe melodramatisch zu nennen, wo das einzige Mal der Name Undine auftaucht. Es ist eine Szene, die zwischen Hotel, dem Friedhof auf dem Montmartre und dem Bus spielt. Die Mutter als Autorin zieht darin eine Verbindung zwischen Heinrich Heine300, dem »Dichter vom Rhein«, und dem Schicksal Undine Gruenters in Hinblick auf das in Paris gefundene geistige und literarische Asyl. Die Stelle fungiert darüber hinaus als Reminiszenz an die eigene »Heimat«, an das Rheinland. Bemerkenswert ist, dass sich die Erzählerin (die hier keinesfalls eine Ich-Erzählerin ist, was man bei einer Biografie angenommen hätte) daran erinnert (oder tagträumt), dass sie mit »dem Kind auf vielen Friedhöfen war«. Jedoch ist der Mutter ein Aufenthalt mit ihrer Tochter am Grab Heinrich-Heines auf dem Montmartre von besonderer Erinnerung geblieben: »Sie trug den Koffer vor die Tür. Trat ans Fenster, sah unten Undine stehn. [im Original mit Ellipse, SW] Sie war wunderschön, sie blickte auf die Schuhe der Männer, helle und 297 Gruenter schreibt über die literarische Beziehung zu Marguerite Duras: »Marguerite Duras: Die kurzen Sätze, die reine Sprache, ihre Evokationskraft. Das undefinierbare Rätselhafte ihrer Texte ohne Verblasenheit und Tiefsinn. Im Zentrum: das Gefühl eines Verlusts, das Vergessen, der Schlaf, von dem man nie weiß, ob die Betroffenen ihn zerreißen wollen oder ihn suchen.« (vgl. AS, 12) Bemerkungen zu Duras und ihren Werken als herausgeschriebene Zitate treten in »Der Autor als Souffleur« gehäuft auf, vgl. etwa über »Das tägliche Leben«, »Die Freuden der Sixtième«, AS, 229 oder »Der letzte Kunde der Nacht«, AS, 230. 298 Wir erinnern uns, dass sich Bohrer sehr mit dem Stilbegriff auseinandersetzte. Vgl. 52. 299 Es handelt sich hier um ihre zweite Tochter, die zuvor genannte Rachel (vgl. Anm. 289), die sie in Berlin »suchte«. Diese Suche wird in dem Kapitel »Wiedersehen in Berlin« (1973) beschrieben. (Gehlhoff-Claes 2002, 73ff.) 300 Vgl. Lew Kopelew: Ein Dichter kam vom Rhein. Heinrich Heines Leben und Leiden. Berlin: Severin und Siedler 1981.

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schwarze, glatte und genarbte, die vorüberliefen, sie sah den Schuhen nach. Doch sie wartete auf sie. Sie sah es an dem Kranz in ihrer Hand, sie war gekommen, um auf sie zu warten. Auf dem Montmartre-Friedhof am Grab von Heinrich-Heine hatte sie den Kranz gesehen. Er lehnte am Sockel, die blaßrosa Rosen schliefen in dem Staub, wo tief unter der Büste das Gedicht vom Wandermüden stand. Sie hatten es zusammen gesagt, – »unter Palmen in dem Süden, unter Linden an dem Rhein« – wie früher, und sie hatte weder an das Kind gedacht, mit dem sie auf so vielen Friedhöfen war. Immer hatte sie eine steinerne Blume, einen verstaubten Kranz unter ihrem Jäckchen für mich mitgebracht, dachte sie; zur Erinnerung an dieses Erlebnis, diesen Tag.« (Gehlhoff-Claes 2002, 71)

Doch selbst dieses Zitat bezeugt nur, wie hilflos diese Begegnung von der Mutter empfunden wird. Zugleich kann man hier die allgegenwärtige Sprachlosigkeit zwischen den beiden Frauen bemerken, wieder wird nur die Position der Mutter deutlich markiert, die Situation der Tochter spielt in den Beschreibungen, wenn überhaupt eine eher untergeordnete Rolle. Die Mutter sah offensichtlich ihre Funktion eher in der einer Versorgerin als in der einer Begleiterin, Kameradin oder Freundin ihrer Tochter. Was die Texte betrifft, so erinnern viele der Beschreibungen von Gehlhoff-Claes eher an die Kindheit Undines, wovon nicht viel mehr Details bekannt sind als nur jene von Undine in »Der Autor als Souffleur« exponierten.

4.3. Gruenters Darstellung der Kindheit »Alles Mitleid, das man den Eltern zukommen lässt, entzieht man sich selbst. Das soll kein Argument gegen das Mitleid sein, im Gegenteil. Aber es ist nötig zu wissen, daß alles Verständnis die eigene (kindliche) Selbstbehauptung schwächt, Solange das Denken der Eltern nur in der Selbstrechtfertigung beharrt, kein Erkenntnisprozess möglich ist, ist das Mitleid der Kinder, sonst Selbstgewinn und Selbstüberwindung, auch Selbstverlust. Das Dilemma. Sprechen führt zu nichts, Schweigen ist Lüge. Wird als Zustimmung gedeutet. Muß auch als Protest deutbar sein.« (AS, 249)

So häufig Gruenter Beschreibungen über ihre Familie in ihr Werk hat einfließen lassen, so selten sind alleinige Beschreibungen ihrer Kindheit. Bedeutsam erscheint dies deshalb, weil Kindheitseindrücke oder -orte durchaus mit in ihre spätere schriftstellerische Arbeit einfließen.301 Ebenso tauchen in einigen der unveröffentlichten Werke frühe und frühere Orte auf wie z. B. in »Ein gutgeschlossenes Café« oder »Pompes Funèbres«. In der letzten Erzählung spielt die bis 2008 bestehende Landgaststätte VierWinden an der A46 von Düsseldorf nach Aachen in der Nähe der Mühle der Großmutter und des Vaters eine Rolle. Es wird 301 Vgl. 225, Anmerk. 518, zur Novesia-Schokoladenfabrik.

Gruenters Darstellung der Kindheit

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von einer typisch links- und niederrheinischen katholischen Beerdigung »mit Grünkohl« erzählt, in einem »Städtchen, »in dem kein Winkel idyllisch war«, wo der Friedhof neben den Schienen des Vorortzugs lag und es von daher »Zugpfeifen als Morgenmusik für die Toten« gab. Darüber hinaus wird sich auf die dortige regionale Zeitung, die »Rheinische Post« bezogen. In der gleichfalls unveröffentlicht gebliebenen Erzählung »Ein gut geschlossenes Café« wird ein bekanntes altsprachliches Gymnasium in Neuss am Niederrhein genannt, das Quirinus Gymnasium, wo Undine Gruenter während ihrer Aufenthalte in der nahen Mühle, offensichtlich öfter vorbeigegangen ist. Außerdem wird von einem kleinen Café »im Erdgeschoss eines klassizistischen Bürgerhaus« berichtet, »ein großer kahler Raum, gelb gestrichen, mit viereckigen Holztischen und Stühlen, schwacher Beleuchtung durch tief von der Decke herabhängende Lampen, im Hintergrund Theke und Billardtisch, ein verräuchertes Tagescafé, Zeitungen lagen herum, und seine Klientel bestand nicht aus Literaten oder Anarchisten, sondern aus Schülern der in der Nähe liegenden Gymnasien und ihren Freunden.« Dazu wird der »in der Nähe liegende Busbahnhof« angeführt und die Stadt wie folgt charakterisiert: »Eine schöne Stadt, deren Gründung auf das 8. Jahrhundert nach Christus zurückging, mit altem Dom, deren Ursprünge auch auf jene Zeit datiert werden können, mit bedeutendem Hafen, mit alten, Lastkähnen, malerisch in den Hafenbecken am Fuß der Kirche gelegen, mit alten Familien, mit Handel und Geld, mit Galopprennbahn vor den Toren und großen Landsitzen – nur der Wiederaufbau hat die architektonischen Zeichen dieses alten Wohlstands unsichtbar gemacht.«302

Bekannt ist, dass sie die ersten Jahre in einem Waisenhaus verbrachte (es spricht einiges dafür, dass sich dieses in Neuss befand), abschließend zunächst bei der Großmutter väterlicherseits lebte und dann von der Mutter in die »neue Familie« aufgenommen wurde. Gruenter ergeht sich hier vorwiegend in Andeutungen und aus ihrem Umkreis war wenig bis nichts dazu zu erfahren. Nichtsdestoweniger scheint die Kindheit insgesamt prägenden Einfluss auf sie gehabt zu haben, was man erfährt, wenn man versucht, zwischen den Zeilen zu lesen, etwa dort, wo sie sich Rechenschaft darüber ablegt, warum sie ein (literarisches) Tagebuch schreibt: »In diesem Tagebuch muss es um Wahrheit gehen, um das härteste Mißtrauen gegen mich selbst. […] Ich glaube es nicht, ich glaube, daß ich zum Glück begabt bin [Hervorhebung SW] und mich nach dem Leben sehne – und daß all mein Elend in dieser unglückseligen Kette von Lebensverweigerungen liegt: das erste Gefängnis, Kindheit und Jugend, die Isolation, das Eingesperrtsein in einer hochneurotischen, post-faschistoiden Familie, das zweite Gefängnis: der Inzest, und die Unfähigkeit, mich da herauszuwinden, weil schon eingetreten war, was die Folge des ersten Gefängnisses war: 302 Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Kleine Prosa.

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Zur Person Undine Gruenters

die Isolation war meine Natur geworden, ich fand den fünf Jahre unterbrochenen Kontakt zu Gleichaltrigen nicht mehr, die Universität, das normale Leben ein Alptraum, so hielt ich mich versteckt – geborgen, falsch geborgen, weil selbst entfremdet – , weil mir grauste vor dem profanen Leben, in dieser inzestuös-familiären Enklave.« (AS, 168f.)

Nichts Genaueres ist darüber bekannt, ob sie schon damals kränkelte oder darüber, ob es Vorboten der Krankheit gab. Angaben dazu beziehen sich auf die späteren Jahre. Die Autorin schreibt von einem »Hörsturz« (AS, 118) und von neuem von Zeit zu Zeit auftauchendem Anzeichen von Depression (AS, 164, 236f., 277, 449 u. 473) und manchmal manisch-depressiven Zuständen (AS, 182, 470 »Depression und Euphorie«)303. Wie bereits angemerkt wurde, bestand ihre Art des Umgangs damit darin, dass sie sich in die Literatur, in eine Art ästhetischer Existenz bzw. später nach Frankreich »flüchtete« und sich sonst selten dazu äußert. Ebenso wenig sind zuvor Hinweise auf etwaige andere Krankheiten bekannt. Es wäre in diesem Sinne vermessen, sich auf zu große Spekulationen darüber einzulassen, allein deshalb, weil auf ihrer Seite erklärtermaßen eine Reserve gegenüber jeder biographischen, emphatischen und identifikatorischen Kunst (einschließlich dem Biographischen, Psychologischen und »Pseudo-Authentischen«) bestand.304 Festzustehen scheint aber, dass die Grundlegung der Ängste oder Phobien Gruenters, die sie zweifellos kannte, wie einige aus ihrem Bekanntenkreis behaupten, aus dieser Zeit stammt. Insgesamt tauchen der Begriff bzw. das Motiv der Krankheit nur sehr vereinzelt auf, dafür häufiger der Begriff respektive das Motiv des Todes. In einem Brief an Christian Döring vom 11. 10. 1999 heißt es: »Das Problem eines Treffens liegt in folgendem. ich habe seit vier Jahren ein Handicap – schwere Gleichgewichtsstörungen und zusätzlich seit mehr als einem Jahr geschädigte Nerven am rechten Fuß – im Augenblick kann ich ohne Hilfe das Haus nicht verlassen, und reisen kann ich nur per Autochauffeur, weil ich Flug- und Zug-Geschwindigkeit wegen des Schwindels nicht vertrage. Ich bin gründlich untersucht worden, aber die Symptome haben keinen Namen einer bekannten Krankheit. Wir wären also auf Post und Telefon angewiesen, es sei denn, ihr Weg führt sie nach Paris.« (Brief an Christian Döring vom 11. 10. 1999, unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr)

Bohrer verweist zudem darauf, dass es daneben im Werk doch einen weiteren versteckten Hinweis auf ihre Krankheit gibt:

303 Vgl. AS, 182: »Jamais réel mais toujours vrai, das ist das Losungswort. Ich sitze bei weit geöffnetem Fenster, und zwischen den Häusern pfeifen die Schwalben. Alles, was ich eben geschrieben habe, dieser Ausdruck der Seelenruhe, ist nur die Kehrseite der anderen, ist gar nicht allein zu denken. Die Kehrseite ist eine große Traurigkeit, eine Verzweiflung, die man nur im Alkohol ertränken kann und im Schmerz, an den man nicht denken darf, weil er sonst überwuchert.« 304 Vgl. zum Thema der »Authentizität«: Knaller (2007).

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»In einer Geschichte mit dem harmlosen Titel »Subtile Schuhe« findet sich ein unheimlich unmittelbarer Bezug zu ihrer Krankheit, nur erkennbar für solche, die von ihr wussten. Ein Schuh umklammert den Fuß der Ich-Erzählerin »wie eine Falle«. Als Ursache des Fußschmerzes, hervorgerufen durch die Eisenstützen der Sohle, wird ein Anschlag, ein Attentat angedeutet: »Hinter der Glasscheibe im dritten Stock gegenüber einem scharfen Profil, das sich blitzschnell zurückzog.« Dieser Satz war sehr beunruhigend. Er bestätigte die Beobachtung, dass sich Undine selbst seit einiger Zeit schon verfolgt gefühlt hätte, ohne dass sie hätte sagen können, von wem.« (Bohrer 2017, 432)

Dagegen erscheint bei Gruenter der Begriff des Schmerzes305 neben dem des Prozesses des Sterbens, allerdings im Sinne einer überraschenden Volte, dass darüber eigentlich nicht zu schreiben ist: »13. September 1986 [Jahreszahlergänzung SW] Schmerz: Der Schmerz lässt sich nicht schreiben. Obwohl Schmerz das Gegenteil ist von Sterben. In seiner Mitte ein schwarzer Raum. Keine Weiße des Unbekannten. Sterben. Man sollte dieses Wort vermeiden. Da es nichts anderes ist als eine Metapher für einen Vorgang, zu dem niemand von uns Zugang hat. Sterben – Metapher für das vollkommen Unbekannte. Das Wort, in dem – unter allen Worten der größte Abstand klafft zwischen dem, was gemeint, und dem, was zu erfahren möglich ist. Ein Wort mit einem Loch in der Mitte. Mit einem blinden Fleck. Mit dem weißen Fleck der Leere. Schmerz. Schmerz lässt sich nicht schreiben. Schreiben kann man über den Schmerz. Über seine Anzeichen, seine Wirkungen, Ursachen und Folgen. Aber der Schmerz – jenseits des Zerreißens, des Klaffens, jenseits des Verstummens, Versteinerns – lässt sich nicht schreiben.«306 (AS, 136)

Folgerichtig wird sie »den Roman erst beginnen können am Ende des Schmerzes« (AS, 176). Hiermit ist der Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« gemeint. Überdies erkennt sie im »Schmerz« die »Wurzel des Schreibens« (AS, 49). Weitere Hinweise auf Schmerz oder Krankheit lassen sich nicht ausmachen. Köhler nennt den Schmerz als Bedingung von Gruenters Schreiben und bezeichnet ihn als spezifisch weiblich: »[…] weiblich ist auch eine spezifische Form des Schmerzes, die Radikalität, mit der der Schmerz für das Schreiben fruchtbar gemacht wird.« (Köhler 1995) Die Familie wurde insgesamt als »eine Art Phantomschmer« bezeichnet, mit einer Ausnahme. Was durch viele ihrer »autobiographischen Stellungnahmen« beispielsweise in »Der Autor als Souffleur« hindurch schimmert, ist die besondere Beziehung zu ihrer Großmutter väterlicherseits, die sich zwischen den Zeilen erschließen lässt, wo es beispielsweise heißt: »Heute bekam ich ein Paket von zu Hause. Heraus fallen einige Lederutensilien, eine Brieftasche, ein Portemonnaie, ein Necessaire und ein paar Kissenbezüge aus dem Nachlass der Großmutter. Ich klappe das Portemonnaie aus Krokodilleder auf, viele 305 Vgl. AS, 54, 93, 96, 111f, 133, 136f., 173, 176, 187, 197, 232, 325 u. 448; auch als Leiden oder im Zusammenhang damit: AS, 136f., 179 u. 330. 306 Vgl. dazu: AS, 93. »Der Schmerz: es gibt eine Art der Verzweiflung, einer Ruhe, nicht Aufgeregtheit von Verzweiflung, einer Verzweiflung, die zu sich selbst kommt.«

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Zur Person Undine Gruenters

Fächer, eine Lederschließe, ein Druckknopf, und sehe im Innern der Abteilung für die Münzen das schadhafte, fadenscheinige, zerrissene, löchrige, zerlöcherte, vielfach von C. geflickte, grünlich verblaßte Seidenfutter. Als ich die Nase zwischen die Fächer stecke, strömt mir der Geruch meiner Großmutter entgegen, jene Mischung aus Leder, Lavendel, dem Geruch des dunklen Kleiderschranks, in dem sie manche dieser abgenutzten Börsen bewahrte, ein Geruch, der in den Tiefen dieser Utensilien seine die Nase kitzelnde Frische verlor und gegen eine durch Dumpfheit abgeschwächte Strenge vertauscht hat – Geruch meiner Kindheit, seit einem Jahr ist sie tot. Das Geheimnis der Zähigkeit, mit der der Geruch ihren Körper so lange überlebt und sich in den Dingen gehalten hat.« (AS, 10f.)

Festzustellen ist, dass Gruenters Familiengeschichte nicht unwesentlichen Einfluss auf ihr Schreiben, aber zudem auf ihre gesamte Existenz als Schriftstellerin hatte, was sich in dem folgenden Satz äußert: »Die falsche Sehnsucht nach Integration aufgeben. […] Ich kann meine Lebensgeschichte nicht mehr umkehren – und wenn sie anders gewesen wäre, würde ich nicht schreiben.« (AS, 305) Außerdem markiert die immer von neuem wiederholte Frage und die damit verbundene Forderung und Anmaßung »Bist du auch vergnügt?« die Situation innerhalb der Familie auf das Deutlichste: »Bist du auch vergnügt?« diese ewige Frage meiner Familie fällt mir ein und das angelernte Ich, das tatsächlich immer die vergnügte Undine war. Um ehrlich zu sein: Was dahintersteckt, ist ja nicht nur eine Lebenshaltung der Verdrängung und Angepaßtheit, sondern auch die der Diskretion und eine wunderbar altmodische und delikate Lebensform, sofern sie den einzelnen nicht erstickt und er wie eine Marionette schnurren soll.« (AS, 182f.)

4.4. Der Ehemann: Der Literaturtheoretiker und Essayist Karl Heinz Bohrer »B.? Das – der Grad der Nähe – kommt darauf an, wie er zu meinem Kopf stehen wird in Zukunft. Los komme ich ja sowieso nicht von ihm, ganz. Das Vertrauen. Da gibt es keine Alternative. Unsere (falschen) wechselseitigen Abhängigkeiten – da muß es eine Änderung geben. Es gibt produktive und destruktive Abhängigkeiten.« Undine Gruenter (AS, 305)

Es ist darauf hingewiesen worden, dass neben der Offenlegung der Beziehung zu ihrem Vater die Ehrlichkeit und Schonungslosigkeit der Beziehung zu Karl Heinz Bohrer für einen Skandal hätte sorgen können – wenn nun beide oder andere darauf anders reagiert hätten. Sie taten es nicht, sondern reagierten mit Distanz auf die Auslassungen Gruenters und machten damit das Beste daraus, was sie machen konnten. Als Bohrer nach der Veröffentlichung von »Der Autor als Souffleur« von einem Bielefelder Kollegen (dem heutigen Greifswalder Germa-

Der Ehemann: Der Literaturtheoretiker und Essayist Karl Heinz Bohrer

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nistikprofessor Eckhard Schuhmacher) darauf angesprochen wird (Bohrer 2017, 397), reagiert er scheinbar teilnahmslos. Insgesamt entwickelt Undine Gruenter eine zum Teil ambivalente Beziehung zu Bohrer, mit dem sie einerseits sehr verbunden ist, indem sie beispielweise bekennt, dass sie »ihren B.« liebt (AS, 472), andererseits aber darüber klagt, »dass die Liebe fehle« (AS, 302). Sie bemängelt »Beziehungsprobleme mit B.« (AS, 321), »Probleme mit B. im Realen« (AS, 382) und beklagt, dass ihr »größtes Problem mit B. sei«, mit dem Menschen, mit dem man am nächsten lebt, ohne Lüge zu leben.«307 An anderer Stelle betont sie, dass »das Spiel der Autorität unsere Liebe zerbrochen« (AS, 434) habe oder schreibt von einem »starken Abhängigkeitsverhältnis« (AS, 289).308 Wie existentiell trotz allem die Beziehung zu Bohrer war, wird daran deutlich, dass mit der Beziehung zu ihm zugleich eine Lebensweise in den Fokus trat: »Die Antwort auf seine Frage, ob ich mir vielleicht nicht doch eine größere Wohnung, ein Kind – kurz, weniger existentielles Auf-Knochen-Gehen wünsche, ist die: ich kann mir sehr wohl so ein Leben vorstellen – beim Kind bin ich aber nach wie vor der Meinung, das müssen beide genauso wollen und vertreten. Aber ob man nun so lebt oder ohne das und auf andere Weise – es kommt doch wohl nur an auf – ja was? – die Liebe natürlich. Und dann kommt es darauf an, sich nicht von den Pflichten unterjochen zu lassen, sondern umgekehrt, eine Lebensform (Mit Kind, ohne Kind, wie auch immer) sich anzupassen, und nicht sich einer Lebensform.« (AS, 301)

An mehreren Stellen stellt sie sich die rhetorische Frage, warum ihre Wahl ausgerechnet auf B. gefallen sei. Damit wird zugleich impliziert, dass sie die Wahl getroffen habe, die Wahl »eines Außenseiters«, wie sie selbst betont und die zugleich eine bestimmte Weise ihres Wesens betraf. Im Zusammenhang mit einem anderen Aspekt spricht sie sogar von »Dankbarkeit«: »Und die Wahl von B.? Es war die Wahl eines Außenseiters (so dachte ich), die Wahl des Zwillings, es war die Betonung von einer Seite meines Wesens, der kontemplativ-einzelgängerischen. Während die, die sich nach Lebendigkeit und Heiterkeit sehnt, zu kurz kommt. Andererseits könnte ich mit keinem anderen Mann leben – ich brauche nicht normale Hausfrau zu spielen, keine Kinder bekommen, keinen Brotberuf ergreifen, das

307 AS, 181f.: »Vielleicht ist meine Idee von der vollkommenen Offenheit unmöglich, da sich dann andere Zwänge einschleichen, aber festzustellen, daß man auch den nächsten Menschen behandelt (aus Schonung, aus Selbsterhaltung?), daß das Gesetz der Entfremdung (und der Selbstentfremdung, denn lügen heißt, nicht ich selbst sein, sondern eine Rolle) überall durchschlägt, gerade in den intimsten Beziehungen.« 308 In den Gesprächen mit Personen aus ihrem Bekanntenkreis wird immer wieder auch auf das schwierige Verhältnis hingewiesen. Überraschender Weise geben Gruenter und Bohrer gerade dann ihre Hochzeit bekannt, als die Situation am aussichtslosesten erscheint, was ihre Beziehung betrifft, was von manchen Freunden nicht verstanden wird, sich die Freundschaftsbeziehung daraufhin lockert oder sogar auflöst.

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Zur Person Undine Gruenters

heißt, all das, womit sich so viele Künstlerinnen so mühselig herumschlagen müssen, fällt weg, und dafür bin ich ihm dankbar.« (AS, 169)

In gleichem Maße betont sie wiederholt die Art der Lebensführung, die das Leben mit B. ihr erlaubt. was ihr künstlerische Freiheit, aber zugleich ein »Leben am Abgrund mit der Gefahr des Absturzes bietet« – obwohl sie beide auf finanzielle Weise abgesichert waren. »3. Mai 1987. [Jahreszahlergänzung SW] Ich sitze im Zug Köln-Paris. B. hat mich an den Bahnhof gebracht. Sein überarbeitetes Gesicht. Im Zug wurde mir plötzlich klar – Selbstverdacht –, daß meine Entscheidung für B. nicht nur auf der langen Bindung, der Liebe, der Anhänglichkeit beruht, sondern sich dem ältesten Künstlerproblem verdankt: der Angst vor dem Leben, sich auszusetzen dem Unbekannten, den Verletzungen, der Unsicherheit. […] Dagegen läßt mir das Leben mit B. völlige Freiheit in bezug auf Schreiben und ein geistiges Alltagsleben – keine Kinderwünsche, keine sozialen Verpflichtungen, keine Ansprüche. Fazit: die Entscheidung hat einen langen Komplex von Gründen; nicht nur die reine Liebe, sondern auch purer Egoismus oder Kenntnis der eigenen Grenzen. […] Und: ich habe mich vor meinem Leben mit B. so aufgebraucht mit dem Leben am Abgrund, daß ich jetzt einfach ein bißchen Ruhe brauche.« (AS, 103)

Wie es die Zitate nahelegen, war Karl Heinz Bohrer (neben ihrem Vater) der wichtigste Mann in Undine Gruenters Leben. Darüber hinaus kommt dies in einigen der nachgelassenen Werke zum Ausdruck (vorwiegend in »Pariser Libertinagen«). Dass diese Beziehung keinesfalls unkompliziert war, darüber geben einige Zitate ebenfalls Ausdruck, etwa dort, wo von der Abhängigkeit der beiden spricht: »14. März 1989. [Jahreszahlergänzung SW] Probleme für B.? Ein halb unbewusstes und nicht klar durchdachtes Gefühl der Bedrohung durch mich (ich vermute durch meine psychische Problematik), d. h. ich bin keine einfache Frau, wie er gedacht und anfangs erlebt hat; durch das, was er meine Reflexivität nennt, dh. sowohl das Intellektuelle an mir als auch das Gründliche, Insistieren auf Durcharbeitung von Problemen. Im Grunde habe ich Schuldgefühle wegen meiner Psychoprobleme. Eins ist klar: Unser Verhältnis – es gibt Abhängigkeiten, die nicht nur stabilisieren, sondern auch destruktiv sein können – ist nach wie vor ein striktes Abhängigkeitsverhältnis. möglicherweise bin ich gerade destruktiv für ihn, ohne daß wir das wissen.« (AS, 289)

Bei weiterer Recherche mehrten sich die Hinweise darauf, dass sie sich vor ihrer Ehe von ihm getrennt hatte. Es scheint mitunter Beziehungsprobleme gegeben zu haben (AS, 321) und sie eine Beziehung mit einem anderen Mann eingegangen zu sein, über die man aber nichts weiter erfährt. Die Problematik, die sich daraus für

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die Beziehung mit Bohrer ergeben hat, wird von Gruenter durchaus wahrgenommen, als sie »ein Neues Heft (cahier)« beginnt309. Des Weiteren kann davon ausgegangen werden, dass sie ähnliche Werke gelesen und in ihren geistigen Positionen nicht weit auseinander gelegen haben, wenngleich Gruenter auf der für sie fundamentalen Unterscheidung von Schriftstellerin und Essayist hingewiesen hat. Sie nennt seinen Namen oft im Zusammenhang mit literaturtheoretischen bzw. kunstprogrammatischen Äußerungen, wie in jener folgenden, in der sie ihre eigene künstlerische Entwicklung gerade in Absetzung zu Positionen Bohrers beschreibt: »16. Mai 1990. [Jahreszahlergänzung SW] Schleif-Bewegungen in den 70er Jahren, das Goethische, Klassische, die sog. Clarité, die Vernunft, das Ausgewogene etc. Dann, durch Selbstschule: Surrealismus, Moderne, Ich ist ein anderer, Zersplitterung des Ich, Fragmentierung der Texte, die Passion nicht gegen, sondern mit der Vernunft gedacht, d. h. die Kunst der Moderne nicht des Irrationalen, was eine Kehrseite ist, da die Moderne, die die Nachtseite enthüllt, ein notwendiger, parallel zum Vernunftdiskurs, verlaufender Befreiungs- und Emanzipationsprozeß ist. Traum, Wahnsinn, Entgrenzung. Überschreitung – und jetzt wieder der Bogen, die Kritik des Romantischen, Surrealistischen etc. wird mir geboten, Erinnerung wachrufend an die vielen Schulen, die ich durchlaufen habe, ja ich erinnere mich, an Gide, Valéry, Curtius auch, aber, es bleibt dabei, das Klassische mag mir als Fingerübung einer Novelle vorschweben, aber die andere Seite kommt in den künstlerischen Mitteln, in der Umkreisung von Personen und Szenen der Wirklichkeit, in der Kategorie des Bruchs jener Wahrheit näher, die Kunst, unbewußt, auch mitschreibt.« (AS, 380f.)

An dieser entscheidenden Stelle entwickelt Gruenter im Grunde ihre gesamte literarische Programmatik; sie stellt außerdem ihr Ideal der Klarheit heraus, das für sie dem Ideal des Klassischen keinesfalls entgegen gesetzt sein muss, wenn man das Klassische als »leicht, luzide, durchgeformt« begreift, weshalb Satie für sie »klassisch« ist. (ebd.) In einem so verstandenen Sinne hat es dann nichts mehr mit dem »klassisch Klassischen« zu tun, ähnlich sie sie – genauso wie Bohrer – eine neue Auflassung von Romantik und Moderne vertritt. Vertreten beide schon nicht durchweg die gleichen Positionen, so kommt doch eine Auseinandersetzung mit ähnlichen literaturtheoretischen bzw. -programmatischen Positionen zum Ausdruck. Bohrer hat sich in erster Linie als Literaturtheoretiker und Kulturkritiker Deutschlands verstanden (in seiner massiven Kritik zunächst an der Bonner, später Berliner Republik und der Provinzialität Deutschlands, aber genauso in seiner »Funktion« als Europakritiker310) – zwischen Journalismus und Hoch309 Auch die Form ähnelt sehr Eugène Ionescos Tagebuch »Journal en miettes.« Stuttgart: Deutscher Taschenbuch Verlag 1971 (Original: Luchterhand). 310 Siehe das Gespräch 2014 mit Timothy Garton Ash (er meinte eigentlich Habermas): Europa ist keine Idee (wie seiner Meinung nach Habermas denkt, sondern ein Gedicht, Europa ist

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schule changierend – und sich damit vor allem in Deutschland, wenngleich als Außenseiter, wie Gruenter betont, einen Namen gemacht. Hierhin zeigt sich eine Übereinstimmung mit der Position Gruenters. Deren Frankophilie zeigt sich in der Rezeption vieler Werke der französischen Literatur, vorzugsweise des Surrealismus’. Bohrer fand die Wurzeln des Surrealismus’ in der deutschen Frühromantik und wehrt sich zeitlebens gegen eine Vorstellung der deutschen Romantik als dem schlechthin Irrationalen.311 Darüber hinaus sind weitere Stellen zu Bohrers Person in »Der Autor als Souffleur« verbürgt, den sie in diesem Werk immer B. nennt. »Ich glaube heute, was mich von Anfang an dieses Urvertrauen zu B. fassen ließ, war die Tatsache, daß er in mir zuerst die Seele und den Geist begriffen und gewollt hat und nicht die attraktive Frau. (Umgekehrt ebenso: der seelischste Mann, der mir je begegnet ist, und mir vollkommen gleich in seiner Priorität für das Geistige an Menschen.) Alles, was danach geschah, war Umweg und Entfernung von dieser Konstellation: die zwangsläufig erotisch-sexuellen Verwicklungen, Fehler, Mißtrauen etc.« (AS, 185)

An einer anderen Stelle stellt sie das besondere, »existentielle« Problem Bohrers heraus312: Schilderungen der Bilder des Todes nehmen in diesem Zusammenhang überhaupt breiten Raum ein: »B. fängt an zu sprechen. Angesichts der Schönheit dieses Tags zu wissen, daß es keinen Gott gibt. Zu wissen, daß man ins Nichts fällt. Zu wissen, daß die Menschen, die in diesen Park [der Park von La Bagatelle, Ergänzung SW] gehen, über die Gebeine von Jahrtausenden gehen, von Toten. die vergessen sind. Er sagt, die einzige Form, nicht zustreben, ist das Gedenken der anderen. Wie der Abwesende, der, als Gesprächsthema oft anwesender ist als die anderen. Die Toten leben, solange man von ihnen spricht. Er sagt: nichts beschäftige ihn so sehr wie der Tod. Ich sage: es gibt nichts als Augenblicke wie diese. Es wird nichts bleiben. Denn die Erinnerung der anderen ist zufällig und unzuverlässig. Heere von Vergessenen. Zugleich sage ich: doch, du hast Recht. Wir reden über Benjamin, über Hemingway, über meine Großmutter, als ob sie lebendig wären. Die Erinnerung allein ist wichtig.« (AS, 194)

Differenz. Vgl. u. a. Arno Widman; Timothy Garton Ash und Karl Heinz Bohrer: Europa ist ein Gedicht. In: Berliner Zeitung vom 11. 06. 2014. 311 Vgl. etwa: Bohrer (1989), 7ff. Interessanterweise behandelt der ganze erste Teil Autoren, die für Gruenter gleichfalls von zentraler Bedeutung sind wie Benjamin, die Surrealisten, Apollinaire im Besonderen, Breton und Aragon sowie Baudelaire und Nietzsche. Vgl. dazu: Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt/M.: Edition Suhrkamp 1987; Karl Heinz Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Frankfurt/M.: Edition Suhrkamp 1983. 312 Auch der Begriff des »Existentiellen« wird von vielen Seiten durchleuchtet und nicht so einfach stehen gelassen.

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Zugleich sind es vorzugsweise die »Theoretiker des Todes« wie Bataille und Leiris, die ebenso in ihren Aufzeichnungen breiten Raum einnehmen.313 Auffallend wie aufschlussreich für ihre gemeinsame Beziehung ist dabei, dass Gruenter den zunächst differenten Positionen Bohrer an manchen Stellen im Nachhinein zustimmt (vgl. AS, 252, 268 etc.). »Meine tiefe Gemeinsamkeit mit B. – das wurde mit gestern in einer Fernsehdiskussion mit George Steiner und Annie Cohen-Solal klar, bei einem dieser intelligenten Gespräche, das in mir eine Mischung von Vergnügen und Ablehnung hervorruft – Vergnügen an der intellektuellen Vitalität, Ablehnung gegen die Begriffsraster, gegen den Ton von Bescheidwisserei, der, und ich nehme mich da nicht aus, unwillkürlich entsteht, weil unsere Wertungen damit verbunden sind, die das spezifisch Tastende, Fragende, Offene eines literarischen Textes zuschütten. Fazit: als Schriftsteller lebt man auf der anderen Seite, nicht auf der der Kritiker wie Steiner und Cohen-Solal. Obwohl B. kein Schriftsteller ist, versteht er dies Problem besser als jeder andere, macht es zum Teil zum Thema seiner Arbeit.« (AS, 251f.)

Nur auf den ersten Blick erscheint es als unwesentlich, dass Bohrer Universitätsprofessor war und über ein festes Einkommen verfügte. Denn andererseits gewährte dies Gruenter genügend (materiellen) Spielraum in ihrer schriftstellerischen Existenz; sie musste niemals die alltägliche Demütigung einer schlecht verdienenden Schriftstellerexistenz erfahren. Abgesehen dem Vorsprechen bei Verlagen wegen der Publikation ihrer Werke, war für sie das Schreiben als Existenz an sich zentraler in ihrem Leben als das Publizieren, worauf Köhler und Matz in dem mehrmals angeführten Gespräch im Deutschen Literaturarchiv Marbach hinweisen. Nichtsdestoweniger sieht sie in einigen Passagen ihres Lebens ihre eigene Existenz als Schriftstellerin äußerst düster und schreibt im Juli 1992: »Was mich betrifft, sehe ich zur Zeit keinen Ausweg: einen Mäzen habe ich nicht, der Verlag bezahlt mir nichts, von den Büchern kann ich nicht leben; die Abhängigkeit von B. – muss ich mir etwa von Si. vorwerfen lassen, einen anderen Beruf zu ergreifen, wäre so, als ob ich mich freiwillig amputierte, Wunder passieren nicht, also werde ich wohl demnächst die Kunst nachahmen und die Rolle des Hungerkünstlers spielen. Fazit: weiter schreiben, spazierengehen und denken, das ist das Brachfeld, das vorgegeben ist.«314 (AS, 403) 313 AS, 326, 328, 437 u. 448 (Leiris wird fast nur im Zusammenhang mit dem Motiv des Todes zitiert), AS, 9, 117, 336, 342, 395 u. 474. Auf Bataille wird sich von Gruenter ebenfalls mit dem Tod als dem wesentlichen Motiv seines Denkens beziehen (vor allem AS, 275: »Bataille hat Recht, wenn er schreibt: Der Mensch ist ein diskontinuierliches Wesen, das sich nach Aufhebung der Diskontinuität, z. B. im Eros- oder Todestrieb sehnt).« 314 Diese Empfindung scheint bei ihr durchgängig so gewesen zu sein, denn es existieren noch weitere Stellen, wo sie das bekennt: »13. Juli 1986. [Jahreszahlergänzung SW]. Schreibe die Cahiers von 89 ab – stelle fest, daß sich im Wesentlichen nichts geändert hat: immer noch kein Geld, kein Erfolg, immer noch der Psychoterror am frühen Morgen – und eine tiefe

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Darüber hinaus nennt sie einen Wunsch, wie sie sich ihr Leben hätte anders vorstellen können, wobei sie den Wunsch im Moment des Aussprechens oder besser Ausschreibens gleich wieder zurücknimmt. Im Grunde hätte sie keine andere Existenz führen wollen als jene, die sie geführt hat, selbst wenn sie zwischendurch mitunter andere Wünsche äußert: »Meine diversen Wünsche – nach einem Kind, nach Geselligkeit, nach einer Wurzel, nach einem festen Wohnsitz – sind sie nicht auch Ausdruck der Zerrissenheit? Sich ein Leben vorzustellen, das man bei anderen vermutet, das es in Wirklichkeit oder nirgendwo gibt. Der Wunsch, alles vereinigen zu können: Frau, Mutter, Geliebte, Schriftstellerin. Und manchmal genau zu wissen, daß das nur Seifenblasen sind und daß das in Wirklichkeit nicht geht, vielleicht nicht einmal gewünscht wird.«315 (AS, 183)

Aber wirklich ernsthaft hat sie das weder in Deutschland und erst recht nicht mehr später in Paris, in Erwägung gezogen. Dazu waren die »Dinge«316 zu andrängend, die sie in Paris umgaben. Hier fand sie jene Orte, die sie persönlich ansprachen und zugleich zu ihrem Schreiben inspirierten, jene Enge und Vielfältigkeit zugleich, für die exemplarisch viele der Häuserschluchten von Paris stehen. Hier genau geschah jene »Einübung in die Wirklichkeit«, die sie des Öfteren anführt, was sich in den Dingen selbst äußert, die sie »liebt« und die ihr zugleich eine sehr genaue Schule eines neuen Sehens ästhetischer Art vermitteln. Auf diese Weise sprechen die Dinge, Orte oder Gebäude von Paris zu ihr. Man ist bei ihr geneigt, von einer »Mythologisierung« von Straßen und Gebäuden zu sprechen, die wiederum – paradox ausgedrückt –, nicht mythologisch ist, sondern klar, »anders« oder erhellend (im Sinne des von ihr benutzten Begriffs der clarité). Im phänomenologischen Sinne geht die »intuitive Interpretation« der Wirklichkeit mit in den Blick ein: Es ist beispielsweise nicht irgendein Viertel, es ist das Marais, was wiederum historische Assoziationen erweckt. »Im Marais. Der Square an der Rue Pavée, die Place des Vosges (natürlich aber spätnachmittags, abends, nachts), das südamerikanische Café La Perla, das Bistro La Tartine, die ganze enge Rue Vielle du Temple, das Restaurant/Bistro Cheval blanc. Der Blick durch die Rue du Perche, wenn ich aus der Rue de Saintonge komme und dort einbiege in Richtung Rue Charlot; am Ende links ist ein Hof, zwei Seiten zu den Straßen hin durch Gitter abgegrenzt, die anderen Seiten werden von einem feinen Haus, aber nicht Abgestumpftheit (der literarische Ehrgeiz zerschlagen, die Seele in Scherben, und B. ist mir ein Rätsel.)« (AS, 494) 315 Die Eintragung ist datiert auf den 7. Mai 1988. [Ergänzung SW], nur bei einigen Tagesbucheintragungen erscheint das ganze Datum. 316 Überhaupt misst sie den »Dingen« – darin wiederum Rilke und Heidegger nicht unähnlich – eine hohe Bedeutung zu, wo sie »die die innere Erstarrung in die der Dingwelt verlegt und dann über von der »Leere der Dingwelt« (AS, 36) überrascht ist. Vgl.: AS, 347: »Dinge in der »Differenz von Spiel und Sprache«. Vgl. AS, 337 oder AS, 286: »Die alte Geschichte: man muß »sich aus den Dingen etwas machen«. Nicht eine Realität (das Normale) tautologisch wiederholen.«

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17. Jahrhundert-Haus, wie hier häufig, gebildet (einer ehemaligen Schule, Konvikt?), in dem Hof stehen Platanen, über das Gitter der Straße. Das Marais hat – trotz 17. Jahrhundert-Dominanz – etwas Gothisches, in die Höhe Strebendes, auch Ärmliches (die vielen Hinterhöfe mit kleinen Werkstätten und Topfblumen vor den Parterrefenstern), dann das Finstere, Überbleibsel der Atmosphäre der Templerorden.« (AS, 305f.)

Über diese Orte war sie gleichfalls mit Bohrer verbunden, die eine gewisse Form von Intimität verrieten, die sich aber in jeweils anderer Form und Darstellung ausdrückte. Die Orte blieben das Verbindende. Darüber hinaus wurden die Aufzeichnungen Gruenters auch deshalb als so »skandalös« empfunden, weil sie sehr offen über ihre Beziehung zu Bohrer schreibt, z. B. dass sie nach einer anderen Beziehung bzw. »unseligen Affäre« wieder zu Bohrer zurückkehrt. Weiter wurde darüber nicht gesprochen. Deshalb sollte gerade hier der »Interpret« eine gewisse Form der Diskretion walten lassen, weil es für das Werk an sich nicht von besonderer Bedeutung ist. Wie schon angedeutet gab es außerdem jene stillschweigende Übereinkunft, nicht weiter über diese intimen Dinge zu sprechen. Die Frage bleibt offen, warum und mit welcher Absicht Gruenter diese Dinge öffentlich macht, derart, dass sie »berichtet«, dass sie zu B. zurückgekehrt sei«, sie ihm »Nachblind« gewidmet habe, aber nicht wisse, »wie sie den Spuk beenden könne«: »30. März 1989 [Jahreszahlergänzung SW] Ich fange ein neues Heft an, und doch möchte ich nichts anderes, als endlich mein Heft beenden. Ich möchte allein sein mit B., mit meiner Arbeit, und endlich diese unselige Affäre vergessen. Wie aber soll ich das, wenn mir ununterbrochen die Zeichen geschickt werden, die längst kein Trost mehr sind, sondern ein immer tiefer bohrender Dorn. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als daß das endlich aufhört, daß ich wieder allein bin und ein neues Leben anfangen kann.« (AS, 295)

Sie spricht in diesem Zusammenhang von ihrem »universellen Beziehungswahn« und sie geht dabei schonungslos mit sich um. Wiederholt werden die Äußerungen flankiert von Anspielungen auf die Literatur wie hier E.T.A. Hoffmann sowie auf die von ihr empfundene Unruhe (Bild, Unbeweglichkeit und Unruhe), was in erster Linie für die frühen Jahre symptomatisch ist. »7. April 1989. [Jahreszahlergänzung SW] Undine oder: der universelle Beziehungswahn. Wie traurig ist doch diese ganze Phantasterei – hat mich fast an den Rand gebracht. Ach, die traurigen Phantastereien. Ich weiß, es sind ja alles meine eigenen Phantasien. Aber wie soll ich sie denn vergessen, wenn mir Tag für Tag das Gift der Phantasie eingeträufelt wird? Das ist wie bei E.Th.A. Hoffmann. Und ich sehe, ich finde keine RUHE. Warum? Weil die Unruhe in mir selbst ist, die Sehnsucht, die Wünsche und Hoffnungen. Also muß ich es in mir selbst, allein für mich austragen. B. kann mir da nicht helfen, im Gegenteil, und wie man sieht, bis jetzt auch die Arbeit nicht. Aber das ist der einzige Weg. B. sagt: Es geht nicht um Seelenruhe, sondern um Seelenstärke.« (AS, 300)

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Die Autorin stellt dies in Zusammenhang mit ihrer Art des Erzählens, dabei immer wieder von neuem betonend, dass es die Wirklichkeit, schon gar nicht »jene der Personen« gibt, dass es sich immer nur um »Umkreisungen« handeln kann, im Sinne jenes »Vorurteils des Konstruktivismus«: »Was mir so wichtig bei der Art des Erzählens ist: daß es nie die Wirklichkeit von Personen gibt, sondern Umkreisungen, Vermutungen – deshalb wird auch immer von anderen über sie oder von der Person selbst über sich erzählt – durch diese verschiedenen Erzählungen einer Person bleibt eine gewisse Offenheit erhalten, d. h. die Problematik in der Benennung der Realität. Deshalb mag ich auch keine (auktorialen) Beschreibungen wie: große Nase, tiefliegende Augen, glattes Haar, fliehendes Kinn etc. Einerseits sind solche Beschreibungen scheinbar eindeutig, nur andererseits besagen sie gar nichts. Sie besagen nur dann etwas, wenn sie nicht Ziel (=Beschreibung/Eindeutigkeit), sondern Funktion der Beschreibung sind.« (AS, 300f.)317

Es ist an anderer Stelle betont worden, dass sich die Autorin gegen Festlegungen von Identitäten wehrt, weshalb ihre Figuren nie en detail beschrieben werden. Selbst das Äußere bleibt unklar, »vernebelt«, man soll sich die Figuren nicht abschließend »vorstellen« können, sie sollen offenbleiben, umkreist werden, möglichst aus der oder den Perspektiven anderer. Das gilt im Übrigen genauso für die Personen ihrer Entourage, die in »Der Autor als Souffleur« ebenfalls in der Schwebe gelassen werden – im wahrsten Sinne des Wortes. Dagegen sind sowohl die biographischen Personen als auch die Kunstfiguren ihrer Werke mit Orten verbunden. Bohrer ist zugleich derjenige, der sie auf den alten Wegen im Rheinland begleitet, wo sie Freunde in Düsseldorf besuchen. (AS, 184) Gruenter behält sich die immer von leicht bis radikal changierende Abwertung der Familie vor, wie es in der Beschreibung ihres Weges zusammen mit Bohrer von der »Luxuswohnung am Kaiser-Friedrich-Ring in die Mietskasernen um die Grafenberger Allee« zum Ausdruck kommt.318 Zudem gibt es Passagen, in denen sie beschreibt, wie sie nach Jahren ohne Kontakt zusammen mit Bohrer ihre Mutter bzw. die Familie besucht oder wie sie sich im Taxi (beide besaßen keinen Führerschein) an den Niederrhein aufmachen, an die Stätten von Undines Kindheit (wie zur Mühle). Überdies sind es wieder die »Abenteuer des Geistes«, welche Lektüren gelesen wurde, oder die »Skandale der Literaten und Schriftsteller«, die sie umtreiben, oft verbunden mit »programmatischen« oder »poetologischen« Reflexionen wie in der Passage zum »deutschen«, idealistischen Gelehrtentyp (in der Figur Manfred Franks) und über »deutschen Tiefsinn und Tagebucheintragungen«. (AS, 316) 317 An einer anderen Stelle (AS, 299) betont sie in Bezug auf Virginia Woolf neben der Auflösung des Personenbegriffs, dass das »Subjekt unaufhörlich im Fließen ist […], die Figuren (im Roman) sich erst suchen müssen […].« 318 Vgl. dazu: AS, 315 u. 394, bei der Beschreibung von St. Martin, einem im Rheinland sehr ausgiebig mit Umzügen gefeierten Fest am 11.11.

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Zum einen zeichnen sich diese Einträge durch starke Assoziationsfülle aus, zum anderen durch literarische oder künstlerische Strenge, abseits jeder »Philisterhaftigkeit« oder einer in ihrem Sinne falsch verstandenen »Tugend der Arbeit«. »B. sitzt im Nebenzimmer, liest mir eine Passage aus einem Tagebuchessay von Manthey vor. Bemerkungen zur Professionalität von Fernsehmoderatoren, eine Satire über Manfred Frank als idealistischen Gelehrten-Typ. Was mich immer stört, das Bemühen. das hinter solchen Texten steht. Eine Tagebucheintragung muß spontan und geistreich sein – nicht auf ein Ziel hin thematisiert, das verleiht ihm diesen unsäglichen Tenor des Bedeutungsschwangeren. Die Welt ist aber nicht bedeutungsschwer – das Bedeutungsschwere verleiht ihm erst der grübelnde Kopf, der sich über die Erscheinungen beugt. Deutscher Tiefsinn. Es ist viel schwerer, die Phänomene zu beschreiben, die sich in der Welt der Wirklichkeit vorfinden, als sie sogleich mit einem interpretatorischen Netz zu überziehen. (Ich sage B. aber nichts von meiner Allergie gegen Interpretation, er will den Text für den Merkur ja drucken.)« (AS, 316)

Oft werden Gedanken über die eigene Beziehung mit Assoziationen zur Liebe oder theoretischen Reflexionen darüber in Verbindung gebracht. Es handelt sich bei Gruenters Beziehung zu Bohrer um eine durchaus literarisch existentielle Beziehung, die sich sowohl durch Nähe wie Distanz zum Eigenen auszeichnet.319 Vielleicht ist es gerade diese Distanz zum Eigenen, zum Selbst, was beide nicht weiter groß über die Beziehung reden lässt. 25. Juni 1989. [Jahreszahlergänzung SW] […] »Frühstück mit B. am Boulevard Raspail auf der Straße. […] Montagmorgen, viele Läden bleiben geschlossen, der Verkehr ist nicht stark, Schönes, schon von der Straße verstaubtes Licht in der Allee, die sich nach Montparnasse hochzieht. […] Was mich kaputt macht, ist nicht meine Vergangenheit, meine Gegenwart, nicht der Liebeskummer von vor zwei Jahren und nicht das Beziehungsproblem mit B., sondern das Telephon, Was mich kaputt macht, ist das zutiefst Miese, Schlechte, Bösartige, das ich dahinter spüre und das nichts mit B. oder mit mir zu tun hat. Anrufe, ob anonym oder mit verstellter Stimme. (In der Nacht der Buchmesse vom 2./3. Oktober 1986 fing die Sache mit der verstellten Stimme an.)« (AS, 20f.)

Dennoch beschreibt Gruenter Phasen und Zeiten, wo sie beide nicht aneinander »herankommen« oder einander nicht näher kommen können, »sich voneinander abkapseln« wie sie das nennt oder sie Bohrer als den »größten Schauspieler unter der Sonne« bezeichnet, der seine wahren oder »wahr gelogenen« Gefühle verbergen würde (3. Juli 1989 [Jahreszahlergänzung SW]. Sie fährt in diesem Sinne fort: »B. hat sich aber phasenhaft so verkapselt, daß quasi eine Negativ-Spannung dabei herauskam.« (AS, 328)

319 Sie wendet sich an einer Stelle gegen die »Diktatur der Nähe« (AS, 114), womit sie sich erneut, ob bewusst oder nicht, sich eng an Rilkes »Ach, in den Armen habe ich sie alle verloren«, dem Lied aus dem Roman »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« anlehnt.

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Bis auf eine Stelle nimmt sie in den Briefen wenig Stellung zu Bohrers »Ästhetik des Schreckens«320 – und wenn dann ist es für Gruenter in der Tat eher eine ästhetische als eine politische Einstellung.321 Die Beziehung darüber kann zumindest von Gruenters Seite als ambivalent bezeichnet werden (AS, 342, siehe Gesamttext 1). Häufig ordnet Gruenter sie literarischen Gestalten unter, die auf dem Unmöglichen zu bestehen (AS, 192: »das Unmögliche der Liebe«) oder sich wie Rousseau, Kleist oder Günderode, der Kommunikation zu entziehen versuchen. (AS, 409) In diesem Kontext nennt sie die Angst als ein zentrales Existential ihres Lebens, was wiederholt in anderen Zusammenhängen auftaucht. An einer anderen Stelle beispielsweise fühlt sie sich von »Angst besetzt« »aufgrund seltsamer Anrufe«, wie folgende Passage zeigt, wo von »Telefonterror« gesprochen wird, mit dem Bohrer nichts zu tun hat, der aber dennoch in den Zusammenhang mit der Beschreibung ihrer Beziehung gestellt wird, nämlich der Suggestion, daß B. zwei ist«. Es sind Formen tiefer Angststörungen, die Gruenter zu dieser Zeit umtreiben und sie empfindet »das Schreiben als ein Anschreiben gegen die Überwachung, das Eingesperrtsein, gegen die Ängste« (AS, 440). Zugleich bekundet sie einen »abgrundtiefen Haß gegen diejenigen«, die sie im Unklaren lassen über die Gründe einer »Horrorreise« (ebd.). Es war dem Verfasser nicht möglich, zu eruieren, was damit gemeint sein könnte und um welche Reise es sich hierbei hätte handeln können, ob das nur metaphorisch oder ganz konkret gemeint war. Letztendlich verbleibt bei ihr eine Verzweiflung gegenüber jeder Art von »Rundumbewachung« und ein unbestimmter »Hass, von dem sie nicht weiß, wogegen er sich richten soll«, wie sie sich eingesteht. Erneut denkt sie an Flucht, wovon sie aber von vorneherein weiß, dass diese ihr nichts nützen würde, »denn ich habe sie überall vorgefunden, die Jean-Medici-Spielereien, ob in Spanien, Italien oder Deutschland – das Leben verwandelt sich zurück in einen Alptraum, und dies ist das Protokoll dieses Alptraums, der kein Traum ist«. (ebd.) Signifikanterweise tauchen solche Stellen oft zusammen mit der Beschreibung ihrer Beziehung zu nahen Personen auf, so dass sich hier Anzeichen einer Art Bindungsangst zeigen könnten. Bei aller Einschränkung bleibt die Beziehung zu Bohrer dennoch einigermaßen stabil. Zudem verläuft eine Art »geheimer«, indirekter Kommunikation über das Anstreichen von Stellen in Büchern, die sie beide gelesen haben:

320 In einem Brief an Christian Döring vom 13. 02. 1995 heißt es dazu: »Die Auseinandersetzung mit der literarischen (künstlerischen) Darstellung von Gewalt spielte eine Rolle, die Auseinandersetzung mit Peter Weiß, de Sade, Francis Bacon, Bataille, und die Frage nach dem Stil der Evokation und nicht von Zukleistern in der Benennung/Beschreibung.« (unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr) 321 Alle seine Frauen hätten eine andere politische Haltung (gehabt), hat Bohrer einmal betont.

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»12. Juli 1992. [Jahreszahlergänzung SW] Las gestern in der Rue des Gatines alle Stellen, die B. angestrichen hat. »Du bist allein. Eine Frau zu haben, die mit dir spricht ist nichts. Es zählt nur die Umarmung der Körper (8, Februar 1946). Ich hatte angestrichen: »Du wirst nie kämpfen.« (1. Januar 1946) (AS, 461)

Darüber hinaus wird ihre Beziehung zu Bohrer von Gruenter oft in einen Zusammenhang mit Träumen, nicht selten Alpträumen, gebracht. Wieder spielen Telefonanrufe genauso wie Erinnerungen eine große Rolle. Aus verschiedenen, ihr bekannten männlichen Personen, setzt sich Gruenter Personen in Träumen zusammen, wie sie es in »Der Autor als Souffleur« preisgibt. Wiederum wird das ästhetische Prinzip des Umkreisens von Personen im Sinne einer Art von Personendiffussion virulent, indem die geschilderten Figuren deutlicher werden und dann wieder verblassen, respektive Anteile von anderen Figuren bzw. einer früheren Existenz aufweisen:«25. Oktober 1992. [Jahreszahlergänzung SW]. Nachmittags: Anruf des frühen Bohrers der 70er Jahre – Frage: Undine? (AS, 467) Oder an einer anderen Stelle, fast genau einen Monat später, liest man: »27. November [1992, Jahreszahlergänzung SW]. Traum. Ein gewisser Herr Stock, zusammengesetzt aus mehreren mir bekannten männlichen Personen, sagt. »Du wirst so lange Stockschläge bekommen, bis du sagst: »ich liebe meinen B.« Dazu werde ich noch im Grab nichts sagen.« (AS, 471f.) Fast wie ein surrealistischer Traum in bester Bunˇuelscher Manier klingt kontrapunktisch dazu die zitierte Passage zu Bohrer aus, bezogen auf eines ihrer Werke: »Wer ist Dr. Folamour? Fo_l Ámour, Fo. L’amour? Fo ist B. Im Paris-Text. L’Amour ist die unsichtbare Figur in Epiphanien, abgeblendet. Mur ist Mauer.« (AS, 479) An einer anderen Stelle spricht sie von der Abfassung eines »Protokolls der vergangenen Nacht« (AS, 53). Sie beschreibt dort, wie Bohrer ihr im Traum als jemand erscheint, der sie zusammen mit einer anderen ihr bekannten Person (Si.) zur Rechenschaft zieht (AS, 492f., 11. Juni 1986). Abschließend bleibt wichtig zu erwähnen, dass mit Bohrer offensichtlich viele oder besser gesagt quasi alle Orte in Gruenters Leben verbunden sind, jene Orte, die im Folgenden gesonderte Betrachtung erfahren sollen.

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Zur Person Undine Gruenters

4.5. Gruenters Orte »Das Thema von gestern: Schlösser. Schlösser haben mit Schulen der Angst zu tun. Weshalb ich mich für Schlösser interessiere, nachdem ich nie etwas hatte, um meine privaten Sachen abzuschließen, auch die Wohnungen in Wuppertal, Bonn, Mühle, Rue Lapeyrère nie besonders geschützt, hängt mit dem Hochkommen der alten Geschichten zusammen.« Undine Gruenter (AS, 400)

Ohne auf den großen Philosophen aus Königsberg oder auf Kafka, Kästner o. a. zu verweisen, steht Undine Gruenter doch in einer Tradition deutschsprachiger Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die nicht gerne weit oder überhaupt gereist sind, so paradox es sich trotz ihrer großen Paris-Liebe und ihres langjährigen dortigen Aufenthalts anhören mag. Die Autorin hat sich in keinem sehr großen Radius bewegt. Sie spricht in diesem Kontext von der ersten Pariser Wohnung und ihrem »Zimmer am Hinterhof« als »ihrem Ort« (AS, 125f., auch 120: »Die Nacht im Stein-Hof.«), von einer Existenz im kleinsten Umkreis. Im Grunde kreisen die Werke und Orte ihres Lebens um Paris und die Normandie (Trouville, Honfleur und Deauville), Südfrankreich (Perpignan, das Beaujolais oder die Gegend um Montpellier und Aix-en-Provence, Avignon322, Arles323 oder Alyscamps324) und um Orte des Rheinlands. Es gibt ein paar Hinweise auf Aufenthalte und kürzere Reisen nach Spanien (insbesondere Katalonien z. B. nach Porte de la Selva (AS, 350), einem kleinen Küstenort in Katalonien, an den Golf du Lion an der Costa Brava an die Grenze zum Parc Natural del Cap de Creus, nach Barcelona (AS, 352) oder nach Murcia (AS, 368). Daneben werden frühere Reisen nach Italien (offensichtlich mit dem Vater nach Rom, später eine weitere Reise nach Rom, wohin sie Bohrer zu einer Einladung begleitet, nach Pienza, Asolo und Montepulciano, AS, 125325) bzw. wiederholt England (überwiegend London, z. B. AS, 158f.326) nennt, wo sie unter anderem Bohrer besucht. Ansonsten finden sich 322 AS, 214. 323 In Arles, am Boulevard des Lices: »Immerhin lautet das Lied des Troubadours heute in Arles, am Boulevard des Lices, mit Saxophon und Gitarre. Take five und How high the moon. »(AS, 207) 324 AS, 209ff.: »Säulenstümpfe im Gras. Morgen: Alyscamps. In den offenen Sarkophagen welke Blätter und Pinienzapfen. Eine Allee der Seligen, eine Allee von Steinen und Bäumen. […] Antikische Ruhe – keine 19. Jahrhundert-Atmosphäre von gothischem Todeskult. […] Der Tod gewinnt sein heidnisches Antlitz zurück […].«. Vgl. AS, 222: »26. September 1988. [Jahreszahlergänzung SW]. Die Sarkophage in den Alyscamps sind gebaut wie Schiffe, und die Toten überqueren in diesem Schiffen den Styx. So jedenfalls schien mir heute die antike Todesmetaphorik mit dem in Stein Gehauenen übereinzustimmen.« 325 AS, 125: »[…] Erinnerungen an Sommer in Pienza und Asolo und Montepulciano, an den Geburtstagssommer im Schloß Favorit. Diese ganze, heitere, oberflächenhafte, elegante Vaterwelt. Diese leeren Schlösser, träge Sommernachmittage im Champagnerrausch.« 326 Hampstead, Putney, St. Johns Street, in: AS, 158ff.

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in ihrem Werk kurze Reminiszenzen während der Zugreisen nach Frankreich an Belgien, hier in erster Linie an Brüssel, die »auf immer verlassene Stadt« (AS, 248) oder die flandrische Küste und die Städte Gent und Brügge. In unveröffentlichten Werken tauchen außerdem Rouen, Marseille, Epernay (eine unveröffentlichte Erzählung mit dem Titel: »Champagner aus Epernay), Oxford und mit Wales, die englische Küste, auf. Unter dem Titel »Besuch in Oxford« aus der unveröffentlichten Prosasammlung»Nachrichten aus einer Paprikaschote« heißt es da: »England-Zeit: Eine deutsche Familie macht Ferien in Wales, Wonnen der Landschaft, Brombeerhecken und alte Eichen, sanft schlängelt sich der River Dee unter Bruchsteinbrücken, Snowdonian Country und Heide, in einsamen Höhen grasende Schafe, Sheep-Dog-Trial: Fish & Ships, um sich vor englischem Essen zu ekeln, Toast, köstliche Salzbutter & Orangenkonfitüre, Flöhe im Bett, zerlesene Agatha-Christie-Romane und rauchende Kamine, Und ein Dorfidiot, der guckt über die Hecke […]. England- Zeit: eine deutsche Familie besucht Freunde in Oxford, Gelehrte unter sich, Kafka-Forscher, jüdische Familie, die nach England emigriert ist. An englischen Colleges gibt man sich einfach – höchstens der kleine Wappenring am linken oder rechten kleinen Finger verrät eine noble Herkunft.«327

Auf den Spuren von Sartre und Beauvoir, die zunächst in Le Havre Lehrer waren und später in Rouen wohnten, als Sartre dorthin versetzt wurde, fährt sie mit Bohrer nach Rouen; sie steigen im Hotel du Parc ab, in der Nähe des Bahnhofs. Darüber hinaus beschreibt sie eine Reise nach Marseille, erneut mit Anspielungen auf die Literatur: »In Marseille landeten wir in einer Spelunke, das letzte Zimmer war frei, gleich neben dem Eingang, dem Flur gelegen, und man würde die ganze Nacht die grölenden Stimmen und das Getrampel der Gäste hören, die aus und ein gingen. Am Ende warfen wir einen Blick auf den berühmten Hafen von Marseille, tranken zum Menü in einer Brasserie zwei Liter Rotwein und bekreuzigten uns, als wir, nach einer langen Reise, die ganze französische Mittelmeerküste entlang, ins Bett fielen. (Am nächsten Tag:) Teerosenduft – ein Hauch im Zimmer, fast wie in Romanen untergehender Epochen, wenn das Haus schläft, Mittagsträgheit, die knarrenden Bohlen ergreift, der Kater zusammengerollt auf dem Sofa liegt.«328

Deutschland respektive deutsche Orte kommen im Werk Gruenters eher marginal vor, und wenn dann vorwiegend im Frühwerk, zudem nicht besonders positiv konnotiert. Neben den genannten und in den Einzelanalysen behandelten Städten wie Wuppertal, Düsseldorf, Köln, den »Städten des Ruhrgebiets«, werden zudem noch Frankfurt/M. (AS, 229) und die »Lichtenthaler Allee« in Wiesbaden genannt (AS, 85). Sie hat sich zu Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn viel von Berlin versprochen und reist später noch mal dorthin, mit durchaus ge327 Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Kleine Prosa. 328 Ebd.

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mischten Gefühlen329, und entwickelt, nicht zuletzt durch ihre Benjamin-Lektüre der »Berliner Kindheit um 1900«, eine Erwartung, die sich aber dann nicht einlöst (im Sinne von Benjamins »nachträglichen Zukünftigkeit«): »17. Februar 1989. [Jahreszahlergänzung SW] Manchmal denke ich an jene Frau, die im Oktober 1986 voller Illusionen und Leidenschaft nach Berlin fuhr. Einerseits bin ich froh, wieder im Besitz meiner selbst zu sein. Andererseits ist es traurig, daß diese so naive und erwartungsvolle Frau nun für immer verschwunden ist – und mit ihr dieser ganze Tumult von Gefühl. (Ich muss versuchen, das eines Tages, im Text, wiederauferstehen zu lassen, wie S.d.B [Simone de Beauvoir; SW] das kleine Mädchen, das sie einmal war, in den Memoiren einer Tochter aus gutem Hause.« (AS, 275)

Zu Köln, wo sie es später zusammen mit Bohrer noch einmal probiert, sich an einem Ort in Deutschland anzusiedeln (vgl. Kap. 0.330), heißt es: »14. Juli 1989. [Jahreszahlergänzung SW] Im Zug von Köln nach W. (W. wird nur W., nicht Wuppertal genannt, aus Angst vor der totalen Provinz, der Sektierer und der »Inzucht«, die sie selbst erwähnt). Untersuchung bei der Ohrenärztin; Gehör hat sich meßbar verbessert. (nach Hörsturz). Köln in der Innenstadt ein einziger Rummelplatz. The show must go on. Die Städte niemals leer. Nirgends Stille. Schildergasse und Hohe Straße gepfercht voll von Menschen. Holländer, Amerikaner, Touristenbusse. Sommerliche Kaffeefahrten. Im Abteil unterhalten sich drei Angestellte der Bundesbahn: Im Spielklub spielen Direktoren, Ministerialräte um Posten. Keine Rolle unbesetzt. Man ist ganz Mensch.»331

Festzustellen ist also, dass sich Gruenters Lebenskreis in einem kleinen Radius vollzog, der sich auf Orte in Frankreich, Deutschland, England, Spanien und Italien (hier nur ganz wenige) erstreckte.332 Insofern ist das für ihr Werk bedeutsam, als dass sie aus einem kleinen Bewegungskreis eine große Bezüglichkeit herstellte, dass sie vor allem am Ende ihres Lebens auf immer kleinere Räume angewiesen war, aus denen sie dann großflächige und weitumspannende Literatur schrieb und darin die Orte zugleich motivisch und symbolisch eingrenzte (geschehen durch das Motiv des Labyrinths etc.) Auf die Pariser Orte wird in den Kapiteln zu den konkreten Werken noch genauer eingegangen wie etwa den Park von Bagatelle (AS, 193 u. 383333), den Quai Tournelle (AS, 266), den Quai d’Orleans (AS, 276) oder die ˘Ile Saint Clou 329 Vgl. AS, 275, Oktober 1986, und AS, 472, Spandau, Schöneberg (in der Grunewaldstraße 25), Charlottenburg, den »Winterpark«. 330 Zudem wird die bekannteste Straße von Köln, die auf den Dom zulaufende Einkaufsmeile, die Hohe Straße, sehr negativ beurteilt vgl. AS, 187. 331 AS, 117f., 494. 332 Die Länder der früheren Grand Tour. 333 Ebd.: »Draußen ist ein wunderbarer Tag, ein Tag für Bagatelle.« Bagatelle ist ein kleiner Park im Bois de Boulogne, ganz im Westen von Paris gelegen (16. Arr.), mit einem kleinen Schloss und einem bekannten Rosengarten (einer der vier Botanischen Gärten von Paris).

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(AS, 276). Deshalb ist an dieser Stelle nur eine Kurzbeschreibung vorangestellt. Wie für so manch andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller war Paris für Gruenter in erster Linie eine »Stadt des Auges«. Für Gruenter bedeutete – hierin wieder Rilke ähnlich – »Paris, eine Schule des Sehens und der Realität« (AS, 257 u. 260f.). Zum einen nennt sie die französische Metropole ein »Labyrinth« (AS, 259), zum anderen ist die Metropole der einzige Ort ihres Lebens, an dem sie so etwas wie »Heimat« findet (AS, 161, von der geistigen Beziehung zu Karl Heinz Bohrer einmal abgesehen). Zugleich wird sie aber dort von »phantastischen Figuren« begleitet. In dieser Dialektik von Nähe und Ferne, von Näherkommen und Sich-wieder-Entfernen, von Heimat und Verfremdung entwickelt sich diese ästhetische »Schule des Sehens in Paris« (AS, 261), die absolut zentral für das künstlerische Werk der Autorin geworden ist. Neben den drei Wohnungen, die sie gemeinsam mit Bohrer bewohnte, mieteten sie im Laufe der Zeit zwei Schreibwohnungen an, die sie bzw. Bohrer zum Arbeiten bewohnten, u. a. ober- und unterhalb von Sacre Coeur, in der Rue de Gabrielle nahe der Rue du Mont-Cenis. Einmal beschreibt sie, wie sie von dort zu Bohrer in die Rue Lapeyrère fährt: »Ich fuhr also unter Tränen zu B. in die Rue Lapeyrère, um mich seines menschlichen Vertrauens zu vergewissern, und wir verbrachten den Tag miteinander. Während wir auf den Eiffelturm stiegen, mit dem Boot auf der Seine fuhren, vom Invalidendom zu Fuß ins Marais gingen, dort in La Perla, einem südamerikanischen Café, Wein tranken und am Abend in dem Restaurant am Quai de Tournelle saßen – überall begleiteten mich phantastische Figuren, unter einer Seine-Brücke gab’s sogar ein Saxophonkonzert, und in der Nacht zogen die Gestalten von den Fenstern von La Perla vorbei.« (AS, 265f., vgl. auch AS, 267)

Frankreich, aber besonders Paris, stellt den großen Gegenentwurf zur deutschen Kultur dar. Gruenter verweist darauf, dass der Aufenthalt in Paris für sie sowohl als Person als auch für ihr Schreiben existentielle Bedeutung hatte, in psychooder sollte man sagen »kulturpsychologischer« Hinsicht334: »Was das Gute an Paris ist – ich habe nicht mehr diese abgrundtiefe, mörderische Verzweiflung in mir wie die letzten Jahre in Deutschland. Was das Schreiben betrifft: ich bin auf dem Weg, mich aus der ausgedünnten Somnambulität zu lösen. mehr Welt. Die Anlage, das Absolute zu erwarten. Immer noch hoffen, daß noch etwas anderes sei – die Entgrenzung, das Glück, die Ekstase, das Absolute – in der alltäglichen Welt.« (AS, 134)

Die Journalistin, Essayistin und Literaturkritikerin Dorothea Dieckmann sieht eine Verbindung des Topos von Paris, d. h. einer Literatur einer bestimmten Zeit und Epoche, mit der Schreibweise Undine Gruenters: 334 Es erscheint keinesfalls als unproblematisch, von »Kulturpsychologie« überhaupt zu sprechen, vor allem aufgrund eines, des in diesem Kontext vertretenen, angreifbaren Kulturbegriffs. Vgl. Hansen (2009), 55ff.

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»Paris, der mythische Raum, dessen Topografie die transitorischen Kategorien der Moderne aufbewahrt – die Architektur von Passage und Perspektive, der Flaneur als intellektueller Nomade, der Schock als Wahrnehmungsform –, diese Stadt der Künste hat ihre utopische Ausstrahlung in dem Maß eingebüßt, in dem die ›Kultur‹ zum Behälter für Erlebnisinhalte, für versöhnliche Erbauung und naive Unmittelbarkeit wurde. Wer sich aber, wie Undine Gruenter, an Proust, Breton und Bataille, Simon und Duras orientiert, wem zum Zeitgeist nur einfällt, es sei ›nichts wichtiger, als sich von ihm fernzuhalten‹ wie es in ihrem Arbeitsjournal Der Autor als Souffleur heißt – der mag dort auch noch im 21. Jahrhundert zu Hause sein, und sei’s, weil das Schreiben kein Zuhause kennt.« […] (Dieckmann 2003)

Oftmals handelt es sich aber um ein durch die Kunst vermitteltes Paris, über Bilder von Moreau oder Seurat335 (aber auch Delacroix, Sardanapal, AS, 23), wie sie beispielsweise in »Der Autor als Souffleur« bekennt, wo es in Bezug auf das von Gustave Moreau dargestellte Paris heißt336, das dies zugleich ihre Wahrnehmung leite337 und als künstlerischer Einfluss in Hinblick auf ihr »hyperrealistisches Schreiben« gelten kann. Es handelt sich dabei um ein »leeres Paris« wie auf Bildern von Eugène Atget: verlassen, einsam und kalt. (AS, 25–27f.) »Kaum Menschen. Manchmal geh ich auf die Straße. Ich sitze viel in meinem Zimmer. Ich wohne hoch oben über der Stadt, auf einem Berg, im Dachboden eines Hauses. Die kleinen Fenster gehen auf den Platz. Die Häuser: hochstöckige, klassizistische Bauten, weiß verputzt oder aus rotem Backstein. Das Haus in der Mitte, an der Stirnseite des Platzes, trägt einen dreieckigen Giebel. Hinter der schweigsamen und strengen Geometrie des quadratischen Platzes, über den Dächern, ragt die Randzone der Stadt hinein. Schornsteine, ein Kirchturm, handtuchschmale, aneinandergereihte, bunte Häuserfassaden von unterschiedlicher Höhe, deren obere Dachlinie sich in einem wirren Zickzack vor dem Himmel abhebt, sich mir den davor und dahinter liegenden zu einem Flickwerk verschachtelt. In der Mitte des Platzes eine Anlage. Kein Rasen, son-

335 AS, 27: »Beim Betrachten der Bilder, der Zeichnungen von Seurat. Dieser fast schon abstrakte (schon an Collage und Kubismus erinnernde) Aufbau der Bilder, Vorherrschaft der Vertikalen. Hintergründige Starre. Hermetische Landschaft, hermetische Figuren, sie stehen im Raum – aufgebaut aus Zylinder, Kubus, vertikaler Linie, Halbkreis – verteilt wie Holzschnitte, wie Schachfiguren, wie ägyptische Statuen, wie die strengen Plastiken der Khmer. Ein Schornstein, eine Kette von Segelmasten, die typische, leicht gekrümmte Linie eines Baumstamms, einer Gaslaterne, ein Leuchtturm. Die tatsächliche oder nur menschenleer wirkende Szenerie am Kai von Port-en-Bassin, am Kanal von Gravelines. Brücke, langgestreckter Pavillon, Molen sind die Horizontalen, 3 Menschen im Vordergrund, Gaslaternen an der Promenade, Pflöcke, Häuser + Schornsteine die Vertikalen.« 336 Eine Gegenführung liefert Hazan (2006, 58ff.), der behauptet, dass Paris nicht in den Bildern, sondern nur in den Zeichnungen und Karikaturen zu sich kommt. 337 Ein sehr zeitgenössischer Gedanke findet sich im Übrigen hier, inwieweit und dass überhaupt »Medien«, in dem Fall Werke der Bildenden Kunst, unsere Wahrnehmung leiten, eine Position, wie sie von der modernen Gedächtnispsychologie (Schacter, Markowitsch, Welzer etc.) vertreten wird. Vgl. Anmerk 516, 564.

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dern Erde und Sand, am Rand Büsche. Eine Reihe alter Bäume, ohne Ordnung über den Platz verteilt.« (AS, 25)

Überraschenderweise schreibt Gruenter nicht, dass sich Orte und Personen in ihrem Werk wiederfinden, sondern umgekehrt, dass sie Personen etc. ihres Werks in Paris wiedererkennt: »Ver-rückung der Realität in eine Inszenierung; quer durch Paris sehe ich Figuren aus meinen Erzählungen: Doppeleffekt: unterhaltend und kathartisch: spiele die eigenen Ängste (Phantasien) so oft durch, bis du sie los bist. Zeichensystem total. Inkarnation der Abwesenheit.« (AS, 199)

Als Orte können verschiedene Lokale herangezogen werden wie das Restaurant Julien (AS, 266), das Restaurant Rostand, das Café La Perla (z. B. AS, 303, 267, mit ME (Mechthild Kalisky)338, Ka (Karin Westerwelle), die »Existentialistencafés« Les deux Magots bzw. das Café de Flore, das Bistro La Tartine im Marais339 (AS, 304, 306 u. 308: Les Feuillantines), aber vorzugsweise immer wieder die Bar au Rêve im 18. Pariser Arrondissement, die bis heute in der Rue de Caulaincourt 89 existiert und zentral für die der Titelerzählung des Erzählbands »Das gläserne Café« ist. »Immer wieder trifft mich das Verfließen der Zeit wie ein Messerstich (seltsam: dieses widersprüchliche Bild: Fließen und Stich, langsam, kontinuierlich und plötzlich, Sanftheit, aber auch Betäubung) und Brutalität (aber auch Erwachen): die Bar au Rêve, wann habe ich sie entdeckt? Im Dezember? Zehn Monate – das Schlimme. Es ist die objektive Zeit, nicht die psychische. Vielleicht könnte man sich sonst besser abfinden?« (AS, 216)

An einer anderen Stelle beschreibt sie, wie sie mit B., also Bohrer, dorthin kommt. Es heißt dort, dass es von nun an nicht mehr schöner werden könne als in der »Rue Caulaincourt am Abend«340: 338 Mit der Freundin Mechthild ist die Bildhauerin Mechthild Kalisky gemeint, die aus Wurzen in Thüringen stammte und mit dem belgischen Schriftsteller und Bühnenautor René Kalisky verheiratet und zunächst wegen ihm in Paris geblieben war. Vgl. hierzu auch: Fey (2011), 144. Kalisky hatte bis mindestens 2017 bedeutende Ausstellungen als Bildhauerin, vorwiegend in Paris, aber auch in Deutschland und u. a. auch in Warschau in der Galerie Apteka Sztuki. Unter https://vimeo.com/184414390 ist auch ein Bericht über eine Ausstellung von Juni bis Oktober 2016 im Studio Paris, Rue Androuet 2–6 und Rue des Trois Frères 54 abrufbar. 339 Im Tartine »treffen« sich auch Soudain und Equlibre bei ihrer letzten Verabredung. (VS, 218ff.) Gruenter bezeichnet das Marais verschiedene Male als »ihr Viertel« (AS, 258, 260, 305f. und 308). Undine Gruenter mietete sich für einige Zeit ein Zimmer im Marais, in der Rue de Saintonge. Nach unbestätigten Hinweisen hatte sie im Marais noch ein Zimmer bzw. eine Art chambre de bonne vor dem Zusammenwohnen mit Bohrer. 340 Hazan (2006, 309f.) beschreibt diese Gegend auf äußerst prägnante Weise. »Zwischen dem Boulevard de Clichy und dem Boulevard Rochechouart im Süden sowie der Rue Custine im Norden mischten sich auf dem Hügel von Montmartre unentwirrbar das Beste und das Schlechteste, das hier zugegebenermaßen besser bzw. schlechter ist als anderswo. Un-

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»Komme mit B. aus der Bar au Rêve. Früher Abend, Lichter, Herbstblätter. B. sagt: »Also du mußt wissen, schöner kann das Leben nicht mehr werden als hier, jetzt, das ist es. Das musst du wissen.« Ich: »Oh ja, es gibt nichts Schöneres als die Rue Caulaincourt, am Abend, sieh nur.« Ein Mann, mit Einkaufstasche, kommt mir entgegen, sieht mich an, fixiert mich, hört, was ich sage, sagt als Antwort im Vorbeigehen. »Regardez«. (AS, 243) (vgl. auch Rue D’Assas, AS, 319, Jardin du Luxembourg, AS, 325, Rue Alésia, AS, 380)

Überhaupt sind die Abende in der Bar au Rêve (oder im südamerikanischen Restaurant La Perla) und die Gespräche mit Bohrer mit die lebendigsten im Leben von Gruenter in Paris341, was sie dazu bringt, darüber zu schreiben.342 Es sind die konkreten Orte und deren Beschreibung, die Undine weiterhin antreiben: »31. Oktober 1991. [Jahreszahlergänzung SW] […] und die Bäume auf der Montmartretreppe neben dem Funiculaire (die Vorlage für Photo-Sujets) sind so frisch wie September, die Sonne vor Sacre-Coeur wärmte plötzlich wie an manchen Wintertagen, und der Gang die Rue Caulaincourt hinauf war wie ein langes Aus- und Einatmen, Einatmen von Luft, Wolken, Rinnsal der Rinnsteinbäche, dem Herbstflimmern in den braunen Kastanien vor der Bar au Rȇve, von Freiheit […]. Vor der Bar au Rȇve standen zwei Tische mit unbesetzten Stühlen, die Madame herumrückte, die Bar war leer, frischgestrichen, mit den alten Kupfertöpfen an der Wand und einem Photo von Doisneau zwischen den Spiegeln. Im Etoile war es, gegen ½ 12, noch leer, der Saal atmete einen Geruch von Frische, die mit weißem Papier gedeckten Tische, die umgedrehten Gläser, und durch die offene Tür zur Küche konnte ich die schwatzenden Frauen der Familie sehen mit blauen gebundenen Schürzen, während der Mann am Tresen mir die Hand reichte und meinen Express vorsetzte.« (AS, 438f.)

Bei der folgenden Beschreibung hat es fast den Anschein, als hätte sich Gruenter einige Fotos des ungarischen Fotografen André Kertesz zum Vorbild genommen (vgl. dazu auch AS, 162), der seit 1926 in Paris wirkte und mehrfach die Place Gambeta im Regen ablichtete (wenngleich ohne Bäume). Die Autorin hatte ein

entwirrbar: Die ganz besondere Topographie mit den Klippen, Schluchten, Geröllhalden, Schlünden und den offenen Steinbrüchen – etwa derjenige, der später zum Cimétière Montmartre werden sollte – haben den Montmartre-Hügel in ganz kleine räumliche Einheiten aufgesplittert, getrennt, verbunden und durchquert von Treppen und winzigen, gewundenen Sträßchen. Die Furcht vor dem Schlechten, vor Menschenmassen und Reisebussen, läßt vieler Pariser einen weiten Bogen um Montmartre machen. Sie wissen nicht, was ihnen entgeht.« 341 Er hält sie für den »lebendigsten Menschen, den er kennt.« (AS, 90) 342 Vgl. zu Les deux Magots und das Café de Flore: Bakewell (2016). Im Café de Flore wird seit 1994 der von Frédéric Beigbeder begründete Literaturpreis Prix de Flor an besonders begabte Nachwuchsautorinnen und -autoren vergeben. Vgl. dazu auch: Christophe DurandBoubal: Café de Flore: Mémoire d’un siècle. Paris: Indigo & Côté 1993. Es wird hier dazu noch ein weiteres Restaurant, das L’Etoile (de Montmartre), und wiederholt das Rostand, genannt.

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Faible für Fotos von Orten (Atget, Brassai, Doisneau343, Kertesz, Man Ray etc.344), vorwiegend für Schwarz-Weiß-Fotos, d. h. für die so hergestellte Verfremdung von Fotos. In diesem Kontext spricht Undine Gruenter einmal mehr von ästhetischer Verfremdung, was Paris so nah wie örtlich zugleich weit entfernt erscheinen lässt: »Am Place Gambetta tropfen die Bäume vor Regen, und die Sitze im Bus sind angenehm klamm, angenehm, weil, im Regen verfremdet, der Platz, die Straßen, die Fahrt etwas von einem Ausflug bekommt – eine kleine Reise durch die Hügel – ja welcher südfranzösischen Landschaft? Richtung Pelleport, Places des Fȇtes: eine Mischung aus weinlaubumrankter Provinz-Idylle und Hochhausklotz-Brutalität. Das Idyllische und das Kaputte (das Kurz-vor-dem-Neue) […]; viel weiter als im 18., das rasanter, lauter, großstädtischer wirkt. Montmartre ist auf Paris zugerückt […], seit es um die letzte Jahrhundertwende gerodet wurde, denkt man an die Avenue Junot, ist es elegant wie eine reiche alte Erbin mit Sitz am Boulevard Haussmann […] Die Gegend um die Place Gambetta, die prächtige Mairie, das Theater, die Rue des Pyrenées mit ihren Bäumen und Läden hat auch etwas von der Hauptstadt eines französischen Departements […].« (AS, 460)

Die »schönsten Spaziergänge« in Paris, die sie so liebte, so lange der Fuß noch nicht schmerzte und sie noch einigermaßen gehen konnte, haben oft etwas mit dem Himmel, dem Wasser (der Seine, den Kanälen), den Bäumen, den Brücken, den Monumenten und in diesem Fall mit Lastkähnen zu tun. Es handelt sich wiederum um die Schilderung eines einsamen bzw. vereinsamten, verlassenen Paris (in dem scheinbar keine Menschen oder Passanten existieren), an dem aber die Spuren menschlicher Tätigkeiten im Sinne eines traditionellen Kulturbegriffs345 noch vorzufinden sind. Man ist versucht von einer Art »poetischen Realismus« im Sinne von Eugène Dabit oder Marcel Carné mit anderen Mitteln zu sprechen. »Geht man die Rue Vieille du Temple in Richtung Seine und überquert die Brücke Louis Philippe in Richtung Île St. Louis, so hat man, jetzt im April, gegen Abend, den schönsten Blick auf den Quai linker Hand (Quai de Bournon, Quai d’Anjou). Am Hang des Seineufers wachsen, bis über das Niveau der höhergelegenen Straße, Bäume – jetzt: maigrün, licht, was man in Deutschland das »Junge Grün« nennt. Die Strecke zwischen Pont Louis Philippe und Pont Sully, an der Spitze, und, in umgekehrter Richtung, auf dem Weg zurück die Strecke am Quai de Bethune, mit dem Blick aufs linke Ufer, mit alten am Ufer liegenden Lastkähnen, das sind nie vielbesuchte, schönste Straßenspaziergänge von Paris.« (AS, 307)

343 Das berühmte Foto von Doisneau Le Baiser de l’Hôtel de Ville als Poster im Zimmer wird konkret in der Erzählung »Wie war der Himmel blau« aus »Nachtblind« erwähnt (NB, 5). 344 Vgl. zu den »surrealistischen Fotografen«: Hazan (2006), 575f. 345 Im traditionellen oder klassischen Sinne des »colere« als »anbauen, pflegen, bebauen«.

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Trouville im Arrondissement Lisieux, das Seebad an der Normandie wird in diesem Zusammenhang sowohl von Bohrer als auch von Gruenter als eine Art »Geheimtipp« bezeichnet. Tatsächlich ist es im Gegensatz zu Deauville, das vom Reißbrett entworfen wurde, ein gewachsener, ursprünglicher Fischerort.346 Allerdings ist der Ort bereits relativ früh als Ort der Touristen und als Ort der Maler des Impressionismus347 wie die gesamte Côte Fleurie »entdeckt« worden. Zudem ist es relativ früh »poetisiert« bzw. »literarisiert« worden348, wenn man an Namen wie Marcel Proust oder Marguerite Duras denkt. Horkheimer beschreibt den Ort bereits 1934 als einen Ort der »Millionäre und der Großbourgeoisie«349, weshalb hier das berühmte Hotel Roches Noires350 gegründet wurde351, wo Marcel Proust – für ihn war es ähnlich wie Cabourg die Vorlage für das fiktive Balbec im Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« – oder Marguerite Duras verkehrten, die im Hotel eine Wohnung besaß und die beide Trouville endgültig populär machten.352 Alle weiteren Orte der Undine Gruenter werden konkret in den Einzelbesprechungen der Werke berücksichtigt, u. a. das Retreat an der Marne (aus: »Der verschlossene Garten«). Hervorzuheben wären hier noch ihre Ausflüge nach Südfrankreich, an die Rhone353, Avignon oder den »mythischen Ort des Todes« Alycamps. Es sind vor allem ihre meisterhaften Miniaturen, die sie von konkreten Orten entfaltet, wie vom »Jardin du Luxembourg«, um auf diese Weise abschließend in der Beschreibung wieder nach Paris »zurückzukehren«: »Hier setzt sich, 14.23, im Jardin du Luxembourg, ein schwarzgepunkteter Zitronenfalter auf die linke Ecke dieses Heftes, während ich unter einem Trompetenbaum sitze und auf dem Rasenrondell vor mir 5 Rasensprenger in verschiedenem Rhythmus, Sprengweite und Tonlage den Rasen, Blumen und Büsche befeuchten.« (AS, 413)

346 Betz weist allerdings zu Recht darauf hin, dass man von Deauville nicht die Ölraffinerietürme von Le Havre sieht wie von Trouville aus. Deauville war auch Schauplatz einiger Filme wie z. B. Mord auf dem Golfplatz (The Murder on the Links) nach Agatha Christie mit David Suchet (1996). 347 In der der Nähe von Honfleur, auf der Ferme Saint-Siméon entstand eine kleine Künstlerkolonie, zu der Gustave Courbet gehörte, der im Werk Gruenters ebenfalls auftaucht –, vor allem aber Claude Monet (den Gruenter nicht explizit nennt) und Eugène Boudin (allerdings in Honfleur geboren und in Deauville gestorben, der als 10-jähriger Junge auf der Dampffähre von Le Havre und Honfleur arbeitete), den Gruenter ebenfalls nennt. 348 Vgl. die Differenzierung bei Wilhelm Gössmann/Klaus H. Roth: Literarisches Schreiben aus regionaler Erfahrung: Westfalen – Rheinland – Oberschlesien und darüber hinaus. Paderborn: Schöningh 1996 (hier vor allem die Einleitung). 349 Max Horkheimer: Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland [1934]. Hg. v. Werner Brede, Einleitung von Alfred Schmidt, Frankfurt/M.: S. Fischer 1974, 48–250. 350 Cordula Sege: Grand Hotel: Bühne der Literatur. München/Hamburg: Dölling und Galitz (2007), 61. 351 Im Zuge der Bauarbeiten des Spielcasinos von Eugène Cornuche. 352 Vgl. hierzu: Marguerite Duras (1984), (1982), (1991) und Marcel Proust (31988). 353 AS, 224: »[…] auf der Treppe an der Rhone sitzend«.

Stille letzte Jahre, früher Tod und lauter Nachruhm

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4.6. Stille letzte Jahre, früher Tod und lauter Nachruhm »Das tiefe Licht eines Augusttages in den dunklen Blättern der Bäume, der Hecken und Büsche – das ist einer der immer weniger werdenden Gründe zu leben.« Undine Gruenter (AS, 50)

Undine Gruenter starb mit 50 Jahren an den Folgen der zuvor genannten, seltenen, aber unheilbaren Krankheit ALS354, wogegen es bis heute kein Heil- oder Gegenmittel gibt. Es ist davon auszugehen, dass sie um ihren bevorstehenden Tod wusste und ihr bewusst war, dass sie nicht mehr lang zu leben hatte. Dennoch macht sie die Krankheit nicht zum Thema ihres Werks, es gibt nur einige wenige Stellen im Werk, die Tod und Krankheit direkt thematisieren. Die Krankheit kommt fast gar nicht, der Tod öfter vor, z. B. im Zusammenhang mit Batailles Konzeption oder mit Ionescos »Journal en miettes« bzw. in der Passage, wo sie über Bohrer schreibt.355 Die letzte Zeit Gruenters war von der fortschreitenden Krankheit geprägt. Sie schreibt, dass sie seit den 80er Jahren an stark von Depressionen, heimgesucht wird (AS, 277), die sich nun noch verstärken, und führt in diesem Zusammenhang ihre über Jahre anhaltende Auseinandersetzung mit dem Selbstmord bzw. mit der Literatur oder »Literaten und Schriftstellern des Selbstmords« an: »22. Februar 1989. [Jahreszahlergänzung SW]. Es gibt zwei Arten, das Selbstmordmotiv in der Literatur zu verwenden: die einen (wie Pavese, Améry) spielen vorher in ihren Texten durch, was sie hinterher in die Realität umsetzen. Die anderen (s. Goethes Werthers Leiden) schreiben den Selbstmord und befreien sich dadurch sowohl davon als auch von der Geschichte, die der Anlaß, natürlich nie der Grund, der liegt in der Psyche selbst, gewesen ist. Ich glaube eher, ich gehöre zur letzten Sorte. […] Was meine Depressionen in den letzten zwei/drei Jahren angeht. Verstrickt in einen absurden Mechanismus von Hoffnung und Verhinderung. Die innere Auseinandersetzung mit meinen Texten, die Suche nach Stil. Der Komplex von psychischer Lähmung und intellektueller Hemmung.« (AS, 277)

Dieser Umstand beeinflusste das Verhältnis zwischen ihr und Bohrer sehr. In bewegenden Worten beschreibt er die letzten Jahre bzw. Monate und Wochen ihrer Beziehung im Sinne einer existentiellen Erfahrung: Alles, was folgte, war fortan dem Verlauf von Undine Gruenters Krankheit untergeordnet. Über die Schwere der Krankheit verschafft sich Bohrer erst nach und nach Klarheit: 354 Ähnlich wie der am 14. März 2018 in Cambridge verstorbene, weltberühmte Mathematiker und Physiker Stephen Hawkins, der von 1979 bis 2009 den renommierten Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik an der Universität Cambridge innehatte und neben Newton u. a. in der Westmister Abbey in London begraben liegt. Auch der bekannte Maler Jörg Immendorff (1945–2007), der »melancholische Surrealist« (DER SPIEGEL 37/2018, 08. 09. 2018) litt und starb an der Krankheit. 355 Vgl. AS, 47f., 194.

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Zur Person Undine Gruenters

»Undines Fußschmerz hatte sich so verstärkt, dass die Konzentration auf die Theorie keine Ablenkung mehr mit sich brachte. Bis zum Sommer 1999 hatte ich trotz der Emeritierung zwei Jahre zuvor weiterhin Seminare in Bielefeld gehalten. Nun konnte ich Paris nicht mehr verlassen. Undine, zunächst am Stock und dann immer mehr im Rollstuhl, vertiefte sich in ihr Schreiben. Zum ersten Mal kam die Angst auf, dass ihre Krankheit eine ganz andere sei, als die Ärzte bisher vermutet hatten. […]. Im Spätsommer des Jahres kam es zu einer erneuten Untersuchung […]. Undine bestand darauf, alleine mit einem Wagen, den die Klinik schickte, dorthin zu fahren. Nach vier Stunden war sie wieder zurück und zeigt mir den Briefbogen mit dem klinischen Bescheid, auf dem der Namen stand: »sclérose latérale«: Dieses Wort hatte ich noch nie gehört. Ich sagte sofort abwehrend. »Aber du hast doch gar keine Sklerose.« Darauf Undine trocken: »Ach, die nennen da hier nur so.« Sie müssen jetzt täglich eine sehr teure Tablette nehmen, die das Fortschreiten der Krankheit des Fußes aufhalten und durch die sie wieder gesund würde.« (Bohrer 2017, 428f.)

Zu Beginn des Anfangs des Kapitel II/8 »Die Sonne, die Steine, die Götter« (Bohrer 2017, 431ff.) wird deutlich, was diese relativ unbekannte Krankheit für die Autorin und ihre gemeinsame Beziehung eigentlich bedeuten sollte: Es markiert den zeitlichen Abschied auf Raten, Undine Gruenter würde von nun an nur noch maximal einige wenige Jahre zu leben haben, bis zu fünf Jahren, die es dann nicht einmal mehr wurden: »Undine hatte »sclérose latérale« durchaus so verstanden, dass sie nicht mehr lange leben würde. Sie hatte mir das aber verschwiegen, bis ich es Wochen danach selbst herausbekam, indem ich mir von Andrea die Information aus dem Internet verschaffen ließ. Dort wurde die Krankheit als »amyotrophe Lateralsklerose« beschrieben. Undine würde nach der Diagnose noch drei, höchstens fünf Jahre zu leben haben. Ein besonderes Gefühl der Gemeinschaftlichkeit war dadurch über uns gekommen. sie auf der einen Seite des Lebens, ich auf der anderen, aber zusammenhaltend, Tag für Tag. Das Leben musste jetzt ans Fortschreiten der Krankheit angepasst werden. Undine konnte nichts mehr in der Küche machen, aber sie konnte noch schreiben, im Rollstuhl.« (Bohrer 2017, 431)

Zu dieser Zeit fasst sie den Gedanken, einen Erzählband über Trouville zu verfassen, als Reminiszenz an ihr »gemeinsames Trouville, aber in einem ganz neuen Stil«. Dann verändert bzw. verschlechtert sich die Krankheit schneller als erwartet, es sollte ihr fortan nur noch wenig Zeit verbleiben. Dies macht zum einen die Traurigkeit aus, die nun zwischen ihnen anwächst, darüber hinaus gibt es in dieser existentiellen Situation aber auch Momente des Glücks: »Seit dem Frühjahr 2001 konnte sie nicht mehr selbst aus dem Bett aufstehen. Für einige Monate hatte ich sie vom Bett in den Rollstuhl heben können, sodass sie in ihrem Arbeitszimmer die Sommergäste in Trouville abschließen konnte […]. Noch immer war das Schreiben in ihrem Arbeitszimmer eine Waffe gegen das Fortschreiten der Krankheit. Sie schrieb jetzt mit einer speziellen Schreibmaschine, bei der man die Tasten nur leicht berühren musste.« (Bohrer 2017, 492)

Stille letzte Jahre, früher Tod und lauter Nachruhm

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Bohrer nimmt hier bereits innerlich Abschied, indem er sich vorstellt, dass sie nun bestimmte Dinge nicht mehr mit ihm würde teilen können, Gerade die gemeinsam als so schön empfundenen Dinge wie der »idyllische Anblick des bunten Treibens im Viertel« oder »die so fröhlichen Gesichter in den Bistros« (ebd.), würde Gruenter fortan nie mehr sehen können. Er liest ihr aus den Romanen Zolas vor, die sie vorher gar nicht so geschätzt hatten. Und sie beide empfinden trotz der Krankheit, die wie ein Damoklesschwert über ihnen hängt, so etwas wie Glück: »Wenn ich Undine aber an den Nachmittagen, an denen sie in ihrem Bett blieb, aus Zolas Romanen vorlas und ihr Blick durch das große Fenster auf die Platanen im vom Sonnenlicht überfluteten Garten fiel, dann versetzte uns beide die Materialität von Zolas Welt, die wir früher nicht gemocht hatten, in eine Stimmung, die dem Glück nahekam.« (ebd.)

Ähnliches erleben sie an manchen Abenden bei Wein, bei Besuchen gemeinsamer Freunde und dem Lauschen französischer Chansons, »besonders diejenigen von Charles Trenet, weil damit die bukolische Stimmung einer schönen Naivität des Lebens aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren in uns aufkam – Ein Chanson berührte uns besonders: Fréderica. Einmal standen Undine Tränen in den Augen. Ich wusste, warum: Sie erlebte die Präsenz des Augenblicks, der noch da war.« (Bohrer 2017, 473) Aber schließlich lässt sich die Krankheit nicht mehr aufhalten: »Anfang 2002 konnte sie nicht mehr schreiben, und ich begann, ihr bei den kleiner werdenden Mahlzeiten zu helfen. Sie konnte auch kein Handy mehr halten. Das hatte zur Folge, dass ich die Wohnung eigentlich nur noch für Einkäufe verließ. […] Nach wie vor kamen die Freunde, vor allem Reinhard und Irmela, zu uns nach Hause.« (ebd.)

Bohrer bekennt, dass ihn der Tod Undines sehr verändert habe: »Seit Undines Tod hatte sich mein Anspruch an das Leben als ein Ereignis verschoben. Meine Erwartungen waren einfacher geworden: Ein beginnender Anfall von Reife.« (ebd.) Im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet sich eine Grußkarte Undine Gruenters an Michael Krüger Grüße aus der letzten Zeit, wo es nicht mehr »Deine«, sondern »dein« Undine heißt, auf einer Karte, die wohl nur von Bohrer unterschrieben worden sein konnte.356

356 Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr.

5.

Das Gesamtwerk Undine Gruenters

5.1. Das Frühwerk (die 80er Jahre): Auf dem Weg nach Paris 5.1.1. Konkrete Orte und surreale Räume: Ein Bild der Unruhe (1986) »Der Traum? Wenn ich ihn mir vorgestellt hatte, hatte ich den Raum unten in dem Restaurant in der Passage immer als einen Ort des Exils angesehen, eines unmenschlichen Exils, das das Geheimnis des Unglücks und der Verlassenheit besaß.« Undine Gruenter (BU, 147)

Undine Gruenter veröffentlicht ihre Werke von 1986 bis 2002. 1986 erscheint ihr erster Roman »Ein Bild der Unruhe«: Da ist Undine Gruenter 34 Jahre alt ist. Zu dieser Zeit lebt sie noch nicht in Paris, wohin sie erst 1987 endgültig übersiedeln wird (vgl. Kap. 4 in dieser Studie).357 Sie hat sich selbst dazu geäußert, worum es in dem Roman geht und setzt das Werk in Beziehung zum nächsten größeren Werk, dem Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« und zum Motiv des Labyrinths, auf diese Weise eine Entwicklung im Werk andeutend. Im Bild der Grenze wird das Räumliche ihres Denkens und Schreibens deutlich: »Im Bild der Unruhe geht es um die Suche nach der Grenze der Ich-Auflösung, da, wo Leben in Tod umschlägt, am Rande, wo Sexualität in Todestrieb umschlägt, unterwegs. Im Labyrinth ist diese Grenze überschritten, bevor der Text einsetzt, die Ich-Auflösung und Bildung wird vom entgegengesetzten Pol inszeniert, als Rekonstruktion nach dem Schattenreich.« (AS, 387)358 357 Es gibt auch abweichende Informationen, wonach sie die erste Zeit ohne Bohrer in Paris ist und im Marais wohnte. 358 Bohrer hat sich zu ihrem Debüt wie folgt geäußert: »Ihr erster Roman, eine wilde, mit obszönem Vokabular gespickte Liebesgeschichte, in der Andeutungen auf unser beides Zusammenleben versteckt waren, hatte in der Kritik ein gemischtes Echo gefunden. Ihr Vater, der Gründungsrektor, hatte angeblich geurteilt: ›Hätte sie das doch nicht unter unserem Namen veröffentlicht.‹ Aber Undine war als Autorin aufgefallen, und es kam nun alles auf ihr neues Buch an, das sie bald abschließen wollte. Das andere wäre der Anfang vom Ende gewesen, auch wenn wir vor lauter Erschrecken über eine solche Entwicklung versucht hätten, alles aufrechtzuerhalten.« Bohrer (2017), 292.

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Das Gesamtwerk Undine Gruenters

Diese räumliche Grenzziehung manifestiert sich konkret in der Beschreibung der Orte. Im Roman finden sich Spuren eines Changierens zwischen einer Stadt in Westdeutschland, in Belgien und Paris bzw. später Surville, einer kleinen Gemeinde mit gerade mal knapp 200 Einwohnern im Département Manche in der Normandie. Was die Stadt in Westdeutschland betrifft, so wird in einigen Rezensionen – oder in dem Film »Stadtaugen« – über Wuppertal spekuliert.359 Wenn Ähnlichkeiten vorhanden sein mögen, dann bestünden diese aber genauso zu Duisburg, Düsseldorf bzw. anderen Städten des Ruhrgebiets mit seinen »Kohlehalden und Zechen«, jener was die Bevölkerungsdichte betrifft neben dem Pariser Raum größten Agglomeration in Europa. Dieses Gebilde wird amorph und unbestimmt beschrieben bzw. bleibt in Hinsicht auf die Orte unbenannt, im Gegensatz zum späteren »Einfädeln der Geschichte« in Paris. Die Hinweise auf konkrete Orte in Deutschland sind bewusst vage gehalten wie an folgender Stelle, wo die Autorin den Protagonisten bzw. Ich-Erzähler sagen lässt: »Ich ging weiter, ging. Die Gegend, durch die ich ging: schwere, düstere Zechenviertel, die bedeckt waren vom Aschenregen. schwefliges Licht, gelber Smog, vermischt, und in meiner Kindheit hatten sich im Nebel gespenstisch die Räder der Fördertürme gedreht. Jetzt drehten sich die meisten nicht mehr, viele Zechen waren stillgelegt, lagen wie monströse Urtiere zwischen den Kohlehalden, zum Rand der Autobahn hin dehnten sich Wüsten von Gestrüpp, alten Zeitungen, leeren Flaschen. […] eine dieser trostlosen Kneipen am Bahndamm vor der Stadt, die alle Gasthaus zur Post oder Zum letzten Heller heißen, und in der grauen Zeit an regnerischen Wochentagen, bevor die Stammgäste nach der Arbeit hier einrückten, saßen wir an einem gescheuerten Tisch in der Ecke. In der Luft hing der nie zu vertreibende Geruch von saurem Bier und erkalteter Zigarettenasche, wir dösten in die staubige Dunkelheit und Verlassenheit dieser Pinten – kein Ort ist verlassener als eine Theke in einer leeren Kneipe am Nachmittag – und kippten nach und nach eine Menge Altbier und Korn.« (BU, 26f.)

Der Verweis auf eine Stadt im Umkreis des Ruhrgebiets fällt mit der Erwähnung der größtenteils stillgelegten Zechen in den »verlassenen Kohlestädten« relativ eindeutig aus. Außerdem finden sich einige Hinweise auf die Alltagskultur360 des Ruhrgebiets: die Arbeitersiedlungen, die Gastarbeiter und die Kultur der Eckkneipen, die sie ergänzend dazu in »Der Autor als Souffleur« erwähnt.361 Dane359 In anderen Rezensionen heißt es fälschlicher Weise, der Roman würde komplett in Paris spielen. Wuppertal spielt biographisch in »Der Autor als Souffleur« und in unveröffentlichten Texten wie »Frühstück am Zoo« eine beträchtliche Rolle: es gibt mehrere Zitate zu Pina Bausch, zur Wohnung ihres Vaters oder zur Universität. 360 Vgl. hierzu den einschlägigen Aufsatz von Hermann Bausinger »Alltagskultur«. In: Wierlacher, Alois/Krusche, Dietrich ( Hg.) Fremdsprache Deutsch. Band 1. München: Iudicium 1980. 361 Beim Betrachten der Peripherie von Paris, im Anschluss an die Zone bemerkt sie: »Dann gibt es Ortschaften, nicht Dorf noch Stadt, sondern zu Vorortschaften degradierte ehemalige Dörfer – da sehe ich an und zu eine Eckkneipe, die mich an die Kneipen Zuhause erinnert

Das Frühwerk (die 80er Jahre)

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ben lässt die Erwähnung alkoholischer Getränke wie Altbier (das Bier, das lange Jahre nur in Düsseldorf und Umgebung gebraut wurde) oder dem Korn (»Samtkragen«),362 die Nähe einer Stadt bzw. eines Orts bei Düsseldorf erahnen.363 Dass es sich aber nicht unbedingt um den »Schreibtisch des Ruhrgebiets«, wie die Stadt lange Jahre im Volksmund genannt wurde, handeln muss – der Stadt, in der ihr Vater geboren wurde, in der Gruenter ihre Kinder- und Jugendzeit von ihrem achten Lebensjahr an verbrachte und in der ihre Mutter wohnte – darauf wiederum verweisen die Zechen. Etwas überpointiert ließe sich von einer Art »negativem Lokalpatriotismus« sprechen, worüber Gruenters Roman gleich in mehrfachem Sinne Auskunft gibt. Sie verweist in dem angeführten Interview in dem Film »Stadtaugen«, dass sie »in zwei Punkten vollkommen mit dem Helden identisch« sei: »Im Leiden an der Sterilität und dem Ausräumen jeder Art von Vitalität und Spontaneität in diesen Versatzstücken »westdeutscher Städte« und zum anderen an dem Festhalten der Subjektivität und dem Beharren auf dem Eigenen in dem Sinne, dass es noch etwas anderes geben muss.« Als das »ganz Andere« kristallisiert sich im Verlauf des Romans Paris heraus, auf der Suche nach dem »erregenden Augenblick in der alten Metropole Paris« (wie es im Kommentar innerhalb des Films heißt). Denn nach Gruenter erlebt der »Held […] permanent Schreckensbilder, die auf ihn einschlagen, Dinge in einer solchen Provinz, die seine Subjektivität unterdrücken.« (ebd.) Insofern ist der Einwurf des namenlosen Ich-Erzählers gegen die westdeutsche Gesellschaft in erster Linie ein ästhetischer, der sich auf die Architektur und dem daraus resultierenden »Unterdrücken« jeder Art von »Vielfältigkeit, Buntheit oder Geschichtlichkeit« (O-Ton Gruenter) angesichts einer immer anonymer und gesichtsloser werdenden Stadtlandschaft bezieht. Als Prototyp dieser Architektur, einer »gewissen Art von ästhetischer Folter«, gilt für Gruenter der Marktplatz von Wuppertal-Elberfeld, jenes »Horrorkabinett von Kommerz, Parkhäusern, Banken und Warenhäusern«. Insofern bleibt der Erzähler in seinem Leiden an der westdeutschen Provinz, in der Empfindung des »Mangels«, sehr nahe an der Autorin Gruenter selbst, die darüber hinaus betont, dass ihr damaliges Schreiben zu Anfang des Romans durchaus der eigenen Erfahrung entstammt, dass sie Orte und Gegenden beschreibt, »an denen ich selbst

mit ihrem köstlichen, unvergleichlichen Charme der Ruhrpottpinten – am schönsten nachmittags, wenn kein Mensch dort ist, abgesehen vielleicht von einem chronischen Säufer-Stammkunden. Ich liebe diese Mischung eines grauenhaften Kitsches und so einer Art von Ruhrpottverkommenheit.« (AS, 262) 362 Drei Teile Kornbrand und ein Teil Boonekamp, weiß und rote Farbe, deshalb »Samtkragen«. 363 In »Der Autor als Souffleur« finden sich einige Passagen zu Düsseldorf bzw. Teile, die in Düsseldorf aufgeschrieben wurden.

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Das Gesamtwerk Undine Gruenters

gelebt, Städte, in denen ich selbst herum gegangen und sogar das Haus, in dem ich selbst gelebt habe.« (ebd.) Aus dem Gefühl dieses Abgestoßenseins durch diese Innenstädte versucht der »Held«, sich zunächst den Randbezirken der Stadt zuzuwenden: dem Hafen, den stillgelegten verrosteten Schienen,364 übrig geblieben neben großen Rohren ins Nirgendwo. Aber er muss erkennen, dass er selbst dort sein Bedürfnis nach Emotionalität, seinen »Erfahrungshunger«, nicht befriedigen kann. Schließlich gelingt ihm mit einem ihm zunächst nicht näher bekannten Mädchen die »Flucht nach Paris«, aber er muss »erfahren«, dass er hier wieder Angst, Einsamkeit, Leere und Fremde vorfindet. Sogar in der Sexualität, »in den Ritualen der Lust, die wie Halluzinationen beschrieben werden«, bleiben sich der Protagonist und das Mädchen fremd. Die Darstellungsweise lässt offen, inwieweit das Mädchen »real« oder ein Geschöpf der Fantasie des Protagonisten ist. Auf diese Weise stellt sich der Bezug zum Traum respektive zum Alptraum her, und damit stellt in diesem frühen Roman eine Verbindung zum Surrealismus her. Dabei verweist die Autorin neben dem Motiv von Paris als das »Ganz Andere« auf ein weiteres, bislang noch nicht berücksichtigtes Motiv, jenes des Schmutzes: »[…] einer der Grunderfahrungen, die der Held in Paris macht, ist z. B. die des Schmutzes: »Ich habe die Orte, an die der Protagonist geht, hässlich beschrieben, nicht, weil ich Anhänger einer Ästhetik der Hässlichkeit wäre, sondern durch den Schmutz unterscheidet sich Paris und alle Metropolen der Welt von dem Sterilen und Klinischen in Westdeutschland.« (ebd.) Gruenter stößt sich wie ihr Protagonist, dessen Verstörung im Roman beschrieben wird, an der Normierung und Aufgeräumtheit westdeutscher Städte, was sie als »ein penibel aufgeräumtes Land nach Kriegszerstörung und Aufbau« bezeichnet. Aus diesem Grund zieht es den Protagonisten in seinem Hunger nach »Erfahrung, Leben, Erregungszuständen« (BU, 18) an die »Randzonen der westlichen Zivilisation« (Kommentar im Film »Stadtaugen«), dahin, wo »die Ordnung zerfällt und wo Überraschung noch möglich ist«, das im Gegensatz zu all dem steht, was die Provinz ihm vorenthält. Dieser Hunger wird allerdings selbst im Abseitigen immer weniger gestillt. Der Roman ist nicht zuletzt ein Einspruch gegen eben jene Welt, der sich in Begriffen wie Unruhe, aber auch Unordnung ausdrückt, ein ebenfalls häufig auftauchender Begriff. Mit der Darstellung von »Stimmungsphänomenen« wie der »Verlassenheit« sowie der dargestellten Lakonie und »Melancholie« eröffnet sich eine existentielle Perspektive. In diesem Kontext bezeichnet Dieckmann den Roman als »eine

364 Bemerkenswerterweise werden auch die Straßen von Surville in einer Metapher als »verrostet« bezeichnet. Vgl. BU, 143: »Wir tranken schweigend, und der ätzende Geschmack des billigen Calvados erinnerte mich an die verrosteten Straßen von Surville.«

Das Frühwerk (die 80er Jahre)

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wilde Übung«, einen »Zwitter bzw. eine Kombination von deutschem Expressionismus und französischem Existentialismus«: »Seine Motive, das Unterwegssein auf den Straßen, der manische, poetische Blick und die (immer emphatisch als das »Unmögliche« begriffene) Unmöglichkeit der Liebe, hat die Autorin mit wachsender gestalterischer Freiheit weiterentwickelt. Die exzentrische Sinnlichkeit hat sie im Rausch einer opulenten Beschreibungsfülle aufgelöst, die symbolische Fracht der morbiden Stadtlandschaften mit zerebraler Genauigkeit zerlegt und den brachialen Lebensekel in eine poetische Exegese des romantischen Daseins überführt.«365

Gruenter ist zu dieser Zeit auf der Suche nach einem Ort, an dem sie bleiben kann. Sie hält sich geographisch noch in Deutschland auf und ist doch geistig schon in Frankreich oder zumindest nicht mehr in Deutschland, aber auch noch nicht in Frankreich angekommen. Diese innere Zerrissenheit spiegelt der Roman wider.366 Dabei geht es um die Geschichte eines männlichen Protagonisten auf der Suche und in seiner ganzen Ruhelosigkeit – im Titel sehr treffend mit »Unruhe« bezeichnet.367 Es handelt sich um einen Zustand, der »aus einem Mangel wie einem Überfluss erwachsen kann«, wie die Autorin betont. Zumindest zeitweise findet oder erfindet er ein weibliches Pendant, das ihn auf seinem Weg begleitet, und sich wieder von ihm trennt, als beide merken, dass die innere wie äußere Fremdheit zwischen ihnen nicht aufzuheben ist. Bemerkenswerterweise wird in einer kurzen, wie künstlich eingestreut wirkenden Passage, die Beziehung des Protagonisten zu »seiner Mutter« während der deutschen Besatzungszeit in Brügge »erfunden«. (vgl. BU, 74ff.) Es bleibt gleichwohl offen, ob es sich um einen Sachverhalt, einen Traum oder um reine Projektion des Protagonisten handelt. Die »Beschreibung dieser Erinnerung« wird durch den Aufenthalt in Brügge aktualisiert, wobei die Leserin bzw. der Leser nicht weiß, ob es sich wirklich und ausschließlich um die Stadt handelt. So werden Realien wie z. B. das berühmte Jansspital in Brügge »eingestreut«. (BU, 74) Die »Chronologie« unterliegt gewollt einer gewissen »Un-Ordnung«. Die »Unruhe« als eines der Zentralmotive des Romans hat die Autorin selbst hervorgehoben: »7. April 1989. [Jahreszahlergänzung SW] […] Wie traurig ist doch diese ganze Phantasterei – hat mich fast an den Rand gebracht. Ach, die traurigsten Phantastereien. Ich 365 Dieckmann (2003). 366 Dieckmanns Rezension dieses Werks erscheint im Zuge der Würdigung ihres Lebenswerks erst nach dem Tod Gruenters, als sie bereits durch andere, spätere Werke vergleichsweise einiges an Popularität erreicht hatte. Zur Zeit der eigentlichen Erscheinung des Romans werden in den Feuilletons der wichtigen deutschen Zeitungen keine Rezensionen dazu veröffentlicht. 367 Unruhe muss nicht per se negativ konnotiert sein Im WDR 3-Film »Stadtaugen« wird im Kommentar auf Parallelen zu der »nervösen Gereiztheit« und »vagen Sehnsucht nach Gefühl« der Literatur der Décadence, der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hingewiesen.

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weiß, es sind ja alles meine eigenen Phantasien, Aber wie soll ich sie denn vergessen, wenn mir Tag für Tag das Gift der Phantasie eingeträufelt wird? […] Und ich sehe, ich finde keine RUHE. Warum? Weil die Unruhe in mir selbst ist, die Sehnsucht, die Wünsche, die Hoffnungen, Also muß ich es in mir selbst, allein für mich austragen. B. kann mir da nicht helfen, im Gegenteil, und wie man sieht, bis jetzt auch die Arbeit nicht. Aber das ist der einzige Weg. B. sagt: Es geht nicht um Seelenruhe, sondern um Seelenstärke.« (AS, 300)

Der Roman ist in drei größere Abschnitte gegliedert, die einer bestimmten Topografie folgen: Das erste Kapitel ist überschrieben mit »Auf offener Straße« (BU, 7–64) und spielt in der genannten Stadt in bzw. am Rande des Ruhrgebiets. Das zweite Kapitel heißt »Zwischenstationen« (BU, 65–88) und spielt am Meer bzw. in Brügge und das dritte Kapitel heißt »Zone«368 und spielt in Paris respektive Surville (BU, 89–155). Dem Traum ähnlich lassen sich neben Zeitwechseln Ortswechsel feststellen, die keiner systematischen oder logischen Ordnung folgen. So tauchen Bilder der westdeutschen Stadt vereinzelt noch mal in Paris auf, weil die Traumsequenzen und Erinnerung es so vorgeben: »Versuche mich zu erinnern, woher ich den Ort kenne.« (BU, 146) Die Beschreibung der Räume enthält sowohl konkrete realistische Elemente bei der Beschreibung einer Stadt wie Wuppertal oder Brügge, als auch sich davon lösende, fiktive Elemente. So gibt es in Wuppertal keinen Platz der Revolution (nur einen Platz der Republik) und Brügge liegt nicht am Meer. In diesem Kontext kommt dem Reisen, der Bewegung, dem »abwesend Anwesenden« als »Brennpunkt eines unablässigen inneren Dialogs« besondere

368 Es wäre hier an das berühmte Gedicht Apollinaires zu denken. Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg 2005 (Erstausgabe 1956). Dazu muss der Leser sich vergegenwärtigen, was die Zone bedeutet: Vgl. hierzu: AS, 26: »Am Morgen sah ich einige Zeichnungen, einige Bilder von Seurat, die in jenem, von den Parisern im 19. Jahrhundert Zone genannten Bereich angesiedelt sind, das Niemandsland heißt: Vorstädte im Norden und Osten der Stadt, Industriezonen, Randbezirke, Eisenbrücken. Mietskasernen, Rangierbahnhöfe, verödetet Wiesen, Kanäle, Frachter. Nicht Auteuil wie Monet, sondern Asnière, der Canal St. Martin. Ich sah diese Bilder – die Häßlichkeit, den Alltag als Sujet, das Unpoetische elektrisieren, die moderne Randstadt als Thema – wer hatte das zuvorgetan? […] Ich nahm den Kaffee, hockte mich im Zimmer auf den Boden vors Fenster, sah aus einem Schornstein vom schräg gegenüberliegenden Dach den Rauch aufsteigen und träumte von der Landschaft zwischen Trouville und Honfleur, von der Stille, die man zum Arbeiten braucht und die ich heute hier gefunden hatte, von den kleinen Häfen der Normandie, die Seurat gemalt hatte.« Vgl. hierzu auch Bohrer (1988). Es wird in »Durch den Horizont« u. a. auf Apollinaires Gedichte Zone verwiesen. Vgl. auch Hazan (2006), 217ff., der die große Zeit der Zone beschreibt. Francis Carco (De Monmartre au Quartier Latin, Souvenirs de F.C. Paris: Gallimard 1927) behauptet, dass »Montparnasse durch Apollinaire erst zum Leben erweckt worden« sei. Außerdem taucht hier wie in »Vertreibung aus dem Labyrinth« der Canal St. Martin auf.

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Bedeutung zu, (AS, 68369) außerdem den selbst gemachten Erfahrungen in der Stadt, vor allem während der Nacht. Damit verbunden wird ein vermeintliches Für- (Jemanden-Sein), das kurze Zusammensein sowie das anschließende Wieder-Verlassensein. Zudem wird an diesem Abschnitt explizit deutlich, dass der Erzähler als eine gebildete, ihrer selbst-bewusste und zumindest teil-reflektierende Figur auftritt. »Oder sie ging noch immer in den Straßen herum und ließ sich ansprechen und ging auf der Stelle mit, obwohl sie niemals mit, sondern nur neben einem ging. […] Nach einer Weile fing ich an, mich zu langweilen. Darauf lief es also hinaus…, die Zeit totschlagen…, zu trinken, zu gehen…, die Straßen würden sich entleeren, die Lichter verlöschen, sie würden länger, die Straßen. Ich bestellte einen zweiten halben Liter. Was war unmöglich? Die Langeweile aushalten, das winterliche Licht von den Straßen, diese Geschichte – auf gut Glück aufgebrochen zu sein und nirgends anzukommen? Ich glaubte nicht an das Gehen, und trotzdem hatte ich es für die einzig vertretbare Illusion gehalten, damit fortzufahren.« (BU, 151)

Der fast durchweg unbenannte, männliche Protagonist und Ich-Erzähler (an anderen Stellen wird von einem anderen Mann namens Max) gesprochen, der wie so oft bei Gruenter seltsam unbestimmt bleibt und wovon nicht deutlich wird, ob es sich evtl. um das Alter-Ego des Protagonisten handelt. Er lässt sich durch Straßen einer westdeutschen Stadt treiben, wobei Orte der Fluktuation wie Straßen, Unorte oder Nichtorte, wie Augé das nennt (vgl. 200 in dieser Studie), Bahnhöfe, »die heimlichen Mittelpunkte der Stadt« (ebd.), vorzugsweise Rangierbahnhöfe etc., mit einer besonderen Bedeutung aufgeladen werden. Alle stellen sie Orte dar, die insgesamt im Werk Gruenters eine Rolle spielen. Es scheint sich dabei innerhalb wie außerhalb um eine Reihe kaum markierter oder »undefinierter Räume« zu handeln.370 »Von Tag zu Tag fand ich es unerträglicher, mich in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Ich glaube, seit je bedeuteten die Bahnhöfe für mich den heimlichen Mittelpunkt einer Stadt. Die gedrängte Hektik der Schalterhallen, die aschgraue Tätigkeit der Wartesäle, die Pfiffe über den nächtlichen leeren Bahnsteigen. Vor allem ein einziges Versprechen ist so ein Bahnhof, Aufbruch und Tod.« (BU, 16)

Zugleich handelt es sich aber um Räume, in denen es der Protagonist noch einigermaßen »aushalten kann«, die ihn zwar in seiner Einsamkeit »bestärken«,

369 Auch die »Anwesenheit« des Mädchens Acht wird so beschrieben: sie beide befindet sich »in den Dingen«). 370 Unter bestimmten Voraussetzungen ließe sich durchaus von transitorischen Räumen sprechen. Vgl. Miriam Dreysse: Formen des interkulturellen Theaters, Bielefeld: transcript 2007, 94. Vgl. dazu: Annika Wehrle: Passagenräume. Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2015 (Theater).

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ihn zugleich aber immer wieder »beruhigen«, wie sein »Stieren« oder »Starren« auf eine Schienenlandschaft belegt: »Wenn ich nach Hause kam, konnte ich nur noch stumpfsinnig vor mich hin stieren: ich starte auf die roten Weichensignale unter mir am Rangierbahnhof, auf das Netz der Gleise, die rußigen Eisenträger. Ich glaube, das Einzige, was mir in diesen Nächten geholfen hat, meine fünf Sinne zusammen zu halten, war dieses stundenlange Starren auf die düstere Schienenlandschaft, das Lauschen auf das Rangieren der Güterwagen und vereinzelte Pfiffe in der Nacht. Manchmal fraß die Einsamkeit dort oben an mir, die beißende Kälte, dan verließ ich mitten in der Nacht das Haus und irrte ziellos durch die Straßen. Immer waren die Straßen die einzige Zuflucht.« (BU, 39 f.)

Der unbenannte Protagonist folgt einer Person, trifft, findet oder besser erfindet ein Mädchen, dem er später mitunter den seltsam anmutenden und sprechenden Namen Acht gibt,371 Bis zu dieser Stelle wird sie nur »das Mädchen« genannt. En passant wird erzählt, dass sie als Dolmetscherin bei der UNESCO arbeitet (BU, 122) und ihr nach ihrer Rückkehr aus Surville gekündigt wird (BU, 140). Der Protagonist läuft ihr zunächst hinterher, kommt mit ihr auf diese Weise letztendlich in Kontakt. An keiner Stelle des Romans ist ganz ausgemacht, ob es sich um die Wirklichkeit oder einen (Tag-) Traum handelt. Der Protagonist und das Mädchen fahren an die belgische Küste und nach Brügge,372 das in der Erzählung am Meer liegt, anschließend nach Paris, nach Surville an die französische Atlantikküste in die Normandie, wo Acht am Strand einen anderen Mann trifft. Am Ende landen die beiden auf dem Friedhof Cimetière (de) Montmartre373, wo Undine später selbst begraben werden sollte. Zwischendurch besuchen sie einige Bistros und Hotels374 und verlieren sich wieder. Ganz am Ende ist das Mädchen plötzlich verschwunden, Der Protagonist vermutet sie in der Wohnung am Boulevard Edgar Quinet und betont, dass sie dahin umgezogen seien: »Einer von Achts weitläufigen Freunden war für einige Monate nach New York gegangen 371 Man könnte hier Überlegungen zur Symbolik der Zahl acht anstrengen. Hierbei handelt es sich wie so oft im Werk Gruenters um einen sprechenden Namen. Acht spielt hier auf »Achtung« oder »Hab acht« an. 372 BU, 70: »Es war Brügge, durch das wir gegangen waren, aber es war auch eine winterliche Mischung vieler westlicher Städte am Meer, mittelalterlich monströs, im Rausch die blutigen Altäre der Heiligen. Zugleich: kreidegrauer Giebelriss im Nebel, Schweigen, pastellweiße Fenster. Das Meer rauschte durch die Stadt. Ja, das Rauschen war in allen Straßen gewesen.« Dazu findet sich auf der gleichen Seite noch eine ähnliche Stelle: »Der Anblick der Lampe im Fenster hatte mir plötzlich jene Kugel aus Milchglas ins Gedächtnis gerufen, die im Eingang des Hauses, in dem wir damals wohnten, ein Haus am Kanal in der Arsenalstraat, mitten in Brügge, angebracht war.« 373 Neben dem Friedhof Père Lachaise und dem Friedhof Montparnasse ist der Friedhof auf dem Montmartre der größte Friedhof in Paris, wo neben Heinrich Heine noch viele andere bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Frankreichs, begraben sind. 374 Ein Hotel Moderne, ein Restaurant in einem Glaskasten, eine ehemaligen Passage Chez André, ein Bistro in St. Germain und ein anderes in der Nähe der Bastille.

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und hatte uns seine Wohnung überlassen.« (vgl. auch BU, 121, 142) Doch ein Anruf des Protagonisten »verhallt« wie ein »fernes Läuten, das durch die leeren Zimmer lange und durchdringend schrillte.« (BU, 153 f.) Erst jetzt erfährt man, wer Acht hätte gewesen sein können: »Ich dachte an Acht und ihre stumme Anwesenheit auf dieser Reise. Ich hatte sie immer für die verkörperte Erscheinungsform meines eigenen Gedächtnisses gehalten, dem sich unbewusst die Erfahrungen einritzen, und nun war sie fort. In der Nacht war sie gegangen. Diese letzte, endgültige Stufe ihrer Abwesenheit hatte sie gegenwärtiger gemacht als je. Doch vielleicht waren wir zusammen gewesen auf die einzig mögliche Art – ich hatte sie verloren, bevor ich wusste, ob ich sie finden würde.« (BU, 150)

Über den Ich-Erzähler ist wenig »auszusagen«, er gehört hier – anders als in den späteren Romanen und Erzählungen Gruenters – nicht direkt zur Bildungsschicht, sondern eher zur unteren (Mittel-) Schicht, er arbeitet, wenn er Geld braucht in verschiedenen Berufen, und »streunt wie ein Hund durch die Straßen, mit Vorliebe nachts«. »Das Geld. Bis jetzt hatte ich immer dann eine Arbeit angenommen, wenn das Geld verbraucht war, das kam ungefähr auf sechs Monate Arbeit im Jahr heraus. Ich hatte als Träger in einer Fabrik Säcke mit Hühnerfutter wegschleppt. In einer Kolonie von fünfzehn schnappten wir uns die Zentnerschweren Säcke, wenn sie auf dem Fließband zum Verladen kamen, und schleiften sie zu den Transportlastern.« (BU, 41)

Der Ich-Erzähler spricht von seiner »Arbeit in der Fabrik« und jener an der Tankstelle als Zapfer, Erstere zog er letzterer vor, »weil er den Tag allein war, »eingeschlossen in monotonen Handgriffen«: »[…] niemand störte mich im Lärm der Motoren, beschäftigt mit Auftanken, Ölwechsel, Waschen und Polieren, das alles ließ sich beinah mechanisch verrichten.« (BU, 40) Es kommt ihm dabei offenbar nicht so sehr auf die Tätigkeit an sich an, sondern auf die (Un-) Orte dieser Arbeit wie Tankstellen, Fabriken oder Schlachthöfe, an denen sein einem »unüberwindbarer Widerwillen gegen jede Art von organisierter Arbeit« aufscheint. (BU, 43) »Die Stätten der Arbeit – Schlachthöfe. in die das Vieh, obwohl es den Geruch des Todes wittert, hineingezerrt wird. Giftige Dämpfe zerfressen die Lungen und Bronchien, Augen und Rückenmark, und abends schießt eine Horde von Krüppeln aus den Fabriktoren, ausgeweidete Kadaver.« (BU, 41)

Der ökonomische Aspekt oder besser der Aspekt der Tätigkeit einer besonderen gesellschaftlichen Klasse spielt hier insgesamt, anders als in den späteren Romanen, eine größere Rolle, für Gruenters Verhältnisse sogar eine signifikant über-

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proportionale Rolle.375 Auf diese Weise wird, zum Teil implizit, der Zwiespalt des Protagonisten verdeutlicht. »Ich ging damals nie auf die Straße ohne ein Buch unter dem Arm, so hatte ich auch in der Fabrik eins bei mir, und in den Pausen setzte ich mich in eine Ecke und gab mich der jahrelangen Anstrengung des Lesens hin. Die anderen hockten zusammen. Nach kurzer Zeit hatte ich es auch hier erreicht, die Verbindung zu jedem Menschen abzubrechen.« (BU, 39)

Die Einsamkeit oder das »Am-Rand-Stehen«, gerade im ökonomischen Sinne, betrifft die anderen Romanfiguren ähnlich, deren sozialen Herkünften oder Milieus zum Teil durchaus im Sinne von Lepsius’ Milieutheorie376 ausführliche Beschreibungen gewidmet sind. So heißt es über das »Mädchen«: »Sie wohnte in einem feinen Straßenviertel, das passte nicht zu dem billigen Aufzug, in dem ich sie zuerst gesehen hatte. Düstere Paläste aus den letzten Jahrhunderten mit Säulenveranden und Amphoren auf den Treppenaufgängen lagen in uralten Parks hinter mächtigen Rhododendrenbüschen, die die Auffahrt flankierten. Eine grenzenlose Stille gab dem Ganzen etwas von der Stimmung eines verfallenen Badeorts. […] in der drückender werdenden Luft unter der Glaskuppel des Bahnhofs. Man steht sich die Beine in den Leib, fängt an zu fluchen, der Rücken auch schon abgewrackt, starrt auf die Bahnhofsuhr, nichts scheint sich zu bewegen in der Schlange.« (BU, 33)

Doch gerade in dieser scheinbar so langen, langweiligen und vertrauten Situation geschieht das, was Krüger in dem Film von Hugi anspricht: Das plötzliche (und es ist immer plötzlich) Einbrechen der Fremde oder Fremdheit, etwas, was man hunderte Male vorher immer wie automatisch und ohne darüber nachzudenken gemacht hat, wird plötzlich und mit einem Male unvertraut oder unheimlich. Man fühlt sich plötzlich desorientiert oder »dépaysé«. Und wieder zeigt Gruenter respektive der Erzähler, wir brüchig das Eis ist, auf dem sich die Protagonisten bewegen. unter der nur vorgeblich schützenden Hülle automatisierter Gespräche und hoch konventionalisierter Begegnungen. »Plötzlich fühlt man eine Fremdheit [Hervorhebung SW] wie nie zuvor, die gebräunten Gesichter, die heruntergerollten Strümpfe, die Streitereien unter den Wartenden erscheinen unverständlich und lächerlich, plötzlich überfällt einen die Einsamkeit inmitten des Lärms, […] völlig allein inmitten dieses lächerlichen und herrlichen Gewimmels.« (BU, 33 ff.)

Dieser Antagonismus der Figuren, der Bezug auf ihre Herkunft wie der versuchten Absetzung oder Distanzierung davon, durchzieht den gesamten Ro375 Auch zum Ende des Romans hin wird vom »Arbeiterviertel hinter der Place de la République« gesprochen. (BU, 151) 376 M. Rainer Lepsius: Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 100). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993.

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man.377 Die Raumkonzeption bzw. -simulation entsteht erst durch die Bewegung der Protagonisten oder wie Fludernik das ausgedrückt: »[…] Die detailreiche Schilderung von Orten, Gegenständen und Kleidung sowie von Personen […] evoziert das Ganze, nämlich die reale Welt, und lässt so die Illusion entstehen, dass der Roman die reale Welt abbilde.«378 In diesem Sinne handelt es sich um eine »Illusion«, niemals wird die reale Welt abgebildet, sondern eine Welt wird evoziert im Lotmanschen Sinne als jener »künstlerische Raum«, wozu es heißt: »Dabei muss betont werden, dass die unter bestimmten historischen Bedingungen entstandene Vorstellung, der künstlerische Raum sei das Modell eines natürlichen Raums, sich keineswegs immer bewahrheitet. Der Raum im Kunstwerk modelliert verschiedene Beziehungen des Weltbilds: zeitliche, soziale, ethische usw. Dies ist möglich, weil in bestimmten Weltmodellen die Kategorie des Raums eine komplexe und feste Bindung mit Begriffen eingegangen ist, die in unserem Weltbild als getrennt oder als gegensätzlich gelten […]. (Lotman 2006, 514)

Der künstlerische Raum hat nichts mehr mit dem realen geographischen Ort zu tun, selbst wenn der Erzähler sich des real existierenden Namens dessen bedient. Insofern wäre hier der Begriff der Topografie als ein vom Autor und Leser evozierter, mit Sinn versehener oder gestalteter Raum zu verstehen, der mit eigenen Vorstellungen, Erfahrungen, Erinnerungen (künstlich wie künstlerisch) aufgeladen wird.379 In diesem Sinne ist die Sprache »Raum gebend« oder »Raum greifend«. Jurij Lotman kommt zu einem Schluss, der sich auf das Werk Gruenters anwenden lässt: »Somit ist der Traum im Kunstwerk das Weltmodell des jeweiligen Autors in der Sprache seiner räumlichen Vorstellungen. […] Die ›Sprache der räumlichen Relationen‹ stellt also ein abstraktes Modell dar, das als Subsystem sowohl Raumsprachen verschiedener Gattungen und Kunstarten umfasst als auch Raummodelle unterschiedlichen Abstraktionsgrades (entsprechend dem Bewusstsein der verschiedenen sie hervorbringenden Epochen).« (Lotman 1999, 263)

377 Hier wäre auf Pierre Bourdieu, Klaus P. Hansen oder Jürgen Kamm etc. zu verweisen. Vgl. Jürgen Kamm: Mentalität, Habitus und Lifestyle. In: Christoph Barmeyer/Petra Genkova, Petra/Jörg Scheffer, Jörg (Hg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Passau: Verlag Karl Stutz 2010, 153–171; Hansen (42009) besonders: 158ff. Kollektive Standardisierungen. 378 Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (2006), 67. Sie bezieht sich in ihrer Abhandlung auf die angeführte, Epoche machende und sehr einflussreiche Studie zum englischen Roman von Ian Watts »The Rise of the Novel« von 1957 Vgl. hierzu: Ian Watts: The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding. Berkeley and Los Angeles: University of California Press 1957. Vgl. Anmerk. 130. 379 Es sei hierbei an Schopenhauers Begriff der »Sinnverlassenheit« erinnert, vgl. dazu: Per Jensen: Verlassenheit und Solidarität. Die Philosophie Schopenhauers in der Kritischen Theorie Max Horkheimers. Berlin: de Gruyter 2011.

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Diese »Sprache der räumlichen Reaktionen« findet ihre Entsprechung in der Beschreibung der Figur des Protagonisten, wo auf jegliche Introspektion oder Innenschau verzichtet wird. Es sind die Begegnungen der Figuren auf den Straßen oder die Ortsindikatoren wie die Schaufenster, die sie charakterisieren. Das Mädchen ist das Mädchen, in Anlehnung an Gertrud Steins »Eine Rose ist eine Rose…«, später heißt sie Acht, viel mehr wird über sie nicht gesagt bis auf »skurrile Dinge«, dass der Protagonist sie »als nacktes Mädchen in einem Schaufenster« (BU, 28) entdeckt. Er folgt ihr zunächst einige Straßenzüge, bleibt von ihr unerkannt. Wieder tritt die Charakteristik der Protagonisten hinter den Beschreibungen der Straßenzüge oder der »Dinge der Straße« wie dem Schaufenster zurück, selbst dort noch, wo aus einer vermeintlichen Ich-Perspektive erzählt wird: »Ich ging ihr nach, ohne daß sie mich bemerkte, eine endlose Strecke führte der Weg, ohne dass es mir einmal gelungen wäre, sie von vorne zu sehen; ab und zu, wenn sie den Kopf wandte, erschien der flüchtige Umriss ihres Profils. Zwischen uns, in der Entfernung, die uns trennte, war Schweigen, angefüllt mit dem Lärm der Stadt, dem Wogen der Wagenketten, in den Nachmittag fließend.« (BU, 31f.)

Als sie in Paris sind, wirft sie einen dahinvegetierenden Hund auf die Straße380, insofern ein bemerkenswertes »Ereignis«, weil sich ansonsten fast alle menschlichen Figuren im Werk Gruenters vorwiegend durch äußerste Handlungsarmut auszeichnen. Die Personen lassen sich keinesfalls so ohne Weiteres zu einer solchen sichtbaren Geste hinreißen, werden insgesamt nur sehr bedingt durch ihre Taten und Handlungen charakterisiert, sondern eher durch ihre Orte, die »Dinge«, die sie umgeben oder durch kleine alltägliche Verrichtungen. Erneut fällt die Interpretation nicht leicht, ob es um einen Traum, die Realität oder die »Tat« einer expressionistischen Maske im Sinne der Groteske handelt.381 Der Text scheint aber eher nahe zu legen, dass es sich um einen Alptraum, um eine Verzerrung oder, durchaus im lokalen Sinne zu verstehen, um eine Ver-Rückung der Wirklichkeit handelt, wie auch des Eigenen, von dem an einigen Stellen in

380 BU, 101: »Im Rinnstein stand ein abgemagerter Hund. Zitternd vor Gier, würgte er an einem Fischskelett, der Kopf mit den Kiemen stak fest im Schlund, und das weiße dünne Gerippe streckte sich aus dem Gebiss in die Luft. Der Hund würgte und würgte. Ein Zischen, ein Röcheln, ein Krächzen stieg aus dem Schlund. Dicht nebeneinander gab es zwei Farbstufen von Rot: das sanfte Rot der Markisen und das schreiende Rot um die hervorquellenden, blutunterlaufenen Augen des Hundes. Mit raschem Schritt bewegte sich Acht auf das Tier zu. Schleuderte es, das Fell im Nacken mit erstaunlicher Kraft packend, vor die Räder eines Autobusses in den beginnenden dichten Verkehr auf der Straße vor dem Bahnhofsgebäude. Ohne dass im Folgenden quietschend die Räder stillgestanden hätten über dem toten Kadaver.« 381 Vgl. hierzu: Gruzdev (2008), Tynjanov (1975) oder Wolf (2009).

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drastischen örtlichen Bildern respektive Metaphern wie »abgestandenes brackiges Wasser in einem Tümpel« gesprochen wird. »Mein Innenleben wie abgestandenes brackiges Wasser in einem Tümpel, in dem sich giftige Gase bilden, weil nichts mehr abfließt. Ich, eine Missgeburt, eingesperrt in Konservierungsflüssigkeit, in einem durchsichtigen Glas in einer Reihe von ebensolchen Gläsern, verhockt, verkrümmt, mit riesigem Kopf und blinden Augen.« (BU, 25)

Das Erwähnen der Farben schafft eine Art fast filmischer »lokaler Atmosphärisierung« im Sinne der exponierten »Stimmungsorte«; überhaupt beweist Undine Gruenter hier einmal mehr, wie genau sie »Atmosphären« und Stimmungen auf »kleinstem Raum«, um im Bild zu bleiben, beschreiben vermag.382 Diese Art der Schaffung einer Atmosphäre zeigt sich gleicherweise in der Berücksichtigung der Farben dieser Umgebungen. Insofern ist der Lesart von Dieckmann des Werks »Ein Bild der Unruhe« als »expressionistisches Bild« im weitesten Sinne zuzustimmen (vgl. Anmerk. 143), denn Farben spielen bekanntlich im Expressionismus eine nicht unerhebliche Rolle, bezogen z. B. auf die Charakterisierung von Environments.383 Ähnliches geschieht im Werk »Vertreibung aus dem Labyrinth«, wo der Protagonist Blok seine Partnerin Franziska und die Beziehung zu ihr, über die Farbe, die Haut und die Vergangenheit charakterisiert: »Drei Monate später zog sie zu mir ein, und ich nahm ihre Farbe an. Weiß war ihre Farbe, die Farbe ihrer Vergangenheit, die ihr abhandengekommen war wie sie selbst. Schön, dachte ich, eine Frau ohne Geschichte. Ich kroch in ihre Haut, ich schlüpfte in ihre Farbe, ich hielt ihr das Weiß vor wie einen Spiegel, in dem sie sich wiederfinden könnte« [Im Original kursiv gedruckt, als Erzählung des Protagonisten Blok, SW]. (VL, 8)

Ebenso finden im Roman »Ein Bild der Unruhe« häufig »schwarze«, existenzialistische Motive Beachtung, neben der Angst das der Einsamkeit, oft in schwarzen, dunkelbraunen oder düsteren Farben dargestellt: »Wenn ich mir die Dinge ausgesucht hatte als Begleiter der Einsamkeit – immer erschien mir die Einsamkeit als die einzig mögliche Existenzform –, die Dinge, die Bilder, später begannen sie meinen Blick zu erstarren, als hätte ich zu lange in die Mitte einer kreisrunden Sonne geschaut.«( BU, 23f.)

Einmal mehr sind in diesem Werk Räume im weitesten Sinne, vorwiegend Straßen, die eigentlichen Protagonisten.384 Dieses Werk besteht aus »Bildern von Straßen«, sehr häufig am Abend oder in der Nacht. Explizit wird zudem durch die 382 Vgl. Gumbrecht (2011), vgl. 192. 383 Vgl. Lutz von Werder/Frank Steinicke/Barbara Schulte-Steinicke: Kreative Literaturgeschichte. Berlin, Strasbourg: Schibri-Verlag 1992. 384 Was übrigens in einigen Werken Gruenters der Fall ist, wenn man an »Das Versteck des Minotaurus« und die Cité des Platanes denkt.

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Erzählweise der Bezug zum Motiv des Gehens hergestellt, somit ein bekanntes Motiv des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgenommen, etwa bei Benjamin oder Hessel.385 Aber wie in späteren Werken, geht es hier keinesfalls um den beobachtenden Flaneur in »Reinkultur«, sondern um einen Getriebenen, der unter der Hektik und dem »Angriff der Stadt« leidet, in der – anders als in den Darstellungen der späteren Romane in Paris – noch »gearbeitet« wird. Insofern ließe sich im wortwörtlichen Sinne von einer »Arbeiterstadt« sprechen, die vom Protagonisten durch das »Herumtreiben« in den Straßen erlebt wird und hier eine fast betäubende Wirkung auf ihn hat: »Ich musste mich in den Straßen rumtreiben, das Arbeiten der Werkzeuge beobachten, das Stechen und Saugen. Von Zeit zu Zeit hatte ich das Gefühl, aufzuwachen unter dem Druck dieses Hämmerns und Klopfens. Immer auf der Suche nach Erregungszuständen. […] Muss ich noch sagen, dass das Gehen selbst zum Rausch wurde, zu Opium, Traum, Brand der Bilder?« (BU, 18)

Gleichwohl spielt hier von neuem die Beschreibung der Umgebung, des »Ödlands, der Straßen, der Felder«, kurz der ganzen »Vorortszenerie« oder des Stadtrands eine exorbitant große Rolle, vor allem in Hinblick auf die (Menschen-) leeren Räume. Der Ich-Erzähler bezeichnet sich selbst als einen »Verirrten im Ödland«: »Öfter aber kam ich mir vor wie ein Verirrter im Ödland. So, als ich des Nachts eine lange Straße entlangging, die aus dem Kern der Stadt in die Vororte führte. Da geriet ich in ein Feld, das ohne Beleuchtung schwarz zwischen den erleuchteten Abschnitten der belebten Innenstadt und der Vorstadt lag. Vor mir und hinter mir herrschte das Licht, und dazwischen plötzlich der schwarze Grenzstreifen des Stadtrands. Ein leeres Land, in dem ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung meine Schritte in der Dunkelheit antrieb, wo hinter Bretterzäunen im Graben die Büsche wild wucherten.« (BU, 18f.)

Von diesem Ambiente fühlt sich der Protagonist angezogen wie abgestoßen zugleich, auf seiner Suche nach »menschenleeren Räumen, Straßen, der Leere«. (ebd.) Er vermeidet die »Berührung mit anderen« und er schildert in einer äußerst treffenden Metapher die Angst als einem sich daran anschließenden »Zersetzungsprozess, der mich augenblicklich in einen verfaulenden Klumpen verwandelte.« (ebd.) Aufgrund dieser Angst entwickelt der Ich-Erzähler eine Vermeidungsstrategie in der Begegnung mit anderen und auf der Suche nach Einsamkeit inmitten der Stadt, die zeitlich am deutlichsten in der Nacht und örtlich in den Randzonen der Stadt oder den »besseren Vierteln« vorzufinden und zu erfahren ist. Außerhalb von Paris bleiben diese Räume weiterhin relativ unbestimmt, es finden sich wenige Hinweise auf Realien, und wenn dann en passant, etwa 385 Vgl. hierzu Franz Hessel: Heimliches Berlin. Düsseldorf: Lilienfeld Verlag 2011.

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während der Fahrt an eine ihm zunächst unbekannte Stadt am Meer. Der Leser erfährt im Verlaufe des Romans indirekt, dass es sich um die belgische, flandrische Küste handelt, um einen von jener Stadt des Ruhrgebiets aus betrachtet nächstgelegenen »Orte am Meer«.386 Als ein erstes Resümee lässt sich festhalten: Wie viele ihrer späteren Erzählungen so zeichnet sich bereits Gruenters erster Roman durch seine »Handlungsarmut« aus. In der Ich-Perspektive geschrieben, handelt er von einem männlichen Protagonisten, der allein auf der Welt erscheint und sich den Erfahrungen von Einsamkeit und im Sich-Fortbewegen seinen Tagträumen, aussetzt, und dabei zugleich auf der Suche nach einem Menschen ist, der diese Art von Leben mit ihm teilt. Schließlich findet er diesen Menschen tatsächlich in Gestalt der angesprochenen Frau: Sie bewegen sich eine Zeitlang auf ähnlichen Wegen respektive Bahnen, bis die Fremdheit zwischen ihnen doch zu deutlich zu Tage tritt und sie sich wieder trennen, obwohl sie einander in Form einer intensiven und kurzen Leidenschaft zugetan sind. »Ein Bild der Unruhe« kann auf eine gewisse Weise wegweisend wie kontrapunktisch zu den späteren »Pariser Werken« gelesen werden. Als Gegenstand des Romans fungiert eine »amorphe Stadt« im Ruhrgebiet (respektive am Rande davon), deren Beschreibung mit Passagen einer Flucht nach Paris kontrastiert wird.387 So ist Paris bereits von Anfang an als Motiv und Fluchtpunkt angelegt, nicht zuletzt um dem Dreck, dem »Ekel«, der Hässlichkeit, die mit dieser anderen Stadt verbunden ist,388 zu entgehen. Das äußert sich bereits zu Beginn des Romans, wo der Ich-Erzähler – wie so oft bei Gruenter ein männlicher Erzähler (vgl. Anmerk. 43) – ausführt: »Oft lag ich auf der Matratze und blickte durch das schräge Fenster in den grauen Himmel [vgl. hier die Bedeutung der Farben, Ergänzung SW]. Ich hauste in einem engen Verschlag unter dem Dach. Die Laken, fleckig, grau und zerknüllt, stanken nach Schweiß und verklebtem Staub. Es war der Geruch einer Lähmung, der sich langsam in die Lungen fraß. Von Tag zu Tag wuchs der Ekel. Doch die Laken in die Wäscherei zu geben, dazu konnte ich mich nicht aufraffen. Dahintreibend mit Tagträumen [so könnte auch ihre Literatur zu lesen sein; SW], die eine so trübe und schlammige Farbe an386 Vgl. hierzu: Lotman (1973), vgl. auch Anmerk. 136. 387 Es scheinen von der Autorin sogar ganz bewusst »falsche Spuren« gelegt worden zu sein. So ist von den genannten »Zechen der Stadt« die Rede, die diesen Plätzen für den »Umzug des Regierungsviertels« weichen müssen. Es hat nach meinem Dafürhalten nie eine Stadt in Deutschland gegeben, die zugleich Zechen wie ein Regierungsviertel besaß. Man muss mitberücksichtigen, dass der Roman 1986 erschien, Jahre vor der Wiedervereinigung, als noch niemand mit dem Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin rechnen konnte. An die Landesregierung konnte sie offensichtlich ebenfalls nicht gedacht haben. Die NRW-Landesregierung war seit 1945 in Düsseldorf und dort hat es keine Zechen gegeben. Wieder sei hier an das Prinzip des Traums erinnert, wonach »realistische Details« frei kombiniert werden – zumindest im Sinne der Surrealisten. Vgl. in diesem Kontext Brügge am Meer. (BU, 73ff.) 388 Vgl. die Aussage Gruenters, 142, 282 in dieser Abhandlung.

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nahmen wie das Licht, wenn es durch das verkrustete Bodenfenster auf die mit Packpapier beklebten Wände sickerte, fiel ich immer wieder in den Schlaf, aus dem ich erwachte, träge und steif, mit einer auf der Brust wie ein Klumpen hockenden Dumpfheit.« (BU, 9)

Direkt zu Beginn werden zentrale Motive des Romans angesprochen: Da ist der Raum des Protagonisten, das Zimmer, in dem er alleine ist, eine Art Mansardenwohnung in Anspielung an Spitzwergs »Armen Poeten«, wo der Protagonist in den Himmel starrt, seinen Gedanken und (Tag-) Träumen nachhängt, was etwa im Bild des »verkrusteten Bodenfensters« durch Gerüche und Farben beinahe antipoetisch, plastisch und eindringlich verdeutlicht wird. Im Grunde beherrscht völlige Trostlosigkeit die Szenerie. Der Protagonist vernachlässigt alles Alltägliche um sich herum und starrt durch »das schräge Fenster in den Himmel.« Im gesamten Roman wird nicht deutlich markiert, ob es sich um einen (Alp-) Traum handelt oder nicht; der Begriff Traum taucht im Roman häufig auf; wieder erheben sich die »Dinge« bzw. die Geräusche, die in der Darstellung des Ich-Erzählers eine solche Allmacht entwickeln, dass sie zugleich fremd wie angsteinflößend sind. (BU, 19) In diese Darstellung bricht immer wieder etwas Körperliches, man ist geneigt zu sagen »Kreatürliches« ein. Konkret zeigt sich dies am »lüsternen Keuchen der Mieterin« vom »Stockwerk darunter« sowie am »Röcheln, Husten, Schreien« der Frau. (BU, 9) Löst sich eine ähnliche Szene bei Rilke in seinem Paris Roman »Die Aufzeichnungen Malte Laurids Brigge« durch das Bellen eines Hundes auf,389 so gibt es für den Erzähler in »Ein Bild der Unruhe« kein Entkommen vor dieser Art des Anzeichens einer Urbanität,390 die hier ihre hässlich verzerrten Gesichter, ihre Fratzen, zeigt. In beiden Werken wird zudem das »Atmen der Angst« thematisiert, wie es in Rilkes Roman heißt, jene Form existentieller Angst, die von der Furcht zu unterscheiden ist.391 In »Ein Bild der Unruhe« heißt es parallel dazu: »Eines Nachts stand ich in einem dunklen Torbogen, als mich die Angst überfiel. Was für eine Angst das war, kann ich nicht sagen – immer trat sie unerwartet auf und war eher ein Gefühl der Beklemmung, das mich plötzlich umschloss.« (BU, 19)

389 Was für den Ich-Erzähler dort, »Wohltun ohne gleichen ist«, vgl. Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Rainer Maria Rilke: Werke in drei Bänden. Frankfurt/M /Leipzig: Insel. Hg. und kommentiert von Manfred Engel. Stuttgart: Reclam 1997. 390 Hier wird eine ganz andere Urbanität als jene der Metropole Paris geschildert. 391 Vgl. Kierkegaards berühmte »Definition« in: »Der Begriff Angst«: »Die Angst ist das Etwas, das das Nichts zum Inhalt hat.« Vgl. dazu AS, 481: Motto + Kierkegaard. Vgl. Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst (Originaltitel: Begrebet Angst. aus dem Dänischen übersetzt und herausgegeben von Emanuel Hirsch. In: Gesammelte Werke. 11/12, (= Gütersloher Taschenbücher Siebenstern. Band 608). Gütersloh: Gütersloher-Verlagshaus 31991.

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Dieses Gefühl einer nicht greifbaren »Beklemmung« umfasst den gesamten Roman in Sinne der beschriebenen Atmosphärisierung. Die Wohnorte, die Umgebung, das Environment und Menschen, die darin leben, sind für den Erzähler zugleich der einzige Kumulations-, Orientierungs- und Kommunikationsort in dieser Form eines »Universums«: »Heruntergekommenes Mietshaus aus der Gründerzeit mit Holztreppen und Klos auf dem Zwischenstock und merkwürdigen Leuten wie dem Dicken, der mit umwickelten, in Gummistrümpfen steckenden Wasserbeinen herumlief, im Parterre wohnte und schwarz arbeitete für ein Bestattungsunternehmen. Das heißt, er sargte die Toten ein. Manchmal musste er auf die Autobahn, in die zerstückelten Teile der Opfer aufzusammeln. Einmal sagte er, lag eine Hand abgetrennt quer über der Fahrbahn, und der Polizist musste kotzen.« (BU, 10)

Die einzelnen Nebenfiguren des Romans wachsen wie Geschwüre oder (Schling-) Pflanzen aus den Orten oder Wohnungen etc. selbst heraus. Gruenter hatte ja behauptet, dass sie immer von einem Ort, einer Stimmung etc. ausgegangen sei, so bei der Entwicklung der Figur jenes »Dicken«, von dem es heißt, er sei »[…] der einzige Mensch«, mit dem der Erzähler »täglich sprach«. Immer hing er im offenen Fenster zur Straße, billige Fehlfarben rauchend, und ich hörte sein asthmatisches Krächzen, es jibt Fliejen, Fliejen, wenn das Wetter schwül wurde.« (BU, 10f.) Der »Dicke« als ein Geschöpf der Nacht, wirkt wie zur Einrichtung der Wohnung oder des Hauses gehörend. Er wird äußerst präzise in seiner Existenz beschrieben; Zudem werden in farblicher Hinsicht seine Environments sehr genau konturiert. Überhaupt kommt der Farb- und Schattengebung in Verbindung mit kulturellen oder, wenn man denn so will, zivilisatorischen Artefakten wie den Schienen, den Zügen, den Brücken, den Schiffen, dem (Binnen-) Hafen392, den Zechen etc., aber auch Abfallprodukten oder dem Staub, eine je besondere Bedeutung zu. Auf diese Weise entsteht beinahe prototypisch eine sehr expressive, farblich fast überpointierte expressionistische literarische Landschaft, die im Kontrast zu der Farblosigkeit, dem Einheitsgrau und Handlungsarmut der Menschen steht: »Stunden lang hockte ich auf dem Boden und sah durch das niedrige Fenster auf das nächtliche Schienennetz, auf die einsamen roten Signale, die weiten Lagerhallen, die ferne Eisenbahnbrücke, deren Träger und Bögen von der Witterung angefressen waren; ich sah über dem Fluss die braunen Güterzüge rangieren in der Morgendämmerung.« (BU, 27)

392 Das könnte wiederum ein Hinweis auf Duisburg sein, den größten Binnenhafen Europas, genauer die Duisburger Ruhrorter Häfen.

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Die Schienen, der Bahnhof bzw. der Rangierbahnhof, die Güterzüge und die Straßen fungieren als das »Versprechen der Ferne« wie als »Versprechen der Bewegung«, wohingegen in den dargestellten Zimmern nur Stillstand oder Rückschritt, und das ist »Elend«, festzustellen ist.393 Außerdem spielen Motive der Armut, der Nacht mit ihren besonderen Orten, Personen als eine Art »Requisiten« und deren Geräusche eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Ruhrgebiet im weiteren Sinne dient hier als Kulisse für den deutschen »Rostgürtel«, in Analogie zum amerikanischen. Der beschriebene Ort und ästhetisch aufgeladene Raum, in dem der Protagonist lebt, wirkt heruntergekommen und von Armseligkeit und Armut gekennzeichnet: »Das Packpapier löste sich langsam von den Wänden. Doch ich blieb hier wohnen, denn mit fehlte eine feste Geldquelle. Im Übrigen kam ich auch zu Zeiten, wenn ich flüssig war, nicht auf den Gedanken in eine hellere und luftigere Wohnung umzuziehen. Es war die Anstrengung des Umzugs, die mich abschreckte, wie jede Unternehmung in der Außenwelt mich störte. Auch hielt das Zimmer, so wie es war, mir lästige Besucher vom Leib. Niemand wäre je auf die Idee gekommen. Mich in diesem undichten Loch, das im Sommer stockig und drückend war und im Winter verräuchert und zugig, zu besuchen oder gar sich über Nacht dort einzuquartieren. In gewisser Weise gefiel mir der Zustand. Es war, als verkröche ich mich in einen Aufguss wie eine Tarnung suchendes Insekt, und der Ekel der anderen vor diesem Ort schützte mich.« (BU, 9f.)

Die Wohnung wird »hyperreal«, übergenau oder überpräzise beschrieben, was dem Leser einen starken atmosphärischen (Lese-) Eindruck vermitteln soll, dem er sich kaum entziehenden kann. Wieder ist der Text nur intensiv und langsam zu lesen, um Details nicht zu überlesen. Der Wohnraum stellt eine Absteige dar, worin sich der Protagonist verkrochen hat wie ein »Tarnung suchendes Insekt«, was bei ihm von neuem Ekel erzeugt wie es ihm gleichzeitig Schutz gewährt. Dieser Eindruck wird durch die Bilder sanitärer Anlagen, allesamt vernachlässigt oder verdreckt, noch verstärkt. Der Ort fungiert als Rückzugsraum wie Ekelort zugleich, wobei die »Annehmlichkeiten« des ersteren überwiegen, weil den Protagonisten jede Unternehmung in der Außenwelt wie beispielsweise ein Umzug, abschreckt und er »bei sich« bleiben möchte. Darüber hinaus wird durch seltsam amorphe, unbestimmte Räume, Straßen, Bahnhöfe, ehemalige Zechen, Schienen, Wohnungen, die zum Teil zu Protagonisten werden, eine so nicht-existente Stadt konstruiert. Es handelt sich dabei um Versatzstücke unterschiedlichster Details oder Motive: die Nacht, der Traum, der Tagtraum, der Schrecken und die Hässlichkeit, die im Gegensatz zum späteren, 393 Es bestehen hier motivische Parallelen zu einem Werk der »Urbanität« der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk (2009), in dem das »Unterwegssein« auch als produktive Unruhe besondere Bedeutung erfährt. Die »Bieguni« (dt. Unrast, oder respektive die »Rastlosen«) sind jene, welche in der Nacht in Moskau unterhalb der U-Bahn leben und somit immer zugleich am Ort wie in Bewegung sind.

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hellen Paris (obwohl Paris eine »nördliche Stadt ist«, vgl. VM, 5) stehen:394 »Es war Sonntagnachmittag, einer jenen kühlen Tage des Sommers, an denen Blok empfand, daß Paris eine nördliche Stadt ist, in der die Sommer durchbrochen sind und heiße Perioden plötzlich vom kühlen Tagen mit Temperaturen wie im März abgelöst werden.« (VL, 5) Insofern stellt der Roman »Ein Bild der Unruhe« motivisch eine »Weiche« bzw. einen Über-Gang dar, um im Bild zu bleiben: Noch in der (west-) deutschen Welt befangen, aber transitorisch überleitend in die französische bzw. Pariser Welt. Diese »Pariser Welt« stellt sich dabei keineswegs nur als ästhetisch schön dar, gleich der erste Eindruck ist eher niederschmetternd: »An diesem Morgen hatte die Verlassenheit der Großstadt nicht einmal den schäbigen Glanz der nächtlichen Verlorenheit, den Glanz jener Stunde, wenn alle Lokale kurz vor dem Morgengrauen schließen. Eine Hauptstadt Europas? Eine Geröllhalde.« (BU, 100, vgl. außerdem BU, 124) An anderer Stelle wird der »abbröckelnde Mythos« von Paris thematisiert und zugleich veranschaulicht, warum der Ich-Erzähler, der Protagonist dennoch eine Schwäche für diese Metropole hat: »Der Mythos dieser Stadt, war er nicht längst erkaltet wie Gesteinsschichten einer abgesunkenen Vorgeschichte? Doch ich hatte eine Schwäche für die großen, sich langsam in der Geschichte zersetzenden Metropolen und klammerte mich wie ein Ertrinkender an ihr gurgelndes Leben und ihre lächelnde, angenagte Schönheit, die gerade noch von einem untergehenden Lichtstreif der Revolution beleuchtet wurde.« (BU, 106)

Bereits angelegt ist hier die Bedeutung der Orte bzw. Räume als Entwurf ästhetischer Räume, die durch eine sehr präzise Schilderung u. a. von Tageszeiten, Alltagsgegenständen und Farben eine besondere Stimmungshaftigkeit oder Stimmung erhalten, hier noch im »wilden expressionistischen Stil« zusammengesetzt. Dies soll sich in den beiden darauf folgenden Erzählbänden ändern, wohingegen die Beschreibung der Räumlichkeit in den späteren Werken so durchgehalten wird. Vergessen werden darf dabei nicht, dass der Protagonist auch in Paris nicht das Erhoffte findet: »Auch in Paris entgeht der Held nicht der geheimnislosen Sterilität eines modernen Einkaufszentrums, wie es über den abgerissenen Markthallen des Schlachthofes von Paris errichtet wurde« (»Stadtaugen«). Aber nichtsdestoweniger schimmert das Fremde und Geheimnisvolle der vergangenen Metropole nach wie vor wie ein Palimpsest durch den Text dieser Stadt hindurch, und bleibt im Hegelianischen Sinne als Richtung der Sehnsucht erhalten, selbst wenn Autorin, Erzähler und am Schluss der Protagonist darin übereinkommen, dass das aktuelle Paris dem Wunsch oder der Vorstellung nicht 394 Genau gegensätzlich als in Peter Stamms Werk »Ungefähre Landschaft«, wo Paris eher eine »graue« Stadt ist. Vgl. Peter Stamm: Ungefähre Landschaft. Hamburg Zürich: Arche Verlag 2001.

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mehr wirklich entsprechen kann. Auf diese Weise bleibt die Stadt dem Protagosten »undurchdringlich«. An anderer Stelle wird von der Stadt als einem Körper gesprochen, worin man eindringen soll.« (BU, 112) Dieser Metaphorik der Stadt als Körper wird sich noch an weiteren Stellen bedient. (vgl. BU, 113f.) »Gehend in den Eingeweiden der Stadt« (ebd.) ist der Körper zugleich nah wie fremd, verstellt wie unverstellt oder bewusst wie unbewusst. Dennoch hält die Autorin an ihrem entscheidenden Punkt fest: »Der Held ist ja auf der Suche nach dem unverstellten, unmittelbaren Blick, und in dem Moment, wo man sich darauf einlässt, Paris als gedachte, beschriebene, schon tausendmal abgegraste Stadt zu sehen, und das ist übrigens das Problem für mich selber bei dem Buch gewesen, als ein Thema zu nehmen, das schon abgegrenzt ist wie Paris – und das heißt, in dem Moment, wo er die Stadt so sehen würde, historisch sehen – heißt, dass sie sich im Sinne einer im Text herausgestellten Totgeburt als historische, politische oder touristische Stadt entzieht.«(ebd.)

Nach Gruenter bedeutet das nicht, dass es partout keinen historischen Blick geben kann, der Protagonist »erlebt« auf gewisse Weise durchaus historisch, die Stätten und die Stadt sind allemal historisch und doch muss der historische Blick zugunsten einer unmittelbaren ästhetischen Annäherung an die Erfahrung der Stadt beiseitegeschoben werden, woran der Protagonist letztlich allerdings scheitert. Diese Form einer ästhetischen Mittelbarkeit findet ihren Ausdruck in der Verwandlung konkreter oder semiotisch besetzter Orte in poetische Räume und deren Rücknahme zugleich. Besonders virulent scheint dies in den Erzählungen des Bands »Nachtblind« auf, des vielleicht wichtigsten Dokuments aus der Frühphase des Werks Gruenters. Der Erzählband von 1989 ist Karl Heinz Bohrer gewidmet ist und wird vielfach in »Der Autor als Souffleur« kommentiert. Warum das Werk Bohrer gewidmet ist, deutet Gruenter in »Der Autor als Souffleur« an (AS, 388: Einfache Träume, »Für wen ich Nachtblind geschrieben habe«): »30. März 1989 [Jahreszahlergänzung SW]. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll, um den Spuk zu vertreiben – Ich bin zu B. zurückgekehrt, ich habe ihm mein Buch (Nachtblind) gewidmet –.« (AS, 295, vgl. 121) In »Der Autor als Souffleur« gibt Gruenter Auskunft über die Genese verschiedener Geschichten. Einige Skizzen zu den Erzählungen tauchen unter einem anderen Titel in »Der Autor als Souffleur« auf. Des Weiteren nennt sie Erzählungen, die für den Band gedacht waren, aber erst in den späteren Erzählbänden wie »Das gläserne Café« oder sogar erst in »Sommergäste in Trouville« veröffentlicht wurden. Es ist davon auszugehen, dass Gruenter einige dieser später veröffentlichten Erzählungen bereits in der Schublade hatte bzw. sie diese so lange bearbeitete, bis sie sie für veröffentlichungswürdig hielt und sie zur Veröffentlichung freigab. Darüber hinaus lässt sich schließen, dass sie die Erzäh-

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lungen zu den einzelnen Bänden sehr genau auswählte, selbst wenn davon auszugehen ist, dass die inhaltliche Konzeption räumlich, zeitlich oder inhaltlich ähnlich gelagert war wie in den Vorarbeiten. Gruenter war eine Schriftstellerin, die generell eher nur sehr moderat an ihren Entwürfen korrigierte.

5.1.2. Poetische Warteräume: Nachtblind (1989) Das Werk »Nachtblind« wird von ihr wie von anderen Interpreten in einen Zusammenhang mit dem kurz darauf erschienenen Erzählband »Das gläserne Café« von 1992 gestellt.395 Dieckmann betont, dass alle Geschichten Gruenters, »bis sich dies literarische Ich an den Badeort Trouville begab, […] sämtlich Liebesgeschichten« waren. Sie sieht den Zusammenhang beider Werke in einem Erzählen vom »Warten und Einsamkeit, Vergeblichkeit und Verfehlen« und der Liebe als »Ausnahmezustand« sowie in der Analyse von Selbstverlust und Selbstzerstörung: »[…] so dienen diese Abwesenheitsverfahren ausschließlich der obsessiven Hingabe an jenes ganz andere, das nur als Selbstverlust erlebt und nur um den Preis seiner Zerstörung gelebt werden kann. Den Menschen, die sich dieser Unbedingtheit verschrieben haben, ist das Leben »nichts als eine Kette von Augenblicken, die man verbrachte wie im Schlaf […] also existierten sie nicht, und man selbst auch nicht in ihnen«.396

»Leben als eine Kette als wie von im Schlaf verbrachten Augenblicken, als ob diese nie existiert hätten«, genauer als mit dieser Formulierung hätte man den Band »Nachblind« kaum auf den Punkt bringen können. Auf kunstvolle Weise werden ansonsten unverbunden bleibende, einzelne Momente in eine ästhetischräumliche Verbindung gebracht, die als Darstellung »poetischer Räume« nicht linear, sondern diskontinuierlich erfolgt. Der Baseler Kunstmaler Urban Saxer schreibt in einem Brief vom 20. 04. 1993 an die Autorin, dass er von der »Poesie des Titels« angezogen worden sei und betont: »Bald schon verlor sich jedoch die gerichtete Lebenslinie. Als spränge ein Zug von seinen Schienen und führe querfeldein sah ich mich plötzlich durch schattige Zonen huschen, unter schmutzigen Tellern sitzen und im Staube unbewegter Jalousien hängen. Die Geschichten begannen haarscharf an sich selbst vorbeizulaufen, und ich lief mit, ohne Verwunderung, ohne Befremden, alles schien mir vertraut.«397

Dieser zuerst 1989 erschienene Erzählband besteht aus neun Geschichten, die fast ausschließlich in Paris spielen. Bereits ein erster Blick auf den Erzählband lässt 395 In Hinsicht auf das ganz Andere oder das Verschiedene als Selbstverlust. 396 Dieckmann (2003). 397 Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie.

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semiotisch Vorstellungen von Frankreich bzw. Paris erstehen, die für jeden Bildungstouristen einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht bzw. eines bestimmten Alters zum Allgemeinwissen gehören dürften. Wie selten unverdeckt in der zeitgenössischen Literatur »zitiert« Gruenter »Bildungs- oder Kulturvokabeln« aus Kunst Literatur, Musik oder Film: Autoren wie Dylan Thomas, Musiker wie Janis Joplin, Bessie Smith, Billy Holiday oder Alan Parsons, Schauspielerinnen/Schauspieler oder Regisseure wie Julia Roberts, Woody Allen, um nur einige zu nennen.398 Die Erwähnung von Werken dieser Künstler geht oft mit dem semiotischen Evozieren von Orten einher. So wird durch die Titel des Bandes auf die populäre »Marchée aux Puce« an der Porte de Cliancourt, die »Fontaine de Medicis« oder aber bereits in der ersten Erzählung »Wie war der Himmel blau« auf die besonderen Lichtverhältnisse der Stadt angespielt, wie sie häufig in Literatur über Paris bemüht werden. Auf der ersten Seite wird eines der berühmtesten Fotos der Street Photography »Le Baiser de l’hôtel de ville« von Robert Doisneau genannt.399 Besonders deutlich wird diese Vorgehensweise in der Titelerzählung des Bandes: »Nachtblind«. Der Begriff wird einem Brief einer Künstlerin an den Protagonisten der Erzählung selbst erwähnt: »Sehen Sie, schrieb sie, es gibt Nächte, in denen man sich gegen die eigenen Fehler auflehnt und meint, wenn man dem anderen nur erkläre, daß man blind gewesen ist, müsse sich sofort alles ändern. […] Man ist wie jemand, der weiß, daß er nachtblind ist und verzweifelt im Dunklen umhertastet.« (NB, 111, im Original kursiv SW)400 Diese Blindheit bezieht sich zum einen auf die Nacht, die man nicht nur als Zeit-, sondern in Hinblick auf Paris als einen künstlerischen Raum bezeichnen kann. Der Begriff meint aber auch den sprichwörtlich blinden Fleck, also jene unbekannte Seite, die an einer Figur zunächst nicht deutlich wird und sich nur in ihrer Bewegung von Ort zu Ort vollzieht. Man ist geneigt von Spuren zu sprechen, die Menschen sowohl an konkreten Orten als auch als »Gedächtnisorte« für andere hinterlas398 Es handelt sich in den meisten Fällen weder um »konventionelle Künstler« (moderne oder postmoderne Klassiker im eigentlichen Sinne) noch um »Geheimtipps« von Künstlern, sondern eher um das »klassische« Bildungsinventar eines deutschen Intellektuellen der 80er oder 90er Jahre. Die Namen, Werke oder Begriffe werden »aufgerufen« und als bekannt vorausgesetzt. Zum Teil ist das Verständnis dieser »Vokabeln« für den Kontext oder Fortgang der Erzählung oder des Romans von eher untergeordneter Bedeutung. Daneben legt die Autorin selbst eine Reihe »intertextueller Spuren«: Das Werk Undine Gruenters tritt in gewissem Sinne in die Fußstapfen anderer, primär französischer Autoren wie Balzac, Proust (die »Recherche«, wie sie selbst das Werk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« immer wieder nennt, wird häufig genannt) etc. – dies aber besonders im Spätwerk – Intertextualität u. a. hergestellt. 399 Doisneau taucht in Gruenters Werk des Öfteren auf, beispielweise PL, 176, auch AS, 438f. Vor der Bar au Rêve. 400 Es existiert darüber hinaus noch einen weiteren Brief der Künstlerin an den Ich-Erzähler (NB, 100 f.).

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sen. Erneut werden im Sinne des »Umkreisens der Person« und der Darstellung »offener«, unabgeschlossener Identitäten der Figuren, unterschiedliche Perspektiven markiert. Der Haupterzählstrang wird aus der Sicht einer männlichen Hauptfigur als Ich-Erzähler geschildert. Dieser handelt von einer menage-à-trois drei »deutscher Exilanten« in Paris, die »seit über zehn Jahren in der Rue de l’Orient, einer idyllischen Sackgasse oben auf den Berg« (NB, 92) wohnen und dort von Zeit zu Zeit Feste mit wechselnden Gästen feiern. Wieder gibt hier die Lokalität die »Handlung« vor: Der Ich-Erzähler, ein »Incognito-Typ«-Schriftsteller mit Stipendium in Paris,401 wie er sich selbst beschreibt, ist häufiger Gast in der mehrmals genannten Bar au Rêve,402 wo er einmal jene Frau Steiner beobachtet, die dort regelmäßig verkehrt. Sie fällt ihm auf, weil sie anders ist als die meisten, wie es in der Erzählung heißt. Gleich die Beschreibung der ersten Begegnung verrät ihre Art von Entschlossenheit und Emanzipation. »Eine Frau hatte die Glastür mit einem Schwung aufgestoßen. Vor der Theke standen die Leute dichtgedrängt. Trotzdem räumten sie ihr, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen, ein wenig Platz zwischen Theke und Wand ein, als sei sie gewohnt dort zu stehen. ›Das Übliche‹, sagte sie. Sie drehte sich um, stand seitlich an die Theke gelehnt, den Arm aufgestützt, und blickte auf die Straße. Sie trank Martini Dry. […] im Übrigen nichts als englischer Gin. Sie trank und blickte durch die Glastür in die Dunkelheit und achtete nicht auf das Treiben um sie. Wegen des Gedränges konnte ich sie von meinem Platz im Hinterzimmer nicht direkt sehen, aber in der Spiegelwand gegenüber der Theke war sie deutlich zu erkennen. Ihre Augen, obwohl weit offen, hatten etwas Verschleiertes, als sähen sie durch die Dinge hindurch, auf die sie starrten. Das war mein erster Eindruck: ein träumendes und abwesendes Gesicht.« (NB, 92)

Die Frau wird als eine Figur in ihrer Umgebung eingeführt, beinahe wie zum Inventar gehörend. Man sieht förmlich den Hintergrund der Bar vor sich und wie sich die Frau langsam durch einige kurze Bewegungen davon abzulösen beginnt. Der Erzähler betrachtet sie durch die Spiegelwand gegenüber der Theke. Ihre Erscheinung wird also »gespiegelt« wahrgenommen, so dass sich eine weitere, neue und andere Perspektive ergibt. Ihr Blick ist von Bedeutung, der »durch die Dinge« hindurch zu schauen scheint. Nichts ist fest, alles bleibt im Fluss im Sinne jener »offenen Identität«, die auf diese Weise äußerlich wird. Wieder sind es die wahrnehmungsmäßig nicht hierarchisierten, sehr genauen Beobachtungen vorzugsweise der Orte, wodurch die Personen bestimmt werden. Die Differenz der

401 Vgl. NB, 99, vgl. 401. 402 Die noch immer in der Realität besteht und im Werk »Der Autor als Souffleur« häufig genannt wird.

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Frau zu ihrer Umgehung wahrnehmend kommt der Ich-Erzähler allerdings nicht umhin,403 die Person zu kommentieren: »Dann dachte ich: eine Deutsche. Ein wenig altmodisch. Aber nicht aus der Provinz, sondern aus der Großstadt. Vielleicht aus Berlin. Ihre Kleidung zeigte eine fast schlampige Eleganz. Sie trug ein dunkelbraunes Männerjackett aus Tweed, ein orangefarbenes Hemd, einen violetten Schal. Einen schwarzen Schlapphut, tief in die Stirn gedrückt. Sie rauchte, trank, langsam, in Gedanken versunken. Ihre Bewegungen verrieten eine Natürlichkeit und Gleichgültigkeit, wie sie nur vor dem Hintergrund gewohnter Sicherheiten denkbar sind.« (NB, 92f.)

Eher selten in Erzählungen Gruenters finden sich wie hier Beschreibungen der Kleidung einer der Figuren, was aber durch den Eingangssatz: »Da dachte ich: eine Deutsche« gebrochen wird. Sie muss keine Deutsche sein, aber dem Erzähler »erscheint« sie als eine solche. Das wird noch genauer expliziert: aus einer Großstadt, voraussichtlich aus Berlin. Die Kleidung erhält hier als kulturelles Zeichen der Zuschreibung zu einer Gruppe eine besondere Bedeutung,404 weil sich die Frau hierdurch individuell wie kollektiv von ihrer Umgebung unterscheidet. Eine Bewertung (»etwas altmodisch« etc.) kann sich der Erzähler dabei nicht verkneifen. Aus dem Gesamtbild wird ein Fragment der »Räumlichkeit«405 exponiert wie eine Großaufnahme oder das Aufblenden eines besonderen Teils. Von den drei oben angeführten Personen erfährt er durch die Barbesitzerin Madame Gérau,406 von dem Mann der Frau, dem Kunsthändler und Kunstkritiker Steiner und dem Schriftsteller Winter, der gerade ein Buch über die Ästhetik John Ruskins« geschrieben hat und nun an einem Aufsatz über den französischen Maler und Zeichner des Symbolismus’ Gustave Moreau arbeitet. (NB, 104) Im Text heißt es von »Madame Steiner«, dass sie eine Künstlerin mit Atelier und »Dreiecksbeziehung« sei. Nach einer kurzen Beschreibung des Kennenlernens des Ich-Erzählers wird sie im Fortgang der Geschichte ziemlich abrupt als Sarah bezeichnet. Ähnlich wir die anderen Protagonisten wird sie von der Wirtin durch die Beschreibung des Environments charakterisiert. »Ja, eine Deutsche. Sie wohne seit über zehn Jahren in der Rue de l’Orient, einer idyllischen Sackgasse oben auf dem Berg. Es war noch ganz ländlich da, und die Villen lagen, versteckt vor den Augen der Touristen, die im Sommer über den Berg strömten, in 403 Fludernik (2006) hat darauf hingewiesen, dass die Feststellung der Differenz von Autor und Ich-Erzähler eine Erkenntnis des 20. Jahrhunderts ist. Vgl. Anmerk. 130, 48f. in dieser Abhandlung. Gruenter spricht davon, dass nicht mehr die Moderne bestimme als die »Differenz zwischen imaginiertem Ich und realem Ich der Alltagsperson«. (AS, 43) 404 Auch im späteren Gespräch mit der Wirtin. 405 Damit wird sowohl das Milieu, die lokale Ebene sowie der kulturelle Background in des Wortes konkretestem Sinne beleuchtet. 406 Im Sinne einer Milieuschilderung.

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alten Gärten hinter hohen, mit Laub überwachsenen Mauern. Ein Schuppen im Garten diene als Atelier, und von Zeit zu Zeit reise sie nach Deutschland, um ihre Bilder auszustellen.« (NB, 94)

Diese Geschichte kann, was Plot und Personeninventar betrifft, als eine für Gruenter repräsentative Geschichte angesehen werden: Wieder handelt es sich um Deutsche im »freiwilligem Exil«, (NB, 107)407 um Künstler oder eine Art von Aussteigern, denen für ihre Lebenskonzeption Deutschland, selbst Berlin, geistig zu eng geworden ist und die sich aber wie überall in Paris mit konkreten Problemen wie der Erlangung einer Aufenthaltsberechtigung herum zu schlagen haben. Die Geschichte endet damit, dass der Ehemann Steiner dann irgendwann nicht mehr zurückkehrt. Frau Sarah Steiner reagiert darauf äußerst nervös, reist schließlich sogar für unbestimmte Zeit ab und der Erzähler sieht sie nicht mehr wieder. Die Erzählung mündet wieder in der Bar au Rêve und bei Madame Gérau, die einen Anruf von ihrem Mann erhält, ohne dass dies weiter ausgeführt wird. Von der Folie eines konventionellen Schlusses her betrachtet bricht die Erzählung eher ab als dass sie endet. Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass es die Frau auf gewisse Weise geschafft hat, sich aus der Welt und ihren »banalen Geschäften« wie das Sich-umden-Lebensunterhalt-Kümmern herauszuhalten. Sie entwickelt so eine Haltung, wodurch sie sich von den Gästen bzw. übrigen Frauen, die die Bar vorwiegend als Fluchtpunkt betrachten, aber auch der Wirtin der Bar unterscheidet, deren zentrales Merkmal ihre »Unberührtheit« zu sein scheint.408 »Ich bemerkte, wie die anderen Frauen ab und zu einen Blick zu ihr hinwarfen. Bei aller Lebhaftigkeit waren ihre Gesichter von Härte und Skepsis geprägt. Den Luxus, Feinheiten der Seele zu entwickeln, hatten sie sich nie leisten können. Auch sie wirkte nicht reich, nicht einmal wohlhabend. Aber sie hatte eine Unberührbarkeit im Gesicht, als wäre sie weder mit der Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu müssen, noch überhaupt mit den hässlichen Seiten der menschlichen Natur je in Berührung gekommen.« (NB, 93)

Diese Frau fällt den anderen aufgrund ihrer Erscheinung und im Kontrast zu den anderen Frauen auf, die scheinbar alle in einer anderen Lebenssituation stecken, was sich an ihren teils verhärmten Gesichtern zeigt. Sich mit den »Feinheiten der Seele« zu beschäftigen, müsste sich nach deren Vorstellungen, jemand überhaupt erst einmal leisten können, wie in der Geschichte angedeutet wird. Von neuem scheint es sich um eine Figur zu handeln, die sich nicht um ihr finanzielles 407 Der Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« handelt ebenfalls von dieser Art »Exildeutschen« in Paris, dort ein Mann Blok und drei Frauen: Fanny, Franziska und Fernanda. 408 Der Erzähler kennzeichnet darüber hinaus die Bar als »ästhetisch«, indem sie beschreibt, dass dort drittklassige Nachahmungen von Bildern hängen würden.

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Auskommen sorgen muss. Der einzige Einbruch in diese Art von »Wirklichkeit« ist der angeführte Besuch beim Ausländeramt, um die carte de séjours zu erhalten.409 »Nein, ich hatte kein Glück gehabt. Um in Paris bleiben zu können, brauchte ich eine carte des séjour. Die zuständige Präfektur befand sich im 11. Arrondissement, in der Avenue Parmentier. Gleichgültig zu welcher Tageszeit man dort ankam, die Schlange der Wartenden reichte bis auf die Straße. Es waren vor allem Spanier, aber auch Portugiesen und Italiener. Ich reihte mich ein, ich wartete. Das erste Mal hatte man mir einen Stapel mit Formularen in die Hand gedrückt, die ich ausfüllen sollte. Das zweite Mal fehlte eine Einkommensbestätigung aus Deutschland. Das dritte Mal genügten die Fotokopien meines Passes nicht. Heute schließlich hatte man anstelle der mitgebrachten vier Farbfotos fünf schwarzweiße Passfotos verlangt. ›Es ist die reine Willkür‹, sagte ich und trank den Brouilly. Madame Gérau schüttelte den Kopf. ›[…] sie müssen etwas falsch machen‹, sagte sie, ›jedem Mitglied der europäischen Gemeinschaft steht eine Aufenthaltsgenehmigung zu.‹« (NB, 98)

Dieses Gespräch, das der Erzähler mit Madame Gérau führt, der Wirtin der Bar au Rêve, bringt ihn zu einem Erstkontakt mit Madame Sarah Steiner, die das Gespräch bis dahin belauscht und sogleich in die Konversation einsteigt mit dem Satz: »Er macht nichts falsch, es ist so, wie er sagt.« (NB, 98) Das sich daraus entwickelnde Gespräch handelt vom »Anachronismus von Paris«: »Kein Mensch kommt mehr nach Paris«, sagte sie, »um hier zu leben. Alle gehen nach New York oder vielleicht noch nach Rom. Warum sind sie hier?« (NB, 99) Wenn man von einem selbsterhaltenen System sprechen will, so lässt sich dies anhand der Protagonisten dieser Erzählung in besonderem Maße feststellen. Ein »deutsches kulturelles Subsystem« der Kunst und Kultur wird mit einem französischen Organisationssystem konfrontiert. Dabei spielen Aspekte einer unterschiedlichen Ästhetik eine Rolle. Als eine weitere beispielhafte Geschichte für diese Art der Kontrastierung oder gar individuellen wie kulturellen Konfrontation von Figuren, ließe sich die Erzählung »Fontaine de Medicis« anführen. Von neuem ist sie aus der Perspektive eines männlichen Protagonisten geschrieben, der während des Studiums einige Zeit in Paris verbringt und dort einen Mann namens Jean kennenlernt, den er nach Jahren410 zufällig wieder trifft und der ihn zu sich nach Hause einlädt, wo er dessen Frau kennenlernt, eine Fotografin mit eigenem Atelier in der Rue de Lille (NB, 55) die oft im Ausland arbeitet, unter anderem in Berlin. Gruenter beschreibt »ihre Technik« in der Erzählung indirekt so, dass der »Ich-Erzähler Zeichen folgt« oder genauer, dass für ihn Dinge, aber auch Geflüstertes, was er

409 Es handelt sich hierbei um eine der wenigen Stellen, an denen Gruenter alltägliche Dinge des normalen Lebensvollzugs beschreibt. 410 Als er wieder ein Stipendium hat, offensichtlich diesmal als Wissenschaftler oder Gelehrter.

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nicht genau versteht, von ihm als Zeichen verstanden werden wie die »Fontaine de Medicis«: »Das kommt mir so vor wie in der Fontaine de Médicis – Zeichen, denen der Ich-Erzähler folgt. Soll die Diagnose heißen, ich leide an einem absoluten Phantasieüberschuß? Ich weiß aber allein, was ich fühle.« (AS, 304) Es entwickelt sich eine erste vorsichtige Annäherung zwischen dem Erzähler und der Gattin des Freundes, sie schickt ihm einen Band mit Erzählungen, der nicht näher ausgeführt wird. Fortan wartet er auf ein Zeichen von ihr, was er dann schließlich sehr diskret erhält. Die Annäherung der beiden wird in der Schwebe gehalten, was symptomatisch für Gruenters Schreiben überhaupt zu bleiben scheint: »Im Begriff, das Glas zu ergreifen, zu trinken. Bis zu dem Moment, da ich im Blättern innehielt. Da das Geräusch des Gurrens und Flatterns plötzlich verstummte, als hielte der Schacht den Atem an. Zwischen den Buchseiten hatte es auf mich gewartet. Das Zeichen. Aus der Seite starrte, kaum sichtbar, aber doch unübersehbar, mit einer feinen Linie unterstrichen, ein Satz ›Das unbeirrt dem Schrecken zu‹, sagte er, ›das ist die Liebe‹.« (NB, 57)

Von da an sucht der Ich-Erzähler nach jedem noch so kleinen Zeichen von ihrer Seite. Ansonsten treffen sie sich kaum, es gibt nur die »Zeichen«, wie etwa als bei ihm das Telefon klingelt und niemand »dran ist« und er es für sich so interpretiert, dass sie ihn angerufen habe. Diese Reihe der von ihm so gedeuteten Zeichen411 ließe sich weiter fortsetzen: Er sucht und findet Gesichter ihrer Fotos auf der Straße wieder oder er hört zufällig auf einer Gartenparty bei Freunden, dass sie eine Ausstellung in Lyon organisiert hat, wobei er davon ausgeht, dass sie den Termin extra so gelegt hat, weil er zur gleichen Zeit nach Lyon zu einem Vortrag muss und er glaubt, dass sie wegen ihm dorthin fährt: »Ich stand mit einem Gast in der zum Garten geöffneten Glastür. Ich verfolgte halb unbewusst, was in meinem Rücken gesprochen wurde. Einige Minuten später begriff ich schlagartig, was ich gehört hatte. Ein Auftrag, so hatte ich verstanden, nächste Woche in Lyon. Es war eine Bemerkung gewesen, so vage für mich wie das Wehen der Luft in der Telefonleitung. Aber sofort war ich überzeugt, dass dies das Stichwort war. Denn der Tag, den ich verstanden hatte, deckte sich mit dem Tag, an dem auch ich in Lyon sein würde. Ich war zu einem Vortrag eingeladen und die Reise stand seit langem fest.« (NB, 97)

Als der Erzähler eine Woche später zu seinem Vortrag in Lyon ist, erweist sich seine Erwartung als Trugschluss, offensichtlich hat er die Zeichen nur so in seinem Sinne interpretieren wollen. Sie befindet sich weder unter den Zuhörern noch ist sie überhaupt gekommen. Einmal mehr handelt es sich um eine Er411 Wieder ließe sich hier eine Parallele zum späten Rilke der Duineser Elegien« ausweisen, dass wir als menschliche Wesen »nicht sehr verlässlich Zuhause sind in der gedeuteten Welt«. In: Rilke (1996), III, 256.

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zählung von falschen Erwartungen, erzählt über Zeichen, die sich im Sinne jenes Anwesend-Abwesenden als Illusion erweisen, weil sie nur im Bewusstsein des Erzählers als Erwartung funktionieren und damit im strengen Sinne eigentlich keine Zeichen sind. Denn die conditio sine qua no eines Zeichens ist, dass es in der Interaktion von zwei Personen im Sinne einer Beeinflussung des einen Ichs durch das andere Ich, als solches wahrgenommen wird. Die herausragende literarische Qualität der Erzählung besteht nun darin, in Gestalt des Erzählers aufzuzeigen, dass es allenfalls »Zeichen« für ihn sind,412 also etwas, das er als Zeichen interpretiert, dass aber keinesfalls als Zeichen im semiotischen Sinne413 zu verstehen sein muss. Selbst wenn der Erzähler es geradezu nahe legt, bleibt es bis zum Schluss in der Schwebe, ob es sich um ein Zeichen handelt. »Dann fing ich an, wieder auszugehen. Und dann geschah es wieder, und ich hörte einen halb dahingesagten Satz, bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße. Sie war in Begleitung von zwei Männern, die ich von einer Einladung in ihrer Wohnung, flüchtig kannte. Sie redete in einem fort und lachte, und ich hörte nicht richtig zu. Ich sah sie an und hörte ihr Lachen. Dann muss sie halblaut gesagt haben, oder es war der Wind, denn es war kaum zu verstehen gewesen. Ich wusste nicht, hatte sie mich dabei angesehen oder nicht. Aber sie blickte in meine Richtung.« (NB, 68)

Die vom Erzähler begehrte Frau des Freundes gibt sich abwartend, »freundlich, zurückhaltend«. Das Zwischen-den-Zeilen-Lesen legt nahe, dass von ihrer Seite aus kein oder kaum ein Versuch der Annäherung versucht wird, metaphorisch ließe sich von einer Art »Wartesaal« der unerfüllten Hoffnungen oder Erwartungen sprechen: »In den folgenden Monaten versuchte ich, sie einmal allein zu treffen. Ich ging zu ihrem Atelier in der Rue de Lille, um sie abzuholen. Ich suchte sie unter einem Vorwand zu Hause auf, zu Zeiten, da Jean abwesend war. Aber wenn ich sie antraf, war sie in Begleitung von anderen. Sie gab sich freundlich, zurückhaltend. Ich erinnerte mich ihres Blicks an jenem ersten Abend, ich wartete. Ich dachte, vielleicht weicht sie einer Begegnung unter vier Augen aus. Die Umstände? Feindliche Umstände schlagen manchmal ins Gegenteil um und lassen im Verborgenen die Gefühle umso heftiger wuchern.« (NB, 58)

Der entscheidende Satz der Kommentierung ihres eigenen Schreibens findet sich in der Erzählung selbst, bezogen auf die Wirklichkeit und den Wunsch, wo sich zwischen beiden eine örtliche Distanz ergibt, »ein Spalt befindet«, der niemals geschlossen werden kann. Dieser Spalt wird durch das Zeichen markiert im Sinne 412 Nicht mal als Ikon, im Sinne einer Übereinkunft oder »Komplizenschaft« zweier Kommunikationspartner. Vgl. Rudi Keller: Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens. Tübingen/Basel: Francke 1995. 413 Etwa als Ikon, 1. Grades, ebd.

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der klassischen, so banal wie genialen Definition Ecos, wonach ein Zeichen für etwas anderes steht: »Zwischen der Wirklichkeit und dem Wunsch klaffte ein breiter Spalt, der sich nicht schließen ließ. Ich jagte nach Zeichen. Denn sie schickte mir Postkarten, die ich in einer gesonderten Schachtel aufbewahrte und immer wieder betrachtete, sie lieh mir Bücher und Schallplatten mit alten Tangos aus der Vorkriegszeit. Wenn alles eine Ausnahme ist, dachte ich. Überall konnte ein Hinweis versteckt sein, und jeder falsch gedeutete Fingerzeig konnte für mich zur Falle werden. Aber es gab keine Entwicklung, und die Geschichte bewegt sich im Kreis.« (NB, 59)

Es ist weniger die Geschichte, die wieder mal keine eigentliche Entwicklung hat und sich im Kreis bewegt, als vielmehr der vom Erzähler um sich gezogene Kreis, worin er versucht, alles mit seiner Bedeutung zu unterlegen. Jener »liest« die Welt so, dass er ihr selbst seine Bedeutungen verleiht. Dabei handelt es sich um ein beinahe animistisches Prinzip.414 Der Protagonist als Erzähler interpretiert die ihn umgebende Welt als einen Kosmos von für ihn bestimmten Zeichen,415 was aber offensichtlich »de facto« selbst innerhalb der Logik der Geschichte nicht so gemeint sein kann. Gruenter schafft es, ihren Ich-Erzähler so vorzuführen, dass er als ein Irrender unterwegs ist. Es wird aus der Perspektive des Ichs erzählt und zugleich wird offenkundig, dass der Kosmos der so gedeuteten Zeichen allein für dieses Ich besteht. Es findet keinerlei Ankoppelung an die Wirklichkeit statt, es herrscht nicht einmal eine Übereinkunft der beiden Personen darüber in einem kommunikativen Sinne des Habermaschen »Aushandelns«.416 Dennoch oder besser gerade deshalb interpretiert der Protagonist das Zeichen in diesem, seinem Sinne. Die Erzählerin geht sogar noch weiter, der Protagonist ist sich dessen durchaus bewusst und dennoch enträt er der Falle nicht (wie obiges Zitat ausweist). Dargestellt wird diese »Falle« bzw. das semiotisch kommunikative Missverständnis durch das Geräusch bzw. die Sprache des Windes oder metaphorisch ausgedrückt das Rauschen der Fontaine de Medicis im Jardin du Luxembourg, so wie häufig als literarisches Motiv in Wassergeräuschen oft versteckte Botschaften oder Aussagen versteckt sind, im Sinne eines romantischen Evozierens eines Sinns bzw. einer Bedeutung. Der so dargestellte Kosmos wird hier erst durch den Protagonisten mit Zeichen aufgefüllt, mit Bedeutungsträgern, die offensichtlich keinerlei Entsprechung in der Wirklichkeit haben: »27. Juni 1989. [Jahreszahlergänzung SW] Im Jardin du Luxembourg sitzen ein paar Männer in den ab414 Vgl. Mario Erdheim: Psychoanalyse und Unbewusstheit in der Kultur. Aufsätze 1980–1987. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988. 415 Im kommunikativen Sinne wie im Hofmannsthalschen Sinne, vgl. AS, 285, 480, »ChandosProblem«. 416 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981.

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gekühlten Wegen und lesen Zeitung. Die meisten Stühle stehen ordentlich herum, als säßen Gespenster herum und sprächen miteinander, sie sind leer.« (AS, 325)417 Die Dinge werden so mit »geistigen Inhalten« angefüllt, die Stühle, wieder die Dinge der Umgebung, erhalten eine beinahe welterschließende Bedeutung. Der hier benutzte Begriff der »Gespenster« verweist letztendlich darauf, dass nicht mehr zu unterscheiden ist zwischen den Männern und den Stühlen, dass sich das Belebte kaum vom Unbelebten bzw. »Unmenschlichen« und somit vom Hintergrund abhebt. An allen Beschreibungen wird der Bezug zum Raum deutlich, der sich gleichfalls an anderen Motiven zeigt. Denn erneut geleitet Gruenter respektive der Erzähler die Leserin bzw. den Leser an verschiedene Pariser Schauplätze wie die Fontaine de Medicis, damit verbunden der Jardin de Luxembourg, die Rue de la Gaiteé, die Rue Delambre, das Hotel Mistral,418 die Kreuzung Vavin, der Boulevard Montparnasse oder das Sélect.419 Die Aufzählung ließe sich beliebig so weiter führen. Immer wieder führt die Protagonistin semiotisch der Leserin bzw. dem Leser das Paris vergangener Zeiten vor Augen, in dem diese offensichtlich lebt. Das geschieht z. B. im Evozieren obiger Namen. Auf andere Weise geschieht das an jener Stelle, an der sie erzählt, wie sie vor Jahren und vor Ort Jean kennen gelernt hat, als sie für »einige Zeit als Stipendiat in Paris studierte«. Darüber hinaus sind es die Orte, die die Protagonisten zusammenführen: »Damals waren wir ab und zu gemeinsam ins Kino gegangen. Meistens in ein kleines schäbiges in einem Kellerraum im Quartier Latin, in dem man Filme der Série Noire zeigte. Hinterher waren wir gemeinsam ein Stück durch die Straßen geschlendert und hatten an einer Theke in einem Café noch ein Glas zusammen getrunken.« (NB, 55)

Als sie nach Deutschland zurückkehrt, Jean aus den Augen verliert und nach Jahren wieder mit einem Jahresstipendium in Paris landet, braucht sie nur in das Kino zu gehen, um ihn »zufällig« dort wieder zu treffen. Nicht nur die Gebäude erhalten ihre festen Plätze bzw. Orte, sondern auch die Personen. Die Protagonistin wohnt wieder im Montmartre, in der Rue Fermat, Jean in der Rue de Bac, wo er eine »weitläufige Wohnung« besitzt, in der die »meisten Zimmer aussahen, »als betrete er sie kaum.« (ebd.) Außerdem markiert die Erzählerin anhand einiger Eckdaten und durch wenige Striche die Atmosphäre oder Stimmung an diesem Ort zu dieser Zeit, indem sie über das Kino und den Film spricht, also wieder die Örtlichkeit mit einbezieht. »Es war ein schlechter Film gewesen, ich war verdrossen, und draußen ein regnerischer Nachmittag.« (ebd.)

417 Vgl. auch AS, 406: »3. August 1990. [Jahreszahlergänzung SW]: Der Jardin du Luxembourg verwandelt sich […] in die Rue D’Assas«, vgl. auch AS, 423. 418 Ebenfalls ein bedeutender Treffpunkt der Résistance während der deutschen Besatzung. 419 Ein Restaurant bzw. eine Brasserie etc. wird bereits in BU, 51, 55 und 122 erwähnt.

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Es scheint zumindest ansatzweise bei Gruenter in dieser Phase insgesamt zum Prinzip geworden zu sein, neben dem »Im-Zitat-Sprechen«420, sich auf semiotisch stark besetze Orte zu beziehen.421 Ihr geht es nicht im eigentlichen Sinne darum, »etwas Neues zu entdecken« oder zu schildern, wo es um die Orte geht. Besondere Bedeutung kommt der Fontaine des Medicis zu. Ähnlich wie im späteren Werk »Der verschlossene Garten« führt sie hier einen Versuch vor, einen abgezirkelten Bereich, ein System der Liebenden, abzustecken: »Ein Gebiet, eingeschlossen inmitten der Stadt. Ein ausgegrenzter, imaginärer Ort, wie geschaffen für eine Begegnung. Der Park – hinter dem Gitter. Als ich schon nicht mehr darauf gewartet hatte, kam es ganz leicht von ihren Lippen: Fontaine de Médicis, gegen Abend, kurz bevor sie schließen.« (NB, 61)

Diese Konzeption der »Ausgrenzung« von Orten, etwa »der Park hinter dem Gitter« findet sich bei Foucault oder im künstlerisch-semiotischen Sinne bei Lotman. In fast jeder einzelnen der Erzählungen wird von neuem von den Erzählern bzw. den Erzählerinnen die Verbindung zwischen der Personalität des Anderen und des Betretens eines imaginären Raum hergestellt: »Es ist nicht, jemanden in Besitz zu nehmen, sondern es heißt, sich freiwillig in einen imaginären Raum zu begeben. Man kann nur da den anderen finden, wo man sich selbst aufgibt und alles vergisst, was in der Welt zählt.« (NB, 11) Die erste Erzählung des Bandes »Wie war der Himmel blau« »handelt« von einer Protagonistin, als sie bezeichnet, die sich innerhalb der Erzählung in unterschiedlichen Räumen aufhält. Sie tagträumt vor sich und liegt oder sitzt sich erinnernd im Bett. Sie unterhält eine Beziehung zu einem Mann Philipp, der sich irgendwann entschließt, eine andere Frau mit dem Namen Marie zu heiraten und zu dem die Erzählerin trotzdem eine Liebesbeziehung weiter aufrechterhält. Außerdem tritt Ruth, eine »Flurnachbarin« und Freundin der Erzählerin auf (NB, 12) und Julie und Thomas, zwei entferntere Freunde zum Gespräch, »denn es war leichter, über andere zu sprechen als über uns.« (NB, 14) Die Erzählung besteht im Grunde aus den Erinnerungen, Reminiszenzen der Erzählerin an Orte, an denen sie mit Philipp zusammengetroffen ist oder wohin 420 Vgl. AS, 366. Selbst wenn sie sonst durchaus kritisch mit dem Poststrukturalismus umgeht. 421 Hazan (2006, 131) weist darauf hin wie semiotisch bzw. intertextuell besetzt ein Ort wie der Jardin du Luxembourg ist, wo er schreibt: »Bei Jules Vallés, bei Léon Daudet, André Gide, Jules Romain, Jean-Paul Sartre, Michel Leiris oder Jacques Roubaud finden sich kaum Tagebücher oder in Paris angesiedelte Romane, in den der Jardin du Luxembourg nicht vorkäme als ein zentraler und symbolischer Ort für eine Rive Gauche, die die studentische Jugend, die Schriftsteller, die Verleger und Buchhändler, die Programmkinos, die Galerien und die Künstler der Avantgarde mütterlich in die Arme schloß, ganz zu schweigen von den Ausländern, die sich hier in der Nachfolge von Oscar Wilde, James Joyce, Joseph Roth und Henry Miller niedergelassen hätten.« Gleiches gilt etwa für die Place St. Sulpice o. ä., vgl. Hazan (2006, 144f., auch 257) und Georges Perec (42016).

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sich mit ihm »zurück träumt«,422 wie an das Haus von Marie und Philipp in Auteuil423. Die Reminiszenz an diese Orte ist verbunden mit zwei Sätzen der Erzählerin, die sie äußert, wenn sie Philipp begegnet: »Wie war der Himmel blau«. Der zweite Satz lautet, fast als kontrapunktische Antwort, wenn sie sich zusammen mit Marie in dem Haus in Auteuil treffen: »Was haben sie für einen schönen Birnbaum.« Es geht um einen Satz, den sie wie einen Code benutzt, den sie vor dem Spiegel »übt« und der beinahe leitmotivisch immer wieder an verschiedenen Stellen auftaucht: »Was haben Sie für einen schönen Birnbaum, sagtest Du zu dem Wirt, der den Grog an unseren Tisch brachte. Der Baum stand im Hinterhof, er war durch eine offenstehende Tür zu sehen und war kümmerlich und knorrig. Er trug kaum Blüten, der Baum eines kargen und steinigen Bodens. Ich sehe Dich vor mir, wie durch ein umgekehrtes Opernglas. Du saßest auf dem Gartenstuhl im Café de la Mer, Du saßest auf dem Rand, angespannt und verschlossen wie eine stachlige Distel. Der Wirt blickte dich an, als wollte er sagen: das sind die Überspanntheiten der Wochenendbesucher. Es ist der Baum, gegen den jeder Hund hier pißt, auf dem im Sommer die verwöhnten Kinder der Feriengäste herumklettern, die Äste abbrechen und die Früchte abschlagen.« (NB, 23)

Der andere Satz war jener Satz, den der Erzählerin mit Philippe verband, wenn er zu ihr kam, in ihr Zimmer mit den Geräuschen vom Hof, in dem immer Nacht war, selbst am Tag, weil es ohnehin so dunkel war, dass sie die Läden immer geschlossen hielt: »Sogar der Himmel sei anders, behauptete er, er sei heller, gläserner, so nahe am Stadtrand.« (NB, 13) Diese beiden Sätze dienen als Leitmotiv wie als Kommunikate. Es geht darum, über etwas zu reden, ohne eigentlich den Inhalt zu meinen, als eine Art »Erkennungsmelodie«. Zugleich hatte dies die »Funktion eines Spiels« im Haus bzw. im Flur: »[…] wir haben es oft gespielt, im Haus von Julie, vor vielen Jahren am Meer. Wir saßen im Haus, der ununterbrochene Regen schloß uns ein, und wir waren schweigsam und traurig, wenn wir uns in der Küche oder im dunklen Flur begegneten, versuchten wir einen Spaß zu machen, und einer sagte: was haben sie für einen schönen Birnbaum. Und dann sagte der andere, mit einer ausladenden Geste, als weise er auf ein vergessenes Land. Wie war der Himmel blau.« (NB, 25f.)

Insgesamt sind es von neuem die Beschreibungen der Orte, die den Löwenanteil der Erzählung ausmachen: das Schlafzimmer, in dem sie »die ganze Nacht wachgelegen und auf ein Schattenmuster gestarrt hatte« (NB, 5), der Hof, in dem »manchmal Licht gemacht wurde und in dem man manchmal rasche Schritte 422 Die Bemerkung: »[…] was wir vorfanden, war mehr eine Erinnerung an ein Café als ein Café« (NB, 11), erinnert wieder phänomenologisch an die spezielle Art der Mittelbarkeit der Wahrnehmung. Es handelt sich nicht um das Café direkt, sondern um eine »Erinnerung an ein Café«. 423 NB, 10: »Wie konnte man an Dinge wie Häuser in Auteuil, Frauen wie Anne-Marie und Mittagessen im Sommer glauben?«

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gehen hört« (NB, 5f.), das Zimmer mit »ihren Kleidern über dem Stuhl« (NB, 5), wieder eine Photographie von Doisneau424 und die anderen Geräusche des Hauses, die Orte charakterisieren: »Aus den anderen Wohnungen drangen bereits Geräusche, Radiomusik, Wasserlaufen und Geschirrklappern.« (ebd.) So hat Gruenter es wohl früh selbst wahrgenommen, obwohl »Nachtblind« zu einer Zeit entsteht, als sie noch nicht ans Bett gefesselt ist. Kontrapunktisch werden die aktuellen Geräusche der Wohnung mit Erinnerungen an Orte am Meer in Relation gesetzt oder miteinander kontrastiert. (NB, 6) Diese wiederum werden mit plötzlichen Impulsen der Protagonistin verbunden, wie »zur Gare St. Lazare« zu fahren und den »frühen Zug ans Meer« zu nehmen. In diesem Zusammenhang taucht der Bahnhof von Lisieux auf, der Gruenter gut bekannt war, weil er der Ankunftsbahnhof war, wo die meisten ihrer Bekannten ankamen, wenn sie sie und Bohrer in ihrem Haus in Trouville besuchten. Die Geräusche dienen zudem als Erinnerungsstützen bzw. als Anlässe, einen Erinnerungsprozess in Gang zu setzen. Neben dem obigen Zitat ist in der Erzählung ein weiteres, eher programmatisches Zitat über die Wahrnehmung der Wirklichkeit eingebaut, das wie eine Quintessenz der Erzählung gelesen werden kann. »Diese Wirklichkeit ist nie der Ort, wo jenes Unerklärbare ist, weshalb es sich zu leben lohnt, und deshalb ist es nur dann tödlich, jemanden zu verlieren, wenn man ihn da verliert, wo seine Träume sind.« (NB, 9f.) Insofern wird die Wirklichkeit, von der die Erzählerin ausgeht, in imaginäre Räume respektive Träume und Erwartungsräume verschoben, in Räume, wo man sich diese Träume und Erwartungen bewahren kann. Diese Räume bleiben immer an reale Orte wie das Restaurant oder das Bistro Deux Magots am linken Ufer gebunden. (NB, 13) Beide Lokalitäten tauchen wiederholt in »Der Autor als Souffleur« auf. Selbst die Personenschilderung – so typisch und symptomatisch für Gruenters Schreibweise – wird in Environments425 eingebaut, um die Personen zu charakterisieren, was für einige Erzählungen festgehalten werden kann. Insgesamt tauchen darüber hinaus weitere Orte bzw. Räume oder Environments auf wie der Metrogang am Chatelet (als Erinnerung, NB, 12), eine »Ara-

424 NB, 5: »Es hieß Le Baiser de l’hotel de Ville, und sie hatte es gekauft, weil die wichtigen Karosserien der Autos sie an ihre Kindheit erinnerten und weil das ganze Bild voller Bewegung war. Da war die Eile der Passanten und im Vordergrund das Paar, dessen Umarmung gleichsam aus dem Gehen heraus explodierte.« 425 Hier wird über die Definition von Environment als Beziehung von Objekt und Umwelt hinausgegangen, in dem Sinne, dass die Figuren einen Teil der Umgebung bilden und vice versa, dass die Umgebung, sprich die Räume, wieder auf die Figuren zurückwirken, so dass von einem reziproken Verhältnis zwischen Figuren und Umgebung bzw. Raum zu sprechen ist.

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berkneipe in einer Seitenstraße von Jules Joffrin« (NB, 14),426 das Wochenendhaus von Julies Tante (ebd.), hauptsächlich die Küche dort427, der Waldrand von Vincennes, wo sie sich das erste Mal trafen (ebd.), ihr Badezimmer, ihre frühere Ein-Zimmer-Wohnung in Belleville (NB, 16), die »ausgestorbenen Chinesenviertel im Osten«, das »Hafengebiet im Norden«, Cafés an der Porte D’Ivry oder an der Porte Vanves (NB, 17), ihre Küche (NB, 18) oder der Bahnsteig von St. Lazare (ebd.), um hier nur einige exemplarisch zu nennen. An diesen Beispielen wird deutlich, dass auf den ca. zwanzig Seiten der Erzählung so viele Orte bedeutungsgebend sind, die zum Teil äußerst genau, fast über detailliert beschrieben werden, wie etwa ihre Küche: »Sie stand auf und verließ ihre Küche, als verließe sie eine schützende Höhle. Sie liebte ihre Küche, das Durcheinander von Trödelmarkt und das Unkomfortable und Unmoderne, die Topflappen über dem großen Bild, das an die Wand gelehnt stand, die Zeitungsseite mit dem Bild vom Cup Final 70 in Wembley, die über den Herd gepinnt war, und die Blechschüssel mit den Zwiebeln, die in der Wärme der letzten Tage Sprößlinge getrieben hatten. Sie löschte das Licht und betrachtete zärtlich die im Halbdunkel verschwindenden Dinge und dachte, dass nur Frauen so mit den Dingen verwachsen, die sie umgeben.« (NB, 19f.)

Die Küche und ihre Utensilien dienen der Protagonistin quasi als eine Art Schutzraum. Hier kommen wieder biographische Versatzstücke Gruenters zum Ausdruck, die sehr gerne kochte und sich zum Teil lange in der Küche aufhielt. Die Autorin entwickelt hier jene Art der »Poetik der Räume«, wie es heuristisch genannt werden soll, jene »Zärtlichkeit« zu den Dingen und das Verwachsen damit, was nach Ansicht der Erzählerin in erster Linie Frauen gelingt. Am Schluss ist die Protagonistin zu einer echten oder vermeintlichen Begegnung428 mit ihm bereit, aber als das Telefon »schrillt«, hat sie Angst vor der Absage (NB, 24) und geht aus dem Haus. Kurz darauf macht sie wieder kehrt und geht in ihre Wohnung zurück: »Sie wandte sich um, stieg die Stufen wieder hinauf. Sie schloß die Tür auf, und die Wohnung war dunkel und unwirklich wie alle verlassenen Dinge. Sie kam sich vor wie ein Eindringling.« (NB, 25) Auf diese Weise stellt sich für die Protagonistin eine Distanz zum eigenen Ort her, zu sich selbst wie zum eigenen Leben: Sie verfremdet in der eigenen Darstellung das Vertraute so stark, dass sie sich selbst als Eindringling begreift.

426 In »Der Autor als Souffleur« (AS, 132) wird deutlich, dass die Erzählung zunächst »Place Joffrin« heißen sollte oder, dass zumindest eine weitere Erzählung mit diesem Titel geplant war. Vgl. auch: AS, 109. Überhaupt spielt das in der Erzählung beschriebene Viertel der Goutte d’Or für Gruenter eine exponierte Rolle (AS, 131). 427 NB, 15: »Es war eine richtige Kleinleuteküche mit einem Wachstuch auf dem Tisch und Kartoffelschnaps im Wandregal.« 428 Was offengelassen wird.

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In der Erzählung »Postkarten vom Marché aux Puces« geht es, diesmal vermittelt über einen allwissenden Erzähler, um eine Frau, die mit ihrer Mutter in einer Drei-Zimmer-Wohnung am Boulevard Ornano (NB, 33) lebt, die sie pflegt und die einen Jungen mit Namen Georges besucht, der dort am »Stand seines Onkels« (NB, 36) arbeitet, auf dem berühmten Flohmarkt an der Porte aux Cliancourt. Die Protagonistin wird auf dem Markt bereits von Georges erwartet. Sie wird sich einmal mehr verspäten, fragt sich, ob Georges auf sie warten würde.429 Die Mutter, die sie nur ungern ziehen lässt und Georges, der tatsächlich auf das Mädchen gewartet hat, lösen eine »dramatische und dynamische Spannungen« in ihr aus. Anhand der Ortsbeschreibung wird die Atmosphäre und der Lokalkolorit des Flohmarkts wieder in einer Art hyperrealistischer Schilderung überaus anschaulich gemacht, etwa wo sie aus der Richtung ihrer und ihrer Mutters Wohnung am Boulevard Ornano kommt: »Vom Boulevard Ornano bis zum Marché aux Puces waren es nur wenige Minuten. Aber vor den überdachten Ständen mit Töpfen, Waagen, Wiegemessern und anderem Kirchengerät war das Gedränge der farbigen Gastarbeiter so groß, daß sie sich nur langsam hindurchwinden konnte. In der Luft hing ein schwül klebriges Gemisch von geöltem Haar, von gebrannten Mandeln und gestapeltem Haushaltsgerät aus Plastik. Diese fest geschlossene Kette von Verkaufsständen, eine Mischung von orientalischem Bazar und Kirmesbuden, war wie eine Grenzlinie. Wenn sie unter der Hochbrücke war, über die eine Fahrbahn des Schnellstraßenrings um Paris führt, verschwand mit einem Mal ihr übriges Leben. Jeden Samstag, wenn sie die Grenzlinie [Hervorhebung SW] überschritt, genoß sie dies zwiespältige Gefühl: plötzlich ohne Erinnerung zu sein. Kein Mensch mehr, sondern wie einer der Papierfetzen auf dem Boden, richtungslos dem Wind und der Gegenwart preisgegeben. Verstaubte Plakatfetzen klebten an den Betonpfeilern. Im Echoraum [Hervorhebung SW] unter der Hochbrücke hallten ihre Schritte wie durch ein Schattenreich. Eine verlassene Zone, ein Schlafplatz für Obdachlose, mit leeren Flaschen und Plastiksäcken mit Müll. Auf einer Wand stand ein Grafiti: Plutôt la VIE.« (NB, 34f.)

An dieser Stelle wird vom Erzähler der Begriff des »Echoraums« eingebracht, sicherlich in einem anderen Sinne zu verstehen, als dieser heute in der virtuellen Welt benutzt wird. Diese Art von »ästhetischem« oder »poetischem Echoraum«, der hier vorgeführt wird, geschieht über eine äußerst präzise, übergenaue respektive hyperreale Darstellungsweise bzw. Sprache. Dadurch wird wieder ein konkreter wie ästhetischer Mikrokosmos geschaffen, in diesem Falle jener des Flohmarkts, oder jene abgetrennte »Zone unter der Hochbrücke«. Diese Art der 429 Auf das Warten als eines der weiteren Zentralmotive Gruenters ist schon verschiedentlich hingewiesen worden, vgl. auch z. B. AS, 48: »Unbeweglichkeit, Abwesenheit. Ein (ekstatisches) Lauschen. Ich schreibe das Warten.« Vgl. dazu auch: AS, 383: »[…] das Warten ist ein literarisches, ein existentielles Thema, wie B. sagen würde, von Tschechow, Gogol bis Beckett […].« Außerdem findet es an folgender Stelle Erwähnung: AS, 32: »Warten, Verspätung, Langsamkeit.« [Im Original kursiv gedruckt, Ergänzung SW].

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Stadtbeschreibung wird einmal mehr in kleinere abgetrennte Räume unterteilt, die jeder für sich wiederum eine Einheit bilden. Wieder fällt auf, dass die Räume in dieser großen Stadt fast menschenleer erscheinen, wenn man mal von den hallenden »Schritten durch ein Schattenreich« absieht, was aber erneut nur das Geheimnisvolle (die Andeutungen menschlicher Tätigkeiten) die Verlassenheit und den »Geist des Ortes« beschreibt. Die Protagonistin ist auf dem Flohmarkt besonders an den verfremdeten, unwirklichen Welten auf den Postkarten interessiert (NB, 37), die sie zusammen mit Georges betrachtet: »[…] sie erschienen ihr wie Reisen in eine fremde Stadt.« (NB, 38). »Überdies ist von Suzanne, Georges Freundin, die ebenfalls ein Faible für Postkarten hat, mit ins Kino eingeladen worden.« (NB, 39f.) Fast additiv wird der Fortgang der Erzählung aneinandergereiht. Schließlich gehen sie ins Edith, einer Art Bal Musette (NB, 42, 46) und hören dort von der Geschichte einer Frau, die von den Eisenbahnschienen gesprungen ist. Erneut wird an der folgenden Passage im wortwörtlichen und übertragenen Sinne zugleich die Verflechtung von Örtlichkeit bzw. Raum und Existenz deutlich, wovon sowohl die Protagonistin als auch die von der Brücke springende Frau Angst430 zeugen. Man erfährt, dass die Protagonistin aufgrund der Beziehung zur Mutter, die dauernd im Bett liegt und vor deren Angesicht sie sich ständig schuldig fühlt, selbst an Selbstmord denkt. Sie ist beruhigt über »den kleinen Vorrat an Schlaftabletten, den sie, über Monate hinweg, der Mutter weggenommen hatte« und den sie ihre »Lebensversicherung« nennt. (ebd.) Die Tochter will nicht in die Wohnung zurückkehren, weil sie Angst vor einem »langen Schweigen« zwischen den beiden hat. Ihre seelische Verfassung wiederum lässt sich an der Wahrnehmung und Beschreibung des »Stadtraums« ablesen, ein Echoraum im Guten wie im Schlechten: »An der Kreuzung vom Boulevard de la Chapelle blieb sie mit Herzklopfen stehen. Die eisernen Bögen der Hochbahn schwangen sich lautlos durch die Nacht, und sie blickte der Kurve nach in Richtung Jaurés. […] Der Himmel war klar und die Hochbahn stand schweigsam in der Nacht. Sie steckte die Hände in die Taschen, es war kalt, und sie ging unter der Brücke durch.« (NB, 47f.)

Bei der Beschreibung des Rückwegs, als Georges die Protagonistin nach Hause begleitet, nehmen wieder die Orts-, Raum, teilweisen Milieuschilderungen Überhand. Bezeichnend erscheint von neuem das von der Erzählerin eingehal-

430 Damit ist jenes namenlose Etwas gemeint, das innerhalb des Kierkegardschen Existentialismus von der konkreten Furcht vor etwas abgesetzt wird, vgl. Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst. (Originaltitel: Begrebet Angst. aus dem Dänischen übersetzt und herausgegeben von Emanuel Hirsch). In: »Gesammelte Werke. 11/12.« (=Gütersloher Taschenbücher Siebenstern. Band 608). Gütersloh: Gütersloher-Verlagshaus 31991 (Erstausgabe 1884). Hier ließen sich in Hinblick auf das Phänomen der Angst erneut Analogien zu Rilkes »Malte Laurids Brigge« finden.

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tene »Schweigen« während des Gehens, was ebenso in anderen Erzählungen (z. B. »Unter Milchglas«) als Motiv auftaucht. »Unwillkürlich bogen sie in die Rue Hermel ein, die den Berg hochführt. Je länger sie gingen, desto langsamer wurden ihre Schritte, als hemmte sie etwas, das ihnen auf der Zunge lag, je weniger sie es aussprechen konnten. Ein Wind kam auf, wirbelte Staub hoch, raschelte in den Ästen. Die Kinder, die auf der Straße gespielt hatten, sammelten ihr Spielzeug ein und verschwanden in den Häusern. Ein Moment Windstille, dann fielen die ersten Tropfen, und die Luft roch plötzlich süß und schwer nach den ersten Akazienblüten in diesem Jahr. […] Plötzlich schwoll das Rauschen in den Büschen an, und dann schüttete es wolkenbruchartig. Georges ergriff ihre Hand und lief zu dem Musikpavillon am anderen Ende des Squares. Schlamm spritze auf, dann zog er sie unter das Dach. Sie schüttelte sich und rief in das Prasseln des Regens […] und strich ihr die klatschnassen Haare langsam aus dem Gesicht.« (NB, 48f.)

Selbst der Wohnort ist bei einigen Protagonisten ähnlich oder sogar gleich (in Belleville, Les Feuillantibes o. ä.). In der darauf folgenden Erzählung »Unter Milchglas« wird die Geschichte eines nicht mehr ganz jungen Altphilologen431 präsentiert, der an der Universität arbeitet, mit seiner Schwester zusammenlebt, und seine »platonischen Annäherung« an eine seiner Schülerinnen geschildert, die 14-jährigen Livia. Erneut sind es die Orte, die die Personen charakterisieren, dazu die Spaziergänge, die zum Teil unfreiwilligen Bewegungen von Ort zu Ort, die die Protagonisten, den Dozenten und seine Schülerin zeigen, der Tochter einer Freundin seiner Schwester, die zunächst nur zögernd in die Spaziergänge einwilligt. (NB, 67) Wieder taucht die Rue de Rome auf, von der die Frau in der Erzählung »Postkarten vom Marché aux Puces« von der Brücke gesprungen war (AS, 47): »Wir überquerten die Rue de Rome, auf der sich wie immer um diese Zeit die Autos stauten, und gingen über die Eisenbahnbrücke in Richtung Avenue de Clichy. Es war nicht das erste Mal, daß ich sie begleitete, und ich hoffte, wir könnten einen Abstecher zum Square des Batignolles machen und auf einer Bank sitzen und danach noch ein wenig in den Seitenstraßen herumstreifen.« (NB, 68) Zudem wird äußerst präzise und anschaulich, die Wohnung beschrieben, die der Ich-Erzähler mit seiner Schwester bewohnt. Ähnlich wie diese die Wohnung war sein Leben eingerichtet. (NB, 69) »Mein Leben war eingerichtet, und ich rechnete nicht mit Veränderungen. Ich wohne seit zwanzig Jahren in der Rue de Rome, die nur einen Steinwurf weit von der Wohnung meiner Kindheit entfernt ist. Als Kinder spielten wir, meine Schwester und ich, im Square des Batignolles, und das Rollen der Züge begleitete meinen Schlaf. […] ›Dieser Lärm‹, sagen sie, ›wie kannst du arbeiten, wenn sogar nachts Züge fahren?‹ Häuser, die an Gleisanlagen liegen, gelten als schlechte Wohnlage. Aber mich stört es nicht, im 431 Motiv des »hinter Glas« oder »unter (Milch-) Glas interessierte Gruenter auch schon in »Ein Bild der Unruhe«: »War nicht die ganze Geschichte von Acht von Anfang an in Bilder gedrückt, buchstäblich hinter Glas?« (BU, 103)

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Gegenteil. Es sind die Züge, die von der Gare St. Lazare kommen und in die Vororte fahren, vor allem aber nach Westen, an die Küste. Diese Züge beschäftigten meine Phantasie, und wenn ich auf den Balkon trete, bilde ich mir ein, der weite Himmel zeige schon dieselbe Wolkenbildung wie am Meer.« (ebd.)

Das ist aber bereits alles, was in der Erzählung »geschieht«, außer der Darstellung einer zwischenzeitlichen, kurzen Reminiszenz an die Möglichkeit einer Beziehung des Philologen zu einer Frau. Alles »geschieht«, wenn man so will, im Warten,432 in der Erwartung, die sich dann aber nicht erfüllt. Der Ich-Erzähler ist sich über die Sinnlosigkeit seines mit Livia-Durch-die-Straßen-Schlenderns bewusst, stellt sich immer wieder vor, dass er »nach Hause« gehen wird.433 »Ich werde nach Hause gehen und sie nicht wiedersehen, sagte ich mir. Ich sah mich nach Hause kommen und die Tür aufschließen, sah das ruhige tagwarme Treppenhaus, das polierte Geländer, das milde Licht in den bunten Jugendstilfenstern auf dem Treppenabsatz. Ich würde die Treppe hochsteigen, hinter den Türen die träge Stille des frühen Abends, und vielleicht gedämpft aus der Erdgeschoßwohnung Radiomusik. Ich werde nach Hause gehen und sie nicht wiedersehen, wiederholte ich mir. Ich werde einen Zitronensaft trinken, wie immer im Sommer, wenn ich nach Hause komme. Ich werde den Kühlschrank öffnen, und ihn dort vorfinden, auf einer kleinen Untertasse bereitgestellt, von der Hand der Schwester ausgepreßt, verdünnt, gezuckert. Ich werde den Kühlschrank schließen, und alles wird sein wie immer.« (NB, 87)

Jede noch so kleine Geste wie das Trinken von Zitronensaft oder jedes »Zeichen« wird, wie in der folgenden Sequenz das Lächeln des Mädchens mit Bedeutung aufgeladen, wo sie sich am Ende einer Passage treffen: »Ich kehrte um und ging zur Passage zurück. Aus dem Gang schlug mir jene Atmosphäre von Unwirklichkeit und Einsamkeit entgegen, die manchmal gegen Abend entsteht, wenn die Geschäfte gerade geschlossen haben und alles verlassen daliegt. Kein Schritt war auf dem Steinboden zu hören. Es war zu früh für elektrisches Licht, die Schaufenster lagen im Schatten. Ich entdeckte Livia am anderen öEnde des Gangs. Sie stand vor einem Schaufenster und spähte hinein. Ich begann, die Passage hinabzugehen. Sie stand ein wenig vorgebeugt, das Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie schlenkerte selbstvergessen mit der Tasche. Violett sickerte das Abendlicht durch den Himmel aus Milchglas [Hervorhebung SW]. Ich blieb einen Augenblick stehen, und das Bild fügte sich, ohne Hoffnung, aber in einem Aufzucken von Jubel, zusammen. Die Tasche, die Hand, die Bewegung. In diesem Augenblick wandte sie den Kopf und lächelte.« (NB, 88)

Ganz explizit wird hier eine der Passagen erwähnt. Die Spiegel der Schaufenster sind von milchigem Licht, alles geschieht wie hinter »Milchglas«, was der Erzählung ihren Titel gibt und zugleich auf den Punkt bringt. Die Wahrnehmung 432 Benz (2013). 433 Formalästhetisch und sprachlich ist hier wiederum der Wechsel vom Indikativ zum Konjunktiv und umgekehrt wichtig.

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des Anderen geschieht wie durch ein Glas, wie durch einen Filter. Durch diesen Filter ist quasi jede Form unmittelbaren Kontakts, direkter Interaktion oder authentischen Sprechens aufgehoben. Die Figuren bewegen sich im »freien Raum«, sie schweben wie offene, schwer greifbare, diffuse Identitäten und die Umgebung respektive das Environment gibt den Rahmen vor, worin sie sich bewegen. Auf diese Weise werden die Räume omnipräsent, vielsagend und mehrdeutig: Die Figuren können darin nicht zusammenkommen und verlieren sich sofort wieder im Raum. Es besteht keine Möglichkeit weder an zeitliche noch örtliche Koordinationspunkte anzuknüpfen. Die Beschreibung der Passage, der Schaufenster der Geschäfte, dient zu einer genaueren Charakterisierung der Figuren. Das Zusammentreffen der beiden Protagonisten geschieht in einer Einkaufspassage, von Zeichen realer Kommunikation kann bis auf einen Austausch kurzer Blicke keine Rede sein. Auch in dieser Erzählung wird kaum gesprochen oder Dialog geführt, die Protagonisten bewegen sich wie Monaden durch den Raum. Die Beziehung der beiden Protagonisten bleibt wie unter einem »Himmel aus Glas«, unter Milchglas, weil die eigentlich intendierten Handlungen nicht ausgeführt werden, sich die Beziehung der Figuren nur in Andeutungen »zeigt« oder sich im Inneren des Protagonisten434 »vollzieht«. Insofern wird die Erwartung, das Bewusstsein im örtlichen Sinn zu einem Trichter, worin sich Träume, Erwartungen und Erinnerungen sammeln. Die Autorin versucht »die poetische Evokation eines solchen Augenblicks, die atmosphärische Vorbereitung dieses anderen Blicks, da der vage Zauber der Erzählungen, kurz: der »blinde Fleck«, der das erklärte Ziel ihres Schreibens ist.« (Köhler 1995) Die Erzählung »Der Traum der Sprache« kann geradezu als exemplarisch gelten, was Gruenters Herstellen von Stimmungen in Bezug auf Orte und Environments betrifft435: »Fünf Straßen münden hier in einen Platz. Die Häuserzeilen enden hier wie abgebrochen. Wie Gesteinsadern in einem Steinbruch. Kalk und Staub, das ist die Stimmung dieser Straßen. Kein Viertel der Reichen. Ein ärmliches Viertel, kurz vor der Porte de Clignancourt, ein Viertel der Handwerker und Einwanderer.« (NB, 114)436 An einer kurzen Interpretation dieser Geschichte versucht sich Markewitz (2010): Sie sieht Gruenters Erzählung in der Tradition von Rilkes »Malte Laurids Brigge« im Hinsicht auf die »Evidenz der Metropole«, die das Ich verneint, »das sich in ihr niederlässt, aufhält, ob es heimisch werden möchte.«

434 Ihres wird nicht explizit genannt. 435 Gruenter spricht im Zusammenhang mit Schiller und Karoline von Günderode von dem Unterschied zwischen Person und Stimmung, vgl. AS, 263. 436 Wieder wird sich hier auf das Viertel Goutte d’Or bezogen.

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»Bis in die Literatur vom Ende des 20. Jahrhunderts übermittelte sich an der Linie des Paradoxes glückhaften Schweigens der Traum von Paris als Ort des Dichters. Die Relativierung, die er ausspricht, befestigen nur selten seinen [Rilkes, Anmerk. SW] Ort. Eine späte Nachfahrin lässt in Frankreich die Sprache von der Sprache träumen. Undine Gruenters Erzählung Der Traum der Sprache situiert sich aus einer Bewegung heraus zwischen den Zuständen von hell und dunkel, Tag und Nacht.« (Markewitz 2010, 136)

Markewitz bezieht sich hierbei vorwiegend auf die folgende Stelle der Erzählung, wo zu Beginn, Leute auf einer Kreuzung zusammenströmen (NB, 113) und die Leserin bzw. der Leser zunächst nicht erfährt, was passiert ist. Man bleibt als Lesenden(r) auf eigenartige Weise zunächst wieder außen vorgelassen. »Draußen ist noch taghell, obwohl der Abend schon angebrochen ist. Von ihrem Tisch aus sieht sie den Himmel. Eine weite gleißende Fläche über den Dächern, die hinter einer Dunstschicht in den Augen brennt, Im Raum steht die Luft. Fliegen über den Tischen im hinteren Teil. Über den Tischen mit Salaten, auf der Kommode.« (NB, 113)

Der bereits angesprochene Schweizer Kunstmaler Urban Saxer nimmt diese Erzählung ebenfalls exemplarisch auf und beginnt diese in filmische Bilder zu übersetzen: »Der Traum der Sprache. Eine Geschichte wie ein nie geborenes Kind. Eine Geschichte, von der ich bis jetzt noch nicht weiß, ob ich sie wirklich gelesen habe. Nach zwei Seiten waren da nur noch Stimmungen und Bilder, aufgereiht auf einer Schnur unverweigerlicher, innerer Logik, deren Beginn und Ende sich Auge in Auge gegenübersaßen, – mit einer solchen Geschichte etwas machen, Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, Ihre Erzählung in potentielle Bilder umzusetzen und habe ein kleines Drehbuch verfasst.«437 Eine besondere Art der Stimmung im Bollnowschen Sinne (vgl. Bollnow 2009) wird durch genaue Ortsbeschreibungen hergestellt, die an der Alltagswelt ansetzen,438 dann aber wiederum so »verändert werden, dass davon nicht mehr viel übrigbleibt«. wie Markewitz schreibt: »Eine Alltagswelt, in der Wahrnehmungen unsicher werden, Tageszeiten verschwimmen, der Traum in den Augen brennt. Nicht die sehenden Augen träumen den Traum der Sprache, so scheint es, sondern die Sprache selbst sich in Erinnerung an frühere Sprachwendungen.« (ebd.) Wie sie deutlich hervorhebt, wird die Sprache damit selbst zum Gegen437 Brief vom 20. 04. 1992. Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie. Überhaupt erscheint es überraschend, dass trotz der herausgestellten Handlungsarmut nicht mehr Regisseure auf die Idee gekommen sind, Gruenters Erzählungen oder Romane zu verfilmen. 438 Vgl. Michael Rutschky: Der Alltag. Die Sensationen des Gewöhnlichen. (Hg, v. 1985–1997) Berlin: Espresso/Elefantenpress 1999; Hermann Bausinger Alltagskultur. In: Alois Wierlacher: Fremdsprache Deutsch. München: Iudicum 1990; Hermann Bausinger: Erlebnisgesellschaft. Facetten der Alltagskultur. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2014; Hermann Bausinger: Das Bild der Fremde in der Alltagskultur. In: Universitas 9, 1988, 953–954.

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stand der Erzählung gemacht, wie es der Titel nahelegt. »Es geschieht nichts«, und doch ereignet sich etwas, nämlich das Nichtsprechen oder das Schweigen, so paradox sich das anhören mag: »Plötzlich sitzt er am Nebentisch. Nichts geschieht, Man bringt ihm sein Essen. Er liest. Die aufgeschlagene Zeitung neben sich, […] Er hat sich umgedreht, sich ihr zugewandt, er hat diesen Satz gesagt, ohne die Stimme zu heben. Aber er hat ihn gesagt, als müsse er mit verkohlter Zunge aus dem Bild fliehen. Aus dem Satz, der zu sprechen unmöglich ist.« (NB, 114)

Markewitz stellt fest, dass die »Protagonisten aus der Sprache […] fliehen und sie tun es selbstverständlich.«439 »Leere«, »Stille« (NB, 113) ist die Achse, die bestimmt, dass nichts geschieht. Das Schweigen ist das des Wartens, des Nichtgehörten und zugleich ein semantisches Anschließen an die Tradition der Schweigrede, alles andere geschieht beiläufig. (ebd.) In der Erzählung liest sich das wie folgt: »Kein Laut in der Nacht. Ihre Schritte unhörbar. Kein Geräusch, nur diese Stimme: Ich weiß nichts über die Frau. Nichts, was zu wissen von Bedeutung wäre. […] Am Ende der Straße, am Fuß einer anderen Treppe, die den Berg hinaufführt, verabschieden sie sich, Sie verbirgt sich in dem Hauseingang.« (NB, 115)

Insofern werden hier die Figuren tatsächlich zu verschwiegenen Zeugen, zum Fokus der »Aktion« des Verbergens und Verschweigens, weshalb Markewitz zu folgendem Schluss kommt: »Das Sich-Verbergen ist vielleicht eine Bedingung, unter der das Paradox lebt, und vorstellungsleitend werden kann. Wenn Gruenters Traum der Sprache von der Sprache selbst geträumt wird, schwinden ihr die Referenzen, verbergen sich – nichts zu wissen, die Nacht, lautlos, kein Geräusch.« (Markewitz 2010, 137) Darüber hinaus ist die Erzählung im Präsens gehalten, dadurch entsteht eine andere Form von Gegen- und Augenblicklichkeit, eine aber nur auf den ersten Blick scheinbare Direktheit. Es ist darauf hingewiesen worden, dass der Präsenz eher als Modus, denn als Tempus zu verstehen ist. Inhaltlich ist es zum einen die Geschichte einer jungen Frau, einer italienischen Einwanderin in Paris, die aus einem Fenster gefallen oder gesprungen ist. Diese Geschichte und die Rekonstruktion dieser Geschichte ist der Impuls für die Beschreibung einer Begegnung der Protagonistin (einer personalen Erzählerin), die in einem Büro im Lycée Damrémont arbeitet, (NB, 115) offensichtlich Sekretärin oder ähnliches an einer höheren Schule ist, mit einem Mann in einer Kneipe oder in einem Bistro.440 439 Markewitz (2010), 136. 440 Es könnte wieder die Bar au Rêve sein, die so häufig in »Der Autor als Souffleur« auftaucht: u. a. AS, 177 u. 438. Allerdings wird dies nicht explizit gesagt und die Atmosphäre wirkt anders.

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Ganz explizit formuliert die Erzählerin die Beziehung dieser Frau zu der sie umgebenden Straße bzw. zu den »Räumen von Paris«, die sich in der Erzählung als fremd erweisen und im Verlauf der Erzählung immer mehr »fremdeln«. Sie beginnt nach der Arbeit, durch fremde Straßen zu ziehen, »in weit von ihrer Wohnung abgelegenen Viertel herumzustreifen«. (NB, 115) Am Ende kommt sie an das Haus der Italienerin: Von ihrer Concierge hat sie mehr über das Leben der Italienerin erfahren, die aus dem gleichen Viertel wir die Erzählerin stammt, dass sie einen Mann hatte, der »im Büro einer italienischen Transportfirma, in der Rue Ordener seiner Arbeit nachgeht«, (NB, 127) und dass sie offensichtlich einen Liebhaber hatte. Wie in einer Art Tagtraum entfernt sich die Protagonistin durch das Einbiegen in ständig andere Straßen immer weiter von sich; sie »verläuft« sich in der Stadt im von Hessel herausgestellten Sinne. Damit entfernt sie sich zugleich von sich selbst und bringt sich um die Möglichkeit einer Rekonstruktion dieser Geschichte, bei der zu Beginn offensichtlich Parallelen zu ihrer eigenen Geschichte bestehen. Das »Nachgehen« ist immer mit dem kurzfristigen Verlust des eigenen Selbst verbunden (vgl. Müller 2017), sie »geht« in diesen Straßen »auf«. Daneben wird die Erzählung der Concierge immer wieder durch Passagen aus deren eigenem Leben unterbrochen. Als Verbindungsglied zwischen der Erzählerin, der Concierge, der Italienerin, ihrem Mann und dem Mann, den die Erzählerin im Bistro am Tag des Selbstmord der Italienerin kennenlernt, über dessen Grund der Leser nichts weiter erfährt, fungiert das Viertel, in dem die Concierge groß geworden ist: »Von der Kindheit in den dreißiger Jahren, zwischen den Kriegen, in diesem Viertel am nördlichen Stadtrand, zwischen Rue de Clignancourt und Rue Marcadet. Gearbeitet hat sie als Kellnerin an der Place Jules Joffrin [die hier von neuem auftaucht, Anmerk. SW]. Man kommt nicht heraus aus dem Viertel, in dem man wohnt, sein ganzes Leben nicht. In einem Viertel der feinen Leute ist sie nie gewesen. Die Concierge erzählt wie jemand, der sein Leben noch als zusammenhängende Geschichte begreift. Kindheit, Hochzeit, Geburten, die Arbeit, der Tod.« (NB, 123f.) Daneben wird die Beziehung der Italienerin zu ihrem Geliebten (»wobei sie ihr Mann doch auf Händen getragen hätte«, ebd.) durch die Beschreibung von dessen Viertel mit ihrem eigenen kontrastiert, in welchem sie sich immer mit ihm traf: »Aber es müsse da einen anderen Mann gegeben haben. Einmal habe sie die Italienerin mit einem fremden Mann gesehen. An der Porte de Clignancourt, in einer Kneipe. Keine gute Gegend, sagt die Concierge, man wisse nie, was sich dort abspiele. Die meisten Reparaturwerkstätten wären seit langem geschlossen. Die Besitzer hätten sie aufgeben müssen, weil nichts mehr hier zu verdienen gewesen sei, sie wären fortgezogen. […] Aber an diesem Samstagmorgen, es sei kurz vor dem Unfall gewesen, sei ihr nichts anderes übriggeblieben. Der Schlüssel zur Kellertür war abgebrochen, sie haben schnell

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Ersatz gebraucht. Die anderen Werkstätten in der Gegend hätten schon für die Sommerferien geschlossen gehabt, und man habe ihr gesagt, in der Rue Belliard, neben den Eisenbahngleisen, gäbe es eine, die noch geöffnet hätte.« (NB, 124f.)

Die Italienerin, ihr Tod und ihre »Lebensgeschichte«, über die man gar nicht viel erfährt, stellen das Bindeglied zwischen der Erzählerin und der Concierge, und der Erzählerin und jenem Mann dar, den sie in der Kneipe trifft. In dieser Erzählung erhält zunächst das Geschichtenerzählen im biografischen Sinne besondere Bedeutung, was mit dem Tod der Italienerin obsolet geworden scheint: »Es gibt keinen Grund, der Italienerin weiter nachzuforschen. Es geschah einzig aus dem Grund, um die Erzählung zwischen ihnen, am Abend, nicht abreißen zu lassen.« (NB, 129) Die Erzählerin hat das Interesse an der Geschichte verloren: an der alltäglichen wie zugleich einzigartigen Tragödie eines Ehebruchs. Ihr ganzes Interesse zielt auf einen einzigen Punkt: auf den Moment des Sturzes und »die Stunde davor.« (ebd.) Von diesem Zeitpunkt an lässt sie sich ziellos durch die Straßen treiben, ohne dass sie selbst wüsste warum. Genau das aber scheint die Erzählung zu konstituieren: Gehen und Denken in einer unendlichen Schleife, ohne konkret örtlich wie abstrakt reflexiv dem Phänomen, in diesem Fall dem Selbstmord der Frau, näher kommen zu können. »Sie geht durch die Straßen, in denen ein verspäteter April sich niedergelassen hat, getrieben von einem inwendigen Zwang zur Bewegung. Obwohl sie nicht weiß, warum sie geht und warum. Straßen, Häuser, Plätze gleiten an ihr vorüber. Nichts vermag sie aufzufassen, nichts zu denken. Ab und zu trifft sie ein Zeichen – das Schild eines Cafés, in dem sie gesessen haben, ein Fenster, unter dem sie gestanden haben, die italienische Zeitung, die er liest – wie ein Strich. Diese Erinnerung ist unerträglich. Sie verschlingt alles, was um sie herum geschieht. Sie schleift sie durch die Straßen. Von außen treibt sie an, von innen höhlt sie aus. Kein Geschmack mehr im Mund. Kein Gefühl in den Fingern. Leere im Kopf, im Herzen ein Schwindel.« (NB, 128)

Die Figuren bleiben seltsam unbestimmt, nur angedeutet und einzig durch die Umgebung charakterisiert, in der sie sich befinden.441 Selbst als die Ich-Erzählerin das Café wiederfindet und den Mann erneut sieht, erkennt sie ihn zunächst nicht wieder. Offensichtlich scheint es gar nicht um diesen konkreten Mann zu gehen, auch wenn sie das Gespräch über die Italienerin und ihre beiden Männer von neuem aufnehmen und obwohl angedeutet wird, dass sich der Mann so für die »Italienerin« interessiert, weil er ihr Geliebter hätte sein können. Die Erzählung dreht sich einzig um das Warten auf irgendwen, der nicht kommt, auf irgendwas, was nicht eintritt, wie die Liebe oder die Erinnerung an etwas, was nie 441 In der kognitiven Psychologie würde man von einem Embodiment sprechen, der Darstellung der Person über ihre Umgebung, vgl. Margaret Wilson: Six views of embodied cognition. In: Psychonomic Bulletin & Review. Band 9, Nr. 4, Dezember 2002.

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gewesen ist. Und die Erinnerung daran gilt es dann ebenfalls noch zu vergessen. Aber dennoch oder gerade deshalb beschäftigt den Ich-Erzähler diese Interdependenz von Erinnern und Vergessen in seinen Reflexionen. »Ich werde versuchen, mich zu erinnern. Das Vergessen hat etwas Endgültiges wie der Tod. Aber ich werde vergessen, und die Trauer wird verschwinden. Und die Nacht wird nichts aufbieten können, um zu verhindern, daß ich vergesse. Wenn der Morgen anbricht, werde ich nichts mehr wissen. Diese Nacht wird wie eine Reise sein, in den toten Schacht eines stillgelegten Bergwerks.« (NB, 134f., im Original kursiv gedruckt)

Das Warten und die Erwartung finden in »Flucht in die Wälder« ihre Wiederaufnahme, wenngleich aus jeweils einer anderen Perspektive und zu verschiedenen Zeiten. (NB, 152, 156 u. 158) Der Erzählung ist ein Zitat von Racine vorangestellt, was wie ein Motto funktioniert: dans le fond des forêts votre image me suit. (NB, S.136) Im Verlauf der Erzählung verändern sich sowohl die Erzählperspektive als auch die Zeit der Erzählung sowie die Modi, um offene und flexible Identitäten zu schaffen. Es handelt sich um eine Erzählung, die wie die Erzählung »Das besetzte Zimmer« motivisch nicht zu den »Pariser Erzählungen« zählt, weil sie streng genommen mit der Stadt Paris und jenem Erlebnisfeld und ästhetischen Raum nichts zu tun hat. Nach einem kursiv gesetzten Text, wird aus einer Perspektive eines offenbar männlichen Erzähler-Ichs von einem Sommer erzählt, in dem die Protagonisten, Mitglieder einer Rockband und Motorradfahrer, in einem »einzigen Jetzt« leben, jenen Sommer, in dem sie proben. Ausgiebige Orts- und Raumbeschreibung werden mit Reflexion über die Zeit und die Erinnerung verbunden. »Der Sommer: ein langer anhaltender Atemzug. Gleichbleibender Wechsel von Kühle und Schatten und heißen Sonnenstreifen in den Straßen. Die Stadt lag halbleer. Die meisten Leute hatten ihre Häuser verlassen und waren aufs Land gefahren. Ich erinnere mich, daß die Stadt ganz uns gehörte – Häuser, Bäume, die Tische auf dem Platz vor den ausgestorbenen Cafés. Meist trafen wir uns gegen Nachmittag. Wir stellten unsere Motorräder auf dem Gehsteig ab. Wir saßen, zu fünft oder zu sechst, in einem Café oder in einer Eisdiele. Häufig die einzigen Gäste. Draußen war es zu heiß, wir setzten uns in einen Hinterraum, an einen Tisch, von dem wir durch die offene Tür die Straße beobachten konnten. Diese Nachmittage waren voll Schweigsamkeit und Trägheit. Schattiges Halbdunkel und das monotone Summen des Ventilators. Jeder saugte an seinem Strohhalm und ließ die Zeit verstreichen. Die Straße lag ausgestorben in der Sonne. Wenn es kühler wurde, fuhren wir in die stillgelegte Fabrik am Stadtrand zum Proben. Manchmal auch an die Baggerseen zum Schwimmen.« (NB, 137)

Es dreht sich hier um die Straße, die Fabrik, das Haus und die Zimmer: Die Darstellung der Atmosphäre dieser Orte ist verbunden mit einer Erinnerung »[…] an ihre knapp zwei Zimmer nur in vollkommener Stille. Immer noch lag über der Stadt eine schwüle Spätsommerhitze. Anderthalb Meter, in einer Altbauwohnung. Drei Meter hohe Wände, irgendwann selbst gestrichen. Rot, ver-

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kleckst. Als ich eintrat, lagen die Zimmer im Halbdunkel. In den offenstehenden Fenstern hingen alte Bettlaken, zum Schutz vor der Sonne.« (NB, 138) In seiner individuellen Erinnerung, die mit unzulänglichen Mitteln versucht, die Zeit statisch zu machen, erscheinen dem Erzähler immer wieder von neuem stumme Bilder wie in einem Film. (NB, 143ff.) Dadurch wechselt die Perspektive, der Betrachter geht mit in das Bild ein und wird zugleich von außen betrachtet. (NB, 145) Eines der Bilder stellt die »Flucht in die Wälder« dar. Bei den Betrachtungen des Erzählers gehen die Bilder fast in Beschreibungen von Stillleben (wie von Chardin) über, die Gruenter so liebte: »Auf dem Tisch Spuren eines Gelages. Eine leere Flasche, halbvolle Gläser. Leere Schalenkrusten, ein Fischskelett, zerdrücktes Obst, schmutzige Teller. Reste von Brot, hingekrümelt bis auf den Boden. Zitronen und Oliven. Im Ausguß liegen zwei Gläser falschen weißen Weins, gekühlt unterm laufenden kalten Wasserstrahl. In Gläsern von Eingemachtem zerrupfte Sommersträuße, auf dem Fußboden. Die Sonne fällt auf den Tisch, kein Schatten im Zimmer.« (NB, 144)

Die beiden Protagonisten schauen jetzt wie auf sich selbst in einem Bild, Vexierbildern ähnlich, von denen der Erzähler oft spricht. Die Orte bzw. der Ort markieren zugleich die Entfernung der beiden zu einander. »Plötzlich stehen sie dicht voreinander, so dicht, als wäre diese Nähe der einzige Ort, um der Ferne auszuweichen. Näher, ganz nah, um der Nähe – wie sie zuvor war, mit dem Zwischenraum des ganzen Zimmers zwischen sich – nicht ins Gesicht zu sehen.« (NB, 145) Die so entstandene »Intimität« zwischen den beiden (NB, 148) wird wiederholt durch ausführliche Raumbeschreibungen oder Beschreibungen von Blicken der beiden auf »Räume der Erinnerung« respektive der gemeinsam geteilten Erinnerungen ausgeweitet: »An den Blick aus dem Fenster, wie er sich jetzt, im Sitzen, anbot, denn im Liegen war nur das unveränderliche Blau des Himmels zu sehen gewesen. In der Ferne, auf der Spitze des gegenüberliegenden Hügels, eine gelbgestrichene Villa von fast quadratischem Bau. Wir saßen auf dem Bett und betrachteten den Wechsel des Lichts auf der Front dieser Villa. Ich erinnere [Hervorhebung SW] mich an das Bild der geschlossenen Fensterscheiben, hinter denen kein Gesicht sich zeigte. Ich erinnere [Hervorhebung SW] mich an den Wechsel des Sonnenstandes auf der gelben Wand, an den Wechsel des Schattens. An die zunächst herabgelassene, dann heraufgezogene Marquise über der Terrasse im ersten Stock des etwas rückwärts versetzten Seitenflügels. Ein zu Kopf steigender, in der Nachmittagshitze brütender Duft wehte aus den Zweigen der Tamarisken herüber. Gegen Abend lagen die Fenster der Villa im Schatten, verwandelt in spiegelnde dunkle Seen […] Die Bilder kommen, und ich begreife, was sie nicht können. Bilder von Dingen. Die Erinnerung dringt nicht vor bis zum Gefühl.« (NB, 146f.)

Wenn hier von »Erinnern« gesprochen wird, handelt es sich fast immer um »Erinnerungen an Räume« oder präziser gesagt »Gedächtnisräume« respektive Environments im Sinne der herausgestellten »überpräzisen«, supranaturalisti-

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schen Beschreibungen. Bald darauf verlässt die Protagonistin das Haus, flieht in die Wälder und landet zum Schluss in einem Krankenhaus, was die einzig feststellbare »Entwicklung der Protagonistin« ausmacht. Der Auszug aus der Wohnung in die Wälder, keinesfalls als mythologisierte Wälder verstanden, wird zugleich so konkret beschrieben, dass daneben das »Geräusch von Bauarbeiten« zu hören war, Darstellung von Entwicklung erfolgt hier durch das Wechseln der Örtlichkeiten im Sinne der festgestellten »Diffusität der Identität« der Figuren oder des »Umkreisens der Personen«, beispielsweise in der Bedeutung fluktuierender oder transitorischer Orte.442 Diese Reaktion des männlichen Protagonisten bzw. Erzählers hat ebenfalls etwas mit Orten zu tun: Er geht mehrmals am Haus einer früheren Sängerin vorbei, die »dort jetzt« nicht mehr singt. Er bemerkt »singend«, wie es heißt, dass dort niemand mehr wohnt und dass »die Fensterläden vor ihren Zimmern verschlossen blieben«. (NB, 153) Im Titel »Die Flucht in die Wälder« wird der Ortswechsel bereits markiert, was aber misslingt. In diesem Sinne handelt der Text von Orten des Vergessens wie jenen der Erinnerung. (NB, 153) Von dieser Dialektik von Erinnern und Vergessen in Bezug auf Räumlichkeiten »lebt« die Erzählung. Der Begriff des Vergessens taucht an verschiedenen Stellen auf, kennzeichnet die »Flucht in die Wälder«, beschreibt die Liebe bzw. das Projekt der Liebe443 und die Beziehung der beiden sowie die Notwendigkeit des Vergessens der (gemeinsamen) Erinnerung. Erinnerung bedeutet das Aufsteigen von Bildern und zugleich das Wieder-Vergessen davon. »Ich frage mich, was sie sah. Bilder des Sommers? Unsere Umarmungen, das, was sie den Ort des Vergessens genannt hatte? Ich stelle mir vor, daß schon am Morgen, beim ersten Erwachen, diese Bilder in ihr aufstiegen. Sie wirkte auf mich, als ob sie sich, nachdem die glückhafte Form des Vergessens sich aufgelöst hatte, der Kehrseite verschrieben hätte.« (NB, 153)

Diese Erinnerungen werden anhand eines Orts, in dem Fall eines besonderen Zimmers, dargestellt, was wiederum mit der Zeit und dem Warten auf jemanden verbunden ist. Es dreht sich um eine Art von Warteräumen oder »Wartesälen«, die erst durch die Wahrnehmung der Protagonistin und durch die Darstellung der Erzählerin besondere Funktion erhalten:

442 Vgl. dazu auch: Sebastian Susteck: Transitorische Räume. In: https://www.heise.de/tp/fea tures/Transitorische-Raeume-3415256.html (zuletzt abgerufen: 12. 06. 2019). Peter Sloterdijk spricht von »Orten ohne Selbst«, die ihre »Passanten nicht halten.« Peter Sloterdijk: Der gesprengte Behälter. In: DER SPIEGEL-Spezial, 01. 06. 1999, https://www.spiegel.de/spie gel/spiegelspecial/d-13536502.html (zuletzt abgerufen am 12. 06. 2019). 443 NB, 152: »Die Liebe ist ein Zustand der Gedächtnislosigkeit«. Vgl. auch VG, 193.

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»Es gäbe Orte wie dieses Zimmer, sagt sie, die einen Zwang ausüben. Sie ließen eine Besessenheit wuchern wie Schimmelpilze an der feuchten Wand […] Aber sobald sie zurückgekehrt sei und die Tür hinter sich geschlossen habe, lege sich wieder die Beklemmung auf sie, und sie fühle sich wie gelähmt. […] Habe sie einmal gesagt: Die Zeit entdecken, das sei – das Warten entdecken? Aber nein. Die Zeit, das sei: Uhr abgelaufen, Uhr umgedreht. Von vorn. Durchlaufen, ablaufen, umdrehen.« (NB, 156)

Wie in einigen der unveröffentlichten Gedichte taucht hier das Motiv und der Ort des »Kraters« (vgl. Kap. 5.5.1.) auf. Der »Krater« erscheint im Sinne jener APräsenz als quasi ideales Motiv, um Vergangenes da »aufleuchten« zu lassen, wo sich vorher etwas befand. Diese Art der Abwesenheit äußert sich weiterhin in einer anderen Hinsicht, nämlich in Hinsicht auf die eigene Person: In einem Selbst entsteht ein »leerer Raum von Vergessen«: »Kann man erfahren, was man sieht, wenn man ein anderer ist, jemand in völliger Abwesenheit. Eine Ortschaft. Ich muss den Vorortzug genommen haben und bin dort ausgestiegen. Warum dieser Ort? Zwischen mir und mir: ein leerer Raum von Vergessen. Ich habe wieder angefangen zu singen […].« (NB, 159)

Die Erzählung »Sand in den Augen« handelt von Filmschaffenden, vorzugsweise einer Frau und einem Mann,444 einem ehemaligen Paar aus der Filmbranche, das sich zur Realisierung eines gemeinsamen Films nach Jahren an der belgischen Küste wiedertrifft. Sie hat inzwischen dort von einer »alten Tante« ein Haus am Meer übernommen, wo er sie besuchen kommt, bevor die gesamte Filmcrew am nächsten Tag eintrifft. Anschließend wohnt er mit den anderen Crewmitgliedern in einen Gasthof im Dorf. Es geht, Jahre nach dem Krieg, um die Realisierung eines Films über eine jüdische Mutter, die durch den Holocaust der Nazis einen Sohn verloren hat. Der Film nimmt sich der Geschichte dieser Frau an, die »von der Erinnerung an ihr ältestes Kind verfolgt wird, das im Zweiten Weltkrieg deportiert wurde.« (NB, 169) Die Realisierung des Films ist eng mit dem Ort verbunden: »Ein Haus für eine Geschichte, die ich immer drehen wollte.« (NB, 161) Hier findet sich eine der ganz wenigen Erzählungen Gruenters, die ein im weitesten Sinne politisches Thema hat. Zugleich wird im Sinne eines Künstleroder Filmromans eine weitere Ebene eröffnet, auf diese Weise eine Art doppelter Boden und ästhetische »Mittelbarkeit« präsentiert. »Es hat einer Tante gehört, sie muss steinalt gewesen sein, und niemand sprach mehr von ihr. Sie muss aus ihrer Jugend diese Vorliebe für die belgische Küste behalten haben, und auch dieses Haus, und ich bin die einzige aus der Familie, die übrig ist, Sie ist nie mehr hierhergereist. Seit Jahren, und es hat niemanden gegeben, der sich richtig darum gekümmert hat. Aber es ist schön, und es liegt direkt am Meer. Keine Straße dazwischen, kein Plankenweg. Keine Laternenpfähle. Nur der Sand und das Meer.« (NB, 162) 444 So knapp werden sie in der Tat bezeichnet, um erneut darüber hinaus eine zu starke Beschreibung von Identität zu vermeiden.

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Der Plot des Films wird genau bezeichnet: Der Holocaust bzw. das Konzentrationslager werden jeweils als »Ort der Leere« bezeichnet (NB, 183)445, vermittelt über das Rollen der Räder, das im Sinne einer verdinglichten Erinnerung durch die offene Verandatür bis in das Innere des Hauses »zu hören« ist: »Ein Geräusch setzt ein, überlaut eingestellt. Das Geräusch eines fahrenden Zuges. Das Rollen der Räder, im Viervierteltakt. die Monotonie des Rollens. Ab und zu der Sprung über unregelmäßig verlegte Bohlen. Nichts zu hören außer dem Rollen der Räder.« (ebd.) In einer Art der Darstellung von Somnambulie oder Tagtraum fließen Bilder des Films (»Manuskripte«, z. B. NB, 164) und reale Bilder des Hauses ineinander, wenn die Protagonistin »im Halbdunkel« quer durch den Raum geht«. (NB ,163) Gruenter hat sich des Öfteren zum Verhältnis von Wirklichkeit und Traum geäußert (AS, 49): »Die Wirklichkeit in einen Traum zu verwandeln, im Text – ist das das Ziel? Das ist zweideutig, der Text sollte die Welt, die das in ihm Bezeichnete darstellt, nicht als etwas Jenseitiges suggerieren – das wäre purer Idealismus. (Ich bin ein Anti-Idealist).« (AS, 49)446 Die Protagonistin steht vor einem Spiegel, schaut sich selbst in die Augen, im Hintergrund zeichnet sich das Meer ab. In der »verschwommenen Fläche von milchigem Grau« markiert sie Räume, zum Schluss die »Trennungslinie von Himmel und Meer«. (NB, 163) Das Meer bzw. das Geräusch des Meeres sind in der Jetztzeit so allgegenwärtig wie das Rollen der Räder aus ihrer Vergangenheit (NB, 164), jenes »Geräusch des Meeres, das sich nicht abstellen lässt. Es ist in ihrem Schlaf. Es dringt in ihren Traum.« (ebd.) Hinzugefügt sei überdies, dass sich unterschiedliche »Texträume« eröffnen: Der Fortgang der Erzählung wird ständig von neuem durch ein Manuskript447 unterbrochen. Die verschiedenen Erzählstränge vermischen sich in der Beschreibung der Atmosphären und Stimmungen, die auf eigenartige Weise ineinander stoßen sowie eine Verbindung von Zeit- und Raumebene herstellen. Die Erzählung teilt sich in verschiedene Ebenen auf: Es gibt die Ebene der Realisierung des Films, der Protagonisten frühere Begegnungsebene und die heutige »Echtzeit«:

445 Vgl. dazu auch: Köhler (2001). Gruenter hat diese vage Ortsbestimmung ihren Figuren schon früher in den Mund gelegt und damit ein poetologisches Bekenntnis formuliert. »Es geht um den Ort der Leere« [Hervorhebung SW], erklärt eine Frau in dem Erzählband »Nachtblind« (1989). Und sie fixiert damit nicht nur den Topos der Moderne, sondern auch das Wagnis eines Schreibens, das vornehmlich im Imaginären angesiedelt ist. 446 An anderer Stelle betont Gruenter ihre »sekundenlangen Anfälle für den Idealismus«. (AS, 263) Sie spricht von der »mangelnden Innenschau« ihrer Protagonisten und betont zugleich: »[…] die Sehnsucht nach dem Anderen, dem Unmöglichen [im Original kursiv, SW], all dem, was die normale Wirklichkeit gerade verschluckt […]«. 447 Ausführlicher als ein Drehbuch, aber in ähnlicher Funktion, dazu kursiv gesetzt.

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»Der weiße Strandhafer blank vom Wind, er ist einen Tag früher gekommen, als die anderen, um einzelne Stellen im Text zu besprechen. Plötzlich stehen sie sich allein in der Küche gegenüber, in plötzlicher Nähe. Sie kommt damit nicht zu Recht. Die Ferne ist zu plötzlich zusammengeschrumpft, ohne Übergang. Er geht zum Fenster, betrachtet das Meer. Kaum ein Wort der Begrüßung, sie sieht ihn dort stehen und fragt sich, wie lange es her ist, seit sie auseinandergegangen sind. Es war eine Geschichte, die längst verschüttet ist unter anderen. Plötzlich kommt sie ihr vor, wie der Film, den sie zuletzt gemacht hat.« (NB, 164f.)448

Oft erscheint zudem – und dies geschieht intentional – die Referenzebene nicht eindeutig, so als sie durch die in der Erzählung als »real« geschilderten Straßen gehen und abrupt wechseln in die »Straßen nach der Befreiung«. (NB, 165) Diese »Entgrenzung« oder Aufhebung der Grenze wird sowohl auf der zeitlichen449 als auch auf der räumlichen Ebene vollzogen.450 Die Geräusche des Films sowie der »Jetztzeit« werden miteinander verbunden und die Personen oder die Orte der Personen zerfließen ineinander wie das Einfügen der Geschichte der Frau. Viele wichtige Bezüge werden nur en passant erzählt, etwa, dass der Protagonist plötzlich bekennt, dass er ist Jude sei451 oder dass ein Junge, das tote Kind im Film, der Protagonistin als ungeborenes Kind im Ohrensessel erscheint (NB, 173 oder 174), mit dem Gesicht im Sand oder (NB, 180), dass die Eltern des Mannes, von Schlesien452 an die belgische Küste ausgewandert sind. Die Erzählerin spricht davon, dass sich alle (NB, 178) »jetzt in einem Zwischen befinden«. Dazu dürfen auf der formalen Ebene sequenzartige Passagen nicht fehlen, die Vertrauen, aber zugleich durch einen plötzlichen Sprung (NB, 166) Distanz herstellen. Inhaltlich beginnt diese Erzählung wie so viele mit einer ausladenden, äußerst expliziten Beschreibung der Örtlichkeit: »Das Haus liegt allein, außerhalb des Dorfes. Ein paar Stufen führen von der Veranda auf der Rückseite zum Strand und zum Meer. Wenn man von der Straße kommt, ahnt man nichts von der Nähe des Meeres. Einzig das salzige Grau auf den Blättern, die windzerfressenen Löcher im Laib hätten darauf deuten können. Man durchquert einen leicht verwilderten Garten. Hortensienbüsche und Buchenhecken verdecken den Ausblick. Erst im Haus angelangt, spürt man schwach den Geruch des Meeres. […] Immer hat die Ferne meine Geschichte bestimmt […].« (NB, 161)

Wieder dreht es sich hier um eine Art »Unort«, abgelegen, vom Dorf entfernt, ein Ort, von dem man bis zum Ende der Erzählung nicht wirklich begreift, welche 448 449 450 451

Wie eine Art vorgeführter Erinnerungsdiskurs. NB, 166: »Nichts fängt wirklich an, nichts ist endgültig vorbei.« Ebd.: »Nichts stimmt in dieser Geschichte, Nicht die Nähe, nicht die Ferne.« Dies erinnert an Elfriede Jelineks Opus Magnum: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995. 452 Ähnlich wie in »Vertreibung aus dem Labyrinth« taucht hier (die Flucht aus) Schlesien als Motiv auf.

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Funktion er für die Geschichte hat. Konzipiert wird dies als ein sowohl etwas »künstlicher« wie rein »künstlerischen Ort«, geschildert aus jener »Ferne, die die Geschichte« bestimmt. Letztendlich geht der Ort der »Lebensgeschichte(n)« in jenen der Filmgeschichte über. Umgekehrt verhält es sich ebenso, ablesbar an dem Satz: »Ich habe nichts anderes umkreist als diesen Ort, aus dem sie langsam näher ins Bild kommt. Sie weiß nicht, hat er diesen Satz laut gesagt, hat sie ihn gedacht. Aber es ist das einzige, was sie von ihm zu wissen glaubte.« (ebd.) Die Grenzen von Vergangenheit und Gegenwart, von Innen und Außen, von Orten und Räumen, von Gedachtem und Ausgesprochenem, von Erfundenem (Fiktion, in diesem Fall der Film) und Realisiertem oder der »Realität (das Haus) verlaufen »friedlich« und unscharf. Die Leserin bzw. der Leser vermag in den dargestellten Erinnerungen und Assoziationen keine Grenze zu ziehen. In der letzten Erzählung »Das besetzte Zimmer« des Erzählbands nimmt die Beschreibung der Umgebung zu Beginn zwei Seiten ein, aus der sich dann nur langsam die Personen, ein Mann, ein Fremder und die Konturen einer Erzählung lösen: Eine Frau mit Namen Thérèse ist verschwunden,. Wieder verschlingen sich zwei Erzählstränge abrupt miteinander. Kursiv gesetzt wird erzählt, dass der Fremde offensichtlich in einer fernen Vergangenheit mit der verschwundenen Thérèse verbunden war. Die Leserin bzw. der Leser erfährt erst sehr spät, dass es sich um den Bruder handelt, der im Ort vergessen ist und zunächst nicht wiedererkannt wird, und der mehr als zwanzig Jahre zuvor offensichtlich aufgrund der Strenge und Rigorosität der Eltern den Ort verließ: »In der Zeitung steht, es hat einen Bruder gegeben. Aber er ist fortgegangen vor zwanzig Jahren und so hat man ihn vergessen […], es scheint, er ist in die Schweiz gegangen, jedenfalls gibt es da eine Spur […].« (NB, 197) Der Bruder ist als Fremder und ein unerkannt Bleibender zurückgekehrt. Die Schwester, die es ein Leben lang an dem Ort aushielt, ist mit einem Mal ebenfalls ganz plötzlich vor seiner Ankunft verschwunden, so als hätten sie sich abgesprochen. Die Eltern Thérèses haben beiden offenbar kein eigenes Leben erlaubt453 und immer wieder das Leben beider so gestört bis sich für den Bruder nur die Alternative der Flucht stellte. Thérèse hingegen blieb am Ort und lebte das Leben einer einsamen, »alten Frau« im Haus der Eltern weiter, solange bis sie auf immer verschwindet. Breiten Raum nehmen die Beschreibungen des Zimmers Thérèses aus der Perspektive des »Fremden« ein. Der nicht näher bezeichnete Ort, in dem der Fremde aufkreuzt und in dem er auf dem Marktplatz ein Café

453 NB, 197: »Einmal haben sie ihr erlaubt, zu einer Tanzerei zu gehen, im Hafen.«

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besucht, liegt ganz im Süden Frankreichs, nahe der spanischen Grenze. Es wird auf die Orte Port Bou, Perpignan oder Banyuel angespielt.454 Am Schluss verlässt der »Fremde« das Café,455 er bleibt der Außen- oder »Randseiter«, von dem sich die Bewohner Aufschluss über das Verschwinden Thérèses gewünscht hätten, weil er fast zeitgleich mit ihrem Verschwinden im Ort auftauchte und sie intuitiv eine insgeheime Verbindung spürten, und doch wird er von ihnen bis zum Schluss nicht wirklich erkannt. Nachdem er das Café verlassen hat, überquert er den Marktplatz, geht einige Straßen bis zum Bahnhof, dann weiter zu einem oberhalb des Orts liegenden Gehöft, steht vor diesem Gebäude, klopft an, woraufhin ihm ein nicht weiter beschriebener Mann öffnet, ihn begrüßt und ihn einlässt. (NB, 205) Die Identität des Ansässigen wird nicht näher expliziert: Es könnte sich um den Vater von Thérèse und dem Fremden handeln, aber das lässt der Erzähler ganz bewusst und beabsichtigt in der Schwebe für den Leser. Hier sei an die Bemerkung Reich-Ranickis bezogen auf die Prosa Gruenter erinnert, dass viele Erzählungen auf eine Pointe zulaufen würden, die dann aber nicht erfolgt. Damit wird jede Art von Eindeutigkeit in Hinblick auf mögliche feste Identität des Protagonisten vermieden, aber auch in Rücksicht auf jede Eindeutigkeit der Erzählung. Wie erwähnt nehmen filmschnittartige Beschreibungen der Örtlichkeit im Präsenz die ersten zwei Seiten ein, wie ein Mann vom Bahnhof kommend den Ort durchschreitet: »Schritte durchqueren die frischgetünschte Halle mit den unbesetzten Schaltern. Jemand tritt auf dem Platz vor dem Bahnhof. Mittagsstille, ein kleiner Ort im Süden, am Meer, kurz vor der spanischen Grenze. Ein Mittag im Spätsommer. Die Schienen summen, in die Weite gestreckt, verlassen in der Hitze. Am Zaun, zwischen den Bänken, wachsen Oleanderbüsche, Mimosen, Agaven. Schritte im Kies. Die Straße, die in die Stadt führt, liegt leer. Im Schatten der Platanen, die sie zu beiden Seiten säumen. Ein Mann geht unter den Bäumen.« (NB, 187)

Innerhalb der Erzählung wird der Rhythmus bzw. das »Tempo« des Mannes ästhetisch simuliert. Beim Lesen entsteht durch die Schilderung der Eindruck, als würde man als Leserin oder Leser den Mann auf seinem Spaziergang begleiten, allerdings in Slow-Motion. So nimmt er die »Dinge«, die ihn umgeben, extrem »langsam« wahr. Auf gewisse Weise handelt es sich trotz der beschriebenen Be-

454 Gruenter ist an diesen Orten selbst gewesen (AS, 108). Port Bou erinnert an den Ort, an dem sich Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis umbrachte und wo sich heute ein Benjamin-Memorial befindet, 455 Hier ließe ich auf die unterschiedlichen Konzeptionen von Fremde, Fremdes und Fremdheit im xenologischen Diskurs hinweisen, Vgl. z. B. bei Simmel der Fremde als der später Gekommene. Vgl. Georg Simmel: Exkurs über den Fremden. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker & Humblot 1908, 509– 512, hier vor allem 510f., vgl. dazu auch Sundermeier (1996).

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wegung um eine Art meditativen Text, bei dem der Erzähler seiner Umgebung innewird. »In der Ferne, in den Ausschnitten zwischen den Baumstämmen leuchtend, in der Glut, überzogen vom dunklen Laub der Weinstöcke, die Pyrenäen. Der Mann geht im Halbschatten. Manchmal erhebt sich ein Wind, raschelt in den Platanen. In den Bergen erscheint ab und zu ein vereinzeltes Landhaus, rostrot, verblichen. Der Mann geht schneller, Im Unterholz hört man Zikaden. Die ersten Häuser tauchen auf, mit geschlossenen Fensterläden, mit warmen Mauern, hinter leeren duftenden Gärten. Eine Straße mit alten Bürgerhäusern. Die Leute schlafen. Die Zeit des Mittagsessens ist längst vorbei. Sie schlafen in abgedunkelten, tiefen Zimmern, geschützt vor der Hitze.« (ebd.)

Die andere »Protagonistin« Thérèse wird in Abwesenheit aus der Sicht der Menschen vom anderen Tisch her, in der Konversation, beschrieben. Ihre Existenz wird als ein »offenes Leben« bezeichnet, ihre Person als eine Bewohnerin charakterisiert, die eine Fremde456 blieb, und die mit dreißig Jahren schon das Leben einer alten Frau führte.457 »Auf dem Platz, in den der Weg mündet, ist es anders. Hier beginnt man sich langsam, am Ende der Siesta, wieder zu regen. Ein Platz, nahe am Hafen, im Schatten uralter Platanen, die ihn umstehen. Auf dem ungepflasterten Erdboden sind Wagen, Karren, Stellagen, Kisten aufgebaut. Es ist Markttag, Aber es ist zu früh, Käufer sind noch nicht zu sehen. Ein paar Bauern und Händler haben begonnen, sich an ihren Auslagen zu schaffen zu machen. Sie rascheln mit Planen, sie befingern ihre Ware, sie ordnen um, was ausgebreitet ist, ein Durcheinander von Käse, Wein, Obst und Gemüse, von Töpfen, Pfannen. Kleidern, Porzellan, Zwirn und Gerüchen. Der Mann überquert den Platz, das Plätschern des Brunnens, durch die Stillen durch die langsam weichende Schläfrigkeit der Straßen, der Hunde. Der Mann betritt das Café des Platzes, Niemand begrüßt ihn.« (NB, 188f.)

An dieser Stelle wird zugleich der zentrale Platz des Ortes skizziert, zur Mittagszeit, zur Zeit der Siesta. Die Bauern und Händler werden wie die Waren als Inventar des Marktes beschrieben; sie heben sich nicht von diesen »Dingen« ab. Hier ließe sich hier wieder an ein Stillleben im weiteren Sinne denken, an das Bild eines südlichen Markts. Aber anders als beim Stillleben gehen die Personen mit in das Bild ein. Wieder wird die Protagonistin über den Ort charakterisiert, über ihre Beziehung zum Haus beschrieben, was dem »Fremden« zugleich als Bezugspunkt dient: ein durchsichtiges Haus so wie ein durchsichtiges Leben. »Sie hat das ganze Haus allein in Ordnung gehalten. […] die Fenster dieser Zimmer standen oft offen und im Sommer auch die Haustür. Jeder, der vorüberkam, konnte durch das Fenster auf den Tisch greifen, auf dem immer ein Stapel ungeordneter Papiere lag – Der Fremde hat den Blick nach draußen gerichtet, auf das Treiben auf dem 456 Vgl. vorherige Anmerkung. 457 NB, 194: […]«ein ruhiges Leben, ein Leben ohne Ereignisse […]«. Vgl. auch NB, 197.

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Markt. Dann folgt er der Straße, die vom Marktplatz direkt in die Berge führt. […] Ein durchsichtiges Haus mit diesen zwei Zimmern…in denen seit je die Familienfotos auf dem Kamin standen und Lampen mit altmodischen Schirmen, die niemals ausgewechselt wurden. […] Ein vollkommen durchsichtiges Leben. Ein Leben, offen vor aller Augen. und trotzdem war sie der zurückhaltendste Mensch und niemand wusste von ihr.« (NB, 191f.)

Gegen Ende holen sich die Geschichten ein: »Das Verschwinden einer Unbekannten, die eine Einheimische war […]« (NB, 197), die Geschichte der Stadt, zu der sie gehört hat »wie der blecherne Schlag der Glocke am Ende der Straße« (NB, 195) und die sie, »abgesehen von einigen Tagesreisen nach Perpignan, die Stadt nie verlassen hat, das Haus in der Erinnerung, das sie selten bis nie verlassen hat«. (ebd.) Damit gerade örtlich verbunden wird die Geschichte des Bruders, der nicht mehr »erkannt« wird und ein Fremder bleibt. Sie ist ein Teil von dieser Stadt, hat dazu gehört (NB, 195): Thérèse, alterslos, freundlich, immer gleich. Zugleich wird die Erinnerung an das Haus, das sie nie verlassen hat und die vermeintlichen Dinge dieses Hauses vergegenwärtigt im Sinne des Vergessens davon bzw. des Erinnerns daran: jenes »[…] Haus wie ein Grab versenkt in Erinnerung, die Dinge versenkt in Erstarrung, das Foto der Mutter, das es gar nicht gibt.« (NB, 200) Und schließlich sind da nur die Orte, die Stadt und das Haus übrig geblieben: unheimlich und schaurig. »Alles ist geblieben, wie es war, hört man den Kellner im Hintergrund sagen. Die getrockneten Sträuße der Blumen über dem Herd, die Töpfe mit Thymian und Rosmarin vor dem Fenster zum Garten, der Strickrahmen mit Stramin im Sessel und die ungeordneten Papiere auf dem Tisch. Sogar der Geruch ist noch das, sagte meine Schwägerin, die dabei war, als man das Haus öffnete und durchsuchte. Der dem Haus eigentümliche Geruch von Rühreiern und gekochten Kartoffeln und Levkojen. Juan, sagt sie, es ist wie in einem Museum. Sie hat das Haus nicht verlassen, als träte sie eine Reise an, sie hat nicht einmal aufgeräumt. Als habe sie vorgehabt, nur eben, wie gewohnt, in die Berge zu gehen und bald zurückzukehren, die Taschen gefüllt mit jenen Wassernüssen, die sie sammelte, wenn sie noch grün waren. Aber sie ist fort, endgültig fort, und das macht, daß die Dinge nicht auf vertraute, sondern auf schaurige Weise an ihrem Ort stehen. Juan, sagt sie, dein Haus wie ein Grab, Die Dinge versenkt in Erstarrung.« (NB, 205)

Anhand von Räumen und des Verschwindens oder des Wieder-Auftauchens an einem Ort im Sinne der herausgestellten A-Präsens werden die beiden Protagonisten beschrieben: der »Fremde«, der eigentlich der Bruder ist, der sich von dem Ort und seiner Geschichte entfernt hat und Thérèse, die aus den Räumen flieht, die ihr Elternhaus darstellen und die sie als Person eigentlich bestimmen. Die Bewohner des Ortes gehören zu dem sie umgebenden Ambiente respektive Environment und prägen gleichsam die Beziehungen der Figuren untereinander.

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Es lässt sich abschließend festhalten, dass »Nachtblind« in der frühen Epoche des Werks Gruenters ein wegweisendes Werk in Richtung auf die Darstellung von Orten und Räumen, des Wartens, der Vergeblichkeit der Liebe, der Erinnerung und der Darstellung von verschiedenen Arten der Fremde bedeutet. Auf gewisse Weise könnte das Werk darüber hinaus als Schnittpunkt des individuellen wie kollektiven Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurses und dem xenologischen Diskurs unterschiedlicher Fremden (phänomenologische Andersheit, psychologische, kulturelle und soziologische Fremdheit sowie künstlerische Verfremdung) im Sinne von erinnerten Räumen der Fremde verstanden werden. Zudem zeichnet sich der Band allein durch die Darstellung einer ungewöhnlich dichten Atmosphäre aus, die im Sinne von Gumbrecht »Stimmungen«458, noch wenig Bildungsvokabeln, gestaltete Räume in und außerhalb von Paris aufweist. Auf die Genese einiger Erzählungen, die zum Teil zunächst mit anderen Namen versehen waren,459 ist in »Der Autor als Souffleur« eingegangen worden.

5.2. Die mittlere Phase (die 90er Jahre): Die Pariser Zeit und die Jahre der Zentripetalkräfte 5.2.1. Leere Räume und Menschen fremde Orte: Das gläserne Café Ich bin immer von einem Ort, einem Bild, einer Stimmung ausgegangen, zu Beginn des Schreibens. Niemals von einer Geschichte. Undine Gruenter460

Die 90er Jahre des Schaffens Gruenters sind motivisch durch eine immer stärker werdende Orientierung auf Paris gekennzeichnet, wenngleich dies für das erste in dieser Dekade erscheinende Werk so uneingeschränkt nicht gilt. Der Erzählband »Das gläserne Café« (das erste Mal 1991 im Bollmann-Verlag in Düsseldorf erschienen) wurde im Dezember 2008 vom Berliner Taschenbuch Verlag neu herausgegeben.461 Gruenter setzt motivisch hier konsequent den Weg von »Nachtblind« fort. Karasek äußert allerdings im angeführten »Literarischen Quartett« vom 18. Juli 1991 die Ansicht, dass dieser Erzählband vor dem Werk »Nachtblind« entstand, allerdings erst später veröffentlicht wurde. Verschiedene 458 Vgl. 14, 305 in dieser Abhandlung. 459 Vgl. z. B.: AS, 161: »Fand einen guten Anfang für Nachtwind.« 460 AS, 46: »Es ist dieses Weg-von-sich-Sein beim Schreiben. Dieser Zustand des Lauschens, die Verwandlung in viele Stimmen.« 461 1994 erschien das Werk das erste Mal in Taschenbuchausgabe bei Fischer.

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Erzählungen »verlassen« Paris und spielen in der Provinz462 oder in Le Midi (im Süden, in Arles oder Orange). Paris als »semiotischer Mittel- und Bezugspunkt« wird allerdings nicht aufgegeben.463 Überhaupt lässt sich an dem Werk erneut aufzeigen, dass sich das Gesamtwerk Gruenters um sowohl unterschiedliche wie immergleiche Kulminationspunkte dreht: Der Ort, das Bild, die Stimmung (siehe obiges Zitat). Fast gebetsmühlenartig wird bereits in der ersten Erzählung die Animierung, Vitalisierung und Hypostasierung des Orts respektive Raums betrieben: »Als ob sie, je länger sie bleibt, sich dem Ort eindrücke. Als sei sie längst eingesunken, in die Wände, die Dinge im Raum.« (GC, 21) Die Erzählerfigur gebraucht hier ein einprägsames Bild, um selbst in der Art von Beschreibung zu verbleiben, in der Annäherung und geistigen »Inbesitznahme« eines Ortes, der auf diese Weise zu einem künstlerischen Raum konfiguriert wird. »Das gläserne Café« wurde wie zuvor erwähnt im »Literarischen Quartett« besprochen und erhielt allgemein gute Kritiken, von denen zwei hier exemplarisch herausgehoben werden sollen. So schreibt Kyra Stromberg nach der Neuerscheinung als Taschenbuch-Ausgabe im Fischer-Verlag. »Undine Gruenter, deutsche Autorin in Paris, erzählt in ihren Geschichten von der Liebe – auf eine Weise, die scheinbar Vertrautes fremd und rätselhaft erscheinen lässt. [Hervorhebung SW] In Place Dauphine beschließt eine verheiratete Frau, bis zum Ende ihres Lebens in einem kleinen Hotelzimmer auf ihren früheren Geliebten zu warten. Und in Das gläserne Café erzählt ein alter Mann rückblickend davon, wie es war, als seine Frau ihn verließ. Die Menschen in diesen Erzählungen sind – angetrieben von ihrer Unruhe – dem Geheimnis des eigenen Verlangens auf der Spur, und sie finden keine Besänftigung in den Ritualen einer vertrauten Zweisamkeit. […] In ihrer spielerisch leicht anmutenden Prosa vergegenwärtigt Undine Gruenter ein romantisches Lebensgefühl, das der Erfahrung solcher Brüche entspricht, bei aller verhaltenen Trauer sind diese Texte nie larmoyant.« (Stromberg SZ, 01. 10. 1986)

Auch Stromberg betont Aspekte von Fremdheit, Entfremdung oder das Fremdstellen von scheinbar Vertrautem und Alltäglichem, das dadurch zudem rätselhaft wird. Diese Darstellung sieht sie in Gruenters »romantischen Lebensgefühl« verankert. Ferschl betont dazu in einer weiteren Rezension: »Alle Erzählungen wirken auf eigenartig suggestive Weise zeitlos, schwerelos wie manche Sommernächte. Die Stimmung erinnert an jene schwarzweißen Photographien von Atget [Hervorhebung SW], Brassai und Doisneau, Abbilder genauer Lebenssi-

462 Bei einigen Erzählungen ist nicht ganz deutlich, wo sie spielen. 463 Die Titelerzählung könnte in Deutschland spielen, es gibt keine direkten Hinweise auf Frankreich, auch das Motiv des Polterabends verweist eher auf deutsche kulturelle Hintergründe. Es handelt sich um einen weiteren Hinweis darauf, dass der Erzählband tatsächlich vor »Nachtblind« geschrieben worden sein könnte.

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tuationen und dennoch von überzeitlicher Gültigkeit.«464 Diese Einschätzung stimmt mit Gruenters eigener Auffassung darin überein, dass scheinbare Bewegungen in Bildern oder Stillleben fixiert werden. Die Motivverflechtungen in diesem Werk stellen erneut die Leere dar465, die Stille466, die Einsamkeit oder besser das Alleinsein von Menschen, wo plötzlich die Erinnerung an andere Zeiten einbricht, z. B. in der Erzählung »Das Fenster«. Noch einmal soll hier in Erinnerung gerufen werden – um im Bild zu bleiben –, dass »Gruenter ihre Figuren als sich »erinnernde und nicht handelnde Figuren« bezeichnet. Damit betont sie die Verbindung zum Erinnerungsdiskurs, wonach Erinnerungen gedächtnispsychologisch ähnlich konstruiert werden wie künstlerisch gestaltete »Bilder«. (vgl. Wolting 2014) In jeder dieser Erzählungen ist dies fast durchgängig zu beobachten. Es lässt sich anmerken, dass die Metropole Paris wie die Provinz in Hunderte von Kleinigkeiten, in Einzelheiten, zerfallen, so dass sie fast nicht mehr in totum sichtbar ist: »Sie sieht den Platz, der vor ihr liegt. Sie ist nicht dort, in der Stadt, sondern hier, auf diesem Platz, in diesem Bereich, für niemanden zugänglich. Eingeschlossen im Raum dieses Platzes.« (GC, 19) Sehr eng ist damit das Motiv der A-Präsenz oder die anwesende Abwesenheit verbunden, eines für die Protagonistin oder den Protagonisten wichtigen Menschen, der in Gedanken, Erinnerungen, Träumen und Tagträumen immer wieder in die Welt der Hauptfiguren »hinein bricht«. Diese wiederum ist durch ihre Verbindung Beziehung zu einem anderen Menschen definiert, aber vor allem durch die Erwartung an diese Person. Im Besonderen zeichnen sich die Frauenfiguren – und hierin scheint Gruenter zumindest auf den ersten Blick unemanzipiert und wertkonservativ – oft nicht durch ein eigenes Dasein aus: Es blinkt eine damit verbundene, so dargestellte, verfremdete Leere der Welt, eine Zwischenwelt der Leere auf. Selbst in dem am meisten bevölkerten Zentrum von Paris vermitteln die Erzählungen den Eindruck, dass die Protagonisten fast allein auf der Welt wären, ein Eindruck, der sich durch die zuvor geschilderte Unterteilung in kleinere Bereiche und Sektionen noch einmal verstärkt. Gruenters Figuren ziehen in den Erzählungen seltsam allein bis einsam umher vor der Folie der großen, (über-) bevölkerten Stadt. Die Erzählungen lassen sich metaphorisch beschreiben wie Fotos in Sepia oder Schwarz-Weiß (bzw. Negative) respektive Bilder im Halbdunkel (siehe Atget) oder Standbilder analog zu Fotos von »französischen Zimmern«, in denen ganz 464 Unter: www.booklooker.de/Bücher/Undine-Gruenter+Das-gläserne-Café.Erzählungen/id/ A02dcxDv01ZZ9 (zuletzt abgerufen: 13. 05. 2019). 465 Hauptsächlich jene der großen Stadt bzw. der Metropole Paris. 466 Vor allem die Hotelzimmer bzw. der Zimmer und Interieurs überhaupt, die nur manchmal durch Haushaltstätigkeiten unterbrochen wird wie das »Klackern der Tassen und Teller« o. ä.

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viel aufbewahrt wird467 und die immer ein Zeichen der Vergangenheit, des Musealen, besitzen. Eine solche Art von Zimmer findet sich in der Erzählung »Place Dauphine« als »dem Ort des Wartens«. (GC, 20) Erneut funktioniert hier das herausgestellte Prinzip der A-Präsens.468 Dabei verbirgt sich keinerlei Larmoyanz seitens der Erzählerfigur dahinter. Die Hauptfiguren haben sich in dieser Welt so eingerichtet, dass sie mit ihrer Person und den Erinnerungen, Erwartungen etc. diesen Kosmos darstellen und ausfüllen. Oft wissen sie nicht, wie sie an und in diese Orte geraten sind wie in der Geschichte »Nacht unter Bäumen«, wo dies ganz explizit gesagt wird: »Ich weiß nicht, wie ich hier unter die Bäume geraten bin.« (GC, 25) Anders als im Spätwerk, insbesondere in »Der verschlossene Garten« u. a. durch den Bezug zur Systemtheorie Luhmanns469 ist das Frühwerk und die mittlere Phase des Werks Gruenters noch weniger (philosophisch) »theoriebeladen«. Gleiches gilt für den oben beschriebenen Motivbezug sowie die Motivverflechtungen und die sehr genauen, »langsamen« Beschreibungen, was als Hyperrealismus bezeichnet worden ist. Topoi oder Erwähnungen von »Bildungsvokabular« (Schriftsteller, Maler etc.) finden sich hier – anders als in den späteren Werken – nur sehr vereinzelt. Sie tauchen in den Erzählungen insgesamt – abgesehen vom Erzählband »Sommergäste in Trouville« – sehr viel spärlicher als in den Romanen auf. Der Band ist in drei Teile (I, II, III) aufgeteilt, deren Erzählungen auf den ersten Blick kaum innere Zusammenhänge aufweisen. Die Kritikerin Bettina Haubold schreibt, dass »Einsamkeit das verbindende Element dieser Erzählungen zu sein« scheint.470 Sie stellt zudem eine entscheidende, aber eher rhetorische Frage: »Kann man in einem Zustand ankommen wie an einem gemäßen Ort, an dem Ort schlechthin?« (ebd.) Erneut wird hier wieder auf einen eigenen, abgesteckten Raum hingewiesen, der zugleich immer einen »Zustand« der Figuren bedeutet. Zustände oder Stimmungen wie Melancholie und Einsamkeit, aber auch Zeitbezüge wie Reisen in Vergangenes werden im Sinne Gumbrechts, »örtlich« respektive »räumlich« gemacht und verfremdet: Alle Erzählungen drehen sich um die Liebe und die Protagonistinnen und Protagonisten warten in Hotelzimmern (»Place Dauphine«, »Das Fenster«), lassen ihr Zimmer mit Grünpflanzen zuwachsen (»Das Treibhaus«) oder folgen, aussteigend an Provinzbahnhöfen, Häusern, aus deren Fenstern sich ein (Frauen-) Arm zeigt (»Der 467 Die wie eine Art von »Erinnerungsstützen« fungieren. 468 In der Bedeutung, dass etwas nicht anwesend ist, die vergangene Zeit und der Erinnerung. Das betrifft zum Teil die Figuren, weniger die Orte. 469 Insbesondere zu seinem Werk »Liebe als Passion« (Luhmann 131994). 470 Bettina Haubold: Undine Gruenter; Das gläserne Café, In: www.schreibfeder.de, 1. März 2009.

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Arm«) und steigen dort aus. Sie werden auf einen prächtigen neoklassischen Landsitz eingeladen (»Besuch auf dem Lande«), folgen Straßen (»Wind, Staub«) 471 oder sitzen an Orten in alten verlassenen, zugewachsenen Gärten oder Parks, wo manchmal im Sommer noch eine Tafel zu Ehren einer älteren Frau gegeben wird, die sich der ersten Bekanntschaft mit ihrem Mann erinnert, den sie vor vielen Jahren verlassen hat (»Nachmittag auf dem Eis«). Jede Bewegung verliert sich endlich ziellos in einer Art »imaginärer Ferne«, wodurch die Erzählungen in einen fast melancholischen, statischen, beinahe elegischen Zustand oder in einen »Stillstand« geraten, wohin alle »Aufbrüche nur führen« (ebd.): Ganz gleich, wohin sie sich »bewegen«, sie verbleiben in einem unbestimmten, vagen, künstlich und künstlerisch geschaffenen Raum der Melancholie. Dieser Raum wird motivisch an Hotelzimmern festgemacht, an wenig besuchten Cafés (in der Nacht gegen halb drei, »Das gläserne Café«), Bahnhofshallen und »Unorten« wie Vorortsbahnhöfen, Telefonkabinen, flüchtige Zimmer überhaupt oder an unbestimmten, vagen Orten, wie z. B. dem Garten in der Erzählung »Nacht unter Bäumen«. Die Hoffnungslosigkeit einer »nachträglichen Zukünftigkeit« im Benjaminschen Sinne wird nicht allein zeitlich im Sinne von verflossenen Erinnerungen, sondern auch örtlich, besser räumlich, im Sinne von »verlassenen«, selten »benutzten« oder selbst geschaffenen Orten seitens der Protagonisten bzw. der Imagination der Erzählerfigur geschaffen.472 Hierin liegt die eigentliche Kunst der Autorin, die Zeit räumlich zu machen bzw. motivisch räumlich darzustellen. Sich erinnern, so lautet offensichtlich ihre implizite Maxime, das kann jeder, dazu gehört nicht viel, aber in der Erinnerung Requisiten und Räume zu entwerfen, die diese »Stimmung« des Vergangenen, Verflossenen oder Statischen vermitteln, an dem sich nichts mehr ändern kann oder wird, darin liegt aus der Sicht des hier vorgeführten Ansatzes Gruenters großes literarische Können begründet. Der erste Teil des Bands besteht aus den Erzählungen »Place Dauphine«, »Nacht unter Bäumen« und »Das Fenster«, der zweite aus den Erzählungen »Besuch auf dem Lande« (eine Erzählung, die durch weitere Überschriften unterteilt ist: »Die Anreise«, »Die Ankunft«, »Das Diner«, »Die Nacht« und »Das Frühstück«), »Der Arm« und »Das Treibhaus«, und der dritte Teil aus der Titelerzählung »Das gläserne Café«, »Wind, Staub« und »Nachmittag auf dem Eis«. Gruenters »geheimer Stadtplan« von Paris bezieht ein Paris mit ein, das streng genommen geographisch oft gar nicht mehr Paris ist. Die wenigsten dieser Erzählungen spielen in Paris, aber sie zielen auf Paris bzw. behalten Paris als Fixoder Bezugspunkt im Sinne der Zentripetalkraft. 471 Vgl. AS, 284: »Wind, Staub schreibend […].« 472 Heutzutage würde man es wohl als »lost« oder hidden places« bezeichnen.

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In Heinemanns Rezension (Heinemann 1992) drückt sich diese räumliche Komponente bezogen auf das Phänomen Liebe bereits im Titel aus: »Undine Gruenters Erzählungen Ferne Liebe.«473 Sie spricht davon, dass die Protagonisten sich »im Labyrinth ihrer Vergangenheit verirren«. (ebd.) Auf diese Weise wird von neuem die vergangene Zeit örtlich markiert und ein Bedeutungszusammenhang real unverbundener Dinge oder Phänomene im Cassirerschen Sinne als künstlerischer Raum hergestellt: Die oben angeführten Motive der literarisch »gestalteten Bahnhofsvorhalle« o. ä. erhalten dadurch erst das Sujethaftes im ästhetisch-semiotischen Sinne, um mit Lotman zu sprechen. Die Orte erhalten gemäß Guattari/Deleuze (Guattari/Deleuze 1993) »Einkerbungen« durch jenen Sinn, den ihnen die Protagonistinnen und Protagonisten selbst verleihen. Auch Heinemann, selbst Schriftstellerin und Publizistin, betont die räumliche Ausdehnung im Sinne einer Flucht vor der bestehenden Realität: »Jeder Mensch, der von Undine Gruenter betrachtet wird, ist ein somnambuler, ein in sich hineinhorchender Einzelgänger, ein Realitätsflüchtling an der Grenze zum Selbstverlust.« (ebd.) Letztendlich verhält es sich so, weil die Figuren mit in den sie umgebenden Hintergrund eingehen. Diese Raumzeichnung, -markierung oder -kerbung bezieht sich keinesfalls nur auf groß gestaltete Räume, sondern zugleich auf die Raumnahme von Dingen, ganz im surrealistischen Sinne: »Die schwerelosen inneren Zustände der Menschen versetzt sie mit Eindrücken aus der Alltagswelt: Eine Hand liegt neben dem Teller, Rotwein tropft auf ein weißes Tischtuch, der Wind kämmt die Blätter der Bäume hoch, jemand streichelt eine Katze.« (ebd.) Die »Dinge« des Alltags oder besser der Lebenswelt werden wie in einer Art Makro-Aufnahme »vergrößert« und bekommen einen Sinn an sich, werden mit Bedeutung aufgeladen, die wiederum aber nicht völlig aufschlüsselbar ist. Die erste Erzählung »Place Dauphine« lässt erneut im Titel, semiotisch evoziert, die Stadt Paris erstehen: Paris als Fiktion eines kulturellen Anderswo wird zum literarischen Echoraum.474 Im Übrigen bezeichnet dieser Ort einen der »mythischen Orte der Surrealisten«, wie Hillgruber, die Herausgeberin der »Pariser Libertinagen« in ihrem Nachwort schreibt (PL, 184), er fungiert u. a. als Schauplatz von Bretons Roman »Nadja«.475

473 Elke Heinemann: Undine Gruenters Erzählungen Ferne Liebe. In: DIE ZEIT, 6. März 1992. 474 Auf diese Erzählung bzw. den Ort wird in »Der Autor als Souffleur« rekurriert, auf einem Spaziergang Gruenters mit Nikolaus Sombart in Paris. Vgl. AS, 372f.: »20. März. Gestern Abend, Sombart, auf dem Spaziergang zur ˘Ile St. Louis: »Ich habe zwei Jahre in dem Zimmer im Hotel Henri IV an der Place Dauphine gewohnt, in dem Du (!) gewartet hast.« Mit »Du« meint er die Frau in der Place Dauphine. Der Witz ist: ich habe nie in diesem Hotel gewohnt.« 475 1928 geschrieben, 1963 überarbeitet und revidiert, 2002 in neuer Übersetzung von Bernhard Schwibs bei Suhrkamp herausgegeben, vgl. 37 und 199 in dieser Abhandlung, Anmerk. 89.

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Die strukturellen Analogien zur Hauptfigur Bretons sind unübersehbar. Bretons Werk gehört inzwischen zu den klassischen Texten des Surrealismus’476 oder wie Bohrer im Nachwort schreibt zu den »Basisschriften der klassischen Moderne.«477 Der Verweis auf Bohrer scheint im Zusammenhang mit dem Erzählband Gruenters nicht unbedeutend zu sein, da Gruenter und er diese gemeinsamen surrealistischen Lektüren teilten. Der Hinweis auf die »Spur des Surrealismus« scheint sich für das posthum herausgegebene Werk als von größerer Bedeutung zu erweisen, wozu sie sich in einigen Aussagen bekennt, bezogen auf das Ich und in Abgrenzung sowohl zur Identitätsphilosophie Descartescher oder Kierkegaardscher Provenienz als auch zum Zitat Rimbauds: Je c’est un autre (Ich ist ein anderer): »Ich: Ich ist nicht ich, und ich ist auch nicht ein anderer, sondern jene schwarze Leere, in die man stürzt in Träumen, in die man fällt, von Gerüsten, Türen, Balkonen, durch einen Aufzugschacht.« (AS, 23) Die Autorin betont dazu, dass sie diesen Satz von Rimbaud so lange nicht begriffen hätte, bevor sie nicht selbst angefangen habe, zu schreiben. (AS, 45) Gruenters Interesse an Paris galt vorzugsweise jenem der Künstler und Literaten des 19., aber auch des Beginns bzw. der Mitte des 20. Jahrhunderts. So begibt sie sich zum Teil auf die Spuren der Schauplätze deutschsprachiger Romane, sehr oft mit französischen Motiven: »Undine Gruenter, erzählt ihr Mann, der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer, habe an ihrem dreißigsten Geburtstag 1982 keinen größeren Wunsch gehabt, als mit ihm gemeinsam die Pariser Schauplätze von Heinrich Manns zweibändigem Roman über den »guten«, volksnahen König Henri Quartre abzuschreiten. Aber vor allem die mythischen Orte der Surrealisten, wie der von Louis Aragon in Pariser Nachtleben bedichtete Park Buttes-Chaumont im Nordosten oder das »terrain vague« der Place Dauphine aus André Bretons Nadja, hatten an der »Ungeheuerlichkeit ihrer ParisEntzückung« maßgeblichen Anteil, erinnert sich Karl Heinz Bohrer. Das war ihr erstes Treffen in Paris, die Initialzündung für Gruenters »ungebrochene und unbrechbare, tiefe Leidenschaft für diese Stadt«, die bis zu ihrem frühen Tod im Alter von fünfzig Jahren nie nachgelassen« habe.«478

476 Auf den sich Gruenter explizit bezieht, wo es im AS, 11f. heißt: »Literarische Vorbilder? Vorlieben? Breton und Bataille: weil sie in der Kunst nach dem Heterogenen streben. Kunst ist nicht Ausdruck von etwas das ist, sondern Ausdruck eines Verlangens. Weil sie das Geheimanis ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gestellt haben. Was ist Batailles erotische Obsession anders als das Verlangen nach absoluter Freiheit? Und absolute Freiheit begehren, heißt auch den Tod begehren. Bei Bataille sind die Körper das Medium, bei Breton die Herzen (seelische Erschütterung). 477 Gruenter nennt Breton mehrmals im Werk »Der Autor als Souffleur«. (vgl. AS, 11f, 55, 177, 302, 311, 335 u. 465). 478 Auf den Spuren von Heinrich Manns Roman. In: PL, 183f. (Nachwort Hillgruber).

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Dem Werk »Pariser Libertinagen« wird dem Vorwort ein Zitat aus Aragons Werk »Libertinage, die Ausschweifung« Titel gebend voranstellt.479 Gleichfalls ist der Beginn der »Libertinagen« nicht anders als surrealistisch zu nennen (eine Auswahl von 25 Texten, die alle zwischen 1999 und 2000 geschrieben sind), wo erneut Aragon auftaucht: »Stellen Sie sich vor: Ein gelbes Taxi in der Rue Ordiner, in dem der Große Marquis (de Sade) in einem pompösen Akt der pompes funèbres zu Grabe getragen wird, im Café Nord-Sud vor der Mairie tanzen nackte Odalisten mit Turbanen von Ingres unter Polizeischutz, Aragon fällt in Ohnmacht, weil er zum Totenmahl seinen eigenen cadavre exquis verzehrt hat – ein Hohngesang auf die heiligen Kühe der III. Republik, in dem er die Verkrüppelten des I. Weltkriegs auftreten lässt gegen Ehre, Familie, Vaterland, Militär, Medizin, Jurisprudenz.« (PL, 7)

In »Das gläserne Café« dagegen ist Gruenter noch weniger surrealistisch beeinflusst,480 wenn man trotz der Anspielung im Titel an die Erzählung »Place Dauphine«481 denkt. Und doch finden sich im ganzen Werk über die Anspielungen auf den Ort in dieser Geschichte hinaus nicht zufällig, viele Bezüge zu André Bretons »Nadja«. Von Breton übernimmt sie dessen »antipsychologische Haltung, die sich im Prinzip des persönlichen, nicht-beschreibenden Berichts Ausdruck verschaffte«,482 so schreibt der Kritiker Christoph Bartmann am 23. 07. 2002 in der SZ zur Neuausgabe von Nadja: »Die Place Dauphine, mit ihrer schmalen Öffnung zur Ȋle de la Cité als Vagina gedeutet, sollte in »Nadja« einer der geheimnisvollsten Orte der Begegnung zwischen dem Autor und seiner Hauptfigur werden.«483 Die Protagonistin in der Erzählung »Place Dauphine« lässt sich aufgrund einer Liebe durch die Stadt treiben, wenn auch nur durch den ästhetisch abgesteckten Raum um die Place Dauphine herum, ganz im Sinne Bretons als Sinnbild einer Liebe, die zu einer Amour fou mutiert. Die Protagonistin in Bretons Roman weist darauf hin, dass ihr Name im Russischen Hoffnung bedeutet484 und genauso lässt 479 Vgl. AS, 73, wo sie von »geistiger Libertinage« im Kontext von Toleranz spricht respektive schreibt. 480 Wie am Beispiel des Romans »Ein Bild der Unruhe« gezeigt wurde. (Vgl. Kap. 5.1.), formalästhetisch aber eher dem »fantastischen Realismus« dem Hyperrealismus oder dem Realismus überhaupt zuzuordnen. 481 Die Place Dauphine ist nicht nur einer der ältesten (royalen) Plätze in Paris, sondern die dortigen Cafés waren auch ein zentraler Ort der Künstler, insbesondere der Surrealisten, Deshalb spielt Woody Allens Film »Midnight in Paris« hier. 482 Im Falle »Nadjas« in eine psychiatrische Krankengeschichte verpackt. 483 Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus: Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotographie und Film. München: C.H. Beck 2006, 57. 484 Das wird von Gruenter in »Durch den Horizont« (DH, 104) in Hinsicht auf Bretons Werk aufgenommen, wo es heißt: »[…] in der Erwartung/in der Sekunde des Aufbruchs/im Anfang/ – wie der Name Nadja/im Russischen der Anfang/der Vokabel Hoffnung ist […]« (im Original kursiv gedruckt, SW).

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sich die Protagonistin in Gruenters Erzählung von einer irrationalen Hoffnung treiben, dass der Erwartete, von dem man nichts weiß, nichts erfährt und nicht wissen kann, ob er wirklich existiert, endlich doch noch kommen wird. Das führt zu dem von ihr häufig neu aufgenommenen Motiv des Irrgartens: »So auch in Vertreibung aus dem Labyrinth (1992), einem Buch, das bereits im Titel eine Lieblingskonfiguration der Autorin erwähnt: den Irrgarten. Abwegig und aussichtslos erscheinen viele ihrer Erzählkonstruktionen, und doch deutet sich stets ein Fluchtweg an.« (PL, 185, Nachwort)

Aber die Erzählung kann auch ohne die Anspielungen und diese intertextuellen Vorkenntnisse gelesen und verstanden werden. Diese Feststellung ließe sich auf einige Texte Gruenters übertragen und macht diese für die Lektüre zugleich so reizvoll. Auf diesem Platz befindet sich eine in der dritten Person (Sie) bezeichnete, sonst nicht näher beschriebene Protagonistin, die aus einer »Stadt im Norden« in die Stadt ihrer Erinnerung und ihres Studiums zurück gekommen ist, im Hotel Henri IV absteigt und von dort zwischenzeitlich mit ihrem Mann und ihrem Kind telefoniert. Dabei wird selbst die heute so unzeitgemäß wirkende Telefonkabine, zu einem wenn man denn so will »transitorischen Unort«. (vgl. Augé, 11/3. Teil) Bis auf die Straßen, Plätze und Orte in Paris lässt die Autorin wieder Personen und andere Orte,485 aber auch die Zeit, in der für sie so bezeichnenden Schwebe. Von neuem wird der Mann in der Erzählung nicht konkret benannt und schon gar nicht beschrieben, von dem man nicht mehr weiß, als dass die Protagonistin offensichtlich früher mal ein Verhältnis mit ihm hatte, als man sich in diesem Hotel traf. Darüber hinaus wird nicht explizit motiviert, weshalb sie wieder an diesen Ort gekommen ist. Die Leserin bzw. der Leser müssen sich die Vorgeschichte selbst rekonstruieren. Wieder handelt es sich um eine Frau als Wartende, wartend auf einen Mann,486 für den sie Mann und Kind für ein paar Tage verlässt, um sich eine Art »Auszeit« zu nehmen, wie sie vorgibt. Ihre Erwartung bezieht sich auf einen Mann der Vergangenheit. Es wird nicht einmal deutlich, ob es überhaupt eine Verabredung zu dem Treffen gegeben oder irgendeinen Kontakt zu dem Mann in jüngster Zeit gegeben hat. Jedenfalls hat die ganze Szenerie nichts mit der aktuellen alltäglichen Welt der Protagonistin zu tun hat. Das Wort »Warten« nimmt deshalb neben der »fremden Stadt« eine zentrale Rolle in der Geschichte ein im Sinne von Erwartung und Fremdsein: »Sie steht hinter dem Fenster und blickt auf den Platz. (Der Regen hat aufgehört. Das Laub der Bäume ist schwer und glänzend. Nässe, sie spricht dieses Wort in den Raum. 485 Etwa die Stadt der Herkunft der Frau. 486 So emanzipatorisch sich Gruenter ansonsten gibt, scheint es sich doch um eine Frau zu handeln, die sich über ihr Verhältnis zu einem Mann definiert. Es sei hierbei auch an Gruenter »Liebeskonzeption« erinnert.

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Sie sagt es vor sich hin.) Seit fünf Tagen wartet sie hier, in diesem Zimmer, an diesem Platz. Sie ist hierhergereist, aus dem Norden, in diese fremde Stadt.« (GC, 11)

Die Frau schafft sich einen Ort, einen Rückzugplatz, neudeutsch würde man wohl von »Retreat« sprechen, ebenfalls eine Art Unort, der bald nichts mehr mit der Stadt zu tun hat. »Sie hat nichts gesehen von der Stadt, sie hat den Bereich des Platzes niemals verlassen.« (ebd.) Sie versucht, sich eine Art Erinnerungsinsel in der Stadt zu schaffen und daran anzuknüpfen, im Sinne einer Benjaminschen Stadtlandschaft, worin sie in die Anonymität eingehen kann.487 Es geht darum, sich in einer Stadt zu verlieren, wie es der genannte Benjamin-Freund Franz Hessel einmal in einem anderen Zusammenhang formuliert hat: »Sich in einer Stadt zurechtzufinden, ist einfach, es kommt darauf an, sich darin zu verlieren.«488 Die Beschreibungen der Autorin im Werk sowie ihre ganz alltäglichen Spaziergänge in Paris, auf denen sie sich »verlor« oder versuchte, sich zu verlieren, bezeugen das gleichermaßen.489 Gruenters Blick zielt aber wie angedeutet stärker auf das Interieur ab, auf die Zimmer. Man könnte ihren Blick mit der Kunst des Malers Adolf Menzel vergleichen,490 nur dass ihre Interieurs noch einsamer sind und fast eine Art Eigenleben führen. Die Protagonistin hat die Möglichkeit, hier ganz für sich zu sein, sich zurück zu ziehen, passiv zu sein, es bleiben zu dürfen und sich nur auf das Beobachten der Umgebung einlassen zu können sowie dem Nachhängen von Erinnerungen, die sie dann und wann heimsuchen: »Als lausche sie einer Stimme nach, einer Erinnerung […].Daneben sind es immer wieder die erwähnten Geräusche […].« (ebd., 15) Am Ende der Geschichte scheint wie in so vielen Ge487 Vgl. hierzu: Walter Benjamin: Städtebilder. Fotografiert von Anna Blau. Mit einem Nachwort von Peter Szondi. Frankfurt: Suhrkamp 1992. 488 Siehe hierzu: Franz Hessel: Heimliches Berlin und Spazieren in Berlin. Lehrbuch der Kunst in Berlin spazieren zu gehen 1929. Hrsg, v. Moritz Reininghaus. Berlin: Verlag für BerlinBrandenburg 32011. Hessel, 1880 in Stettin geboren und 1941 in Sanary-sur-Mer (einem Ort in Südfrankreich an der Mittelmeerküste bei Toulon, wo sich viele deutsche Emigranten wie Brecht, Feuchtwanger, Bruno Frank, Thomas Mann etc. nach der NS-Machtergreifung aufhielten, der Ort deshalb als wichtiges Exilzentrum bezeichnet worden ist) gestorben, obwohl von Gruenter nicht oft genannt, ist jener, der in seinem Werk eine Verbindung zwischen Paris und Berlin herstellt, indem er eine Mythologie entwirft, wo er die bleibenden Analogien aufzeichnet. Analog zum »Paysan de Paris« von Aragon, entwirft er den Bauern von Berlin. 489 Auf gewisse Weise lässt sich dies auf Gruenters Gesamtwerk übertragen, allerdings eher auf ihre Interieurs. Analog dazu ließe sich ein Satz Benjamins in die »Die Wiederkehr des Flaneurs« auf Hessels Werk anwenden, dass es ein »ganz und gar episches Buch« sei, »für das Erinnerung nicht die Quelle, sondern die Muse war«. Benjamin sah in Hessel, in Analogie zu Louis Aragons »Paysan de Paris«, einen »Bauern von Berlin«. Er verstand es, in Berlin und Paris, den Metropolen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die »aufgeklärte« Mythologie als das wiederkehrende Immergleiche auszumachen. Vgl. auch: Franz Hessel: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. v. Hartmut Vollmer & Bernd Witte. Oldenburg: Igel 1999. 490 Vgl. Zahler (2018), 256, wo sie die Erzählungen mit Menzels »Balkonzimmer« vergleicht.

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schichten der Gruenter eigentlich nichts geschehen zu sein, fast programmatisch und gebetsmühlenartig wird einmal mehr das Warten beschworen: »Sie sieht den Platz, der vor ihr liegt. Sie ist hierhergereist, aber sie gehört nicht in die Stadt. Sie ist nicht dort, in der Stadt, sondern hier, auf diesem Platz, in diesem Bereich, für niemanden zugänglich. Eingeschlossen im Raum dieses Platzes. In dem nichts anderes stattfinden kann als das Warten, unaufhörlich, versammelt. Sie hat sich entschieden, auf diese Weise zu warten. Bis nichts mehr übrig sein wird, wenn er nicht kommt, wenn er kommt. Sie wird warten, sie wird nichts anderes mehr tun.« (GC, 21)

Wieder führt Gruenter eine Person vor, die das Warten, das Innehalten, das Nichtstun zu ihrer eigentlichen »Tätigkeit« erhebt, scheinbar dabei jeder Form der Sorge um den Lebensunterhalt enthoben. Sie muss sich nicht um das »tägliche Brot« kümmern, wird nicht einmal von ihren Nächsten auf etwaige »Pflichten« als Frau oder Mutter verwiesen, sondern kann es sich leisten, ihren Erinnerungen an ihren verflossenen Geliebten und an eine intensive Zeit nachzuhängen. Auch dieser Protagonistin geht jede Form von Unmittelbarkeit des Handelns ab.491 Wenn man von einem Bindeglied der Erzählungen des ersten Teils sprechen will, so scheint es die thematisierte Erinnerung zu sein, gleichfalls eine Art nicht unmittelbarer, sondern mittelbarer Existenz- und Verhaltensform. In Erinnerungen zu leben, heißt immer. aus einer Art zweiter Hand zu leben. Es gibt das aktuelle, alltägliche Leben und dann gibt es die nicht real anwesende Erinnerung. Insofern lässt sich einiges aus dem Werk der Gruenter aus dem in den letzten Jahr- und Jahrzehnten sehr populär gewordenen Erinnerungsdiskurs heraus verstehen. Steht in der Erzählung »Place Dauphine« das in der Erinnerung Erwünschte aus,492 so wirkt die Erinnerung in der Erzählung »Nacht unter Bäumen« eher bedrohlich und zugleich sehr präsent. Anders als die oben genannte Erzählung ist diese Erzählung in der Ich-Form geschrieben: Was die beiden Prosawerke verbindet ist das Präsens, in dem beide Erzählungen geschrieben sind, was den Erzählungen eine große Dichte, Authentizität verleiht und ihnen geradezu etwas Filmisches vermittelt. In dieser Geschichte, die im Süden Frankreichs spielt, markiert durch die Erwähnung der Sümpfe in der Camargue im Sommer,493 geht

491 Insofern gehört sie zu jenen literarischen »Gestalten der Moderne«, wie man sie bei Rilke, Baudelaire, Hofmannsthal, Schnitzler oder anderen finden kann. 492 Deutlich wird dies an der Beschreibung der Ankunft des Geliebten im Hotel, der nur in der Erwartung und Erinnerung besteht und sogar letztere wird von der Protagonistin »verfälscht«. Diese Konzeption steht in Übereinstimmung mit der »Konstruktion von Erinnerung« oder Augenzeugenberichten. 493 Überhaupt lässt sich das Leben Gruenters auf einige Brennpunkte »komprimieren«: das Rheinland, Berlin, vor allem Paris und die ˘Ile de France (die Marne etc.), London, das weitere

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es um die Beziehung der Ich-Erzählerin zu einem Mann Lion, mit dem sie verheiratet ist, was sich aber erst im Laufe der Erzählung herausstellt. Dazu werden eher zweifelhafte Gründe für diese Hochzeit angeführt: »Der erste Sommer, unsere erste Wohnung. Nach der Hochzeit sind wir gleich von zu Hause weggezogen. Nur fort hatten wir gesagt. Den Gerüchten entkommen, den Blicken der anderen. Dem Tonfall, in dem sie sagten, du musst wissen, was du tust. Sie sagten es, als feststand, dass ich Lion heiraten würde. (Denn Laura war verschwunden, und alle dachten, dass Lion mit der Sache zu tun hatte.« (GC, 26)

In die Beschreibungen des Zusammenseins, des gemeinsamen Mahls, des Südens, des Parks, des Flusses und der Schiffe oder der Nacht (hier wie ein Raum beschrieben), schleicht sich für ihn immer wieder der Name Laura mit in die Erinnerung hinein, von der man dann später erfährt, dass es sich um eine Cousine Lions handelt, mit der er offensichtlich mal ein Verhältnis hatte und weiterhin eine Beziehung unterhält. Diese Figur wird an einem Ort »nachts unter den Bäumen« lokalisiert, wovon eine unbestimmte Art von Gefahr oder Bedrohung ausgeht. Scheinbar ist die Protagonistin die einzige, die Laura unter den Bäumen bemerkt: »Ungefähr drei Wochen nach der Entdeckung der Postkarten sah ich die Gestalt unter den Bäumen ein erstes Mal. Ich war mir nicht sicher. Aber es war dasselbe Kleid. Weit, weiß, vom Wind zerrupft wie ein großer Strauß. Die Person blickte zu den Fenstern unserer Wohnung herauf. Das war eindeutig. Keine Täuschung. Am nächsten Tag, an den folgenden Tagen war sie wieder da. Jeden Nachmittag, um die Zeit, wenn Lion nach Hause kam, stand sie unter den Bäumen, Einmal dachte ich, wenn sie wüßte, wie lächerlich sie ist. Dieses stumme Warten unter den Bäumen, das ist wie ein Opernauftritt. Dazu dieses weiße, leuchtende Kleid. Aber zum Lachen war mir nicht zumute. Plötzlich war die Entfernung zusammengeschrumpft. Sie stand gegenüber, sie war ganz nahe gerückt. Was half jetzt das Netz unserer Gewohnheiten? Es half nicht einmal, diese Schatten abzufangen. Ich beobachtete Lion, wenn er abends nach Hause kam. Einmal mußte er sie doch entdecken.« (GC, 31)

Durch die »Entdeckung der Postkarten« von Laura an Lion »schärft« sich die Wahrnehmung der Ich-Erzählerin. Sie vermutet Laura fortan jeden Tag in der Kulisse unter den Bäumen. Erneut wird nicht deutlich gemacht, ob es sich allein um eine Täuschung der Protagonistin oder um die Realität handelt. Es wird ihr aber zu einer Art Obsession, die ihr im wahrsten Sinne des Wortes immer »näherkommt«. Umgekehrt geht das dann wiederum so weit, dass sie sich fragt, ob Lion Laura unter den Bäumen nicht ebenfalls bemerken müsse. Die einzige »Art von Zuflucht«, Ablenkung und Beruhigung findet die Protagonistin in Tätigkeiten, die in der Küche vollzogen werden (GC, 24) oder in England, die Normandie (Trouville, Honfleur etc.), Burgund und etwas der weitere Süden Frankreichs, le »Midi«, über weitere Reisen o. ä. (siehe Kap. 4.5.)

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diesen »Gewohnheiten«, wie die Ich-Erzählerin das nennt. (GC, 28 u. 31) Wie so oft bei Gruenter wird dieser abgeschirmte Bereich, der dann durch das Herablassen der Jalousie noch einmal abgegrenzt wird, ganz exakt beschrieben. Die Erzählerin unterteilt Räume in kleine Mikrokosmoi, in dem Falle den Arbeitsplatz in der Küche. Zugleich wird en passant die Bedeutung der Zubereitung des Essens für die französische Kultur betont: »Fast den ganzen Nachmittag habe ich mit der Vorbereitung dieses Essens zugebracht. Ich habe die Jalousie herabgelassen, ich habe, in der abgedunkelten Küche, Tomaten geputzt, Auberginen, Zucchini, Zwiebeln, Paprikaschoten. Ich habe am Tisch gesessen, das Gemüse auf der Platte ausgebreitet, ich habe mich in der Hitze, im Schatten der Jalousie, der Monotonie der Küchenarbeit überlassen. Zerkleinern, aushöhlen, in ein Sieb schütten, waschen., Ich habe gearbeitet, ich habe auf den Abend gewartet. Ich weiß. Lion ißt es gern, dieses Gemüse, während der Hitze. Dazu Lamm, eine kalte Gemüsesuppe. Die Dämmerung hat schon begonnen. Der Tisch ist gedeckt, die Jalousie ist hochgezogen. Im Zwielicht erkenne ich kaum Lions Gesicht, seine Hände. Er schweigt, mit Essen beschäftigt. Der Löffel rührt in der Suppe wie in trübem Schlamm.« (GC, 26)

Die Erzählung »endet« wie so oft bei Gruenter damit, dass die Beziehung der drei Protagonisten und die ganze Angelegenheit im Sinne des französischen Worts »affaire« nicht »aufgeklärt« wird. Es führt noch darüber hinaus, dass die Protagonistin genau die Nähe dieses Ortes sucht, von wo sie eigentlich das Unglück für sich und ihre Beziehung auf sich zukommen sieht. Es findet hier eine Art örtlicher »Identifikation mit dem Aggressor« statt, nicht mit der Cousine Laura, sondern mit dem Ort, von wo sie das Unglück vermutet: »Ich muß aus dem Haus gerannt sein. Mit wirrem Haar, mit nackten Beinen. Ich verließ die Küche und rannte, bis ich unter die Bäume kam.« Erneut erhält hier die von Gruenter ins Spiel gebrachte Abwesenheit Bedeutung.494 In der Erzählung findet sich allerdings noch eine weitere dramatische Wendung, nämlich die, dass Lion unheilbar krank erscheint. Die Krankheit wird nicht mit einem Begriff benannt – es handelt sich wohl um Magen- oder Bauchspeichelkrebs –, aber sie wird wie folgt beschrieben: » […] dass die Blutungen eingesetzt hatten« und ein »Notarztwagen gerufen wurde, Lion sehr »viel Blut verlor« (GC, 27), »Krämpfe anfingen« (GC, 29), er über »Monate Magentropfen einnehmen musste« (CG, 30), ein Blutaustausch vorgenommen wurde (GC, 31) und »schließlich Lions Gesicht zwischen den Schüsseln lag«: »Die Augen geschlossen. Die Faust gegen den Magen gedrückt. Die Knie an den Leib gezogen.« (GC, 33) Von daher bekommen die Briefe Lauras an Lion, die die Ich-Erzählerin gerade zur Zeit der diagnostizierten Krankheit Lions findet und worauf sie mit Wut reagiert (GC, 28), eine extrem aufgeladene, emotionale Bedeutung, was zum Schluss soweit geht, dass sie Lion trotz besseren Wissens sich alleine überlässt 494 Vgl. dazu: Kundera (2000), 59ff.

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und »unter die Bäume geht«, wo sie zum einen Laura vermutet und zum anderen zugleich eine Art Zuflucht für sich sucht: »Ich wußte, was zu tun war. Zum Telefon und den Notarzt rufen. Ich blieb stehen. Ich blickte auf den gekrümmten Hals. Auf die Haarbüschel zwischen den Essensresten. Ich muss aus dem Haus gerannt sein. Mit wirrem Haar, mit nackten Beinen. Ich verließ die Küche und rannte, bis ich unter die Bäume kam.« (GC, 34) Fast wie auf einem Foto macht die Erzählerin hier ihre (Nicht-) »Handlung« statisch. Sie beschreibt überpräzise die »Haarbüschel zwischen den Essensresten« und wie sie Schutz unter den Bäumen sucht: vor ihm (Lionel) und seiner Krankheit, vor sich, vor der ganzen, sie überfordernden Situation. In der Erzählung »Das Fenster« tauchen erneut diese Motive des Wartens, des Erinnerns etc. auf. Ähnlich wie die erste Erzählung »Place Dauphine« und anders als in »Nachts unter Bäumen« ist die Erzählung erneut im Präsens geschrieben, was ihr eine glaubhafte Plastizität verleiht. Abermals handelt es sich um eine Geschichte, in der etwas vermutet oder nur angenommen wird: hier eine Person, die im Sinne von Örtlichkeit respektive Räumlichkeit nicht anwesend ist. Es geht um die Geschichte eines Auslandskorrespondenten, der lange fort gewesen ist, überwiegend in Algerien und in Libyen, dann seine Stelle verloren hat, sich in einem Hotel495 einquartiert, während seines dortigen Aufenthalts eine Einladung zu einem neuen Vorstellungsgespräch bekommt und sich bis dahin in einem Hotel, einem transitorischen Ort, mit Warten die »Zeit totschlägt«. Nur folgerichtig sind seine Assoziationen vorzugsweise mit seinem Beruf und den Flüchtlingslagern verbunden. Dieser Auslandskorrespondent stellt abermals eine sich erinnernde Person dar. Seine konkrete Gegenwart wird immer wieder von neuem von Erinnerungen geprägt, z. B. an seine ehemalige Frau Sarah, mit der er in einem dieser Länder lebte. Breiten Raum im wortwörtlichen Sinne nimmt wiederum die Beschreibung der Alltagsgegenstände ein, wie der Koffer etc. aber in erster Linie jene der Hotelzimmer. Alles befindet sich in einer »neuen Umgebung, in einem fremden Zimmer«: »Er hat die Koffer aufs Bett fallen lassen. Es ist niedrig, es ist breit, es füllt fast das ganze Zimmer aus. Es ist das einzige, womit sie hier verschwenderisch umgehen. Ein Bett, immer für zwei, noch im billigsten Loch. […] Hier oben ist es ruhig, fast lautlos, fast zu still für diesen Morgen, so nah am Boulevard Saint Michel. Kaum ein Laut dringt von außen ins Zimmer, man hört nur das ferne Rangieren des Aufzugs im Schacht, ab und zu, in langen Abständen. […] Er kennt die Stille dieser Zimmer. Die Stille von Hotelzimmern. Man entkommt der Lautlosigkeit nicht, lernt sie zu ertragen. […] Hinterhofschächte. Rohre, sie laufen außen ab, den Mauern entlang, ein weißes Stück Himmel. Er geht zum Fenster, öffnet es. Er sieht alles ist noch enger, als er erwartet hat. Der 495 Erneut in einem dieser Unorte. Vgl. hierzu: Augé, vgl. 11/3. Teil, 26, 53 in dieser Studie, Richard Senneth: Der flexible Mensch: Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag (22008).

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Abstand zur gegenüberliegenden Mauer beträgt anderthalb Meter. Der Raum zwischen den Häusern ist so klein, man braucht nur die Hand auszustrecken –. Die Wand gegenüber sieht aus wie alle aussehen, der Verputz abgeblättert, die Fensterluken verkrustet. Der Schmutz eingefressen, unablösbar.« (GC, 40f.)

Es sind vor allem die »Geräusche der Stille« dieses Zimmers, die beschrieben werden, ein Ort der Einkehr, beinahe wie eine Kirche im meditativen Sinne, inmitten in der größten Geschäftigkeit der Stadt am Boulevard Saint-Michel. Daneben bieten die eng aneinander stehenden Häuser sich gegenseitig Schutz, was er bemerkt, als er das Fenster öffnet. Überhaupt wird hier das Fenster als Scharnierstelle zwischen der Erde und dem allgegenwärtigen Himmel von Paris und der Schwelle zur Außenwelt und damit zur anderen Wohnung ins Zentrum gerückt. Der Journalist tritt hinaus, lässt sich durch die Straßen treiben, und tritt in ein Café am Jardin du Luxembourg ein, an der Ecke des Boulevard St. Michel. Er betritt jene »transitorischen« Räume oder fluktuierte Unorte, die für das Schreiben Gruenters so zentral sind. Zugleich verkörpert er Figuren, die nirgends haften, nirgendwo Zuhause scheinen, in transitorischen Räumen unterwegs sind, nur in der Erinnerung auftauchen wie die ehemalige Frau des Protagonisten Sarah oder überhaupt nicht in Erscheinung treten wie jener Andere, Fremde, der sich nur durch den Geruch von Gekochtem zu »erkennen« gibt bzw. der nur zu spüren ist, durch das unglaublich nahe Fenster in dem direkt an das Hotel angrenzenden Gebäude. Diese Gebäude stellt sich ebenfalls als ein ehemaliges Hotel heraus, das seit geraumer Zeit geschlossen ist, wie ihm der Portier später verrät, weil sich dort »niemand aufhalten könne«. Diese vermeintliche Figur taucht nur als Schatten auf und verliert bzw. verflüchtigt sich daraufhin im Raum. Am Schluss bleibt nur ein Schatten, ein Luftzug, ein Fenster, die Erinnerung zurück und eine gewisse Ahnung davon, was da gewesen gewesen sein können. Es wird von einem »Aufprall im Schacht« gesprochen und so nahegelegt, dass es sich um einen Selbstmordversuch des vermeintlichen »Gegenübers« hätte halten können, was aber nicht abschließend bestätigt wird. Die nur gemutmaßte Person löst sich im Raum auf: »Wer da? Das Fenster ist geschlossen. Da streift ihn ein Luftzug, wer spürt ihn, im Nacken zuerst, endlich die Luft, ein nächtlicher, kühler Windhauch. Er sieht den Schatten im Fenster. Er spürt den Windzug, die Tiefe. Er spürt das Rauschen der Luft, das Fallen. Er hört den Aufprall im Schacht. Im Ohr.« (GC, 58)

Für jede einzelne dieser Erzählung wäre eine so ausführliche Betrachtung, wie für die ersten drei ersten Geschichten hier exemplarisch versucht wurde, durchzuführen, was allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Im Grunde würde eine solche Vorgehensweise der Schreib- bzw. Arbeitsweise Gruenters entsprechen, weil ihre Erzählungen voller einzelner Details und Motive stecken,

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von denen jedes zu interpretieren wäre. Exemplarisch wurde hier versucht, dies inhaltlich auf einige besondere Aspekte angesichts von Motiven von Raum, Fremde und »fremder Raum« zu beziehen. Nicht vergessen werden darf indes der »Sound« Gruenters, den Weidermann exponiert: »Und Undine Gruenter lebt dort ganz dem Schreiben. Im Erzählband Das gläserne Café (1991) findet sie zu ihrem Ton, dem schönen. melodischen Gruenter-Klang, dem Französischen abgelauscht und scheinbar mühelos ins schwerfällige Deutsche hinübergerettet. Geschichten der abwesenden Liebe, der Suche danach und der Einsicht, dass sie auf Dauer nicht möglich ist. Wie bei den Flaneuren von damals. Undine Gruenters Bücher spielen in Gärten und Labyrinthen, in einer grünen, genau geplanten Welt.« (Weidermann 2006, 153)

Erneut sind es in der Erzählung »Besuch auf dem Lande« (noch einmal unterteilt in »Die Anreise«, »Die Ankunft«, »Das Diner« und »Die Nacht«) wiederum die Orte, die eine besondere Darstellung erfahren und die durch diese Darstellung zu ästhetischen Räumen werden. Bereits im Titel klingt ein Ort respektive Raum an, wenn man so will: das Land. Es dreht sich hier um die Geschichte eines männlichen Protagonisten, der mit dem Zug hinauf aufs Land, in einen nicht weiter beschriebenen Ort D. fährt, um dort in einem neoklassizistischen Gutshaus, einen »prächtigen Landsitz«, einen Gelehrten und dessen Familie zu besuchen, der über verschollene Entwürfe für die »Umgestaltung von Norham Castle« verfügt und den der Protagonist, offenbar ebenfalls Kunsthistoriker, auf einer Konferenz an der Universität Leyden kennen gelernt hatte: »Durch einen Zufall hatte ich seine Einladung erhalten. Einige Zeit zuvor hatte ich an der Universität Leyden einen Vortrag gehalten und bei dieser Gelegenheit zuerst von jenen Papieren erzählen hören, die sich seit kurzem im Besitz meines Gastgebers befinden sollten. Es handelte sich um seit langem verschollene Entwürfe aus dem 18. Jahrhundert, die einen genauen Plan für die Umgestaltung von Norham Castle enthielten. […] Das Herzstück dieses Plans sollte nämlich jenes rätselhafte, nie zur Aufführung gelangte Prunkstück der Phantasie bilden. Das in den Aufrissen als Grüner Käfig eingezeichnet war. […] Ich hatte dem Gastgeber einen Aufsatz über die Fontänen in den Achsenanlagen von Fontainebleau geschickt, den ich vor kurzem in einer Fachzeitschrift veröffentlicht hatte, und einige Wochen später war der Vorschlag gekommen, ihn gelegentlich zu besuchen.« (GC, 65f.)

Der Protagonist fährt mit dem Zug bis in eine kleine Provinzstadt, wo er von seinem Gastgeber am Bahnhof abgeholt wird. (GC, 63) Von Anfang an spürt der Protagonist »eine Art Beklemmung, die über den Zimmern in diesem so eleganten Haus lag«. (GC, 66 u. 68) Das Haus wirkt wie personalisiert und erhält eine fast dramatische Funktion, weil es auf eine gewisse Weise alle seine Bewohner stark beeinflusst, als da wären die über dreißig Jahre jüngere Frau des Wissen-

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schaftlers und das »kleine Mädchen«.496 Von der Frau des Wissenschaftlers wird erzählt, dass sie kaum auffiel, »so sehr fügte ihre Erscheinung sich in die Umgebung«. (GC, 67) Der Gastgeber zeigt dem Ich-Erzähler hauptsächlich das Haus: »Er zeigte mir einen Teil des Hauses, wies auf einige Landschaftsansichten über den Türen, sprach über die Geschichte des Hauses, wies auf die Architektur, den roten Backstein, die Ecktürme, die Brücke, die Torbogen.« (GC, 69) Außerdem werden die Bibliothek und die Halle erwähnt, dazu der Essenssaal, wo das Gastmahl nach einer festen Tischordnung und einem Essensritual abgehalten wird. Diese Art von Routine wird zweimal unterbrochen, als das (Dienst-) Mädchen Rotwein auf dem Tischtuch verschüttet und der Gastgeber hinter seiner Fassade seine Wut nur mühsam zu zügeln weiß (GC, 71), und zweitens immer dann, wenn die Tür zur Halle geöffnet wird und der Herbstwind Blätter in die Halle treibt (ebd.). Ansonsten erzählt der Gastgeber von seiner Entdeckung der Unterlagen des Grünen Käfigs, die er auf einem verlassenen Gehöft in Südfrankreich entdeckte. »Er habe die Entwürfe auf einem Speicher entdeckt, in einem verlassenen Gehöft in Südfrankreich. Sie hätten dort versteckt zwischen Kisten und leeren Vogelnestern gelegen, verstaubt, verdreckt, zerfallend, ein Privatsammler, ein Emigrant auf der Flucht vor den Deutschen habe sie dort bei einem Freund zurückgelassen. Er habe seit langem Nachforschungen über ihn angestellt, seine Spur verfolgt, und auf diese Weise die Pläne entdeckt. Ein kleines Modell des Grünen Käfigs befinde sich in seinem Schlafzimmer, soeben sei es fertiggestellt worden, und er wolle es mir am nächsten Morgen zeigen.« (GC, 73)

Der Gast in Gestalt des Ich-Erzählers fragt sich ermüdet und gelangweilt die ganze Zeit, warum man ihn eingeladen habe. Die einzige »Aufregung« geschieht, als die Frau des Gastgebers ihre Hand in unmittelbarer Nähe des Gastes ablegt und der Gast überlegt, ob er sie ergreifen soll. Abermals wird die »Handlung« nicht durch das Gespräch, sondern durch eine örtliche Veränderung ausgelöst. Als der Gast die Frau nach dem gemeinsamen Mahl noch einmal in der Küche sieht, versucht er, sich ihr zu nähern, worauf sie ihm entgegnet, »es sei unmöglich« (was immer mit diesem »es« gemeint sein mag). Diese unterschwellige Erotik, »nichts anderes, als die Inszenierung des Wartens« (AS, 50), die zwischen den beiden entsteht, wird allein durch ein schüchternes Sich-Nähern und SichWieder-Entfernen angedeutet. Als er sie doch noch umarmen will, als der Gastgeber bereits zu Bett gegangen ist, schlüpft etwas mit einem langen Schwanz zur offenstehenden Eingangstür herein. Am nächsten Morgen, als der Hausherr das Modell des Grünen Käfigs, ein »Drahtmaschenturm von einem Meter Höhe« (GC, 78) vorführen will, findet sich an der inneren Wand des Käfigs eine tote Ratte, der einzige »Zeuge« der Umarmung des Gastes mit der Frau des Gastge496 Alle drei Personen werden nicht beim Namen genannt.

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bers. Nichts hat sich verändert, der Mechanismus, in dem sich die Ratte verfing, erinnert an den Mechanismus, der auf dem ganzen Haus liegt: »Ich erinnerte mich an die beklemmende Atmosphäre, die über den Zimmern lag, als ich ankam, und ich kam mir hilflos vor gegenüber diesem Haus, das wie eine Falle war, deren Mechanismus ich nicht verstand. Die Zeit entglitt im Unbestimmten, in einem Muster von Trauern und Warten [Hervorhebung SW]. In der Einförmigkeit ihrer Tage mochten die Stunden des gestrigen Nachmittags einen Namen haben. Familien in Erwartung eines Gastes. Aber sein Auftauchen änderte nichts, es blieb ein trauriges Haus, und die Dinge hatten etwas Feuchtes und Verlassenes. Sie hatten dagesessen, mehr und mehr eingeschlossen vom strömenden Regen und vom fahler werdenden Licht vor den Fenstern.« (GC, 81)

Die Erzählung wird zusammenfassend zum Schluss hin dahingehend kommentiert, dass es sich um ein »trauriges Haus« handeln würde, wo die Zeit im Unbestimmten entglitt, in einem Muster von Trauern und Warten«. (ebd.) Damit ist nicht in erster Linie der Gang der Erzählung gemeint, sondern die Beziehung der Figuren, die für eine kurze Zeit hier unter einem Dach leben. Dieser Ort gibt darüber hinaus den künstlerischen Raum vor, in dem die Figuren agieren. Der zuvor intentional breit explizierte »Inhalt der Geschichte«, ließe sich wie viele der Erzählungen Gruenters auf wenige Sätze reduzieren: Ein Mann besucht einen Kollegen und dessen Familie auf dessen Landsitz und reist wieder ab. Es scheint eine gewisse Art von Anziehung zwischen der Frau des Gastgebers und dem Gast zu geben, die aber nicht ausgelebt wird. Die Haushälterin verschüttet Rotwein und eine Ratte läuft ins Haus und stirbt, indem sie sich in einem selbst gemachten wissenschaftlich-physikalischen Modell des Hausherrn verfängt. Die Figuren agieren nach einem Schema oder Mechanismus, wie es das Modell des Hausherrn symbolisch vorgibt, der von der Örtlichkeit »bereitgestellt« wird. Es geht nicht um die Einladung des Kollegen per se, sondern in erster Linie um die Einladung in dieses Haus, dessen Atmosphäre auf alle Beteiligten seine eigentümliche Wirkung ausübt. An jedem anderen Ort der Welt wäre die Begegnung ganz anders verlaufen. Die sich daran anschließende Erzählung »Der Arm« beginnt erneut an einem Bahnsteig. Bahnsteige haben für Gruenter ausgesprochen große Bedeutung. Zudem spielt die Provinz hier erneut eine besondere Rolle. Die Erzählerperspektive hat von einem Ich-Erzähler zu einem allwissenden bzw. personalen Erzähler gewechselt. Ebenfalls besitzen wie in den beiden Geschichten zuvor (sowie der ersten) der Bahnsteig, der (falsche) Zug, der Bahnhof und ein Hotel eine wichtige Funktion. Die Geschichte, im Benjaminschen Sinne in der Jetzt-Zeit geschrieben, handelt von einer Person, die aus der Zeit tritt oder fällt. Als der Protagonist, ein Versicherungsvertreter, unschlüssig auf dem Bahnhofsvorplatz in der Provinz steht, öffnet sich in einem gegenüber liegendem Hause ein Fenster und ein (Frauen-) Arm zeigt sich ihm. Das ist der Aus-

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gangspunkt der Geschichte und zugleich beinahe schon die ganze Geschichte. Der Protagonist beschließt, ein Zimmer gegenüber dem »Bahnhofshotel« zu nehmen und erst einmal (ab) zu warten. Erneut findet sich hier das Motiv des Wartens. Der Mann verbringt nun einige Tage im Hotel, hat sich zuvor krankschreiben lassen, beobachtet die Menschen des Hotels und weiß eigentlich nicht, was er dort machen soll, außer zu warten. Von neuem zieht eine Örtlichkeit (in diesem Fall das Bahnhofshotel) einen Protagonisten in seinen Bann oder in eine wie auch immer geartete Hoffnung und Erwartung, die mit diesem Ort, dem Fenster und dem Arm verbunden scheint. Während des Wartens und als er in der Telefonzelle dem Chef seine Abwesenheit bei der Arbeit erklären will, sieht er das Bild einer jungen Frau in einem roten Kleid, die er zwei Tage später in einem Café wieder trifft. Es handelt sich um eine Prostituierte, er nimmt sie mit auf sein Zimmer. Erneut wird mehr als ausführlich die Lokalität beschrieben. Am Ende scheint es sich wohl eher um einen Traum des Protagonisten, um den Bruchteil eines Gedankens zu handeln, der sich an dem Hotel, dem Koffer, der Frau und vornehmlich dem Bahnsteig festmacht, an Dingen, an die er sich erinnert: »Jetzt erkennt er auch den Koffer. Vielleicht erscheint es ihm merkwürdig, daß er sich nur dieser Dinge erinnert. Den Koffer, der an einem frühen Novembermorgen am Rand des Bahnsteigs steht. In diesem Moment sieht er durch die reifbedeckte, verlassene Landschaft den Zug sich nähern, auf den er gewartet hat. Zieht die Hände aus den Manteltaschen. Reibt sich die steifgefrorenen Finger. In dem großen Haus, jenseits der Bahngleise. Öffnet sich ein Fenster. Herausgestreckt erscheint ein Arm. Und winkt langsam in der kalten Morgenluft über den leeren Platz.« (GC, 97)

In der Erzählung »Das Treibhaus« geht es um ein älteres Ehepaar, das ein geräumiges Haus bewohnt, in dem man sich aus »dem Weg gehen« kann. Die einzige verbliebene Gemeinsamkeit der beiden besteht in dem rituellen Zelebrieren eines nachmittäglichen Teetrinkens, wobei sie kaum ein Wort miteinander wechseln und »in dem sich hinter der vordergründigen Vertrautheit die Gleichgültigkeit eines langen Ehelebens versteckt«. (GC, 125) Beide haben sich innerlich so weit voneinander entfernt, dass der Eindruck zu trügen scheint, dass sie noch zusammen sind. Schließlich verfällt die Frau auf die Idee, die Pflanzen, die im Garten verkommen, ins Haus zu bringen und sie dort wie in einem Treibhaus, zu dem das Haus dann mutiert, wachsen zu lassen. Mit dem Anwachsen der Pflanzen im Haus und dieses durch den Spiegel reflektierte, noch potenzierte Wachstum, ergeben sich neue Perspektiven: Mit der Räumlichkeit verändert sich die Wahrnehmung, wie diejenige des Gesichts des anderen: »Ich sah zufällig auf: plötzlich füllte das Laub das ganze Spiegelbild aus. Der Spiegel war aus der Wand geschnitten wie ein Stück dichtgewachsener Hecke. Lebendig und verglast zugleich. (GC, 110)

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Durch dieses Öffnen wird der Raum erweitert, es vollzieht sich ein Ineinanderlaufen von Innenwelt und Außenwelt, während die Personen dahinter zurücktreten, verschwinden, aber die Pflanzen sich zugleich immer weiter ausbreiten. Im wortwörtlichen Sinne handelt es sich um »Äußerungen« der Frau des erzählenden Protagonisten. Bei dieser Erzählung wäre der bereits mehrmals konstatierte groteske Witz der Autorin festzustellen. Über die Genese der Erzählung gibt sie in einem Brief an Christian Döring Auskunft, nachdem sie sich ein Buch über Topfpflanzen besorgt hat: »[…] drei Ratgeber-Bücher zum Thema Kübelpflanzen, […] besonders hobbymäßig waren schon die Einbände, aber es half nichts, denn die Winterfrostnächte hatten Rosen und Oleander schon zum Inventar von Eispalästen gemacht (auf dem Balkon), und ich müsste wissen: was macht man, wenn man kein Treibhaus alias Orangerie hat?«497 Am Ende wird nichts anderes mehr bemerkt als das Verändern der Örtlichkeit des Hauses bzw. der Gegenstände des Hauses, unter denen die Protagonisten regelrecht »verschwinden«: »Einmal schien das Geklapper [der Tontöpfe etc. im Haus, Ergänzung SW] nicht enden zu wollen. Dann ein Geräusch von Zerbrechendem, Splitterndem, Klirrendem. Da stand ich auf und öffnete die Tür. Der Gang war leer. Die Tür gegenüber stand einem Spalt breit offen. Ich verließ mein Zimmer, ich ging hinüber. Zwischen den Wänden ein eisiger Wind. Die Fenster standen weit aufgerissen. Einzelne Scherben waren im Zimmer verstreut. Ich beugte mich aus dem Fenster. Die Tongefäße auf dem Sims waren verschwunden. Weggefegt, wie von einer gewaltsamen Bewegung. In der Tiefe unter dem Fenster ein Fluß. Ein Busch wuchs an der Mauer empor. Scherben tanzten auf dem Wasser. Wurden weggetragen mit reißender Schnelligkeit.« (GC, 112)

Die Titelerzählung »Das gläserne Café« ist in 4 Kapitel (I–IV) unterteilt und spielt in drei verschiedenen Räumlichkeiten: in dem eigentlichen offenen Kneipenoder Barraum, auf dem Platz im Freien davor sowie im Schlafzimmer der Wirtsleute. Die Erzählung kreist darum, dass der letzte Gast dieses »gläsernen Cafés« um halb drei in der Nacht zunächst dem Wirt, anschließend seinem Angestellten, die Geschichte seines Lebens erzählen will. Da die Tochter der Wirtsleute am nächsten Tag »Polterabend« hat (GC, 117), lässt der Wirt die beiden anderen zurück und berichtet seiner Frau von diesem letzten Gast und warum er aufgehalten wurde. Nun setzen sich Gast und Kellner auf den Platz vor dem Café,498 und warten erzählend auf den Morgen. Man erfährt im Gespräch der beiden, dass dieser letzte Gast bis in den Frühsommer den Zeitungsladen am Bahnhof des Orts 497 Brief an Christian Döring vom 6. Dezember 1993. Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr. 498 Der Begriff Café ist hier im französischen Sinne erweitert als Kneipe und Spielsaal mit Billard und Kicker, manchmal noch einem Flipperautomaten.

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besaß, zuvor dessen Frau »mit einem Gastarbeiter durchgebrannt« sei, nachdem diese seinen Lieblingsblumen, den Dahlien noch alle Köpfe abgeschnitten hatte, während er daraufhin seine Mutter mit ins Haus genommen habe, um auf das gemeinsame Kind aufzupassen. Seit jener Zeit sitzt dieser Alte jeden Abend im Café. Im Verlauf der Nacht fährt ein Polizist über den Platz und am frühen Morgen ein Bäckerjunge auf dem Weg zur Frühschicht. Der Gehilfe beginnt nun ebenfalls, einen Teil seiner Geschichte zu erzählen: Er setzt seinen Zuhörer darüber in Kenntnis, dass er aus dem Ruhrgebiet stamme und froh sei, »im Süden zu arbeiten«. Von dem Alten erfährt man darüber hinaus, dass eine Lehrerin der Tochter regelmäßig zu Besuch gekommen sei, nachdem seine Frau (»ein Flüchtlingskind«499) »weg war«, dass die Tochter gerne eine Katze gehabt hätte, irgendwann mit einer nach Hause kam. In ihrem Schlepptau erschien eine vermittelnde Lehrerin, mit der der Alte gerne zusammen gekommen wäre, die dann aber in eine andere Stadt versetzt worden sei. Unterbrochen wird die Erzählung des »allwissenden« Erzählers bzw. der »allwissenden Erzählerin« immer von neuem durch kursiv gedruckte Einschübe, in denen zum einen der Gehilfe, in einer Art Bewusstseinsstrom, über sich reflektiert, und zum anderen die Frau des Wirts über ihre nicht sehr glückliche Ehe »spricht«. Am Schluss verlässt der Alte das Café und geht über den Platz; zurück bleiben der Gehilfe, der frühe Morgen und der verlassene Ort: »Der Wind ist ungemütlich geworden und kündigt einen Regentag an, und mit dem langsamen Hellerwerden des Himmels verliert der Platz seine schützende Geschlossenheit. Die Cognacflasche ist halb leer, der Alte steht auf und legt einen Geldschein unter sein Glas. ›Sag deinem Chef, ich hätte dir mein Leben erzählt.‹ […] Er geht, die Hände in den Taschen, über den Platz davon, und man sieht, daß sein Schädel vollkommen kahl ist. Der Junge fühlt sich plötzlich elend, und wie zum Weinen. Er steht auf, ein wenig steifgefroren in den Beinen, räumt die Gläser weg, klappt die Stühle zusammen, dann verschließt er das Café und geht nach Hause.« (GC, 136)

Die Erzählung »Wind, Staub« spielt ebenfalls im Süden, in den Städten O.500 und A.501 Der Ich-Erzähler, ein Nachrichtenredakteur, ist von Paris in den Süden

499 An dieser Stelle taucht wieder das Motiv der Flucht auf. 500 Offensichtlich handelt es sich um Orange, wegen dem in der Geschichte angeführten, bekannten Amphitheater, auch der Triumphbogen spricht dafür, GC, 145). Vgl. AS, 211: »In der Ruine des antiken Theaters […] im Wind […] Es ist, als ob der Süden allen Schutt der Seele lockerte.« Vgl. auch AS, 222 u. 214, wohingegen Avignon genannt wird; 13. September 1988 [Jahreszahlergänzung SW]: »Avignon. Gleich beim Betreten […].« 501 In GC, 147, handelt es sich offensichtlich um Arles; als Beleg kann man hier die beschriebene Stierkampftradition (GC, 150) um den Quai der Rhone anführen. Die Erzählung erschien außerdem leicht modifiziert in der von Heimo Schwilk herausgegeben Anthologie »Das Echo der Bilder. Heinz Jünger zu Ehren.« Stuttgart: Klett-Cotta 1990, 64–82.

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gefahren; es scheint sich hier erneut um eine Art Flucht zu handeln,502 weil er zwischen zwei Frauen steht: seiner Frau Sophie (GC, 150, charakterisiert durch »Garten und Gummistiefel«) und der Schauspielerin Lida.503 Immer von neuem wird seine Fahrt und das, was er dabei »erlebt«, durch Erinnerungen an diese beiden Frauen unterbrochen. Abermals ist die Erinnerung »realer« als das gerade Erfahrene oder Erlebte. Eine Frau am Nebentisch in einem Café an einem breiten Boulevard in Arles schreibt Postkarten, ihre Hände veranlassen ihn, sich an seine zwei Frauen erinnern. (GC, 153) Als Orte fungieren hier der Süden (»le Midi«) und Erinnerungs- respektive Gedächtnisräume wie das Café (GC, 149) an der Place de Stalingrad oder das »kleine Theater am Boulevard de la Chapelle«. (GC, 140) Gleichfalls nehmen der Bahnsteig, der Bahnhof, die Cafés oder die Straßen (GC, 141) breiten Raum ein. Die Personen respektive (Erinnerungs-) Räume sind wie fast immer an Orte gebunden, an denen sich Zeiten wie Scharniere deutlich machen: »Während ich mich umschaute, mich ab und zu bückte, um ein abgefallenes Blatt aufzusammeln, reiste ich in Gedanken bereits in die nächste Stadt. Ich entwarf ein Bild – Häuser, auf Hänge verteilt, gelbe und rote Ziegeldächer, und vom Tal aufsteigend der Geruch der Rhone. Mit einem Bein in der Gegenwart, mit dem Anderen in der Vergangenheit oder Zukunft zu stecken, ist für mich ein vertrauter Zustand. Wenn zwei Zeiten sich übereinander schieben, finde ich den Alltag spannender: Aber Lidia wirft mir vor, mich auf diese Weise nie in der Gegenwart zu Hause zu fühlen – Lida, die immer so vollständig in der Gegenwart zu leben scheint, als müsse sie in jede Schaufensterauslage, in jeden Sonnenuntergang beißen, wie in die halbreifen Äpfel, die sie bevorzugt.« (GC, 144)

Der Protagonist konstituiert sich in der »Gegenwart« durch das Ineinanderschieben der Zeiten, die so örtlich bzw. räumlich gemacht und zu fiktiven Räumen verwoben werden. Das wird vorgeführt durch den Ich-Erzähler als Protagonisten beim Gang durch das Amphitheater, wo sich im wortwörtlichen Sinne die Zeiten örtlich in- und übereinander schieben. In der Beschreibung der Schauspielerin Lida und ihrer Kindheit wird das Räumlich-Machen der Zeiten bzw. vergangener Zeiteinheiten von neuem deutlich: »Stattdessen kamen jetzt Erinnerungsfetzen – an eine Nacht auf einer Bank am Canal St. Martin, in der sie mir von der Kirche in Peumerit erzählte, ihrem Heimatdorf, dem grauen Stein und dem seltsamen Kragenmantel um den Turm – Regendach für die Gläubigen. […] Sie erzählte von den wenigen Straßen und Gassen des Dorfes, die sternförmig auf die Kirche zuführten, von den Sonntagen, wenn die Frauen mit ihren

502 Es regnete, er hat die Fahrt in O. unterbrochen, vgl. GC, 141: »Ich bin aus Paris abgefahren, weil ich nicht ununterbrochen auf Lidas Anruf warten wollte.« 503 Wohnhaft in Buttes Chaumont, GC, 151, die noch in einer weiteren Erzählung in NB, »Bretagne Bauern Plastikbank« auftaucht.

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hohen weißen Hauben aus der Kirche kamen, die Nacht nach warmen Brioches rochen […].« (GC, 160)

Am Ende der Erzählung beschließt der Protagonist, nach Paris zurückzukehren. Es scheint, als würde sein Entschluss durch den Raum unterstützt, der sich ihm darbietet bzw. den er sich zugleich selbst in seiner Wahrnehmung und künstlerischen Beschreibung schafft. Dieser ist wiederum mit einer Erinnerung an einen Ort verbunden, auf den Lida ihn einmal aufmerksam gemacht hatte: jenes geheimnisumwitterte Alyscamp (vgl. Kap. 4.5.): »Tiefes Septemberlicht brach durch die hohen Bäume rechts und links des Weges, und in der Ferne verlor die Allee sich im Dunst des gleißenden Mittags. Ich ging im Schatten der Bäume auf das Licht zu, kein Schritt war zu hören, und ab und zu löste sich ein Pinienzapfen und klopfte in leichtem Fall gegen den Boden. Am Wegrand reihten sich zwischen den Bäumen leere Sarkophage, ein paar waren offen, und am Grund lagen ein paar hereingewehte Blätter, auf den meisten ruhten schwere steinerne Deckel wie Tempelgiebel. Die Sarkophage schienen mir wie Schiffe gebaut, die mit ihren Toten den Styx überquerten. Ich verglich diesen Ort, der mir wie ein heiterer Todeshain vorkam – die ganze Allee war erfüllt von Licht, von Wärme, vom Geruch nach Kiefern und Steineichen und dem Gesumme der Grillen – mit dem Friedhof, auf den Lida mich in Paris geführt hat. Der Père Lachaise liegt nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Und sie benutzt ihn als Park. Manchmal nimmt sie sogar einen neuen Text mit und verschafft sich auf einer Bank einen ersten Überblick. Ich mag keine Friedhöfe, und als sie mich mitnahm, sagte ich ihr, ich fände es einfach makaber, zwischen Gräbern herumzuspazieren, es gäbe weiß Gott schönere Orte, ob sie nicht daran dächte, daß sie hier auf Knochen ginge?« (GC, 163)

Konkret wird expliziert, dass jemanden kennenlernen bedeutet, dessen oder deren Orte kennenzulernen: »Aber dieser ist ein Ort, an dem ich gerne bin, und ich wünschte, du würdest die Orte mögen, an denen ich gerne bin. Aber im Grunde willst du meine Orte nicht kennenlernen und auch mich nicht.« (GC, 164) In der letzten Erzählung dieses Bandes wird eine Zeitangabe mit einer wenn auch noch so vagen Ortsbestimmung im Titel in Verbindung gebracht: »Nachmittag auf dem Eis«. Der erste Satz lautet beinahe kontrapunktisch: »Um elf Uhr stöhnten bereits alle über die Hitze.« (GC, 169)504 504 Die Erzählung in ihrer Konzeption wird von Gruenter mehrmals in »Der Autor als Souffleur« (vgl. AS, 274) geschildert und damit deren Wichtigkeit betont: »Nachmittag auf dem Eis – das ist nicht nur innerer Monolog, sondern, fest ineinander gewebt, zwei Stimmen: die eigenen und die erinnerten Redeweisen des anderen. Das alles, zweistimmig, in einem einzigen Fluß.« Vgl. auch AS, 287: »6. März 1989. [Jahreszahlergänzung SW]. Ich schreibe an Nachmittag auf dem Eis, und während ich es überarbeite, kommt mir die Idee des Lebens als eine Kette von tableaux vivants wie ein Ausfluß der Mühlenideologie vor, in der der wichtige Manschettenknopf oder die geschlagene Sahne in der Silberschüssel wichtiger als das wirkliche psychische Leben vor uns war, das unter der Fassade – Familienleben à la Keyserling verborgen war.«

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Daraufhin werden die verschiedenen Ortsveränderungen eines älteren Ehepaars im Laufe eines Lebens beschrieben, das nicht mehr zusammen ist. Auf einer Feier anlässlich des »runden Geburtstags« der Protagonistin erinnert sich diese an Orte, die sie damals zusammen mit ihrem ehemaligen Mann für sich entdeckt hatte. Offensichtlich findet das Fest »auf dem Lande« statt, wie folgende Stelle nahelegt: »Mein Blick glitt unter den Bäumen durch zum Fluß und ans andere Ufer. Ich sah die lautlose, rasche Strömung und den Wind in den herabhängenden Zweigen der Weiden über dem Wasser. In der Ferne fuhr ein Traktor über das Land.« (GC, 169f.) Die Protagonistin hat ständig »das Gefühl, Abschied nehmen zu müssen« (GC, 170), aber sie hält sich noch an den Dingen des großen Landhauses fest und an Gegenständen, die ihr Mann Arthur einmal geschenkt hat, wie eine »meergrüne Brosche« aus Berlin oder »einen Seidenschal«. (GC, 127) Sie kann sich in einer Art »Ortsbehauptung« gegen die Tochter Sonja durchsetzen, die sie gegen Mittag ins Bett bringen will, und auf dem Sofa im Wohnzimmer bleiben, »das an den Garten angrenzt«. Und sie fragt sich: »Aber was wird übrigbleiben von meiner Liebe zu einem Tag wie diesem, zu den Hortensienbüschen, die vor dem Fenster standen, düster und steif…?« Die Erinnerung an das Kennenlernen von Arthur ist vornehmlich mit konkreten Orten verbunden: »Die Mutter hatte Bedenken, aber schließlich kam er ins Haus. Ein Mitglied der Akademie, wie sich herausstellte, bereits anerkannt in der Stadt als Porträtmaler – und immer war jemand Drittes zugegen. Aber wir trafen uns doch – in einem fernen Winkel des Gartens, versteckt in der Hecke gab es ein Törchen mit rostigen Angeln. […] Wir trafen uns an der Brücke am See. In der Dunkelheit schnatterten leise die Enten, und ab und zu klatschte etwas ins Wasser. Er teilte mit einem Freund eine weitläufige Wohnung mit großen Fenstern zum Fluß. Das Licht der Straßenlaternen erhellte das Zimmer. Im Fenster saß mit gewölbtem Rücken die Katze und starrte reglos nach draußen.« (GC, 172f.)

Der späteren Beziehung zu Arthur drückt sich in der Beschreibung der Zimmer aus, in denen sie sich aufgehalten und die sie geprägt haben: »Er im Schatten – seines Arbeitszimmers, ich im Licht – des Gartens, der Terrasse, des oberen Stockwerks. Ich sehe, wie er den Kopf hebt, die Brille abnimmt, sich die kurzsichtigen Augen reibt – das Zimmer war dunkel und staubig, da er nie erlaubte, daß man dort aufräumte, er korrigierte die Aufsätze seiner Schüler, auf dem Schreibtisch stapelten sich die Bücher und aufgeschlagen dazwischen meine alte Geschichte der Renaissancemalerei -, wenn ich das Zimmer betrat, um ihm einen Tee oder eine Weintraube zu bringen. Im Reiben seiner Augen lagen für mich, wie in einem Schnappschuß der reinste Ausdruck seines Wesens.« (GC, 125)

Die Beziehung scheitert letztendlich daran, dass Arthur sich von den Orten ihres Lebens »ausgesperrt fühlt«. (GC, 175) Irgendwann konnte oder wollte er ihr nicht mehr an ihre Orte folgen, wie zum Wochenmarkt, den sie immer mit dem

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Fährboot auf der anderen Seite des Flusses ansteuerte. (GC, 176) Es hätte damals eine Chance für den Fortbestand ihrer Beziehung gegeben und die bestand im Aufenthalt in der Küche des Hauses, wo allein sie sich zwanglos verhielten – »als fielen hier sekundenlang die Rollen ab«. (GC, 177) »Ich liebte diese seltenen Zusammentreffen in der Küche, wenn das Haus wie ausgestorben schien, weil die Kinder in der Schule waren und das Mädchen in der Waschküche oder im oberen Stock arbeitete. Die Küche war tief und dämmrig, mit schwarzweißen Kacheln und einem langen Tisch in der Mitte. Im Sommer standen die Fenster fast immer offen, davor wuchsen Stachelbeerbüsche, und auf der Fensterbank schwammen in der weißen Emailleschüssel die geschälten Kartoffeln für den Mittag. […] Die Küche war wie ein Gebiet, das aus unserem täglichen Leben ausgegrenzt war […].« (GC, 177)

Darüber hinaus erhalten andere Orte exponierte Bedeutung im Sinne der Verdichtung der Geschichte und des Abstecken des Raums der Figuren wie der »äußerste Winkel des Gartens«, wohin sich die Protagonistin oft zurück zieht (GC, 178), die Speisekammer (ebd.), der Gartenweg oder die »die leere Straße« am Haus entlang, auf denen sie nach der Verabschiedung ihres Cousins Robert ein letztes Mal zusammen gehen. (GC, 179) Am Schluss scheitert all das aber an der Szenerie eines Hausstandes (»ein Haus und die Kinder«), was »ein immer schwerer zu ertragender Ballast für eine Liebe« ist. (GC, 179) Letztlich flieht die Frau in die Arme eines Porträtmalers, der wiederum anhand seiner Orte wie dem Atelier, dem Park, dem Theater oder dem Weg am See vorgestellt wird. Ihr ehemaliger Ehemann Arthur weiß nichts davon, wie nah ihre Orte beisammen liegen und »wie gefährlich nahe sich immer ihrer beider Wege kreuzten«. (GC, 182) Am Ende bleibt ihr nur, sich an einige wenige Bilder der Orte zu erinnern. Dazu gehört die erste Begegnung, so wie sie von der Ich-Erzählerin geschildert wird. Es wird nicht ganz deutlich, ob sie mit dem Porträtmaler den »Nachmittag auf dem Eis« verbringt, aber es liegt zumindest nach ihrer Schilderung nahe, weil diese Erinnerung eher den »Wintergeruch«, die andere Erinnerung an Artur, und das Jetzt eher den Sommergeruch vertreibt: »Dieser Sommergeruch ist schwächer als der längst vergangene Wintergeruch. Erinnerung, schwappt über, überlagert die Gegenwart. Vergangenheit kehrt zurück, tritt ins sommerliche Zimmer – im Prunkgewand jenes Winters. Tritt ein mit dem Frosthauch des Winters […]. (GC, 182f.) Die Jahreszeiten (die Zeit) werden auf diese Weise wie die Personen verräumlicht. Diese Form der Vergangenheit, nicht jene der Personen, sondern diejenige der Stimmungen, die mit ihnen verbunden ist, scheint präsenter als das Jetzt, die Gegenwart respektive die Jetzt-Zeit. Es bleibt ihr an einem Ehrentag wie diesem nur – der Leser erfährt nicht genau, um welchen Geburtstag es sich handelt –, sich

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in die Räume ihrer Erinnerung zurück zu ziehen, sie auf diese Weise statisch zu machen und zu »verewigen«, die ihr, je nach Perspektive und je nachdem, durch wen sie ausgefüllt werden, inzwischen als Orte so verfremdet erscheinen, dass sie nichts mehr mit ihrem aktuellen Leben gemein haben: »Heute Abend wird es wieder eine lange Tafel geben, ein kleinerer Kreis, die Familie ganz unter sich. Man wird Windlichter aufstellen und mir einen Wollschal bringen, wenn die Nacht hereinbricht. Wir werden von früheren Geburtstagen sprechen und von Reisen, die wir gemacht haben, als die Kinder noch klein waren. Ich höre meinen Töchtern zu, wenn sie von Kindheitserinnerungen sprechen. Ihre Gesichter im Schein der Windlichter, erzählen die Geschichten und Anekdoten, die mir so fremd sind, als hätte nicht auch ich an ihnen teilgenommen.« (CG, 174)

Erneut schimmert hier eine Art Tagtraum durch oder die Beschreibung erweist sich als eine Art Erinnerungsassoziation, was die Geschichte beschließt und letztendlich uneindeutig macht, beschrieben in jenem Bild vom Nachmittag auf dem See respektive Eis. »Ich aber glitt unter der Brücke, über die Grenze hindurch, auf den offenen hinteren Teil. Windstille, Nebel, nur manchmal ein Rascheln im steifgefrorenen Schilf. Gleichmäßiges Schlieren und Knirschen der Schienen auf dem Eis, Aufflattern eines Vogels – und Schnee, der vom Zweig einer Weide am Ufer fiel. Und dann wieder ins Offene – eintauchen in den Nebel. Vom Ufer her Kinderstimmen, die sich verloren. Von ferne näherte sich eine Figur. Näher kam das Geräusch, gleichmäßiges Gleiten der Eisen über den See […]. Da stürzte – ja stürzte – er mir ins Gesicht und: Wo bist du gewesen? Und ich, mit langsam aufsteigender Wärme verlor das Gleichgewicht. Landete auf dem Eis […]. Dann: Sieh mal, hier ist ein kreisrundes Loch, gab mir die Hand und zog mich hoch, Und richtig – eine kleine Öffnung im Eis, und das Wasser war seltsam schwarz, ohne Klarheit und Durchsicht. Wir beugten uns über das Loch – als wollten wir zu sehen bekommen, was sich unseren Blicken entzog; das Rätsel unserer Zukunft. Das Wasser aber stand tief und unbeweglich in dem Eisrund, und, darüber gebeugt, erschauerten wir plötzlich wie über einen kleinen, schwindelerregenden Abgrund.« (GC, 189f.)

Diese Textpassage verdeutlicht beinahe beispielhaft, wie sich das Prinzip des Schreibens von Gruenter vollzieht: Es wird von einem konkreten Ort inklusive der Beschreibung seiner spezifischen Atmosphäre ausgegangen, aus der sich dann die Silhouette einer Figur »herausschält«, die wiederum eine besondere Wirkung oder Wahrnehmung des Anderen hervorruft, um das zu »sehen, was »sich den Blicken entzog«. (ebd.) Es verbleibt die unaufhebbare fehlende Transparenz und das Rätsel der Zukunft als ein »schwindelerregender Abgrund«. An dieser Stelle wird von der Autorin selbst mit dem Begriff des Rätsels operiert und verdeutlicht, um im Bild zu bleiben, wie brüchig das Eis unter den Füßen ist und welch unermesslicher Abgrund sich hier zwischen den Protagonisten, ihren Jahreszeiten und Orten als Motiven, auftut.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in dem Erzählband »Das gläserne Café« erneut Orte aufgerufen, zum Teil sogar personalisiert werden und diese wie Personen »agieren«. Die Figuren werden über Phänomene charakterisiert, die sich an Orten auftun. Es handelt sich um Orte und Straßen in Paris sowie in der Provinz (das Bahnhofshotel in »Das Fenster«) oder in Südfrankreich (Orange und Arles). Zum anderen bleiben die Orte unbestimmt wie das Haus in »Das Treibhaus« oder das Herrenhaus (in der Nähe von Fontainebleau in der Erzählung »Die Ankunft«). Von Bedeutung bleibt zu erwähnen, dass die Protagonisten Erinnernde sind, die ihre Erinnerung mit konkreten Orten verbinden,505 die sich dann aber in surrealistischer Manier wie ein Traum völlig verändern, so dass nichts mehr von ihrer ursprünglichen Substanz übrig bleibt: »Später dachte ich, daß es dieser Augenblick war, an dem mir der Widerspruch zum ersten Mal auffiel. Vielleicht war es auch nur im Traum, kurz danach. Denn der Eindruck war so, wie man im Traum eine Wahrheit plötzlich erhascht im flüchtigen Bild. Während sich das nächste schon darüberschiebt.« (GC, 110) Die Erinnerungen sind keineswegs allein rückwärtsgewandt, sondern durchaus im Sinne der modernen Gedächtnisforschung »prospektiv«, nach vorne gerichtet. Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass von dem ursprünglich semiotisch evozierten Erinnerungs- bzw. Gedächtnisort nichts übrigbleibt. Die Erinnerung »lügt« hier nicht allein, sondern präsentiert andererseits völlig neue Räume, die nur noch die Namen der früheren Ausgangspukte respektive Orte tragen. Dadurch verändert sich die erinnerungstätige Identifikation so sehr, dass sie den Protagonisten keinerlei realen Halt mehr bietet. Auf diese Weise mutieren Paris und seine Umgebung zu einem »individuellen Erinnerungsort« bzw. Gedächtnisort, zu einem Anachronismus wie zu einer Prospektive zugleich, ganz anders aber als die in der Kulturwissenschaft gebrauchten Konstrukte der Erinnerungsorte (im Sinne von Nora506) und dem Kulturellen Gedächtnis (in Sinne von Jan Assmann507). Damit haben sie nichts gemein, selbst wenn sie auf den ersten Blick den Mythos Paris so betätigen sollten.508 505 Die sich über die Erinnerung und den Ortsbezug »identifizieren« im Sinne von Sich-zuerkennen-Geben, was sich dann aber wieder auflöst. 506 Pierre Nora: Les lieux de mémoir. Paris: Gallimard. Tome 1: 1997. Vgl. auch: Pierre Nora, Étienne François: Erinnerungsorte Frankreichs. München: C.H. Beck 2005. 507 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 1992. 508 Ergänzt werden sollte darüber hinaus noch, dass es wohl kaum eine andere Stadt in Europa, vielleicht weltweit gibt, wo man die Überlegung anstellt, den Kreis umzubauen, weil man an und in der Stadt selbst nichts mehr verändern kann und darf, weil zu viele Häuser unter Denkmalschutz stehen. Der Mythos Paris, der insbesondere durch die Literaten (vielleicht noch durch die Bildenden Künstler) geschaffen wurde (siehe das Zitat von Hemingway, Anmerk. 174, AS 371), dreht sich um Paris und sein Licht (und die Finsternis), die Stadt der

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Doch der »Mythos lebt« und wird zugleich individualisiert wie verändert. Gruenter hat an ihrem Paris ein Leben lang festgehalten wie ihr Mann und Lebensgefährte Bohrer gleichfalls betont hat. (vgl. PL, 184) Aber es blieb letztendlich »eine Leidenschaft, wie eben nur die Fremden sie kennen.« (ebd.) Witte meint, dass die Wirkung von Paris auf dem Mythos, auf der Illusion beruht, auf dem, was letztendlich die Künstler und Literaten geschaffen haben und was wenig Ähnlichkeit mit der heutigen realen Stadt Paris zeigt. »Wer nach Paris reist, nährt, solange diese Stadt von Fremden schon besucht wird, die schönsten Hoffnungen, die sich vor Ort als Schein entpuppen, weil sie auf der Illusion der Selbsterfahrung in der Fremdwahrnehmung beruhen […].«509 Die Schriftsteller haben an diesem Mythos fleißig weiter mitgestrickt, wie Ernest Hemingway, der behauptete: […]«wenn du das Glück hattest, als junger Mensch in Paris zu leben, dann trägst du die Stadt den Rest deines Lebens in dir, wohin du auch gehen magst.«510 Auch Gruenter hat an diesem Mythos von Paris festgehalten (genauso wie sie ihn dekonstruiert hat), wenngleich in einer anderen Form als Hemingway, wie an einem hübschen Wortspiel von der »Ondine de Paris« anklingt: »[…] Paris, laut Walter Benjamin, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, hatte und hat in der gebürtigen Kölnerin eine ihrer treuesten Apologetinnen diesseits des Rheins gefunden, eine Art ›Ondine des Paris‹, um mit Madame Bibesco zu sprechen. Undine Gruenter betrieb den Entwurf ihrer Selbst als ästhetische Existenz von Anfang an in aller Entschiedenheit. Sie wollte in ihrem stilistisch hoch elaborierten und äußerst traditionskundigen Schreiben bewusst nicht ›modern‹ sein, so wie sie auch zum deutschen Literaturbetrieb stets Distanz hielt. In Paris aber, im spezifisch weißgrauen Licht, das die Architektur im Stil des Boulevard Haussmann reflektiert, entdeckte sie das ihr gemäße Terrain aus Literaturtheorie und –geschichte. Dabei lässt sich eine Tendenz zum Statischen bis Elegischen in längeren Werken, wie den 2003 postum veröffentlichten Erzählungen Sommergäste in Trouville, hin zu einer Öffnung ins IronischBurleske innerhalb der kleinen Form beobachten: Diese Eigenart war bereits in der Kurzprosa Epiphanien, abgeblendet (1993) erkennbar und manifestiert sich endgültig in den Pariser Libertinagen.« (Hillgruber, PL, 185)

Hillgruber betont in diesem Zitat die Entwicklung Gruenters, die sich in der Beschreibung von Paris zeigt. Sie stellt Paris als das »ihr gemäße Terrain aus Literaturtheorie und -geschichte« heraus. Gruenter verändert diesen Mythos Künstler, der Kunst und der Kultur, der Philosophie, des Films, der Bedürftigen und Armen und der Großbourgeoisie, Gelehrten wie der Ungebildeten, der romantischen Liebe wie des (billigen) Vergnügens. Vieles davon wirkt heute geradezu museal oder zumindest anachronistisch, weshalb andere Metropolen wie New York, London oder Berlin zeitgemäßer erscheinen. 509 Karsten Witte (Hg.): Paris. Ein Städte-Lesebuch. Frankfurt/M.: Insel Verlag 1980, 403. 510 Zit. n. Enrique Vila-Matas: Paris hat kein Ende. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2008, 42.

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Das Gesamtwerk Undine Gruenters

bzw. interpretiert ihn komplett um: Etwas überpointiert ließe sich bei dem Pariser Werk Gruenters sogar von einem »deutschen Erinnerungsort« sprechen, weil es fast ausschließlich deutsche Protagonisten sind, die sich erinnern, und zudem aus einer »deutschen Perspektive«, d. h. aus der Sicht deutscher Immigranten in Paris, erinnernd erzählt wird. Wieder handelt es sich hier nicht um einen Erinnerungsort im Sinne von Etienne Francois.511 Unter Umständen könnte man dazu höchstens die Geschichte der Vertreibung zählen, die im folgenden zu behandelndem Werk anhand der Figur der Franziska aufscheint: »Um anderen Geschichten vorzubeugen, meine Geschichte ist schnell erzählt. Ich habe eine weitverzweigte Familie in Deutschland, Vertriebene aus dem Osten, wie es so schön heißt, ein deutsches Schicksal. Jedes Jahr gibt es ein Familientreffen, und es gibt sogar eine Familienzeitschrift, die vierteljährlich erscheint. Sie alle wollen diese erzwungene Grenzüberschreitung rückgängig machen und bauen sich Jahr um Jahr, Stunde um Stunde das Double des Verlorenen wieder auf. Angesichts so vieler Suche nach Heimat habe ich es vorgezogen, eine weitere Grenze zu überschreiten, die nach Frankreich.« (VL, 11, im Original kursiv gedruckt, Ergänzung SW)

Auf diese Weise wird eine Verbindung zwischen einer Vertreibungs- oder Flüchtlinsgeschichte aus Schlesien als Ergebnis des 2. Weltkriegs mit dem freiwilligen Exil einer der Protagonistinnen hergestellt. Für eine Nachfahrin, deren Familie im Nachkriegs-Deutschland als Ergebnis der Vertreibung und des 2. Weltkriegs weiter auf der Suche nach Heimat war und dort eigentlich nicht angekommen ist, war es offenbar einfacher, eine weitere, für sie unbelastete Grenze. die nach Frankreich, zu überschreiten. Um zu einer Einschätzung des Werks Gruenters zu gelangen, ist es essenziell, sich der unterschiedlichen Konzepte von Fremde (z. B. kulturelle mit geistesgeschichtlicher Fremde) und ihrer Grenzziehungen in Bezug auf andere Räume zu bewusst zu sein. (vgl. Kap. 5.2. und 6.)

5.2.2. Reale Pariser Straßen, Häuser und das fiktive Tarduz: Vertreibung aus dem Labyrinth (1992) »1992, zu einer Zeit, als geduldiges Lesen (und lange Sätze) längst als Zumutung galten und Leopold Bloom wohl als »blasse Figur« abgestempelt worden wäre, erschien der große Roman Vertreibung aus dem Labyrinth, ein Spiegelkabinett und experimentelles Labor für die Quadratur des Kreises von Liebe, Identität und Kunst, ein analytisches Exerzitium und sinnliches Delirium, in dem noch eine Laufmasche Gelegenheit erhält, sich auf zwei Buchseiten mit nervöser Elektrizität aufzuladen. Der Text umkreist die Leere – das verlorene Paradies des Glücks und der Sprache – mit solch narkotisierender 511 Vgl. Etienne Francois: Deutsche Erinnerungsorte. München: C.H. Beck 2001.

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Eloquenz und Imaginationsschärfe, dass man an eine Mischung aus William Gaddis und Ernst Jünger (inklusive Männerperspektive) dächte, wäre diese minutiöse Recherche nach dem Ursprungsmoment des Ich (und des Wir) in Sprachmelodie, Ausstattung und Proustscher Maßlosigkeit nicht so eminent französisch gefärbt.«512

Als herausragendes Zeugnis des Schaffens Gruenter der mittleren Periode gilt der Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« von 1992. Wieder spielen Motive von Erinnerung, Räume, Fremde und Verfremdung513 in der Beziehung von vier nach Paris emigrierten Deutschen eine besondere Rolle. Am 12. Februar 1992 schreibt Krüger im Zusammenhang mit dem Werk an die Autorin: »[…] in zehn Tagen ist es so weit, dann werden wir deinen Roman auf die Leser loslassen. Selten war ich so gespannt! Wenn Du wieder Glück hast, dann wird es ein großer Erfolg. Denn es gibt in diesem Frühjahr wenig deutsche Romane, und kaum einen, der sich mit Deinem Buch messen lassen könnte. Ich habe also selbst das allergrößte Interesse daran, dass du nun von allen Kritikern die Aufmerksamkeit erhältst, die dir zusteht.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie)

Es geht um die Geschichte von Blok, einem (Theater-) Schriftsteller, der das Leben seiner drei Freundinnen in Paris nachzeichnet. »Mit Franziska lebt er, mit Fanny hat er ein Verhältnis, und Fernanda liebt er«, heißt es im Einband. Die Beziehung der Protagonisten untereinander gestaltet sich letztendlich so »labyrinthisch«, dass sich ihnen kein Ausweg mehr bietet. Gruenter äußerte sich zur Genese des Romans in Hinblick auf Perspektive und Vorbilder ihrer Figuren. Dabei stellt sie heraus, dass literarische/fiktive Figuren immer ein »Konglomerat aus mehreren« seien, dass sie »während des Schreibens festgestellt« hätte, dass »[…] sie durch eine zu große Nähe zu sehr ins autobiographische Schreiben hineinkomme«, was ihr »Schreiben schlechter machen würde«. Um das zu vermeiden, versuche sie, »die Perspektive umzudrehen und aus der männlichen die Geschichte zu erzählen«. Auf diese Weise »wird der Mann nicht so ein bloßer Popanz und die Frauen das Opfer«, und sie fühle sich in der Lage, »die jeweilige eigene Variation vom Identitätsproblem und Verdrängung darzustellen.« (AS, 320) Dabei kommt dem Begriff des Labyrinths in einer Konnotation des Weiblichen bezogen auf die drei Protagonistinnen besondere Bedeutung zu.514 Allein die 512 Dieckmann (2007). 513 Es hätte den Umfang dieser Abhandlung gesprengt, den Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs oder den xenologischen Diskurs en detail darzustellen. An den entsprechenden Stellen wird immer wird darauf hingewiesen, auf welche Konzeption von Erinnerung oder Fremde sich bezogen wird. Vgl. dazu auch den Aufsatz des Verfassers (Wolting 2015) und u. a. Wierlacher (1993). 514 Vgl. u. a. Ingrid Straube: Die Quellen der Philosophie sind weiblich: vom Einfluss weiser Frauen auf die Anfänge der Philosophie. Aachen: ein-FACH-verlag 2001, 132: »Das Labyrinth, ›Haus der Doppelaxt‹, war der Palast in Knossos. […] Es hat nur einen bestimmten

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Namensgebung der drei Protagonistinnen Franziska, Fanny und Fernanda legt eine Assoziation des Labyrinths als Sprach- oder Zeichenspiel nahe: »Während Fernanda ihm eine kalte Hand entgegenstreckte, ging ihm flüchtig durch den Kopf, welch verrücktem Zufall zufolge die Namen der drei anwesenden Frauen alle mit dem Buchstaben F begannen – F wie Fenster, Fest, Finsternis, Fieber, Findelkind, Fron, Folter, Folie – , aber da er gewohnt war, die Wirklichkeit nicht unter dem Aspekt des Zufälligen zu betrachten, sondern als ein System von Zeichen, die plötzlich die unvermutetsten und überraschendsten Verbindungen miteinander eingehen können, hätte er wachsamer sein müssen und wissen, daß die unerhörten Begebenheiten nicht mehr mit lautem Getöse auftraten, sondern sich lautlos und unbemerkt einschlichen, verborgen im Lächerlichen und Nebensächlichen, etwa im Buchstaben F. Im Unscheinbaren, denn Fernanda hatte breite Backenknochen und blasse, verschreckte Augen, und ihr Haar war von undefinierbarer Farbe, als sei es in Scheuerwasser gewaschen.«515

Formalästhetisch folgt der Roman einer anderen Ordnungsstruktur als der vorausgegangene Roman »Ein Bild der Unruhe«, was vor allem bedeutet, dass hier »chronologischer« erzählt wird. Wie in anderen Erzählwerken Gruenters wird die Literatur zum Thema gemacht: Das Labyrinth dient als Metapher für Literatur, Kunst, den Roman selbst. Ganz in diesem Sinne wird der Faden der »Erzählung« durch Briefe, Aufzeichnungen etc. von Blok oder der Protagonistinnen unterbrochen. Die Romanfiguren treffen im Labyrinth Paris aufeinander. Darüber hinaus wird zumindest in Ansätzen deren Vorgeschichte entfaltet. Im Gegensatz zu »Ein Bild der Unruhe« sind hier (Tag-) Traumsequenzen viel behutsamer eingebaut, die Handlung folgt einem stringenteren, logischen Aufbau. Der Roman ist insgesamt in acht ähnlich lange Teile unterteilt. Die Zwischentexte sind kursiv gedruckt. Wieder entstammen die Protagonisten Künstler-, Universitäts- und Bildungskreisen, die in Paris ihr Glück (ver-) suchen. Dazu zählt Fernanda ebenso, die als Au-Pair in Paris ist, bald in das »Spiel der Kunst« der anderen mit einbezogen wird. Die Geschichte wird aus zum Teil unterschiedlichen Perspektiven dargestellt. Nach einer von Blok kolportierten Version beginnt die Vorgeschichte des Romans so (im Original kursiv gedruckt, Ergänzung SW): »Am Anfang stand eine Krise, eine Künstlerkrise, versteht sich, denn dies ist auch ein Künstlerroman, der Roman eines, der es auf nicht weniger und nicht mehr als ein einziges Theaterstück brachte, an dem er Jahre schrieb. Als ich Franziska traf, hatte mich Bewegungsgang: Er beginnt in einer kleinen Öffnung der Außenmauer des Palastes, führt nach vielen halbkreisig gezogenen Umwegen, die zum Abschreiten des gesamten Innenhofes nötigen, ins Zentrum, das innerste Heiligtum der Göttin.« 515 VL, 17f. Siehe hier die Anspielung auf Goethes Novellendefinition der Darstellung einer »Unerhörten Begebenheit«. In: Gespräch vom 18. Januar 1827, zitiert nach »Goethes Werke.« Hg. v. Erich Trunz, Wegner Verlag, Hamburg 1960, Bd. VI, 725.

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das Schreckgespenst des Scheiterns erfaßt, nach drei, in fragmentarischer Fassung verbliebenen Versuchen. Meine Nächte verliefen dramatisch: Asthmaanfälle, Gedanken, die zwei Spinnen im Kopf herumkrochen, das Gehirn mit Schleim überzogen, die Augen verklebten und die Mundwinkel zu spannten, ein erhöhter Pulsschlag, ein zappelndes Herz – diese Krise war wie ein Tor, und als ich Franziska traf, dachte ich, wie ein Kind, das Tor führe in einen verwunschenen Garten [Hervorhebung SW]: Franziska schien mir geeignet. Ich hatte lange genug nach einer Frau gesucht, in deren Haut ich schlüpfen könnte. Es erwies sich als schwierig, denn sie war ein Sieb. Eine durchlöcherte Frau, eine Frau ohne Gedächtnis, eine Frau. die in den Schlaf floh.« (VL, 7)

In gewisser Hinsicht lassen sich die Aussagen des Protagonisten Blok auf das Prinzip von Gruenters Roman insgesamt übertragen, dass am Anfang eine Krise, eine Künstlerkrise, die Absicht zu einem Künstlerroman steht, verbunden mit der Suche der Autorin nach Protagonistinnen und einem Protagonisten, in deren »Haut sie schlüpfen« kann. Noch an anderen Stellen betont die Erzählerin die »Krise des Schreibens« verkörpert durch den Protagonisten Blok und seinen Schreib- und Beziehungsphasen: »2. September 1990. [Jahreszahlergänzung SW] Blok; von der Krise des Schreibens (Beginn mit Franziska) als Suche nach dem Ich zur Krise des Schreibens als Suche nach dem Anderen (Beobachtungsphase), zur Krise des Schreibens als Suche nach dem Anderen (Beobachtungsphase), zur Krise des Schreibens als Suche nach dem Schreiben (Fanny-Phase), zur Krise des Schreibens als Suche nach der Aufhebung des Schreibens (Fernanda-Phase).« (AS, 425)

Ob von der Autorin intendiert oder nicht, werden hier gleichfalls neuere Erkenntnisse und Konzepte der Gedächtnisforschung bzw. Erinnerungsforschung516 auf- oder sogar vorweggenommen und künstlerisch verarbeitet wie die Darstellung von Erinnerungen aus verschiedenen Perspektiven oder die Konzeption, dass die Vergangenheit immer von heute beurteilt und auf diese Weise immer neu »erfunden« oder konstruiert wird, insofern »unendlich« variierbar ist.517 Zudem wird die Vergangenheit als ein Ort bezeichnet. In Franziskas Version hört sich das wie folgt an: »Es ist an mir, sagte sie, das Bild des Anfangs immer wieder zu zerstören und neu zusammenzusetzen. Nicht die Zukunft, sondern die 516 Vgl. Daniel Schacter: Wir sind Erinnerung: Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg 2001 (Original: Searching for Memory. The Brain, the Mind, and the Past. New York: Basic Books 1997), Harald Welzer. Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck 42017; Hans Markowitsch: Das autobiographische Gedächtnis. Stuttgart: Klett-Cotta 2005; ders.: Das Gedächtnis. München: C.H. Beck 2009; Martin Korte: Wir sind Gedächtnis: Wie unsere Erinnerungen bestimmen, wer wir sind. Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt 22017. Vgl. Anmerk. 337, 564. 517 Vgl. Matt Madden: 99 Ways to tell a Story: Exercises in Style. Bristol: 2005: Chamberlain Bros. Raymond Queneau: Stilübungen. Neu übersetzt von Frank Heibert und Hinrich SchmittHenkel. Frankfurt 2016: Suhrkamp. (Original: Exercises de Style. Paris 1947: Gallimard.). Gruenter nennt Queneau: AS, 376: »[…] Queneau mit seiner Busgeschichte.«

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Vergangenheit ist unendlich. Und so kehre ich immer wieder zum Anfang zurück, an den Ort, an dem ich uns finden könnte.« (VL, 9, Im Original kursiv gedruckt, Ergänzung SW) Nichtsdestoweniger handelt es sich, auch was einzelne »Fabeln« betrifft, um ein schwer zu kommemorierendes Werk. Die folgenden Sätze stehen geradezu exemplarisch für den Stil Gruenters in diesem Roman. Wieder weist sich Gruenters hyperrealistischer Stil an den Beschreibungen der Farben aus: »Gewohnt, ans Wahrscheinliche zu glauben, wird das Wirkliche oft übersehen, dachte Blok, das was sich unter den eigenen Augen abspielt, Fernanda wird jetzt am Fluss vermutet, wo sie den Anglern ein wenig zuschaut, nicht zwischen diesen Wänden in norditalienischem Gelb, mit einem Stich ins Ziegelfarbene, das das tiefste Rostrot der Vorhänge vorwegnimmt, eine Farbe, die Franziska nach einer Postkarte aus Siena gewählt hatte, die an ihre Kommode geheftet war, eine um Grade zu südliche Farbe, wie er eingewandt hatte, für dieses von rauherem Klima geprägte und im Übrigen einfach geweißte Haus, aber sie hatte darauf bestanden, denn die Postkarte stammte von einer vier Jahre zurückliegenden Reise, die zu wiederholen ihre natürliche, sich im Ausmalen der Reiseroute erschöpfte Trägheit verhindert hatte.« (VL, 110)

Äußerst prägnant wird beschrieben, wie in phänomenologischem Sinne die Erinnerung jede neue Wahrnehmung prägt, selbst jene nur medial vermittelte, beispielsweise in Form einer Postkarte. Hieran zeigt sich erneut die Vorwegnahme einer Erkenntnis der modernen Gedächtnisforschung, wonach selbst die nicht eigens erlebte Erinnerung gleichermaßen auf den Alltag und die Wahrnehmung der oder des Sich-Erinnernden zurückwirken kann. Darüber hinaus scheint die Verbindung von künstlerischer Darstellung ebenso in Hinsicht auf die Bildende Kunst und modernen psychologischen Wahrnehmungs- und Kognitionskonzepten virulent: Unter Benutzung von Bildern, Begriffen oder Zeichen, z. B. dem in diesem einen besonderen Fall fiktiven Ort Tarduz, der nicht im Netz oder einem Reise-, Kultur- oder Sprachführer zu finden ist, »malt« die Autorin die »Beziehungs- und Begegnungsorte« der Protagonisten aus. Das heißt im von Lotman herausgestellten Sinne setzt sie Vektoren oder Variablen in zunächst vermeintlich noch unberührte Räume ein und kerbt diese ästhetisch ein (vgl. Kap.3.4.), um mit Guattari und Deleuze zu sprechen. Die Protagonisten schaffen sich in den »markierten Räumen« und vorgefundenen Orten künstlerische wie existentielle »Frei-Räume«, die von der Erzählerin bzw. vom Erzähler erneut wie Stillleben ins Bild gesetzt werden. »Das durch die Ritzen in den Fensterläden einfallende Licht hatte ihr Bein, ihren Rock, ihren Pullover, Arm, Hals und Gesicht, das Haar, in Streifen geteilt, und Blok, ausgestreckt auf dem Bett, hatte darauf gewartet, daß die geteilte und auf diese Weise verflüchtigte Gestalt sich umdrehte und ihrem lautlos gesprochenen Einwand, nicht hier, einen Einwand, den ihr ganzer Körper und ihre, wie Blok dachte, Verzögerungstaktik, mit der sie am Fenster herumtrödelte, ausdrückte, während er ein totes und an einer

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Ecke herabhängendes Spinnengewebe an der Decke betrachtete, überwinde, fand er sie plötzlich neben sich, lautlos herangeschlichen, […] murmelte er, an welchem Traum kaust du nun.« (VL, 111)

Dennoch sollte man sich aus den zuvor dargelegten Gründen dem Werk über einen gedächtniswissenschaftlichen oder literaturwissenschaftlichen Zugang nur äußerst behutsam annähern. So scheint sich im Werk eine Art Bewusstseinsfluss Proustscher oder Joycescher Manier beobachten zu lassen, wobei nur auf den ersten Blick alles Bewusstsein den »Dingen« selbst anhaftet und äußerlich verbleibt. In einem weiteren Schritt werden dann Empfindungen, Gedanken etc. genauer vorgeführt, zunächst assoziativ und eigentlich ohne inneren und handlungslogischen Zusammenhang präsentiert, dann jedoch additiv miteinander verbunden wie mit dem am Ort Vorgefundenen in Beziehung gesetzt. Auf eben diesem Grund kommt man dem Text am ehesten mit Lotmanns Konzeption der Schaffung eines künstlerischen Raums näher: So wird Tarduz zu einem nichtexistierenden, fiktional geschaffenen Ort, der dann zu einem ästhetischen Raum mutiert. Auf die Orte bezogen kann darüber hinaus ein regionaler Bezug an einigen Stellen nicht unberücksichtigt bleiben, der wiederholt in ihrem Werk zu beobachten ist, indem die Autorin die »Landkarte ihrer Kindheit und Jugend«, die Orte ihrer Erinnerung wie die Düsseldorfer und Neusser Umgebung, wenngleich oft nicht ausdrücklich namentlich genannt und verwandelt, mit in das Oeuvre einbindet. Sie werden oft en passant mit in die Beschreibungen eingestreut. Im Werk »Vertreibung aus dem Labyrinth« schreibt sie über die heute nicht mehr existierende, damals weit über die regionalen Grenzen bekannte Schokoladenfabrik »Novesia« in Neuss518, die direkt neben der damaligen »Irrenanstalt«, dem »Alex« (Alexianer-Krankenhaus) lag, und über die es aus der Perspektive einer der Protagonistinnen Fanny heißt: »Manchmal machte ich auf dem Nachhauseweg einen Umweg und radelte an der Anstalt vorbei. Man sah nichts außer einer grauen Fassade und vergitterten Fenstern. Aber immer hatte ich das Gefühl, daß der Bruder hinter dem Gitter eines der Fenster stände und auf die gegenüberliegende Mauer (einer Schokoladenfabrik, und der verblassende Schriftzug Novesia zog sich über die Wand) starrte und sehen könne, wie ich unten in der Straßenschlucht vorbeiradelte.« (VL, 63)

Die Erwähnung des legendären Eiskellerbergs519 in der Düsseldorfer Altstadt gehört ebenfalls in diese Reihe, direkt an der Kunstakademie gelegen, der lange 518 Die Neusser Schokoladenfabrik Novesia wurde 1815 gegründet und musste 1980 mit 350 verbleibenden Mitarbeitern aufgeben. Sie produzierte vor allem die damals berühmte Schokolade Novesia Goldnuss. 519 Im Eiskellerwerk wurden früher die Eisschollen des Rheins gesammelt, wenn der Rhein zugefroren war, das letzte Mal 1942, früher zum Teil bis weit in den Sommer hinein.

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Jahre sozusagen als »Wohnzimmer der Akademie« galt, eine »Straße«, die es u. a. deshalb zu einiger Popularität brachte, weil sie aus nur einem Haus, der Hausnummer 1–3, besteht, worin sich früher einige Ateliers befanden: »Ich fand ein Zimmer in der Nähe der Akademie, auf dem Eiskellerberg in der Altstadt. Vom Fenster sah ich auf die Kastanie, die zum Fluß führte. […] Das Leben war schön. Auf dem Eiskellerberg gab es viele Feste, und wir gingen eingehakt, der Nachbar mit bunten Westen und weißen Hemden und ich in weitfallenden, räderschlagenden Röcken, von Fest zu Fest unter Lichtergirlanden durch Hinterhöfe und Gartengelage. Ich saß am Fenster und blickte in die Kastanien. Hinter der Akademie floß der Fluß. Die Gebäude der Akademie sahen am Abend aus wie eine viktorianische Burg, und aus der langen blauen Fensterfront fiel blaues Licht auf die Straße. Das Innere des Gebäudes sah ich kaum noch.« (VL, 66f.)

Im Zuge der herausgestellten »ästhetischen Maskierung« oder literarischen Verfremdung wird mit keiner Silbe betont, dass es sich um eine relativ bekannte Straße in Düsseldorf handelt. Analog zum Verfremden »bekannter Orte« im Sinne des beschriebenen dépaysment, geht Gruenter auch den umgekehrten Weg, in dem sie konkrete, nicht-fiktionale Orte beinahe unbemerkt in ihre Prosa einfließen lässt, um etwa, auf Paris bezogen. »das greifbare Geheimnis dieser Stadt« deutlich zu machen. Wieder erweist sich hier Lotmans Definition der Narration von der Darstellung einer durch eine Figur vorgenommenen Überschreitung der Grenze zwischen zwei semantischen Räumen für die Lesart adäquat, einmal als der konkrete Ort, zum anderen als der neue, völlig andere ästhetische oder literarisierte Ort, »in dem man nicht wohnen kann«, wie Matz es so schön auf den Punkt bringt. (vgl. Kap.2.) Zu dieser Tendenz gehört auch eine durchaus regionale Hinwendung520 im Werk Gruenters ex negativo verbunden mit der insgeheimen Insinuation, dass es sich trotz der Existenz einer Kunstakademie in Düsseldorf 521 etc. um den Versuch einer Flucht aus den engen provinziellen und (spieß- und) kleinbürgerlichen Wurzeln des Rheinlands in die große Welt Paris handelt.522 Zum einen weist 520 Vgl. Anmerk. 209, 575. 521 Und einer Düsseldorfer (Maler-) Schule. 522 Die allerdings, was die Kunst betrifft, bereits damals schon nicht mehr existierte, vgl. Anmerk. 186 in dieser Abhandlung. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Rheinland gerade in der Provinzialismus-Debatte als negatives Beispiel der Bundesrepublik Deutschland herhalten musste. In Bohrers Autobiographie ( Bohrer 2017) lässt er nur das »Französische« des Rheinlands gelten. (vgl. Bohrer 2017, 385ff.) Wobei hervorzuheben ist, dass Gruenter in dieser Debatte eine dezidiert andere Auffassung vertrat Bohrer (2017, 414), der berichtet, dass sie alles, »was irgendwie meinungsmäßig wurde« nicht mochte: »Sie mochte sogar meine Polemiken gegen den Provinzialismus nicht, weil sie von der scheinbaren sicheren Warte eines Anspruchs auf das Nichtprovinzielle herab geschrieben waren. Sie mochte die meisten Polemiken nicht, selbst die nicht von Heinrich Heine. Sie mochte den linken Konformismus nicht, sie mochte aber auch nicht dessen Kritik.«

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Gruenter darauf hin, zum anderen bestätigt dies ihre Freundin, A. Köhler, die sie wie sonst kaum eine andere kannte, dass die Schaffung der literarisch-ästhetischen Welt von Paris immer auch eine Art Flucht in eine Welt war, von der sie glaubte, darin »leben« zu können. Gruenters Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« steht, gerade was den Titel523 betrifft, in enger Verbindung zu dem späteren Roman »Das Versteck des Minotaurus«: Beinahe kontrapunktisch sind die Begriffe Vertreibung und Versteck sowie die Zuordnung Minotaurus und Labyrinth zu anzusehen.524 Doch Gruenter hätte sich gegen eine vorschnelle intertextuelle Parallelisierung der beiden Werke gewehrt, sah sie doch jedes Werk in erster Linie als Werk an sich an. Dennoch lässt sich feststellen, dass sie sich über einen längeren Zeitraum mit dem Motiv des Labyrinths und der Sage des Minotaurus′ beschäftigte. Inhaltlich sind ansonsten – bis auf den Ort Paris als Labyrinth oder besser gesagt von Häusern und Bauanlagen – kaum Parallelen festzustellen. Was sie beide aber dennoch verbindet, scheint die Struktur des »Labyrinths« zu sein. Schmeling hat in diesem Kontext auf den fast inflationären Gebrauch des Begriffs Labyrinth hingewiesen und zugleich davor gewarnt. »Die dem Labyrinth per definitionem eingeschriebene Unübersichtlichkeit, Unlösbarkeit, und Unbegrenztheit haben es schnell zu einem Kennwort für alles Überkomplexe und Undurchschaubare werden lassen, zu einem schnell dahingesprochenen Lippenbekenntnis, zu einer gefahrlos verwendbaren, dafür aber umso interessanter klingenden Formel. So wie der Text werden auch das Subjekt, das Kunstwerk, die Funktionsweise des Wahrnehmens und Denkens (das sich ja im menschlichen Gehirn in einem aus Milliarden und Abermilliarden bestehenden Netzwerk von Nervenzellen und Synapsen vollzieht) oder der chaotische Gesamtzusammenhang der Welt gleichnishaft zum Labyrinth deklariert. Die ›labyrinthische condition humaine‹ wird so zu einem »polyvalenten Gleichnis«, zu einem Archetyp oder Urbild, zu einer quasi universalen Chiffre, die aufgrund ihrer ins Schrankenlose tendierenden Deutungshoheit und ubiquitären Platzhalterschaft keine differentia spezifica, keine alternierende Möglichkeit

523 An dieser Stelle sei auf den Begriff der Vertreibung verwiesen, der in unterschiedlichen Kontexten benutzt wird. 524 Der Titel legt die Assoziation mit der Vertreibung aus dem Paradies (Gen 3, 24) nahe, wozu sich aber im Werk keinerlei Belegstellen finden. Überhaupt durchziehen Gruenters Werk kaum biblische Anspielungen. Der Begriff ist ansonsten nicht eindeutig definiert, wurde über viele Jahre als politischer Kampfbegriff gebraucht. Philipp Ther definiert den Begriff wie folgt: »Vertreibung ist eine erzwungene Form von Migration über Staatsgrenzen hinweg. Die davon Betroffenen werden unter mittelbarem oder unmittelbarem Zwang dazu genötigt, ihre Heimat zu verlassen. Vertreibung ist unumkehrbar und endgültig.« In: Philipp Ther (1998): Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945–1956. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (V&R) 2001, 99. Vor allem die Strukturmomente der Unfreiwilligkeit und der Unumkehrbarkeit sind bezogen auf das Werk Gruenters von Bedeutung.

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und keinen Gegenentwurf mehr zulässt, der die für gültig erklärten Spielregeln überschreitet.« (Schmeling 2007, 85)525

Er spricht in diesem Kontext von einer weit verbreiteten Universalisierung oder sogar mit Rötgers (2000) von einer »Babelisierung des Motivs«. (ebd.) Genau dieser Gefahr versucht die Schriftstellerin in ihrem Werk insgesamt zu entraten. Schmeling (2007) grenzt in seiner bemerkenswerten Studie »Der labyrinthische Diskurs« den Begriff in Hinsicht auf literarische Werke noch weiter ein, wo er den Weg »vom Mythos zum Erzählmodell« – so der Untertitel – nachzeichnet und das Bild des Labyrinths als kulturelle Herausforderung entwirft.«526 Er setzt das Labyrinth anthropologisch wie ästhetisch mit dem Spielgedanken und einem Kulturmuster in Beziehung (ebd., 252) und stellt das Labyrinth als Konstruktionsmuster heraus, etwa in der Baukunst, als Schriftlabyrinth oder als narrative Struktur: »Mythologisch betrachtet handelt es sich hier um die »dädalusische« Komponente des Labyrinths, um das Labyrinth als »Produkt«; Theseus hingegen, der Labyrinthgänger und Bezwinger des Minotaurus′, verkörpert eher die existentielle Seite, die Innensicht des Labyrinthischen.« (ebd.) Schmeling hält darüber hinaus fest, dass das Labyrinth im Laufe der Kulturgeschichte immer mehr an »ästhetischer Autonomie« gewinnt. (ebd., 253) Er verweist dabei im Besonderen auf Texte der Surrealisten. »Diese ästhetische Autonomie, wie sie sich heute unter anderem in den Labyrinth Strukturen moderner und postmoderner narrativer Texte als Strategie behauptet, konfrontiert den Leser mit einem Paradoxon: nämlich mit dem Bewusstsein, dass der weltliche Rückzug aufs Ästhetische noch mythologisch-symbolisch auslegbar ist.« (ebd.) Bemerkenswerterweise verzichtet Schmeling in seinem Aufsatz auf die Parallelisierung der Texte bzw. auf eine analogisierende Interpretation der beiden Werke. Er betont bezogen auf Undine Gruenter und den Roman »Das Versteck des Minotaurus« allerdings sowohl die sprachspielerische Bedeutung des Labyrinths als auch die Kritik an jeder Art von ontologischem Status. In ihrem Roman »Das Versteck des Minotaurus« rechne Gruenter nach Schmeling mit der »langweiligen Moderne« und ihren Kritikern ab, die aus dieser Moderne hervorgegangen sind. »Die Kritiker«, so heißt es im Text, betonen die auktoriale Perspektive, »verreißen […] die Literatur der Sprachspiele, denn sie wollen den Bezug zur (zeitgenössischen) Lebenspraxis.« (VM, 157) Schmeling spricht von der »Komplexität der Labyrinth-Verweise« im Roman, des Mythos′ und der AnSpielungen auf die »Taten mythologischer Gestalten […] des Archetypischen 525 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Dädalus als Minotaurus. Zu Labyrinth-Motiv und Sprachreflexion bei Kafka und Dürrenmatt. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F.3 (1993), H. 3, 526– 544, hier: 537; Karl Kerényi: Labyrinth-Studien. Labyrinthos als Linienreflex einer mythologischen Idee. Zürich: Rhein-Verlag 1950. 526 Christina Weiss (1987). In: DIE ZEIT, 30. Oktober 1987.

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und Unbewussten« wie Minos, Pasiphae, Minotaurus, Dädalus, Ariadne, Theseus, Dionysos etc. Darüber hinaus nennt er drei Funktionen des »Labyrinthischen« für den Roman, »[…] als das bestimmende topologische Muster urbaner Strukturen (Paris), es ist das ästhetisierte Paris, das an gläserne Paläste und dunkle Verließe, an Knossos und Gomorra zugleich gemahnt und teils als terrain vecue […], teils als Aragon- und Benjaminlektüre im Kopf der Erzählsubjekte wieder entsteht. […] die kombinatorischfragmentarische Gesamtstrategie des Erzählens. Momentisch ist dieses Erzählen nicht in der Bedeutung von Wirklichkeitsnachahmung, sondern durchaus insofern, als es das dem Mythos zugrunde liegende Strukturmodell geradezu programmatisch auf der Ebene des narrativen Diskurses nachvollzieht.« (Schmeling 2007, 258)

Diese labyrinthische Struktur, die Schmeling für »Das Versteck des Minotaurus« feststellt, lässt sich paradoxer Weise, selbst wenn der Titel es nahelegen könnte, so ohne weiteres für das Werk »Vertreibung aus dem Labyrinth« nicht behaupten. Wohlmöglich hat sich Gruenter in die gesamte Mythologie erst später weiter eingearbeitet527: Die Struktur des ästhetisch und spielerisch Labyrinthischen hat sie aber bereits in »Vertreibung aus dem Labyrinth« begonnen, wenngleich sich dort keine direkten Anspielungen auf die mythologischen Vorbilder finden. »Das Labyrinth ist eine der wiederkehrenden Metaphern bei Undine Gruenter, die die ›Vertreibung‹ aus ihm auch im Titel ihres letzten großen Paris-Romans annoncierte. ›Die Vertreibung aus dem Labyrinth‹, 1992 erschienen, kreist, wie die biblische Hypothek im Namen verheißt, um die Variationen eines möglichen Anfangs. ›Nicht die Zukunft, die Vergangenheit ist unendlich‹, erklärt eine der Figuren des Romans. Und so kehrt sie ›immer wieder zum Anfang zurück, an den Ort, an dem ich uns finden könnte‹. Der Konjunktiv ist natürlich kein Zufall: Es wäre dies der abwesende Ort schlechthin, der Ort vor der ›Vertreibung‹, das Paradies mithin.« (Köhler 2001)

Hält man sich darüber hinaus noch an die eigenen Äußerungen der Autorin zum Roman, so lassen sich in diesem Zusammenhang in »Der Autor als Souffleur« einige bemerkenswerte Passagen über die Genese des Romans finden. Hauptsächlich betont sie, dass der Impetus für einen Roman aus einem »eigenen Identitätsproblem« (AS, 273) entstand und ihr dabei folgende Konzeption vorschwebte: »14. Februar 1989 [Jahreszahlergänzung, SW] Ich muß dieses Trauma loswerden, sofort ein so monumentales Buch zu schreiben wie Vergessen. Es ist besser wirklich anzufangen als nie, Deshalb: Plan zu einem kleinen, in sich geschlossenen Roman, dem ich in den Griff bekommen kann. Mir schwebt etwas vor in Richtung Fänger im Roggen.« (AS, 273f.)

527 Vgl. die genaue Beschreibung des Mythos′ bzw. die »Etymologie« des Begriffs Labyrinth in VM, 6ff. u. 12.

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Es ist aus diesen oder späteren Äußerungen dazu allerdings nicht eindeutig zu entnehmen, ob es sich hierbei wirklich um den Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« handelt, wobei sie an anderer Stelle betont, dass sie mit der Hauptfigur Blok schon zuvor eine ganze Weile umgegangen sei.528 Aus anderen Äußerungen wird gleichfalls nicht widerspruchsfrei ersichtlich, ob es sich hierbei um den später veröffentlichten Roman, um einen völlig anderen Entwurf (mit dem Titel »Blaubart«) oder nur einen anderen Titel handelt. Sie nennt zwei Titel, die so nicht erschienen sind; der erste sollte »Die Besetzung« heißen, wozu es heißt: »Blättere in einem alten Notizbuch für den Plan des Romans Die Besetzung. Da entdecke ich lauter Notizen (die Polizeisirenen, das Klopfen in den Mauern etc.), die ich jetzt in der Realität erlebe. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit M. Krüger im Verlag, in dem ich ihm von dem Leserbrief eines Priesters an mich erzählte, in den Zitate aus Ein Bild der Unruhe eingeflochten waren [Ein, Null-Artikel, bestimmter Artikel im Titel, SW] – und wie fremd mir, als Zitat gegenübergestellt, diese eigenen Worte vorgekommen wären. So ist es: was man einmal niedergeschrieben hat, verselbständigt sich, löst sich ab, ist nicht mehr Material vom eigenen Ich. Und deshalb erkennt man auch die eigenen Worte nicht mehr, die eigenen Phantasien. Beleg für die Differenz zwischen Künstler und Kunstwerk.« (AS, 317f.)

Diese Konzeption scheint sich mit der Zeit gewandelt zu haben. Sie entwickelt die Idee zu einem anderen, weiteren Buch, das »Das blaue Zimmer« (AS, 318) heißen soll529, welches aber bereits Bestandteile von »Vertreibung aus dem Labyrinth« bzw. ihres gesamtes Oeuvres in Form einer Gruppe von Ausländern enthält, vorzugsweise Deutschen, die in Paris in einer Art freiwilligem Exil leben (VL, 328), »[…] ein Paris der Ausländer, das eine geschichtsferne Monade inmitten der pulsierenden Pariser Gegenwart ist – eine abstruse Geheimgesellschaft, eine exzentrische Idylle.« (ebd.) Jede Form von Identität, ob als Selbstbeschreibung oder als Zuschreibung von außen, als Rollentausch oder ex negativo Nichtidentität bzw. temporäre Form der Identität, ist das große Thema der »Vertreibung«, worauf sie wiederholt verweist: »Das Thema Lösung und Übergangslösung ist so, daß alle sich daran abarbeiten (vor allem Blok, Fernanda, Fanny – Franziska ist sozusagen im negativen Sinne schon jenseits) und während sie das tun, also während der Roman-Zeit lösen sie sich wechselseitig ineinander auf, die Ichs kreisen durch alle drei anderen Figuren, und diese Kreisbewegung durch den Kreis der anderen hindurch, ist das Thema. Identität? Nur momentweise zu erfahren in der Nicht-Identität, d. h. im Moment des Rollentauschs. Medium ist natürlich oder Schubkraft – die Liebe, in ihren negativen, gescheiterten und

528 Vgl. AS, 338: »Da habe ich nun schon bald drei Jahre mit einer Romanfigur verbracht – das ist an sich schon literaturreif.« 529 Vgl. AS, 318f.: »Idee für das Buch.«

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nur noch um Besitz kreisenden Formen und ihren positiven (wobei natürlich beides sich vermischt).« (AS, 344)530

Diese Suche nach Identität äußert sich überwiegend in der Suche nach jener der Autorin selbst: Die Identität der Erzählerin und Identität der Autorin kreuzen sich mehrere Male in der Konzeption des Romans. Ein zentraler Satz in Hinblick auf das Beharren der Differenz von biographischer Ich-Identität und künstlerischer Identität, lautet, dass die oder der Schreibende nicht sich ausdrückt. »Mein Problem, dass ich versucht habe über/durch Schreiben eine Ich-Identität herzustellen, zu suchen – gegen besseres Wissen oder besser: auszudrücken. Es ist aber eine immer wieder einzeln durchzumachende Erfahrung, daß der Schreibende nicht sich ausdrückt. Eine andere Sache ist, daß Schreiben trotzdem eine Suche sein kann nach dem eigenen Ich, ein Versuch, Nähe herzustellen durch den Text, ein freies/unfreies Verströmen von ureigenen Wünschen und Ängsten; besser: es kann dieser Prozeß sein. Was ihn am Ende anblickt, ist dann aber nicht der getreue Spiegel seines Inneren, sondern der Text.« (AS, 355 f.)

Eine Darstellung nicht fixierter Identität hatte Gruenter schon in »Ein Bild der Unruhe« umgetrieben531, was sie in einem Gespräch mit Bohrer explizit thematisiert und dabei gleichzeitig darstellt, welche Art der Unruhe damit gemeint sein könnte, was sie am Matratzenbild von Bacon noch weiter spezifiziert: »5. November 1991 [Jahreszahlergänzung SW] Gespräch über die Identitätsproblematik in der Unruhe. Mir fiel das Bild, das Matratzenbild von Bacon ein – will sagen: nicht Auflösung à la Mach war das Sujet dieses Kapitels (das auch im Abfall gelandet ist), sondern Verschiebung. Man vergleiche die Verschiebungen in den Geschichten bei Bacon – das ist nicht auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, das ist nicht ver-zerrt, verblendet, sondern eben: verschoben.« (AS, 470)

Immer wieder wird so von ihr das Verhältnis von (Auto-) Biographischem und Künstlerischen, von Material und Form, von »Visuellem« und »Optischen« zum Gegenstand der Darstellung gemacht: »Weniger interessiert mich die Wirklichkeit des Materials. (Obwohl die Dinge eine große Rolle spielen, aber nicht ontologisch, als Aussage über und Garant der Welt, sondern als in sich geschlossene und voneinander isolierte Eigenwelten.) Das Material ist für das Auge des Zeichners, für den Poetus doctus, den Philosophen und den Moralisten. Das Material ist eine Schule (des Sehens, des Verstehens, Aneignens.) Ich aber neige zum Visuellen, weniger zum Optischen. (Ich benutze die Dinge im Text auch: als Signale einer psychischen Realität.)« (AS, 330) 530 Vgl. auch AS, 391: »Unter anderem das Thema der Vertreibung aus dem Labyrinth […]«; vgl. auch: AS, 404: »Das Thema der Vertreibung ist dem Leben abgetrotzt.« 14. Juli 1990 [Jahreszahlergänzung SW], AS, 420: »Vertreibungs-Motiv […]« 531 Vgl. auch AS, 457: »Die Identitätsproblematik […] habe ich in der Unruhe und im Labyrinth auf verschiedene Weise zu realisieren versucht.«

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Gruenter spricht hier von einer »psychischen Realität«, wie sie sich im Text manifestiert, sich erst in Konfrontation mit dem Material herausstellt, also im »Widerstand gegen das Eigene« entsteht und dem deshalb ebenso zentrale Bedeutung zukommt. »Ein Text sucht sich selbst, ist niemals Ausdruck (Selbstausdruck) des Schreibenden. Konsequenz: Deshalb wird die Vertreibung weder Autobiographie noch Dichtung und Wahrheit; er ist dem Thema unterwegs entlaufen und geht seine eigenen Wege. Deshalb ist ein Text keine Botschaft wie ein Brief.« (AS, 381)

Mit der Zeit verändert Gruenter ihre Positionen, wie sie selbst bekennt: zum einen in Hinsicht auf das »Autobiographische« d. h. den realen Vorlagen ihrer Figuren, zum anderen in der Einschätzung ihres Hauptdarstellers, um den sich letztendlich alle anderen Figuren drehen. (AS, 320) Darüber hinaus hat Gruenter das Phänomen des Opfers bzw. der Opferidentität als Darstellung einer besonderen Form von Raumzugehörigkeit bei der Niederschrift des Romans umgetrieben, und dies mit als Grund des Romans bezeichnet. Immer wieder finden sich in diesem Zeitraum existentielle wie »poetologische Stellungnahmen« zum Begriff des Opfers. Erneut ist dabei Gruenters Erzählerfigur-Position keineswegs eindeutig, wie an folgender Stelle herauszulesen ist: »Frage. Warum sind wir lieber Opfer als Täter? Warum ist es so schwierig, es genau auseinanderzuhalten. Welchen Anteil man selbst hat an dem, worunter man leidet? Mein augenblickliches Problem bei dem Roman: daß mir diese Erkenntnis quasi in die Hand fällt. Schließlich will ich ja zeigen, wie jeder eines jeden Opfer ist.« (AS, 345f.) Oder an einer anderen Stelle in »Der Autor als Souffleur« schreibt sie dazu: »Ich plädiere für das Wort Opfer, es gibt sie, tagtäglich, im privaten und öffentlichen Bereich, und der Verzicht auf dieses Wort heißt, den Kopf zu vernebeln, den Opfern die Erkenntnis ihrer realen Lage verstellen und den Siegern den Bauch streicheln.« (AS, 346) Die Figuren in »Vertreibung aus dem Labyrinth« nennt sie »alle eines anderen Opfers«. (AS, 344) In diesem Sinne steht wie eine Art Versuchsanweisung ein männlicher Protagonist im Zentrum der Darstellung, von dem man zu Beginn bis zum Schluss nicht weiß, ob er eine »Kunstfigur« ist oder nicht, um den herum die anderen Figuren konzipiert und ein künstlerischer (Bezugs-) Raum »aufgebaut« worden ist. Gruenter scheint sich bei der Anlage und Ausarbeitung der Person einigermaßen schwergetan haben, wie sie dazu widersprüchliche Aussagen macht: »Blok muss eine Kunstfigur werden, ein Mann, der sich einbildet, keine Eigenschaften zu haben, und auf die simpelste Weise von diesem Irrtum aufwacht. Auch das Paar, Skrupel und Enthusiasmen.« (AS, 336) An einer anderen Stelle »bekennt« sie sich zum genauen Gegenteil, wie es bei ihr in der Einschätzung ihres Schreibens, wenn wir an das (Auto-) Biographische denken, nicht selten vorkommt, was aber wiederum im Sinne ihrer Konzeption von wech-

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selnden Identitäten nur folgerichtig erscheint: »Blok, der Mann mit Eigenschaften – hat auch etwas vom heutigem Ich: im Zentrum der Perspektive ist eine Leerstelle.« (AS, 340)532 Von neuem charakterisiert die Autorin in der Darstellung ihre Personen über Räume (vgl. VL, 164) – über Imaginationsräume wie dargestellte Fremde. Es braucht dazu Paris und die Beschreibung der durch die anderen Figuren geschaffenen Räume,533 was wiederum zum Mittel wird, um die (zum Teil verwehrte) Identität darzustellen. Außerdem nimmt der Protagonist die »Wirklichkeit als ein System von Zeichen« wahr. (VL, 17) Seine Familiengeschichte wird dabei allerdings nur rudimentär deutlich: Sein Vater war Wehrmachtsoffizier (VL, 37 f.), ansonsten erfährt die Leserin respektive der Leser kaum etwas über Bloks Familie.534 Um welches »Identitätsangebot« es sich letztendlich handelt, ließe sich anhand von Identitätskonzeptionen unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienz noch weiter erhellen bzw. nachweisen.535 Die Erzählerin verweist selbst auf die Brüche im Bewusstseinsprozess und auf die besondere Dialektik von Erinnern und Vergessen. »10. Mai 1990. [Jahreszahlergänzung SW] 2. Fassung von Vertreibung aus dem Labyrinth – es kommt mir auf die Erweiterung an, das Poème-en-Prose-Element in die Handlung eingefügt als Brüche für die Bewusstseinsprozesse. […] Es ist ein Widerspruch in diesem Text…Denn im Vergessen (Franziska, Fernanda) gibt es per Blok Erinnern, im Erinnern gibt es Vergessen = Lücken zwischen zwei gegenläufigen Richtungen eine Wahrheit des Romans […].« (AS, 378 f.)

Was die Gliederung betrifft, so ist der Roman in acht Kapitel unterteilt, die mit lateinischen Zahlen versehen sind. Die Kapitel differieren durch die »Orte«, an denen sie spielen: Die Kapitel I und VIII spielen in Franziskas und Bloks Wohnung im 10. Arrondissement,536 Kapitel II in der Wohnung von Fanny und einer Bank am Kanal l’Ourcq, Kapitel III in ihrem Landhaus Tarduz in Joigny, einer

532 Bereits der Name Blok ist im Deutschen ein Problem, der eigentlich mit ck geschrieben werden müsste, um die im Folgenden herausgestellte phonetische Wirkung ganz zu entfalten (VL, 130): »[…] denn während sie [Fanny, Ergänzung SW] auf dem Boden lag und sich beruhigte, stammelte sie leise Blok, Blok, Blok, es hörte sich an wie ein ferner Ruf, wie das Klopfen eines Spechts ans Holz, Blok Blok Blok, rief sie in seine Halskuhle […].« 533 VL, 11: »War das Ich nur in den Kleidern der anderen möglich?« 534 Nur kurz wird Bloks Mutter genannt. (VL, 37f., 39: »Daß in Bloks Familienuniversum, falls man überhaupt von einem solchen sprechen kann, nur eine Mutter existierte […]«), von der er selbst nichts wissen will und die für ihn nicht als Identitätsangebot taugt. Vgl. auch VL, 199ff., wo sich eine längere Passage über Bloks Familie und seine Jugendjahre befindet. 535 Hier wird in erster Linie die Konzeption von Ricoeur und die Unterscheidung von ipse und ibidem in Stellung gebracht. Vgl. Paul Ricoeur: Das Selbst als ein Anderer. (Übergänge Bd. 26). München: Wilhelm Fink Verlag 1996. 536 Aus der Franziska während ihres gemeinsamen Wohnens mit Blok, für eine kurze Zeit auszieht (VL, 338), und dann plötzlich, scheinbar unmotiviert, wieder zu ihm zurückkehrt.

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kleinen Ortschaft in Burgund in der Nähe von Auxerre und Kapitel IV im Atelier von Fanny bzw. in der Wohnung/Küche,537 Kapitel V auf den Straßen von Paris und in der Wohnung/Küche der ehemaligen Schauspielerin Hélène in der Rue Blanche, die Blok auf der Straße in Paris anspricht, Kapitel VI im Auto auf der Fahrt aller vier Protagonisten nach Tarduz,538 Kapitel VII und VIII auf dem Boulevard auf dem Weg durch das Labyrinth Paris539 und Kapitel VIII zwischen den Wohnungen der Protagonisten.540 Wiederum geben im Grunde die Orte die »Handlung« bzw. den Handlungsraum der Protagonisten vor – erneut unter der Voraussetzung, dass man im Kontext vom Werk Gruenters überhaupt von Handlung sprechen will –, und markieren zugleich die Konturen wie das Profil der Protagonisten. Die Erzählerin541 geht – wie so oft bei Gruenter – von konkreten Orten bzw. Straßen542 und Gebäuden aus und die Erzählung verläuft im wortwörtlichen Sinne dann über in Assoziationen, »Geschichten« und vorwiegend Erinnerungen. »Geschichten« ist hier in Anführungszeichen gesetzt, weil es sich nicht im »klassischen Sinne« um Erzählungen handelt; eher werden hier wieder Geschichten »zerstört«, als dass sie im klassischen Sinne »erzählt« werden. Besonders evident wird es an jener Stelle, 537 VL, 44, 47: Die Küche als der »Ort des Erzählens«. 538 Wobei Franziska und Fernanda gerade von einer Fahrt nach Deutschland zur Familie Franziskas und metaphorisch in den in der Familie betriebenen »Kult des Schönen« zurückgekehrt sind; VL, 251f.: »[…] in diesem plötzlichen Strom von Dingen, die wie der verlängerte Arm ihrer Familie sind.« 539 VL, 263: »[…] unter dem weiten Glashimmel seines Pariser Zimmers […]«. 540 VL, 201: »[…] in den Zwischenräumen viel Lärm und eine unendliche Stille[…]«, VL, 215: »[…] Experiment des Geheimnisses[…]«, VL, 218: »[…] geschlossenes Netz des Alltags […]« oder in VL, 269f.: »[…] Reminiszenzen an Rouen […]«. 541 Die Erzählperspektive oszilliert häufig zwischen allwissendem, Ich- oder personalem Erzähler. 542 Wieder werden die unvermeidlichen Plätze oder Straßen wie die Place Sulpice (VL, 303f.), die Rue Dauphine (VL, 374) oder die Rue Jules Vernes (»die häßlichste Straße Paris’«, VL, 322) genannt. Die Place St. Sulpice taucht wiederum mehrfach auf, z. B.: 303f. Die Place St. Sulpice ist literarisch ausgiebig gewürdigt worden. Hemingway soll hier des Öfteren in der Kirche gewesen sein und eine Kerze angezündet haben. Erinnert sei aber vor allem an Georges Perec, dessen Literatur Gruenter gut kannte und an seinen »Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen« (42016): »Es gibt viele Dinge an der Place Saint-Sulpice, zum Beispiel: ein Rathaus, ein Finanzamt, ein Polizeikommissariat, drei Cafés, darunter eines, das auch Tabakladen ist, ein Kino, eine Kirche, an der Le Veau, Gittard, Oppenord, Servandoni und Chalgrin gebaut haben und die einen Militärgeistlichen von Clothar geweiht ist, der von 624 bis 644 Bischof von Bourges war und dessen Gedenktag am 17. Januar begangen wird, ein Verlag, ein Bestattungsunternehmen, ein Reisebüro, eine Bushaltstelle, eine Schneiderei, ein Hotel, ein Brunnen, der von Statuen der vier großen christlichen Kanzelredner (Bossuet, Fénélon, Fléchier und Massillon) geschmückt ist, ein Zeitungskiosk, ein Devotionalienhändler, eine Tiefgarage, ein Schönheitsinstitut und noch viele weitere Dinge. […] Meine Absicht […] war es eher. das Übrige zu schildern: das, was man im Allgemeinen nicht notiert, das, was nicht bemerkt wird, was keine Bedeutung hat, das, was passiert, wenn nichts passiert außer Zeit, Menschen, Autos und Wolken.«

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wo Franziska Blok wiederholt ankündigt, dass sie ihm beide viel von der Reise nach Deutschland »zu erzählen haben« (VL, 233f.) und wo sie dann eigentlich doch nichts erzählen, sondern nur »Stimmungen« wiedergeben, die den Aufenthalt bei der Familie Franziskas betreffen bzw. begleiten. Insgesamt werden im Roman mehr als hundert Pariser Straßennamen genannt, dazu Beschreibungen der Umgebung von Tarduz543 in Joingny gegeben544, darunter vor allem Straßen wie die Rue Ramponneau (wo Fanny wohnt, VL, 19), der Boulevard Raspail, wo die Sprachkurse der »Alliance Française, einer Sprachschule für Ausländer aller Nationalitäten« stattfinden, die Gruenter selbst kurzzeitig besuchte (VL, 25), die Rue de Lombard, wo sich das Sunset befindet, in dem sie oft auf einen Drink oder kleinen Snack einkehren (VL, 165), das als »Etablissement« bezeichnet wird, oder die Rue Blanche, wo die Erinnerung an das alte Paris auflebt. (VL, 188f.) Die Straßen, Plätze oder Orte werden im angeführten Sinne von Cassirer (vgl. Kap. 3.4.) zunächst »kulturmythologisch« aufgeladen und im Sinne von Lotman (z. B. die Place Dauphine oder die Fontaine des Medicis, vgl. Kap. 3.4. und 5.1.2.) auf der Karte als eine Art Kulturvektoren eingetragen. Im gesamten Roman nehmen die Beschreibungen der Straßen, der Exterieurs wie der Interieurs der Treppenhäuser,545 der Häuser bzw. der Zimmer, auch was die Quantität der Seitenzahlen betrifft, den größten Raum ein.546 Diese werden oft durch eine bestimmte Assoziation von Erinnerungen und »Erinnerungsorten«, besser »Erinnerungsräumen« unterbrochen.547 Die Beschreibung dieser Orte treibt zum einen die »Handlung« an,548 zum anderen werden durch sie die Protagonisten oder darüber hinaus räumliche Phänomene näher charakterisiert.549 So heißt es beispielsweise über Blok:

543 Vgl. VL, 153: »Blok sah die Feldwege um Tarduz vor sich, die Schlaglöcher und Kuhlen die sich bei Regenwetter in schlammige Seen verwandelten, in deren klareren Rändern sich eine aufsteigende Lerche spiegelte, er sah die knirschenden, von der aufquellenden Erde verfärbten Kieselsteine unter Franziskas grünen Gummistiefeln, über den Rand ein Stück Wollstrumpf im grünblau kariertem Schottenmuster mit gelben Streifen […].« 544 Es gibt bereits im ersten Kapitel, eine Trouville-Passage, als sich Franziska und Blok kennenlernen, er ein Taxi ruft, das sie nach Trouville fahren soll, vgl. VL, 12. 545 Blok hält sich hier eine ganze Zeit auf, vgl. VL, 324ff. Vgl. dazu den Begriff des Treppenhauses bei Bachelard oder Müller (2017): Bachelard und das Treppenhaus im Zeitalter von Fahrstühlen und Rolltreppen, Müller (2017), 108ff. 546 Die Zimmer werden größtenteils durch ihre Interieurs, z. B. durch Stühle beschrieben, vgl. VL, 195f. 547 Etwa auch das Motiv Schlesien im angeführten Beispiel, vgl. dazu: VL, 275: »[…] daß der Körper ein Erinnerungsraum sei«. Dies ist nicht im Sinne der Erinnerungsorte von Pierre Norà zu verstehen, vgl. Anmerk. 506. 548 Die Protagonisten handeln nicht im eigentlichen Sinne, sie reden, erinnern sich, bereiten Mahlzeiten vor, fahren Auto etc. 549 Vgl. VL, 320: »[…] ich war eine Variable im Raum, in einem hohen Altbauzimmer […].«

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»Blok, mit seinem einzigen Stück Blaubart, bildete eine Ausnahme, weil er eine Brücke war, wie er sagte, weil er alles in sich habe, Großstadtstraße und Bauerngarten, Bibliothek, Atelier, Spieltisch (obwohl er an ihrem kleinen Tisch mit eingelegtem Schachbrettmuster stets nur seine Post gelesen und eine Tasse Tee getrunken hatte), Twist und violette Samtjacke, Horaz und Osborne, und obwohl er sich oft gefragt hatte, ob das Wort Blok-Brücke nicht eine Abwehrformel gegen das Wort Blok-Schriftsteller war, wiederholte er sich diese Frage und sagte sich, während sie, fast schon zu seinen Füßen, eine handvoll Brennesseln in einen Abfallkorb warf und mit einer kleinen zweizinkigen Harke die Erde lockerte, ich bin das Bild, das sie sich von mir macht. Verschwunden hinter dem Paravent, den sie wie eine schalldämpfende Tapetenwand vor sich aufgestellt hat aus Abwehr gegen alles Laute, gegen das, was sie, beiläufig und lakonisch, als laute Männerstimme bezeichnete, denn, ohne Vater aufgewachsen, habe ihr die vertraute Gewöhnung am die männliche Stimme gefehlt, aber Blok hatte sie als Brücke auserkoren, Brücke, die alles war und nichts – und hob fragend den Kopf, mit wieviel Personen sie rechnen müsse am Abend, ob das Besteck reiche oder sie bei der Nachbarin etwas leihen müsse.« (VL, 100f.)

Blok hat »Orte in sich«: Auf diese Weise wird er zu einer »Art Brücke«, als ein weiterer Protagonist ohne jede feste Identität als ein Teil der Umgebung, der Dinge selbst. In diesem Sinne ist seine Schriftsteller-Existenz zu verstehen. Blok ist nicht als Person im eigentlichen Sinne »definiert«, er ist nur als offene Existenz begreifbar: Über das einzige von ihm geschriebene Theaterstück »Blaubart« wird im Text keine weitere Angabe gemacht, nur der Titel legt Assoziationen nahe. Blok ist zugleich derjenige »hinter dem Paravent«, eine Art Schatten mit einer lauten Männerstimme, jene Art von Brücke, »die alles war oder nichts«. Beinahe beiläufig erfährt der Leser, dass Blok ohne Vater aufgewachsen ist. Außer Blok, Franziska, Fanny, Fernanda (vgl. VL, 292) und der erwähnten Sophie tauchen im Roman noch einige andere Personen kurz auf, wie die beiden Männer Marcel und Gregor in Fannys Atelier, wovon ersterer abwechselnd auch Abbé genannt wird (VL, 160), das Geschwisterpaar Robert und Clarice550 oder die ehemalige Schauspielerin Hélène.551 Ansonsten handelt es sich um die Beschreibung von Mitgliedern der Familie von Franziska oder Figuren der Erinnerung. Darüber hinaus wird die Identität der Figuren durch die sie umgebenden Dinge dargestellt,552 die sie benutzen, worin sie wohnen.553 So will Blok mehr über das »Geheimnis Franziskas« herausbekommen und stöbert deshalb in den

550 VL, 20ff., er ist Bühnenbildner, sie Souffleuse. 551 Die in einem kleinen Kellertheater unterhalb der Place du Tertre engagiert war und jetzt einen kleinen bric-brac-Laden (Tante- Emma-Laden) führt (VL, 196). 552 Vgl. ebd., 313: »[…] daß die Dinge sich manchmal in magische Landschaften verwandelten«. 553 Durchaus im Heideggerschen Sinne von der Sprache als dem Haus des Seins, wie der den »Brief über den Humanismus« beginnt. In: Martin Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt/M.: Klostermann1981, 5.

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Dingen, die sie umgeben, wieder um »auf diese Weise den Ort zu umkreisen, auf dem sie anwesend wäre […].« (VL, 255) Die Grenzen der Erzählpositionen wie der erzählten Figuren sind zum Teil fließend und verschwimmen. Ihre Identitäten, ein Begriff, auf den Gruenter wie angeführt großen Wert legt, gehen zum Teil ineinander über, weshalb man nicht von einer strengen Figurenkonturierung sprechen kann. Die Figuren entwickeln unscharfe (fuzzy-) Identitäten, um einen Begriff der (interkulturellen) Kulturwissenschaft zu bemühen,554 d. h. die Identitäten gehen, zumindest was ihre Vorgeschichten betrifft, wie semipermeable (Zell-) Membranen (vgl. EA, 63) ineinander über.555 Die Autorin zielt nicht auf eigentlich reale Figuren ab, sondern auf ästhetische Existenzen. Müller verweist allerdings darauf, dass beides nicht voneinander zu trennen sei (Müller 2017, 58), Schmeling wiederum zeigt, dass die ursprünglich mythologische Bedeutung antiker Figuren nur noch ästhetisch zu retten sei.556 Des Weiteren lässt sich zum Plot festhalten: Im Mittelpunkt steht die Geschichte eines wenig erfolgreichen »Theaterschriftstellers«, der eigentlich nur ein Stück, »Blaubart«557 geschrieben hat und der in einer menage à quatre558 mit drei weiteren Frauen, alles drei wie Blok deutsche Staatsbürger, die in Paris leben, Kontakt hat. Es dreht sich dabei um seine Frau Franziska, die für ihn einen anderen Schriftsteller verlassen hat und die einer schlesischen Familie mit »Vertriebenenhintergrund« entstammt,559 um die Künstlerin Fanny,560 deren Mann kurz vor der Bekanntschaft mit Blok gestorben ist (»ein Stückeschreiber

554 Vgl. Jürgen Bolten: Unschärfe und Mehrwertigkeit. Interkulturelle Kompetenz vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs. In: Hoessler, Ulrich, Dreyer, Wilfried (Hg.): Perspektiven interkultureller Kompetenz. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2011; Zadeh, Lotfi Asker: Outline of a New Approach to the Analysis of Complex Systems and Decision Processes. London: IEEE Trans. on Systems, Man, and Cybernetics 1971, Nr. 3, 28– 44. 555 Sie denkt zur gleichen Zeit über eine Erzählung »Bilder einer Ausstellung«, frei nach Mussorgsky/Ravel, die aber nicht realisiert wird und nicht über einen »Riesenstichwortkatalog« hinauskommt. Vgl. AS, 261. 556 Etwa in der Bildenden Kunst bei Picasso. 557 VL, 9, vgl. auch AS, 261: »Die Geschichte des Frauenmörders nach dem Märchen von Perrault.« 558 Eigentlich sogar eine ménage à cinq, wenn man Sophie, die Mutter von Franziska noch miteinbezieht, die auf der Abschiedsparty für Fernanda in Paris im Haus von Blok und Franziska auftaucht. 559 VL, 41 u. a., ein »[…] Vertriebenenschicksal, das in Apfelschnaps, Familiensilber und Wappenringen ertrinkt«, VL, 284: »Eingeschlossen in die Wände ihrer Geschichten […]«, vgl. auch VL, 286. 560 VL, 19: »[…] auch eine Deutsche im Pariser Exil«, VL, 329: »[…] daß sie eine allzu leichte Beute ist und in Geschichten verschwindet, in Franziskas Familiengeschichte und in deiner Geschichte des Experiments im Geheimnis[…]«.

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wie ich«, VL, 9561), die in Belleville wohnt, ihre Trauer durch die Bildhauerei verarbeitet562 und um die genannte Fernanda, die Tochter von Sophie, die als Aupair-Mädchen in Paris lebt und »zwecks Sprachstudien für ein Jahr in Paris« (VL, 17) ist. Bereits die sprechenden Namen mit dem Angangsbuchstaben F verweisen auf eine gewisse und gewollte Künstlichkeit und Kunstfertigkeit der Konzeption bzw. der Charaktere zugleich. (vgl. Anmerk. 515) Besondere Beachtung verdient hier die zeichenhafte, genauer kultursemiotische Zuschreibung der Personen, kulturell (etwa Herkunft: Schlesien) wie gesellschaftlich (Künstler), beruflich (Schriftsteller), aber auch gendermäßig (weiblich) etc. Darüber hinaus tauchen Begriffe von Vertreibung und Labyrinth relativ häufig im Werk explizit auf (auch zusammen), aber in unterschiedlichem Gebrauch,563 wobei man insgesamt sagen muss, dass abstrakte Begriffe (Motive) wie Identität, Gedächtnis, Erinnerung564 oder verwandte Begriffe wie Exil,565 Asyl oder Fremde 561 Vgl. dazu auch die Stelle in VL, 331f., wo Fannys vorherige Geschichte »erzählt« wird. 562 Für die Figur der Fanny scheint die reale Figur der Mechthild aus dem Bekanntenkreis Gruenters Pate gestanden zu haben, deren Mann zwar nicht verstarb, der sie aber verließ. Vgl.: VL, 21: »In der ersten Zeit nach dem Tod ihres Mannes war sie auf mythische Themen der Zerstückelung fixiert: sie machte isolierte Figuren mit abgeschlagenen Händen und Füßen, Figuren, denen die Eingeweide aus dem Rumpf quollen, Figuren mit zerschnittenen Augen oder in deren Köpfen Scherben steckten; darauf folgte eine monatelange menschenleere Phase, in denen (der?) sie sich nur Motiven der unbelebten Dingwelt widmete: Blutlachen aus Onyx, dem roten Teppich aus Spiegelsplittern, der zu Agamemnons Empfang bei seiner Rückkehr ausgerollt wurde, Torflügeln aus Marmor, unter denen Blutrinnsale hervorrinnen, Granitöfen, an deren Türen Haarbüschel kleben; schließlich folgte eine Serie von Paaren, die sie unter dem Titel Liebesgeschichten aus dem Bois de Boulogne zusammenfaßte, lebensgroße Figuren aus Drahtgestell. Später umwickelte sie ihre Figuren mit Lappen und Verbänden und tränkte sie mit Jodflecken. Im Jahr darauf spannte sie sie in schneeweißen Gips.« 563 Siehe zu Vertreibung u. a. VL, 241, 247, 278, 284, 287 u. 289 (»in ihre Geschichte der Vertreibung«); siehe zu Labyrinth u. a. VL, 140, 249, 289 (»das Labyrinthische dieses Wortes wir«), VL, 290 (»hörte er Fernanda an einer anderen Stelle den Faden des Labyrinths aufgreifen«), VL, 308 (»und die kleine Seidenrolle am Ende des Fadens war der Faden, an dem Fernandas Labyrinth aufgerollt war«), VL, 319 (»ein Nachtfaden, geknotet im Labyrinth ihrer Träume«) VL, 335, 350, 370 etc. Vor allem auf VL, 140 wird der Begriff des Labyrinth zum einen auf die Moderne, zum anderen auf die Dialektik von Erinnern und Vergessen bezogen, wo es heißt: »[…] zu einer Zeit, wo er [Blok, Ergänzung SW] längst nur noch Einakter schrieb, die niemand aufführen wollte, denn die Theater, mit denen er zuvor gearbeitet hatte, hatten sich auf notwendigere Stücke eingestellt, als er es aufgegeben hatte, den Faden im Labyrinth der Moderne weiterzuspinnen, den Ariadnefaden, den Ausgang und das Ziel eintauschend gegen die Penelopearbeit des Vergessens und Erinnerns, des Auftrennens und Verknotens – des Aufblätterns verstaubter Anfänge […].« 564 Die gesamte Gedächtnisforschung auf Basis von Schacters »Searching for memory« (Schacter 2001) geht davon aus, dass Erinnerungen Identität schaffen, von daher wird die deutsche Übersetzung von Schacters Werk verständlich »Wir sind Erinnerung.« 565 Vgl. die Beschreibung Fannys (VL, 19): »Als Blok sie das erste Mal allein besucht hatte, saß sie, auch sie eine Deutsche im Pariser Exil, in ihrer kühlen Altbauwohnung am Hang des im Kern noch unangetasteten Belleville […].«

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etc. für ein literarisches Werk relativ häufig benutzt werden. Dazu gehört ebenso die Erwähnung der konkreten Vertreibung wie jene von Franziskas Familie, ein »deutsches Schicksal« wie es im Text heißt. (VL, 11, vgl. auch VL, 241) »Um anderen Geschichten vorzubeugen, meine Geschichte ist schnell erzählt. Ich habe eine weitverzweigte Familie in Deutschland, Vertriebene aus dem Osten, wie es so schön heißt, ein deutsches Schicksal. Jedes Jahr gibt es ein Familientreffen, und es gibt sogar eine Familienzeitschrift, die vierteljährlich erscheint. Sie alle wollen diese erzwungene Grenzüberschreitung rückgängig machen und bauen sich Jahr um Jahr, Stunde um Stunde, das Double einer verlorenen Heimat wieder auf. Angesichts so vieler Suche nach Heimat habe ich es vorgezogen, eine weitere Grenze zu überschreiten, die nach Frankreich.« [Im Original kursiv gedruckt, Ergänzung SW, VL, 11]

Die Familiengeschichte im weiteren Sinne, die Blok eher verschleiert (VL, 33), ist für Franziska von dem Wunsch getragen, »die verlorene Heimat in den vier Wänden wieder herzustellen« (VL, 15), denn daran »haftete noch der Rumpelkammergeruch jenes verschachtelten Familienkäfigs an, in dem Franziskas Familie ihr Dasein verdämmerte« (VL, 18).566 Zudem zeichnete sich diese Familie durch »Requisiten aus dem Osten« aus, wie eine Pelzmütze des Vaters (VL, 238567), die an Franziska weiter vererbt wurde. (VL, 14) Dieser östliche Einfluss Franziskas kommt Blok im Besonderen bei den vielen Umzügen568 zugute, die er Franziska überlässt, denn »sie hatte, vermutlich unbewußt vom Beispiel der Mutter in ihrer frühesten Kindheit geprägt, die Mentalität einer Flüchtlingsfrau, wie sie das nennt und die sich durch ein Zurechtfinden und Handanlegen an allen Orten und Situationen auszeichnet«: »[…] noch das schäbigste Hotelzimmer, das sie einmal auf einer Durchfahrtsstraße von Le Havre, dem Bahnhof gegenüber, für zwei Monate bewohnt hatten, als sie die Proben für eine Inszenierung seines Stücks dort anliefen, hatte sie mit ein paar Tüchern und Photographien in ein Gehäuse verwandelt. Blok wußte, welches Vergnügen ihr die Phase des Einzugs jedesmal machte, und er ließ es ihr, wußten sie doch beide, daß auch das neue Gehäuse unter der Hand in einem Provisorium für Durchreisende steckenbliebe – in einem Wartesaal,569 in dem in einem Zimmer eine verwelkte Rose in einer Flasche auf 566 Ausgerechnet Fanny, die nicht vertrieben wurde, meint zu Franziskas Geschichte bzw. deren Identität anmerken zu müssen, dass das »Ich auch immer ein Teil der Geschichte der Vorfahren ist.« (VL, 33). Bemerkenswerterweise erzählt Blok später in einer Art Ich-Erzählung die Geschichte von Franziska weiter, auch ihre Ankunft bei reichen »Verwandten im Rheinland« VL, 33: »Solange Franziska sich erinnern kann (aber sie erinnert sich schwer, und deshalb bin ich es, der ihre Geschichte erzählt, als ob einer des anderen Erinnerungsgefäß sein müsse. Aufbewahrer und Schichtenaufdecker, aufschreibt und zugleich Verfälscher der eigenen Geschichte, die, da niemand mehr, und am wenigsten Franziska, sie noch von sich selbst besitzt, auch die fremde ist, und deshalb immer wieder neu entworfen, erfunden, gefunden werden muß, vom anderen, von mir).« (VL, 34) 567 Als besagte »Erinnerungsstütze«. 568 VL, 14: »[…] acht während der elf Jahre ihrer Ehe«. 569 In der Analyse als transitorischer Raum.

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dem Fußboden stand, in einer anderen eine Pendule die falsche Uhrzeit zeigte und zu unvorhergesehenen Zeiten in eine hysterische Salve von Glockenschlägen in silbernstem Klang ausbrach, und in allen Zimmern alte Sofas mit heraushängenden Federn an den Wänden standen, die ihnen nach und nach geschenkt worden waren und von denen sie keins hatten abstoßen können, da sie es nicht übers Herz brachten, sich von den wenigen Flößen, Inseln (und Sofas sind eine Art Inseln in einer hektischen Stadt) zu trennen, auf denen sie sich während ihrer gemeinsamen Geschichten hatten ausruhen können.« (VL, 27f.)

Ebenfalls wird die Protagonistin Franziska über die Beziehung zu ihren Orten charakterisiert bzw. des »Gebrauchs« davon, zum einen durch das oben angeführte Hotelzimmer, zum anderen durch die Beschreibung ihres eigenen Zimmers, durch das Blok manchmal ging, »wenn sie nicht zu Hause war.« (VL, 28) Es wird darüber hinaus vom allwissenden Erzähler als Franziskas »Sammelsurium von Überflüssigem« und als »Verkörperung ihrer Erinnerungen« bezeichnet, die wiederum eine spezifische Funktion für ihr Leben haben, wie Blok feststellen zu können glaubt: »Es kam ihm wie ein aus Erinnerungsstücken errichteter Schutzwall vor, auch wie ein Rückzug in einer Kinderwelt, und der Rückzug überwog in seinen Augen das kindliche Entzücken, das der ursprüngliche Grund gewesen sein mochte, solche Dinge aufzuheben.« (VL, 30) Hervorzuheben bleibt in Hinsicht auf die Erzählung Bloks über Franziskas Familienerzählung, dass sich ihre Mutter »um Politik« nie gekümmert hat und sie den »sektenähnlichen Heimatkult der anderen über Westdeutschland verstreuten Ostvertriebenen ablehnte«. (ebd.) Herausgestellt wird des Weiteren, dass Franziska diese Überzeugung per se fremd blieb und ihr auf dieser Basis das Verständnis für jene Seite der Familiengeschichte fehlte, die mit der Flucht zu tun hatte. »[…] und so hat sie, glaube ich, nie verstanden, warum der Vater ihrer Kinder bei Kriegsende in das von ihnen bereits verlassenen Haus zurückkehrte und sich dort von den Russen gefangennehmen ließ, stellt euch vor, sagte sie, dieser Mann hat die Dummheit besessen, sich gefangennehmen zu lassen, zu einem Zeitpunkt, an dem jeder vernünftige Mensch sich bereits auf und davon gemacht hatte, zwölf Jahre später kehrte er zurück, beraubte sich des Vergnügens, seine geduldig wartende Kriegerwitwe je wieder zu Gesicht zu bekommen, sondern ließ sich blitzschnell scheiden und heiratete die Tochter eine holsteinischen Grundbesitzers, auf den Feldern er das Leben fortsetzen konnte, das er vor Kriegsausbruch geführt hatte.« (VL, 35)

Das Motiv Schlesien und jenes der Vertreibung werden hier noch einmal aufgenommen. Es wird diesmal aus der Perspektive Bloks über die Familie Franziskas »berichtet«, was er nur aus ihren Erzählungen kennen kann. Sie führt hierbei die von ihr angesprochene »Technik des Schreibens« über jemanden aus der Perspektive einer oder eines anderen weiter, um prinzipiell die Identität der Personen offen zu halten. Insofern wird jede Art von zu großer Nähe d. h. Identi-

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fikation aufgelöst, hier die Identifizierung mit dem Schicksal der »Heimatvertriebenen«, die nicht aus politischen Gründen als »eine Art Sekte« bezeichnet werden, sondern weil sie an einer falsch verstandenen Überzeugung und damit einer Art »fixierte Identität« festhalten und der Vater seine Rückkehr in das einst eigene Haus mit seiner Verhaftung bezahlt. Die Schilderung aus verschiedenen Perspektiven – es bleibt letztendlich offen, ob hier Bloks Perspektive eingehalten wird –, lässt Raum für unterschiedliche Annäherungen an das Thema mit der überraschenden Volte, dass der Vater »im Holsteinischen das Leben weiter führen konnte, das er vor dem Krieg geführt hatte.« Es ließe sich mit einiger Berechtigung die Frage stellen: Aus welcher Perspektive wird eigentlich gefragt, ob er sich des Vergnügens beraubte, »eine geduldig wartende Kriegerwitwe wieder in die Arme zu schließen, indem er sich scheiden ließ?« Es fällt schwer zu glauben, dass dies Bloks Position sei. Darüber hinaus wird der Begriff Identität im Sinne von Identitäten als Zugehörigkeit und Zuschreibung zu einer Gruppe benutzt. Überhaupt scheint die Frage nach der Identität eng mit der Frage nach dem Anderen und dessen Wirklichkeit zugleich verknüpft. »Die Frage nach der Wirklichkeit und die Frage wer bin ich? waren bei Blok eng miteinander verknüpft. Um es vorwegzunehmen: auch die Frage: was ist der Andere? gehört mit in diesen Komplex, aber da Blok sich erst in fünf Minuten erheben würde, um den Berg hinaufzusteigen und Fernandas Leben in der Rue Caulaincourt auszuspionieren, bleibt die Frage vorerst im Hintergrund.« (VL, 155)

In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie der Titel gemeint sein könnte. Paris wird ganz explizit als »Labyrinth« bezeichnet.570 Außerdem wird das Unheimliche und Wunderbare dieses »Alltäglichen« der Stadt aufgerufen, »ein Rest jenes Magischen, das in der Wirklichkeit verankert ist«. (VL, 50)571 Dazu benutzt der Erzähler den Begriff des Vexierspiels im Sinne der Erzeugung einer künstlerischen Illusion bei gleichzeitigem Durchschauen davon. »[…] und an das zu glauben – wenn auch nur als Vexierspiel, als durchschaute Illusion, versteht sich, wie Blok sich einredete, sein schlechtes Gewissen beruhigend, das ihn stets bei solchen Anfällen animistischer Phantasien überfiel – einem immer wieder ins Kindliche, Unverantwortliche und Spielversessene, Zurückstrebenden wie Blok zum Überleben notwendig war. Unverantwortlich? Kindlich? Spielversessen?«572

Man kann die Romane Gruenters ansatzweise selbst als »Poetologie« lesen, da sich viele versteckte Hinweise auf abstrakte Begriffe oder Methoden finden, al570 VL, 214, vgl. auch die Beschreibung VL, 166f. und VL, 294: »durch gut wattierte Räume«, das »Pariser Kaleidoskop«. 571 Vgl. auch: VL, 296: »Das Wirkliche, das Wunderbare oder beides zugleich […].« 572 An anderer Stelle wird davon gesprochen, dass Fanny Fernanda »ihr die in den Straßen um das alte Hafenviertel gärenden Geheimnisse von Paris« zeigen will (VL, 154) oder dass sie sich dort wie »ein Maulwurf bewegten, um an unbekannten Orten herauszukommen«.

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lerdings vorwiegend ex negativo, wenn man selbst eine Absage an eine Methode denn als Methode verstehen will. Im Gegensatz zu »Das Versteck des Minotaurus« hält sich die Anspielung auf antike Topoi trotz des Titels in Grenzen.573 Überhaupt finden sich im Roman im Verhältnis zu anderen Werken nur spärlich Anspielungen auf Zitate im Allgemeinen oder intertextuelle Bezüge. Eine Ausnahme stellt das Zitat von Breton dar, das Gruenter öfter in anderen Zusammenhängen gebraucht: »La beauté sera convulsive ou ne sera pas«. (VL, 166)574 Wie bereits hervorgehoben nimmt die Beschreibung Pariser Räume, aber auch konkreter »Erinnerungsräume« oder besser noch (individueller) »Gedächtnisräume« »einen großen Raum« ein.575 Die Erzählerin spricht von »psychischen Topographien« (VL, 75), von den wichtigsten Knotenpunkten des Musters, welche die Behausungen bildeten« (VL, 242) oder von selbst geschaffenen Räumen wie bei der Beschreibung der Ankunft in Tarduz (VL, 97, 126) oder explizit zu Paris (VL, 105). Dazu spielen Träume oder »verborgene Landschaften des Vergangenen« (VL, 179) im Sinne von Erinnerungen (VL, 186) eine besondere Rolle genauso wie Reminiszenzen an die Kindheit, die örtlich respektive räumlich gemacht werden wie »der leere Platz des verschwundenen Kinder-Ichs« (VL, 227) oder »Bruchstücke zerflossener Kinderbilder« (VL, 266). Außerdem wird vom »Labyrinth einer geschlossenen Gesellschaft« (VL, 209) gesprochen oder von »Wartesälen und Wortgestolpere« (VL, 210). Die verschiedenen Orte oder Landschaften der Erinnerung verweisen jeweils von neuem auf »diffuse Identitäten«, besser auf das kommemorativ künstlerische Spiel mit Identitäten im perspektivischen Wechsel der Protagonisten, bei dem sich gegenwärtige Räume mit Erinnerungsräumen vermischen. Dabei schimmern Kindheitsräume und »Flüchtlingskindheit« mit ihrem spezifischen »schlesischen Inventar« respektive Lokalkolorit wie Speisen oder Kleidung mit durch: »Durch die breite Fensterfront schimmerten, vom ersten Herbststurm aufgewühlt und grün angestrahlt, die chlorigen Wellenkämme eines hinter dem Haus angelegten Swimmingpools, und auf dem Glastisch stand der dampfende Anachronismus, umrahmt von Kindergesichtern und Hälsen in weißen Stehkragen, das Gedächtnis- und Begrüßungsessen, Linsen auf schlesisch, mit Essig, Möhren und Enteklein, und das Auto rollte, von der Autobahn abgefahren, über eine Landstraße am nördlichen Burgund durch längst abgeerntete Kornfelder; die sich in der Dunkelheit dehnenden Stoppelfelder und das Wort schlesisch ließen das Auto durch eine imaginäre Landschaft fahren, in der sich dieser kahle und einförmige Teil Burgunds mit den von kontinen-

573 Wie der Ruf aus dem Schattenreich (VL, 50), der Bezeichnung von Orpheus und Euridike im Untergrundbahnschacht (VL, 199), Ikarus (VL, 211), Rolle der Galathee (VL, 216), Reise nach Cythera (VL, 215), Athene, Zeus und das Labyrinth (VL, 249) o. ä. 574 Vgl. auch VL, 168: »L’amour, c’est une rêve du mutilé illuminé.« 575 Wie z. B. das Rheinland, Wuppertal, Düsseldorf, VL, 66 (die Kunstakademie) oder Neuss z. B. VL, 63f.

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talen Sommern ausgedörrten Landstrichen von Franziskas nur wie ein Streifen am Horizont in ihrem Gedächtnis noch vorhandenen Kindheitserinnerungen vermengten, die nur in wenigen Photographien und Erinnerungssprengseln – die Pelzmütze des Vaters, eine Schlittenfahrt, eine Winterlandschaft – in ihre zweite, in ihre Flüchtlingskindheit hineinragte […].« (VL, 238)

In fast Proustscher Manier werden Kindheitserinnerungen aus Schlesien durch die Erinnerung an die Mahlzeit, dem »dampfenden Anachronismus«, bzw. der Wahrnehmung einer nordburgundischen Straße aktiviert und mit dem Jetzt verbunden oder vorhandenen Kindheitserinnerungen vermengt, die nur noch als wenige Stützen der Erinnerung wie auf Postkarten vorhanden sind. Wenn man denn so will, wird auf gewisse Weise das Thema der politischen wie kulturellen Vertreibung in der ästhetischen Gegenwart aktualisiert, ein Thema, das in den Lebensgeschichten und Familienerzählungen vieler Bürger der Bundesrepublik Deutschland durchaus präsent war. Ansonsten fällt aber auf, dass dieses Thema für Gruenter darüber hinaus als Stoff wenig bedeutsam war. Zum einen hing dies mit ihrer Abneigung gegen die Vereinnahmung der Literatur oder Kunst durch Historisches und Politisches zusammen. Auf der anderen Seite weist sie an einer anderen Stelle im Zusammenhang mit dem Thema »Exil und Vertreibung« darauf hin, dass »sie nicht genug unter der Schuld ihrer Väter« leiden würde und sie dementsprechend »ihre Literatur nicht der peinvollen Aufarbeitung von Familiengeschichte und Faschismus widme.« (Gruenter 2002, 63) Dennoch taucht das Motiv Schlesien als Erinnerungslandschaft der Familie bzw. der Eltern fiktiv im Roman auf, in den Requisiten wie Spielzeugen der Kindheit im Sinne von Benjamins »Gedächtnisorgel«. »Keiner von uns ist jemals nach Schlesien gefahren, sagte Franziska, es existierte in unseren Köpfen wie die Landschaften aus unseren Puzzlespielen, es existierte in den bunt bemalten, von zurückliegenden Verwandten zu Weihnachten geschickten Holzpferdchen uns Karussells, deren Dach wie die Flügel einer Windmühle gebaut war, sich zu drehen begannen, sobald die Flammen der rund um den Rand des Karussells gesteckten Kerzen genügend Wärme ausströmten, es existierte in den aus Schuhkartons ausgepackten, auf der langen Reise hart gewordenen Pfefferkuchen, die in der vollgestopften Küche mit dem ovalen Bullaugenfenster auf dem Tisch lagen, und nun also, fiel Fernanda ein, gab es die Wiederauferstehung einer zweifach gebrochenen Erinnerung aus der Suppenterrine, die Kinder öffneten die Münder als sängen sie im Kirchenchor am Sonntag, gleichwie der Regten vom Himmel fällt, und ich dachte, man müsse ein gemeinsames Gericht haben mit jemanden aus früheren Zeiten, eine kleine sentimentale Gedächtnisorgel aus Linsen und Entenherzen.« (VL, 246ff.)

Insofern kann der anfangs vielleicht etwas seltsam und überraschend anmutende Titel so interpretiert werden, dass es sich um eine Vertreibung aus dem be-

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kannten Spiel mit Identitäten handelt.576 Zugleich liegt hier eine »Nuancenverschiebung« vor577 sowie ein Wechsel bzw. künstlerischer Übergang von der Perspektive einer Figur zur anderen. Die dargestellte Vertreibung setzt sich aus einer Dialektik von Vergessen und Erinnern zusammen, wobei letztendlich durch Erinnerung und Gedächtnisleistungen eine nur vermeintliche Identität geschaffen werden kann (VL, 161), wenngleich nicht einmal diese sich durchhalten lässt, selbst wenn man bereit ist, sich auf das Labyrinth der Moderne (und den Riss der Zeit oder Epoche) einzulassen wie es der Protagonist Blok, zunächst versucht. In diesem Sinne bezeichnet Gruenter dieses Werk als den »Weg einer Suche«.578 Aber selbst aus dieser Referenz auf das Labyrinth der Moderne579 bzw. der Kunst wie zugleich der Sprache und Literatur erwächst für den sich darauf Einlassenden, sprich hier den Protagonisten (aber gleichfalls den Leser), keinesfalls eine Art fester Identität, sondern nur eine im Sinne von »Möglichkeitsfiguren«. (VL, 187, vgl. auch 254 u. 268) Im Prinzip wird Blok aus den vermeintlichen Sicherheiten und dem von ihm geschriebenen Stück wieder vertrieben. Hier wäre mit Schmeling zu behaupten, was dieser allerdings für das Werk »Das Versteck des Minotaurus« herausstellt, dass es sich um eine Art Metaroman, Roman über einen Roman bzw. das Schreiben handelt, dessen Ariadnefaden an verschiedenen Stellen aufzuheben ist wie eine Art Anleitung, der aber immer wieder auf diesem Weg – dem methodus – wieder verloren geht oder der losgelassen werden muss im Sinne »eines Risses, der nicht aufzuheben« ist. (VL, 278) Gegen Ende des Romans hin findet sich eine längere Passage (in einer Art eingefügter Erzählung) über das berühmt berüchtigte Hotel Lutetia, das zur Zeit der deutschen Besatzung, zunächst von den exilierten Intellektuellen (LutetiaKreis), dann symbolischer Weise von den Nationalsozialisten benutzt wurde (VL, 357). Dorthin wird Fernanda von Franziska gebeten, »um das Gespräch zu neutralisieren, das sie dort habe führen müssen.« (VL, 358) Blok stellt einige Vermutungen an, warum er Fernanda ausgerechnet in so einem Hotel begegnen muss:

576 Vgl. VL, 185 und 299: »[…]es sei die Nacht der Vertreibung«, in Anspielung auf die MosesGeschichte. 577 VL, 443, aber nach Gruenters eigener Einschätzung vor allem Kapitel VII. 578 VL, 443, vgl. auch 446, wo sie einen nicht näher bezeichneten Text auf die Personenkonstellation zielend wie eine »Variation« auf das Labyrinth liest. Im weiteren Verlauf spricht sie davon im Zusammenhang von »Bazons Brocks dickem Buch.« (ebd.) Hier ist wahrscheinlich Bazon Brocks Werk Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978–1986. Köln: Du Mont Buchverlag 1986, gemeint (558 Seiten). 579 Was im Übrigen in »Das Versteck des Minotaurus« ganz explizit so genannt wird.

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»Ich habe dich gesehen, sagte Blok zu Fernanda, als sie zu viert, verteilt auf Sessel, Stuhl und den Diwan in der Nische, an ihrem eiskalten Alligoté nippten, ich habe dich gestern das Hotel L U T E T I A betreten sehen (und die beschlagenen Gläser nahmen das Morgenlicht auf wie milchige Mondseen), was macht ein Mädchen am späten Nachmittag, ein Mädchen mit dem Taschengeld einer Au-pair-Aushilfe, in einem Hotel wie dem L U T E T I A, fragte er, in die Runde blickend, ist sie verabredet mit einem Verehrer aus der ein Stück weiter oben am Boulevard Raspail gelegenen Alliance Francaise, um über Feinheiten von en und y zu diskutieren, geht sie zu einer Modenschau, möchte sie in Ruhe ein Buch lesen, sucht sie einen Job als Telephonistin –.« (VL, 356)

Während dieses Gesprächs erscheinen Blok Bilder seiner ihm erzählten Vergangenheit, diejenigen seines Onkels wie seines Vaters zu Kriegszeiten im Hotel Lutetia, die scheinbar oft Thema oder Gegenstand innerhalb der Erzählungen des Familiengedächtnisses waren.580 Dadurch wird eine Schicht der Erinnerung freigelegt, die bei Blok ins Vor- oder Unterbewusste abgerutscht war, da »Blok seit Jahren jede Verbindung zu seiner Familie abgebrochen hatte.« (VL, 359) So vermischen sich die Zeitebenen, werden quasi zu einem Raum, so dass Blok den Eindruck hat, Franziska, der er diese Geschichte oft erzählt, hätte mit seinem Onkel gesprochen und Fernanda sei bei dieser Begegnung dazu gestoßen.581 »Als sie zu den beiden gestoßen sei, die tief in den roten Polstern, versteckt im hinteren Teil der Halle gesessen hätten, habe der Onkel in Erinnerungen geschwelgt, denn er hatte Paris seit den Fünfziger Jahren nicht mehr besucht; Paris sei häßlich geworden, habe er behauptet, der Charme der Quartiers, die Eleganz der großen Cafés sei dahin, und er betrachtete es als unvergleichliche Chance, im Winter 40/41 hier stationiert gewesen zu sein, denn es sei die letzte Gelegenheit gewesen, das Paris des 19. Jahrhunderts kennenzulernen, das verschwiegene und das mondäne, das populistische, das ländliche und das vergnügungssüchtige, und das Paris der Besatzung habe über seinen Glanz hinaus eine zusätzliche Dimension erhalten, eine Dimension der Weite, der Leere [Hervorhebung SW], der Erhabenheit – falls du verstehst, was ich meine, habe er, sich zu Franziska vorbeugend und seine Hand auf ihren Arm legend, gesagt.« (ebd.)

Darüber hinaus werden Bloks Onkel sowie der Vater und die Mutter erwähnt. Von den Protagonisten und ihrem Zuhause wird als »im Labyrinth ihrer Einbildungen« (VL, 370) gehandelt. Das Werk wird von einem Fest beschlossen, auf dem einige der genannten Bekannten auftauchen (z. B. der Handschriftenexperte und seine Frau, VL, 368), das aber Blok zugleich als ein »Fremder im eigenen Haus« erscheinen lässt. Es entwickelt sich eine Atmosphäre wie »nach dem Fest […]«, die alle seltsam illusionslos zurück lässt (VL, 381), so als könnten sie sich im Haus nun nicht mehr hinter den Masken, den eigenen Rollenspielen wie denen der anderen bzw. vermeintlich angenommener Identitäten verstecken. 580 Zum Begriff des Familiengedächtnisses siehe Welzer (42017), vgl. Anmerk. 337 und 516. 581 Es bleibt offen, ob der Onkel wirklich dort anwesend gewesen sei oder ob es sich nur um Bloks Assoziation handelt.

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Das Ende des Fests hat etwas von der Stimmung des Todes oder von Ende deines Rausches. Gruenter stellt sich vor, dass dem Werk ein Motto von Leiris aus dem »Band am Hals der Olympia« (Leiris 1983, 12)582 voranstehen könnte: »Da er nicht alles, was er im Kopf hatte, restlos auf die Fläche seiner Haut eintätowieren konnte, entschloß er sich – zu vergessen, wie er war, auf Totalität, als daß er es hätte akzeptieren können, diesen oder jenen Teil seines Körpers, den seine Hand nicht bequem zu erreichen vermochte, unbeschrieben zu lassen -, das, was er von sich zur Kenntnis geben wollte, dem Papier anzuvertrauen und nicht jener fernen Hülle, die allein dem Gesunden fehlt. Aber trotz der unzweifelhaften Vorteile […], über einen weniger beschränkten Raum zu verfügen, […], etwas Dauerhafteres als sich selbst zum Träger seiner Botschaft zu machen, blieb es doch ein Notbehelf: auf diesem indirekten Wege – sich auf ein Bildfläche zu projizieren, anstatt unmittelbar mit seiner eigenen Person dafür zu zahlen und sich von Kopf bis Fuß mit Inschriften und Bildern zu bedecken, […] zum Gegenstand einer Art Einlegearbeit gemacht hätte, das zum Bersten voll wäre mit Zeichen und keinen toten Punkt duldet.« (AS, 437)

In diesem Werk greift erneut »Gruenters Technik«, Orte und Räume über Schauplätze hinaus zu Phänomenen zu machen, die die »Handlung« vorantreiben. Dabei »kristallisieren sich die Gegenstände aus den Dingen selbst heraus« im Sinne des besagten »Imaginationsraums« (AS, 477) als »einen Raum – ohne Wände oder wenn, mit transparenten, verstellbaren«. Sie spricht in dieser Beziehung von der »ästhetischen Innovation«, jener Spannung zwischen erinnerten Bruchstücken und der je neu zu findenden Form der Fiktion. »Prozeßcharakter, bei dem nichts zuvor Gegebenes (Raum/Form) (Inhalt/Imagination) feststeht, sondern der Imaginations-Raum hat sich am (zufälligen) Ende eines Textes herausgebildet (kein Ergebnis eines architektonischen/berechenbaren Plans). Das heißt, das ganze Gerede von der Struktur der gotischen Kathedralen nachgebildeten Architektur der Recherche zum Beispiel, ist der notwendige Irrtum eines Schriftstellers über seine eigene Anlage von Motiv-Verstrebungen. Diese Verstrebungen sind eher Echos, Wiederholungen etc. Aber der Plan löst sich gerade auf im (zufällig/notwendigen) Druck der poetischen Assoziation. Der Kathedralen-Idee liegt die Idee eines Kunstwerks (Romans) als geplantem, geschlossenen Ganzen zugrunde (JerusalemStadt), die aber durch Zer-Dehnung, Assoziationswucherung und fragmentarische Schluß-Bände von selbst überholt werden. Die Idee vom offenen Kunstwerk wurde im Prozeß des Schreibens entdeckt, ohne so benannt zu werden.« (ebd.)

Dieses Zitat könnte geradezu als Gruenters ästhetisches Credo verbucht werden, in dem Sinne, dass sich der Imaginationsraum aus dem Text herausgelöst bzw. -gebildet hat. Wieder spricht sie von Motiv-Verstrebungen ähnlich einer gotischen Kathedrale, die einen Echo-Raum ergeben. Diese Idee wird durch Ver582 Leiris bezieht sich im Titel auf das Bild Manets »Olympia« von 1862. Vgl. hierzu: Helmut Pfotenhauer: Untersuchungen zur Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000.

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änderungen, Fragmentarität oder Assoziationen, Dehnungen und Zer-Dehnungen aufgelöst und auf diese Weise offengehalten zugleich. Etwas zugespitzt ließe sich behaupten, dass Gruenter in »Vertreibung aus dem Labyrinth« das lineare Zeitparadigmata und herkömmliche Raumschema durch ein gleichzeitiges Nebeneinander poetischer Räume ersetzt, sich auf jene Doppelbedeutung von Chronotopos bezieht und auf die metaphorisch nicht zu trennende Beziehung von Raum und Zeit rekurriert, wo sie sich gegen ein rein lineares Zeitverständnis im Bild des Aufstoßens von Türen wehrt und auf diese Art das Problem der Zeitlosigkeit im Roman illustriert: »4. Februar 1992. [Jahreszahlergänzung SW]. […] Türen werden weder aufgestoßen noch verschlossen, der lineare Prozeß, der hinter dem Bild des Türaufstoßens liegt (linear nach rückwärts, in die Erinnerung, und nach vorwärts, in die wiedergewonnen Erinnerung) wird ersetzt durch den der Transparenz (das Diaphane), die Zeiten liegen nebeneinander, getrennt und gegeneinander durchlässig durch türlose Übergänge transparenter Vorhänge, die fast nur Luftbewegung sind.« (AS, 480)

Sie führt darüber hinaus weiter aus, dass »Personen, Verhaltensweisen, Ereignisse, Gegenstände etc. nur als Geschichtliches zu denken« sind, aber für sie sich dieses Geschichtliche im Kontingenten, im Detail niederschlägt. Insofern wehrt sie sich gegen eine Konzeption von Zeitlosigkeit »als reaktionärem Element eines antigeschichtlichen ontologischen Denkens« – […] und setzt dagegen »ein Modell der Verschiebung, eingesetzt gegen das der Entwicklung.« (ebd.) Besonders auf dieses Werk Gruenters bezogen ließe sich mit Müller (Müller 2017) behaupten – und hier geht sie der Theorie in der Tat als Erzählerin voran –, »dass nicht der Mensch den Raum hervorbringt, sondern der Raum den Menschen« generiert und »daß der Mensch nicht begreifbar erscheint, ohne jenen Part oder »Handlungsraum«, den er selbst schafft, den er bewohnt bzw. sich dort wenn auch nur in vermeintlichen Erinnerungen aufhält.

5.2.3. Textzimmer und Zeit-Raum: Epiphanien, abgeblendet Das chronologisch darauffolgende Werk »Epiphanien, abgeblendet« wird von den Kritikern deshalb herausgestellt, weil es auf seine Art einzigartig in der deutschsprachigen Literatur ist. Die aus Dessau stammende, bei Straßburg lebende Komponistin Annette Schlünz fühlt sich durch dieses Werk besonders »im Hinblick auf Stimme und Szene inspiriert« und findet sich »in diesem Text der französisch inspirierten Poesie« besonders wieder (Brief vom 27. 05. 1997583), was 583 Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie. Annette Schlünz hat außerdem für das Musikfestival 2002 Dresden Auszüge aus »Das Versteck des Minotaurus« (Abendamsel) vertont, was dort uraufgeführt wurde. Zudem wurden zwei Teile der »Epiphanien«

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sich für sie bereits im Anfangssatz äußert: »Aber die Liebe sagte sie, und blickte sie an. Pst. Pst. Pst, machte er und legte ihr die Hand aufs Gesicht.« (EA, 5) Im Gespräch zwischen Köhler und Matz im Literaturarchiv Marbach, auf das sich mehrmals bezogen wurde, kommen beide dahingehend überein, dass es eines der wichtigsten Werke Gruenters darstellt. Köhler spricht in diesem Zusammenhang gar von ihrem »Lieblingsbuch Gruenters«, es sei ein ganz eigentümliches und eigenes Werk, weil »Gruenter hier eine ihrer Person angemessene Form gefunden hätte«584, ohne äußere Zwänge, weshalb es zugleich so schwer bestimmbar bleibe. Es sei in erster Linie eine Art Prosagedicht in französischer Tradition: keine Erzählung, keine eigentliche Beschreibung, sondern das Evozieren von Augenblicken oder Momenten, von blitzhaften Erscheinungen (Epiphanien), Bildern und Stimmungsbildern. Ein Mann und/oder eine Frau kommen in ein Zimmer, die Kulisse wechselt wie im Traum oder wie in einem »großen Gedicht«, wie dem späteren Poem »Unter dem Horizont«, hin und her. Deshalb lässt es sich schwer zusammenfassen. Es werden zugleich Zeiten wie Orte beschrieben, die sich ineinanderschieben bzw. verschieben. Nach Köhler gibt es drei »Protagonisten: die Frau, den Mann und die Liebe« und Szenen, die mit und an ihnen durchgespielt werden, in denen sie einander verfehlen und nicht zusammen kommen können, und doch immer wieder zusammentreffen, so dass gemäß dem zuvor Gesagten, der Raum wesentlichen Einfluss auf die Personen und deren Interaktion ausübt. Von dem Phänomen oder Motiv Zeit vorwiegend auf »Epiphanien, abgeblendet« bezogen, wurde bereits ausführlich gehandelt (Öhlschläger, Benz, jeweils 2013). Der Verfasser behält sich im Zusammenhang mit diesem Werk wiederum vor, sich weiterhin auf die Interpretationskategorie Raum zu konzentrieren, um das Werk hermeneutisch zu öffnen und das zum Teil verunmöglichte Verständnis, wie das Fremdbleiben der Personen, zu erhellen. Bei dem Werk geht es größtenteils um die Darstellung von Träumen, Tagträumen, Assoziationen etc. einer Protagonistin, die an einem Ort spielen, in einem Raum, in einem Zimmer, das wie eine Art Körper beschrieben wird. Das Zimmer ist Schutzraum wie Ausgang zur Welt zugleich, womit der Roman eröffnet wird: »Eines Tages trat er ins Zimmer, legte sein Notizbuch auf den Tisch, blickte gedankenverloren in die kahl gewordenen Räume vor dem Fenster und

am 08. 09. 2020 im Offenbacher-Klingspor-Museum innerhalb der Veranstaltung stilltönend unter den Apfelbäumen innerhalb der Konzertreihe Klangspur – Neue Musik im Klingspor zusammen mit Vertonungen von Hölderlin präsentiert, die vom Hessischen Rundfunk am 24. 09. 2020 gesendet wurden. Zudem schreib Annette Schlünz noch ein Stück »Hortensien« (nach dem Werk von U. Gruenter), das am 29. 08. 2002 in der Akademie der Künste uraufgeführt wurde und im Verlag Boosey & Hawkes erschien. 584 Auch Bohrer hatte auf die große Bedeutung des Werks hingewiesen (vgl. Anmerk. 147).

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begann ohne weiteren Aufschub mit seinem Vortrag.«585 Die Verbindung von Protagonisten und »Handlungen« wird allein durch das Zimmer hergestellt, alles andere sind »Tätigkeiten« bzw. Beschreibungen, die nichts direkt miteinander zu tun haben. Hier ließe sich biographisch anschließen und hinzufügen, dass Gruenter viele spätere Jahre ihres Lebens nur noch in Zimmern, später nur noch in einem Zimmer, verbracht hat,586 so dass die folgende Stelle in diesem Sinne sogar gegen die Intention der Autorin biographisch verstanden werden könnte: »Zeit hatte sie, am Fenster zu stehen und zu beobachten, etwas auf der Straße vor sich ging. Im Haus schräg gegenüber flatterten fast täglich Strümpfe an einer Wäscheleine, und an manchen Morgen streckte sich einer bleichen Hand aus dem Fenster und hängte einen Morgenrock zum Auslüften an die Leine, der schwankte an einem Holzbügel wie eine riesige flauschige Puppe über die Straße.« (EA, 88)

Beinahe jede Art von Bewegung oder Beschreibung von Tageszeit wird auf dieses Zimmer bezogen, ob ein »Gartentor im Zimmer klappte« (EA, 22), ein »Mann ins Zimmer zurückkehrte (EA, 18), es »im Zimmer Abend war« (EA, 14), »der Tod eintrat« (EA, 15, 97), die Liebe […] ins Zimmer trat (EA 99) oder das »Zimmerschloß« einrastete (EA, 84). Wie auf Fotographien oder impressionistischen Bildern wird dem Licht und der Tageszeit besondere Beachtung geschenkt: »Das Mondlicht lag bläulich auf dem Parkett wie in gewissen Poemen, und ein Strahl fiel gleich ins Türschloß, das in der Nacht vergrößert und aus der Tür geschnitten schien wie ein Fenster, hinter dem ein blühendes Tulpenfeld wogte.« (ebd.) Das Zimmer bietet eine Kulisse, eine Art Drehbühne für die Assoziationen der Erzählerin, wozu diese in Analogie zu anatomischen (Körper-) Bildern ausführt: »Das Zimmer war eine atmende, kaleidoskopisch sich drehende Zellmembran, durch die die Bäume von draußen zogen, und erst jetzt sah er, daß sie im Zimmer war, daß sie den Sessel ans Fenster gerückt hatte und das Treiben auf der Straße beobachtete, denn in der aufflammenden Beleuchtung war sie fast schwarz geworden wie ein Schatten. Gleich darauf erlosch der Himmel und das Zimmer lag in fast vollkommener Dunkelheit. (EA, 68)

Nur in wenigen Prosastücken587 wird das Zimmer als Motiv nicht explizit angeführt – aber gerade in diesen Kapiteln ist es durch die Art der indirekten Beschreibung omnipräsent. Genau in jenen Prosastücken, in denen es nicht aus-

585 Das komplette erste Kapitel erscheint mit dem gleichen Text in »Der Autor als Souffleur«. (AS, 79) 586 Matz weist in dem Gespräch mit Köhler darauf hin, dass Gruenter werkgeschichtlich immer engere Grenzen gezogen bzw. abgesteckte Räume entwickelt hätte: etwa Paris, dann die Rue Robert Planquette, die Wohnung dort, ihr Arbeitszimmer etc. 587 Im Text in lateinischen Zahlen beziffert: XIY, XVIII, XXI, XXII, XXV, XIX, XXX–XXXIII, XLII, XLV und L.

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drücklich genannt wird, spielen Teile des Zimmers wie das Fenster, die Tür,588 der Boden, der Tisch, der Flur, die Wohnungseinrichtung (EA, 62f.), vornehmlich aber das einfallende Licht (und damit die Tageszeit), das Bett589 und der Schlaf eine signifikante Rolle, indem sie »wie eine sich drehende Zellmembran« den Kontakt zur Außenwelt widerspiegeln (vgl. EA, 63). Dies wird um Allegorien respektive Symbole ergänzt, die die Protagonistin »heimsuchen«. »Das Stück, der Film, die in diesem Buch aufgeführt werden, könnte heißen ›Die Zeit und das Zimmer‹ oder ›Zimmer mit Aussicht‹. Es treten auf: mehrere Männer und Frauen. In den Hauptrollen: die Liebe, die Kunst und der Tod.« (Köhler 1993, ebd.)

Zudem verbinden sich in diesem durch die Wahrnehmung geschaffenen Raum disparate oder Phänomene der Polarität im Goetheschen Sinne,590 die eigentlich nicht miteinander zu verbinden sind: die Nähe und Ferne, der Augenblick und das Ewige, das Veränderliche und das Unabänderliche, verschiedene Jahreszeiten, das Leben und der Tod, das Weibliche und das Männliche, Vergangenheit und Gegenwart, das Magische und das Reale, das Alltägliche und das Künstl(er)ische, das Sprachliche und das Unaussprechliche, das mit der Interjektion Pst wieder zurück zu nehmen versucht wird. Unter der Voraussetzung, dass Poesie die Funktion hat, zu synthetisieren im Kantischen Sinne, scheint dies hier in Vollendung gelungen. Bohrer bemerkt bezogen auf die Genese des Werks, dass »nicht so sehr dieser Schluss ein unmittelbarer Schlüssel für unser Leben« sei, sondern dass es vor allem einen bedeutenden Unterschied in ihrer beiden Denken markiert hätte: »Während ich noch immer das »Ereignis« erwartete, hatte sie davon Abschied genommen. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass das »Ereignis« sich verlieren könnte«: »Die Angst davor hatte mich dazu gebracht, das Thema der emphatischen Plötzlichkeit in negativer Richtung zu komplementieren. Es gab ja auch die kontemplativ-negative Plötzlichkeit: einen Augenblick, der im Empfinden schon verging. Es […] hatte die moderne Literatur dieses Thema markiert, […] Goethe schon im 18. Jahrhundert und 588 Vor allem die Tür wird in diesem Zusammenhang zentral, vgl. EA, 30: »Die Tür stand einen Spalt offen, und vor der Tür hörte sie ein leises Scharren. Der Wind hatte durch ein offenes Fenster Sand in den Gang geweht, der knirschte unter den Füßen, die hin und her gingen. Als sie die Tür schließen wollte, stand ein Mann im Schatten des Gangs, der trug einen selbstgestrickten, über der Brust gekreuzten Schal und ein fadenscheiniges Mäntelchen aus Kamelhaar, das über den Kniekehlen endete.« Vgl. auch EA, 74: »Er öffnete die Tür und dachte, er habe sich im Zimmer geirrt. Er trat zurück und zählte die Türen. Der Hausflur roch wie immer feucht und ein wenig schimmelig, und über die ausgetretene, enge Treppe kam ein eiskalter Luftzug von unten herauf. Die Tür war die richtige.« Vgl. auch EA, 84: »Ein Geräusch vor der Tür hatte sie geweckt.« 589 Vgl. EA, 81. 590 Vgl. Goethes Aufsatz Polarität. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. 24 Bände. Hg. v. Ernst Beutler. Zürich: Artemis 1950, Bd. 16, 863f.

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die beiden bedeutenden Lyriker des 19. Jahrhunderts, der italienische Dichter Giacomo Leopardi und der französische Dichter Charles Baudelaire. Es folgten Kafka, Nathalie Sarraute und andere Autoren im 20. Jahrhundert.« (Bohrer 2017, 379ff.)

Erneut kommt auf diese Weise in den kleinen Prosastücken oder Miniaturen Gruenters bereits festgestellte Vorliebe für Stillleben591 zum Ausdruck im Sinne des statisch damit räumlich gemachten Augenblicks kurz vor dessen Vergehen. »Undine Gruenter liebt die kostbaren Arrangements in der Manier alter Meister, den ›Stich ins Watteau-Seidige‹ und das Kolorit der französischen Bohème: Tanzmusik, schwere dunkelblaue Samtvoglieren und der Schein einer Straßenlaterne auf leise knarrendem Parkett, hohe Stühle, blinde Spiegel, Rotweinflecken und ausgekernte Schalentiere auf einer weiß gedeckten Tafel. Stadt, Land, Fluß erscheinen wie Sinnestäuschungen vor dem Fensterausschnitt im Zimmer, ›während eines eisigen Windhauches zwischen den Wänden weht‹.« (Köhler 1993, ebd.)

Bezogen auf dieses Werk spricht Köhler mehrmals davon, sich dabei aber auf das Gesamtwerk beziehend, dass es zusammengesetzt sei aus den »Resten der Welt«: »›Eine Rolle aus bunten Garnresten‹ bestimmt das poetologische Gesetz der Epiphanien als Weg-da-Spiel, bei dem ›das Verlangen nach Glück gegen besseres Wissen‹ durchschlägt: ›Auswerfen, verschwinden lassen und zurückholen.‹ Abblenden, Schlußklappe, Vorhang. Das liegt am mikroskopisch Kleinen, am Punktuellen, auf das sich die Handlung jeweils verdichtet, und am Assoziativen, an den Auslassungen und Sprüngen, die eine Kausalität in den Texten kaum zulässt.«592

Sie stellt hier eine doppelt religiöse Allusion heraus, die im Sinne Gruenters dann wieder aufgelöst wird: einmal die Beziehung zu einem mittelalterlichen Stundenbuch,593 eine Art Gebets- und Andachtsbuch für Laien, später für Kleriker, sowie zum anderen die Verbindung zum ursprünglich religiösen Begriff der Epiphanie. In diesem Zusammenhang vertritt sie die Auffassung, dass es in der »deutschen Literatur nichts Vergleichbares« geben würde. Für sie wird die Liebe »personalisiert« und zugleich »verortet« SIE diese, indem sie »ins Zimmer tritt« oder »über den Hügel geht«: »Eines der schönsten Bücher Undine Gruenters ist »Epiphanien, abgeblendet« […]; ein schmales, phantastisch illuminiertes Stundenbuch mit Nachrichten aus einer von Geistern bewohnten Welt. Es enthält 56 kurze Prosastücke, 56 magische Augenblicke zwischen dem Mann und der Frau, dem Tod und der Liebe, poetische Miniaturen, die so fein gegliedert und durchscheinend sind wie die Flügel mancher Insekten und nichts Vergleichbares haben in der deutschen Literatur. Epiphanien eben, in denen die Liebe 591 Vor allem klassischer Meister wie Chardin oder Watteau. 592 Werner Spieß, Rezensionsnotiz zu FAZ, 05. 10. 2010. 593 Hier ließen sich wieder Beziehungen zu Rilkes »Stundenbuch« herstellen. Stundenbücher kamen im 13. Jahrhundert auf und waren vor allem in Frankreich und Flandern weit verbreitet. Der Begriff wird genannt, vgl. EA, 59f.

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lautlos ins Zimmer tritt oder über den Hügel geht in einem zerschnittenen Kleid, aufund abgeblendete Szenen, in denen der Tod vor Ladenschluss kommt und eine Frau und ein Mann einander wechselseitig verfehlen […].« (Köhler 1993, ebd.)

Es sei kurz auf die Herausgabe und die Wirkung des Werks eingegangen. Das Werk »Epiphanien, abgeblendet« erschien im Jahre 1993 bei Suhrkamp und wurde 2010 noch einmal posthum herausgegeben. Bohrer weist darauf hin, dass das Werk nicht wie sonst alle ihre Werke bei Hanser, sondern in der »edition suhrkamp« erschien und nennt es »das Interessanteste« was sie bis dahin geschrieben hatte: »Nachdem die Erzählung Nachtblind ihr viel Kritikerbeifall eingebracht hatte, der Roman Vertreibung aus dem Labyrinth dagegen distanziertere Reaktionen, waren als erstes Produkt des neuen Stils Prosastücke unter dem Titel Epiphanien, abgeblendet erschienen, die das Interessanteste waren, was sie bislang geschrieben hatte. Das kam nicht in ihrem bisherigen Verlag heraus, sondern in der edition suhrkamp.« (Bohrer 2017, 379)

Dies scheint insofern von Belang, als dass darauf hingewiesen wurde, dass viele von Gruenters »großen Werken« nicht im Suhrkamp-Verlag erschienen, obwohl sie sich darum bemühte, sie dort zu veröffentlichen. »Epiphanien, abgeblendet« ist ein quantitativ »kleines Werk«, das auf knapp 100 Seiten 56 Prosastücke beinhaltet, die nie mehr als 1½ Seiten, häufig nur eine Seite haben. Von diesem Werk lassen sich wiederum Beziehungen zu anderen Werken herstellen, wie Katrin Hillgruber im Nachwort zu »Pariser Libertinagen« schreibt: »Dabei lässt sich eine Tendenz vom Statischen bis Elegischen in längeren Werken, wie den 2003 posthum veröffentlichten Erzählungen Sommergäste in Trouville, hin zu einer Öffnung ins Ironisch-Burleske innerhalb der kleinen Form beobachten: Diese Eigenart war bereits in der Kurzprosa Epiphanien, abgeblendet (1993) erkennbar und manifestiert sich endgültig in den Pariser Libertinage.« (PL, 185)

Der Begriff Epiphanie594, wird häufig mit Theophania595 gleichgesetzt und bezeichnet in erster Linie das Fest der Erscheinung des Herrn am 6. Januar.596 Nach Hermann Lübbe verbleiben die religiösen Allusionen der Epiphanie in der modernen Literatur bzw. Geistesgeschichte.597 Gleichauf verweist auf Epiphanien als »Erscheinungen der Wirklichkeit« hin, die von der Autorin poetisch festgehalten 594 Aus dem altgriechischen ἐπιφάνεια epipháneia, lateinisch epiphanı¯a »Erscheinung«. 595 θεοφάνεια »Erscheinen Gottes«. 596 Dem James Joyce innerhalb der modernen Literatur in seinem Roman »The Dead« ein literarisches Denkmal setzte. Auch bei Joyce, auf den sich Gruenter bezieht, wird die religiöse Anspielung dekonstruiert, wenn wir an die Schlussszene denken, in der Greta Conroy ihrem Mann Gabriel gesteht, ihn nie geliebt zu haben. Vgl. James Joyce: The Dead. In: Ders.: Dubliners. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. 597 Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Freiburg: Karl Alber Verlag 2003.

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würden, Momente blitzartiger Erkenntnis entstehen lassen»598 oder wie es im Klappentext dazu heißt: »Eine Epiphanie ist eine plötzliche Erscheinung Gottes, eine Offenbarung. Zwei Menschen stehen sich in der Mitte eines Zimmers gegenüber, liegen im Bett, sie reden, sie streiten oder halten Vorträge. Und die poetisch-prosaischen Stillleben verweben sich zu wundersamen Kleinstgeschichten.« Spieß spricht in einer Rezension von »leidenschaftlichen Naheinstellungen.« (FAZ, 05. 10. 2010) In »Der Autor als Souffleur« finden sich einige Stellen, die auf die Entstehung des Werks hinweisen und dort wiederum zum Teil explizit auf die Bedeutung der Epiphanie eingehen, die sich wie ausgeführt ursprünglich durch einen religiösen Charakter auszeichnete, hier aber einen ganz anderen Gebrauch erfährt wie im Sinne von Joyce oder Benjamin als einer »jähen geistigen Manifestation« oder als »Rest jeder Subjektivität«: »Jener magische Augenblick, der bei Proust immer durch eine Rückkoppelung des Gegenwärtigen mit einem vergangenen, plötzlich Erinnerten sich einstellte, bei Joyce unter dem Begriff der Epiphanie als einer »jähen geistigen Manifestation« auftaucht, sprengte – obwohl schon bei beiden als reines Bewusstseinsereignis des Subjekts, ohne Verweis auf einen außerhalb des reinen Moments liegenden metaphysischen Bezugspunkt, aufgefaßt –, den Rahmen der reinen Punktualität: im einen Fall durch Erinnerung, durch Aufleuchten eines Vergangenen, im anderen Fall – vergleichbar jener von Benjamin so bezeichneten profanen Erleuchtung bei den Surrealisten – durch Antizipation, durch Aufleuchten von Zukunft.« (AS, 33f.)

Gruenter machte es sich zur Aufgabe, jenen »Augenblick vor der Verwechslung mit der flüchtigen, relativierenden Interpretation zu bewahren«, indem sie diesen, wie sie betont, räumlich und zeitlich isoliert und in zwei Stufen zergliedert: »[…] der des momentanen Ereignisses und der Reflexion der Wirkung im Subjekt.« Dies gelingt ihr »durch Herausarbeitung dieser Erinnerung/Antizipation als sich selbst aufzeigende Augenblickerfahrung sowie als letzte Möglichkeit des Aufzeigens von Subjektivität.« (ebd.) Auf diese Weise entwickelt sie quasi »unsichtbare Figuren«. An einer anderen Stelle wird von der Autorin darauf verwiesen, dass »L’amour die unsichtbare Figur in Epiphanien, abgeblendet« ist.599 Diese Konzeption von l’amour wird von den beiden Protagonisten in kleinen, spärlichen »Bewegungen« 598 Vgl. Köhler (1993), ebd.: »Gruenter thematisiert in ihren Epiphanien unter anderen die Frage, was eigentlich von den Glücksversprechungen bleibt, nach denen jeder strebt, und die, je versteckter sie wirken, erst einmal entdeckt werden müssen. Reste überdauern, auch wenn sie oft scheinbar unbedeutend und winzig sind, unruhige Zeiten. Sie sind Erscheinungen der Wirklichkeit, die von der Autorin poetisch festgehalten, Momente blitzartiger Erkenntnis entstehen lassen.« 599 AS, 479, geschrieben in Düsseldorf, am Hofgarten, wo sie sich zu dieser Zeit zusammen mit B. bei Freunden aufhält.

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verkörpert, deren Identität eine fließende, ständig wechselnde Bewegung von Vertrautem und Unvertrautem ist. »Jetzt aber war heller Morgen, und sie beschloß, daß er der Zeichnung, die sie aus dem Gedächtnis von dem abwesenden Zimmerbewohner angefertigt und in den leeren Rahmen neben der Tür gehängt hatte, immer ähnlicher wurde. Im Tageswald konnte jeder zu jedem werden, schließlich war er ein Poet und als solcher ein Chamäleon.« (EA, 87)

So nimmt ER verschiedene Rollen ein und Figuren an: einmal ist er ein Dozent, der einen Vortrag vorbereitet, was in der Tat erneut an Bohrer denken lässt (EA, 5 f.), ein anderes Mal eine Art Soldat oder Krieger, der in den Krieg ziehen muss (EA, 7, 83, u. 96), ein Fremder (EA, 30f., 56600, 74ff.), ein Reisender (EA, 9, 28, 32f. u. 86f.) oder ein Handwerker (EA, 84f.). Manchmal verbinden sich diese ebenfalls zu mehreren Identitäten, wechseln ihre Identitäten in der Wahrnehmung601 oder verschwinden zum Teil ganz (EA, 39f.), kehren manchmal aber bald darauf ganz unvermittelt wieder zurück (EA, 40). Dann wiederum erscheinen sie wie auf einem Bild von Vermeer oder werden von außen betrachtet wie »zwei Figuren, seine Frau und er selbst, sie hatten aber das Aussehen ihrer Kinderzeit, als zukünftige »Tote«. (EA, 11f.)602 Immer wieder von neuem werden Identitäten wie Alter oder soziale Rollen603 der Figuren »ausgetauscht« (EA, 28f.604), etwa in der Darstellung des Greises, »der sein Vermächtnis betrachtet«.605 Zu dem alten Mann gesellt sich ein Kind. (EA, 23) Wieder handelt es sich um somnambule

600 Hier handelt es sich um mehrere Fremde. 601 EA, 8: »[…] die Frauen tauschten die Plätze«, »Aber die Liebe, sagten die Männer um Mitternacht und hoben die Gläser und tranken sich zu,«, die Frauen, EA, 19f., »Aber die Frauen saßen dort wie in einer längst abgeräumten Kulisse ihres Lebens.« oder zu zwei Paaren, EA, 72f., die »im Raum umherschlenderten«. 602 Der Tod tritt noch einmal im Bild des Tods eines Hausierers in »Epiphanien, abgeblendet« auf (EA, 26f., EA, 34) oder in Form der beiden Friedhöfe, die die Erzählerin im November, dem Totenmonat, vom Fenster aus betrachtet: EA, 68f.). In diesem Kontext wird die Erinnerung wie ein Totengedenken beschrieben: »Die Erinnerung habe sie gedacht, sei wie ein Leichenschauhaus, eine Fülle abgelebter Namen, zu Etiketten verkommen […]« (EA, 69. Vgl. ebenfalls die Allusion an den Tod in EA, 82), als »zwei Schüsse krachen. Ich will dein Skelett, sagte der Mann«, auch EA, 15) oder »ein nacktes Kind« kommt dazu (EA, 13). 603 Auch im Sinne von Goffman der Rolle/Position, der zugewiesenen Position, der erworbenen Rolle, des Status′, der Rollenerwartung etc. Vgl. Ervin Goffmann: The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday & Company, 1959. 604 Etwa konkret in der Darstellung verschiedener Kostüme wie »Katzen- und Indianerkostüm«. 605 Dabei handelt es sich um »eine Brieftasche aus weichem grünen Leder mit eingestanztem Wappen, zwei Buchstützen aus gewürfeltem Marmor, ein silbernes Tintenfaß, ein Stapel ungelesener Taschenbücher und eine verblichene Postkarte mit einer verödeten HochmoorLandschaft.« Vgl. auch EA, 92: »Der von seiner Borste entkleidete Schädel erschien ihr wie der ins Greisenhafte verwandelte Schädel ihres abwesenden Zimmerbewohners.

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Szenen, denn es »erscheint« ihm der Schlaf am helllichten Tag, der eine weitere Art von Verwandlung darstellt: »Dann kam der Schlaf, und er kam am hellichten Tag. Er bauschte den Vorhang im Wind wie ein Segel, er schaukelte ihn sanft hin und her. Als läge er in einem offenen Kahn, und die Landschaft zog an ihm vorüber wie eine flimmernde Gaze-Leinwand. […] Der Schlaf ist eine lächelnde Frauenmaske, sagt er und schloß die Augen. Die Maske zersprang in tausend Stücke, poröse Splitter regneten auf sein Gesicht, und es war der Knall, mit dem im Haus eine Tür zugeschlagen wurde, der ihn aus dem Schlaf riss.« (EA, 48)

Nichts bleibt beständig, nicht die Personen, die Figuren, die Identitäten, nur die Räumlichkeit verbleibt und verleibt sich die Umgebung ein606 wie den Garten, das Gartentor, die Mauer, die Straße, die ins Zimmer fallenden Schatten (EA, 35f.), den Park (EA, 66607), das ganze Haus (Hervorhebung SW, EA, 91)608 oder die Utensilien des alltäglichen Lebens wie Regenschirme etc. (EA, 42f.), umgestülpte Handtaschen (EA, 49), ein Paket, (EA, 64609), ein Fotoapparat (EA, 51f.), der Tisch (mit Kanne, Tasse und einer kleinen Karaffe Rum, EA, 69), Pantoffeln (EA, 71), Schallplatten und Garnrollen (EA, 78 u. 97), ein Adelsring (EA, 86), Champagnerflaschen (EA, 88 u. 90) oder eine scheinbare »Wäscheidylle« (verknüpft mit dem Bild von Vermeer, EA, 89)610. Überhaupt entsteht der Eindruck, dass die »Epiphanien« eher in einer ländlichen Gegend, zum Teil Idylle (EA, 38)611, denn in der Metropole Paris spielen, selbst wenn eine Fabrik und das Leben der Arbeiter, ohne beide genauer zu beschreiben, genannt wird. (EA, 26 f) Andere

606 Im wortwörtlichen Sinne: EA, 22; »Der Atem des Mannes stand wie ein harter Ball vor dem Gesicht.« 607 An einem Wintertag mit einem Kind und einem Mann, wird wie eine Kulisse beschrieben und immer wieder wird die »Stille« evoziert. 608 Vgl. EA, 91: »Sie mußte ihn verloren oder im Zimmer liegengelassen haben. […] Sie ging im Gang auf und ab, die rohen Bohlen hallten hohl unter ihrem Schritt, und hinter den Türen war ab und zu ein Geräusch zu vernehmen – das Aufflackern eines Vogels in einem Käfig, das Schreien eines Babies, das Knarren einer Schranktür -, das sofort wieder verstummte, als läge über dem Haus ein unheimliches Schweigegebot. […] Das Licht im Treppenhaus dort drüben flammte auf, und die Wände wirkten durchsichtig wie. Pergament, hinter dem sich das Zickzack der Treppe über alle Stockwerke zog. […]. Unwillkürlich war sie zurückgewichen, bis zu ihrer Zimmertür, ihre freie Hand hatte sich auf die Klinke gelegt und sie heruntergedrückt. Sie fiel fast ins Zimmer, den die Tür gab nach, und der Schlüssel steckte im Schloß.« 609 Mit einem Bild von einem alten See-Stich der »verrückten Alten von oben«. 610 Gemeinsam ist allen diesen Motiven auf den ersten Blick nur ihre Alltäglichkeit und die Bewegungslosigkeit, die sie ausdrücken. 611 Wie im Bild des Reihers, ansonsten kommt an Tieren anders als in »Vertreibung aus dem Labyrinth« nur noch ein Hahn vor (EA, 53f,) bzw. symbolisch der Löwe und das Einhorn (EA, 62) sowie ein Vogel bzw. eine Taube (EA, 81).

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Epiphanien sind wie Stillleben612 komponiert. (EA, 39) Was die alltäglichen »Dinge« betrifft, so werden sie um Motive ergänzt, die wiederum die Figuren charakterisieren. An einigen Stellen werden nur einzelne Gliedmaßen beschrieben, z. B. ein Kopf, (EA, 16) oder es werden multiple Identitäten der Figuren durch künstlerische Medien wie dem Film exponiert (EA, 21). Letztere gilt als eine der entscheidenden Passagen in Hinblick auf die Epiphanien. Hier wird das »Epiphanische« besonders betont: Es wird im Zusammenhang vom Glauben an etwas »ANDERES«, dem Leben einen Sinn geben oder dem Vorhandensein verborgener Dinge« angeführt (AS, 356). Die Autorin schreibt am 30. September 1990 vom »Schreiben als einer Kette von Erleuchtungen, die erst im Nachhinein als kalkulierte Trance miteinander verbunden erscheint«. (AS, 425) In diesem Zusammenhang bezieht sie sich auf Benjamins Begriff der profanen Erleuchtung. (AS, 196) Von daher tauchen bei aller Skepsis Gruenters der Metaphysik gegenüber im Werk »metaphysische Begriffe« wie die Seele oder Metaphern wie der Himmel auf, allerdings immer von neuem gebrochen durch »alltägliche Verrichtungen« wie das »Stöhnen«, das »Kotzen«, der Alkoholrausch oder der Halbschlaf.613 Dem Schlaf wird als Motiv viel Raum gewährt, konfiguriert durch die »Landschaft«, einen »hochummauerten« Hof bei grellem Tageslicht, in dessen Mitte der Stumpf eines abgelegenen Baumes« (EA, 93) steht, oder durch eine »Dunkelkammer« bzw. »ein riesiges, achteckiges Becken«. (ebd.) Das »Leben in einer anderen Stadt als Kind« markiert wieder den Versuch, Erinnerung respektive Zeit räumlich zu machen (EA, 79). Dazu verschmelzen Landschaften und Figuren als Motive im Text: »Jahrelang mußte sie am Fenster gestanden und jedem einzelnen Baum gewinkt haben, der im Winterfrost auf den Feldern jenseits des Fußes zu erkennen war, weil sie ihn für den Mann gehalten hatte, der in den Krieg ziehen mußte.« (EA, 96) Schließlich taucht in einer längeren Passage »Schlafes Bruder«, der Tod, »persönlich« auf: »Der Tod trat ins Zimmer, und er tat es vor Ladenschluß. […] Der Tod zog vor zu stehen, und sie rückte ihm jenen voluminösen, treppenförmig auseinandergezogenen Nähkasten zurecht, damit er seinen Fuß darauf abstützen könne. […] Der Tod verschränkte die Arme und nickte zufrieden. Durch das offene Fenster flog ein Stein ins Zimmer, und 612 Stillleben werden durch genaue Beschreibungen der Speisen, etwa EA, 44f., ausgedrückt, hier in der Zubereitung von Muscheln. 613 Vgl. EA, 70: »Er saß im Sessel und las – sie schlief seit zwei Stunden, die Decke hoch über die Ohren gezogen – und lauschte diesem verebbenden, nur noch schubweise auftretenden Kotzen, das jetzt ein röchelndes Pumpen war. Das Röcheln, das zischelnde Ausspeien erinnerte ihn an die Kurve eines Kardiogramms, langsamer werdende Stöße, in die Nacht gesendet, ein elender Singsang, Gesang einer ausgebrannten Seele, der, je weiter die Nacht fortschritt, ein geheimes Band zwischen ihm und dem Unbekannten schlang.« Vgl. ebenfalls: EA, 75: »Das Blau sei so undurchsichtig wie Metaphysik ohne Jenseits, hörte er sich sagen […].«

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er bückte sich, um ihn aufzuheben. Bleiben Sie hier, bat sie. Sie fühlen sich doch hier ganz wie zu Hause. Seitdem der Mann verschwunden ist, vermisse ich ein wenig menschliche Gesellschaft. Der Tod warf den Stein in flachem Bogen nach draußen und seufzte. Ich muß die Liebe suchen, sagte er, und den, der von ihr ausgezogen ist. Vielleicht, sagte sie, hat er das Fürchten gelernt – und die Liebe geht über die Hügel vor der Stadt, mit ausgestochenen Augen und papierenem Kleid.« (EA, 97)

Der Augenblick, jene besondere Art der »Plötzlichkeit«614, finden in diesem Werk außerordentlich große Berücksichtigung. Es handelt sich um lokale und säkularisierte »Epiphanien«615, die mehr photographisch als filmisch, daherkommen. »Fokussiert werden soll der Augenblick als Zeitmodus des »Plötzlichen«, wie er am explizitesten von Karl Heinz Bohrer für eine Ästhetik der Moderne gelten gemacht wurde. Dabei interessiert besonders seine diskursive Nähe zum Medium der Fotographie. Eine diachrone Perspektivierung kleiner epischer Formate, die gleichwohl nur exemplarisch sein kann, ermöglicht es, Oszillationen deutlich zu machen, die sich zwischen den Figurationen des Augenblicks als Medium eines beschleunigten Sehens einerseits, und als Inbegriff einer kontemplativen, gleichsam epiphanischen Stillstellung von Zeit, andererseits ergeben.« (Öhlschläger 2013, 152)

Die Betonung liegt auf dem zweiten Teil des Komposita Zeitmodus, dem Modus als eine Art Form und Verfahrensweise, der Vermittlung zwischen dem flüchtigen Moment und dem »Stillstellung der Zeit«. »Stillstellung« weist wieder eine räumliche Komponente auf.616 Ähnlich der modernen Glücks- oder Flowforschung, wonach Glück nur die Komprimierung und Konzentration auf eine Sache im Augenblick gewährt, jener flow oder die Empfindung im rechten Moment am richtigen Ort zu sein.617 Man könnte es wie angedeutet filmisch nennen und zugleich mit dem Titel darauf verweisen, dass auf- und abgeblendet wird, sich die Einstellung dabei nicht verändert und es sich dabei dennoch um stehende Bilder oder Environments handelt. Darüber hinaus existiert ein Schweigen, das diese Bilder durchzieht, noch verstärkt durch die Bitte oder Aufforderung bzw. Interjektion Pst. Dieses Pst wird thematisch fast leitmotivisch an verschiedenen Stellen im Werk bemüht (wie z. B. in EA, 5, 18 u. 38 etc.), oft im Kontext mit dem Ausruf »Aber die Liebe« (ebd., EA, 6 , 8, 18, 37618 u. 58, zum Teil in ähnlicher sprachlicher Form).

614 Vgl. 28f. 615 Zum Teil wird eine religiöse Sprache oder Motivik bemüht, vgl. EA, 26: »Sie öffnete das Fenster und beugte sich heraus und sah, daß die Menge sich spaltete und zu beiden Teilen einer Schneise abfloß wie das Wasser bei der Teilung des Roten Meeres.« 616 Auch im Sinne der Konnotation mit Stillleben. 617 Mihaly Csíkszentmihályi: Flow. Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart: Klett-Cotta 41995. 618 EA, 37: »Aber die Liebe, sagte sie, und schloß das Notizbuch. Pst, pst, sagte sie. Sie schläft in den Resten der Asche.«

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»Es handelte sich um diagnostisch ungewöhnlich erzählte Zustände der Liebe zwischen Realismus und Symbolismus. Noch immer diese wunderbare Gegenständlichkeit und Stimmung der Augenblicke! Die herausstechende Eigentümlichkeit ihres Erzählens war von meiner Fixierung auf die Dinge nicht beeinflusst. Über meine Entfremdung vom wissenschaftlichen Denken während der Heidelberger Zeit, von meiner Suche nach Concreta statt Abstracta wusste Undine nichts. An die Stelle dieses Denkens war für mich die Thematik der Plötzlichkeit getreten, die sie inzwischen aber kritischer sah.« (Bohrer 2017, 380)

Bohrer schreibt zur Genese der Texte, sie gingen von der Voraussetzung aus, dass ein Paar miteinander schweigen könne. Auf diese hochartifiziellen Texte ließe sich der Begriff des Raum-Selbst von Müller beziehen (Müller 2017). Nicht nur die Zeit bzw. der Augenblick blitzt auf, sondern zusätzlich scheint der gemeinsam oder selbst geschaffene Raum wie im Bild des Scheinwerfers einer Theateraufführung auf, wird abgeblendet und verlischt im wahrsten Sinne des Wortes dann wieder. Es ist eine auf den höchsten Punkt gebrachte Gegenwärtigkeit und Gegenständlichkeit zwischen zwei Menschen oder genauer noch zwischen zwei Selbst. Die Räume werden in einem Moment erleuchtet, existieren allein für diesen Moment des Aufleuchtens und verlöschen wieder. Köhler bezeichnet das als die »emphatische Illumination des Augenblicks«, die die Autorin, »den Großstadtflaneuren des 19. Jahrhunderts abgeschaut« (DIE ZEIT, 8. Oktober 1993) hätte. »Und die halluzinative Optik, die das Imaginäre mit den Ingredienzen des Realen aufmischt, verdankt sich einer Schnitttechnik, die den Text im Wechsel von Großaufnahme und Totale, Zeitlupe und -raffer in immer neuen und ungewöhnlichen Beleuchtungen aufscheinen läßt: ›Epiphanien, abgeblendet‹. Undine Gruenters ›Klebebuch aus zusammengestückelten Erinnerungsrissen‹ versammelt 56 poetische Bilder, die die Relikte einer Welt enthalten, die im Verschwinden begriffen ist.«619

Bohrer führt diese Technik bzw. diese Art von Wahrnehmung wiederum auf die gemeinsam erlebte Zeit an der Atlantikküste, in der Normandie, zurück. Er gibt darüber hinaus einen Hinweis auf die Genese dieser »kleinen Prosa« und spricht von einer »geometrischen«, damit wieder räumlichen »Stimmungsdarstellung«. »Unser schweigsames Miteinander an der normannischen Küste, ohne dass wir uns über unsere Eindrücke ausgetauscht hätten, war aus der gemeinsamen Konzentration auf das bloß Gegenständliche entstanden. Diese Gegenständlichkeit war in den 56 neuen Prosastücken zu enigmatisch-parabelhaften Situationen zwischen einem Paar konzentriert. Es gab darin keine psychologische Aufschlüsselung, sondern nur emphatische Bilder, wie sie Nietzsche, den Undine nicht las, von der Tragödie gefordert

619 Dieser Riss in der Zeit, in der Erinnerung o. ä. wird in Metaphern immer wieder neu betätigt, etwa, wo es heißt: »[…] ging ein Riß durch ihr Gesicht, als teile sich der Abend in einen freundlichen Teil und ein zerstrittenes Nachspiel.« (EA, 71)

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hatte. Diese Prosa entwarf Dramen als Stillleben. Eine Sie und ein Er sitzen sich gegenüber, wobei beider Identitäten so unscharf sind, dass verschiedene Sie und Er in der jeweils anderen Stellung denkbar waren. Sie umarmen sich nicht, sie schlafen nicht miteinander. Ihre Liebe bleibt das ungelöste Geheimnis in Augenblicken; Stimmungsdarstellung, aber nicht stimmungsvoll, sondern geometrisch.« (Bohrer 2017, 380)

Öhlschläger geht auf die polychrone Zeiterfahrungen im Werk ein. In der Tat lässt sich nicht unberechtigt behaupten, dass es sich eher um ein »Zeit«- als ein »Ortsoder Raumwerk« handelt. Sie erkennt darin eine Tradition bzw. Entwicklung, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann: »Das Beispiel Gruenter, das für eine innerpsychische Perspektivierung polychroner Zeit einsteht, findet allerdings schon in Kurzprosaformen der Moderne nach 1900 Vorbilder.« (Öhlschläger 2013, 158) Welche Bedeutung von Epiphanie ist damit aber nun gemeint und wie wirkt sich diese auf die Raumvorstellung aus? Öhlschläger weist in diesem Zusammenhang ebenfalls auf das Medium der Fotografie hin und stellt fest: »Eine diachrone Perspektivierung kleiner epischer Formate, die gleichwohl nur exemplarisch sein kann, ermöglicht es, Oszillationen deutlich zu machen, die sich zwischen den Figurationen des Augenblicks als Modus eines beschleunigten Sehens einerseits, und als Inbegriff einer kontemplativen, gleichsam epiphanischen Stille von Zeit, andererseits ergeben.« (Öhlschläger 2013, 152)

Hazan hatte die besondere Beziehung der Stadt Paris zu dem (damals) »neuen Medium der Photographie620 herausgehoben (und umgekehrt), die Gruenter bestens kannte, selbst wenn man zugestehen muss, dass dies in »Epiphanien, abgeblendet« nicht direkt davon die Rede ist. Hazan macht darüber hinaus auf die Verbindung von Photographie und der Poesie im Allgemeinen sowie im besonderen Verhältnis in Hinsicht auf die Poesie dieser Stadt aufmerksam. Er verweist auf den Begriff Benjamins der Spiegelstadt621und die Werke der drei Fotographen Doisneau, Brassai und Atget, die Gruenter in diesem Zusammenhang ebenfalls nennt. (vgl. AS, 162) Hazan hebt vorzugsweise auf die Verbindung von Photographie und Poesie in Verbindung mit der Präzision der Sprache ab: »Gestrichelte Stadt, Spiegelstadt, in jedem Fall Stadt in Schwarzweiß: vielleicht sollte man von dieser Perspektive aus nach den Gründen für die Verbindung zwischen Paris und der Fotografie suchen, eine so enge Verbindung, daß man fast meinen könnte, die beiden gehörten zu ein und derselben Familie. Und zwar nicht nur, weil die Fotographie in Paris ihren Anfang nahm. […] Die Bindung zwischen Paris und dem neuen Medium

620 Und nicht zum Medium der Malerei, eher noch zum Medium der Graphik bzw. des Drucks. 621 Walter Benjamin benutzt den Begriff in: Ders.: Paris, die Stadt im Spiegel. Liebeserklärung der Dichter und Künstler an die Hauptstadt der Welt. In Vogue 30. 01. 1929. Er erwähnt den Begriff im Zusammenhang mit dem Fotobuch von Mario Bucovich: Paris, Geleitwort von Paul Morand. Berlin 1928.

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war auch deshalb so innig, weil es in der Geschichte dieser Stadt Momente gibt, die eigentlich nur die Photographie mit der Präzision der Poesie wiederzugeben vermag.« (Hazan 2006, 536f.)

Unter Verweis auf Koselleck führt Öhlschläger in diesem Zusammenhang den Begriff der »Zeitschicht« an, der wiederum auf Erinnerung, Gedächtnis, aber vor allem auf räumliche Wahrnehmung verweist, was »sich als fruchtbar für Fragen nach der raumzeitlichen Modellierung ästhetischer Eigenzeiten« erwiesen hat. Sie stellt den Befund, dass heterogene Zeitqualitäten zu einem in chronologischer Hinsicht gleichen Zeitpunkt wirksam werden können. Von entscheidender Bedeutung ist der Hinweis, dass »Zeit nur über Bewegung in bestimmten Raumeinheiten anschaulich zu machen« ist und dass man bei dem »Sprechen über Zeit auf Metaphern angewiesen ist«622. Hierbei handelt es sich um zwei zentrale Befunde, die sich auf das Werk »Epiphanien, abgeblendet« anwenden lassen: der Gebrauch der Metaphern und der Versuch im Werk, die Zeit räumlich zu machen. Öhlschläger führt dazu weiter aus: »Der Begriff ›Zeitschichten‹ erlaubt es, das Gleichzeitige des Ungleichzeitigen zu denken, das simultane Zusammentreffen heterogener Strömungen oder Zeitqualitäten; mit der geologischen Metapher ›Schicht‹ erhält die Vorstellung von Zeit eine räumliche Struktur, Beschleunigungen oder Verzögerungen etwa werden in Bildern der Überschneidung, Durchdringung, Verschmelzung, Ablösung wahrnehmbar.« (Öhlschläger 2013, 148)

Nach Öhlschläger wird der Augenblick »als Zeitmodus des Plötzlichen zu einer Schlüsselkategorie moderner Zeiterfahrung«, weil er zum einen »für die unabänderliche Flüchtigkeit der Zeit« steht und zum anderen »deren Linearität für einen Moment außer Kraft« setzt und die »Essenz des Unwiederbringlichen unterstreicht, was sie zu der Behauptung führt: »In der Fotographie findet der Augenblick als flüchtiger Moment ein adäquates Medium der Darstellung.« (Öhlschläger 2013, ebd.) Sie verweist auf Barthes und dessen Konzeption in der phänomenologischen Studie »La chambre claire«.623 Ähnlich wie bei Weinrich oder Ricoeur624 wird das Zeitempfinden eng in Beziehung zu im weitesten Sinne metaphysischen Betrachtungen gestellt, »inwiefern das Klicken des Fotoapparats die Zeit zum Erklingen bringt und deren Einschnitt markiert, der das, was ist, in ein unwie-

622 Vgl. Reinhart Koselleck: Zeitschichten, Studien zur Historik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 9. 623 Roland Barthes: La Chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard 1980. 624 Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Übergänge. Band 3: Die erzählte Zeit. München: Fink 2007.

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derbringliches »Es-ist-Spiel-gewesen« verwandelt.«625 Öhlschläger führt ihre Reflexionen weiter aus: »Ob aus Interesse am schöpferischen Augenblick als Moment der künstlerischen Inspiration, plötzlichen Erleuchtung oder als mystisches Ereignis – auch für die Moderne ließe sich eine Typologie plötzlicher Augenblicke anlegen.« (ebd.)626 »In der Literatur um 1900 wird der Augenblick entweder emphatisch gefeiert oder als Code der Plötzlichkeit, als ein Selbstbeschreibungsmuster von Modernität reflektiert und mit seiner Unverfügbarkeit bzw. möglichen Verfügbarkeit experimentiert. Weil der Augenblick als Zeitmodus flüchtig und mit seiner Darstellung das Problem der Nachträglichkeit verbunden ist, eröffnet er seine literarische und mediale Modellierung Fragen nach Grenzen (sprachlicher) Darstellbarkeit.« (Benz 2013, 152f.)

Exakt an diesen »Grenzen sprachlicher Darstellbarkeit« setzt Gruenter an. Zugleich spielt die von Öhlschläger herausgestellte »Unverfügbarkeit« für Gruenter in einem quasi-mystischen Sinne eine besondere Rolle in einem Einswerden mit Raum und Zeit, ohne dabei selbst mit zur Mystikerin zu werden. Außerdem stellt Öhlschläger konkrete Stellen in Gruenters »Epiphanien, abgeblendet« heraus, die exemplarisch für dieses Zeitverständnis stehen, wie z. B. das »[…] gestreckte Kinn des anderen. […] Die Frau hat ein winzige Musikwalze aus ihrer Rocktasche gezogen und drehte den Hebel. Da klimperte sich eine Melodie in die Sätze der Streitenden, und es trat eine Pause ein.« (EA, 21) Benz (2013, 153) weist darauf hin, dass sich diese Textpassage programmatisch lesen ließe, da darin »sich eine Distanz gegenüber Formen ästhetischer Zeitgestaltung« äußert, die, »wie im Kino oder Theater […], Modelle von Zeitlichkeit verfügbar halten sollen, um der Negativität der Zeit zu entgehen.« Zu dieser Negativität gehören nach Benz »das Faktum der Vergänglichkeit von Zeit ebenso wie der Tod.« (ebd.) Damit würde die Erzählerin den Modus einer Beachtung zweiter Ordnung »gegen das Bedürfnis nach Ordnung, Referenz und Ewigkeit« setzen. Unter Benutzung von Begriffen aus Genettes »Narratologie«627 sieht Benz Gruenters Prosastücke als »zwischen Null und innerer Fokalisierung changierend« und hinausgehend »über den Augenblick als Epiphanie des Gegenwärtigen und das kontemplative Sich-Verlieren in Bildern des Zukünftigen.« (ebd.) »Im Drehen einer ›winzigen Musikwalze‹, der eine Melodie entströmt, im langsamen Ausziehen von Handschuhen, der wartenden Beobachtung am Fenster, im Winken oder anderen stummen Handgebärden, kristallisiert sich verfließende Zeit in Bildern, die,

625 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Übersetzung von Dietrich Leube. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, 35f. 626 Öhlschläger (2013), ebd.; vgl. dazu auch: Ulrich Rauf: Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte. (=Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, B. 9) Göttingen: Wallstein 1999. 627 Gérard Genette: Die Erzählung. München: Fink 31994.

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wie Gilles Deleuze es für den neorealistischen Film und das Kino der Moderne in Anschlag gebracht hat, Gegenwart mit Vergangenheit zu verschmelzen […]. Erinnerung und Vergegenwärtigung sind hier nicht linear ausgerichtet, sondern das Resultat einer imaginativen Schau. In dieser imaginativen Schau verbinden sich heterogene mediale Qualitäten, die fotographische Momentaufnahme weicht der auf Dauer gestellten Kristallisation verfließender Zeit im Stilleben und in gestischem Stil. Handlungszeit wird zugunsten einer Zeit des Wartens ausgesetzt.« (Benz 2013, 158)628

Benz stellt Überlegungen in dieser Richtung an, indem sie die dargestellten Zeitschichten auf Modi des (melancholischen) Wartens als Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsstrategien bezieht. (Benz 2013a, 154) Auf diese Weise entsteht zugleich ein »Angriffsakt auf die vorgefundene Wirklichkeit« (ebd., 153), vorwiegend in Träumen von Räumen. Sie spricht davon, »Träume zu durchlaufen, ohne ihren Sinn zu verstehen« (AS, 479). In »Epiphanien, abgeblendet« wird von einer »Keine-Zeit« gesprochen: »Er suchte in seinem Gedächtnis. Wer in seinem Gedächtnis sucht, ist aus der Zeit gefallen. Also war im Zimmer weder Morgen noch Abend, weder Tag noch Nacht. Es war »Keine-Zeit«. In Hinblick auf diese Konzeption werden Orte wie Gent oder Manchester evoziert. (EA, 44f.) Außerdem wird durch die Beschreibung des Schneefalls Flüchtigkeit per se generiert, zusätzlich verstärkt durch die Folgen des Werfens eines Schneeballs, der zwar fast so schnell wie der nicht geformte Schnee verschwindet, dessen Folgen aber sehr spürbar sind. (EA, 46f.) Der magische Moment, in dem das Vergangene im Gegenwärtigen aufscheint, weist ein zentrales Motiv dieser Autorin aus, die die poetische Wiedergewinnung von brachliegenden Zeiträumen als Einspruch »gegen die Geschäftigkeit des mit der Zeit rechnenden Alltags« versteht und damit »die Medialität ästhetischer Eigenzeitlichkeit zum Gegenstand ihrer experimentellen Verfahren« (vgl. Öhlschläger 2013, 161) macht. Dadurch werden »vermeintliche objektivierbare Zeitparameter um neue Erfahrungsdimensionen von Zeit erweitert« (ebd.), »der Riss der Zeit« markiert, wie er sich im Augenblick, in der Momentaufnahme manifestiert und sich zuweilen auf einer Reise in diesen »Riss« hinein verwandelt.629 Analog zum Begriff Öhlschlägers der »ästhetischen Eigenzeitlichkeit«, ließe sich hier von einer »ästhetischen Eigenörtlichkeit« sprechen. Insofern unterscheidet sich Gruenters Herangehensweise deutlich beispielsweise von jener Georges Perecs’, der in erster Linie das überdauernde Alltägliche

628 Den Begriff der Kristallisation gebraucht Gruenter als zentralen Begriff in Beziehung zu ihrem Schreiben, von Stendal übernommen, der ihm im Verhältnis mit »Versteinerung« benutzt. (AS, 255) 629 Alexander Kluge: 23. Dezember 1999: Zeit ist nicht gutmütig. In: Ders. /Gerhard Richter: Dezember. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, 74.

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an einem Platz wie der St. Sulpice zu erfassen versucht.630 Für Gruenter geht es dagegen um eine »areligiöse« Art der Offenbarung, die sich im Augenblick vollzieht und gleichzeitig im Stillstehen Ewigkeit erzeugt. Über diese »Technik« legt sie in »Der Autor als Souffleur« in einem anderen Kontext Rechenschaft ab, wo sie auf die »Augenblickshaftigkeit einer Haltung oder eines Ausdrucks« verweist, als jenes, »was auf den Bildern erscheint«: »Unverbundenheit zwischen voneinander abgeschnittenen Augenblicken, Abgeschnittenheit eines vorigen Augenblicks vom vorigen. Technik des Nebeneinandersetzens von Bildblöcken. Nicht die sukzessive Schichtung des Zeitablaufs, des einen auf den vorigen Augenblick, wie in der traditionellen Romanhandlung, sondern eine von Lücken unterbrochene Folge. Lücken, die verhindern, daß die Teile sich verbinden und eine geschlossene Folge bilden. Kein fließendes und kontinuierliches Gleiten der Bilder, sondern durch eine abgehackte und ruckartige Bewegung wird anstelle des vorausgehenden Augenblicks der darauffolgende Augenblick dargestellt, der die völlige Auslöschung des vorausgehenden impliziert […]. Nicht Kontinuität einer Handlung, der Mensch im Werden, nichts, was zwischen den Bildern ist […].« (AS, 35)

Köhler bezeichnet dieses als ein »hingerissenes und zugleich melancholisches Sehen«, eine »Technik«, die Gruenter den Großstadtflaneuren des 19. Jahrhunderts abgeschaut« hätte, wovon der Verfasser nicht abschließend überzeugt ist, weil ihr Impetus genauso wie das Gehen das Immer-Wieder-Anhalten und Innehalten ist. Was die Klangfarbe und Leichtigkeit der Sätze betrifft macht Köhler neben die im Labyrinth herumgeisternden Vorbilder von Baudelaire bis Bataille, einen Stil dafür mitverantwortlich, der »deutlich an der Melodie der französischen Sprache orientiert ist.« (Köhler 1993, ebd.) Daran hat der Verfasser an anderer Stelle Zweifel angemeldet.631 Zum Ende des Werks hin werden einige Bilder und (Denk-) Figuren dennoch wieder zusammen gebracht: Die Liebe, das Zimmer, die Tür die Frau (und der Tod), der Tisch, eine Landkarte und der »Tod zeigte den Ort, an dem er geboren war«: »Vielleicht war er aber Tod nur in der Einbildung der Frau, denn er schien äußerst lebendig und überaus ähnlich denen, die auch zuvor im Zimmer gesessen hatten. Aber sie nannte ihn Tod, und jedesmal, wenn sie Tod sagte, spielte ihre Stimme darunter wie eine immer wieder aufgelegte Melodie. […] Sie wärmte ihre Hände, indem sie sie im Nacken verschränkte und betrachtete zufrieden seine Tasche, die er auf dem Rand der Karte abgelegt hatte, zufrieden mit so viel Schneeschauern und Herbststürmen, die seine Sätze durchzogen wie ein aus dem Racheln der Landkarte gezogenes Echo. Auf der Treppe war ein Knarren zu hören, sie wandten ihre Köpfe zur Tür, neben der die unbekannte Liebe stand, und da kam er langsam die letzten Stunden hinauf. Er klopfte,

630 Georges Perec: Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen. Aus dem Französischen und mit einer Nachbemerkung von Tobias Scheffel. Regensburg: Libelle 42016. 631 Vgl. Anmerkung 49.

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er legte das Ohr an die Tür, er sah durchs Schlüsselloch. Das Zimmer war leer, und auf dem Tisch lag der Staub von Jahren.« (EA, 99)

Mit diesem äußerst prägnanten Bild des Todes, der vor der Tür steht, anklopft, woraufhin das Zimmer plötzlich leer erscheint und mit einem Male »auf dem Tisch der Staub von Jahren lag«, endet das Werk.632 Die ganze Dialektik bzw. Widersprüchlichkeit des Todes, jenes letzten Orts, der so »überaus lebendig« erscheint, kommt ein letztes Mal zum Tragen. Auf diese Weise wird eine entscheidende Frage thanatologischer Forschung thematisiert, inwiefern der Tod nur in der Einbildung vorkommt, weil niemand in der Lage ist, hinsichtlich des Wissens um den eigenen Tod tiefer zu gelangen.633 Es ist darauf hingewiesen worden, dass der Tod durchaus ein zentrales Thema in der Kommunikation zwischen Gruenter und Bohrer war.634 Es ließe sich allerdings nur darüber spekulieren, inwieweit Gruenter die Nähe ihres eigenen Todes fühlte. Thematisiert hat sie das Motiv innerhalb wie außerhalb ihres Werks relativ selten, selbst nicht in den letzten Werken, wo man es am ehesten hätte vermuten können.

5.2.4. Gruenters »Poetologie«: Der Autor als Souffleur Genauso wenig lässt sich dies in ihrer »Poetologie« bzw. dem Journal »Der Autor als Souffleur« finden, das in diese Schaffensperiode gehört und das sie nicht als Tagebuch bezeichnet.635 »Ich glaube, dieses Tagebuch ist überhaupt kein Tagebuch, sondern ein einziger Brief. Weiß Gott, kein Liebesbrief- es sei denn. Man bezeichnet dieses Herumwühlen im eigenen Seelenabfall als jenes: sieh her, so bin ich, das alle Liebesgeschichten begleitet.« (AS, 300)

Auf dieses Werk, vielleicht ein »literarische Tagebuch« soll an dieser Stelle nicht mehr ganz ausführlich oder länger explizit eingegangen werden, weil viele Passagen oder Zitate bei der Behandlung ihrer anderen Werke herangezogen werden und als eine Art »Kommentierung« ihres Gesamtwerks gelesen werden können. Die Aufnahme des Werks ist zum Teil euphorisch. So schreibt Weiss vom Suhrkamp-Verlag an Gruenter am 07. 12. 1995: »Ich habe jetzt Ihr Buch ›Der Autor als Souffleur‹ gelesen und muß bekennen, dass ich seit Jahren nichts Anregenderes mehr verschlungen, ja verschlungen habe.« Der österreichische Schriftsteller und Regisseur Lucas Cejpek schreibt, dass das »Journal, was ästhetische Intelligenz« 632 633 634 635

Mit dem Ausblick auf den Tod und die Liebe. Vgl. Wolting (2016). Insbesondere für Bohrer (AS, 194), 313 dieser Abhandlung. Vgl. ebenfalls Eugène Ionesco: Journal en miettes, Paris: Gallimard 1967, auf den Gruenter mehrfach rekurriert. Vgl. dazu: AS, 207ff. etc.

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betrifft, »keine vergleichbare Unternehmung in der Literatur der Gegenwart« kennen würde (Brief vom 08. 04. 1995). Eine weitere interessante Reflexion zum Titel verrät ein Briefwechsel mit Christian Döring vom 20. März 1994, wo sie über eine seiner früheren Formulierungen nachdenkt: »[…] das kommt Ihnen nicht zu« – diese Formulierung ging mir im Kopf herum, nachdem Sie letzten Samstag gegangen waren. Der (Unter-) Titel »Tagebücher« für eine 1952 geborene Autorin von fünf veröffentlichten Büchern?«636 Letztendlich scheint aber Döring von dem Werk begeistert zu sein, wie er in einem Brief vom 11. Februar 1994 verlauten lässt: »Mit Genuß habe ich Ihre Aufzeichnungen natürlich längst zu Ende gelesen – Stück für Stück, sonst bringt man sich um vieles, das Nach-Denken und die Emotionen: ich wollte mit Ihnen darüber ebenfalls längst gesprochen haben, ihnen gegenüber, am besten in Paris. […] da stelle ich mir neidvoll vor, wie sie schöpferische Muße entwickeln können, vor sich den heißen Tee, dazu der Hund […].«637

Köhler weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass »Tagebücher von Schriftstellern stets gleichfalls flankierende Maßnahmen zum Werk sind; der ›commentarius perpetuus‹ gibt, wo er Einblicke in die Dichterwerkstatt gewährt, stets auch das Geheimnis der literarischen Produktion preis.« (Köhler 1995) An anderer Stelle bezeichnet Köhler dies als ein Werk, das »Auskunft über ein ebenso hoch reflektiertes wie ausgesetztes Bewusstsein, eine Schriftsteller-Existenz im emphatischen Sinne des Wortes gibt. Der Leser wird zum Zeugen einer Selbstbefragung bestellt, die sich nicht allein mit der Einsicht geschlagen weiß, dass ich ein anderer, sondern dass der Text selbst das andere ist.« (Köhler 2001) Zudem sei hier darüber hinaus betont, dass im Jahre 2016 die 2. Auflage erschien, das Werk aber weiterhin unkommentiert blieb, weshalb an mehreren Stellen die Schwierigkeiten einer Identifizierung von Initialen oder Kürzeln fortbestehen. »Inzwischen war Undines zweites Buch in der edition suhrkamp publiziert worden. Es trug den Titel Der Autor als Souffleur und war das Tagebuch einer Schriftstellerin ohne Scham. In der Woche des Erscheinens fragte mich mein jüngerer Assistent Eckhard Schumacher, dessen anfängliche Sanftheit sich inzwischen verflüchtigt hatte, ob ich das Journal meiner Frau gelesen hätte. Diese eigentlich dreiste Frage war eher ein Vertrauensbeweis. Sie bezog sich offensichtlich auf eine skandalöse, sehr private Mitteilung

636 Der Ausgangsbrief von Döring stammt vom 23. 02. 1994. Sie formuliert im Antwortbrief folgende Entgegnung dazu: »Ich denke immer noch, dass der Untertitel von ›Der Autor als Souffleur‹ heißen sollte ›Tagebücher 1985–1992‹ oder ›Notizen 1985–1992‹ – außerdem steht die Gattung doch immer auf dem Cover. Außerdem dachte ich, dass ein Text, der Ende November angegeben wird, im folgenden Herbst erscheint.« Zudem gibt sie eine Antwort auf Dörings Frage, warum sie von Hanser gewechselt ist, nämlich aus »sachlichen Gründen, […] um Mißstimmigkeiten gleich zu klären.« 637 Insgesamt entspannt sich ein intensiver Briefkontakt zwischen Gruenter und Döring über »Der Autor als Souffleur«, aber auch darüber hinaus.

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im Tagebuch, was ihren Vater betraf. Auf die bejahende Antwort hin nickte Eckkard nur. Er war wohl zu Recht das, was man betroffen nennt, und ich gab keine weitere Erklärung ab.«638

Bereits an anderer Stelle ist konkreter auf diese Äußerung eingegangen worden.639 Die Beschreibung »Ein Tagebuch einer Schriftstellerin ohne Scham« – wie Bohrer das Journal nennt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Darüber hinaus finden sich hier verstärkt programmatische Äußerungen von Gruenter in diesem Journal aus den Jahren 1986–1992. Ganz bewusst nennt sie den Text ein »Journal« in Anlehnung an den französischen Begriff journal (vgl. 117 dieser Abhandlung, Anmerk. 309), was eine motivische und thematische Gliederung markiert. Darin gibt sie an vielen Stellen über ihre Vorbilder und Beeinflussungen Auskunft. Gees (2006) bezeichnet den fast 500-Seiten langen Text als »Journal und Selbstmaskierung«. Es handelt sich geradezu um das Gegenteil, was ansonsten von einem Journal oder Tagebuch zu erwarten wäre. Letztendlich entzieht sich auch dieser Text wieder einer abschließenden Einordnung. Gees schreibt dazu: »Tagebuch und Bekenntnis, Journal und Selbstbespiegelung – solche Gleichsetzungen würden die Komplexität und den poetischen Duktus des Journals von Undine Gruenter wohl eher verfehlen, liegt doch hier ein Text vor, der zugleich als eine hoch artifiziell gestaltete Prosa erscheint.« (Gees 2006, 97) Sie erkennt die Einzigartigkeit der Prosa Gruenters ebenfalls an, die ihrer Meinung nach innerhalb der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahrzehnte ihresgleichen suchen würde: »Obwohl bisher nur wenig zur Kenntnis genommen, gehört das Buch zu den eindrücklichsten Tagebuchwerken der letzten Jahrzehnte und sicher zu den bedeutendsten Paris-Journalen des ausgehenden Jahrhunderts [des 20., Ergänzung SW]. Die Notate zeichnen sich durch eine besonders minutiöse Phänomenologie der Stadt Paris aus, die teilweise im Stil von Prosaskizzen das Atmosphärische der Welt der Dinge, die vielschichtigen und undurchsichtigen Terrains der Liebe sowie surreale, flüchtige StadtVisionen entfalten und ›Ein Bild der Unruhe‹, so der Titel eines früheren Erzählbandes der Autorin, erzeugen, das seine flirrenden Abdrücke auch beim Leser hinterlässt. Paris als Ort der Ästhetik der Moderne und der Flanerie, die vitale, auch bedrohliche, Stadt als offener und das Zimmer als geschlossener Sprachraum der Isolation und Einsamkeit bilden die motivischen Ausgangspunkte eines Schreibexperiments, in dem die Form des Journals eine fragile Schule des Sehens in Fragmenten ermöglicht sowie daneben wechselvolle Reflexionen über die Bedingungen des Tagebuchschreibens und heutiger Autorschaft offenbart.« (ebd.)

Gees (Gees 2006) verweist gleichfalls auf zwei entscheidende Motive, die zum einen für das Journal, aber zum anderen für Gruenters Schreiben überhaupt von 638 Bohrer (2017), 397f.; vgl. auch 114. 639 Vgl. Kap. 4.

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zentraler Bedeutung sind: die Stadt Paris und das Zimmer, das Exterieur und das Interieur, die sich verflüchtigende Stadt und das statisch bleibende Zimmer, »die Stadt als offener und das Zimmer als geschlossener Sprachraum der Isolation und Einsamkeit.« (ebd.) Gruenter »offenbart« allerdings doch einiges hinter ihrer Maske des Journalschreibens, manchmal gar nicht kryptisch, sondern ganz explizit wie an folgender Stelle: »Schreiben geschieht vom Ort des Begehrens, der Sehnsucht. Schreiben ist Ausdruck eines unermesslichen Verlangens. Eines Leidens. Der Versuch, der unmögliche Versuch, die einzige Möglichkeit, das Glück, das Paradies zu erfinden. Schreiben – Verfolgen der Vision des Glücks. Ein unsichtbarer Strohhalm. Schreiben geschieht am Ort des Extrems.« (AS, 41) Die programmatischen Äußerungen Gruenters markieren so etwas wie das »Kampffeld« des Autors bzw. der Autorin in Auseinandersetzung mit dem Geschaffenen: »Zum Thema: Eigen/Selbstkommentar (bei der Lektüre von Gombrowicz’ Tagebuch): der Selbstkommentar ist nicht nur Ausdruck der Selbstbeschäftigung, sondern vor allem Ausdruck, Spur der Kämpfe. Im Übrigen: das, was der Künstler als Manifeste über seine Ästhetik, seinen Stil, die Form etc. schreibt – deckt sich zumeist nicht mit dem im Text tatsächlich Erreichten. Beides weicht voneinander ab, läuft parallel, überschneidet sich selten – ist überflüssiges und notwendiges Zusammenspiel zugleich.« (ebd., 360)640

Abschließend seien hier noch einige der wichtigsten poetologischen Bemerkungen und Kommentare ihres Schreibens herausgestellt, die sich im Werk »Der Autor als Souffleur« wiederfinden. Dazu gehören u. a. ihre Aussagen über »das Projekt der Liebe« in der Literatur. »Die Liebe wird getragen von der Vision eines Lebens, das nicht von Selbsterhaltung bestimmt ist. Sie ist die Öffnung einer in sich erstarrten Existenz. Man kann, eine Zeitlang, ohne Liebe leben. Was man nicht kann, nie, ist: das Projekt der Liebe aufgeben. Das Projekt, das die Liebe heraussprengt aus dem, was sie angeblich sein soll – aus dem Verhältnis der Ausbeutung, mit dem die Liebenden sich wechselseitig zerstören, aus dem Verhältnis der Nützlichkeit, mit dem die Liebe reduziert wird auf die Berechnung ihres sozialen Vorteils, aus der Konventionalität, mit der die Liebenden vorgestanzte Rollen sprechen, aus der Austauschbarkeit, die die Ersetzbarkeit des Geliebten als Zeichen des Triumphs, der Überlebensfähigkeit vorschreibt. Aus dem Verbot der Liebe. Liebe beschränkt auf die schmerzlose, von Gleichgültigkeit geprägte Form des Arrangements mit dem Leben. Man kann das Projekt der Liebe nicht aufgeben, ohne zugrunde zu gehen. Man kann nicht aufhören, diesen Ort, diesen ganz anderen Ort zu suchen, diesen Ort des Extremen, eines extremen Verlangens.« (AS, 41f.)

An dieser Art des »Projekts der Liebe« hat Gruenter ein Leben lang festgehalten, zumindest in poetologischer und geistiger Hinsicht, um das Wort »idealistisch« 640 Witold Gombrowicz: Tagebuch 1953–1969. In: Ders.: Gesammelte Werke in elf Bänden (Taschenbuchausgabe). Hg. v. Rolf Fieguth/Fritz Arnold. Frankfurt/M.: Fischer 2004.

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im Zusammenhang mit ihr vermeiden zu wollen, weil sie sich mit Verve dagegen wandte. Wichtig erscheint vor allem, dass sie die Liebe als einen Ort des »ganz Anderen« begreift oder als »diesen ganz anderen Ort«, von dem man nicht »ablassen« kann. In diesem Zusammenhang kommt sie ebenso auf das Gegenteil des Phänomens der Liebe, auf den Hass als Antriebsfeder des Menschen wie des Schreibenden zu sprechen: »Kann einen der Hass retten, wenn man verletzt wurde? Um das Zerstörerische, das einem angetan wurde, nicht gegen sich selbst, sondern gegen ein Außen zu wenden? Hass. Vielleicht ist, wie Cioran meint, wirklich der Hass die einzige, die lebendigste Triebfeder des Menschen: und vielleicht ist die Unfähigkeit dazu nicht ein Zeichen von Souveränität, sondern die Folge einer langen Unterdrückung, einer Gewöhnung von früh an, daß Widerstand zerschlagen ist, jede Regung von Freiheit, von Kampf um die eigene Identität, eine lange Gewöhnung nach Innen auszuweichen, in die unendlich sich weiterfächernden Wege nach Innen. Vielleicht ist die Unfähigkeit zum Hass wirklich ein Mangel an Lebendigkeit.« (ebd.)

In dieser Beziehung bezeichnet sie das Schreiben als eine Aktivität dazwischen, »von Sehnsucht getrieben in einen kompromisslosen Anspruch.« Und sie ordnet es in einen Weg ein, der »einen von den Anderen entfernt.« (ebd.) »Schreiben geschieht vom Ort des Begehrens, der Sehnsucht. Schreiben ist Ausdruck eines unermesslichen Verlangens. Eines Leidens. Der Versuch, der unmögliche Versuch, die einzige Möglichkeit, das Glück, das Paradies zu erfinden. Schreiben – Verfolgung der Vision des Glücks. Ein unsichtbarer Strohhalm. Schreiben geschieht am Ort des Extrems. Der Ort des Extrems, ins Schreiben gesenkt. Ohne Aufschub, ohne Zögern, ohne Vorbehalt. (Die Liebe, der Schmerz, der Tod. Ohne Abstrich.)« (AS, 41)

Im Anschluss daran macht sie erneut den Zusammenhang des Schreibens mit dem Raum oder mit der Überwindung des Raums und der Grenze deutlich: »Schreiben als Versuch, eine Grenze zu überschreiten. Sich einen anderen Raum zu schaffen. Sich einer Sehnsucht ausliefern. Die Literatur, das Schreiben, ist einzige Möglichkeit für mich, mir einen Weg für das Unmögliche zu erschließen. Mir den Bereich des Ganz Anderen zu öffnen. Oder besser – da er sonst nur in seltenen Augenblicken der Liebe oder manchmal auch in Momenten profaner Erleuchtung den Dingen gegenüber sich findet – die einzige Möglichkeit, das Unmögliche zu leben. Im Schreiben. (Letztlich also das Schreiben nichts anderes als die Sehnsucht nach dem Unmöglichen.)« (AS, 117)

Sie bleibt letztendlich ein Leben auf der Suche nach jenem Ort und Weg des Unmöglichen, was sie als Funktion ihres Schreibens begreift. Man könnte es mit Ernst Bloch und seinem Utopie- bzw. Heimatbegriff als den »Ort bezeichnen, worin noch niemand« war,641 der aber durch das Schreiben bzw. in der Literatur 641 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969, Bd. 3, 1628.

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ästhetisch und geistig manifest werden kann. Insofern kann man nach Gruenter genauso wenig wie das »Projekt der Liebe« (VG, 193) das Projekt des Schreibens aufgeben und sich schreibend zumindest eine Ahnung für die »Räume der Liebe« bewahren, gestaltet aus den Orten der eigenen Existenz. Dass dies bei Gruenter in den hier besprochenen Werken nichts mit irgendeiner Art von »idealistischer Verblendung« zu tun hat, sollte aus dem zuvor Gesagten deutlich geworden sein. Noch eine weitere konkrete abschließende Ergänzung zu diesem Werk sei erlaubt: Nachdem sich der bereits genannte Autor und Schriftsteller Richard Sauder nach der Lektüre des Werks von dem ersten Schock wegen der Inzeststellen erholt hat, weist er unter dem Einfluss des Werks »The battle of the trees« darauf hin, dass »die Bäume der Schlüssel zum Werk« sind, indem er auf mehr als 50 Stellen im Werk verweist, in dem verschiedene Arten von Bäumen oder Baummotive vorkommen. (Brief vom 21. 04. 1997) Hingewiesen sei auch darauf, dass Gruenter in diesem programmatischen Werk das »Plot- oder Fabelerzählen« besonders ablehnt (vgl. AS 33, 39), wo sie auf den Konflikt der Literatur zu sprechen kommt. Die Haltung der Autorin bleibt dabei unverändert, dass sie – und hierin anders als viele heutige Autorinnen und Autoren nach dem »narrative turn«–, keine Geschichte mehr erzählen will: »Konflikt der Literatur heute: Die ästhetische Rechtfertigung der Literatur in einer Situation, in der ihre Existenz alles andere als selbstverständlich ist. Weitest mögliche Entfernung von aller abbildhaften story. Ausweg in die Abstraktion? Konflikt zwischen der inhaltlich/abbildhaften Funktion der Literatur und ihrem in der spezifischen Textur begründeten Eigenwert muß in einer neuen, noch riskanteren Form zum Ausdruck gebracht werden. Literatur ist eine Sache mit zwei Aspekten – der Abstraktion aber fehlt der ›Kampf mit dem Gegenstand‹ (Francis Bacon) […] Das Wirkliche entstellen/verfremden, aber trotzdem in der Entstellung auf den wesentlichen Aspekt des Gegenständlichen zurückbringen.«642

Hier finden sich bei Gruenter Übereinstimmungen zu dem, was Heidegger zum »Ursprung des Kunstwerks« angemerkt hat. Selbst wenn Heidegger in Gruenters programmatischen Äußerungen eher spärlich auftaucht und Gruenter wie Bohrer Heidegger im Gegensatz zu Sartre nach eigenem Bekunden skeptisch gegenüberstanden, so ist in diesem Kontext doch auf Heideggers berühmte Abhandlung »Der Ursprung des Kunstwerks« hinzuweisen, innerhalb derer der Begriff der »Welt« (im Gegensatz zu »Erde«) oder der »Welthaftigkeit« eine somit exponierte Rolle spielt und bei jeder Art von Kosmos immer mitgedacht werden muss. Heidegger versucht in der Abhandlung von 1935/36 (die Vorarbeiten be642 AS, 28. Vgl. hierzu gleichfalls AS, 16: »Einige Leute scheinen immer noch nicht bemerkt zu haben, daß sich die Literatur vom Geschichtenerzählen emanzipiert hat. Die Story ist nur ein Medium, Transportmasse – die Qualität eines Textes entscheidet sich am Grad der Leidenschaft für die Form.« Oder: AS, 30: »Nie über etwas schreiben – die Worte müssen dieses Etwas selbst sein.«

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gannen schon 1931/32)643, die erst 1960 zusammen mit zwei weiteren Aufsätzen bzw. Vorträgen in der Sammlung »Holzwege« erscheint, das »Wesen des Kunstwerks« in den Zusammenhang von Welt und Erde zu stellen, das Kunstwerk weder rein idealistisch noch rein materialistisch zu denken, sondern als ein Sich Ereignen der Wahrheit in der Zeit oder in der Geschichte zu fassen. Wahrheit ist in diesem Sinne für Heidegger kein Zustand mehr, sondern ein Geschehen, was sich in der Kunst vollzieht. In diesem Sinne könnten einige Werke Gruenters gelesen werden. Sie beschreibt statische Dinge (Zimmer, Straßen, Plätze, Tische etc.)644, die sich erst durch das Aussprechen bzw. »Aus«-Schreiben im Werk »vollziehen« und auf diese Weise »Wahrheit« entbergen, aber eben eine künstlerische Wahrheit bzw. eine Wahrheit des Kunstwerks.645 Letztendlich bleibt diese Art vom Vollziehen der Wahrheit im künstlerischen Zeichen rational oder epistemologisch undurchschaubar: »War es nicht vielmehr ein weiteres Zeichen […] für diese Unfähigkeit […] jemals die Wirklichkeit zu durchschauen.« (BU, 152) Ähnlich wie Heidegger besteht Gruenter darauf, dass sich die Kunst bzw. das Kunstwerk nicht mit außerkünstlerischen wie z. B. wissenschaftlichen, psychologischen oder soziologischen Kategorien erklären lässt, sondern nur aus sich selbst heraus: »Daß das Kunstwerk auch ein Ding ist und nur über sein Dingsein hinaus noch etwas anderes bedeutet, als Symbol auf etwas verweist oder als Allegorie etwas anderes zu verstehen gibt, beschreibt die Seinsweise des Kunstwerks von dem ontologischen Modell aus, das durch den systematischen Vorrang der wissenschaftlichen Erkenntnis gegeben ist. Was eigentlich ist, das ist das Dinghafte, die Tatsache, das den Sinnen Gegebene, das von der Naturwissenschaft einer objektiven Erkenntnis entgegengeführt wird.« (Heidegger 1982, 84)

Gruenters Äußerungen hierzu stammen aus dem Journal »Der Autor als Souffleur«, was als programmatische und poetologische Ergänzung zu ihren Texten von 1986 bis 1992, insbesondere dem Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« und dem Erzählband »Nachtblind«, gelesen werden kann. Sie beziehen sich nicht 643 Es ist auf eine gewisse Weise darüber hinaus durchaus bezeichnend, dass sich Heidegger 1935–1939, zur Zeit des Nationalsozialismus’ in Deutschland, mit dem »Wesen des Kunstwerks« auseinandersetzte. 644 Für Heidegger war der Dingbegriff zentral, der ihn vor allem in »Sein und Zeit« (1927) und später in »Der Ursprung des Kunstwerks« (1935/36) thematisiert. Er steht dabei für die Kontinuität seiner Fragestellung wie für den Wandel seines Denkens. Wird der frühe Begriff als Verdinglichung noch als Gegenbegriff zum demjenigen Seienden benutzt, des Zeugs, so wird es später eine noch zu erfassende Entität, die vor allem durch Kunstwerke aufgeht. Vgl. dazu: Christian Unverzagt: Zu Heideggers Dingbegriff in Sein und Zeit und in Der Ursprung des Kunstwerks. (unter: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/7285/ zuletzt abgerufen: 24. 02. 2020) 645 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks. Mit einer Einführung von Hans-Georg Gadamer. Ditzingen: Reclam 1982 (1935/1956 in: »Holzwege«).

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direkt auf ihre literarischen Texte, die zum Teil aber dennoch dieser programmatischen Vorgabe folgen. Denn Gruenter ist alles andere als eine naive »Autorin«. Köhler beschreibt ihr Credo in den Aufzeichnungen wie folgt: »Das Tagebuch muss, sofern es von allgemeinem Interesse sein soll, die Innenseite der Dinge verwandeln, es muss uns die Wirklichkeit durchscheinend machen, damit wir, um mit Pavese zu sprechen, erkennen, »dass wir durch uns selbst hindurchgehen, dass wir viele waren«. (Köhler 1995) »Der Autor als Souffleur gibt Auskunft über ein ebenso hoch reflektiertes wie ausgesetztes Bewusstsein, eine Schriftsteller-Existenz im emphatischen Sinne des Wortes. Der Leser wird zum Zeugen einer Selbstbefragung bestellt, die sich nicht allein mit der Einsicht geschlagen weiß, dass ich ein anderer, sondern dass der Text selbst das andere ist.« (Köhler 2001)

Es gilt inzwischen beinahe als ein Gemeinplatz, nicht den Irrtum zu begehen, das Geschriebene einer Erzählerin mit der Einstellung einer Autorin gleichzusetzen. Nichtsdestoweniger scheint es ansatzweise gleichfalls die Auseinandersetzung der Autorin mit ihrer eigenen Herkunft zu sein. Es finden sich unzählige Beispiele in späteren Werken wie »Sommergäste in Trouville«, die den Unterschied sozialer Klassen betonen, selbst wenn die Orte Trouville und Honfleur ästhetisch vermittelt erscheinen und sie im postmodernen Sinne »zitierend« darauf zurückkommt. Allerdings spielt eine Art von »Arbeiterkultur« in dem Frankreich ihres Spätwerks mit Einschränkung kaum noch eine Rolle. Von verschiedenen Seiten ist behauptet worden, dass kulturelle Fremdheit – und die Autorin Gruenter befindet sich immer mehr und länger nur in einer (anderen) Kultur,646 mag ihr vieles darin vertrauter als in der eigenen erscheinen – es lange nicht zulässt, Einschätzungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen einer fremden Kultur vorzunehmen.647

646 Und lässt ihre Erzählerin dem folgen. 647 An dieser Stelle macht sich der Unterschied von (fremd–) kulturwissenschaftlicher und soziologischer Betrachtung deutlich: Beschäftigt sich die Kulturwissenschaft mit unterschiedlichen Kulturen, so beschäftigt sich die Soziologie mit einer Kultur und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen. Vgl. hierzu die Grundlagentexte von Bourdieu (1982).

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5.3. Das Spätwerk (nach 2000): Zentrifugalkräfte von Paris über Trouville an die Marne 5.3.1. Cité des Platanes: Das Versteck des Minotaurus (2001) »Das Labyrinth besaß, wie gesagt, viele Möglichkeiten der Flucht, und eine davon war die Glastür im Zwischenstock des Pavillons du Midi. Wenn ein an sich belangloses Zeichen – ein Mantelsaum auf einer Treppe – durch Zufall mit einem anderen – ein poetischer Text in einem Informationskasten in Verbindung gebracht wird, wird es zum Indiz. Gerade hing der frische Text im Erdgeschoß im Glaskasten.« (VM, 128)

Der Roman »Das Versteck des Minotaurus« (2001) gilt als das hermetischste, da am schwersten zugängliche Werk Gruenters, das Köhler charakterisiert als: »eine Fabel über den blutigen Ernst und die anarchistische Energie der Kunst, einen phantastischen Detektivroman, einen nach allen Regeln der Postmoderne kunstvoll rezyklierten griechischen Mythos, eine spätromantische Liebesgeschichte, eine erfundene Autobiographie in Fragmenten, ein schwarzes Märchen aus 1001 Pariser Nacht sowie ein poetisches Manifest über Literatur und Kindheit, Terror und Wahrheit, das ins ›unendliche Labyrinth der Moderne‹ führt.« (Köhler 2001) Auf eigentümliche Weise handelt es sich um die Darstellung eines modernen Labyrinths im Sinne eines Irrgartens, aus dem die Romanfiguren kaum wieder herausfinden: Dieses Labyrinth gibt jener »Unort« in Gestalt dieser Wohnanlage, der Szenerie und Handlung vor, wo sich die Figuren nur schwer zurecht finden, mitunter weder hinein- noch herausfinden. Gruenter hatte sich wie ausgeführt schon in »Vertreibung aus dem Labyrinth« mit der griechischen Mythologie im Allgemeinen und der Geschichte jenes Urbilds, des Labyrinths, und dessen Analogisierung in der modernen Welt beschäftigt, so dass sich dieses Werk motivgeschichtlich auf eine gewisse Weise an das vorherige Romanwerk anschließt: »Es ist das blutende Herz des Minotaurus, das, wie ein gekreuzigter Mythos, am Schluss an die Wohnungstür eines Dichters genagelt wird. Minotaurus, erzählt die griechische Sage, war die Frucht eines Ehebruchs, Sohn der Pasiphae, Gemahlin des König Minos, und eines Stiers. Ein Mischwesen aus Stierkopf und Menschenkörper und einer Bestie, der jährlich zehn Knaben und Mädchen als Blutzoll geopfert wurden. Minos liess für den Bastard ein Labyrinth erbauen, in dem schließlich Theseus mit Hilfe der Ariadne, der Schwester des Minotaurus, den menschenfressenden (oder soll man sagen: kannibalistischen?) Stier erlegte.« (Köhler 2001)

Matz hatte im besagten Interview auf die abgesteckten Räume bei Gruenter wie Labyrinth, verschlossener Garten etc. hingewiesen, bei denen sich Parallelen zur

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eigenen Lebensgeschichte Gruenters aufweisen lassen.648 Die Romanfiguren werden in Beziehung zur Personenkonstellation im antiken Mythos gesetzt: »Ariadne zum Beispiel, die in Gestalt der Concierge die Schritte mit dem Gartenschlauch löscht, welche den, der den Ausgang sucht, in die Irre führen – pas perdus, verloren in einem Labyrinth, das der schlichten Figur von Zeit und Weg, der geraden Strecke von A bis Z vorzuziehen ist. Die traurige Ari (wie die Kinder sie rufen) sitzt auf dem Square Métro Chapelle ›und sucht im Schlamm nach den Mosaiksteinen eines geträumten Lebens‹. Oder Dionysos, ein Immobilienhändler, der ›ganze Inseln im Mittelmeer aufkauft und postmoderne Paläste anlegen lässt mit Fresken und Mosaiken und einer nicht abreissenden Kette von Gelagen, die über den Mittelmeerraum schallen‹. ›Der Wächter mit dem Hund‹ und die steinalte Künstlerin in bordeauxroter Pelerine, der nervöse Literaturprofessor, der kleine Julio, Sohn eines berühmten Autors, mit sehr schwarzem Haar und hellblauen Augen sowie der abgehalfterte Analytiker sind Teil eines bunten Völkchens, Nomaden in einer Escherschen Architektur, in der Oben und Unten, Seiten- und Hauptausgang ins Herz der Finsternis führen.« (Köhler 2001)

Der Romancier bzw. Schriftsteller Louis Gonzáles fungiert zugleich als eine der Hauptfiguren des Romans, »der mit Aragon, Buñuel, Borges und Cortázar seelenverwandt und wie der Minotaurus ein »friedlicher Illegitimer« ist, ein Bastard aus der Liebesbeziehung von Mutter und Schwager.« (Köhler 2001) »Nach dem Modell von Michel Leiris schreibt er an seinen autobiographischen Bruchstücken, in dem Wunsch, die Hölle der Frühzeit in eine Kindheit der seligen Ferien überzuführen. So entstehen Passagen voll atmosphärischem Zauber und verlorenen Paradiesen – wobei der Bekenntnisdrang des Selbstbiographen bald ›dem süssen Trost geheimer Eröffnungen und Vertraulichkeiten‹ in einer zärtlichen Tändelei weicht. Und weil die Liebe bei Undine Gruenter nichts als »ein Labyrinth von Wünschen ist, in denen man sich verliert« (wie es in »Nachtblind« heisst), hat Luis die rothaarige Dolores im Schatten jenes verbotenen Gartens entdeckt, dessen verschlungene Pfade das Paar direkt in den Ehebruch, sprich: ins mörderische Versteck des Minotaurus, locken. […] Es enthält nämlich einen Zettelkasten voller ›Miniaturen über ein Nichts, einen Hauch, ein Blatt im Wind, das Horn eines Stiers, das ein Loch bohrt ins Kleine, Geringe, ins Nichts‹.« (Köhler 1993)

In dem Roman »Das Versteck des Minotaurus« knüpft Gruenter motivisch an das Werk »Vertreibung aus dem Labyrinth« an und geht doch, was das Motiv des Labyrinths betrifft, weit darüber hinaus. Trotz der scheinbar gegensätzlichen Stoßrichtung mit Nennung des Begriffs Labyrinth im Titel beim früheren Werk, kann man sagen, dass das Labyrinth erst im Werk »Das Versteck des Minotaurus« seine eigentliche Berücksichtigung erfährt. Konstatiert man mit Brittnacher/ Janz, dass nicht »alles und jedes gegenwärtig zum Labyrinth« erklärt werde (Brittnacher/ Janz 2007, 10), so kommt man doch nicht umhin, die vielfache Bezüglichkeit des Romans zum Begriff bzw. zum Motiv des Labyrinths festzu648 In Bezug auf Paris, die Viertel, die Straßen, die Wohnungen, die Zimmer etc., vgl. Kap. 4.

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stellen: einmal in motivisch-inhaltlicher Hinsicht, was das Gebäude betrifft, in dem der Roman spielt, bzw. bezogen auf die Großstadt Paris als Labyrinth, zum anderen in formalästhetischer Hinsicht als »labyrinthisches Schreiben« im »Sinne einer forcierten spielerischen Kombinatorik, die alles unternimmt, um ein auf Lösungen zusteuerndes Erzählen zu unterlaufen (Brittnacher/Janz 2007, 17)649. Diese Uneindeutigkeit lässt sich mit Brittmacher bereits am antiken Labyrinth festmachen: »Seine Vieldeutigkeit wird bereits im antiken Mythos durch das Personal verbürgt; Theseus etwa fällt der Part des Heroen zu, Daedalus, der des kunstfertigen Baumeisters, der aber zum Gefangenen seines eigenen Werks werden kann. Der Minotaurus, das Wesen, das sein Leben einem ungeheuerlichen Tabubruch seiner Mutter Pasiphae verdankt, kann nur durch Opfer gezähmt werden, bis Theseus es besiegt.« (ebd.)

In diesem Kontext scheint die Perspektivierung des Labyrinths bedeutsam: »Aus der Perspektive des Theseus, des Minotaurus′ oder der Ariadne ergibt sich ein jeweils anderes Bild des Labyrinths.« (ebd.) »Zur Vieldeutigkeit disponiert es zudem die topographische Besonderheit, daß viele Richtungsänderungen beim Durchlaufen des Labyrinths zu absolvieren sind. Es bietet eine möglichst lange Wegstrecke auf engstem Raum. Wenn man aber auf Umwegen doch zwangsläufig zum Ziel gelangt, muß, wie Umberto Eco es vermutet, ›um die ganze Sache ein bißchen aufregender zu machen‹, ein Minotaurus im Zentrum sein.«650

Eco hat auf die wichtige Unterscheidung von »antiken Einweglabyrinth, in dem man sich nicht verlaufen kann«, und einem aus dem Manierismus entstandenen »Irrgarten« hingewiesen (ebd.), was mehrere Wege und Sackgassen bietet und »aus dem man mehr oder weniger den richtigen Ausweg suchen muß.« (ebd.) »Er entsteht in einer Zeit, in der dem Menschen deutlicher als je zuvor bewußt wird, daß ihm mehr als eine Handlungsoption offen steht. Strenggenommen, so Eco, macht nicht das kretische Einweglabyrinth, sondern der Irrgarten den Faden der Ariadne erforderlich.« (Brittnacher/Janz 2007, 8)651

In beiden Veröffentlichungen wird darauf verwiesen, wie unterschiedlich das Labyrinth sein kann: »zweidimensional oder dreidimensional, als die Begehung vom Bösen zum Guten, es kann vom Diesseits zum Jenseits« führen, es kann 649 Hans-Richard Brittnacher/Rolf Peter Janz: Labyrinth und Spiel. Umdeutungen eines Mythos. Göttingen: Wallstein-Verlag 2007. 650 Umberto Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache. (Supplemente Bd. 4) München: Wilhelm Fink 1985, 125f., auch als PdF. Vgl. auch: Hans-Richard Brittnacher: Erlesene Labyrinthe, verbrannte Bibliotheken. Über Umberto Eco und Jorge Luis Borges. in: Brittnacher/Janz (2007), 217–232. 651 Monika Schmitz-Emans: Labyrinthe. Zur Einleitung. In: Kurt Rötgers/Monika SchmitzEvans (Hg.): Labyrinthe. Philosophische und literarische Modelle. Essen: Die Blaue Eule 2000. 7–33.

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Schrecken, Verstrickung, Sünde, Weg zum Heil, »ein Ort der Einsamkeit«, des Tanzes (ebd., 9 u.13),652 der »Dunkelheit oder Verlorenheit (ebd. 11), der Gewalt653 oder des Todes654 sein, kurz: es stellt eine besondere Form eines »Raummodells« vor655: »Das Labyrinth, ursprünglich das mythische Raummodell des aussichtslosen Herumirrens mit oft tödlichem Ausgang, erweist sich im Gang der Kulturgeschichte als ungemein vielgestaltig und vieldeutig. Es kann z. B. als liegende Spirale mit kunstvoll verschlungenen und in die Irre führenden Gängen oder als Quadrat mit abrupten Richtungsänderungen vorgestellt werden, es kann einen oder mehrere Ausgänge haben, aber auch, wie die Bibliothek in Ecos Der Name der Rose, hermetisch verschlossen sein. Es gilt als Ort des Schreckens, der Ein- und Ausschließung, als Gefängnis, in dem das Verbotene (der Minotaurus) den Blicken entzogen wird, ebenso aber auch, seit der Renaissance, als »Irrgarten«, als Schauplatz des so lustvoll wie ängstlich erlebten Selbstverlusts, als Ort der Bewegung zwischen Orientierung und Desorientierung etc.« (Brittnacher/Janz 2007, 8)

In der Kultur- wie der Architekturgeschichte finden sich zum einen konkrete Bedeutungen des Labyrinths im Sinne von Lidauer: »Das Ur-Labyrinth, über dessen Erscheinungsform nichts Konkretes bekannt ist, dürfte im minoischen Kreta entstanden sein.«656 Lidauer weist aber gleich darauf hin, dass man nichts Genaueres darüber weiß. Brittnacher und Janz gehen davon aus, dass das kretische (»Ur-«) Labyrinth wohl nie existiert hat und deshalb vornehmlich als »Imaginationsraum« diente. (vgl. Brittnacher/Janz 2007, 13, AS, 477) Darüber hinaus wird der »semantische Reichtum des Phänomens« betont, »der nichts von seiner Aktualität eingebüßt« hätte (ebd., 11): »Nach wir vor bietet sich die Architektur des Labyrinths als Deutungsmuster für eine Welt an, die mehr denn je als unüberschaubar, unentwirrbar und dadurch als rätselhaft erfahren wird. Ebenso kommt das Labyrinth dem Wunsch nach Desorientierung und zugleich nach Orientierung entgegen, d. h. es bietet im gewünschten Selbstverlust auf Zeit auch Halt und stellt so eine willkommene Risikominderung in Aussicht. Daneben 652 Vgl. dazu: Martin Vöhler: Labyrinth und Tanz im Theseusmythos. In: Brittnacher/Janz 2007, 19–36. 653 Vgl. z. B. bei Robert Walser, vgl. dazu: Rolf-Peter Janz: Umwege und Abschweifungen. Wege in der literarischen Moderne (Robert Walser, Friedrich Dürrenmatt. In: Brittnacher/Janz (2007), 182–194, vor allem 182ff. 654 Das Labyrinth, d. h. die Wohnanlage, wird als Totenreich und der Lärm der Bewohner als »Rufe aus dem Totenreich« bezeichnet. 655 Zudem besteht eine beinahe unendlich zu nennende Bezüglichkeit zu dem Stoff in Form von Stiermasken, Kannibalismus o. ä. (vgl. z. B. VM, 76ff., 156, 180, 182) oder zum »Labyrinth der Kindheit« und der »verbotenen Liebesfrucht der ehebrecherischen Pasiphae¯«, VM, 87, bzw. zum »Ausmessen des Labyrinths« durch Julio, vgl. VM, 90. 656 Eva Lidauer: Platons sprachliche Bilder, Die Funktionen von Metaphern, Sprichwörtern, Redensarten und Zitaten in Dialogen Platons. (Spudasmata). Hildesheim: Georg OlmsVerlag 2016, 167.

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bleibt es aber auch als Ort unverminderten Schreckens attraktiv, an dem das volle Risiko lockt. Stärker fallen die ästhetischen Reize ins Gewicht, die von seiner Gestalt ausgehen. Die extreme Spannung zwischen der in der Regel statischen und kunstvollen Geometrie des Labyrinths, die sich der Außensicht darbietet, und der unübersichtlichen und angsterzeugenden Topographie, wie sie der Labyrinthgänger im Inneren erlebt, macht einen großen Teil der ästhetischen Effekte der Labyrintherfahrung aus.« (Brittnacher/ Janz 2007, 11)

Insofern soll sich hier nicht auf das Deutungs- und Orientierungsmuster der architektonischen Variante des Labyrinths bezogen werden, wie sie bis in unsere Zeit hinein noch existiert, sondern im Sinne der Literatur – wir denken an Ecos Bibliothek – vorwiegend auf die künstlerische, ästhetische, literarisierte Form des Labyrinths in Hinblick auf eine bestimmte Lesart.657 Von daher ist es nur sehr bedingt von Bedeutung, ob das antike Labyrinth wirklich existiert hat oder ob es – wie Kerenyi behauptet – eher »eine »Urgestalt des Labyrinths«658 darstellt. Es bleibt in diesem Kontext allerdings nicht unwesentlich festzuhalten: »Labyrinthe inspirieren seit den zwanziger Jahren die Architektur, die Raumgestaltung auf dem Theater wie die Choreographie des modernen Tanzes. Sie sind, nicht nur bei Picasso, auch Gegenstand der Bildenden Kunst. Daneben greift die Literatur das Motiv des Labyrinths nicht nur auf; sie nutzt auch seine chaotisierenden und ordnenden Elemente, seine »topologischen Qualitäten als Parcours für avantgardistische Schreibweisen.« (Schmeling 2007, 13)

Brittnacher/Janz (2007) verweisen unter Verzicht auf formale Kriterien wie »Wiederholung, Widerspruch, Möglichkeit oder Reflexivität« darauf, dass auf eine solche Weise »narrative Strukturen« ausgebildet werden, »die mit extremen Verschachtelungen aufwarten und in deren Zick-Zack-Bewegungen zwischen Antizipationen und Rückverweisen der Erzählfaden verlorenzugehen droht«. (ebd., 9) Der an anderer Stelle vielfach hervorgehobene Spielcharakter des Labyrinths nimmt dabei eine eher marginale Rolle ein. An dieser Stelle wird in erster Linie auf die Darstellung der Raumerfahrung des Labyrinths im Roman rekurriert, die wiederum Auswirkungen auf ein spezifisch künstlerisches Schaffen bzw. eine ästhetische Vorgehensweise bei der Niederschrift des Romans hatte. Hierbei gewinnen besondere Strukturmomente des Labyrinths wie Offenheit – Ge657 Man denkt direkt an die berühmte Szene aus dem Roman Der Name der Rose: »Nach Vesper. Aber nie habe ich einen Fuß in die Bibliothek gesetzt. Labyrinth…« »Die Bibliothek ist ein Labyrinth?« »Hunc mundum tipice labyrinthus denotat ille«, rezitierte der Greis versunken. »Intranti largus, redeunti sed nimis artus. Die Bibliothek ist ein großes Labyrinth, Zeichen des Labyrinths der Welt. Trittst du ein, weiß du nicht wie du herauskommst.« Vgl. Umberto Eco: Der Name der Rose. Übersetzung von Burkhart Kroeber. München: Hanser 1982, 208ff., besonders 210. 658 Vgl. Karl Kerényi: Labyrinth-Studien. Düsseldorf: Rhein-Verlag 1950.

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schlossenheit, Eindeutigkeit – Mehrdeutigkeit an Bedeutung, oder das Aufweichen der klassischen Form des Labyrinths und die Umdeutungen des Mythos’. Zum Begriff Mythos ist an anderer Stelle vom Verfasser gehandelt worden.659 Konkret geht es dabei um die Frage, inwieweit das Labyrinth für eine offene oder eine geschlossene Form steht, und worin sich Auffassungen verschiedener Epochen unterscheiden. »Beim klassischen Labyrinth handelt es sich um eine geschlossene Form mit einem Einund Ausgang sowie einem eindeutigen Zentrum. Der Weg ist linear, es gibt keine Kreuzungen, somit auch keine Wahlmöglichkeiten. Irrgärten hingegen, wie man sie insbesondere in Form barocker Parkanlagen kennt, bestehen aus zahlreichen Verzweigungen und Sackgassen.«660

Davon ist die Beantwortung der Frage abhängig, wie eindeutig der Weg ins Labyrinth bzw. jener wieder heraus vorgegeben war. Schon bei Platon, der als erster das Motiv des Labyrinths im frühen Dialog »Euthydemos« metaphorisch bzw. im übertragenen Sinne benutzt,661 zeigen sich Un- oder Mehrdeutigkeiten, Irrgärten, Um- und Abwege oder Abzweigungen. Über viele Jahrhunderte galt diese Position als quasi kanonisch. »Höchstwahrscheinlich hat gerade seine Darstellung, bei der die Aporie im Vordergrund steht, das Bild, welches die Literatur von einem Labyrinth gibt, für alle Zeiten geprägt und wesentlich dazu beigetragen, dass das ursprüngliche labyrinthische Verständnis schließlich auch in graphischen Abbildungen von dem des Irrgang-Systems überlagert wurde.« (Lidauer 2016, 175)

Trotz dieser vielschichtigen Bedeutung war den Labyrinthen eine gewisse Art von Unübersichtlichkeit gemein, aber paradoxerweise zugleich eine Zielgerichtetheit sowie das Prinzip des Umwegs wie beispielsweise Lidauer (2016), Kern (1982),

659 Vgl. Stephan Wolting: Der Fluß, den es nicht gibt. Überlegungen zu vormythologischen, mythologischen und entmythologisierenden Rheinbetrachtungen. In: Edward Białek/Eugeniusz Tomiczek (Hg.): Orbis Linguarum. Legnica: Legnickie Rozprawy Filologiczne 1998, 73–94. Vgl. auch: Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp 52006. Blumenberg taucht im Roman innerhalb eines »Anschlags« in einer der Glaskästen auf, vgl. VM, 155: »Blumenberg im Bunker.« Hier sei an den Film von Christoph Rüter aus dem Jahre 2018 erinnert: Hans Blumenberg. Der unsichtbare Philosoph. 660 Kristina Jaspers: Gefangen im Labyrinth. In: Jaspers, Kristina/Mänz, Peter/Warnecke, Nils (Hg.): Bewegte Räume – moving spaces. Production Design + Film. Ausstellungskatalog zur RABBIT EYE 005|2013 WWW.RABBITEYE.DE102 Sonderausstellung des Filmmuseums Berlin vom 10. Februar bis 19. Juni 2005. Berlin: Deutsche Kinemathek, 2–10. (auch verfügbar unter: http://www.gestaltung.hs-mannheim.de/designwiki/files/2523/a%20%20ge fangen_im_labyrinth.pdf. (letzter Zugriff: 29.10. 2017). 661 Worin sich die Gesprächsführung verfängt. In: Otto Apelt (Hg., Übersetzer): Platon: Sämtliche Dialoge. Bd. 3. Hamburg: Felix Meiner-Verlag. 2004.

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Peyronie (1994), Walde (2001) u. a. betonen.662 Peyronie stellt darüber hinaus das »mentale Bild« heraus, das keinerlei reale architektonische Entsprechung aufweist. »The labyrinth is above all a mental image, a symbol unrelated to any architectual prototype. Beyond the basic image of a winding structure in which the protagonist loses his or her sense of direction, the appearance of the labyrinth is open to imagination, and its implications are open to interpretation.« (Peyronie 1992, 688)

Es ist darauf hingewiesen worden, dass Eco und andere darauf aufmerksam gemacht hatten, dass man in Hinsicht auf die moderne Philosophie bzw. Geistesgeschichte eigentlich mit dem Begriff des Irrgartens statt mit dem Begriff des Labyrinths zu operieren habe. »Das Zentrum dieses Irrgartens wird erst durch Eigeninitiativen, durch ständige sicherndes Orienterungsbemühen und Überprüfen der Zielgerichtetheit gefunden: ein Labyrinth wird erst erfolgreich durch die Anordnung der Gänge vorgegeben, der Besucher wird also durch die vorgegebenen Strukturen geführt. Beide Anlagen stellen also ganz unterschiedliche Aufgaben, bieten Erfahrungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen.« (Kern 1982, 13)

Weiterhin sei hervorgehoben, dass das eigentliche Labyrinth – im Gegensatz zum Irrgarten – kaum verbalisiert bzw. in Worte gefasst werden kann, so dass sich Labyrinth-Metaphern meist auf die Irrgarten-Vorstellung beziehen. (Kern 1995, 26) Diese wiederum erhält bei Gruenter besonderes Gewicht: »Ort der Handlung ist die ›Cité des Platanes‹, ein großer Gebäudekomplex aus klassizistischer Zeit, in der Nähe des Pariser Montmartre-Viertel gelegen. Die räumlichen Strukturen dieser Wohnanlage sind aufgelockert durch Treppen, kleine Gassen und Jugendstilüberdachungen. Als ›labyrinthisch‹ werden dagegen die verzweigten Kellerräume präsentiert, die in politischen Notzeiten als Schlupfwinkel dienten. Insofern schildert Gruenter zugleich ein Stück architektonischer Kulturgeschichte. Vor allem aber handelt es sich um einen Roman der ›Suche‹, eine Suche durch ein Labyrinth von Mutmaßungen und Ungereimtheiten.« (Schmeling 2007, 281)

Der Roman spielt im »Labyrinth« einer Wohnanlage ( jener von Gruenters ehemaliger Wohnung), der Cité des Platanes, in Paris am Montmartre im 18. Ar662 Vgl. Hermann Kern: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. Walde, Christine: Lexikon Antike. Vgl. auch: Christine Walde: Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung. Zürich: Artemis & Winkler 2001, Sp. 1037, München: Prestel 1982, vor allem 22–24. Dieses Werk gilt als eines der Standardwerke zum Labyrinth schlechthin. André Peyronie: Labyrinthe. In: Pierre Brunel (Hg.): Dictionnaires de mythes litteraire. Paris: Edition de Rocher 1994; ders.: Le nome de la rose. Du livre que tue de livre qui bru˘le. Rennes: Presses Universitaire de Rennes 2006. Vgl. auch: Matthias Hennig: Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Paderborn: Wilhelm Fink 2015; André Peyronie: »The Labyrinth«. In: Pierre Brunel (Hg.): Companion to literary myths. London: Routledge Revival 1992, 54–78.

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rondissement663, ein »Gebäudekomplex mit ungefähr 380 Einwohnern [148 Wohnungen, Ergänzung SW] drei Ausgängen, sechs Hauptgebäuden, zahllosen Ateliers und Pavillons, Gärten, Höfen und Treppen«. (VM, 10)664 Im Roman wird genau so ein Gebäude wie dasjenige beschrieben, in dem Undine Gruenter gelebt hat, zum Ende hin nur noch im Rollstuhl. Das Werk steckt voller literarischer, intertextueller, künstlerischer und mythologischer Anspielungen, »ein hermetisch und enzyklopädisch ausufernder Roman eines um 2000 lebenden Zeitbeobachters« (Schmeling 2007, 258), intertextuell wie semiotisch weit über das hinausgehend, was hinsichtlich des Labyrinthischen für »Vertreibung aus dem Labyrinth« festgestellt wurde. »Knapp zehn Jahre später bewies der Roman Das Versteck des Minotaurus einen weiteren Gewinn an Leichtigkeit. Mühelos vereint diese mythologische Variation die Ingredienzen von Detektiv- und Künstlerroman mit den Elementen eines poetologischen Essays zur fantastischen Groteske. Sie ist eine weitere Hommage an Paris, genauer: an jenen ›den Schlaf des 19. Jahrhunderts‹ atmenden Gebäudekomplex am Montmartre, in dem Gruenter wohnte und den sie, mittlerweile im Rollstuhl, kaum noch verlassen konnte. Vom Keller bis unters Dach, von der Archäologie der Psyche bis zum surrealistischen Raritätenkasten, vom kriminalistischen Alibi-Nirgendwo bis zum Bäumchenwechsle-dich von Kunst und Leben ist hier die Metapher des Labyrinths ausgebaut; die Liebe jedoch begnügt sich mit einer (deshalb?) federleichten Episode zwischen dem Dichter Luis (Cortázar) und der Schönen.« (ebd.)

Das Labyrinth als Motiv lässt sich in Beziehung zu der an anderer Stelle herausgestellten »Maskenhaftigkeit« bzw. »Selbstmaskierung des Autors« setzen. Eine Maske, die im Übrigen im Sinne einiger Vertreter der russischen Protonarratologie in Hinsicht auf die Verzerrung der Welt und Realität eng mit der Parodie verbunden ist (vgl. Gruzdev 2008), war danach so definiert worden, dass sich ihre Träger mit Hilfe dieser Maske in dargestellte Figuren verwandeln können. In diesem Falle fungieren darüber hinaus Schriftsteller (hier: Bataille) oder Filmregisseure (hier: Bunˇuel) als eine solche Art von Zeichen oder mit Tynjanov gesprochen als ein Modell für »die Trennung des textexternen 663 VM, 68f.: »Die Nostalgiker unter den Bewohnern bekamen kalte Füße; Video-Kamera, Alarm-Anlage, Bildschirm. Nachrichten-Automat. Wo blieb der Charme des Pavillons du Midi, seine alten Kachelfußböden, die gelackten Treppen. Der Geruch von Provinz-Quartier mitten in der Kapitale? Wo blieb die Gleichzeitigkeit verschiedener Epochen und der Gegenwart? Die Cité – ohnehin zugänglich an drei Porten und vielen Haustüren durch elektronische Codes – mochte noch ein wenig den Schlaf des 19. Jahrhunderts ausströmen. Gasheizung, Elektrizität, Computer hatten seit längerem fast überall Einzug in die Haushalte gehalten.« 664 Vgl. auch VM, 11: »Das Labyrinth gab sich idyllisch – keine fensterlosen Schachtelräume, keine Gefängnis-Gänge, keine lichtlosen Schächte, keine Treppen-Verirrungen und Verwirrungen.« Aber auf der anderen Seite wird immer wieder von neuem von den »Schlupfwinkel im Labyrinth« (VM, 131) gesprochen, insofern scheinen die Wände durchlässig oder zumindest membranhaft zu sein.

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Schriftsteller-Künstlers von der sich im Text niederschlagenden SchriftstellerPersönlichkeit«. (Tynjanov 1975) »›Dolores und Luis kannten Bataille‹: Längst vor dieser verschmitzten Theorie-Offensive hat man der Autorin vorgehalten, ihre Figuren seien bloße Schablonen eines Schattentheaters ästhetischer Reflexion. Als sei nicht gerade der intellektuelle Zuschnitt ihrer von konkretester Anschauung geprägten Literatur genuin literarisch, das heißt eben nicht auf Identifikation und ›Authentizität‹ angelegt, sondern auf ›Umkreisungen, Annäherungen, Fragmente‹. Ihr ging es darum, ›den üblichen Realismus zu vermeiden‹, und dies ausdrücklich bei ihrem zentralen Thema. ›Liebe und Literatur bedeuten (mir) gleich viel… Aber vor die Wahl gestellt, würde ich niemals die Literatur aufgeben. Warum? Nicht weil die Liebe weniger wäre, sondern gerade darum: ohne Literatur wäre ich vor der Liebe nichts, denn Ich ist Literatur (das Ich)!‹«665

An anderer Stelle wird das »Vermaskierte« oder Parodiehafte durch die Travestie der Orte und Zeiten erzeugt. Im Roman empfängt die »klassische Ariadne«, vermittelt über »Informationen« nach dem 1. Anschlag auf ihrer Insel Naxos Psychoanalytiker, Labyrinthforscher und eine Gruppe von Poeten, die den Mythos aktualisieren wollten« (VM, 8). Schmeling verweist auf das Konzept als einem »Unterwegssein als Ziel – dem Faden an und für sich – nicht als Überwindung und Fortschritt«. (ebd.) Wie angesprochen kann das Werk als Weiterführung des Motivs im Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« gelesen werden, durchaus in einem lokalen Sinne, insbesondere, was die Cité des Platanes betrifft, die eine Art von Gegenlabyrinth (VM, 72) kennt, »direkt hinter der Mauer, die es von der Cité trennte: zwischen dem Boulevard de Clichy, der Place Pigalle, de Rue Véron und der Rue Germain Pilon […]«. (VM, 12) Es finden sich darüber hinaus einige Passagen, wo auf den Begriff des Labyrinths bzw. den Mythos von Minos und Minotaurus explizit eingegangen wird, etwa wo es heißt: »Wenn das Wort Labyrinth von dem griechischen Wort Doppelaxt abstammt (labry), so erschien dieses Wort in diesem architektonischen Slum in der Baufälligkeit der kreuzweise über den Wegen gestaffelten Balken, für die der Schlag einer Axt nicht mehr nötig ist, um sie zum Einsturz zu bringen und der einer Doppelaxt nie genügen würde. Wenn das Wort Labyrinth sich der mythischen Palastanlage in Kreta unter Minos verdankt, so gilt es gleichermaßen für Palast und Irrgarten. Minos schloß jährlich vierzehn Jungfrauen und Jünglinge ins Labyrinth, die ihm als Tribut für den Mord an seinem in Attika ermordeten Sohn Androgeos ausgehändigt wurden, Die in den Feind verliebte Tochter des Minos und Schwester des Minotaurus′, Ariadne, schenkt Theseus das Knäuel, an dessen Faden er mit dem athenischen Menschentribut den Weg zurückfindet. (Es heißt, Minotaurus sei im Zweikampf mit Theseus gefallen. Doch vielleicht befreite der Faden der Ariadne auch ihn, und er verließ mit dem Schiff des Theseus die Insel Kreta und war ein Begleiter der schutzlosen Ariadne, als Theseus die 665 Dieckmann (2003).

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Geliebte verstieß, aussetzte, auf einer anderen Insel, aussetzte dem Schlaf und Vergessen).« (VM, 12)666

Im »Glaskasten«, wo die Bekanntmachungen für die Bewohner des Hauses hängen. beginnt im Roman als Nr. 1 unter dem Titel »Miniaturen, Minotauren« die Geschichte des Minotaurus’, allerdings auf eine ganz neue Art erzählt und manches im Verhältnis zur mythologischen Version ästhetisch »klarstellend«: »Die Legende behauptet es, doch es war nicht Minotaurus, der das Monster war. Im Labyrinth wurde ein Miniatur-Stier gefangengehalten. Das Monstrum war Minos. (Minos, der wegen seiner Gerechtigkeit im Hades das Amt eines Totenrichters verwaltet.) Er zog gegen Athen und verlangte als Siegestribut jährlich die Blüte, sieben Knaben und sieben Mädchen. Dezimierung der Blüte, die Athen ausblüten ließ. Er forderte sie als Fraß für den Stier, ein Geschenk des Poseidons. Daedalus baute das kretische Labyrinth und ein Kuhkörper für Pasiphae¯. Als Kuh empfing sie Minotaurus von ihrem Geliebten, und Minos, der König sperrte sie ins Gefängnis. Stier oder Schwan oder Hund – in ihrer Gestalt nähern sich Götter.« (VM, 6)667

Alle im Werk auftauchenden Bewohner werden in Relation zum Labyrinth gesetzt, in diesem Fall zur Wohnanlage, zum eigenen Labyrinth, so wie es über die Concierge heißt: »Finstere Gedanken heute, da sich der Fall so nahe an ihrer Lounge abspielt? Eine Verschleppte, eine Verschlagene, die aus ihrem Labyrinth kaum weiter herauskommt als bis zur Boulangerie oder am Wochenende bis nahe ans Meer. Hätte man ein Söhnchen zu ihren Füßen spielen sehen, hätte man ihr die Rolle einer portugiesischen Andromache zuschreiben können – hier hatte sie die Rolle der Ariadne nach Naxos verschlagen, fern von Kreta. Auf dieser Insel, die zugleich Wiederkehr des Labyrinths war, hatte sie schon Dionysos gefunden und mußte Minotaurus nur schützen, indem sie seinen Namen nicht preisgab. Wer war es, welcher von all den Junggesellen?« (VM, 33f.)

666 Vgl. auch: Hennig (2015), 11. 667 Vgl. auch: VM, 6–9, 34 u. 38: »Julio, der Junge, durfte herumgehen und sich die Masken und Skulpturen ansehen, ohne daß Luis ihn mit endlosen Erklärungen langweilte, und er mochte besonders den kleinen Minotaurus, der auf der ersten Ebene zum Garten, auf dem Schreibtisch stand, Ein männlicher Torso mit Stierkörper und Maske mit Hörnern. Luis sagte aus der Verbindung von Tieren und Menschen entstünden keine dritten Wesen, Mischwesen, aber die ganze Kunst und Literatur sei voll von geflügelten Pferden, fischschwänzigen Jungfrauen, Pferdmännchen, als Schwäne verzauberten Jünglingen, in Stiere verwandelten Göttern,« Das Motiv taucht im Text fast durchgehend auf, vgl. auch: VM, 39 oder VM, 41: »Sicher nicht, wer von morgen bis abends durchs Labyrinth eilen muss, murmelte Luis, aber – mochte er vermuten, wenn er an die Geschichte der MinotaurusFamilie dachte – hatte nicht auch Zeus keine Mühe und Umstände gescheut, um sich in Stier oder goldenen Regen zu verwandeln, wenn er Europa, Io oder Danae verführte? Vielleicht war der Autor [der Autor ist der Täter und umgekehrt, im Sinne von Täterschaft, Ergänzung SW] keine Bande von Übeltätern, sondern ein kleiner Lehrer, der sich in die Figur seines Verführers geträumt hatte, Verführung gebaut wie ein Tango, ein Stierkampf ?« (an Picasso erinnernd).

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Das Labyrinth ist zugleich das Versteck, in dem sich zu verbergen ist; es fungiert zugleich aber als Gefängnis bzw. »Verlies« (VM, 73) oder »Verhörraum« (ebd.), in dem der Junge Julio festgehalten wird. Anders als in »Vertreibung aus dem Labyrinth« wird diesem Labyrinth eine multiple Bedeutung in Hinsicht auf ästhetisch dargestellte Räume zugeschrieben, worauf Schmeling (2007) verweist. Die Wohnanlage und Paris fungieren als Labyrinth, dazu erscheint die formal ästhetische Erzählstruktur als im Sinne Ecos labyrinthisch sowie die Anspielungen auf andere Texte, Künstler und Personen überhaupt etc. Indes betont die Erzählerin, dass »Ganzheit der Geschichte« eine Erfindung der Menschen sei – »wenn überhaupt waren nur Anfang und Ende festgelegt. (VM, 9)668 Unter Verweis darauf, dass es im Roman heißt, »Anekdoten auf Anekdoten, unterbrach sich Gonzáles, auch das ist verboten im modernen Roman« (VM, 125), führt Schmeling weiter aus, dass die implizierte Poetik des Romans darin besteht, »geradezu mit dem Kontrast zwischen ganzheitlicher und teleologischer narrativer Strategie auf der einen Seite und postmodernem Verfahren auf der anderen zu spielen«. Dazu führt er weiter aus: »Natürlich erscheint hier die Auseinandersetzung mit den Modellen schon wieder wie ein ironisches Spiel derjenigen, die über (mehr oder weniger) wissenschaftliche Labyrinthdiskussionen gut informiert ist/sind. […] Wie kaum ein anderes Muster, scheint das Labyrinth geeignet, die für postmoderne Produktionen typische Mischung aus Theorie und Praxis auf literarischer Ebene zu verkörpern.« (Schmeling 2007, 261)669

Zudem wird durch das Labyrinth die Verbindung von Göttlichkeit und Kreatürlichkeit andeutet, gerade in den Zwischentexten, den Tierfabeln, die mit Mythologien verbunden werden.670 In diesem Zusammenhang wird wieder jene Mischung aus »Pomp« und »Müll« (VM, 102) von Paris angeführt. Es sei daran erinnert, wie wichtig für Gruenters als Gegenwelt zur deutschen Welt der »Schmutz von Paris« war. (vgl. Kap. 5.1.1.)671 »Diese Miniatur-Texte, im Roman auch visuell durch einen graphisch präsentierten »Kasten« (horizontale und vertikale Linien) als solche kenntlich gemacht, sind phantastische, absurd anmutende Dekonstruktionen kanonischer Fabeldichtung (mit LaFontaine-Reminiszenzen). Sie erinnern an den Hauptakteur des Romans, den Romancier Louis Gonzalés, an die Textsorte des Cadavre Exquis. […] dies, seinerseits von den Surrealisten eingeführte Genre.« (VM, 23, Schmeling 2007, 257)672 668 Ebd.; »Mit einer einzigen Garnrolle konnte kein Mensch zurückholen, was abwesend war: keine Insel der Herkunft. Kein Labyrinth ging ins Garn einer Erzählung.« 669 VM, 8f., vgl. auch Umberto Eco: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. Leipzig: Reclam 1999. 670 Über die griechische Kultur hinaus, vgl. VM, 107: Katze und Pyramide. 671 Vgl. dazu auch Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter. Zürich 2000: Diogenes, 34: »In Paris, wo der Schmutz zur Folklore gehört.« 672 Diese Beziehung zu La Fontaine wird im Buch hergestellt: VM, 67.

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Diese Texte werden somit inhaltlich und formal zum eigentlichen »Ärgernis« innerhalb des Romans, weil sie nicht »lokalisierbar«, nur sehr bedingt verständlich sind und zum anderen der genaue Urheber dieser Texte nicht ermittelt werden kann. Darüber hinaus spielt die Erzählerin mit der Doppelbedeutung von Autor als Erfinder und Täter: »Im Glaskasten gegenüber der Concierge, wo normalerweise die Hausordnung hängt […], tauchen plötzlich […] kurze, als Tierfabeln getarnte Mitteilungen auf, die den Hausfrieden empfindlich stören. Von wem stammen sie – und wer ist gemeint?« (VM, Klappentext) In diesem Kontext spricht der Erzähler respektive die Erzählerin vom »wilden Urwald« von Paris. (VM, 97) Gruenters Idee bestand darin, diese beiden Ebenen in einem Raum, in diesem Fall einem Textraum, der graphisch so gestaltet ist, zu vereinen.673 Im weiteren Verlauf werden dazu noch die Ebene des Surrealistischen mit der des modernen respektive postmodernen Erzählens verbunden: »Denn es gab Witzbolde, welche behaupteten. die Frage, ob Kunst Terror Angriff, auf die Norm (den Glaskasten, den Informationsfluss, das Syndikat) sei oder reines (nicht verbindliches) Spiel, sei vielleicht nie zu entscheiden.« (VM, 67) Schmeling merkt dazu an: »Als Spiel ließe sich diese Sache (die ›Glaskasten-Dichtung‹) unter Eingeweihten nicht mehr bezeichnen, sagte der Detektiv. Das Syndikat habe Anzeige erstattet […]. Und die Täter wären bereits jetzt, vorverurteilt. Durch die Bezeichnung der ganzen Aktion als PSYCHO Terror. Wem fallen dabei nicht die Bände von ›Poetik und Hermeneutik‹ ein: Der Band über den Mythos lautete. ›Terror und Spiel‹ […] Wenn der Spiel-Gedanke hier Blüten treibt, dann unabhängig von avantgardistischen Einzelströmungen. Unter den Bedingungen des Labyrinths und des Spiels gehen Surrealistisches und Postmoderne nahtlos ineinander über zumindest soweit es diesen Roman betrifft.« (Schmeling 2007, 152)674

Gruenter benutzt hierzu den Begriff der Moderne (VM, 76f.), Schmeling spricht auf das Werk bezogen vom »narrativen Konstruktivismus in den Labyrinthen der Postmoderne«. In Anbetracht des Vorbehalts der Autorin gegenüber der Postmoderne, zumindest des Begriffs gegenüber, sei jedoch dabei trotz Schmelings emphatischer Bekräftigung Vorsicht geboten: »Undine Gruenters Roman Das Versteck des Minotaurus ist ein postmoderner Labyrinth-Roman par excellence, wenn man die dädalischen Prinzipien der Gestaltung zugrunde legt. Die Handlung ist in der Grundstruktur wenig spektakulär, im abschweifenden Detail aber eher kompliziert und für den Leser eher schwer nachvollziehbar. Sie spielt weitgehend innerhalb eines labyrinthischen Pariser Gebäudekom-

673 Im zweiten Teil gehen die Ebenen ineinander über. 674 WM, 132; vgl. dazu: Manfred Fuhrmann: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München: Fink 1971.

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plexes am Fuße des Montmartre, der noch aus der Passagenwelt des 10. Jahrhunderts stammt und den Namen Cité des Platanes trägt.« (Schmeling 2007, 257)

In jedem Fall wäre es wahrscheinlich angemessener vom Begriff der Neomoderne oder eines Neuen Realismus im Sinne Gabriels675 zu sprechen oder – und das kommt Gruenter am nächsten – von surrealen Textkollagen (vgl. dazu auch Müller 2017, 53ff.). »Die konkrete Gegenständlichkeit des Labyrinths als Garten, Konstruktion, Spiel etc. entspricht somit einer empirischen Realität. Man könnte ergänzen: Auch die gewollt labyrinthische Struktur eines modernen Romans entzieht dem Labyrinth ein Stück weit seine metaphysische Qualität und rematerialisiert es gleichsam auf der Ebene des diskursiven (ästhetischen) Spiels.« (Schmeling 2007, 254)

Hilfreich erscheint der Hinweis von Schmeling, dass die mythologische Deutung im Zuge der Moderne ihre Verbindlichkeit eingebüßt hat und somit die Autonomie der ästhetischen Deutung und Darstellung größer geworden ist. »Man kann in der Tat feststellen, dass das Labyrinth im Verlaufe der Geschichte, d. h. im Zuge von Säkularisierung und Entmythisierung, immer deutlicher an ästhetischer Autonomie gewinnt. […] Diese ästhetische Autonomie, wie sie sich heute unter anderem in den Labyrinthstrukturen moderner und postmoderner narrativer Texte als Strategie behauptet, konfrontiert den aufgeklärten Leser zugleich mit einem Paradox: nämlich mit dem Bewußtein, dass auch der weltliche Rückzug aufs Ästhetische noch mythologisch-symbolisch auslegbar ist.« (Schmeling 2007, 253)676

Zudem wird der Begriff des Labyrinths im Text in unterschiedlicher Bedeutung diskutiert und durchdekliniert,677 wo von den Grenzen des Labyrinths, (VM, 175) 678 vom Labyrinth der Moderne (VM, 76f.) und vom Labyrinth der Einsamkeit (VM, 174), von Gegenlabyrinthen (VM, 72), vom Dachlabyrinth (VM, 166f.) oder vom Nachtlabyrinth (VM, 107ff.)679 die Rede ist. Dieses Nachtlabyrinth ist eng mit den Konzepten der Surrealisten verbunden, wozu es heißt:

675 Markus Gabriel (Hg.): Der Neue Realismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2014. 676 Vgl. Manfred Schmeling: Labyrinth-Künste, Intermedialität und Modernität eines Mythos. In: M. Moog-Grünewald/C. Rodieck: Dialog der Künste. Intermediale Fallstudien zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Erwin Koppen. Frankfurt/Bern/Paris/New York: Peter Lang 2003; vgl. auch den Teilartikel von Utz Riese innerhalb des Beitrags zur »Postmoderne/ postmodern«. In: K. Baark (Hg.): Lexikon für ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart: Metzler 1990, 353–369. 677 Anders als in dem Werk »Vertreibung aus dem Labyrinth« wird das Motiv in völlig andere Zusammenhänge gestellt. 678 Immer wieder wird von den Grenzen des Labyrinths gesprochen. 679 Ebd.: »Nachtlabyrinth – blendet wie eine Nachtschönheit auf der Bühne, der man die Schäbigkeiten, den Schmutz und das Alter nicht ansieht.« (im Original kursiv gedruckt, Ergänzung SW), vgl. dazu auch: VM, 110.

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»Wo sind die Nachtschwäne und Nachtpfauen, deren abstoßende bizarre Schönheit den Surrealisten den Abgrund des Bürgertums garantierten, die anderen Seiten der Stadt, deren Ferien und erotischen Ausschweifungen Hohn über das Akt-Bild im elterlichen Schlafzimmer ausgossen wie einen Nachttopf mit Pisse, die mit Flittersternchen übersät ist? Wo verwandelt das Geschäft mit Sex und Lederwäsche und Lackstiefeln und ein paar Flaschen Champagner Realität in das Ganz Andere?« (VM, 108)

Außerdem wird das Werk im Verlaufe der »Erzählung« formal ästhetisch und strukturell immer »labyrinthischer«: Sind in der ersten Hälfte (etwa 100 Seiten) die Referenzen noch durchgängig klar und relativ eindeutig, so verzweigt sich der Roman in der zweiten Hälfte immer mehr und wird in der Tat schwerer lesbar, worauf in einigen Rezensionen hingewiesen wird, die den Roman deshalb zum Teil als »unlesbar« einordnen. Hermeneutisch wird man darauf verzichten müssen, alle die einzelnen Fäden der Ariadne aufzunehmen, zusammenzuführen und somit zu einem endgültigen Verständnis zu kommen. In diesem Sinne ist Schmeling beizupflichten, wo er »von komplizierten, labyrinthartigen Verschachtelungen eines belletristischen Textes« spricht (Schmeling 2007, 258), aus denen im Gegensatz zum herkömmlichen Verständnis des Labyrinths hermeneutisch nicht mehr hinauszufinden ist.680 Der Raum bedeutet sowohl Labyrinth wie Paris konkret zugleich, was an sich schon wieder ein eigenes Labyrinth darstellt. (VM, 28) Schmeling ist darin zuzustimmen, dass es sich um ein ästhetisiertes, oder man könnte sagen, um ein vermitteltes und mittelbares (nicht durch die unmittelbare Erfahrung wiedergegebenes) Paris handelt, wie diverse Textstellen ausweisen.681 680 Vgl. dazu: Franco Buono: Zwei Bücher, ein Labyrinth: das Mausoleum und das PassagenWerk. In: Brittnacher/Janz (2007), 170–181. 681 Vgl VM, 98 der Traum der Surrealisten, u. a. Breton. Vgl. dazu Hazan (2006, 317). In diesem Zusammenhang sei an den Text von Marcel Duchamp »The Creative Act« erinnert, wo er schreibt: »Let us consider two important factors, the two poles of the creation of art: the artistic on one hand, and on the other the spectator who later becomes the posterity. To all appearances, the artist acts like a mediumistic being who, from the labyrinth beyond time and space [Hervorhebung SW], seeks his way out of a clearing.« In: Marcel Duchamp: First Papers on Surrealism. Ausst.-Katalog New York, 1942, 113f. Für diese Ausstellung arbeitete Marcel Duchamp eng mit André Breton, Sidney Janis und R.A. Parker zusammen, dt. in: Marcel Duchamp: Die Schriften. Hg. v. Serge Stauffer, Bd. 1, Zürich: Regenbogen-Verlag 1981, 239f.: »Betrachten wir zunächst zwei wichtige Faktoren, die beiden Pole der Kunstschöpfung: auf der einen Seite den Künstler, auf der anderen den Zuschauer, welcher später zur Nachwelt wird. Allem Anschein nach handelt der Künstler wie ein mediumistisches Wesen, das aus dem Labyrinth jenseits von Zeit und Raum seinen Weg zu einer Lichtung sucht.« Vgl. auch: Nike Bätzner (2007): Die Dynamik des Labyrinthischen. In: Brittnacher/ Jamz 2007, 113–126, hier 113: »Die Ausstellung wurde vom 14. Oktober bis 7. November 1942 gezeigt in der Madison Avenue 451 und machte unter anderem dadurch Furore, daß Duchamp einen Raum, in dem auf Stellwänden Werke verschiedener Künstler präsentiert wurden, kreuz und quer mit Schnüren durchzog (mile of string) wodurch dieser nur teilweise betretbar war – ein gleichsam labyrinthisches Verfahren.«

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»Der Roman endet also nicht mit einer Schließung des Rahmens (und des Raums), d. h. der Identifizierung der Täter durch die Detektive, sondern auf der Text-Ebene der Anschläge selbst ›[…] es waren phantastische‹. Der Leser bleibt allein zurück im Labyrinth der Mutmaßungen und strukturellen Verwicklungen.« (Schmeling 2007, 258)682

Am Schluss bleibt nur »eine neue Verwicklung des Fadens, der doch herausführen sollte«. Schmeling setzt das Labyrinth zum einen in Beziehung zum Spiel im Sinne von Schiller und Huizinga,683 und zum Sprachspiel im Sinne von Ludwig Wittgenstein, zum anderen weist er auf die Doppelbedeutung von »Anschlag« im konkreten Sinne des Anschlags von Blättern sowie eines terroristischen Anschlags hin. Diese unterschiedlichen Fäden, an denen evtl. hermeneutisch der »Minotaurus« aus einem Versteck des Labyrinths zu ziehen wäre, um im Bild bzw. in der Metapher zu bleiben, verfängt nicht und lässt den Minotaurus sich nur immer weiter in sein Versteck zurückziehen. Es kann nicht darum gehen, den »Stier metaphorisch an den Hörnern« zu ergreifen. Übrig bleibt der Stachel im Finger, den man durch noch so viele (Verstehens-) Versuche immer nur noch tiefer in den Daumen hineintreibt. Der Minotaurus steht zudem konkret wie bildhaft für sehr Disparates: »Minotaurus war der Name einer Zeitschrift der Surrealisten in den dreißiger Jahren. In schwachen Momenten, so warfen ihm seine Kritiker vor, behauptete Louis Gonzáles wie auch der Autor – Minotaure spiele auf eine Form labyrinthischen Denkens an, die dem unendlichen Projekt der Moderne angemessen sei […]. Unendlich – und nur der Wasserfaden aus dem Schlauch der Madame Alvarez löscht die Spuren der Schritte im Labyrinth, die den, der den Ausgang sucht, in die Irre führen. PAS PERDUS heißt ein Buch von Breton, Verlorene Schritte, verloren in einem Labyrinth, das der einfachen Figur von Zeit und Weg: der Geraden, der Strecke von A bis Z vorzuziehen sei. Und eine andere These Bretons behauptet, Freiheit sei eine Reihe von Schritten, die man gehen müsse, um sich zu befreien […].« (VM, 96)

Die fiktiven Figuren des Romans stellen ein großes Spektrum zur Verfügung: der etwa fünfzigjährige Übersetzer und Schriftsteller Louis Gonzáles (VM, 19, 23 etc.), die Concierge Madame Alvarez, eine Portugiesin (VM, 48), Monsieur Al682 VM, 23. 683 Im Text wird des Öfteren von »Vexierspiel« gesprochen, vgl. VM, 68. Schmeling schreibt von einem»[…] seltsamem Vexierspiel, […] einem Sprachspiel nach den Regeln des komplexen, proliferierenden, unabgeschlossenen Labyrinths, […] als ein Labyrinth der Verwandlungen, Verschiebungen, Verdoppelungen, Multiplizierungen, Variationen, von bereits Vorgedachtem, bereits Besprochenem, ästhetisch Geformten.« Er betont dabei die Analogie zum Traum und in diesem Kontext stellt er einmal mehr den Spielcharakter des Vexierspiels heraus, »in dem die ästhetische Konstruktion funktional bestimmend ist. Es handelt sich um ein Spiel auf der Ebene der Signifikanten-Struktur, der Bedeutungsvermittlungen, ästhetischen Materialien und symbolischen Formen, nicht so sehr um die Fixierung von Bedeutung selbst.« (Schmeling 2007), 262f. Diese Bedeutung oder jede potentielle Form von »Hintersinn« verliert sich in der Suche des Detektivs wie des Künstlers im Labyrinthischen.

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varez, der Detektiv Monsieur Dupoivre (VM, 34)684 oder die »südamerikanische« Familie Diaz, allen voran die rothaarige Frau Dolores Diaz685, die vorwiegend mit Literatur umgeht (VM, 99) und die mit einem »südamerikanischen Schriftsteller zusammenlebt, der nicht Julios Vater ist« (VM, 123)686 sowie Julio, der als siebenoder achtjähriger Sohn bezeichnet wird (VM, 29), in Wirklichkeit aber bereits elf ist (VM, 38). Dazu treten noch dessen Freunde auf, außerdem die Hündin Emile, eine Promenadenmischung, die Präsidentin des Syndikats (VM, 31, 35ff., 45 etc.) 687 mit spanischem Hintergrund, der Mann der Präsidentin (VM, 43f.), die alte Dame mit dem bezeichnenden Namen Binswanger aus Österreich (VM, 62ff.), Monsieur Pas-Ici, ein Professor der Literaturwissenschaft (VM, 53), mehrere (Theater-) Schriftsteller wie Monsieur Brouke, ein Psychoanalytiker, Madame Schmidt, die Nachbarin (VM, 115) oder Madame Waechter (VM, 139). Im zweiten Teil des Romans treten immer mehr neue Figuren auf, ohne dass sie besonders eingeführt würden, darunter bekannte Persönlichkeiten wie Luis Bunˇuel (VM, 65, 98, 152 »L Age d’or«), Jean Cocteau (ebd.), Dunja Barnes (VM, 159), Kafka, Joyce (VM, 159 und das Café de Flore (VM, 159), Borges (VM, 113), Verlaine (VM, S, 163, 164), Keats (VM, 122), Tahar Bel Jelloun, Nerval (VM, 159), Coco Chanel (VM, 159)688, Sylvie Vartan (VM, 163), Jacques Tati (VM, 182), die Gruppe Porte Libre (VM, 179 und die Aktionen Cave Blanche und MUR ROUGE) oder ähnliche, aber vor allem Breton (VM, 98f.), Aragon (VM, 159, 161 taucht wieder der Paysan de Paris auf), Baudelaire, Anatole France (VM, 180), Bataille (VM, 155) und Benjamin im Besonderen und seine Vorstellung vom »Sürrealismus« (wie bei Benjamin mit ü- geschrieben, VM 156). Allein die Aufzählung dieser Namen erfüllt schon diese Kriterien von Anspielungen, Rätsel, Verwicklung und Verwirrung. »Die Suche nach den Verfasser der geheimnisvollen ›Anschläge‹, bei der Louis Gonzáles, der Romancier, von dem Detektiv Dupoivre unterstützt wird, führt zu keinem Endergebnis – vor allem aus strukturellen Gründen nicht: Der letzte der 32 Anschläge berichtet über einen Psychoanalytiker, der seine Patienten, nicht nur zu analytischen Zwecken, auf die Couch zwingt. Eine seiner Besucherinnen erzählt nach überstandener Analyse und mit aufgewühlten Haaren die archaische Labyrinth-Legende, in deren Zentrum die Besteigung der künstlichen Kuh steht, noch einmal. Dann wird berichtet, daß der Psychoanalytiker, Mitbewohner der Cité, seinerseits an einem Labyrinth-Text

684 Er wird erst spät mit seinem eigentlichen Namen genannt, an einer Stelle wird nahegelegt, dass der Detektiv zusammen mit Luis Gónzalez für die »Tat« selbst verantwortlich sein könnte, indem sie »ihren Kriminal-Roman weiterspannen« (VM, 111). 685 Es handelt sich hier um den südamerikanischen Namen per se. 686 Sie hatten sich in der spanischen Buchhandlung in der Rue Lepic kennen gelernt. 687 Das Syndikat ist in Frankreich die Vertretung aller Hausbewohner. 688 »[…] daß nur Ausländer Gesellschafts-Geschichten über legendäre Häuser in Paris läsen […]« Vgl.: Hazan (2006).

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schreibt. Wie gesagt, alles das geschieht innerhalb des Glaskasten-Textes.« (Schmeling 2007, 257f.)

Gegen Ende des Romans hin werden fiktive Figuren und bekannte Persönlichkeiten der europäischen Kulturgeschichte, aber auch Motive wie Griechenland, le nouveau Athen (Hazan 2006) und Paris, Mythologie und Gegenwart, Literatur und Literaturtheorie689, das Gestern und das Heute (VM, 138), besonders in der Figur des Louis Gonzáles, zusammengeführt690: »Seine [Luis Gonzáles’, Ergänzung SW] kurze, stürmische, erste Ehe […] – hatte ihn aus der Einsamkeit im Quartier Latin nach Belleville geführt. Er arbeitet, wie der Held (Massin, Tápies, Gozalés) in seinem späteren Roman, in jenen Jahren als Künstler und legte Labyrinthe an, deren utopische, perfektionistische Kasernen-Architektur durch den Plan als Ruine gebrochen wurde. Er hatte ein großes, ebenerdiges Atelier mit Glasfenstern und Glasdach in der Rue de Retraite, einer billigen Seitenstraße der Rue des Pyrénées, das Atelier war ein Anbau (Veranda?) an eins der typischen kleinbürgerlichen Einfamilienhäuser in Belleville, das er mit einem angrenzenden Zimmer, das heizbar war, von einem Mann gemietet hatte, der in der Rue Orfila einen Elektrohandel betrieb. Anekdoten auf Anekdoten, unterbrach sich Gonzáles, auch das ist verboten im modernen Roman […], denn es gab gleich Szenen, daß ich einen Lippenstift von MarieLaure liegen ließ, wo sie ihn in der Wut hingeworfen hatte, nämlich im neunten Hof von Knossos XVIII, der 17. Variation in der Serie Paläste, Labyrinthe, Ruinen direkt neben einem kaputten Ziehbrunnen und der rostigen Kette. Auch die Rue de Retraite war eine der angeblich immer letzten Pariser Idyllen, mit kleinen Höfen, Gärten, Katzen, zwei-

689 Gruenter zeigt sich hier auch von der Romankonzeption Allain Robbe-Grillets zum Nouveau Roman beeinflusst, in dem Sinne, den »Roman zu einer »kritischen Untersuchung der Wirklichkeitserkenntnis« zu machen. Vgl. Radisch (2017) und Michel Butor: Répertoire II. Études et conférences 1959–1963. Paris: Gallimard 1964. Die Werke erschienen größtenteils im Verlag Éditions de Minuit und versuchten, »mit der westeuropäischen Romantradition reinen Tisch zu machen durch Abschaffung des Romanhelden und seiner Psychologie, durch Zerbröselung der Handlung, durch äußerst ungereimte Konstruktionen und endlose zwanghafte Beschreibungen vollkommen uninteressanter Objekte.« Réal Ouellet: Les critiques de notre temps et le Nouveau Roman. Paris: Gallimard 1970, 7. Vgl. dazu: Allain RobbeGrillet: Argumente für einen neuen Roman. Essays. Übers. Marie-Simone Morel, Helmut Scheffel u. a. Dt. Auszug: Neuer Roman, neuer Mensch. In: Verena von der Heyden-Rynsch (Hg.): Vive la littérature! Französische Literatur der Gegenwart. München: Hanser 1989, 209–214. Übers. Marie-Simone Morel. Vgl. AS, 181: »Arbeit: Erkenntnisse des nouveau roman (Undurchdringlichkeit der Wirklichkeit, deshalb keine Innen-Psychologie, sondern fragmentarische Außenansichten des Geschehens) nicht aufgeben, aber mit fragmentarischen Mitteln (Fülle von Wirklichkeit) verknüpfen. Leichtigkeit anstreben.« Zugleich kritisiert sie den Nouveau Roman aber zugleich im Hinblick auf die verschwundene »Personenidentität der fiktiven Figuren«. (AS, 290) 690 Damit nimmt sie wiederholt Erkenntnisse der modernen Gedächtnisforschung vorweg, wonach Menschen Erlebtes, Gelesenes, Gedachtes, und medial Vermitteltes etc. in ihrer Erinnerung zusammenbringen.

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stöckigen Häusern, Baguette-Stangen und Geranientöpfen im Küchenfenster.« (VM, 125f.)691

Einen großen Textteil des Romans nimmt eben jener Schriftsteller Gonzáles ein. Die Erinnerungen seiner Mutter (vgl. z. B. VM, 56ff.,75, 87ff.) sind dazu gemäß in der Ich-Form als einer Art Einführung geschrieben (VM, 24). Insgesamt lässt sich der Roman in der Tat als ein Roman über das (Roman-) Schreiben bezeichnen. Der Täter wird in diesem weiten Sinne als Autor in einer Doppelbedeutung bezeichnet, als poéte maudit – nicht zuletzt deshalb, weil Gonzáles selbst einen Roman »Schwarze Spiegel im Labyrinth« geschrieben hat. (VM, 54., VM, 85f.)692 »Der Titel dieses Textes, ›Miniatur der Begierden, Minotauren im Labyrinth‹, liest sich wie die variierende Fortsetzung nicht nur der antiken Legende, sondern auch des ersten Aushangs, der einen ähnlichen Titel trägt: ›Miniaturen, Minotauren.‹ Der Psychoanalytiker als Autor der Anschläge? Da aber der Schriftsteller Gonzáles seinerseits Einschlägiges verfasst hat (etwa seinen früheren Roman ›Schwarze Spiegel im Labyrinth‹), könnte man auch an ihn als Urheber der Glaskasten-Texte denken. Als Suchender im Labyrinth der Anarchie und des Terrors (Schlüsselbegriffe aus dem Roman, der das Wörtchen ›Anschlag‹ in einer Doppelbedeutung von Text und Terror ausbeutet) wäre er Theseus, der Urheber der Anschläge, aber zugleich ein verlängerter Arm des Minotaurus oder auch ein poète maudit, eine Mischung aus Künstler und Verbrecher, wie es im Text heißt.« (Schmeling 2007, 258)

Im Treppenhaus hängt ständig ein neuer Zettel, immer an der gleichen Stelle. Insofern ließe sich im konkreten Sinne des Worts von einem »Zettelroman« sprechen. Dazu werden die Straßen, die an das Labyrinth grenzen, aufs Genaueste beschrieben (VM, 40) und Zitate aus einem von Gonzalez’ Büchern eingefügt (VM, 20–22, 24–28) oder genaueste Beobachtungen zusammengetragen. (VM, 36)693 Im Sinne des literarischen respektive künstlerischen Raumschaffens werden durch die genaue Beschreibung der Gegenstände respektive der Dinge sowie den Ausführungen der Mutter von Louis Gonzáles Teile der Familiengeschichte eingefügt und als »surrealistische Stimmen« gekennzeichnet. Dazu werden »programmatische und poetologische Äußerungen« über den vermeintlichen Täter und Autor in den Text eingestreut: »Der düstere Durchgang inspirierte Louis Gonzáles in den nächsten Tagen zu einer Überarbeitung eines Kapitels in seinem Roman, der im Herbst in neuer Auflage er691 Neben Belleville taucht das Viertel Goutte d’Or auf (VM, 135), das Gruenter bereits in »Vertreibung aus dem Labyrinth« erwähnt. Vgl. auch Hazan (2006, 196). Ebenso wird hier die Flucht thematisiert, aber eher in untergeordneter Funktion auf den Mythos bezogen: »Flucht oder Vertreibung?« (VM, 137). 692 Dieses wird sogar konkret als seines bezeichnet und stellt zugleich einen weiteren Aushang dar. Außerdem schrieb er laut Text ein kleines Prosastück unter dem Titel »Phöenix? Kein Phoenix? Aus der Asche?« 693 Wie über die Namen der Schreibmaschinen Olivetti und Siemens.

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scheinen sollte. Wie viele phantastische Autoren war er vom Raum und der Architektur fasziniert; von der Leere und von der Zeit, die aus diesen Räumen verbannt scheint. Nichts scheint »zeitloser« als Sand oder Wasser oder veraltete Labyrinthe.« (VM, 24f.)

Warum nun dieses Werk als seitens der Kritik besonders schwer lesbar gilt, das mag zum einen damit zusammenhängen, dass es keinen eigentlichen Protagonisten gibt und die Fabeln schwierig miteinander oder mit dem durchgängigen Text zu verbinden sind (VM, 37). Diese Wohnanlage, die im Text als »Labyrinth« bezeichnet wird (VM, 60), ist genauso der heimliche Protagonist bzw. die Protagonistin des Werks wie das »literarisierte und artifizierte« Paris, (VM, 36), jene »Lehrmeisterin in grau« (VM, 50), die sich durch Leere (VM, 14, 24) und Stille bzw. Ruhe (VM, 11) auszeichnet. Dementsprechend werden auf ersten vier Seiten nur Gebäude beschrieben, von konkreten Figuren ist nicht mal im Entferntesten die Rede. »Die ›Cité des Platanes‹ ist eines jener verwunschenen Pariser Gebäude-Ensembles, die die Träume der Avantgarde-Künstler, Regisseure und surrealistischen Dichter fortträumen, ein romantisch-poetisches Zeichengelände mit efeuumrankten Squares, Atelierhäusern, Pavillons und tief unterkellerten Bürgerhäusern aus der Jahrhundertwende, so real wie phantastisch, so imaginär wie konkret. Diesen Gebäudekomplex am Fuss des Montmartre, zwischen der Rue Lépic und dem Boulevard Clichy, hat Undine Gruenter zum verspiegelten Labyrinth ausgebaut, zu einem Irrgarten für ihre Wiedergänger aus Mythen, Film, Literatur und Phantasie. ›Das Versteck des Minotaurus‹ ist ein Terrain voller Zeichen und Wunder.« (Köhler 2001)

Ergänzt wird der Hauptteil immer wieder um die herausgestellten bzw. im Glaskasten ausgestellten Zwischentexte, die der Leser nicht direkt mit dem Haupttext in Verbindung zu bringen weiß, und die außerdem als »Textsammlung« als sehr heterogen erscheinen. Es handelt sich zunächst um ein rein formal ästhetisches »Vergehen«, weil die Texte keine Analogien oder Gemeinsamkeiten aufweisen694, nicht in Übereinstimmung zu dem Erzählten stehen und auf den ersten Blick nichts damit zu tun haben. Ein Erkenntnis gewinnender Weg ergibt sich bei der Betrachtung der Textebenen. Auf gewisse Weise scheint bereits der Aufbau ungewöhnlich, weil es sich trotz mangelnder inhaltlicher Übereinstimmung um eine Art »durchlaufenden« Text handelt, ergänzt um eine zweite Ebene mit kleinen »Miniaturen«, die den »Fließtext« immer wieder von neuem unterbrechen.695 Von Bedeutung erscheint darüber hinaus, dass die Kapitel des

694 Außer jenen einen, dass es sich um Tierfabeln handelt. 695 Ein erster Blick auf das Inhaltsverzeichnis weist das Verfahren im Sinne von Überschriften aus wie: I Im Glaskasten/Miniaturen/Minotauren 5; II Im Labyrinth/Verirrter Pinguin 10; V Die Grenzen des Labyrinths/Der verliebte Igel 28; XV Die kretische Königsfamilie/Aus der Asche 81; XVIII Die Grenzen des Labyrinths/Wachvogel 100; XIX Nachtlabyrinth/Katze und Pyramide 107; XXIX Das Dachlabyrinth/Schwertfisch im Blau 166; XXXI Die Grenze des

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»Fließtextes« nur hinten im Inhaltsverzeichnis extra mit ihrem jeweiligen Titel genannt werden. Im Text sind die Titel kursiv gedruckt und zugleich immer Teil des jeweils ersten Satzes. In einer Art kontrapunktischer Darstellung folgt auf eine Kapitelüberschrift des »chronologischen Textes« die eingeschobenen Einsprengsel von kleinen Texten, denen gemein ist, dass sie durchweg von Tieren und deren mythologischer Bedeutung handeln, fiktiv und durch »postmoderne«696 Einschübe gebrochen: Zu jedem Titel gehört eine Geschichte.697 Die kleinen eingeschobenen »Geschichten« sind in einem Glaskasten an der Rezeption der Wohnanlage Cité des Platanes »installiert«, die in dem Werk mehrfach »Labyrinth« genannt und als solches beschrieben wird: »Das Labyrinth der Cité war eine riesige quadratische Anlage zwischen Boulevard de Clichy, Rue Lepic und Rue Véron. Die hohen siebenstöckigen Gebäude, die die Anlage bildeten, waren in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts gebaut und zeigten mit sandsteinweißen Säulen und Portalverzierungen einen opernhaften Willen zur Repräsentanz, die sich vielleicht ein damaliger Warenhausbetreiber ausgedacht hatte, dem der Amüsierbetrieb am Fuß von Montmartre lukrativ genug erschien, um reiche Kurtisanen, zwielichtige Zeitungsredakteure und biedere Bankangestellte anzulocken.« (VM, 12f., vgl. auch VM, 10f., 14, 24)

Auf der Basis einer konkreten Aufstellung fällt es nicht so schwer, die einzelnen Kapitel zu analysieren. Die Titel geben mehr oder weniger eine »Lesart« vor, es sind im weitesten Sinne alles Dinge und Phänomene, die sich in diesem Haus bzw. Gebäude ereignen oder beobachtet werden können. Die Orte im Gebäude werden von der Erzählerin zum Teil »poetisiert« oder als »poetische Orte« beschrieben, wie der Raum, in dem eine Gewerkschaftsversammlung stattfindet, die reunion de syndicat: »Doch konnte dies Treffen im leicht funzligen poetischen Raum einer längst verschwundenen Generation von Jongleuren (Gauklern,

Labyrinths/Stacheltier mit Lilien 175; XXXII Die Bibel des Minotaurus/Gold in den Stacheln 181. Vgl. VM, 189f. 696 Schmeling (2007, 266) findet eigene Einwände gegen den Begriff »postmodern« und so hätte es Gruenter wohl eher verstanden: »[…] Was heißt da postmodern? Diese ambivalenten, ja mitunter paradoxen Verfahren der mythischen Gestaltung, sind sie nicht in den Windungen des Mythos in bestimmter Weise vorgezeichnet? Schon Daidalus konfrontierte uns mit den zwei Seiten künstlerischer Tätigkeit, mit der konstruktiven wie mit der destruktiven. Zwar wird erzählt, daß er dem Gefängnis seiner Künste vogelgleich wieder entronnen sei, aber sein Ruf als Maudit, als Vertreter ›Dunkler Künste‹ (Homer) überlebt ihn. Der perfekte Bau, die hilfreiche Garnrolle, der Kranich-Text – das sind Bilder, die mit den Bildern des im Labyrinth eingesperrten Künstlers, des listigen Betrügers (Pasiphae und die Kuh) oder des Sturzes (Ikarus) eine ambivalente Bedeutung eingehen: Zumindest in dieser mythischen Perspektive, aber auch in den Stilerscheinungen des Manierismus oder der Postmoderne, scheint die Dekonstruktion dem Kunstvollen immer schon inhärent zu sein.« 697 Signifikanter Weise erfährt die Amsel (VM, 58: Abendamsel, 72) wieder eine Bedeutung als Motiv, das schon den Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« beschlossen hatte.

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fahrenden Sängern, die Künstler heißen) als erste Szene eines Gesellschaftsspiels gelten.« (VM, 67)698 Hieran wie an der Architektur lässt sich jede von Schmeling behauptete Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit festmachen: »Diese postmoderne Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen spiegelt sich auch in der Wohnarchitektur wider. – die labyrinthische Gemütlichkeit des 19. Jahrhunderts wird überlagert von postmoderner Video-Überwachung – vor allem jedoch in den intertextuellen Verflechtungen dieses Romans.« (Schmeling 2007, 261) Gleichzeitig zeigt sich wieder, wie die Literatur zum Thema gemacht und so wieder bewusst und willentlich »überbewertet« wird. Die ganze »Geschichte« hängt sich daran auf, dass diese »Bekanntmachungen« im Glaskasten des Foyers jenes Gebäudes andere Bewohner stören könnten. Deshalb werden im Text diese Aktionen als Psychoterror bezeichnet und gesagt, dass das »Syndikat Anzeige erstatte« (VM, 132) oder dass die »Täter […] bereits jetzt vorverurteilt« (ebd.) seien. Wenn man sich die einzelnen »Einträge« genauer ansieht, stellt man aber fest, dass es sich um keinerlei Beleidigungen, Schmähungen, Demütigungen oder irgendetwas ähnliches in dieser Richtung »handelt«: Es provoziert die Bewohner des Komplexes einfach deshalb – so wird es zumindest im Roman behauptet –, weil es für diese unverständliche Literatur darstellt. Alles beginnt mit dem Auffinden der Zettel »im Glaskasten«, wie der Titel des ersten Kapitels heißt: »Im Glaskasten, der im Flur an der Wand neben der Loge der Concierge hing, war am 9. des Monats, ein seltsamer Anschlag zu lesen, der alle Bewohner in Unruhe versetzte. Sie waren gewohnt, kaum einen Blick auf diesen Glaskasten zu werfen, es hingen meist veraltete – verstaubte und vergilbte – Meldungen dort: ob die Müllabfuhr ihre Zeit gewechselt hatte, wann das Syndikat das nächste Mal tagte, um über die Gartenbeleuchtung oder über die Beschneidung der Bäume zu beraten, ob ein Hundebesitzer die Regeln der Sauberkeit übertreten habe oder daß für alle Bewohner ein Fest auf der Rampe zum Boulevard stattfände, mit Lampions, langen Tischen und Musik. Die Liste ließe sich beliebig verlängern: […] Der sonst so stille Korridor, der am Ende in eine Treppe zum höher gelegenen Hinterhof mündete, eine Treppe mit rot lackiertem Geländer, hätte nun seit Stunden das Geräusch von scharrenden Schritten verzeichnen können, von erstaunten Ausrufen und amüsiertem Gelächter. Die Schritte scharten auf einem für die fünfziger Jahre von Montmartre typischen Steinboden, einem Patchwork aus bunten Kachelsplittern, und der dunkelrote Lack wiederholte sich in der Farbe der Tür und der Täfelung und gab dem einfachen Hauseingang mit der mittags geschlossenen Loge, dem Elektrizitätszähler und den Briefkästen einen eleganten Anstrich. Im Glaskasten stand zu lesen […].« (VL, 5) 698 Vgl. auch VM, 65: »Eine Gespensterversammlung von bekannten Gesichtern, die in der seltsamen Beleuchtung dieses fensterlosen Raums grünliche Haut und rötliche Haare bekamen. Das Kino war 1928 von Künstlern wie Cocteau gegründet, und Bunˇuels ›Andalusischer Hund‹ war hier aufgeführt worden.« Vgl. auch VM, 67.

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In diesem Werk werden wieder »Kultur-« wie »Bildungsvokabeln« benutzt, allerdings in weitaus moderaterer Weise als beispielsweise in dem Werk »Sommergäste in Trouville«. So wird vom syndicat, einer reunion gesprochen (VM, 16), von der Concierge (vgl. VM, 17, 19ff.), wozu die einzige »Zeichnung« bzw. graphische Darstellung im Buch erscheint699, oder von MONOPRIX (VM, 61, 80) gehandelt. Interessanter Weise werden Begriffe wie Psychoanalyse, Moderne (beispielsweise jene im Zusammenhang mit Träumen und Alpträumen, vgl. VM, 76), Postmoderne700 etc. in einem Roman genannt, was für Belletristik nicht gerade die Regel ist, weshalb es sich für manche Kritiker nicht um einen Roman im eigentlichen Sinne handelt, wie es von einigen Werken Gruenters behauptet worden ist: »Kannibalismus – in der Moderne nährte der Mensch sich nicht mehr, bis auf die Knochen, vom Fleisch der eigenen Gattung, nur vom Körper der Fische, Rinder und Hühner. In der Postmoderne nährte der Mensch sich nicht länger von den lebendigen Herzen der eigenen Art – in Psychotherapien, Traumdeutungen, Fallstudien. Doch im Labyrinth war jene Moderne noch nicht verschwunden, nicht ihr instrumenteller Geist der Ausforschung, in dem die Alpträume angeblich produzierten, was verborgene Gegenwart war. (antizipierte Zukunft, verdrängte Vergangenheit)« (VL, 76)

Mit »Kulturvokabeln« bezeichne ich die Anspielungen auf Werke wie »Stille Tage in Clichy« (VM, 172), »Überwachen und Strafen« (VM, 71), Orwells »1984« (VM, ebd.) und Namen von Künstlern und Philosophen etc. wie surrealistische Maler und Künstler (VM, 82) im Besonderen, vor allem immer wieder Breton (u. a. VM, 96ff.) 701 Aragon wird in den »Anschlägen« genannt (VM, 99), dazu Gilles Deleuze (VM, 16, 133 etc.702), Luis Bunˇuel (VM, 19ff., 72, 98, 138 etc., vgl. AS, 297), Oscar Wilde (VM, 41ff.), Samuel Beckett, Le Corbusier (VM, 38) oder Pierre Klossowski (VM, 110f.).703 Außerdem wird hier wie in »Vertreibung aus dem Labyrinth« ein Hinweis auf den Einfluss von Leiris gegeben (u. a. VM, 9 u. 72). 699 VM, 146: »Die Loge am Ende des Tordurchgangs, unten am Boulevard, wirkte wie ein Kontor oder das Büro eines Detektivs: sie hatte als Fenster eine Milchglasscheibe mit breiter Schrift im Halbbogen: [hier folgt jetzt die Zeichnung, Ergänzung SW] und neben der morschen Holztür ragte ein zweites Schild wie an einer Polizeistation über den Weg […].« 700 Von der unterschiedlichen Begrifflichkeit, was die Postmoderne betrifft, vgl. dazu: VM, 77. Es fällt auf, dass von Heidegger hier keine Rede ist, dessen Philosophie oft als »Ausgang aus einem Labyrinth« oder ein als »Lesen in Spiegelgängen« verstanden wird. Vgl. auch: Andreas Engelhart: Im Labyrinth des unendlichen Textes: Botho Strauss Theaterstücke 1972–1996. Tübingen: de Gruyter 2000. 701 Vor allem sein Werk PAS PERDUS (im Roman so in Großbuchstaben geschrieben, Ergänzung SW). 702 Auf seine Konzeption der Wunschmaschine wird im Roman eingegangen, diesmal gilt die Literatur als Wunschmaschine und mögliche Erfüllung dieser, vgl. VM, 86. 703 Außerdem werden Film- oder Literaturfiguren wie Phantomas, (VM, 30) etc., Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Lady Di (VM, 34), Sängerinnen wie Edith Piaf (VM, 34),

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»Doch selbst der alternde Gonzáles, der ein Anhänger der Leirisschen Metapher von der Literatur auf Leben und Tod und ein Gegner von Literatur als unverbindlicher Geiststreichelei war, scheute den Griff zum Revolver, per Literatur. Revolutionäre Taten der Kunst-Aggression mußten nicht unbedingt länger die Grenze zu Labyrinthen, Elfenbeintürmen, Inseln sprengen. Wenn der symbolische Akt – ein Rasiermesser schneidet durch das Auge eines Esels in Bunˇuels Film – die reale Gewalt ohnehin auf den Plan ruft.« (VL, 71f.)

So ist es nicht ganz von der Hand zu weisen, den Roman als Zwitter zwischen Künstler-Kriminalroman und einem Werk poetologischer Reflexion zu lesen, wie von Kritikern behauptet worden ist. In der folgenden Passage werden darüber hinaus Namen der Autorinnen und Autoren genannt, die Gruenter stark beeinflusst haben. »Die kretische Königsfamilie – geadelt durch die Abstammung von Zeus und Europa, aber verglichen mit anderen Familien, in Ägypten zum Beispiel oder in Griechenland, unbedeutend und zum Untergang verurteilt – trug auf der Île Saint-Louis den einfachen Namen Leroy, und ihr Inselreich beschränkte sich auf einige Druck-Pressen, die bibliophile Erstdrucke herstellten, Buch-Druck-Kunst, im Nebenzweig Kunst-Bände und mehrere bedeutende Zeitschriften, die seit mehr als hundert Jahren das künstlerische und intellektuelle Leben in der europäischen Metropole begleiteten. Sie hatten in ihrem literarischen Programm, ob mit jugendstilistischem, kubistischem, surrealistischem, abstraktem Design. Autoren wie Apollinaire, Gide, Breton, Soupault, Eluard, Desnos, Aragon, Reverdy, Simon, Blanchot, Sarraute, Cocteau, Colette, Valéry, Sollers, RobbeGrillet und in ihrem Kunst-Programm Zeichnungen von Proust und Cocteau wie Bücher über Picasso, Gris, Masson, Tapies.« (VL, 81f.)

Inwieweit besteht nun aber eine »Intertextualität« der inhomogenen Textteile innerhalb des Romans? Wie sind die einzelnen Teile miteinander verbunden oder verwoben? Das ist in der Tat eine der wesentlichen Fragen an den Roman bzw. die Autorin respektive Erzählerin des Romans, die so ohne weiteres nicht zu beantworten ist. Für einige der Texte wird von der Erzählerin selbst eine Antwort gegeben, z. B. bei der Lektüre des Texts von Luis Gonzáles in dem Sinne, wie die Texte »aufgefunden« werden. Wie so oft generiert Literatur hier Literatur, indem die Zettel gefunden werden und auf diese Weise die »Handlung« ihren weiteren Lauf nimmt. So lässt sich hier zwar nicht vom Tod des Autors im Bartheschen Sinne704 aber vom Verschwinden des Autors in einem wortwörtlichen Sinne sprechen. Was alle Zwischentexte letztendlich miteinander verbindet, ist der Umstand, dass es sich im weitesten Sinne um Tierdarstellungen handelt (im Besonderen Schriftstellerinnen wie Colette (VM, 97) oder Schauspielerinnen wie Catherine Deneuve, Dominique Sanda oder Charlotte Rampling (VM, 103) genannt. 704 Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005 (es 1695), 57–63.

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der Tiermythologie entnommen). Jedes »Mythologisieren« wird wiederum gebrochen durch Einschübe anderer Texte, was dem Ganzen, der »GlaskastenAktion, etwas Spielerisches verleiht und »den Tierfabeln, die von Kamelen, Igeln, Eulen. Minotauren handeln, und denen zumindest partiell etwas Absurdes anhaftet, als »[…] Texte wie aus Zufallssätzen zusammengesetzt«. Für Schmeling (2007) ist es »eine Hommage an eben eine aus surrealistischer Spiellaune entstandene Zufallsdichtung, die man Cadavre exquis nennt.«705 Er bezeichnet es so, dass der »Zufall in dem Roman aufs Ganze gesehen System habe« (ebd.), indem er auf Stellen des Romans verweist (VM, 23) oder VM, 111), wo es heißt: »Das Prinzip der Umkehrung, das aus Labyrinthischem Ordnung macht« (VM, 111), Das Labyrinth ist zugleich immer die »Perspektive des Dädalus, des Produzenten, Machers, Spielers.« (ebd.) Zugleich wird dadurch aber die unverfügbare Seite der Kunst, der Freiheit wie des Gefängnisses706 zugleich herausgestellt: »Der Sturz erinnert an die ikarische Dimension, die dunkle Seite des Künstlerischen […]. (Schmeling 2007, ebd.) Letztendlich verweisen viele Stellen darüber hinaus auf surrealistische Texte: In einigen der Grundlagentexte, etwa von Breton, nehmen Pariser Häuser und Straßen in einer »supranaturalistischen« Art707 gleichfalls Gestalt an. Zudem spricht die Gattungsvermischung dafür, dass es sich um Anklänge an surrealistische Texte handeln könnte. Dazu wird fast ausschließlich auf surrealistische Autoren Bezug genommen. Außerdem spricht die Erzählerin von den surrealistischen Techniken des Cadavres Exquis (VM, 114, 118, 180) 708 oder des objet trouvé (VM, 156) In diesem Sinne fällt es schwer, ein im Sinne der französischen Vokabeln bzw. der Kulturvokabeln von der konkreten Wirklichkeit absehendes Referenzsystem zu finden. Die angeführte Gattungsvermischung macht die Lektüre zusätzlich schwierig. Allerdings teilt der Verfasser nicht rundweg die Auffassung, dass die Geschichte deshalb schwer nachvollziehbar ist. Was die »Fabel« betrifft, so handelt es sich um Geschichten innerhalb der Wohnanlage, respektive der Menschen der Wohnanlage, etwa L.G. (Louis Gonzáles). Dazu wird der »Erzählfaden«, dass Gonzáles etwas mit den Taten zu tun haben könnte, immer wieder von neuem aufgenommen, ohne ihm wirklich abschließend »die Schuld für die Tat« geben zu können. Autorschaft ist hier aber immer auch Täterschaft. Gonzáles’ Werk ist dazu stark von surrealistischen Positionen beeinflusst. 705 Schmeling (2007, ebd.) gibt auch gleich die »Spielanleitung«: »Zur Erinnerung: mehrere Spiel-Teilnehmer produzieren, unabhängig voneinander, Worte für einen gemeinsamen Satz, wobei die Worte der Vor-Spieler für den jeweils folgenden Spieler verdeckt bleiben, bis das ganze Spiel aufgedeckt wird.« 706 Im Sinne von Foucaults (2006) Anderen Orten. 707 Bezug zum Hyperrealismus. 708 Wie die »Anschläge« zum Teil ebenfalls genannt werden.

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»Dupoivre solle Nummern der Familien-Zeitschrift in der Bibliothek des 19. Arrondissement in der Rue Herschel einsehen, da finde er unter dem Siegel L.G. solche kleinen Texte. Als Autor sei er in seinen Anfängen dem Surrealismus verpflichtet gewesen, vor allem aber Apollinaire, der den Begriff Supernaturalisme geprägt habe, alle Kunst müsse supernaturel sein und ironisch.« (VM, 120)

Auffallend ist, das in dem ganzen Gebäudekomplex überproportional viele Künstler leben und Menschen aus einem fremden Kulturraum, überwiegend dem Spanisch sprechenden Raum (Spanien, Lateinamerika) oder dem der Iberischen Halbinsel (Spanien, Portugal) angehören, aber auch dem deutschen Sprachraum (Frau Binswanger, Madame Schmidt (VM, 130f.), Frau Waechter).709 Dennoch lässt sich an diesem Schnittpunkt der Personendarstellung dem Werk näherkommen. Denn es ist evident, dass von der Erzählerin das Schweigen bzw. die Stille innerhalb dieses riesigen Gebäudekomplexes betont wird.710 Es scheint mehr oder weniger dem Zufall geschuldet, wie Menschen in diesem Riesengebäude zusammen kommen.711 Richtige Begegnungen im Sinne von Gesprächen oder beim »Schwätzchen halten« im Treppenhaus, selbst beim Straßen- oder Hausfest, finden in diesem Haus nicht statt. Die Loge der Concierge fungiert als »Wartesaal«, wo die »Wartezeit« räumlich wird, sie spielt, besonders nach dem Verschwinden der Concierge oder dem Bemerken ihrer APräsenz, eine exponierte Rolle. (VM, 51: »LOGE GESCHLOSSEN«) Selbst wenn Eco von Gruenter äußerst selten genannt wird, finden sich doch hauptsächlich in diesem Werk Ansätze einer Bestätigung seiner Auffassungen als Labyrinthologe. Zunächst spielen im Labyrinth in »Das Versteck des Minotau709 Es sei dabei an Bohrers Hinweis erinnert, dass kulturelles Vorverständnis häufig das Verständnis des Werks erschwere oder sogar behindere. Vgl. 25, Kap. 3.2.; Vgl. Bohrer (1981), 13. Durch den Namen, genauer noch durch die Geschichte dieser Familie, wird sich auf die Besetzung Paris durch die Deutschen im 2. Weltkrieg bezogen (etwa VM, 114), ähnlich wie in »Vertreibung aus dem Labyrinth« gegen Ende hin. Wieder werden hier bevorzugt Ausländer in Paris erwähnt, darunter einige Deutsche oder Deutschsprechende, auch mit deutschjüdischem Hintergrund (VM, 162). So wurde der Detektiv Duproive von Frau Waechter in das »deutsche Wohnzimmer« mit »Kuhglocken aus Alpendörfern, Kuckucksuhr oder Schwarzwaldpuppen« geführt. (VM, 119 etc.) Zudem werden an anderer Stelle politischkulturelle Bezüge zu Berlin oder der alternativen Welt hergestellt: »Prenzlauer Berg, um dort das Puppenspiel zu lernen« (VM, 142), »[…] hätten wir nur Feste und Multikulti und LoveParade« (aus der französischen Perspektive, VM 143). Auch der DDR-Spion Markus Wolf wird genannt (VM, 143). 710 Was übrigens auch in der Realität dieses Gebäudes so wahrgenommen werden kann, wovon sich der Verfasser eigens überzeugen konnte. 711 Wie bei der Reunion der fünf Eigentümer, einem Ereignis, dem aber nur wenig Raum gewidmet ist oder beim Zulauf an der Loge der Concierge, die bald aufgrund von Krankheit eine unbestimmte längere Zeit verschwindet. Die Bewohner treffen sich darüber hinaus beim Hundeauslaufen-Lassen o. ä. Der Verfasser hatte Gelegenheit, sich die gesamte Wohnanlage von innen anzusehen, wobei die Bewohner im Gespräch vor allem die generelle splendid isolation betonten.

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rus« die Zusammenhänge zwischen den Motiven und Topoi von Labyrinth und Bibliothek eine ähnlich exponierte Rolle wie in Ecos Auffassung des Labyrinths als Bibliothek in »Der Name der Rose«. Eco hatte zwischen drei verschiedenen Arten von Labyrinth unterschieden: das klassische lineare Labyrinth, das Labyrinth als Irrgarten712 sowie das Labyrinth als Netz oder als Mäander713. Die Einordnung von Gruenters Labyrinth fällt nicht eindeutig aus, verrät ihre Konzeption des Romans doch Anteile von allen dreien: Zum einen ist bei ihr im Sinne von Eco »das Labyrinth selbst der Ariadnefaden« (Eco 1989, 105) bzw. das Knäuel, zum zweiten »ist der Versuch des Besuchers den Weg zu finden, der Minotaurus selbst (Eco, ebd., Konzeption des Irrgartens, im Original kursiv gedruckt, SW). Wahrscheinlich jedoch ist es drittens das Labyrinth als Netz bzw. Mäander714, die der Konzeption Gruenters am nächsten steht: »Das charakteristische Merkmal eines Netzes ist es, daß jeder Punkt mit jedem anderen Punkt verbunden werden kann, und wo die Verbindungen noch nicht entworfen worden sind, können sie trotzdem vorgestellt und entworfen werden. Ein Netz ist ein unbegrenztes Territorium.« (Eco 1989, 105f.) Damit spricht Eco einmal mehr die räumliche Komponente an.715 Es sei in diesem Zusammenhang auf die Epoche machende Studie des viel zu früh verstorbenen Kunsthistorikers Hermann Kern verwiesen, der zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Eco kommt, ohne dass beide sich explizit aufeinander beziehen würden. Kerns Verdienst lag neben Hinweisen zur Wortgeschichte etc. primär darin, Labyrinthe in verschiedenen Kulturen und über 5000 Jahre verfolgt, diese tabellarisch erfasst und darüber hinaus auf Formprinzipien, Bewegungsformen und Konstruktionsmöglichkeiten des Labyrinths hingewiesen zu haben. Er kommt in Hinsicht auf die Definition des Labyrinths auf eine ähnliche Grenzziehung wie Eco mit zumindest drei verschiedenen Bedeutungen im allgemeinen Sprachgebrauch: »Metapher: als Hinweis auf eine schwierige unübersichtliche, verwirrende Situation. Diesen übertragenden, sprichwörtlichen Sinn gibt es schon im spätantiken Sprachgebrauch, seit dem dritten nachchristlichen Jahrhundert; zurückzuführen läßt er sich auf die Vorstellung vom Irrgarten: als Anlage (Gebäude oder Garten), die dem Besucher viel 712 713 714 715

Im Text wird das Labyrinth selbst als »Irrgarten« bezeichnet, vgl. VM, 149. Eco (1999), 104–112, besonders 105. Das Netz als unbegrenztes Territorium. Eco verweist in seinem Aufsatz auf den Begriff des Rhizoms bei Deleuze und Guattari: »Ein Rhizom ist ein Gewirr von Knollen und Knoten und sieht aus wie »Ratten, die durcheinanderwimmeln«. Die Charakteristika einer rhizomatischen Struktur sind die folgenden: a) Jeder Punkt des Rhizoms kann und muß mit jedem anderen Punkt verbunden werden. b) Es gibt keine Punkte oder Positionen in einem Rhizom; es gibt nur Linien (dieser Zug kann bezweifelt werden: sich kreuzende Linien bringen Punkte hervor), c) Ein Rhizom kann an jedem Punkt abgebrochen oder neu verbunden werden, indem man einer der Linien folgt.« (Eco 1999, 106) Vgl. Deleuze/Guatteri (1977)

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Wege zur Wahl anbietet, die ihn auch in Sackgassen oder in die Irre führen. Eine solche Vorstellung liegt (seit dem 3. Jh. v. Chr.) vielen Berichten über Labyrinthe zugrunde, Labyrinth (=Irrgarten-System) als literarisches Motiv. Dagegen findet sich die früheste bildnerische Formulierung eines Irrgartens erst um 1420 n. Chr. […], denn in merkwürdigem Gegensatz zu einer in der Antike und Mittelalter wieder vereinten literarischen Tradition weisen alle Labyrinthe Darstellungen bis zur Renaissance nur einen einzigen Weg auf, bieten also keine Verirrungsmöglichkeiten. […]. Dieser visuell eindeutige Begriff wurde schon seit der Antike von der – zunächst nur literarischen formierten Vorstellung miteinander vermengt, wobei man sich über die notwendigerweise entstehende Begriffsverwirrung erst im 20. Jahrhundert Rechenschaft abzulegen begann.« (Kern 1992, 13)

Kern setzt den Begriff des Labyrinths dazu noch weiter von anderen Begriffen wie Spirale, Flächenmäander, Knoten und Bandgeflechten sowie Konzentrischen Kreisen ab und stellt die Bedeutungen des Labyrinths u. a. als Initiation, Tod, Unterwelt und Wiedergeburt heraus. (Kern 1992, 26), aber genauso als »Stadt, Schutzmagie und Schadenszauber«. (ebd., 29) Nach Kern bleiben die Definition bzw. die Sprachgeschichte des Begriffs weiter unklar. Selbst die »früher hauptsächlich vertretene Gleichung; »Labyrinthos – Haus der Doppelaxt716 (Labrys) – Pallast von Knossos auf Kreta hat sich nach Kern als unhaltbar erwiesen. (Kern 1992, 17) Nur eingedenk dieser begrifflichen Einschränkungen lässt sich festhalten: »[…] Die geometrische Form, mit runder oder rechteckiger Begrenzung nach außen, ergibt nur dann Sinn, wenn man sie als architektonischen Grundriß, also von oben betrachtet. Dabei liest man die Linien als Begrenzungsmauern und das zwischen ihnen freigelassene Band als Weg (Ariadnefaden). Wesentlich sind nicht nur die Mauern; ihre Funktion liegt nur in der Abgrenzung des Weges, in der gewissermaßen choreographischen Fixierung der eigentlich maßgeblichen, sinnbestimmenden Bewegungsfigur. […] Im Gegensatz zu einem Irrgarten ist dieser Weg kreuzungsfrei; er bietet keine Wahlmöglichkeit, führt also zwangsläufig zur Mitte und endet dort. Die einzige Sackgasse eines Labyrinths liegt demnach im Zentrum. Dort muß der Besucher seine Gehrichtung ändern; er erreicht die Außenwelt nur, wenn er sich wendet und den Eingangsweg zum Ausgangsweg macht.« (Kern 1992, 13) 717

Halten wir uns weiter an die Literatur und dem Labyrinth als Metapher oder noch eher als Irrgarten. Die Zuordnung von Gruenters Roman unter Ecos bzw. Kerns Kategorien lässt sich nicht uneingeschränkt vornehmen, zumal es im »Laby-

716 So wird es bei Gruenter ebenfalls abgeleitet. 717 Der umfangreichste Bericht über das Labyrinth stammt von Plutarch von Chaironeia (ca. 45ca. 120 n. Chr.) in seiner Biographie über den athenischen Nationalhelden Theseus, zudem gibt es einen Katalog antiker Labyrinthe des römischen Schriftstellers Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.), vgl. Kern (1992), 43.

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rinth«, sprich der Wohnanlage, darüber hinaus noch einen Hof mit einem Teich gibt, der Irrgarten genannt wird718: »Im Irrgarten war ein Teich, den ein früherer Besitzer hatte anlegen lassen: flach, rechteckig, gerahmt mit einer einfachen Leiste aus hellem Sandstein. Wenn sich auch inzwischen ein paar Seerosen auf dem Teich breit machten, blieb er doch mit seinem moosgrünen Grund ein Spiegel der Bäume und Blätter – jener Besitzer hatte offensichtlich ein dilettantisches Faible für Bühnenbilder, deshalb war der Garten seit Jahren geschlossen. Ein nutzloser Garten, Kieswege und Hecken aus Sträuchern mit Knallerben und Schneebällen mäandrierten in einem romantischen Vexierspiel um den Ausgang herum, der durch eine große Skulptur verstellt war: ein bemoostes meterhohes Wandstück aus Sandstein, in dessen Mitte ein riesiges offenes Maul einen Oger darstellte. In besseren Zeiten mochte ein Wasserstrahl aus dem aufgerissenen schrecklichen Schlund in ein kleines Becken fallen, dessen Halb-Mond Form heute kaum noch zu erkennen war. Rechts und links hinter der Ogerwand führten zwei schmale Pfade auf den Weg zwischen den Gärten. Offiziell betrat man den Garten durch ein kleines Pförtchen, das seit dem Tod des letzten Besitzers verschlossen blieb.« (VM, 53) 719

Des Weiteren lässt sich die Wohnanlage im Sinne von Eco720 als Vorstellung des Enzyklopädischen der Kultur begreifen, dem nur durch das Motiv der Enzyklopädie beizukommen ist.721 »Gruenters Roman ist intellektualistisch und hochgradig reflexiv, nicht nur durch Anspielungen und Zitate konkreter Art, sondern in der dekonstruktivistischen Attitüde gegenüber eingeschliffenen Strukturen, Gattungen, Archetypen. Es handelt sich hier um einen ästhetischen Wurf, der sich um sich selbst dreht, aus ersichtlichem Spieltrieb heraus, denn die Geschichte als solche verliert sich in den Labyrinthen enzyklopädischer Abschweifungen, Wiederholungen und Synkopen. Darum ist sie auch kaum nacherzählbar. Und auch die Paris-Bilder wirken nur noch wie Zitate, wie Erinnerungen, nicht an eine Stadt, sondern an eine literarische Vergangenheit. Formen der »Mise en abyme« (wörtlich: »in den Abgrund setzen«) – Buch im Buch, Labyrinth im Labyrinth -, nicht-konsistente Erzähleridentität (Ich-Er-Verschachtelungen) sowie perspektivische Interferenzen zwischen Außen- und Binnenstruktur nach Art der Möb718 Vgl. auch VM, 149. 719 Vgl. auch VM, 54: »Er [Gonzáles, Ergänzung SW] ging durch die Pforte, ließ sie ins Schloss fallen, folgte den Mäandern, die an den Wegbiegungen überraschende Ausblicke, Perspektiven auf niedrige Lauben mit flachen Steinbänken eröffneten, pries ihre Anmut, verglichen mit den gedrechselten Irrgärten vieler öffentlich zu besichtigender Schlösser des 18. Jahrhunderts […].« 720 Oder auch Derridas Konzeption vom Sprechen im Zitat. Vgl. dazu: etwa: Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Wolf Lepenies/Henning Ritter ( Hg.): Orte des wilden Denkens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970. Vgl. dazu auch: Eva Meyer/Jacques Derrida: Labyrinth und Archiv/Textur. Ein Gespräch mit Jacques Derrida. In: Vittorio Magnago Lampugnani (Hg.): Das Abenteuer der Ideen. Architektur und Philosophie seit der industriellen Revolution. Berlin: Fröhlich & Kaufmann 1987. 721 Und der Dekonstruktion von Zitaten.

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iusschen Schleife: Alles das charakterisiert diesen Roman als postmodern. Außerdem transportiert er einen Literaturbegriff, der den ludistischen Stellenwert der Textarbeit ausdrücklich in den Fokus des Lesers rückt.« (Schmeling 2007, 261)

Dennoch lässt sich festhalten, dass die Erzählerin in »Das Versteck des Minotaurus« gegen Ende des Romans so etwas wie eine Auflösung andeutet, als würde der Ariadnefaden nun doch hinausführen, indem sie Louis Gonzáles, zum zumindest vermeintlichen Täter, sprich Autor der Texte macht722 und den Leser die Zwischentexte, zur Familie von Gonzáles gehörend, einordnen lässt (VM, 82ff.), wie jene zu seiner Mutter, seiner Schwester etc. »Erstens: du hast ein Verhältnis mit einer rothaarigen Dichterin, die keinen Pfennig besitzt, nur einen Sohn, einen Hund und darüber hinaus einen Ehemann. Zweitens: ein paar der Texte, die hier aufgetaucht sind, stammen aus früheren Veröffentlichungen von dir. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen dir und den Tätern. Manche halten dich für gaga und glauben, daß du in Anfällen von Exhibitionismus deine Umgebung mit dem Segen früherer Schriften beglückst. Drittens: Mama hat einen Brief erhalten mit der Drohung, daß die ganze vertuschte Familiengeschichte ans Licht gezogen werden soll.« (VM, 150)

Aber zugleich wird die Figur des Psychoanalytikers wie ein Deus ex Machina im Text aus dem Hut gezaubert, so dass die »Auflösung« ebenfalls zugleich wieder aufgelöst wird. Von daher lässt sich mit Wittgenstein von der »Spielstruktur« des Labyrinths, dem »Labyrinthischen der Sprache« oder mit Derrida von einer »Ausweglosigkeit des Labyrinths« sprechen. In diesem Falle kann zu der »Zitatsucht« und den intertextuellen Bezügen im Roman abschließend festgehalten werden: »Die Intertextualität selbst partizipiert am Labyrinth, als Struktur der literarischen Verweise und Anspielungen. Nun hatte die Erzählerin an verschiedenen Stellen des Romans bereits zum Ausdruck gebracht, daß der Faden der Ariadne, der in der Legende aus dem Labyrinth herausführt, eigentlich nicht mehr zeitgemäß sei, eben weil er »Strecke und Zeit« verkörpert. Die Erzählerin gibt sich an solchen Stellen überdeutlich als Spezialistin zu erkennen, nicht nur als Kennerin der Literatur, sondern als Expertin einer Kulturgeschichte des Labyrinths, an deren Anfang der Knossos-Typ, das lineare Labyrinth steht, das mit dem herausführenden Ariadnefaden gleichsam verschmilzt. Damit setzt sie diesem archaischen Modell des Labyrinthischen, das sich durch Überwindungsmythologie, mythologisch gesagt; durch die Tötung des Minotaurus, und lösungsorientiertes Erzählen auszeichnet, ein zweites Modell entgegen. Dieses basiert auf Brüchen, Variationen, Selbstreferenzen, Dezentralisierungen von Subjekt, Zeit und Raum […] wie in einem Palimpsest durch das spätere immer noch hindurchscheint. […] Dies postmoderne Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen spiegelt sich auch in der 722 Es wird von Gonzáles’ Dichtungen als junger Stier gesprochen (VM, 179), überhaupt könnte man die Figur des Minotaurus näher beleuchten, wo von der Bibel des Minotaurus (VM, 181) erzählt wird.

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Wohnarchitektur wieder – die labyrinthische Gemütlichkeit des 19. Jahrhunderts wird überlagert von postmoderner Video-Überwachung – vor allem jedoch in den intertextuellen Verflechtungen diese Romans.« (Schmeling 2007, 260f.)

An dieser Stelle wird eine weitere Bedeutung des Labyrinths bezogen auf den Roman deutlich, das erst nach und nach und dann nie vollständig zu entwirrende Labyrinth der Familiengeschichte. Hier ließen sich wiederum Beziehungen zu Gruenters eigener Biografie herstellen. Im Vergleich zu den anderen Werken nennt Köhler den Roman eines der »heitersten Bücher« ihres Schaffens, dadurch dass die Tierfabeln sogar Humor versprühen können: »Eines der heitersten Bücher Undine Gruenters heißt ›Das Versteck des Minotaurus‹ (2001); es ist das zuletzt erschienene und zugleich das unerbittlichste ihrer Bücher. Hier sind noch einmal alle Motive versammelt: die Lust am Phantastischen und der Hang zur schwarzen Romantik, die gelenkige, immer aber streng komponierte Form, in der die Autorin ihren Stoff der fortgeschrittenen Reflexion aussetzt, die eigenwillige Dramaturgie, mit der sie den Mythos für die Gegenwart umerzählt und Versatzstücke der Tradition mit den Stilmitteln verschiedener Genres aufmischt. Dass die Liebe ein Labyrinth sei, ist eine der wiederkehrenden Metaphern Undine Gruenters. Hier hat sie die Liebenden ins Innerste des Labyrinths geführt, den Hortus Conclusus, dem auch ihr letztes Buchprojekt galt.« (Köhler 2002)

Bereits angelegt ist hier neben der »Liebe als Labyrinth« das Motiv des Gartens, des verbotenen (VM, 53) oder des verschlossenen, was im letzten Werk Gruenters noch eine besondere Rolle spielen wird. Offensichtlich erscheint hier wiederum, dass sie mit verschiedenen Motiven »viele Jahre lang schwanger gegangen ist«, sie im übertragenen wie konkreten Sinne mit sich »herumgeschleppt« hat. In diesem Sinne vermittelt dieses Werk einen sehr reflektierten und ausgearbeiteten Eindruck und scheint keinesfalls der Spontaneität entsprungen. Aber dennoch lässt sich mit einem weiteren Protagonisten, Monsieur Alvarez, für das Werk festhalten: »Es paßt nicht, sagte er, nichts paßt zusammen. Nicht diese Dichtungen zu diesem Schabernack. Und nicht der Unsinn zu dieser Wirkung – einige der Bewohner ließen sich ernsthaft aus dem Häuschen bringen durch diese Fremdkörper, die inzwischen in die Cité flatterten wie aus einem Ballon geworfen.« (VM, 148) Abschließend sei in diesem Kontext noch einmal auf den Rhizombegriff von Deleuze und Guattari, von einem Pflanzengewächs abgeleitet, zurück zu kommen, weil er ein adäquates Bild von Gruenters Vorstellung des Labyrinths liefern kann: »Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern mit Landvermessern und Kartographieren, auch des gelobten Landes. […] Für das Buch gilt dasselbe wie für die Welt: das Buch ist nicht Bild der Welt, wie uns ein eingewurzelter Glaube weismachen will. Es ›macht Rhizom‹ mit der Welt; es gibt eine parallele Evolution von Buch und Welt: das Buch bewirkt die Deterritorialisierung der Welt, die Welt jedoch eine Reterritorialisie-

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rung des Buches, das seinerseits selbst in die Welt deterritorialisiert (wenn es dazu in der Lage ist). ›Mimesis‹ ist ein sehr schlechter Begriff, der einer binären Logik folgt, um Phänomene zu erfassen, die ganz andersartig sind.« (Deleuze/Guattari 1977, 19) 723

Das Werk klingt mit dem 32. Anschlag unter dem Titel »Gold in den Stacheln« aus. So rätselhaft sich das gesamte Werk darbietet, so rätselhaft verbleibt diese Schlusssequenz: Der bereits genannte Psychoanalytiker wird nun selbst zum Thema des Anschlags, findet einen Igel, dem dieser wiederum einen Anschlag widmet, in der Hoffnung, dass er einer der Französischschülerinnen »von nebenan« gehören könnte. Als endlich wirklich eine von ihnen bei ihm vorbeischaut, geht der Psychoanalytiker eine intime Beziehung mit ihr ein, welche ihm in der Darstellung als »mathematisch geordnete Szenenfolge« noch einmal das Geheimnis und die Vorgeschichte des Minotaurus′ »erklärt«. Man erfährt am Schluss von dieser Schülerin, dass sie nicht die »Besitzerin« des Igels ist, spätestens in dem Moment, als es an der Tür klingelt und eine weitere Elevin auftaucht und sich mit ihr eine weitere Geschichte ent- und verwickelt. Wieder bleibt am Ende offen, ob es sich um »erlebte« oder assoziierte bzw. nur erträumte Geschichten handelt. Aber diese werden wiederum dekonstruiert, dadurch, dass ständig eine neue Geschichte konstruiert wird, die nichts mit der erzählten Geschichte des Minotaurus’ zu tun hat, die aber zufällig genau die allseits bekannte Geschichte des Labyrinths ist, hier allerdings dargestellt wie zum ersten Mal erzählt: »I Europa und der Stier. Zeus verwandelt sich in einen weißen Stier und trägt Europa nach Kreta, wo sie Minos zeugen, den König von Kreta. Der Name Minos heißt: Sohn eines Stiers. II Minos verbindet sich mit Pasiphae¯, einer Tochter des Sonnengottes. III Pasiphae¯ entbrennt in rasender Leidenschaft zu einem geheimnisvollen Stier. Er ist schwarz, ein Geschenk Poseidons an Minos, der ihn opfern sollte. Gesetz der Vertauschung, das die Tragödie einleitet: Minos behält den Stier und opfert einen anderen aus der Herde. IV Daedalus umkleidet Pasiphae¯ mit der Gestalt einer künstlichen Kuh, so daß der Stier sie besteigen kann. V Stier und Pasiphae¯ zeugen Minotaurus. Halb Mensch. Halb Stier. Der Name bedeutet Sohn des Minos. VI Gesetz der Aussetzung [Es handelt sich um metadramaturgische Bemerkungen, Ergänzung SW], der Gefangensetzung, was die Tragödie fortschreiten lässt: Daedalus legt einen Irrgarten an, das Labyrinth, in dem Minotaurus von Minos gefangengehalten wird. VII Daedalus versucht von Kreta zu fliehen. Sein Sohn Ikaros verbrennt seine Wachsflügel in den Fängen des Sonnengottes und stürzt ins Meer.« (VM, 186f.)

Nahegelegt wird, dass jene Geschichte des Psychoanalytikers unter dem Titel: Miniatur der Begierden. Minotauren im Labyrinth das Ende des Romans ist. Am Schluss wird jener Faden noch einmal aufgenommen und wieder verwickelt, der doch ursprünglich herausführen sollte. Aber es führt letztendlich kein Weg mehr 723 Vgl, auch: Guattari/Deleuze (1977), 8.

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heraus aus den vielen Facetten des Labyrinths, man könnte mit einiger Berechtigung sogar Irrgarten sagen, wie ausgeführt wurde. Dieses Labyrinth ist nicht mehr gebaut worden, um wieder herauszufinden oder herausgeführt zu werden, sondern um an der unendlichen Verwirrung und Verwicklung der (Erzähl-) Fäden mitzuweben metaphorisch gesprochen, in dem Sinne wie Guattari und Deleuze es für das Rhizom behauptet hatten: »Das Rhizom geht durch Wandlung, Ausdehnung, Eroberung, Fang und Stich hervor. Im Gegensatz zu Graphik, Zeichnung und Photo, zu den Kopien bezieht sich das Rhizom mit seinen Fluchtlinien auf eine Karte mit vielen Ein- und Ausgängen; man muß sie projizieren und konstruieren, immer aber auch demontieren, anschließen, umkehren und verändern können. Man muß die Kopien auf Karten zurückübertragen und nicht umgekehrt. In zentrierten (oder auch polyzentrischen) Systemen herrschen hierarchische Kommunikation und von vorneherein festgelegte Verbindungen; dagegen ist das Rhizom ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat; es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert.« (Guattari/Deleuze 1977, 35)

Insofern hat sich Gruenter sowohl hier wie im Werk »Vertreibung aus dem Labyrinth« über mehrere Jahre sehr intensiv mit dem Motiv des Labyrinths wie dem Stoff des Minotaurus auseinandergesetzt. Leider erhielt sie mit diesem Werk wieder nicht die ihr gebührende Beachtung seitens der Leserschaft. Bis zu ihrem Tod galt sie im Grunde immer als eine Art Geheimtipp. Seitens der Leserschaft wurde man eigentlich erst nach ihrem Tod durch ihre beiden letzten Werke auf sie aufmerksam,724 die seitens der Kritik als ihre Meisterwerke betrachtet werden. Deshalb bedürfen diese beiden Werke einer eigenen, besonders intensiven Betrachtung. Tragischer Weise und hierin in der Tat berühmten Vorbildern verwandt, hat sie diese Form der Anerkennung und des Erfolgs nicht mehr miterleben dürfen, worauf hingewiesen wurde. Paradoxer Weise wirken die meisten Rezensionen dieser beiden Werke so, als hätte sie damals noch unter den Lebenden geweilt. Aber abschließend noch einmal auf den Zusammenhang der Tradition labyrinthischer Rede und postmodernem Schreiben zurückkommend, lässt sich mit Schmeling (2007) festhalten: »Bei aller Betonung speziell des postmodernen Konstruktivismus gebietet es, die Tradition labyrinthischer Rede kurz anzudeuten. Daß postmoderne Schriftsteller sich in manieristischen Dimensionen bewegen, und eben deshalb nicht das Monopol labyrinthischer Diskurse besitzen, ist bekannt. Schon Platon warnt im Euthydemos vor dem ›wahrhaftigen Labyrinth‹ der wissenschaftlichen Gesprächsführung […]. Hintergrund ist seine Kritik an den Sophisten und ihren unernsten Sprachspielen. Kant bezeichnet diejenigen als »Logodaedalus«, der fragwürdige philosophische Prosa verfaßt […]. – 724 Nach ihrem Tod erst, aber von ihr selbst noch zur Veröffentlichung frei gegebenen Werke »Sommergäste in Trouville« (Erstveröffentlichung 2003 im Hanser-Verlag) und »Der verschlossene Garten« (2004, ebenfalls im Hanser-Verlag herausgekommen).

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Wittgenstein schreibt: ›Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen, Du kommst von einer Seite und kennst dich aus, du kommst von einer andern zur selben Stelle und kennst dich nicht mehr aus.‹« (ebd., 86) 725

Schmeling spricht des Weiteren von den Theorien des Neo-Strukturalismus, die von der »Unabschließbarkeit der Zeichen ausgehen«, verweist auf Derrida und auf ein strukturalistisches Labyrinth, aus dem es »kein Entrinnen gibt.« Dieses Labyrinth, in dem »in Spiel der Signifikanten der zentrale Zeichensinn immer wieder aufgehoben wird«, wo man nur »von Umweg zu Umweg gelangt«, bleibt letztendlich unhintergehbar im doppelten Sinne des Worts (Schmeling 2007, 265f.) 726 und das Spiel der Kunst unenträtselbar. In diesem Sinne spricht Schmeling von einem »postmodernen Roman«: »Im postmodernen Roman verdichtet sich die Labyrinth-Erfahrung noch spektakulärer als in der klassischen Moderne zur ästhetischen Erfahrung, zum Spiel mit der ZeichenQualität sprachlicher oder künstlerischer Konstruktionen und somit Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs auch des Labyrinth-Zeichens selbst. Das strukturelle, ästhetische Potential des Labyrinthischen wird heute vielleicht noch mehr – oder wie neu – ausgeschöpft. Der postmoderne Hang zur Selbstreferenz ist mit der labyrinthischen Technik ebenso verwandt wie das, was man postmodern De-Konstruktion nennt.« (Schmeling 2007, 266)

Ob es sich tatsächlich um einen postmodernen Roman handelt, sei nach dem Herausgestellten dahingestellt, von besonderer Bedeutung scheint jedoch die Herausstellung der Labyrinth-Erfahrung als Stil bzw. ästhetische Darstellung. Davon ist in den beiden Zentralwerken nichts mehr zu spüren. Aber wieder handelt es sich hier um zwei abgetrennte Räume respektive Kosmoi: Trouville als literarisch-poetischer Raum und ein Garten an der Marne als hochsemiotisch aufgeladenes »literarisches System«.

5.3.2. Die beiden posthum erschienenen Zentralwerke Als Gruenters Zentralwerke werden hier, wie mehrmals angesprochen, die beiden letzten posthum erschienenen Werke »Sommergäste in Trouville« und »Der verschlossene Garten« betrachtet. Es sind zugleich die Werke, zu denen es die meisten Rezensionen gibt, überwiegend im Feuilleton der bedeutendsten deutschsprachigen Zeitschriften. Den Erzählband »Sommergäste in Trouville« 725 Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, 514; vgl. Schmeling, Sprach-Schwindel, 85; Vgl. auch: Ludwig Wittgenstein (1969): Philosophische Untersuchungen, in: Schriften 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 382; Schmeling (2007), 265. 726 Vgl. auch Schmeling (2007), 89.

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deshalb gleich als »Bestseller« zu bezeichnen, wie geschehen auf dem Cover der Taschenbuchversion vom Berliner Taschenbuch Verlag, erscheint dennoch als übertrieben und unangemessen. Diese beiden Werke erfahren darüber hinaus eine besondere Beachtung, weil an ihnen, obwohl in ihrer »Machart« völlig unterschiedlich, doch einiges exemplarisch über das gesamte Werk Gruenters herauszuarbeiten ist. In beiden Werken lässt sich auf besondere Weise von einem literarisch konzipierten französischen Kosmos sprechen, d. h. einer eigenen Welt, die aber – und das sei vorweg genommen – keinesfalls eine »geographisch« französische ist, sondern eine ästhetische respektive poetische Konzeption darstellt, innerhalb derer bedeutende französische Elemente wie Namen, Vokabeln oder Zeichen auftauchen, die im Folgenden im Einzelnen betrachtet werden. Auf gewisse Weise kann das Französische zum einen kollektiv als eine Metapher oder eine Art von Symbol im Sinne von Lakoff etc.727 fungieren, andererseits aber aufgrund der literarischen Beschreibung und der Güte der literarischen Begabung der Autorin als zugleich individualisierte bzw. künstlerische Beschreibung im phänomenologischen Sinne eingestuft werden. Epistemologisch durchzieht diese beiden Werke jene Auseinandersetzung zwischen Phänomenologie und Systemtheorie, was gerade den Reiz des Spätwerks ausmacht, dass es sich nämlich in dieser Spannung entwickelt. Gleichwohl weisen beide Werke unter dieser Optik gleichfalls große Unterschiede auf: Sind im ersteren die Protagonisten in das System eines französischen Environments eingebunden und auf gewisse Weise besonderer individueller Züge enthoben, so lassen sich auf der anderen Seite im letzten Werk durchaus individuelle Züge der Protagonisten erkennen, wenngleich das Werk vorwiegend aus der Ich-Erzähler-Perspektive Soudains geschrieben ist und schon diese Art der »Namensgebung« wiederum »kollektive Züge« verrät, als dass es sprechende Namen sind: Equilibre, Sodain und St. Polar.

727 George Lacroff: Metaphors We Live By. Chicago: University of Chicago Press, 1980. (Deutsche Übersetzung: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern), Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verl.(72011), 3: »Metaphor is for most people a device of the poetic imagination and the rhetorical flourish – a matter of extraordinary rather than ordinary language. Moreover, metaphor is typically viewed as characteristic of language alone, a matter of words rather than thought and action […]. We have found, on the contrary, that metaphor is pervasive in everyday life, not just in language but in thought and action.«

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5.3.2.1. In der Normandie: Sommergäste in Trouville (2003) »Das Meer betrachten, heißt, das Leben betrachten.« (Marguerite Duras in Trouville)

Bis zu ihrem Lebensende hat Gruenter intensiv an Werken gearbeitet, ohne große Erwartung an die Leserschaft in Hinblick auf besondere Resonanz zu hegen, so dass es beinahe wie eine Konsequenz erscheint, dass die beiden letzten Werke posthum veröffentlicht wurden. Zur Genese des Werks »Sommergäste in Trouville« findet sich bei Bohrer (2017) eine Passage, die andeutet, unter welchen Schwierigkeiten dieses vorletzte Werk entstanden ist und wie es ihrer Krankheit »abgetrotzt« war. Zugleich weiß er das Werk einzuordnen, jenen Erzählband, womit sie Paris »verlässt« und die »Handlung« in »ihrem Trouville« spielen und die Protagonisten dort »agieren« lässt.728 »Sie hatte ein Manuskript begonnen, es sollten Erzählungen werden. Diesmal hatte sie mir jede Seite zum Lesen gegeben. Es waren Geschichten über einzelne Personen oder Paare, die sich für einige Sommertage oder Wochen in dem normannischen Küstenstädtchen Trouville aufhielten, also in unserem Trouville seit vielen Jahren.« (Bohrer, 2017, 430)

Als besonders erwähnenswert empfindet Bohrer, dass Gruenter mit diesem Werk mit ihrem alten Stil und ihrer früheren »Prosa bricht«, und dass gleichzeitig ein Raum geschaffen wird, der an der »Belanglosigkeit des Alltäglichen« ansetzt: In diesem Sinne würden die »Dinge ernster genommen als die Menschen«, hinter denen dennoch »nahestehende Figuren« wie der gemeinsame Freund Reinhard hindurch schimmern, deren Leben dennoch »wie ein existentialistischer Scherenschnitt« scharf umrissen werden. Was Bohrer hier zu Recht betont, ist die »ironische Brechung« der »Konzentration im Atmosphärischen« sowie die »Konstruktion der Personen, ihrer Beschäftigungen« und »ihrer Wohnungen«. (ebd.) Er stellt das Werk in Beziehung zu früheren Werken: »Nicht mehr als die dunkle Allegorik von Epiphanien, abgeblendet. Nicht die Negativität der Selbsterforschung des Journals. Aber auch nicht der elegische Grundton der Geschichten von Nachtblind […]. Die Belanglosigkeit des Alltäglichen bekam eine Antwort von Bedeutsamkeit, ohne daß es aufdringlich wurde: Die Dinge erschienen ernster genommen als die Menschen. Insbesondere wenn Letztere von irgendeiner geistigen Ambition bestimmt waren, wurde diese fast sarkastisch beleuchtet. Das war bei der Figur des Kunsthistorikers René der Fall, zu der sich Undine durch unseren Freund 728 Gruenter und Bohrer kannten Trouville lange vor dem Kauf ihres »normannischen Landhauses«, weil sie viele Male an Wochenenden oder für längere Zeit in den Ferien dort hingefahren waren und dann im Hotel Balzac, direkt am Strand, logierten. Das Drei-SterneHotel Balzac (ohne direkten Zugang zum Meer) ist weiterhin in Betrieb und so noch dort erhalten wie zu Gruenters Zeiten.

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Reinhard hatte inspirieren lassen, und ebenso bei der Figur des Literaturtheoretikers Sorel, hinter der ich mich selbst entdeckte. Daraus ergab sich eine allegorische Stilisierung. Ja, und es wurde das, was der Einzelne als Drama erfahren mochte, unter einem Basiliskenblick zum Stillleben, die Idyllik der Ferien durchbrochen vom Bewusstsein eines Nichtidyllischen. Die darüber ausgebreitete Heiterkeit war die eines schwermütigen Wissens.« (Bohrer 2017, 431)

»Die Dinge erschienen ernster genommen als die Menschen«, dieser Satz könnte in seiner Zuspitzung als ein wichtiger Kommentar zu Gruenters Werk insgesamt verstanden werden. Der Erzählband »Sommergäste in Trouville« setzt sich aus insgesamt 15 Erzählungen zusammen, von denen keine kürzer als fünf Seiten und keine länger als 20 Seiten ist. Die meisten haben eine Länge von etwa zwölf oder dreizehn Seiten. Köhler (2003) sieht Parallelen zum Werk »Epiphanien, abgeblendet«: »Epiphanien, abgeblendet heißt ein schmaler Prosaband Undine Gruenters mit 56 kurzen Prosastücken. Er enthält 56 magische Augenblicke zwischen dem Mann und der Frau, dem Tod und der Liebe, poetische Miniaturen, in denen die Liebe lautlos ins Zimmer tritt und über den Hügel geht in einem zerschnittenen Kleid, auf- und abgeblendete Szenen, in denen Mann und Frau einander wechselseitig verfehlen. »Epiphanien« könnte auch über diesen Erzählungen stehen, in denen Figuren wie Sternschnuppen auftauchen und verschwinden. Doch im Gedächtnis des Lesers irrlichtern sie noch lange wie Nachbilder auf der Netzhaut oder ein irritierender Traum. Ihre Wege kreuzen sich nicht, sie leben in unterschiedlichen Häusern, sozialen Schichten oder Epochen. Ihnen gemeinsam sind nur der Ort, Trouville, und eine Einsamkeit, die einem mitunter mit kalten Fingern ums Herz fasst. Und manch ein Sommergast ist lange schon angekommen im Winter des Lebens.« (Koehler 2003)

Als »Hauptfigur« der Erzählungen fungiert von neuem ein besonderer französischer Kosmos, diesmal das »Hinterland« von Paris, die Normandie, genau jene Gegend am Atlantik zwischen Trouville und Honfleur, und die Umgebung, die von den Parisern gerne als Sommerdomizil oder Sommerfrische genutzt wird. Metaphorisch gesprochen fungiert die »Ferienzeit« als die zweite Protagonistin. Es wird von der Zeit vor, während und nach den Ferien gesprochen. Der »congé annuel«, der jährliche Urlaub, und das damit verbundene Ritual der Rentrée729, spielt für die französische Kultur eine große Rolle. In jedem Grundkurs oder Anfängerlehrbuch für Französisch erfährt man, dass die Geschäfte und Betriebe in Paris im Juli und August schließen und sich die Familien bzw. Urlauber an die Côte,730 an die Atlantikküste oder wohin auch immer aufmachen. Dieses alljährliche Ritual erscheint in Frankreich im Vergleich zu anderen Ländern be-

729 Die Rückkehr in die Stadt Ende August nach den Ferien. Dieses Phänomen existiert in vielen anderen Sprachen als Begriff so nicht. 730 Früher auf der schon legendären Route Nationale 6.

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sonders ausgeprägt zu sein. Das Motiv nimmt die Erzählerfigur auf, wo sie schreibt, »dass die Ferienkinder längst abgefahren« waren: »Die Ferienkinder waren längst abgefahren, der September brachte die Gäste, die Kinderferien vermieden, und Regentage, die alle vom Strand vertrieben. Das Fräulein stand mit einer Regenhaube aus Plastik, die man zu einem winzigen Viereck zusammenfalten konnte, vor dem alten Badehaus. Auf dem Parkplatz standen die kümmerlichen Reste der großen Kirmes, ein Karussell mit kleinen Flugzeugen und eine Eisenbahn, alles mit Plastikplanen bezogen, stillgelegt und im Regen verlassen.« (ST, 29)

Die Erzählungen sind lose durch die Personen verbunden, die sich dort aufhalten und deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie sich eben dort aufhalten. Allgegenwärtig ist die Atlantikküste. Der verblichene Charme der ehemals bedeutenden Seebäder »schwingt mit«, »die jetzt insbesondere von Kindern oder Alten frequentiert werden.« (ST, 23) Die Literaturkritikerin Köhler benutzt schöne poetische Bilder, wo sie von »schwebender Prosa […] wie der Schatten eines Vogelflugs auf dem Asphalt (Köhler 2003) oder von »Visionen in der Beleuchtung eines von Bäumen gefilterten Nachmittagslichts« schreibt. Darüber hinaus sind es für sie in erster Linie Liebesgeschichten, »weil der Mann tot oder die Frau verschwunden ist oder einer von beiden sich ständig entzieht« oder Geschichten über die Liebe, »die vor vielen Jahren vor Anker ging oder entzündet wird mit einem einzigen Satz, der verwegen und schief in den Abend fällt«. (ebd.) Das Motiv der Einsamkeit ist ebenso gegenwärtig wie das Motiv der Leere, das Gruenter in der wichtigen zweiten Erzählung »Hortensien und Staniolpapier« (sic!) thematisiert, deren Genese sie in »Der Autor als Souffleur« beschreibt (AS, 198): »Noch eine Weile hielten die Sperrmüllwagen vor den wieder geschlossenen Häusern in den Hügeln und räumten ab, was vom Sommer noch übrig war. Vor dem Haus Mademoiselle Heulines standen riesige Müllsäcke, und durch die offene Garagentür sah man das Holz, das Gartengerät und die Leere.« (ST, 30) 731

Einsamkeit bedeutet hier der leere, nur erahnte, einstmals von Menschen bevölkerte und jetzt verlassene Erinnerungsraum respektive Gedächtnisraum.732 731 Gruenter äußert sich zur Genese des Stücks wie folgt: »6. Juli 1988 [Jahreszahlergänzung SW] (Ein ganz anderes Stück!) Es wird ein statisches Stück sein. Die Personen erzählen sich und ihre Träume. Zulaufend auf den Punkt der Kristallisation. (Titel: Hortensien) (AS, 217). Vgl.: »Hortensien als Mohn, Baum, Stock […].« (ebd.) 732 Der Gedächtnisraum fungiert auf diese Weise allgemeiner als der konkrete Ort. Es handelt sich um einen Ausdruck, der, obschon durch einen Bindestrich verbunden, von der Autorin im Brief an Christian Döring vom 13. 02. 1995 selbst benutzt wird: »Die Stadt als Gedächtnisraum – die eher abstrakt bleibende des Ruhrgebiets (in Topographien), die mit Wegmarken durchsetzte (wie Chatelet, Menilmontant oder St. Anne) in Panoramen. Vergessen und Erinnern mäandrieren sich ineinander (altes Romanthema von mir) die Amnesie mit aufleuchtenden Erinnerungsfragmenten als das literarische Feld, auf dem das Subjekt kreuzt.«

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Diese Leere im Sinne einer räumlichen Nichtanwesenheit lässt sich in jeder dieser Geschichten auffinden. Auf diese Weise wird eine Melancholie erzeugt, in dem Sinne, dass plötzlich etwas fehlt, was früher unbedingt dorthin gehörte. In der Eingangserzählung »Übungsstunde« sind es die Familienmitglieder, Cousins oder Spielkameraden der Ich-Erzählerin, die mit einem Mal zu alt geworden sind bzw. sich in einem anderen Alter befinden, »als dass sie noch mit ihnen spielen könnte«. (ST, 8) Aber sie sind noch a-präsent, noch in der Abwesenheit präsent, etwa in der Vorstellung der Protagonistin, wie sie mit ihnen spielte. Köhler verweist auf jenes erwähnte Bild des Stilllebens bzw. auf jenes der tableaux vivants. »Bilder spielen eine besondere Rolle in diesen Erzählungen, denn »seit es Bilder gibt – Les Planches de Trouville, La Plage de Trouville – , ist Trouville lebendig, im Sommer, seit die Maler ihre Staffelei unter offenen Himmel stellten«. Die Bilder in diesen Erzählungen sind eher wie Interieurs, Tableaux vivantes oder auch Stillleben, manche wirken wie magische Einschlüsse oder surreale Momente. Und immer sind diese Geschichten, die sich um etwas Vages zu drehen scheinen, um die Leere, die Angst oder die Einsamkeit, von einem Detailreichtum unterfüttert, der »das Phantastische der Realität« in den Belanglosigkeiten des Alltags spiegelt, so dass keine falsche Romantik aufkommt und keine verschleierte Nostalgie.« (Koehler 2003)

Die Erzählerin entwirft hier wiederum einen Zirkel von Erwartungen, Hoffnungen und Wünschen, die in der unmittelbaren Gegenwart nicht eingelöst werden können, die aber dennoch existieren und auf das ganz andere bezogen sind. Erneut handelt es sich um eine jener »unerzählbaren Geschichten« der Gruenter: In der ersten Erzählung fährt die Protagonistin wie in jedem Sommer zu ihrer Tante Sylvie und deren beiden Kindern (der Cousins der Erzählerin) Jean Paul und Andrée. In dem Jahr, von dem hier die Rede ist, hat sich alles verändert, d. h. sie können schon nicht mehr »zusammen spielen«. Die Erzählerin stellt heraus, wie viel ein Jahr in der Entwicklung von pubertierenden Kindern bedeuten kann: »Noch vor einem Jahr machten wir Schattenspiele, wenn wir rund um den Tisch saßen und uns langweilten, weil draußen Regen war und die Ferien uns zwischen den Fingern zerrannen […]. (ST, 7) »Das alles war voriges Jahr, und dieses Jahr ist alles anders, und dieses Jahr hat mich wieder ans Meer nach Trouville geschickt, das Haus der Tante Silvie ist groß genug, und ich könnte dort so schön spielen, da wir alle im gleichen Alter sind. Aber wir sind nicht mehr im gleichen Alter, Jean Paul lehnt es ab, mit kleinen Mädchen zu spielen, und verschwindet mit seinen Büchern und seiner Badehose, und Andrée ist unter der Woche in Lisieux, wo sie den Bankangestellten belegte Brote und Bier aus der Brasserie holt und Briefe sortiert. Natürlich lässt sie am Abend nur Namen wie IBM und Canon fallen und Formeln von Computerprogrammen, die auf uns wie ägyptische Hieroglyphen wirken.« (ST, 8)

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Die Protagonistin bleibt sich selbst überlassen und versucht sich in »Schattenund Verkleidungsspielen« mit zum Teil erotischem Hintergrund, die in einem Kaufhaus der berühmten französischen Kette Monoprix733 beginnen und sich später in der Wohnung der Tante fortzusetzen. Es lassen sich von neuem Parallelen zu Rilkes »Malte Laurids Brigge« herstellen, wo der junge Malte, ebenfalls allein im Haus gelassen, (Verkleidungs-) Spiele vor dem Spiegel durchführt (vgl. Rilke 1966, 206 ff.) »An solchen Tagen bin ich Stunden um Stunden allein im Haus, und ich könnte nicht sagen, wie ich sie verbringe, obwohl ich meist wie nach einem verabredeten Plan vorgehe. Ich bleibe meist im Parterre in dem doppelten Salon mit dem Durchgang. Die Hälfte liegt zur Straße, mit gerafften Vorhängen, Kanapee, ein paar Sesselchen und einem kleinen Sekretär. Im anderen Teil stehen Tisch und Stühle und eine Kommode, da wird gegessen. Neben dem Durchgang hängt ein schmaler Spiegel, in dem das Kanapee und das Eckfenster zur Straße sehen sind. Diese wenigen, zierlichen Möbel und ein kleiner Gebetsteppich, den Tante aus Ägypten mitgebracht hat, verwandeln das Zimmer, wenn ich allein bin, in eine Puppenstube, eine kleine Theaterbühne, und ich spiele die Figuren, mit denen ich André eines Tages am Ende der Ferien überraschen will.« (ST, 7f.)

Bereits diese erste Erzählung »Übungsstunde« kann in gewissem Sinne als exemplarisch gelten. Wenn es denn einen Plot gibt, so ist er kurz skizziert: Die Erzählung wird aus der Ich-Perspektive eines pubertierenden Mädchens geschildert, das offensichtlich jedes Jahr in den Sommerferien ihre Tante in Trouville besucht, die dort einen bric-brac-Laden (Tante-Emma-Laden) führt, einen Laden dekorativer Kunst-, Zier- oder Sammelgegenstände. Ihr etwas älterer Cousin Jean Paul und ihre Cousine Andrée sind nur im ersten Jahr zugegen, woran sich die Protagonisten »erinnert«. Im zweiten Jahr bleibt das Mädchen sich vorwiegend allein überlassen. Sie erfindet im Haus jene Figuren vor dem Spiegel, läuft durch Trouville, landet im Einkaufszentrum und stöbert schließlich in einer Kosmetikabteilung, woraufhin sie von einer Nachbarin der Tante zur Rede gestellt wird, was sie dort eigentlich machen würde. Daraufhin kehrt die Ich-Erzählerin nach Hause zurück, sie entwirft pantomimisch neue Figuren, wobei sie von Andrée unterstützt und von Jean-Paul beobachtet wird, die plötzlich doch »auftauchen«. Es bleibt unklar, ob es sich hier nicht um eine Erinnerung an die »Zeit vor einem Jahr« handelt. Am Ende der Erzählung rollt ein Apfel in eine Ecke des Raums und Andrée wälzt sich über sie. Das ist schon alles, was passiert. Von Seite der »Handlung« her ist sich den Geschichten deswegen hermeneutisch schwer zu nähern. Selbst das Empfinden der Zeit wird problematisch: Die Zeiten changieren, das Heute verändert sich übergangslos ins Gestern, geht in die 733 Monoprix ist ein großer französischer Discounter, eine Warenhauskette mit Sitz in Clichy mit ca. 23000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

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Darstellung der Erinnerung über und umgekehrt. Es stellen sich Assoziationen zu Marcel Prousts Werk »Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit« in Hinblick auf die übergenaue Beschreibung von Dingen wie dem Apfel her, die Erinnerungsprozesse im Sinne der memoire invóluntaire in Gang setzen734: »Ich lag nackt auf dem Sofa, den Apfel wie einen Mühlstein um den Hals gehängt. Lautlos trat Andrée ins Zimmer, nahm das Fußbänkchen, setzte sich mir zu Füßen, schnitt den Apfel ab von der Schnur. Der Apfel rollte in einen Winkel des Sofas, und als Andrée sich über meinen Bauch beugte, um ihn zu suchen, seine Hand lag leicht auf meinem Schenkel, sah ich ihn hinter dem Vorhang. Nur der Kopf guckte um die Ecke, ich sah Jean-Paul hinter dem Vorhang im Durchgang stehen, und als Andrée mich in die Schulter biß, den geteilten Apfel in der Hand, legte er das Ohr an die Falten des Vorhangs.« (ST, 17)

An dieser »Szene« lässt sich prägnant die Beschreibung von Situationen und Atmosphären ablesen, das Schildern ursprünglich alltäglicher Situationen, die erst durch Gruenters Schreibweise verfremdet werden, d. h. mit der Tendenz zum Phantastischen (im frühromantischen und surrealistischen Sinne) und zum Plötzlichen versehen werden. Alltägliche Situationen werden ästhetisch aufgeladen: Plötzlich wird einer Kleinigkeit wie dem in die Ecke rollenden Apfel besondere Aufmerksamkeit und Bedeutung geschenkt, die sie ohne die Darstellung nicht hätte. Aus einer Reihe im wahrsten Sinne des Wortes gleich–gültiger, gleichberechtigter kleiner Szenen oder Situationen wird eine herausgehoben, für kurze Zeit mit Sinn aufgeladen, ohne diese aber wiederum »aufzuklären«. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um das Begreifbare, also das, was mit der Hand begriffen und gleich wieder fallen gelassen wird. Damit kehrt die Situation metaphorisch gesprochen in das Gewebe der Erzählung zurück, wo es wie bei den meisten Erzählungen keine Hierarchien von Handlung, Protagonisten oder einen über- oder untergeordneten Sinn gibt. Der »Erhebung der Dinge« im Rilkeschen Sinne wird Bedeutungsmacht verliehen und diese sogleich wieder zurückgenommen. Die Geschichte »Hortensien und Staniolpapier« (sic!) »handelt« von einem alten Fräulein Heuline (ST, 9) 735, die Trouville als junges Mädchen Richtung Paris verließ, dort viele Jahre als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei am Boulevard Malesherbes arbeitete und sich nach ihrer Pensionierung mit dem Ersparten ein »quadratisches Einfamilienhaus, ein Bungalow mit Hochparterre, mit Betontreppe vor dem Eingang und mit braungestrichenen Fensterläden« (ST, 20)

734 Vgl. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Hrsg. v. Luzius Keller. Übersetzung von Eva Rechel-Mertens. In: Frankfurter Ausgabe. Drei Bände in Kassette. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2017. 735 Die Erzählerin gebraucht tatsächlich diesen antiquierten Begriff, sowohl in der deutschen als auch in der französischen Version.

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bauen ließ. Diese Mademoiselle Heuline erhält in den Ferien Besuch von ihrem Neffen, dessen Eltern im Schwarzwald, in Deutschland, arbeiten und dort eine Eisenwarenhandlung führen. Schließlich reist der Junge zusammen mit seinen Eltern wieder ab, und Mademoiselle Heuline bleibt allein zurück – das ist schon die ganze Geschichte.736 Sie wird von einem allwissenden Erzähler aus der Perspektive eines »Passanten« erzählt, der die beiden beobachtet: »Man sah die beiden in der Biegung der Rue Pierre Cassagnavère, in der Mitte der alten Landstraße gehen, den Jungen in kurzen Hosen, das Fräulein in jenem weißen Rock, der zum dritten Ausgehkostüm gehörte, die Jacke war zu Hause geblieben, die Bluse rosa und ohne Ärmel, man sah die beiden von hinten und in gerader Luftlinie über den Dächern das Meer und an den Mauern Wolken von himbeerfarbenen Hortensien.« (ST, 28f.)

Die Erzählung »Hortensien und Staniolpapier (sic!)« erscheint auf den ersten Blick im Sinne von Erzählung und Plot als sehr unspektakulär737: Die Geschichte beginnt mit der Beschreibung der Hortensien, des Gartens des Fräuleins Heulines und endet mit dem Abtransport des »Staniolpapiers« (sic!), das über Nacht in ganz Trouville ausgelegt worden war.738 Darin ist in Form einer weiteren Erzählung die »Lebensgeschichte« der Madame Heuline eingebettet. Sie stellt eine Person der (Vor- bzw.) »Nachsaison« dar,739 die die beste Zeit ihres Lebens längst hinter sich hat oder vielleicht nie hatte. Sie hat sich gegen das ihr vom Leben Zugewiesene nie aufgelehnt. Auch wenn sie nicht mehr in der Stadt lebt, so lässt sich intertextuell doch mit Rilkes »Helden der Großstadt, den Fortgeworfenen« (Rilke 1966, 303ff.) verbinden: »Auch das Fräulein, das um die Jahrtausendwende an die fünfundachtzig Jahre war, besaß ein neues Haus. Sie hatte das Kapital in jungen Jahren in Paris verdient, hatte Trouville mit siebzehn verlassen, um, wie man in Frankreich sagt, monter a Paris, und dort als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei am Boulevard de Malesherbes gearbeitet. 736 Die Erzählung erinnert von der Thematik und Motivik etwas an Bertrand Taverniers Film »Ein Sommer auf dem Lande«, nur dass diese Geschichte (noch) sehr viel stiller daherkommt. 737 Vgl. AS, 198: »6. Juli (1997) [Jahreszahlergänzung SW]. Es wird ein statisches Stück sein. Die Personen erzählen sich und ihre Träume. Zulaufend auf den Punkt der Kristallisation (Titel: Hortensien). Vgl. AS, 217: »20. September (1997) [Jahreszahlergänzung SW]. Baum, Stein, Hortensien, Garten, Licht, Fenster etc. sind in dem Stück (Hortensien) nicht Sehnsuchtsformen der Idylle, sondern abstrakte Zeichen einer Lebenslage – einer existentiellen der äußersten Reduktion und einer poetischen in dem Sinne, als Dichtung nicht Poesie ist, sondern Leben (vgl. Eliot). In diesem Sinne sind die Formeln des auf Äußerstes reduzierten Lebens, sowohl Zeichen des Mangels als auch des Gegenteils – es sind die dürren gefrorenen Blätter der Hortensien die Orte, wo die Reste des Lebens sich sammeln.« Vgl. aber auch: AS, 367: »Zeichen sind Instrumente des Todestanzes.« 738 Auch hier finden sich Anklänge an Surrealistisches im Sinne von Erinnerungen, Träumen oder Tagträumen. 739 Der Erzählung wie als Metapher des Lebens.

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Eine romantische Liebesgeschichte, die die Ursache für den Aufbruch nach Paris gewesen wäre, gab es nicht, kein Seemann, der betrunken war, kein normannischer Bauernsohn, der eine andere (katholische?) hätte heiraten müssen. Sie hatte zwei Geschwister, und da sie sich (in) den kleinen Besitz des Vaters hätte teilen müssen, war sie in den Moloch gezogen, hatte achtzehn Jahre in einer Dachklammer überwintert und nur die kurzen Ferien und Feiertage am Meer verbracht. Dann war sie zurückgekehrt und hatte das Haus bauen lassen.« (ST, 20)

Die Erzählerfigur beschreibt die »Protagonistin« über das Haus, den Garten oder die Lage des Hauses zum Meer hin und beschreibt auf diese Weise des »Fräuleins« Biographie, zu der ihre zwei Brüder gehörten, von denen der eine nach Australien, der andere mit seiner Familie nach Deutschland ging,740 wo er Arbeit fand. Von hier aus nimmt die Geschichte einen weiteren Impuls und zugleich »Fahrt« auf, wenn der kleine Neffe in den Sommermonaten häufig zu Besuch bei seiner Tante ist. Durch den Aufenthalt verändern sich die Aktivitäten der alten Dame. Mit einem Mal kommt »Tempo« und »Aktion« in das Leben der Dame, sie beginnt wieder, Ortsveränderungen vorzunehmen und sich zu bewegen741: »Sie trug die kleinen Tüten mit dem an Strand vermiedenen Abfall, zusammengerollt unter dem Arm oder in die Basttasche mit den Strandsachen. Niemand sah ihren Tic, und wenn sie laut sagte, früher hätten die Strandgäste ihre Picknickreste eingepackt den Strandwärtern überlassen, die bürokratische Verfügung zu selbstverwalteter Ordnung und Sauberkeit züchte nur kleine philiströse Arschlöcher, Fingerzeiger und Denunzianten, verstand sie niemand.« (ST, 27)

Mit dem Besuch des Jungen verändert sich ihr Leben: Sie beginnt sogar wieder, sich im Leben zu »engagieren«, besinnt sich darauf, dass sie nach ihrer Rückkehr aus Paris einige Jahre in der Mairie vor Ort arbeitete. Ihr Leben verläuft zwischen Hortensien und Staniolpapier (sic!), als würde sie es durch die Kraft ihrer Gedanken führen. Sie wünschte sich nichts stärker als irgendeine »Sabotage« von außen, als sie bemerkt, dass die Mairie (das Bürgermeisteramt) in dem Sommer, als der Junge bei ihr ist, nur Verbotsschilder anbringen lässt. Als der Junge wieder fort ist, beginnt sie, ihm »nachzufühlen«. Dadurch gewinnt sie selbst wieder Lebendigkeit zurück. Plötzlich und nur für Momente erlebt sie, was sie vorher weder an sich noch an ihrer Umgebung wahrgenommen hatte. »Kein heiterer normannischer Apfelbaum, keine Korbweide, kein rauschendes Laub – nur dieser starre ewige Lebensbaum grün und die üppigen Hortensien, vor denen

740 Nach Singen im Schwarzwald, in einer »Fabrik für Schrauben und Nägel«. 741 Hier zeigen sich zudem Parallelen zu Filmen von Bertrand Tavernier wie »Ein Sonntag auf dem Lande« oder »Die Frau des Leuchtturmwärters« von 2004, aber darüber hinaus zur Kurzerzählung von Judith Hermann »Hunter-Thompson-Musik« in dem Erzählband »Sommerhaus, später«. Vgl. Judith Hermann: Sommerhaus, später. Erzählungen. Frankfurt/ M: Fischer.

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niemand das Fräulein je stehen sah, wenn sie sich, alt, ledig und müßig, der Bewunderung der Farben hingab.« (ST, 20f.)

Sie stellt Überlegungen an, ihren Neffen darum zu bitten, ihr Haus und ihren Garten mit Eisenwaren, Papieren und leeren Dosen zu decken. Am Schluss geht ihr Wunsch, ihr Tagtraum, allein durch die Kraft ihres Geistes und ihrer Fantasie, schließlich »in Erfüllung«: »Eines Morgens wachte sie auf, und der ganze Strand blinkte, der Regen war weg, eine blasse Sonne stand schon am Himmel, über und über bedeckt war der Sand bis zum Horizont mit glänzendem Silber, Staniolpapier, Dosenmetall, eine endlos blinkende Fläche, die kein Mensch zu betreten wagte. Als ginge es übers Meer und die Wellen trügen die Füße nicht. Das Fräulein wachte auf, und das Glitzern und Gleißen spiegelte bis zu den Höhen hinauf. Ganz Trouville sprach von Sabotage, von nächtlichem Vandalismus, doch keiner wußte, wer diese Tonnen von Silberpapier, Metall und Aluminium in einem einzigen Zug über dem Strand ausgeleert hatte. Eine kleine Weile herrschte Schweigen und Aufregung in der Stadt, und die silberne Mondlandschaft wurde beeinflusst wie eine Naturkatastrophe.« (ST, 29f.)

Die »Hauptdarstellerin« der Erzählerin ist neben der alten Dame Trouville bzw. die Gegend um Trouville plus der »Zwillingsschwester« Deauville und der Côte Fleurie. Damit »bewegt« sich die Autorin vom Zentrum (Paris) weg: ¾ des Jahres ist in Trouville Nachsaison, nur die Alten und einige, die das monter a Paris nicht geschafft haben, bleiben zurück. Am Schluss herrschen wieder die pure Verlassenheit und Tristesse vor, eher noch stärker geworden, weil da nichts mehr ist, wo zuvor etwas war. Am Ende findet sich jene Mischung aus Poesie, Prosa und Reflexion wieder, die für die Texte von Gruenter so charakteristisch erscheint. Erneut »hält« sie sich hier in keinster Weise an literarische Vorlagen oder erfüllt irgendwelche vermeintlichen Gattungszuschreibungen. Man ist geneigt insgesamt von einer reflexiv poetischen, »additiven«742 Prosa sprechen, wie beispielsweise in den beiden letzten Sätzen der Erzählung (vgl. 174, 225, ST, 30). Wiederum handelt es sich bei den Figuren der Erzählung zumeist um Künstler oder Intellektuelle, Großbürger oder um Personen, der höheren gesellschaftlichen bürgerlichen (Mittel-) Schicht angehörend. Die Hortensien wie das Staniolpapier (sic!) haben allein schon durch ihre Verwendung im Titel exponierte Bedeutung. Sie rufen zum einen eine Assoziation an Rilkes berühmte Gedichte »Weiße Hortensie« und »Blaue Hortensie« hervor. Zum anderen verweisen die Hortensien, »die im Lauf des Sommers mehrfach die Farbe wechseln« (ST, 19), auf die Vergänglichkeit, auf das Erleben des Einbruchs der Zeit, die mit dem Besuch des Enkels verbunden ist, den sie 742 Weil die Haupt- und Nebensätze durch Kommata unterteilt und dennoch mit der Konjunktion »und« verbunden werden.

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»chouchou« nennt: »Dann war er weg, Chou-chou, die Hortensien, die niemand beachtete, wurden langsam bordeauxrot und bräunlich an den Rändern.« (ST, 29) 743 Die Hortensien werden in ihrer Einzigartigkeit und Vergänglichkeit so offensichtlich nur von Mademoiselle Heuline wahrgenommen. Genau wie das Staniolpapier (sic!) der Abfälle am Strand gemahnen sie an die Veränderungen, die mit der Zeit einher gehen und an die sich Mademoiselle Heuline nur schwer gewöhnen kann, weshalb sie bestimmte Gewohnheiten beibehält, als der Enkel längst wieder fort ist744: »Eine Weile noch behielt das Fräulein die Gewohnheit bei, an den Strand zu gehen und im Café ihre Zeitung zu lesen.« (ST, 29) Die dritte Erzählung »Sommergäste im Weidenhaus« »handelt« einmal mehr von zwei besonderen »Sommergästen in Trouville«, die aus Paris angereist sind: von dem Kunsthistoriker Renée und der Anwältin Amélie. Beide arbeiten in Paris, Amélie auf dem »Pariser Boulevard Malesherbes« (ST, 32). Sie besitzt dieses »kleine Haus in Trouville«, dazu eine Stadtwohnung im 17. Pariser Arrondissement. Die beiden verbringen den Sommer zusammen in ihrem Haus. wohin sie offensichtlich jeden Sommer um den französischen Nationalfeiertag, den 14. Juli herum, fahren, und wo sie Gäste empfangen. Bis hierher könnte soweit alles gut sein, wären da nicht die kleinen Brüche in der Erzählung: »Sie [Amélie, Ergänzung SW] war Anwältin mit Sitz auf dem Pariser Boulevard Malesherbes, aber es gab boshafte Stimmen unter den Freunden, die sagten, im Augenblick hätten selbst Anwälte nichts in Paris zu tun. Außerdem die Gerichtsferien und außerdem […] im Augenblick habe sie wohl drei Liebhaber.« (ST, 32)

Dieses Motiv wird in der Erzählung nicht weiter fortgeführt, sondern weiter wird es nur »behauptet«. Die Erzählerin verzichtet, näher darauf einzugehen. Wieder blitzt hier Gruenters denkwürdige Abneigung gegenüber jeder Art stark identifikatorischen bzw. plothaften Erzählens auf. Wenn man denn so will, »passiert deshalb nichts«. Die beiden erhalten als »Auffrischung« Besuch von Freunden745: Francoise und André, ein Paar, ebenfalls aus Paris, er, Geschichtslehrer an einem Lycée im 20. Arrondissement, sie Philologin, die sich für die École des Hautes Études746 743 Vgl. ST, 26: »Er hatte auch einen Namen, etwa wie Paul oder Robert, aber Mademoiselle Heuline nannte ihn, das Hätschelkind einer betagten Ferienlaune, partout und überall: mon Chou, mon Chou-Chou. Elende Gleichmacherei aller Objekte der Liebe (hier ist nicht klar, wer hier denkt oder spricht, die Ich-Erzählerin oder Mademoiselle [Heuline] Miou-Miou, Chou-Chou, Chou-Chou [doppelt im Text, SW] lautete das Echo ihrer konzentrierten Aufmerksamkeit.« 744 Hierbei handelt es sich um den Versuch, die Zeit zu besiegen, ähnlich wie bei Gruenter selbst, bis die Krankheit diese Absicht endgültig zerstört und damit für sie die Unumkehrbarkeit der Zeit markiert. 745 ST, 36: »Die Auffrischung war da, zwei kleine Auffrischungen aus Paris, und sie waren neu.« 746 An der auch Bohrer unterrichtete, auf dem Boulevard Raspail. Vgl. Kap. 4.4.

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beworben und »ein Buch, eine Doktorarbeit, über Wahnsinn und Erotismus in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts geschrieben« hat. (ST, 38) »Francoise und André wohnten in Paris an der Porte Bagnolet, in einem kleinen Appartment im dritten Stock eines modernen, eher schäbigen Mietshauses. André war Geschichtslehrer an einem Lycée im 20. Arrondissement und hatte gerade eine Biographie über Churchill aus dem Englischen übersetzt. Churchill war im Augenblick genauso aktuell wie de Gaulle, 68 war vorbei und die Kritik an den großen Figuren der Großmachtpolitik, vorbei wie die Kritik des Strukturalismus am Humanismus. Francoise war eine Hündin mit Schlapphut und hohen Absätzen, sie arbeitete an einer Bewerbung für die Ecole des Hautes Études und hatte ein Buch, eine Doktorarbeit, über Wahnsinn und Erotismus in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts geschrieben.« (ST, 37)

Wieder entwirft Gruenter eine eigene künstlerisch-räumliche Welt und entwickelt darin eine Begegnung, in der nichts wirklich geschieht: Die Protagonisten sitzen, unterhalten sich, trinken, essen und schauen. Erneut geht es um ein Erzählen über das Erzählen. (vgl. Bichsel 1982, 8) Schließlich »erzählt« René Anekdoten aus Trouville, von der nicht eine »auserzählt« bzw. zu Ende erzählt wird. Stattdessen heißt es an jener Stelle, an der allein die Gesprächsthemen vielsagend sind: »Sie redeten über Universitäten, Berufungspolitik, berühmte Namen, dann über die noch aus den siebziger Jahren um die Sorbonne übrig gebliebenen Kinos und vietnamesischen Restaurants, und dann spielte René den Landherrn und Provinzbewohner und erzählte Anekdoten aus Trouville. Das Problem solcher Anekdoten ist, dass sich nur die Erzähler selbst für die unbedeutenden Figuren aus der Provinz interessieren, an der sie hängen. Aber René wusste immer mit Pointen Stimmung zu erzeugen, vielleicht war er wirklich ein guter Erzähler, alle schienen animiert wie selten.« (ST, 39)

Daneben wird das Essen747, der Garten oder das Aussehen von Francoise zum Gegenstand der Konversation gemacht: »Francoise sah blass aus in der Dämmerung, ihr Lippenstift war abgegessen, und sie erzählte, wie oft ihr Computer in den letzten Wochen ausgefallen war, wenn sie in der Bibliothek Ste. Genievève hinterm [Ellipse im Text, Ergänzung SW] Pantheon gearbeitet hatte.« (ebd.) Dies alles wird seitens der Erzählerfigur, die nicht selbst in die Erzählung eingebunden ist, so genau beschrieben, und auf diese Weise alles getan, um nur jeden kleinsten »Verdacht von Handlung« zu zerstreuen, eingedenk dessen, dass im weiteren Sinne Sprechen Handeln ist. Durch die ausgiebigen Verweise auf den Garten wird man an »Der verschlossene Garten« oder an Goethes »Wahlverwandtschaften« erinnert. Aller747 Ebd.: »Es kam ein Grantin mit verschiedenen Fischen und aus der Schale gelösten Langusten in einer Sauce mit Champignons und Crème fraiche, schließlich ein Livarot und dann Erdbeeren.«

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dings erweist sich Goethes Roman als geradezu handlungsstark im Verhältnis zu dem, was in Gruenters Erzählung »geschieht«. Die »Pointe« der Geschichte läuft schließlich auf die Andeutung heraus, dass sich zwischen André und Amélie eine Affäre anbahnt748. Und doch verbringt Amelie die Nacht allein auf dem Sofa zu, ist dabei die einzige, die am Schluss lacht, während die anderen völlig unangemessen auf eine Situation reagieren749, wo nichts geschieht, sich vieles sich in der Erwartung und Phantasie abspielt. Man ist geneigt an (Bühne-) Werke von Yasmina Reza750 oder Véronique Olmi751 zu denken, wenn man Sätze liest wie: »Irgendwann sagte Amélie, ich habe das Haus, das Villa Suzanne hieß, nach der Weide genannt, L’Osier. Der Satz fiel absurd und ein wenig hilflos, zwischen die überall herumstehenden Stapel von Geschirr.«752 Als noch handlungsärmer erweisen sich die folgenden Geschichten im Band »Englische Quarantäne« und »Impasse du Bon Secour«. Die erstgenannte Erzählung beginnt mit dem Satz: »Warum dieses Hotel an der französischen Küste einen englischen Namen hat?« (ST, 41). Eine Hotelbesitzerin reflektiert753 darüber, wie ihr Hotel in früheren Zeiten zu seinem englischen Namen St. James gekommen ist und macht sich zugleich Gedanken über die wenigen Gäste,754 die zu dieser Jahreszeit im Hotel verblieben sind. Die eigentliche »Hauptfigur« scheint der Ort Trouville bzw. das Hotel an diesem Ort zu sein, worüber ebenfalls zum größten Teil nachgedacht wird. Zudem wird von neuem die Einsamkeit und vorwiegend die Leere dieser Welt an den Beschreibungen von Trouville deutlich: »Es ist Januar und die Stadt ist fast leer. Die Feiertage sind vorüber, die Pariser abgereist, und die meisten Geschäftsleute gönnen sich ein paar Tage Pause oder renovieren ihre Geschäftsräume. In Seebädern, die fast nur vom Tourismus leben, verdienen die Leute ihr jährliches Einkommen zum größten Teil in der Saison. Den Rest des Jahres verbringen sie damit, ihre Hotels oder Cafés zu polieren, in den Regen zu starren oder zu schließen. Ich habe Glück, auch in den schlechten Monaten sind immer drei oder vier Zimmer besetzt. Es gibt die Durchreisenden, die ein einfaches Zimmer mit Waschbecken nehmen, und die Individualisten, die die hors-saison bevorzugen, um sich zu erholen, und das gelbe Zimmer zu zahlen. Dort haben sie Bad und separate Garderobe, 748 ST, 40: »André nahm ihr das Windlicht aus der Hand und küßte sie langsam von der Stirn bis zum Kinn.« 749 Ebd.: »René machte einen schiefen Witz«. 750 Vgl. z. B. Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen. Roman. Übers. Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. München: Hanser 2014. 751 Véronique Olmi: In diesem Sommer. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. München: Verlag Antje Kunstmann 2012. (Original: Cet été-là. Paris: Grasset & Fasquelle 2010.) 752 Die Dialoge werden nicht als solche gekennzeichnet, sondern direkt in den Prosatext eingebunden. (St, 40) Sehr typisch für Gruenters Erzählstil ist auch die Kombination »abstrakter Phänomene wie »der Satz« und konkrete »Dinge« wie »das Geschirr«, wo dieser Satz dazwischen »fällt«. 753 In der 1. Person bzw. aus der Perspektive der Ich-Erzählerin. 754 Zu dieser Zeit: zwei Engländerinnen und zwei Japaner.

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zwei bequeme Betten, Schreibtisch und einen halben Salon, Sessel und Tisch, an dem sie frühstücken oder Bridge spielen können. Der Balkon geht auf die Straße und hat Morgensonne, und das Meer ist gleich um die Ecke.« (ST, 43f.)

Von neuem könnte sich der Leser mit Recht fragen, wozu er das alles wissen muss und ob diese Passage nicht zum Teil einem Reisebericht entstammen könnte. Ohne in den Kontext der Erzählungen gestellt, wäre diese Frage so isoliert m. E. sogar zu bejahen. Aber im Kontext der Geschichte erfüllt diese Beschreibung die Funktion, den Kosmos Trouville zu generieren. Die Ich-Erzählerin strengt einige weitere Überlegungen über ihre Gäste an,755 über die Unterschiede zwischen England und dem Kontinent bezüglich des Frühstücks oder über die alte Feindschaft zwischen England und Frankreich. Dann begibt sie sich zu ihrem Hund Laughton, von dem man erfährt, dass er nach dem britischen Schauspieler Charles Laughton (1899–1962) benannt ist. Schließlich kommen aus Anlass der Boudin-Ausstellung in Honfleur neue Gäste an. Die einzige motivische Verbindung wird durch den Kosmos des Hotels hergestellt. »Ich bekam neue Gäste, ein Pariser Paar mit zwei Kindern, die sich in Honfleur die Boudin-Ausstellung ansehen wollten, aber es vorzogen, in Trouville zu wohnen. Das Wochenende war mittags sonnig warm, man konnte in Pullovern auf den Terrassen der Restaurants sitzen und neben den Infrarotheizern Muscheln essen. Die Gesichter der Pariser Kinder glänzten vor Fettcreme gegen Wind und Kälte, und sie fütterten den Hund mit kleinen Hundekuchen, die ich ihnen gab.« (ST, 53)

Es erscheint nicht ganz unberechtigt, darauf hinzuweisen, dass es sich bei der »Protagonistin«, der Ich-Erzählerin, wie bei fast allen Helden Gruenters, um eine Außenseiterin handelt, was sich an vielen verschiedenen Facetten wie der präzisen Beschreibung der Kleidung zeigt: »Ich bin ein Neutrum, ich trage meinen doppelreihigen Sweater wie eine Uniform, und vielleicht lassen meine manikürten Fingernägel vermuten, dass auch ich ein wenig penibel bin, nichts für kurze Abenteuer und am Morgen im Zimmer herumliegende Unterwäsche. Vielleicht habe ich trotz meiner Abneigung gegen englische Gäste, das Don’t touch me mit dem englischen Flair des Hotels übernommen. Ich weiß, dass es Leute in der Stadt gibt, die sich Fragen stellen, ob ich meine kahlen Schläfen und großen blauen Kinderaugen für junge Matrosen reserviere. In einer französischen Kleinstadt unverheiratet zu sein riecht nach Hochstapelei, Abenteuer oder Dummheit.« (ebd.)

Für den anderen Protagonisten, den Hotelbesitzer, ist eben dieses Hotel und alle damit verbundenen Aktivitäten von Bedeutung. Er, der »von Dieppe« kommt, ist mit niemandem wirklich in Kontakt getreten oder vertraut geworden. Seine Tage sind ausgefüllt mit Tätigkeiten für und rund um das Hotel wie die Beschäftigung mit den Rechnungen. Diese Angelegenheiten setzt er gegen seine »Einsamkeit als 755 Unter anderem über die englische Hundequarantäne.

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Zugezogener in Trouville«. Zugleich kommt den »poetischen Phänomene wie die Beobachtung der Regentropfen« und des »Nebels in der leeren Straße« besondere Bedeutung zu. Hier werden erneut die Phänomene wie die »(poetischen) Dinge« exponiert. »Die Gerüche stören mich nicht – oder ich rede mir ein, sie berührten mich wenig. Ich bin mit niemandem wirklich vertraut, obwohl ich viele hier kenne. Ich […] habe das Hotel vor acht Jahren übernommen. Ich habe den ganzen Tag zu tun, habe keinen Nachtportier und keine femme de menage, und in der Saison nehme ich Aushilfsmädchen für Stundenlohn. Meine Erfahrungen in Dieppe bei einem alten Hotelier, der Tag und Nacht im Empfang hinter mir saß, lassen mich meine Einsamkeit als Zugezogener in Trouville kaum empfinden. Es gibt viele Stunden, die ich an einem Tisch in der Halle über meinen Rechnungen verbringe, ich beobachte Regentropfen und Nebel in der leeren Straße, und auch der Hund zieht es an solchen Tagen vor, am Kamin zu liegen und seinen Ausgang auf die Sackgasse neben dem Haus zu beschränken.« (ST, 45f.)

Die nächste Erzählung setzt da an, wo die vorherige aufhört: in einer Sackgasse. Der männliche Ich-Erzähler der Erzählung »Impasse du Bon Secours«, Schriftsteller von Beruf, führt gleichfalls das Leben eines Außenseiters. Er stromert durch die Straßen von Trouville und bleibt schließlich in einer Sackgasse hängen, an der er von außen durch ein Fenster in das Interieur eines hell erleuchteten adeligen Gutshauses schaut: »Wieder gehe ich, gegen Abend, die Straße bis ans Ende, eine Straße mit vielen leeren Häusern und geschlossenen morschen Fensterläden, eine Straße, die wie die ganze Stadt ist, jetzt, außerhalb der Saison, eine gespenstische Stadt, durch die der Wind weht und in der sich der Sand als zeitlose Spur in allen Ritzen abgelagert hat. […] doch ich könnte nicht einmal sagen, dass ich mich wohl fühlte in solchen Stimmungen. Im Gegenteil, das Verlassensein zieht mich nicht an, ich gerate zuweilen hinein, und meist ist es ein Zeichen, das mich anlockt, wie dieses Tor.« (ST, 54f.)

Der Protagonist wird von jenem besagten Haus magisch angezogen, das, wie so oft bei den Gebäuden der Erzählungen, menschenleer ist. Wieder scheint die besondere Gruentersche Leere auf, eine Leere der »Erwartung«, wo die erwarteten Menschen fehlen, eine räumliche Leere der A-Präsenz. Dennoch sind Spuren menschlichen Lebens nicht von der Hand zu weisen, aber niemand ist zu sehen, wodurch die ganze Szenerie etwas Gespenstisches erhält: »Ich bog in die Straße, ging, bis ich sah, dass es nicht weiterging, und wollte gerade umkehren. Das Echo des Lärms hallte ein wenig nach zwischen den Mauern, dann sah ich den weißen Mond über dem Hügel aufgehen, sah das bleiche Tor im Zwielicht und plötzlich, vor noch hellem Himmel, in der Höhe ein festlich erleuchtetes Haus. Es war ein langgezogenes zweistöckiges Haus mit klassischem Giebel, die breite Front voll hoher Fenster, die in der Beletage alle erleuchtet waren, als hätte jemand in einem Anfall von Wahnsinn das Haus in eine Galerie von brennenden Fackeln verwandelt. Denn auf

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den zweiten Blick sah ich, dass alle Räume menschenleer waren, nur die Lüster an der Decke strahlten hell wie bei einem Fest.« (ebd.)

Köhler (2003) stellt einmal mehr die besondere Örtlichkeit heraus, jene Straße, die der Erzählung den Titel gibt und die der Schriftsteller allabendlich entlanggeht oder schlendert, die »Impasse de Bon Secours«, »eine Straße mit leeren Häusern und morschen Fensterläden, bis er vor jenes eiserne Gittertor kommt, hinter dem sich ein Garten voll Schatten und Treppen den Hang hinaufzieht.« (Köhler 2003) »Oben am Hügel leuchtet die Fensterfront eines vollkommen leeren, lang gestreckten Gebäudes, »als hätte jemand in einem Anfall von Wahnsinn das Haus in eine Galerie von brennenden Fackeln verwandelt«. Jeden Abend kommt der Dichter hierher, nicht wissend, was er hier will, gerufen von etwas, das ihn eigentlich nicht betrifft. Es ist Nachsaison, Trouville eine gespenstische Stadt, in der »sich der Sand als zeitlose Spur in allen Ritzen abgelagert hat«. Und so, zwischen fackelndem Wahnsinn und dem lautlos rieselnden Sand der Zeit, zwischen Spitzendeckchen und surrealen Visionen, treibt sich der Dichter in den nächtlichen Gassen des kleinen Seebads herum und begegnet Gespenstern einer Vergangenheit, von der wir nicht wissen, zu wem sie gehört.« (ebd.)

Als wäre das Fest zu Ende oder die Saison vorüber, so kommen viele Erzählungen dieses Bandes daher. Was sie an erzählerischem Kitt zusammenhält, ist die Gegend und der Ort Trouville, hier in Gestalt dieses »erleuchteten Hauses«, wieder »außerhalb der Saison«, wenn es schwer ist, Spuren des im Sommer pulsierenden Lebens zu finden. Auf diese Weise kommt den Dingen und deren Beschreibung ihre übermächtige zeichenhafte Bedeutung zu, sowohl was das Draußen bzw. die Exterieurs als auch was das Drinnen und die Interieurs betrifft. Zum wiederholten Mal läuft die Erzählweise Gruenters allen Regeln der (Plot-) Erzählung zuwider, die normalerweise komprimiert an einem strengen Handlungsfaden aufgehängt ist, wohingegen hier seitenlang Interieurs beschrieben werden. Dem (Ich-) Erzähler geht dieses Haus nicht mehr aus dem Kopf und er beschließt, eine Wohnung in der Nähe zu suchen und anzumieten, gerade zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Saison. »Auf den ersten Blick war ich freudig erschrocken und neugierig unten am Gitter stehen geblieben, um als ungebetener Zuschauer einen Blick auf das sonst für Reisende verborgene Leben der Bourgeoisie von Trouville zu werfen. Doch nach ungefähr einer Viertelstunde sah ich, dass sich nichts dort bewegte, die Lüster brannten, die Wandlampen brannten, ich meinte hinter den geschlossenen Fenstern Tanzmusik zu vernehmen, und der bleiche Mond hielt die phantastische Szenerie so weit im Schatten, dass sie unheimlich hätte wirken müssen. Doch in meine Neugier mischte sich kein Entsetzen, die zweite Etage lag völlig im Dunkeln, und ich dachte mir, ob sich wohl eine verlassene Frau an diesem Abend den Eklat eines imaginären Festes geleistet hatte. Oder ein halbblinder Alter, der, nachdem seine Haushälterin sich zurückgezogen hatte,

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in allen Schubladen und Kästen nach einem zerknitterten Photo oder einem vermissten Dokument suchte.« (ST, 56)

Der Ich-Erzähler wird wie magisch von dem Ort angezogen, diesem so geheimnisvoll offenen wie einsamen Haus der Bourgeoisie. An diesem imaginären Ort bewegen sich nur »imaginäre Personen«, die man sich nur phantasieren kann bei »imaginären Festen«. Die Interpretation bietet im wahrsten Sinne des Wortes für alles Raum. Es lässt sich nicht vollends erklären und bleibt schließlich offen, warum sich alles so entwickelt, als die Lichter und Lampen längst wieder verloschen sind.756 Die Erzählung endet wieder in der sprichwörtlichen Sackgasse, dort, wo sie einmal begonnen hat. Dieses erneut örtliche, besser räumliche Motiv der Sackgasse lässt sich wie das besagte Labyrinth als ein Schlüsselmotiv betrachten: Die Erzählungen verweisen auf keinen »Ausgang« oder »Ausweg«: Wie der spätere Garten bleibt das Tor im »Impasse du Bon Secour« verschlossen, nur eine ganz kurze Sequenz von einem vermeintlichen Blitz »aufgehellt« bzw. »erhellt« durch die Beschreibung eines Kindes in dem der Villa gegenüber liegenden »Arbeiterhaus«,757 worin der Erzähler, ohne Genaues zu erkennen, so etwas wie sein Alter-Ego entdeckt: »Im Arbeiterhaus steht das Fenster im Parterre offen. Ein Vorhang weht, und ich schiebe ihn beiseite. Der Globus glimmt auf dem Boden, verkohlte Antennen, und der Stecker ist aus der Wand gefallen. Das Kind sitzt auf seinem Platz, ohne Angst, ohne Schrecken und ohne Freude über den Stromausfall. Es starrt vor sich hin, als stünde die Weltkugel da, verlassen auf irgendeinem Breitengrad, ausgesetzt ganz nah der Kanalküste, starrt es vor sich hin, ein weißes, rundes Gesicht in einem Zimmer mit Wachstuch auf dem Tisch, in einem Haus mit nach Eau de Javel riechenden Kacheln im Hausflur zum Hof.« (ST, 72)

Die Erzählung »Aussicht mit Haarnadeln« endet gleichfalls motivisch dort, wo sie beginnt. Es geht hier um eine ältere Frau (in den 60ern), deren Mann Albert eine kurze Zeit zuvor an Krebs gestorben und die gerade in die noch gemeinsam vorbereitete Wohnung gezogen ist, nachdem sie ihr Hotel in Trouville verkauft hat. Die Erzählung ist ebenfalls aus der Ich-Perspektive geschrieben, allerdings aus Sicht einer weiblichen Protagonistin. Den Haarnadeln als Motiv kommt insofern besondere Bedeutung zu, als dass sie die Länge der Haare signalisieren, die André sich für seine Ehefrau immer gewünscht hat, wohingegen sie selber ernsthaft darüber nachgedacht hat, sich die Haare kurz zu schneiden.758 Mit seinem Tod hat sich für sie einiges verändert, nicht nur, dass sie fortan die 756 Durch wen diese gelöscht werden, wird nicht erzählt. 757 Der Erzähler spielt hier erneut mit Kontrasten. 758 Das Motiv des Haares lässt an O. Henrys »Das Geschenk« denken. Vgl. O, Henry: Die Gabe der Weisen: die schönste Liebesgeschichte der Welt. Übersetzt und illustriert von Eva-Maria Altemöller. München: Pattloch Verlag 2006.

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Steuererklärung selbst machen muss, sondern ebenso, was die »Handhabung ihrer Haarnadeln« betrifft. Diese verkörpern eines der letzten Erinnerungsstücke an ihn: »Aber dann sah ich es wirklich, dieses Profil mit Knoten und all die Haarnadeln, die ich in den letzten Monaten verloren hatte, fielen auf einmal wie Platzregen zu Boden. Ein ohrenbetäubender Lärm, und ich stand noch immer gerade. Dann ging ich im Zimmer herum, als lebte ich nicht seit Monaten in dieser Wohnung, ich stellte mich ans Fenster und blickte aufs Meer. Ein vollkommener Abend, kaum ein Wölkchen am Himmel, und die Sonne halb untergetaucht im spiegelnden Wasser. Aber ich wusste, dass die Dinge in meinem Rücken da waren, die Drucke nach alten Seestichen, die Sofas mit der Truhe als Tisch davor, der Perserteppich und das Klavier, und ich sah plötzlich, dass kein einziges Stück übrig geblieben war aus den vierzig Jahren mit Albert.« (ST, 74)

Das Motiv der »Haarnadeln« taucht in der Erzählung fast leitmotivisch auf, sie »fallen zu Boden und bleiben liegen« (ebd.), ein Bild, das sich auf die mentale Verfassung der Protagonistin übertragen lässt. Korrespondierend heißt es am Ende der Erzählung, wo die Dinge zu den Orten in Beziehung gestellt werden: »Dann fiel mir auf jenem Gang vor ein paar Monaten – oder Wochen – die erste Haarnadel aus dem Knoten, zwischen Auto und Säulentreppe. Eine Weile nahm ich sie gedankenlos auf und dachte, es läge am Plastik. Ich kaufte wieder die alten Haarnadeln aus Metall, ich trage meine Haare dunkel, und das Schwarz des Metalls fällt kaum auf. Dann dachte ich, mein Haar sei zu dünn geworden, durch den Kummer fielen mir Haare und Nadeln in Büscheln aus. Aber ich gab den Gedanken auf, sie abschneiden zu lassen. Es ist nichts mehr übrig an Erinnerungsstücken, und auch der Knoten gehört nicht mehr dazu. Und da – fallen zwei Nadeln zu Boden. Ich stehe am Fenster, Windstille, nichts rührt sich. Sie fallen zu Boden und bleiben liegen.« (ST, 84f.)

Was hier en passant und dennoch unverstellt zum Vorschein kommt, ist das relativ traditionelle Männer-Frauen-Bild bzw. Rollenmuster oder Rollenverständnis der Erzählerin.759 Die Frau hat sich den Wünschen und Vorlieben des Mannes anzupassen, eine für heutige Verhältnisse äußerst wertkonservative Position. Konzedierend, dass es in einigen Erzählungen Gruenters – nicht nur in den »Sommergästen« – vereinzelt Frauen gibt, die sich Liebhaber »leisten«, so 759 Im Gegensatz etwa zu dem Werk »Der verschlossene Garten« wie Nadine Benz (2013), 178f. behauptet: »Ein anderer wichtiger Aspekt des ›Hortus‹ ergibt sich aus der Genderperspektive. Dazu wird stellvertretend auf Gisela Eckers Aufsatz »Hortus Conclusus. Weiblicher Körper und allegorischer Raum in der Literatur der Moderne« verwiesen, der sich mit fiktiven Gärten in der Literatur des Weiblichen beschäftigt. Eckers Hauptthese ist, dass literarische Texte, indem sie den allegorischen Raum des ›Hortus conclusus‹ aufrufen, ihre eigentlich als emanzipiert kategorisierten Protagonistinnen in ein eigentümliches Spannungsverhältnis zu überlieferten Geschlechtskonstruktionen des ›Hortus‹ setzen. Vgl. auch Gisela Ecker (1994): »Hortus Conclusus. Weiblicher Körper und allegorischer Raum in der Literatur der Moderne«, in: Schade, Sigrid, Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln (u. a.): Böhlau, 171–185.

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fällt doch auf, dass es in der Regel der Mann ist, der den Frauen eine gewisse Lebensart »vorlebt« oder »vorschreibt«.760 Es soll hier jedoch nicht der Fehler begangen werden, einer Erzählerin die Meinung der Autorin in den Mund zu legen, und so lässt sich in diesem Sinne nur darüber spekulieren, ob Gruenter in ihrer Beziehung so etwas am eigenen Leib erfahren hat. Manche Erzählungen jedenfalls legen diese Lesart nahe wie die Erzählung »Die Einfahrt von Bagatelle«, in der innerhalb der ganzen Erzählung angedeutet wird, dass zwischen der Stiefmutter Miriam, und dem Stiefsohn Alexandre zumindest erotische Schwingungen bestehen.761 Am Schluss ist letzterer derjenige, der die Initiative übernimmt: »[…] und Miriam holte das Auto, um Alexandre an den Zug zu bringen. Sie hielt vor dem Tor und stieg aus, um es zu öffnen, und da, zwischen zwei Pfosten mit griechischen Amphoren, kam Alexandre ihr nach, er hatte sein Gepäck aus dem Haus geholt. Sagte, ich fahre nicht nach Paris. Ich fahre nach Caen und nehme ein Zimmer im Hotel St. Jean am Bahnhof. Und du – kommst heute Nachmittag.« (ST, 96)

Rekapitulieren wir: Der Erzählband »Sommergäste in Trouville« ist Undine Gruenters vorletztes, posthum veröffentlichtes Werk und vereint 15 Erzählungen über jene »zerbrechlichen Reste des Glücks«762, die alle im Seebad an der Normandie und Umgebung (in Deauville, dem »Zwillingsbad«763 an der Côte Fleurie, 760 Vgl. z. B. die Vorlage von Perraults »Blaubart« in »Vertreibung aus dem Labyrinth«. 761 Bagatelle wird im Werk »Der Autor als Souffleur« mehrere Male erwähnt: »Draußen ist ein wunderbarer Tag für Bagatelle.« (AS, 383). Oder an einer anderen Stelle heißt es: AS, 193f.: »19. Juli 1988 [Jahreszahlergänzung SW]. Wir sitzen auf einer Bank, am Rand des hinteren Rosenparterres, an der Rückseite von Bagatelle. Der Park liegt in glänzender Sonne, der Himmel ist von tiefer, wolkenloser Bläue. Spätnachmittag, Wärme in den Büschen, die Sonne steht hoch hinter den Baumwipfeln. Ein Springbrunnen steigt mit zartem Strahl in die Luft, fällt im Bogen herab. Lautlosigkeit. Wundstille. Ein Pfau schreitet majestätisch durchs Bild.« 762 Köhler in der NZZ vom 29. 03. 2003. 763 Es herrschte von jeher eine Konkurrenz zwischen den beiden Orten, jene sich ergänzenden, ungleichen Zwillinge im Departement Calvados im Nordwesten der Normandie: Deauville, das von Gruenter des Öfteren erwähnt wird (ST, 51, 68, etwa das dortige jährliche amerikanische Filmfestival, ST, 77, 80, 89, 94f., 97 u. 194, dazu Honfleur und Le Havre ST, 7 u. 112 (Kino), 116, Caen ST, 100 und Cabourg ST, 87 u. 95, Lisieux und Rouen ST, 95 u. 100), galt als das mondänere klassischere, ältere Seebad, von wo viele Schiffe in die »Neue Welt« bzw. in die früheren, vergangenen Kolonien starteten, Trouville lange als das »alte Fischerdorf, was es aber nach Ansicht von Horkheimer eigentlich so nie war. (Vgl. Max Horkheimer (1974), 119. In DIE WELT vom 19. 08. 2016 schreibt Jochen Förster: »Nach Deauville kommt man, um sich zu zeigen; nach Trouville kommt man, um zu leben«, heißt es im Volksmund. […] Nirgends an Frankreichs Küste fällt es geneigten Frankophilen leichter, an Frankreichs Küste zu sein.« Während Deauville den vergangenen Glanz in Form von farbenfroh gestreiften Bürgerhäusern, einer »fotogenen Holzpromenade mit Strandumkleidekabinen« kultiviert, die »Jean Marais« oder »Charlton Heston« heißen, versucht Trouville sich eine gewisse Art von Ursprünglichkeit zu bewahren. Geblieben ist das Flaubert-Denkmal neben dem Hotel »Hotel Flaubert«. Während sich in Deauville die Villa Boudin befindet (wo

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oder in Honfleur etc.) spielen.764 Bohrer beschreibt, wie sie gemeinsam den Ort auf der Suche nach Zeitlosigkeit auf Wanderungen am Ufer der normannischen Küste« fanden, als »eine Variante zu den Gängen durch die entlegenen Viertel von Paris«. Er erzählt weiter, dass sie den Ort, jene »kleine Hafenstadt«, zufällig auf einer Busfahrt entdeckten, als sie sich auf den Spuren von Proust im Zuge der »nostalgischen Proust-Pilger« (Köhler 2003) nach Cabourg fuhren, »wo Proust sich oft aufgehalten hatte«. Die Beschreibung Bohrers gibt präzise die Stimmung dieses Ortes wieder, in dem sie damals – vor dem Kauf des eigenen Hauses – regelmäßig im Hotel Flaubert abstiegen, »das noch immer billige Fachwerkhotel mit den schönsten Zimmern mit Ausblick auf das Meer.« (ebd.) »Sie lag, von einer Landzunge getrennt, dem mondänen, mit teuren Hotels gesäumten Badeort Deauville gegenüber, war aber völlig anders. Ein fast noch uraltes Fischernest mit entsprechenden Häusern, auch wenn es dort jetzt Touristen gab. Ein bunter Sonntagsmarkt mit allen Fischen, die man sich denken kann, herumgebaut um das Denkmal Flauberts. […] Wenn der Abend dämmerte, begannen die Farben sich am Horizont bis hin zur schräg einfallenden Sonne zu mischen.« (ebd.)

Er beschreibt ihrer beider Spaziergänge im Herbst, »kurz bevor das Hotel für einige Wochen geschlossen wurde«, und wo sie am Meer entlanggingen, »auf der weiten Fläche des von der Ebbe freigespülten Meeresbodens kilometerweit in östlicher Richtung, wo Le Havre lag«. (ebd.) »Rechts oben auf den Hügeln stand das Haus Roches Noires. Dort wohnte Undines damalige Lieblingsschriftstellerin Marguerite Duras. Als Undine das entdeckt hatte, bot es ihr eine zusätzliche Begründung dafür, gern dort zu verweilen. In einer fünfzehnminütigen Busfahrt kam man nach Honfleur. Honfleur war im Mittelalter und noch zur Zeit der ersten imperialen Seefahrten der Franzosen der wichtigste Hafen für die Ausfahrt in den Atlantik und die Neue Welt gewesen. Nun war es nur noch eine kleine Hafenstadt, wo wir oft in einer Brasserie Fisch aßen.« (Bohrer 2017, 290)

Boudin auch starb), war Trouville mehr der »Ort der Literaten«. Vgl. Duras (1984), das Werk wird in ST, 44 erwähnt; Marcel Proust (1988); Cordula Seger: Grand Hotel: Bühne der Literatur. München/Hamburg: Dölling und Galitz 2007, 61. 764 Mit diesem Prinzip der »Verbindung« der Geschichten über den konkreten Ort im eigentlichen Sinne des Wortes von Topos, finden sich hier Parallelen zu Sherwood Anderson und seinem – allerdings fiktiven – Roman »Winesburg, Ohio«. Übersetzung von Hans Erich Nossack. Band 1330 Bibliothek Suhrkamp. (Original 1919, New York: B.W. Huebsch). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2015. Aber anders als die Geschichten von Sherwood Anderson gibt es in Gruenters Geschichten nur wenige personale oder ähnliche Bezüge zwischen den einzelnen Geschichten. So kommt der Herrensitz »La Bagatelle« und der Park, einer der vier Botanischen Gärten in Paris, sowohl in der Erzählung Hortensien und Staniolpapier als auch in der Erzählung »Die Einfahrt von La Bagatelle« vor, wobei sich die Geschichte im zweiten Teil komplett um den Herrensitz dreht. Diese Residence taucht in mehreren Erzählungen auf. Vgl.: AS, 193f.

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Zusammen hatten sie, wenn sie nach Trouville fuhren, ihre festen Rituale, wie den Weg »in ein am Strand festgemachtes Zeltrestaurant, von wo aus wir, ausgerüstet mit Wein und Brot, lange aufs Meer schauten, ohne miteinander zu sprechen. (ebd.) Auf diese Weise entwickeln sich zwischen ihnen kontemplative »Augenblicke«, bei denen die Literatur, im spezifischen Fall Baudelaires »Wolken«, eine besondere Rolle spielt.765 Bohrer betont, wie wichtig Undine und ihm diese Art von »kontemplativphantastischer Begründung der Existenz« im Gegensatz zu einer moralischen oder sozialen Begründung waren. Es bringt ihre gemeinsame Weltanschauung in der Beschreibung des »langen stummen Schauens auf das Meer hinaus, bis Undine »die Tränen in die Augen traten«766 noch einmal auf den Punkt. Dieses Trouville war einer ihrer gemeinsamen Herzensorte sowie ein imaginärer Ort« zugleich. (Köhler 2003) Es ist genau jenes Ambiente, das Guenter und Bohrer, der sich selbst als letzten Nachfahren des Menschen des 19. Jahrhunderts bezeichnete, so anzog: »In Trouville ist der Alltag geblieben, auch wenn die Impressionisten seine Promenaden und Strände und sein Licht berühmt gemacht haben und Schriftsteller wie Marguerite Duras dem Ort seine literarische Aura verliehen. Zu diesem Ort gehört der Anblick verrammelter Häuser und leerer Strände außerhalb der Saison, gehören der silbern glänzende Streifen über dem grüngrau verdüsterten Meer, der ewige Regen, das Aufbäumen eines Sommertags, Kinderstimmen und bunte Drachen, der klagende Schrei der Möwen im Wind und die lautlose Spur des Sands in den Ritzen der Häuser, die Melancholie der wandernden Zeit.« (Köhler 2003)

Schon der Titel des Werks bedeutet eine Reminiszenz an vergangene Zeiten,767 als Trouville im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben Deauville Zentrum des französischen Tourismus’ an der Atlantikküste der Normandie und vorwiegend bei Schriftstellern und Künstlern beliebt war. Erinnert sei daran, dass Flaubert hier eine längere Zeit lebte, berühmte Bilder von Eugène Boudin und

765 Bohrer (2017), 292: »Wir sahen aufs Meer und zu den Wolken. Bei dieser suggestiven Wirkung musste ich an eine Charakterisierung Baudelaires denken, die sich tief in mich eingesenkt hatte. Auf die Frage, was er am meisten liebe, antwortete »Der Fremde« im ersten Stück von Le Spleen de Paris, er liebe weder Vater noch Mutter, nicht die Freunde, das Vaterland oder das Geld. Er liebe die Wolken, »Les nuages qui passent […] là-bas […] les merveilleux nuages!«» 766 Ebd., 291ff. Im 19. Jahrhundert wurde Honfleur zum Zentrum künstlerischer Aktivitäten. Eugène Boudin, der Maler der Küstenlandschaften, wurde 1824 hier geboren. Das Musée Eugène Boudin ist ihm gewidmet und dokumentiert die malerische Atmosphäre der Stadt und der Seine-Mündung. Maler wie Courbet, Sisley, Jongkind, Claude Monet, Pissaro, Renoir und Cézanne und kamen nach Honfleur und trafen sich oft in der Ferme St-Siméon, einem Bauernhof, der als eine der Geburtsstätten des Impressionismus gilt und heute ein stilvolles Hotel ist. (Bohrer 2017, 297) 767 Oder ein Zitat, wie es Bohrer nennt.

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Claude Monet entstanden, der Impressionismus im Grunde an der Cȏte Fleurie »gegründet« wurde768 und Marguerite Duras 16 Jahre ihres Lebens einschließlich vieler Sommer bis zu ihrem Tod verbrachte769 und sich des Öfteren als »Marguerite Duras de Trouville« vorstellte. Die Assoziation stellt Förster in DIE WELT vom 19. 08. 2016 her, wo er schreibt: »Marguerite Duras wohnt hier nicht mehr. Der steinerne, mit schwarzen Eisengittern umfasste Balkon linkerhand, auf dem sie in den letzten 16 Jahren ihres Lebens so gern wahlweise saß und schrieb, fällt weiter kaum auf – die prächtige, neoklassizistische Vorderfront des 1865 erbauten ›Hotel Roches Noires‹ fesselt von der Strandseite aus eh alle Blicke. Auch das Hotel ›Schwarze Felsen‹ selbst ist nicht mehr, es heißt jetzt Apartmentanlage, und nunmehr eine kleine Reminiszenz erinnert an die 1996 verstorbene Dichterin. Ein Schild in der Sommersonne, ein Spruch von ihr: ›Das Meer betrachten heißt das Leben betrachten‹.« (ebd.)

Eingedenk der Tatsache, dass manche Gebäude nicht mehr stehen, so erinnern doch viele Gedenktafeln an dieses für die französische Literatur, Malerei und Kultur so wichtige Seebad gerade in seiner kultursemiotischen Funktion: Zudem ist es nach Giverny770 und Cabourg771 nicht weit. Wieder zeigt sich die Fremde französischer Topografien im Werk Gruenters, aber im Gegensatz zu Proust benutzt Gruenter »reale Orte« und Namen, die sie verfremdet. Dabei ist sie sich des Einbruchs der zeitgenössischen Welt durchaus bewusst: »Doch der Blick auf den Strand ist in diesen Geschichten verstellt von Kinderspielplätzen, Plastikmülleimern und Badekabinen, man isst Muscheln und Frites unter Infrarotheizern und diskutiert über Rinderwahn; die alten Paläste und Residenzen sind in Parzellen für den Sommertourismus umgebaut worden, mit Tennisplätzen und CrêpesBuden gleich nebenan. Und doch scheint vor ihren Fenstern die Zeit stillzustehen, und manch einer der Gäste stellt sich die Frage, ›ob man seine Epoche überlebt hatte oder nie in sie hineingewachsen war, ob man aus der Zeit gefallen war oder nicht in die Gegenwart passte‹. Und wenn man die Gläser klingen hört, wenn die Schatten über den 768 In der erwähnten Rezension in der SZ vom 19. 03. 2003 erinnert der Rezensent Müller an eine Anekdote, wonach bei der Fertigstellung eines Werks von Monet während seines Aufenthalts im Sommer 1870 der Wind angeblich Sand auf die Leinwand geweht habe, weshalb das Werk als ganz besonders »eigentümlich« und mit dieser Landschaft »verwurzelt« gilt. Der Kritiker führt aus, dass Monet auf diese Weise ein Stück Sand mit auf das Bild gebracht habe, er sieht in diesem Bild etwas Paralleles zur Schreibkunst Gruenters, die für ihn etwas so »beiläufig Hineingewebtes« hat. Angemessen wie schön zugleich ist die von ihm benutzte Beschreibung, dass die Erzählungen nicht enden, sondern sich nur dezent aus dem Leben ihrer Figuren zurückziehen würden. 769 Im Hotel Roches Noires, ST, 179, erbaut im Jahre 1865, mit der berühmten klassizistischen Vorderfront, jenes Hotels, wo Marcel Proust öfter abgestiegen war, was in der Erzählung »Impasse secours« thematisiert wird. (Vgl. dazu auch: Duras/Porte 1982). 770 137 km entfernt, dem Wohnort Monets, auf dem Weg nach Paris. 771 Wo Proust seinen Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« schrieb und das als reales Vorbild des fiktiven, literarisierten Balbec gilt, 37,6 km über die D 37.

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Garten fallen und der weiße Holunder aufglüht im Dunkel, dann liegt über der Szene die Flüchtigkeit einer Epiphanie.« (Köhler 2003)

Gruenter spricht im Titel im Zitat im postmodernen Sinne von Derrida.772 Das bezieht sich nicht nur auf den Namen »Trouville«, sondern auch auf den Begriff der »Sommergäste«. Nach Ansicht von Köhler verweist der Begriff »Sommergäste« auf die andere Epoche. Wie Köhler trefflich ausführt, ist die Empfindung des »Zuspätseins« zentral, in der Epoche oder der »Tradition der Leere« in Trouville. (ST, 64) Es ist ein Zuspätsein in der Jahreszeit wie »der kurzen Saison, die man gemeinhin das Leben nennt«. (Köhler 2003) Gerade in einem existentiellen Sinne, selbst wenn sich Gruenter seltsamer Weise selten auf den Existenzialismus bezieht,773 erinnert das Werk in einzelnen Sequenzen an Camus’ Tagebuchroman »Der Fall«, mit dem Schluss, dass es »nun dazu zu spät sein, dass es immer zu spät sei – zum Glück«774 – im doppelten Sinne, was zugleich den ausgesprochenen Reiz des Erzählbandes ausmacht. Köhler (2003) geht dabei so weit zu behaupten, dass der französische Badeort »zum Brennpunkt der Melancholie« und zum »imaginären Ort« wird, der so nur »in den Köpfen der Sommergäste« existiert (ebd.). Eine Bestätigung für Köhlers Überlegung, die wie kaum andere prädestiniert ist, die Werke ihrer verstorbenen Freundin zu interpretieren, den Untergang oder das Ende einer vergangenen Epoche zu markieren, lässt sich an dem von der Erzählerfigur beschriebenen Hotel des Roches Noires (ST, 174) festmachen.775 Man könnte mit gleichem Fug und Recht behaupten, dass das Hotel für die französische Literatur und Kultur eine ähnliche Bedeutung wie das Hotel Elefant in Weimar für die deutschsprachige Kultur erreicht hat.776 Über allem liegt die Patina und der Staub von gestern, der »Belle Epoque«, dargestellt anhand der Beschreibung der alten Villen und Hotels, der Gärten, des Meeres, der Dünen, der Episoden der Personen, von denen viele aus der Zeit 772 Vgl. Anmerk. 72. 773 Mit den Ausnahmen von Camus’ »Tagebüchern« und Sartres »Baudelaire«-Aufsatz. 774 Camus, Albert: Der Fall (dt. von Guido G. Meister). Reinbek bei Hamburg: Rororo 1997. (Camus, Albert: La Chute. Paris: Gallimard 2005, Original: 1956). 775 Das 1866 im »style Second Empire« an den Stränden von dem Architekten Alphonse-Nicolas Crépinet errichtete Hotel, zu Beginn mit 75 Zimmern (Eröffnung am 15, Juli 1866) gebaut, wurde 1913 mit 300 Zimmern zur Wiedereröffnung mit Elektrizität umgebaut, und 2001 wieder geschlossen. Besondere Bedeutung erlangte es nicht zuletzt deshalb, weil sich hier bekannte Künstler, Musiker und Schriftsteller aufhielten wie: Claude Monet, der das Hotel mehrmals gemalt hat (1870 Hotel des Roches Noires, heute im Hotel d’Orsay zu finden), Marcel Proust (von 1880 bis 1915), Chares Gir, der die drei Säulen im Inneren errichtet hat, die französische Komikerin und Dramaturgin Francoise Cardol (geboren 1964), die durch die Hotelhalle zu ihrem Werk, der musikalischen Komödie L’ Hôtel des Roches Noires (2012) inspiriert wurde, die im Juli 2013 auf dem Festival in Avignon gespielt wurde. 776 Etwa für Goethe, aber besonders durch Thomas Manns »Lotte in Weimar«.

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fallen und zugleich etwas »sehr Eigenes haben« wie das Fräulein Heuline bemerkt,777 jenes eigene, was aber keineswegs nur dargestellt, sondern ebenso durch Reflexionen anderer gebrochen wird. Überhaupt ist Gruenter hier wieder nie nur naive Erzählerin: Gerade in Hinsicht auf Trouville handelt es sich um eine äußerst reflektierte Prosa, eine Auffassung, die von Krüger im Gespräch geteilt wird. Dieckmann778 vergleicht die Prosa Gruenters in »Sommergäste in Trouville« mit der Prosa Ingeborg Bachmanns und glaubt, dass sie diese teilweise noch übertrifft.779 In der letzten Erzählung des Bandes sieht die euphorisierte Rezensentin die im Oktober 2002 verstorbene Autorin sogar »mit genussvoller Eleganz und komischer Melancholie« den ästhetischen Bogen von de Laclos bis Nathalie Sarraute gespannt. Großartig findet Dieckmann alle Erzählungen, die in der Nebensaison in dem französischen Badeort spielen. Sie spricht von »Kameraschwenks oder stills«, die Architektur und Interieurs voyeuristisch aufzeichneten, »auf der Grenze zwischen Intimität und Exhibition«. Sie hört die Stimmen des Personals dieser Erzählungen »so nah und lebendig, dass man ihren Atem am Ohr spürt«. In ihrem für ein Feuilleton sehr langen Text lässt die Rezensentin das gesamte Gruentersche Oeuvre noch einmal Revue passieren und konstatiert mit jedem neuen Werk einen »Gewinn an Leichtigkeit«. (ebd.) Hartwig, die ebenso wie Köhler, eine Rezension zu »Der verschlossene Garten« verfasst, (19. 03. 2016) beschreibt die Geschichten so, dass »das Deutsche der Wahlpariserin Gruenter einmal mehr vortrefflich mit ihrem französischen Geist verbindet.«780 Für sie geht Gruenter auf Spurensuche nach der »Belle Époque«, in einem konkret postmodernen Sinn, und benutzt als formal ästhetisches Prinzip die Spannung zwischen dem Gleichgewicht von »Desillusionierung und Beschwörung«. Sie sieht die Prosa Gruenters in »Sommergäste in Trouville« in der Tradition der Werke großer Vorbilder wie Nathalie Sarraute, Michel Leiris, Gustave Flaubert oder George Bataille. Anschließend kommt sie zu dem Schluss: »Ein schwebendes, biegsames, ungemein vokabelreiches Buch, filigran und anspielungsreich. (ebd.) Als ein erstes Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich der Roman wie kaum ein zweiter Gruenters sowohl topographisch im konkreten Sinne des Wortes als auch, 777 Bezeichnend scheint dieser altmodische Begriff des »Fräulein«, über den Gruenter hier reflektiert: ST, 22: »Das also wußte man, das also sah man: für Mademoiselle Heuline war diese Anrede keine Kränkung, (In Deutschland bestand jede Fünfzehnjährige in der Schule darauf, als Frau angeredet zu werden.) Trotz Kittelschürze und trüber Augen, zeigte sie, noch nicht steinalt, die Koketterie älterer Französinnen, die lächelnd nicken, wenn Bäcker und Fleischer ihnen ewige Jugend bescheinigen.« Hier stellt Gruenter wieder den Kontrast zu Deutschland her. 778 Dieckmann (2003). 779 Eine ähnliche Auffassung vertrat im übrigen Michael Krüger im Gespräch. 780 Vgl. ST, 156: »[…] Das-Deutsche-kauzt-sich-in-die-Ecke […].«

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was die »Bildungs- oder Kulturvokabeln« durch die Aufnahme (nicht nur) französischer Orte, Topoi, Personen, Speisen Zeichen etc. betrifft, auszeichnet. Es lässt sich innerhalb der Erzählungen in diesem Sinne, entgegen dem zuvor Festgestellten, durchaus von einer Steigerung oder Entwicklung sprechen. Insgesamt zeichnen sich die Geschichten erneut durch eine große Handlungsarmut aus. Keine der Erzählungen steigt dramatisch an oder ist auf eine Schlusspointe hin konzipiert. Sie sind deshalb nicht leicht wiederzugeben oder nachzuerzählen und entziehen sich zunächst einmal – ganz in einem surrealistischen Sinne – jeder Möglichkeit einer phänomenologischen Annäherung oder hermeneutischen Einfühlung, was von der Autorin beabsichtigt ist und worauf hingewiesen wurde. Man könnte es in der Tat als eine Art »Nach- oder Nebensaisonsprosa« bezeichnen; die Geschichten drücken eine Zeitlosigkeit aus, in Beschreibungen, die bis in die große Zeit des Heilbads Mitte des 19. Jahrhunderts hineinreichen. Es finden sich nur wenige Hinweise darauf, dass wir es mit der heutigen Zeit oder mit jener nach dem Jahr 2000 zu tun haben, was von heute aus auf eine gleichfalls anrührende Weise altmodisch wirkt. Die Zimmer, Straßen oder Orte »erheben« sich, werden erneut zu eigentlichen Protagonisten der Erzählungen. Die Beschreibung dieser Dinge, des Ortes, der Straßen, der Zimmer erlangt sowohl qualitativ als auch quantitativ eine überragende Bedeutung, wohingegen jenes, was sich zwischen den menschlichen Protagonisten abspielt, eher als untergeordnet, unpsychologisch und en passant erzählt wird. Die Protagonisten »verschwimmen« auf diese Weise so sehr mit dem Interieur bzw. Exterieur, dass man sich ihrer Namen kaum besinnt. Es sind Geschichten bestehend aus Tagträumen, etwa an der See, wo alles ununterscheidbar wird im Sinne von Duras’ Diktum von den Dingen, die ihr wichtig und miteinander verbunden waren: »das Wasser, das Meer, das Leben«. Im »Café de Port« treffen sich die Alten, meditieren über die Zeit und sinnen darüber nach, wie viel Zeit ihnen wohl noch bleiben wird. Es ist dieses NochNicht-Ganz-Vorbei, dass sich in dieser Prosa äußert: »Das Alter? Es ist nicht schön, pflegen die Alten im Café du Port zu sagen, und sich zu erzählen, wer zuletzt gestorben ist. Es ist nicht schön, sagen sie, das Alter, und nicken über ihrem Calvados. Aus Calvados machte das Fräulein sich nichts, nicht das geringste aus einem heimlichen oder erlaubten Gläschen eau-de-vin oder einem Grog gegen den Wind.« (ST, 23) 781

An einer anderen Stelle spielt der Einbruch des Brutalen oder Grausamen mit hinein, der sich an kleinen Szenen und Motiven wie denen der »imaginierten

781 Hier in der Erzählung taucht das Café du Port auf, wo sie mit Bohrer oft gesessen hat, vgl. Kap. 4.4. und 4.5.

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Kaninchen« deutlich macht: »Jean Paul war schon vierzehn, und wir wußten, er ließ sich ein wenig herab zu uns Kleinen. Aber weil wir Mädchen waren, ließ er es durchgehen, und so hüpften lauter Kaninchen als Schatten seiner Finger über die Wand, hüpften, hoppelten, sprangen, schlugen Haken oder starben im Straßengraben.« (ST, 7) Die beiden Erzählungen »Englische Quarantäne« und »Impasse du Bon Secour« haben einen männlichen Protagonisten als Ich-Erzähler. Es bleiben nicht die einzelnen Parallelen, die beide Werke miteinander verbinden: Beide Männer sind unverheiratet; Gruenter benutzt hier den altmodischen Ausdruck »Junggeselle«, beide erzählen aus der Ich-Person, beide sind vereinsamt, beide mit Räumen und Häusern verbunden, dann aber zugleich wieder auf besondere Weise mit Trouville verwoben: hier der Pächter eines Hotels, dort der Schriftsteller auf der Suche nach einer Wohnung in Trouville. Zum wiederholten Male taucht in diesen beiden Geschichten Trouville als der eigentliche Protagonist auf. In der Geschichte »Englische Quarantäne« heißt es wie folgt: »Draußen rannte Laughton [der Hund, Ergänzung SW, nach dem berühmten englischen Schauspieler benannt] wie je über den Bürgersteig, die geteerte Straße, die Holzplanken am Meer und über den Strand. Ich lasse ihn frei laufen, auch wenn die Vorschrift verlangt, daß Hunde ab zehn Uhr morgens am Strand an der Leine geführt werden müssen. Aber es ist Januar, Winter, weit und breit ist kein Mensch zu sehen, und er hält sich lange auf an den Säulen im Atrium der Badekabinen: ich bleibe auf den Planken, alles ist grau, Sand, Meer und Himmel, eine watteweiche Winterstille, kein Wind, und alle Läden von Trouville Palace sind geschlossen, der ganze riesige Koloß mit den Ferienappartements. Die golden Aufschrift Trouville Palace leuchtet auch ohne Sonne wie auf einem Art-d’Eco-Filmpalast. Verlassen der Tennisplatz.« (ST, 50)

Abschließend stellt sich die nicht zu beantwortende, fast rhetorische Frage, wie es für die Schriftstellerin gewesen sein muss, zu erahnen, dass die Hauptwerke zu ihren Lebzeiten nicht mehr veröffentlicht würden. Am Ende des Romans »Der verschlossene Garten« erscheint das Datum 23. Juni 2002, überarbeitete Fassung: 10. August 2002, am 05. Oktober 2002 ist Gruenter dann in Paris gestorben. 5.3.2.2. Das Retreat an der Marne: Der verschlossene Garten (2004) Über die Genese dieses Werks gibt Bohrer (Bohrer 2017) genaue Auskunft. Dabei wird erneut deutlich, unter welchen körperlichen Schwierigkeiten der Roman entstanden ist. Dennoch gilt der Text, den sie nicht selbst aufgeschrieben, sondern Bohrer in die Feder diktiert hat, als Gruenters Meisterwerk. Allerdings scheint hier bereits eine Entwicklung vorgezeichnet: Vom Hortus Conclusus zum

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Schreckensgarten, zum »Raum, aus dem nicht mehr heraus zu finden« ist782. Es deutet sich damit bereits das Ende ihres Lebens und Schreibens an. »Mitte Januar hatte Undine mir gesagt: »Ich habe einen Roman im Kopf. Ich werde dir jeden Morgen und jeden Nachmittag zwanzig Minuten lang diktieren. Der Roman wird Hortus conclusus heißen.« […]. Sie diktierte ohne jede Aufzeichnung oder Gliederung, den Rücken an aufgestellte Kissen gelehnt, den Blick über mich hinweg auf das Licht in den Fensterscheiben gerichtet, zum Garten hinaus mit den kahlen großen Bäumen. Sie fragte nicht, wie ich es fände. Immerhin handelte es von einem Mann und einer Frau, denen sie Namen gab, die auf uns beide hindeuteten: »Soudain«, das französische Wort für »Plötzlich«, und »Equilibre«, für jenes Gleichgewicht, das sie sich selbst immer halb ironisch, aber doch entschieden zuschrieb. Solche Namen gab es in Wirklichkeit nicht. Die Personen waren irgendwie auch synthetische Wesen. Was den männlichen Helden betraf, so waren in ihn Züge ihres Vaters eingegangen. Dessen Alter sowieso. Der Titel Hortus conclusus nahm eines seiner Lebensprinzipien auf: im exklusiven Freundeskreis zu leben. Aber die Liebesgeschichte betraf Undines Urmotiv: Wie lange dauert der Augenblick der Liebe?« (Bohrer 2017, 433)

Unglaublich diszipliniert und mit beinahe übermenschlichen physischen wie psychischen Kräften bringt sie, die Todgeweihte, mit Bohrers Hilfe den Roman zu Ende: »Jeden Tag, jede Woche, morgens und nachmittags zwanzig Minuten.« (ebd.) Ende Juni ist es dann soweit, sie kann den Roman so durchdiktieren, aber damit ist es noch nicht getan. Ergreifend schildert Bohrer die abschließende Arbeit am Text, betont die Parallele zur persönlichen Lebensgeschichte und dass ihnen allerdings, anders als im Text, keine Wahl mehr geblieben war: »Dann las ich ihr das Manuskript noch einmal vor, Tag für Tag, und sie diktierte mir ihre Korrekturen. Wir hatten bis zu diesem Zeitpunkt kein Wort über den Text gesprochen. Sie wusste, dass ich ihn sehr gut und ungewöhnlich fand. Nun aber fragte sie mich, wie die Sache ausgehen sollte. Endgültige Trennung oder ein neuer Versuch? Ich gab darauf keine Antwort. In Wirklichkeit war uns ja gar keine Wahl geblieben. Es war doch entschieden. Undine entschied sich in der Fiktion dann für ein undramatisches, aber nobles Ende, Sodain und Equilibre trafen sich noch einmal, zum letzten Mal. Anfang August war die Arbeit beendet. Zwei Monate danach, am 5. Oktober 2002, starb Undine.« (Bohrer 2017, 433f.)

»Der verschlossene Garten« spielt in einem »Retreat« an der Marne, bei Champigny oder Joinville-sur-Marne, ist auf eine gewisse Weise vom »Zentrum Paris« aus gesehen exzentrisch, wenngleich Paris über viele Jahre das Zentrum von Undines Schreiben war. Benz betont, dass im Roman der »metaphorische Raum des Hortus Conclusus« dargestellt würde. In Bezug auf Zeiterfahrung und Wartens benennt sie zwei für die hiesige Untersuchung entscheidende Begriffe in Kombination: den Raum sowie die Metapher des Gartens, »der sich intertextuell, 782 Wie das Labyrinth.

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als mit verschiedenen im Laufe der Kulturgeschichte angesammelten Konnotationen und Assoziationen verbunden erweist.« (Benz 2013, 179) Im Titel greift Gruenter auf ein altes literarisches und kulturelles Motiv zurück, jenes des hortus conclusus. Hier verbleibt sie erneut im literarischen Zitat. Das Motiv des Gartens strahlt überhaupt weiter aus,783 es sei an den biblischen Garten Eden, an die Vorstellung des Paradieses erinnert.784 Gärten wurden von jeher u. a. mit dem Paradies assoziiert und als abgegrenzter, umfriedeter Raum angesehen, der sich im Verlauf des Mittelalters als Motiv »verfestigte«, als ein Garten, zu dem man gehörte oder eben nicht. Hinzu kam, dass sich oft Frauenfiguren in diesen »literarischen horti conclusi« bewegten.785 »Unter dem ›Hortus conclusus‹ versteht man zunächst einen geschlossenen oder verschlossenen Garten als immanentes Bildmotiv der Bildenden Kunst, welches eine große Rolle in der Mariensymbolik spielt. Als Schlüsselrepräsentation des ›Hortus conclusus‹ gilt das Gemälde Maria im Paradiesgärtlein, welches etwa um 1410 entstand und von dem sogenannten ›oberrheinischen Meister‹ stammt. Das Bildmotiv wiederum geht zurück auf eine Interpretation des Hohen Liedes im Alten Testament, wo es heißt: ›Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell‹ (Hohes Lied, 4,12).« (Benz 2013, 178)

Kurz skizziert handelt es sich um die Liebesgeschichte des fast 60-jährigen Sodain (Plötzlich) mit der 40 Jahre jüngeren Equilibre786. Als ein Dritter, der junge Saint Polar, in den Kreis einbricht, verändert sich die ganze Beziehung. Die Kapitel sind mit diesen Namen und lateinischen Ziffern überschrieben: I Soudain, II Equilibre und III Saint Polar, das IV. dann wieder Soudain. Am Anfang findet sich eine Widmung für K.H.B. (Karl Heinz Bohrer). Die Kritik geht durchweg wohlwollend mit dem Roman um, wenngleich für manchen Rezensenten bzw. manche Rezensentin nicht eindeutig geklärt zu sein scheint, ob es sich wirklich um einen Roman handelt. So nennt Ina Hartwig in der FR vom 20. 03. 2004 das Werk ein »erzähltes Traktat«, das durch seine Aphorismen an La Rochefoucault erinnern würde. Dieses Trakthathafte und Essayistische787 wird bereits gleich zu Beginn des »Romans« deutlich, das mit einer langen Suada Soudains zum Motiv der Unschuld eingeleitet wird. Es wird ein Motiv (wie dieses des Gartens) »nach der Moderne« befragt, inwiefern es möglich ist, es weiter formalästhetisch verfremdet zu verfolgen. Dabei entsteht jene denkwürdige Mischung von Vergangenheit und Gegenwart jener Topoi wie Hotels, vergangener Orte etc. oder wie Trouville als Ort selbst, die 783 784 785 786 787

Vgl. dazu: M. Wolting (2009), 147ff. Vgl.: Hans Bender (Hg.): Das Gartenbuch. Leipzig: Insel-Verlag 1998. Ausnahmen bildeten die englischen Landschaftsgärten, die nach hinten zu offen sind. In der deutschen Übersetzung: »Gleichgewicht«. Vgl. S. Wolting (1994) Wer wird denn einen Essayisten loben? In: Gössmann/Hollender (1994), 43–65.

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durch »den Filter der Moderne« gefallen sind. Der Roman beginnt mit einem endlosen Monolog Soudaines oder einer Art Bewusstseinsstrom. Darüber hinaus betont der Ich-Erzähler Soudain, dass es sich für sie beide um ein »Experiment« handelt, das »Libertinismus und Treue unter einen Hut zu bringen versucht und das letztendlich scheitert«. (ebd.) Im Roman wird das Phänomen der Liebe zu einem Projekt, einem Entwurf wie seinem Gegenentwurf zugleich und im Zusammenhang mit der Ewigkeit eine »ersehnte Zeit- bzw. Modusform« genannt. (vgl. Benz 2013, 180) Auf die drei Personen bezogen handelt es sich um Liebe als Entwurf (Soudain), Liebe als reine Liebe (Equilibre) und auf St. Polar bezogen als Liebe als Passion. (VG, 211) Hartwig (2004) bezeichnet die Erzählperspektive als »ungemein zärtlich«, den Ton als sehr wehmütig, und das Werk als ein Buch, das für sie »in der Abgeschlossenheit der Liebe gegen das Sterben entstanden ist«. In der Rezension von Auffermann (03. 06. 2004, DIE ZEIT), die im allgemeinen nicht sehr aussagekräftig ist, wird auf »die (-jenige) Liebe abgehoben, die nichts mit ›amour fou‹, nichts mit Taumel zu tun hat, sondern die Sentimentalitäten ›mit rationalen‹ Argumenten beiseite räumt, um dem wesentlichen Gefühl Platz zu machen.« (ebd.) Trotz der französischen Namen der Protagonisten ist dieser Roman auf eine spezifische Weise weniger französisch als etwa »Sommergäste in Trouville«, es wird eine sehr »deutsche Philosophie«788 als geistiges Fundament gewählt. Das Spiel der drei Hauptfiguren betrifft das (Bildungs-) Bürgertum, insbesondere das Großbürgertum, das im Sinne von Bourdieu von seinen kulturellen Wurzeln nicht zu trennen ist. Für Hartwig ist es mehr die »Binnensicht des aller Finanzsorgen enthobenen gehobenen Bürgertums«. Für sie ist es das erste, vielleicht einzige Werk Gruenters, das von dem Biographischen nicht isoliert zu betrachten ist, auf der Grundlage dessen, dass die Todkranke ihrem Mann dieses Werk auf dem Sterbebett diktiert, dass für sie in der »Abgeschlossenheit der Liebe gegen das Sterben« entstanden ist und dass dazu – anders als viele andere Werke Gruenters – eine »beinah zärtlich zu nennende Sprache« enthalte. (ebd.) Für Müller, den Rezensenten der SZ (22. 03. 2004) 789 ist der Roman stark vom Essayistischen und Traktathaften beeinflusst: Er verlegt ihn durch die hinzugekommenen Figuren als »Wiedergänger« in die Zeit des 18. Jahrhunderts790, nennt den Roman in diesem Sinne zugleich »anachronistisch«. In dem Fall könne man sogar von einem zeitlichen Vexierbild sprechen oder noch einmal mit Müller, der den Roman außerdem als »Winterroman« bezeichnet791, von der Doppelbödig788 789 790 791

Nämlich die Systemtheorie Luhmanns. Von Bedeutung erscheint es, die Zeitspanne dieser Rezensionen zu beachten. »Jene Männer von Geist, die die Liebe literarisch erforschten.« (VG, 15). Er setze nicht auf »Gefühlsunmittelbarkeit«, sondern die Liebe aus der »Distanz des Rückblicks.«

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keit des Romans, der gleichzeitig in der Gegenwart wie in der historischen Vergangenheit spielt792. Es wird in diesem Zusammenhang des Öfteren vom »Unzeitgemäßen« in einem keineswegs negativen Sinne gesprochen, z. B. von Köhler, die in der NZZ eine Rezension dazu schreibt.793 Für Gruenter ist die Liebe hier ein »Sprechen über Liebe«, wieder in jener Form von Mittelbarkeit, womit Gruenters Gesamtwerk an einigen Stellen in Verbindung gebracht wurde. Das gemahnt wieder an Luhmann und sein Werk »Liebe als Passion«, wo es im Untertitel heißt: »Zur Codierung von Intimität«, also das Sprechen über die Liebe, man lernt den Code der Liebe. Nichtsdestoweniger weist Köhler darauf hin, dass sich der Liebhaber zum »eifersüchtigen Ehemann wandele«, der Ehemann zum »Beobachter«, dem »alles vor Augen abliefe, als stünde er unter einer leichten Betäubung, die wie manche Vergiftung auch klarsichtiger macht«. (Köhler 2004) Dass am Ende alle allein respektive einsam oder in der »Einsamkeit des anderen« angekommen sind, darum geht es nach Ansicht der Rezensentin. Diese Einsamkeit sei der Ort, »um dessentwillen Undine Gruenter von der Liebe erzählt«. (ebd.) Diese Distanz wird durch ein weiteres Phänomen markiert, das der Erinnerung, Müller nennt es ein »Kaleidoskop der Erinnerung«. Vielleicht könnte man, sich hier auf Goethes »Wahlverwandtschaften« beziehend, von einem Versuchsaufbau oder einem Experiment sprechen, in Hinblick darauf, wie sich ein System verändert, sobald ein weiteres Element dazu kommt. Ohne den Namen explizit zu nennen, kommt hier Luhmanns Systemtheorie bzw. seine Person mit ins Spiel, wo es heißt: »Aber wenn Liebe, nach ihrem [Equilibre, Ergänzung SW] deutschen Lehrer [Luhmann, Ergänzung SW], nicht nur ein Gefühl ist, sondern ein symbolischer Code, der zur Bildung von Gefühl führt. Dann war unser Code das uralte Motiv des Gartens.« (VG, 40) Eins jedoch verbindet die Autorin mit der Tradition: der Rückbezug auf die philosophische und literarische Hinterlassenschaft der Moderne.794 An der Marne, im Kreis Villiers-sur-Marne, lassen sich einige solcher Anwesen finden, die offenbar für den Roman Gruenters Pate standen. Hierdurch eröffnet das Werk Gruenters neue Zugänge zum Erinnerungsdiskurs. Benz vertritt die These, dass sich im Roman »Modi des (melancholischen) Wartens als Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsstrategien« erweisen. (Benz 2013a, 154) Bezogen auf das »Narrativ des Wartens« bezeichnet sie die Handlung des Romans eine »Vergegenwärtigung der Vergangenheit und ihrer Kontemplation in der Erzählgegenwart«. (Benz 2013a, ebd.) Für den Verfasser stellt dies erneut den An792 In jener »Atmosphäre des Anachronistischen«. 793 In der NZZ vom 03. 04. 2004 sieht sie Parallelen zu Stendals Werk »De L’armour« und grenzt das Werk zugleich davon ab. 794 M. Wolting (2009), 214.

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satzpunkt dar, an dem die Vergangenheit statisch und damit räumlich gemacht wird. Insgesamt sind die Figuren erneut seltsam unbestimmt, gehen mit in das Inventar, den Raum, das Environment ein, und sind als Personen nicht stark profiliert. Zudem machen sie keine »Entwicklung« durch, weshalb es wiederum schwer erscheint, die Geschichten zu erzählen: Man sieht Räume oder Orte vor sich, im Sinne Łotmanns der Schaffung eines künstlerischen Raums. Zudem findet sich hier eine zu beobachtende aktuelle Auseinandersetzung mit dem »Stadtgarten«, einem Ort der intellektuellen Elite der Stadt. (M. Wolting 2009, 215) »[…] Sie stellt den Garten bewusst als semiotisches Zeichen in ein Kultursystem. Beeinflusst durch Luhmann, auf den implizit angespielt wird, setzt sie den Garten in verschiedene Kontexte ein, um unterschiedliche Zeichensysteme, die im Sinne Łotmans Kultursysteme evozieren, zu demonstrieren. Ihr Garten bringt im Unterschied zum Garten von Kaschnitz und Kirsch keine Vegetation hervor. Es handelt sich bei Gruenter um eine künstlich konstruierte Natur, die Funktion des Gartens liegt in einer anderen Sphäre als der des Natürlichen. Dieses Motiv fügt sich in ein oben genauer beschriebenes Zeichensystem ein und nur aus diesem Zusammenhang wird seine Bedeutung zu entziffern sein.«795

M. Wolting verweist zu Recht darauf, dass der Garten vordergründig als Metapher, nicht als »psychisch reale Gestalt« benutzt wird, in dem hier zugrunde liegenden Sinn als »künstlerischer Raum«, der keine Entsprechung in der Realität besitzen muss. Mit Einschränkung ist hier Ninck zuzustimmen, der behauptet, dass Gruenter »ihr Dasein in einer Umgebung« führte, in der »die abstrakte Idee der Ästhetik vorherrschte.« (Ninck, NZZ, 13. 10. 2002) M. Wolting geht im Zusammenhang mit dem Werk auf die Vita Gruenters ein: »Die Gegenständlichkeit des Gartens begleitet weder Wachstum noch Sterben oder irgendein natürlicher Vorgang an Entwicklung. Der Garten stellt ein Fragment der unbelebten Natur dar, dient als Ausstattung, Arrangement für eine Bühnenentwicklung. Aus der Vita von Guenter geht keinesfalls Begeisterung für einen zu bearbeitenden Garten hervor. Ihre Beschäftigung damit kreist überwiegend um Parkanlagen in ihrer philosophischen und kulturgeschichtlichen Bedeutung, dessen sie verstärkt Aufmerksamkeit schenkt. Der Garten Undine Gruenters besitzt keine ›begreifbaren‹ Elemente, im wortwörtlichen Sinne des Wortes. Seine Funktion erschöpft sich in einer literarischphilosophischen, absolut abstrakten Ebene. Er dient als Zeichen in einem System von bestimmten Inhalten in dem oben beschriebenen Sinne.« (M. Wolting 2009, 216)

Diese gewisse Künstlichkeit in Hinsicht auf jenes »Retreat an der Marne«, wie das Werk bezeichnet wird, lässt sich bereits zu Beginn an der Erzählerfigur bzw. der Erzählhaltung ablesen. Selbst wenn aus den zuvor dargelegten Gründen, vor795 Ebd., 216.

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nehmlich Gruenters Vorbehalt gegenüber jeder Form der Erzähltheorie in Hinblick auf Perspektiven, Modi oder Stimmen des Erzählens, mit analytischen Bemerkungen vorsichtig umgegangen werden sollte, so wird bereits zu Beginn des Romans der scheinbar nahtlose Übergang eines »allwissenden« zu einem IchErzähler deutlich: Die Erzählung changiert zwischen scheinbar »objektiver Erzählhaltung« und dem unvermittelten Einbruch einer Subjektivität des Ich-Erzählers. »Vor dem Fenster des Hauses fließt die Marne. Es ist Winter. Kein Angler und kein Junge mit einem Kahn lassen sich sehen. Am Morgen ist die Straße glatt, von Reif überzogen. Und wenn die Sonne hinter den kahlen Bäumen hervorkommt, höre ich keinen anderen Schritt als den des Briefträgers, der keinen Brief bringt von Equilibre. Ich habe alles vergessen, was mich quält. Die Ausflügler im Sommer, die auf Hausbooten Musik hören, das Dröhnen der Stereoboxen und das Geschrei ihrer besoffenen Stimmen. Die Spaziergänger, die ihre Boote auspacken oder auf einer der Inseln im Fluß Würstchen grillen und Bierflaschen öffnen. Die Hochhäuser, die mit eleganten Glasfassaden wie Wachtürme ohne Besatzung das alte Zentrum unserer kleinen Stadt umstellen. Als ich das Haus kaufte, war ein stiller Novembertag, ein leichter Nebel hüllte alle Geräusche in Watte, und kein Mensch war auf dem Fluß zu sehen. Auch die Nachbarhäuser standen in genügendem Abstand. Und ich glaubte, das richtige Haus gefunden zu haben.« (VG, 13)

Fassen wir abschließend zusammen: Der 2004 posthum herausgegebene Roman »Der verschlossene Garten« gilt als Masterpiece Undine Gruenters. Bereits im Titel wird der Ortsbezug angesprochen oder die genaue Herstellung eines abgetrennten Bereichs. Der Raum wird im wahrsten Sinne des Wortes mit Begriffen wie »Baum, Allee, Springbrunnen« aufgeladen und mit fast reiner Symmetrie einer metaphorischen Darstellung seines (Soudains) »Projekts Liebe« (Benz 2013, 180) markiert. Es handelt sich hierbei um das einzige Werk Gruenters, wozu eine fundierte Analyse vorliegt. (vgl. M. Wolting 2005/2008/2009, Benz 2013, 2013a) Die Kapitelüberschriften sind an die auftretenden Personen angelehnt, an den alternden Homme des Lettres und Herausgeber einer Zeitschrift Soudain, an das junge Mädchen Equilibre und an den später hinzukommenden Juristen Saint-Polar. Die Protagonisten zeichnen sich allesamt durch sprechende Namen aus: Soudain (= plötzlich, die Plötzlichkeit) 796, Equilibre (=die Ausgeglichenheit) und St. Polar (=das »heilige Kalte«) darstellend, was in die Beziehung bzw. das System einbricht und was die Relation zugleich aus dem Gleichgewicht bringt, darin Goethes »Wahlverwandtschaften« nicht unähnlich. Die Tradition des Motivs vom Verschlossenen Garten lässt sich darüber hinaus bis ins Mittelalter ausweisen: 796 Hier hat wohl doch trotz aller gegenteiligen Behauptungen Bohrers Konzeption der Plötzlichkeit mit Pate gestanden.

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»Undine Gruenter lehnt sich in ihrer Gestaltung des hortus conclusus im Roman Der verschlossene Garten an zwei Traditionen des Motivs an: Zum einen ist es die ursprüngliche Überlieferung des spätmittelalterlichen hortus conclusus als Mariengärtlein, die ihre Wurzeln im alttestamentarischen Hohelied hat, zum anderen schöpft sie aus der literarischen Umdeutung und Umgestaltung der Motive in der Moderne.« (M. Wolting 2009, 151)

Von besonderer Bedeutung erscheint hier der Hinweis, dass der mittelalterliche hortus conclusus, »versinnbildlicht in dem Gemälde »Mariengaertlei(n)« aus dem 14. Jahrhundert des fränkischen Malers« (ebd.), das Bild der Unschuld verkörpert. (ebd.) Denn ansonsten wäre zu fragen, warum gleich zu Beginn des Romans in der Erzählung des Ich-Erzählers Soudain dieses Motiv aufgenommen wird, wo Soudain beteuert: »Das ganze Theater um die Unschuld hat mich immer kaltgelassen. Ich bin kein Immoralist, doch die Tugend interessiert mich nicht. Als meine kleinen Schwestern anfingen, über ihre Menstruation zu tuscheln, habe ich mich angewidert abgewandt. Als meine Freunde anfingen, sich mit ersten Erfolgen zu brüsten, von denen blutige Streifen auf weißen Laken zeugten, habe ich mich angewidert weggewandt. Ich habe nie verstanden, weshalb man eine Unschuld verlieren oder bewahren soll. Außerdem: Die Unschuld ist tot. Sie ist unmerklich gestorben, irgendwann in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Ihr Tod ist nicht von pompösen Phrasen begleitet worden wie von jener über jenen Gott, der tot sei und der doch immer wieder aufstand wie ein Demiurg und die Kirchen füllte. Sie bekam keine Fanfaren, keine Tücher und Fahnen auf ihrem letzten Geleit. Wir verabschiedeten sie ohne Totenmusik und Todesmärsche, ohne Regen und rotgefrorene Füße. Längst war sie aus ihren Behausungen vertrieben, den jungfräulichen Gärten, den stillen Klöstern, den weißen Mädchenzimmern, die ihre Jahrhunderte möbliert hatten.« (VG, 9)

Von neuem nimmt Gruenter intertextuell ein altes Motiv auf, um es dann, wenn man so will, zu dekonstruieren, denn der von Soudain für seine Geliebte Equilibre geschaffene Garten ist später alles andere als ein Garten der Unschuld, allerdings genauso wenig ein Garten der Lüste, sondern eher wohl eine Art »Gefängnis« für die Geliebte, aus der sie nur ein Dritter, der Pariser Rechtsanwalt Saint-Polar zu befreien weiß. Dieses Gefängnis entsteht gerade dadurch, dass Soudain versucht, eine Art eines neuen Entschuldungs- oder Reinheitsorts respektive -raums für ihre beider Art von Liebe zu schaffen, möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit oder anderer Personen von außen, eine für heute geradezu anachronistisch wirkende Art der »Reinerhaltung« einer Beziehung. Im dialektischen Sinne muss dies gerade deshalb scheitern, weil jenes, was am stärksten gesucht wird, zugleich die größte Gegenkraft entwickelt, der dann nichts mehr entgegengestellt werden kann. Hörisch macht darauf aufmerksam,

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dass gerade durch Gebote von Reinheit,797 wie die Kraft der einen Interpretation in ihr Gegenteil umschlagen kann. Bedeutende literarische Beispiele über das Motiv des Gartens hinaus ließen sich finden, wenn wir an Fontanes »Effi Briest« oder Ibsens »Nora – oder ein Puppenheim« denken, wovon letzteres im Untertitel einen abgezirkelten Bereich andeutet, der den »Liebenden« oder in dem Fall den Eheleuten, vorbehalten bleibt. Hier ist es der eigene Raum, der zum fremden Raum wird, der implodiert. Spätestens seit der Moderne ist dieser Raum der Öffentlichkeit nicht mehr zu entziehen, wenn es sich Soudain noch so sehr wünscht und immer dann ganz besonders aufmerksam wird, wenn Equilibre andere Leute kennenlernt bzw. in diesen Raum mit hineinbringt. »Ich hatte es einigen wenigen Freunden vorbehalten, uns in langen Abständen zu besuchen. Aber nachdem ich alles Überflüssige abgeschafft hatte, hatte ich nicht mit der Tyrannei der Zufallsbekanntschaften gerechnet. Equilibre, nicht im geringsten ein Snob, brachte mir die verrücktesten Exemplare aus der Nachbarschaft ins Haus und zeigte mir stolz ihre Beute, wie eine Katze ihre Vögel und Mäuse dem Herrn.« (VG, 53)

Es würde zu weit gehen, zu denken, dass dies ein gewollter Abschluss ihres Oeuvres sei. Dennoch findet sich dieser Roman vielleicht nicht zufällig am Ende des Schaffens der Undine Gruenter. Der Garten mutiert am Ende zu einem Schreckensgarten, weil er Equilibre keinen Raum mehr lässt. Am Schluss des Romans ist alles »Lebendige« ver- bzw. fortgegangen. Soudain hat sich sein System, seinen Raum geschaffen, in dem nichts mehr an früherem Leben übriggeblieben ist. Allerdings erschien es banal, dies autobiographisch und monokausal auf Undine Gruenters Leben zu beziehen. Aber trotzdem könnte man denken, dass sie damit formalästhetisch einen Schlussstrich gezogen hat. Für sie bleibt kein Raum mehr, in dem weiter erzählt werden könnte.798 Mit dem Verschwinden Equilibres hat sich der Fall für Soudain endgültig entschieden. St. Polar taucht erst gar nicht mehr auf: Equilibre wird nun mehr zu einer reinen literarischen Gedächtnis- und Erinnerungsfigur, zu einer vollständigen Projektion, bei der sich, wie Benz meint, »die Erinnerung vergegenwärtigt.« (ebd.) Auf diese Weise wird der Raum schließlich zu einem toten Raum: Erzählerisch verbleiben keinerlei Möglichkeiten der Entwicklung mehr. Selbst wenn offenbleibt, ob Equilibre tatsächlich »stirbt« und Soudain verlässt, so weist doch alles darauf hin, dass niemand mehr, und eben nicht Equilibre, den von Soudain geschaffenen künstlerischen Raum betreten wird. Damit überführt die Erzählerin die literarische Darstellung am Ende als ein Paradoxon ihrer selbst: Die Darstellung 797 Er nennt Adorno in einem schönen Wortspiel und in Anlehnung an Kant; den »Theoretiker der unreinen Vernunft«, vgl. Hörisch (2011). 798 Hier wäre die Frage zu stellen, ob es sich um einen Abschied vom Offenen Kunstwerk im Ecoschen Sinne handelt.

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des künstlerischen bzw. literarischen Raums lässt diesen selbst verschwinden. Am Schluss entzieht sich die künstlerische Raumdarstellung konsequent sich selbst. Der Raum bleibt zum Schluss wie am Ende der Einstellungen vieler anspruchsvoller Filme leer zurück, die Menschen sind »filmisch« längst »zurückgetreten« bzw. verschwunden. Diese Entwicklung bleibt irreversibel. Köhler stellt diesen Roman als eine besondere Form von Liebesroman dar, als eine erzählerische Variation auf Stendhals »De l’amour«, im Sinne der »Strahlen der Seele, den Sternschnuppen und Nebelflecken des Herzens […].« Es handelt sich für sie um ein Werk, »das zuletzt selber ins Schweigen führt, in den dämmernden Raum der Erinnerung, in den langen Schatten des Abschieds. Und das den Tod besiegt.« (Köhler 2004) Mit dem »dämmernden Raum der Erinnerung« ist von neuem dieser ganz andere Ort angedeutet, ein fiktiver »Ort der Erinnerung«, der sich aus vielen anderen realen Orten speist, und der immer zugleich »literarischer Echoraum« oder eine Art unendlicher Iteration ist, denn es ist nicht nur der Ort der Erinnerung, sondern auch derjenige der Erinnerung an die Erinnerung. Er ist neben dem »Schutzraum der Liebe«, immer ein Raum oder Topos, der zugleich viele andere Topoi markiert, etwa in der Figur von Soudain: »Er hat ›Platons Gastmahl‹ und die zeitgenössische Soziologie gelesen, er kennt Kierkegaard, Choderlos de Laclos und Johannes vom Kreuz, und er macht von diesen Lesefrüchten Gebrauch. Die Topoi der abendländischen Tradition, von Salomons Hohelied über den Minnesang bis zu Luhmanns Liebes-›Code‹, die Liebes-Motivik vom ›ersten Blick‹ über ›das erste Mal‹ bis zur ›Diktatur der Nähe‹ werden nuancenreich variiert. Mythos und Systemtheorie, lyrische Hymnik und Alltagsjargon finden in diesem Erzählkosmos mühelos zueinander.« (ebd.)

Auf diese Weise kumulieren in der Erzählerfigur Soudain die beschriebenen oder angedeuteten Kategorien, Topoi respektive Räume ihres Werkes wie jene der Poeta doctus, der Meta-Erinnerung, der »Weitergabe« des künstlerischen Raums bzw. literarischen Echoraums sowie der Darstellung des Raums als des ganz Anderen, als Ort des Abschieds wie des Todes. Es hat etwas von Goethes »Wahlverwandtschaften«, selbst wenn am Ende offen bleibt, wo der Prozess der Liebe plötzlich endet und sich nur noch der »Ort des Todes« eröffnet, oder jener Ort, von dem die Erzählerfigur betont, wo sie in der »Einsamkeit des Anderen« angekommen waren, an jenem ganz anderen Ort, an dem jeder allein bleibt, in dem wir geboren werden, dorthin, »wo es Nacht wird in uns« (Köhler 2004) Dazu hat Gruenter den letzten Roman noch mal fort von Trouville an die »Nebel der Marne« verlegt, metaphorisch dorthin, wo es eine Verlassenheit gibt, die »auf keiner Uhr mehr« leuchtet, wo nicht Leuchtziffer, nicht Zeiger, nicht Zifferblatt, nichts mehr zu sehen ist. (VG, 185)

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5.4. Weitere posthum herausgegebene Werke 5.4.1. »Schnappschüsse« und »Standfotos«: Pariser Libertinagen (2005) Eine Vorbemerkung zu den im Folgenden behandelten Werken sei erlaubt: Es hat sicherlich immer Gründe, warum ein Autor, in diesem Fall eine Autorin, Werke nicht veröffentlicht bzw. veröffentlichen will, über die man letztlich nur spekulieren kann. Will man die Nichtveröffentlichung als eine »Aussage« verstehen, so sollte man in diesem Sinne mit jeder Interpretation sehr behutsam sein. Aus diesem Grund entschloss sich der Verfasser die folgenden Werke eher beschreibend als »analysierend« zu behandeln, in Hinsicht auf die Darstellung der Vollständigkeit des Werks. In den posthum herausgegebenen wie in den unveröffentlichten Werken ist der bei den anderen Texten herausgestellte »Raumbezug« weniger signifikant. In diesem Sinne sind die folgenden Bemerkungen eher als Ergänzung in Hinblick auf Topoi zu verstehen. Zudem werden Autorinnen und Autoren sehr häufig ganz explizit erwähnt. So spielt der Titel des 2005 von Hillgruber herausgegebenen Werks »Pariser Libertinagen« auf Aragons Oeuvre von 1973 »Libertinage, die Ausschweifung« an. Gleich am Anfang des Werks wird daraus zitiert: »Es existiert jedoch für uns eine Alltagstragik, die des Grotesken, des Geschmacklosen, die des schrecklichen Lachens, das die Seele wie eine Schale ihre Nuss entleert und das den Körper schüttelt wie eine Wollust, die zu stark ist, als dass sie nur die Bitterkeit der verflogenen Trunkenheit hinter sich zurückließe. Das Geschmacklose, das ist das burleske Unerwartete, das ist der echte moderne Lyrismus. Wollen wir wirklich lyrisch sein, müssen wir gerade die Dinge exaltieren, die die Menschen verachten, jene Dinge, über die sie lachen, ohne dass wir sie dabei aber deformieren: wir müssen von dem Lachen ausgehen, das verhöhnt, um aus ihm ein Lachen zu machen, das verherrlicht.«799

Dass Gruenter eine große Affinität zu den Surrealisten und ihrem Kunstverständnis besaß, ist an anderer Stelle hinlänglich expliziert worden (vgl. vor allem Kap. 3.2. und 3.3.). Darauf soll en detail noch einmal zurückzukommen sein. Sie überschreibt das erste Prosastück mit »Libertinagen« und nimmt dabei ganz explizit Bezug auf Aragon. Die Rede ist hier von einem der wenigen Stücke, welches expressis verbis eine Verbindung zum Surrealismus herstellt. Es handelt sich um Versatzstücke der Wirklichkeit und der Geschichte, die für das Ganze völlig neu zusammengesetzt werden, ohne dass sie noch eine Verbindung zu dieser Wirklichkeit erkennen ließen. Dabei dreht es sich um einen unabgeschlossenen, nicht fertig gestellten Text, dessen erste beide Teile mit der Aufforderung »Stellen Sie sich vor« beginnen: 799 Vorwort von Louis Aragon: »Libertinage, die Ausschweifung.« (Aus dem Französischen von Lydia Babilas). Stuttgart: Gebühr 1973 (auch Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979).

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»Stellen Sie sich vor: Ein gelbes Taxi in der Rue Ordiner, in dem der Grosse Marquis (de Sade) in einem pompösen Alt der pompes funèbres zu Grabe getragen wird, im Café Nord-Sud vor der Mairie tanzen nackte Odalisken mit Turbanen von Ingres unter Polizeischutz, Aragon fällt in Ohnmacht, weil er zum Totenmahl seinen eigenen cadavre exquis verzehrt hat – ein Hohngesang auf die heiligen Kühe der III. Republik, in dem er die Verkrüppelten des I. Weltkriegs auftreten lässt gegen Ehre, Familie, Vaterland, Militär, Medizin, Jurisprudenz.« (PL, 7)

Neben diesem Verfahren, das Gruenter ansonsten selten anwendet und dem angeführten Hyperrealismus oder Überrealismus, spielen in einigen wenigen Texten, etwa in der zweiten Geschichte »Paris, Anfänge«, auch Träume eine Rolle, die sonst, trotz ihres Bekenntnis und ihrer Hinwendung zum Surrealismus, im Werk eher unterrepräsentiert sind. Dieses zweite Prosastück »Paris, Anfänge« vollzieht ganz explizit den Übergang ihrer Lebensetappe in Köln zu jener in Paris. Erneut drängt sich der Eindruck auf, dass Gruenter über den Text hinaus ein Interpretationsangebot direkt dafür selbst mitliefert. In diesem Sinne sind viele ihrer Texte zumindest »gesprächig«, um sie nicht abschätzig »geschwätzig« zu nennen, denn dazu verzeichnen sie ein zu hohes sprachliches Niveau. Eine in diesem Zusammenhang signifikante Geschichte ist eben jenes Prosastück, wo während eines realen Aufenthalts in einem Krankenhaus im Kölner Stadtteil Lindenthal Tagträume mit Erinnerungen an die »Anfänge in Paris« verbunden werden.800 Für dem Hintergrund des Verständnisses des Textes von Gruenter dürfte dieser Sachverhalt nicht ganz unbedeutend sein, weil ihre Paris- und Frankreichsehnsucht, ihr »Pariser Exil«, immer in Auseinandersetzung mit einem in ihren Augen relativ »kulturlosen« deutschen, im Besonderen rheinischen Bürgertum, verbunden war. Die inzwischen für viele als obsolet geltende Eliassche Unterscheidung zwischen Zivilisation und Kultur,801 spielt dabei in einem heuristischen Sinne weiterhin eine nicht ganz unbedeutende Rolle. Gruenter sah ähnlich wie Elias diese Art von »Kultur« musterhaft vorzugsweise in Frankreich vertreten, während sie dem Rheinland in Motiven von Krankenhauszimmern oder Eisenbahnschienen allenfalls etwas despektierlich die zivilisatorische Ebene zuerkennen mochte.802 Insofern lässt sich im Werk Gruenters an manchen Stellen – zumindest, was ihre Herkunft betrifft – präskriptiv von einem kulturkonservativen Bewusstseins Gruenters sprechen, zumindest drängt sich der Verdacht

800 Lindenthal gilt als bürgerliches Viertel und bevorzugte Wohngegend in Köln, wo sich die Universität befindet. 801 Vgl. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Erstveröffentlichung 1939. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1976. Eine ähnliche Stoßrichtung allerdings in gegensätzlicher Richtung zu Gruenter entwickelt Thomas Mann in »Betrachtungen eines Unpolitischen« von 1918. 802 Vgl. das Kap. 5.1.1.

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auf. Wiederholt liefert Gruenter eine »Gebrauchsanweisung« zum besseren Verständnis des Textes gleich mit: »Der Reisewecker mit schwarzem Lederrücken und wässrig-grünen Leuchtziffern, mit einem Zifferblatt wie kalte gekochte Milch, dem Weiß von Küchenuhren in gekalkten Eßsälen, tickte in die regnerischen Sätze des Buches, Paris – ein Fest fürs Leben, aus dem ich vorlas: und wie das Ticken des Weckers zwischen Brille und Medizin, zwischen Watte und Wasserglas in den Blätterwirbel auf die Place Contrecarpe hinter dem Panthéon drang, so sprang eine Zeit in die andere, ein Tag im ersten, kalten Winterregen während der 20er Jahre in einen Nachmittag im letzten Februarschnee während der 80er Jahre: und ein Ortsteil verschwand im anderen, ein Krankenhaus im Kölner Stadtteil Lindenthal, ein Einzelzimmer mit hochrädrigem Krankenbett in einem frühwinterlichen Paris, in dem Hemingway jetzt den Weg die Montagne Sainte-Geneviève hinabging und sich durch den Regen in Richtung Saint-Michel schlug.« (PL, 13)

Sie zitiert aus einem »Brief des Geliebten« (voraussichtlich Bohrer), der mit der Passage beginnt: »Dann war das schlechte Wetter da«.803 Überhaupt enthält das Werk, für Gruenters Verhältnisse, relativ viele biographische Schilderungen, die sie zum Teil in der 3. Person aus einer gewissen ironischen Distanz heraus schreibt. Diese biographischen Einsprengsel verfremdet sie und entwickelt auf diese Weise eine Distanz zu sich selbst.804 Als Prototyp geradezu eines solchen Textes gilt das Prosastück »Heiratspläne«, worin sie über sich folgendes schreibt: »Am Ende fuhr sie nicht nach Paris, um den Kerl dazu zu bewegen, sie zu heiraten. Was macht das Weib in Paris? Das Wonneweib. Es kann die Peitsche entbehren. Auch die Wonne, aber nicht die Wanne. Es sucht einen kleinen Wigwam, wo es dem müden Indianer mit Spiegeln, Kaminen und Konsolen a la francaise, mit Coq au vin und Mousse au chocolat unter ihre Fittiche bringen kann. Welches war die Farbe ihrer Federn. Stop. Falscher Anfang.« (PL, 33)805

Aufschlussreich erscheint das Prosastück »Normannische Träume«, das sich an einigen Stellen fast wie ein Kommentar zu »Sommergäste in Trouville« liest. Der Text verrät, dass sie und ihr Mann viele Jahre mit dem Gedanken spielten, sich einen zweiten Wohnsitz in der Normandie zu suchen, wenngleich sie dieses Vorhaben imaginär nennt: »Das kommt in die Normandie«, pflegten wir jahrelang zu sagen und meinten Hausrat für einen zweiten imaginären Wohnsitz an der Küste zwischen Honfleur und Deauville, die sich Côte Fleurie nennt. Wir haben ihn bis heute nicht, aber wir sagen immer: »Das kommt in die Normandie.« (PL, Normannische Träume, 117) Wieder zieht es Gruenter in eine Gegend,

803 Im Original kursiv gedruckt, SW. 804 Aus epistemologischen Gründen wie in vielen ihrer Texte überhaupt. 805 Es sind hier für ihr Verständnis fast alberne, kalauerartige Wortwitze, auch die Allusion auf Nietzsches »Peitsche«. Man darf dabei nicht vergessen, dass sie selbst das nicht veröffentlicht hat, sondern es posthum herausgegeben wurde.

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die bereits sowohl ästhetisch semiotisch aufgeladen wie besetzt als auch literarisiert ist806: »Liebten wir nicht seit je die Küstenstädte, die Seestädte, die in zwei Stunden von Paris mit dem Zug zu erreichen wären, Trouville vor allem? Die Entdeckung von 1983, das weiße Hotel am Meer, das der Schauplatz eines Theater-Fragments wurde. Und hatte ich nicht herausgefunden, dass nicht nur Flaubert, der Irre, der Brüller von Croisset, Maupassant mit seinen Geschichten aus dem Deutsch-französischen Krieg von 1870/ 1871 und Proust mit seinen Mädchenblüten-Erinnerungen von Balbec-Cabourg aus dem Fin de siècle die Geschichte berühmt gemacht hatten? Ein Foto von Flauberts Statue im Hafen neben dem Casino von Trouville befand sich längst in meinen Annalen. Nach der Lektüre von Sommer 1980 sickerte langsam in mein Bewusstsein, langsam wie Meerwasser im Sand, daß auch Marguerite Duras, die Hochverehrte, das Vorbild sich dort, dort [Wiederholung im Originaltext, Ergänzung SW] in Trouville schwarze Sterne (Felsen: Les Roches Noires) ausgesucht hatte, um ihre Schreibzelte aufzuschlagen.« (PL, Normannische Träume, 118)

Dieses Motiv scheint durchgängig in Gruenters Wahl der Wohn- und Schaffensorte auf: Sie sucht sich eine Gegend aus, aus der heraus bereits literarisch produziert wurde oder in der zuvor schon einige ihrer großen literarischen, zuvörderst französischen Vorbilder Zuflucht gesucht hatten. So hart und unnachgiebig sie zum Teil mit Linksintellektuellen, Anhängern der Psychoanalyse o. ä. umgeht und so innovativ und avantgardistisch sie formalästhetisch sein mag, so bereitwillig und relativ kritiklos scheint sie sich zum Teil den Größen und Autoritäten der französischen Kultur zu unterwerfen.807 Diese Kritiklosigkeit bezieht sich allerdings auf jede Form, wenn man so will, französischer »Hochkultur« oder »savoir vivre«; was die »Alltagskultur« im Sinne Bausingers808 betrifft, für die sie sich allerdings eher marginal interessiert, findet sie durchaus kritische Worte: 806 Bemerkenswerterweise verzichtet Gruenter völlig auf den Einbezug des berühmten Welthafens Le Havre, der von Trouville aus nicht übersehen werden kann (das in den 50er Jahren vom Star-Architekten Auguste Perret neu errichtete Zentrum gehört seit 2005 zum UNESCO-Weltkulturerbe als einzige moderne Stadt). Heutzutage stellt sich unweigerlich eine Analogie zum Film von Aki Kaurismäki »Le Havre« aus dem Jahre 2011 her, der mit Marcel Max einen erfolglosen Schriftsteller zeigt, der von Paris nach Le Havre übergesiedelt ist, dort als Schuhputzer arbeitet und den aus Gabun Geflüchteten Idrissa vor Schlepperbanden und Polizei rettet. Des Weiteren wäre an den Film von Marcel Carné »Le Quai des brumes« (Hafen im Nebel) von 1938 zu denken. 807 Dabei ist immer ihr Faible für Frankreich bzw. französische Kultur zu berücksichtigen. Als Gegenführung zu dieser Haltung der Anerkennung der Überlegenheit der französischen Kultur könnte der Text von Karl Kraus von 1910 »Heine und die Folgen« angeführt werden, wo Kraus durchaus kritisch zur französischen Sprache und Kultur steht und die deutsche Kultur in der Pole-Position sieht, den Gruenter allerdings nicht erwähnt. Vgl. Karl Kraus: Heine und die Folgen. Schriften zur Literatur. Hg. und kommentiert von Christian Wagenknecht und Eva Willms Göttingen: Wallstein Verlag 2014. 808 Vgl. dazu: Hermann Bausinger: Das Bild der Fremde in der Alltagskultur. In: Universität 43, 2. Heft 9 (1988), 946–955.

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»Es wurde dringend, der Ausweg aus dem Pariser Stress: Cidre, Calvados, eine Stunde im Liegestuhl. Es wurde dringend: Neulich war er (nicht ich) laut schimpfend über die Place de la République gerannt, Hasstiraden gegen den Pariser Verkehr, das Blech, die Massen ausstoßend, Drohungen: »In Paris gehe ich nicht mehr aus, hier kann man nicht leben, schon gar nicht mit Hund, kein Bus, kein Taxi nimmt uns.« Und ich? Hatte eine Allergie nach der anderen, Haut, Bronchien, chronischen Husten, la pollution ist schuld, heißt es. Also dann, auch wir, die alten Möbel, ab in die Normandie.« (PL, 118)

Dem Künstler bzw. Dichter wird dabei der Königsweg der »lokalen Kulturvermittlung« zugeschrieben, was immer nur eine ästhetische sein kann. Auf diese Weise wird der Unterschied von Kunst (ästhetisch) und Kultur (alltagsbezogen wie lokal) markiert. Es findet sich eine weitere Stelle, an der wo sie sich auf Rilkes »Malte« bezieht:«Er sei ein Dichter und er liebe das Genaue, hieß es von ihm, und der Zeitpunkt war gekommen. Dass er, dem Wechsel literarischer Moden zufolge, über Nacht in aller Munde war. (ST, 89, »Die Farbe der Beinkleider«) Wie aber kann ein Dichter dichtender Einsiedler sein und zugleich vom Publikum als öffentliche Figur gefordert?« (ebd.) Es mag paradox klingen, aber »Pariser Libertinagen« wird Gruenters persönlichstes Buch, paradoxerweise vielleicht gerade deshalb, weil es nicht mehr von ihr herausgegeben worden ist.809 Mit Ausnahme einiger Texte wie der Titelgeschichte »Pariser Libertinagen«, »Ode an eine Treppe«, »Variation auf einen Schwan« oder »Carrefour Frochot« war bei den anderen nicht an eine Veröffentlichung gedacht. Dagegen sind für ihre Verhältnisse sehr persönliche Texte in dem Band erfasst.810 »Die Orientierung an den Surrealisten oder den Vertretern des Nouveau Roman wie Alain Robbe-Grillet, Claude Simon oder Marguerite Duras schlug sich auf unangestrengte Weise in ihren um erotische Phantasien und unentrinnbare Abhängigkeiten kreisenden Texten nieder, ohne daß sie an Sinnlichkeit einbüßten (›Schnitzeljagd mit Edelrindviechern‹)«.811

809 Sondern wie erwähnt posthum von Katrin Hillgruber mit Zustimmung und Zusammenarbeit ihres Mannes. 810 Wie »Paris, Anfänge« [13–28, ein wichtiger Text zum Verstehen der ersten Zeit, Ergänzung SW], »Heiratspläne« (PL, 33–37), »Alter Port« (PL, 77–79), »Diese Seite der Stadt« (PL, 39– 46), »Tagarbeiter« (PL, 40–55), »Place Gambetta« (PL, 57–66), »Schnappschuss oder Standfoto« (Doisneau, PL, 67–72), (über Klimt, Der Kuss, Ergänzung SW), »Place des Abesses«, PL, 73–75), »Place Blanche« (PL, 81–84), »Canal Saint-Martin« (PL, 85–88), »Die Farbe der Beinkleider« (PL, 89–98), »Rosette de Lyon« (PL, 99–107), »Olivenbaum« (PL, 109– 115), »Normannische Träume« (PL, 121), »Cirque d’hiver« (PL, 159–167) oder »Neue Adresse« (PL, 175–179). 811 Vgl. die Rezension von Richard Kämmerlings vom 22. 09. 2001 in der FAZ zur »Vertreibung aus dem Labyrinth«: »Ariadnes Gummischlauch: Undine Gruenters neuer Roman knüpft aus einem Fädchen ein ganzes Netz.«

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Gruenter zeichnete sich durch eine traumwandlerische Sicherheit beim Entwerfen von Interieurs und Stimmungen aus. Sie liebte die kostbaren Arrangements in der Manier alter Meister, den »Stich ins Watteau-Seidige« und das Kolorit der französischen Bohème: »Tanzmusik, schwere blaue Samtvoglièren und den Schein des Straßenlichts auf leise knarrendem Parkett, hohe Stühle, blinde Spiegel, Rotweinflecken und ausgekernte Schalentiere auf einer weiß gedeckten Tafel.« (ebd.) An dieser Stelle ließe sich mit Köhler festhalten: »Undine Gruenter hat einige der anmutigsten und sehnsüchtigsten, raffiniertesten und unerbittlichsten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur geschrieben, Bücher über die zerbrechlichen Reste des Glücks.« (Köhler 2004)

5.4.2. Raumwelt als »lyrisches Triptychon«: Durch den Horizont. Ein Poem (2008) Lyrik: Versuch, ein Amalgam aus einem Erzählgedicht herzustellen, d. h. im Fluss von Zeile zu Zeile gleitend, gleichzeitig im Fluss die Stakkato-Methode (der abgebrochene Atem/Rhythmus/Bild) aufrecht zu erhalten. (AS, 475)812

In diesem Kapitel steht die Kategorie des Raums bzw. des Orts nicht so im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil in dem Werk andere Schwerpunkte gesetzt werden. Das Poem oder »Langgedicht«, wie es an anderer Stelle genannt wird, »Durch den Horizont« erschien 2008 posthum, war in Teilen zuvor Gegenstand einer Lesung im Oktober 1997 auf einer »Literaturbegegnung« in Schwalenberg/ Ostwestfalen.813 Ursprünglich sollte das Werk »Sturz aus dem Horizont« heißen. Dieses Motiv des Sturzes wird vom lyrischen Ich gleich zu Beginn angestimmt, wo es heißt: »[…] Doch nicht der Flug, der Sturz ist das Thema […].« (DH, 7) Im Kommentar bzw. Nachwort zum Werk führt Bauschulte814 aus: »Mit wachwandlerischer Intuition bewegte sich Undine Gruenter in literarischen Welten, d. h. auch ihre Imagination berührte sich unmittelbar mit den Werken verwandter Autoren. ›Durch den Horizont‹ ist ein lyrisches Dokument dieser Bewegungen und Berührungen, die früh schon, bereits in der Kindheit, einsetzten. Zugleich ist das Poem ein Forschungsexperiment, das viele ihrer Motive und Themen aus ihren Prosatexten von ›Das Bild der Unruhe‹ (1986) bis zu ›Der Verschlossene Garten‹ (2004: ›Hortus Conclusus‹) variiert. Das labyrinthische Spiegelkabinett ihres literarischen Werkes, das die Leser einlädt, den Faden der Suche nach einem Autor-Ich und seinem Sujet auf812 Bei dem Begriff »Erzählgedicht« lässt sich an Baudelaire und den »Spleen von Paris« denken. 813 An der unter anderem auch Oskar Pastior, Thomas Kling, Gennadi Nikolajewitsch Aigi, Friederike Mayröcker, Aris Fioretos und Felix Philipp Ingold teilnahmen. 814 Manfred Bauschulte: Spiegelungen zwischen den Worten. Notizen zu einem Poem von Undine Gruenter. In: DH, 153–162. Bauschulte leitete gleichfalls die Diskussion bei der Konferenz.

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zunehmen, wird in einem lyrischen Schreibexperiment entwickelt. Die vielfältigen Spiegelungen, Verdopplungen und Wiederholungen, die in den Pariser Hinterhäusern, Gärten, Straßen, Hotels und Bars der Prosatexte von Undine Gruenter Gestalt annehmen, expliziert das Poem in einer komplexen, gleichwohl sehr durchkomponierten und transparenten Form.« (DH, 156)

Das Werk wird hier als ein »lyrisches Triptychon« mit linkem und rechtem Seitenflügel sowie Mittelstück bezeichnet und ist in drei Teile aufgegliedert: I–III. In Hinblick auf die herausgestellten Untersuchungskategorien von Raum und Fremde ist hier ein deutlich örtlicher Bezug hergestellt: Schreiben wie ein »Orten in der Architektur«. Ein Triptychon zeichnet sich dadurch aus, dass es zusammengefaltet werden kann und somit die beiden Flügel in der Mitte zu einer Einheit kommen. Diese verschiedenen Orte des Altars – und hier gleicht die religiöse Anspielung derjenigen in »Epiphanien, abgeblendet«, was als Bezugswerk betrachtet werden kann –, werden in neue Kontexte versetzt: »Der linke Seitenflügel dieses Triptychons (I) führt zurück in die Tiefe der Kindheit, in der das Kind lernt, Gedichte zu rezitieren, während der rechte Seitenflügel (III) eine Wiederkehr der Kindheit evoziert, worin die Pariser Autorin, die gelernt hat, literarische Welten in extenso zu durchstreifen, dieses anhand von Zitaten Revue passieren lässt. Spiegelbildlich begegnen sich auf den Flügeln die Welten: die Rezitation der englischen Dichter des 19. Jahrhunderts von Blake bis Swinburne trifft auf einen spielerisch-gelösten Umgang mit französischen Poemen von Baudelaire und Apollinaire bis zu den Surrealisten und den Texten des Nouveau Roman.« (DH, 157)

Insofern nennt die Autorin im Werk viele ihrer großen Vorbilder; es handelt sich um ein Experiment, eine Polyphonie, im Sinne aller Stimmen, die sowohl im Sprechen als auch im Vexierbild herausgestellt werden. Mit dem Begriff des Vexierbildes,815 den die Autorin bzw. das lyrische Ich selbst benutzt (DH, 81), bezieht sie die räumliche Perspektive mit ein: »Es können so in dem Poem wie auf einem Vexierbild die unscharfen, verschwimmenden Umrisse von Autorenportraits der Autorin erscheinen. Es sind Vexierbilder, mit sehr vagen Schemen und Schraffuren, weil ein Gesetz der Serie und der Wiederholungen die Haupt- und Nebenwege des lyrischen Sprechens diktiert. Es handelt sich um Serien poetischer Effekte und Serien biographischer Lebenserinnerungen, deren ständig sich verschiebendes Zentrum die ästhetische Reflexion darüber bildet, wie unmittelbar Produktion und Zerstörung beim Schreiben zusammenfließen.« (DH, 159)

Die Konstituierung wie gleichzeitige Rücknahme des Autoren-Ichs bedeutet ein »lyrisches Experiment«, das »Worte, Erinnerungen und Bilder durch sich selbst ins Spiel bringt« (DH, 161): »Das Schreiben, das seine Grenzverläufe in die Worte, die Erinnerungen, die Verdoppelungen und Wiederholungen hinein verlegt, 815 Nach dem Grimmschen Wörterbuch als »Überraschungsbild« bezeichnet.

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führt durch die hindurch – wie durch einen sichtbaren-unsichtbaren Horizont.« (DH, 9) Auf diese Weise wird der prinzipiell offene Raum des Schreibens Gruenters sichtbar und die Art, die Dinge und Räume im Sinne jener Epiphanie zum Sprechen zu bringen, im Sinne eines ästhetischen »Vergöttlichens« des unendlichen irdischen Raums. Die Autorin spricht an einer Stelle von Teil II des Werks als von einem »Entwicklungsroman«, was von neuem in einem doppelten Sinne bzw. im Sinne eines »doppelten Bodens«816 zu verstehen ist. »Seitenflügel, die von der auferlegten Rezitation englischer Gedichtzeilen zur akrobatischen Zitierkunst einer zwischen den poetischen Zeilen jonglierenden Autorin überleiten, schließen sich über einem Altarbild, das Portraits der Autorin als Mädchen und junge Frau zeichnet, und das zeigt, wie sie mit den Tabus einer Epoche, mit den Sprechgewohnheiten und -verboten ihrer direkten Umgebung ringt.« (DH, 157)

Es ist hier nicht die Autorin, die spricht, sondern das lyrische Ich spricht durch die Erzählerin, die an einer Stelle von »Erzählgedicht« spricht. Die scheinbar unzusammenhängenden Begriffe, Zitate und Bilder folgen einer künstlerischen wie »poetischen« Dramaturgie, wodurch sie zu einer Art Textraum verwoben werden. Das moderne Autoren-Ich »hat sich einzig in Texten und Werken aufzuhalten. Zu bewähren und zu zeigen.« (DH, 162) Erneut erfährt das Motiv der Erinnerung zentrale Bedeutung. Zum einen handelt es sich um Erinnerung in einem gesellschaftlichen und kulturellen Sinne, wo sie Versatzstücke der Nachkriegskultur der Bundesrepublik Deutschland wie den Deutschen Herbst etc. berücksichtigt (DH, 76f.), zum anderen um Erinnerungen an eigene Erfahrungen sowie rein individuelle Erinnerungen, die sie im Werk »Der Autor als Souffleur« im lokalen Sinne als ein Umdrehen des Aufstoßens von Türen bezeichnet hatte, so wie es nur in der Erinnerung geschieht: »[…] Türen werden weder aufgestoßen noch verschlossen (Gegenteil, Ergänzung?), der lineare Prozess, der hinter dem Bild des Türaufstoßens liegt (linear wieder gewonnene Erinnerung), wird ersetzt durch den der Transparenz (das Diaphane), die Zeiten liegen nebeneinander, getrennt und gegeneinander durchlässig durch türlose Übergänge transparenter Vorhänge, die fast nur Luftbewegung sind.« (AS, 480)

Sie bleibt dabei in Hinsicht auf die Figur der Erinnerung einem phänomenologischen Grundsatz »treu«, dass nichts uninterpretiert in den Wahrnehmenden eingeht, dass sich in jeder Erinnerung Gegenwärtiges und Vorangegangenes (manchmal Zukünftiges) sowie Unmittelbares als auch Mittelbares im Sinne von Sich-Durch-Erlernen-Angeeignetes (wie Bildungsgut, Namen etc.) vermischen. Zudem gehen Betrachter und Zu-Betrachtendes mit in das Bild ein. Insofern ist

816 Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Der doppelte Boden. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. Zürich: Amman 1992.

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der französische Begriff des »Poem«817 im Untertitel nur folgerichtig, »durch das Verlegen des Schreibens zwischen die Worte«. Das Ich oder Selbst wird als »Zwischen- und Zeichenraum« bezeichnet (AS, 458) und dessen Begrenzungen als »Grenzverläufe im Unendlichen«: »Das Poem wendet das Schreiben selbst auf die Sprache an, es verlegt das Schreiben zwischen die Worte, es lässt sie geradezu deren innere Spiegelungen auf- und wahrnehmen. Explizit dort, wo Undine Gruenter die Selbstportraits von bedeutenden Malern wie Francis Bacon oder Autoren wie Antonin Artaud nachzeichnet, werden mit den Worten und durch die Worte die Grenzverläufe im Unendlichen lesbar.« (DH, 159)

Außerdem weist Gruenter von sich aus auf das Stakkato ihrer Sprache hin, das über die rein formale inhaltliche Bedeutung oder Funktion hinausgeht: »Das Stakkato des Poems stellt einen Zusammenhang her zwischen der Wiederholung dessen, was es erzählt, und dessen was es selbst implizit vollzieht. Von Zeile zu Zeile springend brechen sich lyrische Produktion und Zerstörung an den Worten.« (AS, 159) »Sowohl die Stakkato Methode des lyrischen Abbrechens als auch die thematische Linie des Sturzes (Durch den Horizont) finden sich wieder und sublimiert in dem verbliebenen Titelwörtchen: Durch. Wo es um ein stetig sich wiederholendes Abbrechen und -stürzen geht, werden insgeheim und implizit die zartesten Nuancen von Übergängen zwischen den Erscheinungen sichtbar: es können die kleinsten nur erkennbaren Veränderungen und Verschiebungen erscheinen, die Worte darstellen, die in Worten fassbar sind, die zwischen Worten verborgen liegen.« (DH, 160)

Dem Werk ist eine Vorbemerkung »nachgestellt«, in dem auf die Übersetzungen der benutzen Werke eingegangen wird, wo Gruenter schreibt: »Vorbemerkung. Die wörtliche Übersetzung der englischen Texte in Teil I stammt vom Autor. Für die französischen Texte in Teil III wurden folgende Übersetzungen benutzt: von Friedhelm Kemo (für Baudelaire), von Paul Zech (für Rimbaud), von Gerd Henninger, Johannes Hübner und Lothar Klünner (für Apollinaire).« (DH, 137)

In keinem ihrer sonstigen Werke hat sich Gruenter so stark an Werke anderer Schriftsteller angelehnt, so dass mit Einschränkung von einer poststrukturellen Zitatkollege gesprochen werden kann. Deshalb ist dem Werk, das im Großformat erscheint,818 und an eine Speisekarte erinnert, ein dreizehn Seiten starkes Anmerkungsverzeichnis beigefügt. (DH, 139–151819) Dieses Verzeichnis hätte sicherlich noch erweitert werden können, weil es sich durch viele weitere Anspielungen auf belgische, spanische, französische oder deutsche Maler aus817 Sie setzt damit an die französische Tradition des »Langgedichts« oder einer längeren Versdichtung an. 818 Inzwischen vergriffen und nicht mehr lieferbar. 819 Das gilt nur für die Textteile I und III.

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zeichnet. Insofern ist das Werk repräsentativ für Gruenter, weil es eine starke Hinwendung zum Bild und zur Bildenden Kunst herstellt. Wenngleich einige Stellen aus populären Songs wie »Greensleeves« oder Chansons von Piaf etc. zitiert werden, so bleibt doch Gruenters Beziehung zur Bildenden Kunst ungleich größer als zur Musik, von der Literatur dabei einmal abgesehen, was sie von Dichtern wie Rilke oder Philosophen wie Schopenhauer und Nietzsche unterscheidet, wo es sich umgekehrt verhält und die vielleicht deshalb so selten in ihrem Werk auftauchen. An die Liste der Anmerkungen anschließend sind dem Poem zwei weitere Zitate nachgestellt, eins von Edith Piaf (»Arretez! Arretez a musique!«) und das andere von René Char (»Si le monde est ce vide, eh bien! Je suis ce plein!«), was noch einmal die Konzeption der Verbindung von E- und U-Musik bzw. -Kultur im gesamten Werk Gruenters dokumentiert. Es ist darauf zu verweisen, dass das Werk was die Motivik und die Zitierweise von Autorinnen und Autoren betrifft in enger Verbindung zu einigen der nicht veröffentlichten lyrischen Werke Gruenters steht. Darüber hinaus finden sich Verbindungen zu »Epiphanie, abgeblendet« oder zu »Der Autor als Souffleur«, mitunter so deutlich, dass einige Teile sogar als poetische Umsetzung programmatischer Äußerungen des letztgenannten Werks verstanden werden könnten. In Teil I, dem »englischen Part«, werden überwiegend, um nicht zu sagen fast ausschließlich, Werke der englischen Literatur und Lieder der Volkskultur zitiert.820 Diese kontrapunktische Anlehnung an die englische Literatur im I. und fast ausschließlich französischer Literatur im III. Teil, verbunden mit der von ihr behaupteten Konzeption des »Entwicklungsromans« im II. Teil, könnte in der Tat auf eine »Entwicklung« oder Wende der Autorin von der frühen englischen zur späteren französischen Literatur hinweisen. Allerdings muss diese Aussage insofern differenziert werden, als dass Teil I nicht zentral den Fokus dieser Untersuchung ausmacht. Es wäre sicherlich eine weitere Arbeit wert, sich mit dem Einfluss der englischen Literatur im Werk Gruenters auseinanderzusetzen. Leider geben ihre programmatischen Äußerungen oder ihre unveröffentlichten Briefe hierüber nur wenig Auskunft. Bemerkenswert erscheint dieser kontra820 »Volkslieder« oder Klassiker wie »Greensleeves«, Songs und Gedichte von William Blake, von Edgar Allan Poe (The Raven), Songs und Gedichte von Algernon Charles Swinburne, Gedichte von Oscar Wilde (Le Jardin des Tuileries), von Dylan Thomas oder von William Butler Yeats und John Donne. Im III. Teil kommen in Zitaten vor allem jene folgenden französischsprachigen (französischen und belgischen) Autorinnen und Autoren vor wie: Baudelaire, Rimbaud, Apollinaire, E. Piaf, Deleuze, Aragon, Breton, Brassai (ein Photoband), Bataille, Foucault, Maeterlinck, dazu viele französische Zitate, aber auch solche nicht französischer Autoren wie Max Weber, Walter Benjamin, Dante, Virginia Woolf, John Morley, Mary Eden und Richard Carrington, Karl Heinz Bohrer, Susan Sonntag u. a.

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punktische ästhetische Aufbau von Zitaten aus Werken englischer und französischer Autoren dennoch. Im Übrigen werden französische Autoren – allerdings sehr moderat – vorwiegend im II. Teil zitiert. Hierbei handelt es sich um ein lyrisches Ich, das dem »biographischen« von Gruenter näher steht,821 wo sie sich auf ihren Namen und den Namen von Bekannten oder Angehörigen bezieht: »[…] am eigenen Leib experimentiert/im Selbst-Portrait des Künstlers/als unähnlicher Vervielfältigung/des eigenen Gesichts (das Doppelgänger/-Motiv war längst überholt)/ ein Prozeß der durch das eigene/Gesicht wanderte die Tage/wechselnd nicht nur mit den Namen/Claes Johannsen Gehlhoff Gruenter Bohrer/das Gesicht ein changierendes Vexierbild/das Ich das alte Incognito/die Geburt des Poeten U.G./entstand aus der Tatsache/daß sie stets bei sich selbst/verzogen war und das Feld/im Klingelschild leer/ die gelöschte Schrift/auf der Wachstafel der Erinnerung/die Verwendung des eigenen Namens/in diesem Poem sollte nicht/zu dem Irrtum führen:/hier ist Ich/die PorträtSerie erfindet wahr/daß ähnlich nicht gleich nicht selbst ist/sondern die Variation des Ich/ich kein Anderer Mehr/sondern der Andere die zweite/die dritte die vierte die x-te/ Ich-Variante/ U U′U’’’’’ U*.« (DH, 81)

Im eigentlichen Werk finden sich im ersten Teil zudem einige Hinweise auf Baudelaire wie die erwähnten Phänomene des Unheimlichen und Phantastischen: »[…] das Phantastische/als das Unheimliche erfindend/wie der Nebel den Regen/in Baudelaires Poemen«. (DH, 92) Festzuhalten bleibt, dass die Autorin durch das (dazwischen stehende) lyrische Ich ihre Technik des »Zu-den-Dingenoder in die Dinge-Kommen« vorführt, dass sie Fragmente aus verschiedenen Lektüren zusammenführt und sie in dieser Komposition zu einer Art poststrukturalistischer Kollage werden lässt, zum einem im Sinne der surrealistischen ecriture automatique und des hazard objectiv (AS, 455), zum anderen durch jenes von den Surrealisten eingeführte Prinzip des dépaysment, das im Deutschen nur unzureichend mit Entheimatung oder sich »in ungenauer Umgebung befindlich« übersetzt werden kann. Es stellt eine Art »Metamorphose der Gegenstände« dar, evtl. wäre hier von Verfremdung zu sprechen, die nichts mit Brechts V-Effekt zu tun hat. Vielleicht könnte man metaphorisch von einem »Verstellen oder Umstellen der Gegenstände in eine neue Umgebung« sprechen. In dem Werk »Durch den Horizont. Ein Poem« macht Gruenter das Prinzip des »Sprechens im Zitat« und das Assoziieren in der Erinnerung nicht nur von »erlebten«, sondern gleichfalls von gelesenen oder durch die Medien vermittelten Dinge und Assoziationen, zum Prinzip. Sie nennt dies im Werk im Sinne von Proust eine »memoire involuntaire«, eine Art von Erinnerung, über die der SichErinnernde nicht verfügen kann (»unverfügbarer Erinnerung«). Im Sinne der von ihr exponierten »Wunschmaschine« von Deleuze (und Guattari) (DH, 97) 821 Von daher die französischen Autoren.

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spricht durch sie nicht nur das Es im Freudschen Sinne, sondern auch das ästhetische bzw. lyrische Ich. »Auf eine experimentelle und exponierte Weise löst die Autorin diesen Titel in ihrem Poem »Durch den Horizont« ein. Sie unternimmt geradezu eine Probe aufs Exempel, indem sie den extremen Anspruch an ein modernes Autor-Ich verteidigt: Es hat sich einzig in Texten und Werken aufzuhalten, zu bewähren und zu zeigen. Der Autor als Souffleur seiner Werke bleibt anonym, denn er weiß zu jeder Zeit, dass die Straße des Lebens, das er führt, ins Ungewisse mündet.« (DH, 162)

Der dunkle Einband des Werks erinnert optisch an eine Speisekarte, wo die Karte der Innenbezirke von Paris durchschimmert. Für den methodischen Zusammenhang ist besonders der dritte Teil von Bedeutung, der als »Epilog/Nachspann« bezeichnet wird und dem ein Vierzeiler vorangestellt ist: »[…] das Ich; betreten verboten/verfolgt von den eigenen Boten/gehört es längst zu den Scheintoten/besteht nur noch aus Fußnoten.« (DH, 95) Dieses Zitat ließe sich beinahe wie ein Motto des Langgedichts einordnen. Durch das lyrische Ich, dem der dritte Teil gewidmet ist, fließen Zitate, Fußnoten, Erinnerungen an Topoi, Orte und Plätze und Assoziationen, aus denen es sich zusammensetzt. Was darauf folgt ist die Fortsetzung des Langgedichts ohne Anfang und Ende und ohne mögliche Unterteilung des Textes, beinahe im Sinne von Staiger, dass das Lyrische keinen Anfang und kein Ende habe.822 Deshalb wird eine daran anknüpfende Interpretation respektive Analyse schwierig oder gar zum Teil verunmöglicht, weil der Text als Ganzes aufgenommen werden und so rezipiert werden soll. Äußerst aufschlussreich sind die Zitate von Poe, Baudelaire und Apollinaire (DH, 91), vornehmlich deshalb, weil das lyrische Ich von »Fußspuren und Indianern« und der »Stadt als Wildnis« (ebd.) spricht, genau darauf den Fokus legt, was Aragon etc. unter Einfluss seiner Cooper-Lektüre als »Indianer von Paris« bezeichnet hatte. »Das Wohnen/hoch oben/unter dem Himmel/den Elementen/gleich nah/bleibt umsonst/das coucher auprès du ciel/aus Baudelaire’s Paysage/dem Beginn/der Tableaux Parisiens/der Westen der Abend/auf die das Fenster sich richtet/verschwinden im Nebel/der aufsteigt aus/ der geträumten Stadt/in Pariser Bildern/hoch bis zur Dachkammer/des Elogen dichtenden/Ich (Charles Baudelaire)/der Himmel das leere Bild/ hängen über dem Abgrund/der verdeckt bleibt/in der Schräge des Fensters im Dach/ ohne Blick/in schwindelerregende Tiefen/bleibt die Nacht/ausgeblendet/in diesem Poem/der Horizont steht/im Westen im Abend/[…] Anrisse Aufrisse zeigend/unendliche Fluchten/Möglichkeitsräume der Phantasie/die spazieren geht/durch die Pariser Straßen/wie durch den Weinberg/von Apollinaire/ […] wie durch die allegorischen/ Zeichenwelten von Benjamin/durch Abriss Verfall/Ruinen/zerstört für den Aufbau/des 822 Vgl. Emil Staiger, Grundformen der Poetik. München: dtv 1971.

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Neuen Paris/Stimmung der Revolution/von Haussmann begraben/in den Großen Boulevards/zum Gären gebracht/im eben Veralteten/in den Ampeln der carrefours/den Schloten der Vorstädte/dem Gerümpel der Flohmärkte/wie durch Paradis Artificiels/ deren Architektur konstruiert ist/und von profanen Heiligen/der Industrie bevölkert/ […] wie durch die Stadt als Wildnis/die verschüttete Vorgeschichte/ist in den Fußspuren zu lesen/wenn der Indianer der Neger/im Waldboden oder im Sand/aus den Abenteuerlektüren der Kindheit/Baudelaires phantastischem Vorbild/Edgar Poe Allan/ das Gehen Flanieren verwandelt/in den Roman eines Detektivs/die Rätsel der Großstadt/aufführt als aufzuspürende/Orte wo das Verbrechen geschah/Opfer und Täter/ Verfolgte/Verfolger/Doppelgänger/der Schizophrenie der Moderne/deren Riß/sich nicht dialektisch/schließt/« (DH, 89ff.)

Dieser aufgrund seiner Fülle von Anspielungen bewusst länger zitierte Text zeichnet sich durch eine Art »surrealistischer Grammatik« aus. Die Verfremdung zeigt sich überwiegend dadurch, dass der Referenzrahmen oft nicht eindeutig ist, dass der Text ohne Pause wie eine Suada aufgebaut ist. Es wird u. a. auf Benjamin allgemein (DH, 108 u. 110)823, allerdings ebenfalls auf seinen Aufsatz über Charles Baudelaire »Ein Lyriker/im Zeitalter des Hochkapitalismus« (DH, 110) angespielt. Außerdem finden sich Hinweise auf die Surrealisten wie den berühmten Paris-Architekt Georges-Eugène Haussmann (1809–1891), versehen zumeist mit französischen Zitaten.824 Spuren der Lektüren Gruenters sind überall im Text zu finden, ob es sich um C. Enzensbergers »Versuch über den Schmutz« (DH, 102, vgl. auch AS, 384) oder die angeführten Zitate der Surrealisten (DH, 104825) bzw. jene von ihnen geprägten, oben herausgestellten Begriffe wie »Paysan de Paris« (DH, 102) handelt: »[…] sogar die Penner/ bekommen ein Haus/zum Instandsetzen/und sind von der Straße/einen Zeitungsartikel wert/Selbsthilfe Selbstverantwortlichkeit/nach dem Programm/protestantisch-sozialhelferischer Manier/der Dreck (der fehlt)/wird nach Enzensberger (Christian)/zum Lieblingsthema der Mansardenpoetin/ auch bei Baudelaire hängen der Schmutz (la boue)/und das Erhabene (la sublime) zusammen/und die Ästhetik der Klassik/ist durchbrochen/auch wenn die Natur sich noch zeigt/im Wort Paysage/im Paysan de Paris der Surrealisten/wo die Quartiers mit Plätzen Cafés/kleine Dörfer Provinzen sind/die Stille des Landlebens/kippt über die Stadtgrenze/während die Ikonen/des Fortschritts verfallen/überwuchert von Unkraut/Gestrüpp/sich zurück in Natur verwandeln/werden die Grenzen Randzonen/Niemandsland Vorort/magische 823 Auf Benjamins »profane Erleuchtung«. Vgl. hierzu auch: AS, 196: »Stichwort: Augenblick. An Benjamins Begriff der profanen Erleuchtung anknüpfend, interessiert mich der Augenblick des Vergessens. Augenblick des Glücks, der Ekstase, des Schmerzes, der immer Selbstauslöschung, Bewußtseinsverlust, Ichauflösung ist. Weiße Stellen (s. Prousts Les blancs). Die andere Zeit. Bei Sartre (beispielhaft für viele andere) ist der Augenblick dagegen der Augenblick der Selbsterfahrung.« 824 Wobei oft selbst die Anmerkungen nicht ausreichen, einen eindeutigen Sinnzusammenhang herzustellen, was von dem lyrischen Ich wohl auch so nicht beabsichtigt ist. 825 Ebd.: »La beauté sera convulsive ou ne sera pas.«

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Orte wo ein Holzlöffel/sich in den Schuh von Aschenputtel/verwandelt nach dem Wechsel/von Marché aux Puces in Bretons Wohnung/ (L’amour fou) wo die Revolution sich ankündigt/(nach der russischen)/in den Dingen dem eben Veralteten/einer rostigen Gießkanne einem alten Plakat/einem Fahrrad ohne Schlußlicht/eine poetische Revolution.« (DH, 102)

Dieser Gedanke und Impuls einer »poetischen Revolution« im Anschluss an die Surrealisten lag Gruenter sehr nahe. Von daher finden sich im Text gehäuft die Anspielungen auf Werke der Surrealisten wie Bretons »Nadja« etc. (DH, 102), die mit eigenen Erfahrungsbereichen verbunden und ästhetisiert werden, wo von »ihrer Stadt an der Wupper« gesprochen wird.826 »Bretons Begleitung im Gehen/die Nadja/findet Nachahmung/in der Poetin – sie fährt/ weder Auto noch Fahrrad/(im Schwindel könnte sie fallen)/sie geht/immer zu Fuß/ (Fußspuren verlorene Schritte/durchkreuzen sich)/und der magische Knotenpunkt/ ihrer Stadt an der Wupper/ist der andere der Hauptbahnhof/für die Reise allein/oder zu zweit nach Paris […].« (DH, 105)

Darüber hinaus erfährt das von Baudelaire exponierte Unheimliche seine Bedeutung. (DH, 106)827 Überhaupt lässt sich der komplette Teil, das »Triptychon« als ein Ankommen in der »Heimat« in Paris im Sinne einer Dialektik von Eigenem und Fremden begreifen. (DH, 81) Das ist zum einen konkret geographisch örtlich gemeint, zum anderen bezieht es sich durch die Einbindung der zitierten Werke auf das »geheime« Paris (DH, 106)828, das aus Versatzstücken der Moderne und den verschiedenen Künsten zusammengesetzt ist. Hinsichtlich dieser literarischen Tradition eignet sich die Autorin Paris als »ästhetische« Heimat an. Es geht um jene »Erfindung von Paris« und »Psychogeographie der Grenze« zugleich, von der Hazan gesprochen und dabei betont hatte, dass im Gegensatz zu anderen Städten wie Lissabon, London, Berlin oder Los Angeles »das immer wieder eingenommene und unterworfene Paris seit undenklichen Zeiten durch die es umgebenden Mauern in seiner Entwicklung eingeschränkt« (Hazan 2006, 15) sei. Vielleicht ist das mit ein Grund dafür, warum Gruenter Paris im Poem ästhetisch implodieren, nicht explodieren lässt: Paris ist kulturell nur in seiner »poetischen Immanenz« zu retten, durch die »Beschwörung der Namen und Straßen« oder der Evokation der berühmten Plätze, Orte oder Gastronomie wie beispielsweise das Deux Magots oder das Rostand829: 826 Ebd.: »[…] das konvulsische Zucken/als Metapher der Schönheit/der ästhetischen Strategie/ den Horizont offenzuhalten/in der Erwartung/ in der Sekunde des Aufbruchs/im Anfang/wie der Name Nadja/im Russischen der Anfang/der Vokabel Hoffnung ist«. (DH, 104). 827 Sowie das »geheime Paris« u. a. auch von Atget (DH, 109). 828 Ein auf diese Weise im Zitat geschaffenes Paris surrealistischer Collagen und künstlerischer Räume. 829 Das Restaurant Rostand existiert bis heute direkt am Jardin du Luxembourg. Im Zusammenhang damit betont Gruenter den »leeren« Jardin du Luxembourg. Vgl. z. B. AS, 107:

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»Beschwörung der Namen/der Straßen manche vergessen/unterm Pantheon vor der Sorbonne/der Massentourismus wird/gemieden von den Snobs/von den Zugereisten/ die sich einheimischer geben als die Pariser/der Einzelgänger/hätte die Erbschaft/antreten können/die Pöbelträume des Vaters/die Schwüle vor der Masse/aber im Bauch von Paris/schiebt an sich durch die Menge/auch wenn Touristen/darunter sind/und den Cafés zum Beispiel/wo jeder sitzt/der Bücher mit sich herumträgt/Deux Magots Bonaparte/Flore Odéom oder Rostand/die gewählten Kinos/dagegen die Restaurants/wie die Hotels liegen/abgelegen von Straßen/der Ölsardinen Touristen/wenig Komfort/wie es sich für die Preisklasse/reisender Dichter gehört/solange er nicht schreibt/über die Kioske die neuen Pissoirs/verdienen sie wie die Säulen/mit Plakaten einen neuen Brassai/der im Dach liegt aufgeschlagen/erinnert er an Das geheime Paris/das neue Blüten treibt/im Jardin du Luxembourg/mit seinen Masken und Panflöten tragenden Statuen/Tauben bedeckt an den frühen Morgen/auf den Friedhöfen/wo zwischen steinernen/Totenhäusern Kapellen/die Bänke einladen zum Lesen.« (DH, 106)

Im obigen Zitat wird eine Beziehung zu Brassais geheimen Paris (Brassai, 1982830), im darunter Folgenden eine Verbindung zwischen Baudelaires altem Paris831 und jenem von Atget (2004) hergestellt. Der Jardin du Luxembourg wird erneut evoziert sowie ein subkutaner Bezug zu Rilke und dem Sterben in Paris hergestellt. In diesem Zusammenhang sind die »Totentanz-Reisenden« (DH, 107) 832 zu sehen. Über allem »schwebt« dazu Benjamin mit dem Hervorheben des ehemals (barocken) allegorischen Paris, sowie der »profanen Epiphanie«. Fast poetologisch kann man in Hinsicht auf das Werk Gruenters das Motiv der »langen Belichtungszeiten, die die Menschen ausblenden« nennen. Paris wird wiederum erkennbar hier, wie so oft bei Gruenter, als eine »Leere«, eine von Menschen kaum bevölkerte Stadt, ähnlich wie in den Photographien von Atget im Sinne eines Auf- und Abblendens. Darüber hinaus unterliegt das angesprochene Flüchtige im Gedicht einer besonderen Betrachtung: »[…] mumifiziert erstarrt/liegen die Dinge bei Baudelaire/auf den Trümmerfeldern der Stadt/wie die leere Dingwelt/des Photographen Atget/leblos erscheint angeblich/liegt der Grund in den langen Belichtungszeiten [Hervorhebung SW]/die die Menschen ausblenden/Erstarrung als Ergebnis/zu langer Beleuchtung/so daß der Tod die Interruption/die Verweise auf Friedhöfe/der Antike auf Allegorie des Barock/zu ver»26. Mai 1987: Sitze im Rostand bei geöffneten Frontfenstern. Mit Blick auf den leeren Jardin du Luxembourg.«, Vgl. zum Deux Magots auch AS, 105. 830 Gyula Halasz Brassai: Das geheime Paris. Bilder der 30er Jahre. Frankfurt/M.: Fischer 1982. 831 Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. (Übersetzung Wolf von Kalkreuth). Leipzig: Insel-Verlag 1907, 96f.: »Le cigne – Der Schwan. Paris change! mais rien dans ma mélancholie/N’a bougé! palais neufs, echafaudages, blocs, /Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie,/Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs. Paris ändert sich! doch nichts in meiner Melancholie/ Hat sich bewegt! Neue Häuser, Gerüste, Straßenzüge,Alte Viertel, mir wird nun alles zur Allegorie, /Und kostbare Erinnerungen schwer, als ob ich Felsen trüge.« 832 Vgl. hierzu: AS, 367: »[…] Zeichen sind Instrumente des Totentanzes.«

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schwinden scheinen/bis der Klick (der spätere Blitz)/die Szene aufblenden [Hervorhebung SW] und verschwinden läßt/Un éclair…puis la nuit! – Fugitive beauté/das Plötzliche das Flüchtige [Hervorhebung SW]/der Modus des Blicks/der der Auslöser ist/ bei der Aufnahme/Dont le regard m’a fait soudainement renaȋtre/ die Passantin als profane Erscheinung/das Aufblenden der Blitz kommt/nicht aus dem Dunkel/sondern werden epiphanemisch verstärkt/von der sofort danach aufbrechenden Nacht/die Unterbrechung der Zeit/liegt in den Pünktchen/die Finsternis ist kein Ende.« (DH, 109)

Dem Muster eines Vexierbilds oder »Vexierspiels«, wie Gruenter es nennt (DH, 97), folgt sie hier von neuem: ähnlich wie in »Ein Bild der Unruhe«, allerdings hier umgedreht, verändert sich die Stadt in eine andere: Paris wird in der Darstellung in Teilen zu Wuppertal und vice versa. Gleichfalls schafft das lyrische Ich einen neuen (Assoziations-) Raum«, eine Verbindung, die nur durch eine Art »surrealistischer Technik«, der Assoziation, geschaffen wird: »[…] doch der Lärm von Paris/rauscht nicht in den Ohren/versickert im Tal der Provinz/ weit unten/wo die Straße den Berg herab führt/liegt die Stadt/Betonklötze verstreut/entworfen im Wiederaufbau/Warenhäuser/Banlieu/Fast-Food-Restaurants/das Rathaus/ein Monstrum des Historismus/blieb unbebombt/den Fluß entlang/ziehen sich die Fabriken/düsteres Backstein und Schlote und blindes Glas/ein Manchester des 19. Jahrhunderts/für die Gründer der IG Farben/ein Fluß für die Färber/Eisengestänge grüngespannt spannt sich/darüber an der Schiene/Im Spitzbogen hängt die Bahn/über die Wupper gegangen/sind nicht allein Pina Bausch/Engels und Else/bevor sie zum Prinzen von Theben wurde/als Lasker-Schüler verwandelte sie/die Städte in Morgenländer/diese Stadt, mit dem Tal im Namen/ bleibt gruppiert/um den Marktplatz den Bahnhof/dazwischen Fußgängerzone/steril sauber geordnet/mit Ketten von Kaffee-/ und Modeboutiquen.« (DH, 101)833

Gegen Ende des Langgedichts bezeichnet sich das lyrische als »Mansardenpoetin« im Sinne Baudelaires oder als Poetin im Gehen und Flanieren in Anlehnung an Breton. (DH, 195) Dies skizziert noch einmal ihre »ästhetische Theorie« oder besser ihr poetologisches Programm (DH, 120f.) unter Einbezug einiger Werke von Bloch, Bataille (beide: DH, 125) Foucault (DH, 128834), Baudelaire, Breton und Aragon. Bei der Darstellung dieser literarischen und künstlerischen sowie örtlich-konkreten Topoi landet die Erzählerfigur schließlich in der Kindheit, bei dem »Kindchen Undine« (in Analogie zu der Ondine von Breton) und an der Stelle des Nichts, der Leere. (DH, 131) Im Text scheinen zudem Motive von Erinnerung und Vergessen durch (DH, 133), flankiert von dem Motiv des Himmels. (DH, 135)835 Übersichtsartig seien noch einmal die zentralen Spezifika des Poems zusammengefasst:

833 Vgl. auch DH, 105. 834 Unter anderem: »Überwachen und Strafen« von Foucault (1975). 835 Ebd.: »[…] der Himmel ist leer […].«

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Das Poem »Durch den Horizont« besteht aus drei Teilen und ist wie ein Triptychon aufgebaut: der linke Seitenflügel zeigt die »Tiefe der Kindheit, in der das Kind lernt, Gedichte zu rezitieren«. (DH, 157) Dabei handelt es sich in erster Linie um Texte, Gedichte und Lieder aus dem Englischen, allen voran von englischen Dichtern des 19. Jahrhunderts wie Blake und Swinburne.836 (AS, 497) Der rechte (letzte) Teil des Triptychons zeichnet sich durch einen spielerisch-gelösten Umgang mit französischen Poemen von Baudelaire und Apollinaire bis hin zu jenen der Surrealisten und Texten zum Nouveau Roman (ebd. DH, 157) aus. Vom lyrischen Ich wird der mittlere Teil, das Altarbild, im Text als »Entwicklungsroman« bezeichnet, sowie eine Art »ästhetisches Portrait« der Autorin als Mädchen und junge Frau gezeichnet. Das zeigt, wie Gruenter mit den Tabus einer Epoche, mit den Sprechgewohnheiten und -verboten ihrer direkten Umgebung gerungen hat (ebd., DH, 157). Von daher erscheint es nur als konsequent, wenn sich die Anmerkungen zum Text nur auf die Kapitel I (DH, 7–27) und Kapitel III beziehen. Zu Kapitel II finden sich keine Anmerkungen. Zentral erscheint es hervorzuheben, dass die Anmerkungen von der Autorin selbst stammen. Im Kapitel I sind Textfragmente aus folgenden Werken eingefügt837: zu Beginn des I. Kapitels vor allem Texte von William Blake838, dazu Texte aus (alt-) englischen Liedern wie Greensleeves (DH, 8) oder unbekannten Volksliedern wie »Western Wind« (ebd.) oder »I wish, I was«. (ebd.)839 Im dritten Teil sind Zitate von Autorinnen und Autorenen eingefügt, fast alle in der Originalsprache, d. h. vorwiegend in französischer Sprache. Es mag auf den ersten Blick wie ein Namedropping wirken, dennoch geben die Namen zugleich Auskunft über die Tendenz des Poems. Nur exemplarisch konnten hier einige genannt werden. Darüber hinaus finden sich im Werk klassische philosophische Lehrsätze wie nosce te ipsum (erkenne dich selbst), DH, 98, memento mori (gedenke, daß du sterblich bist) oder de profundis (aus der Tiefe) (beide: DH, 108), Begriffe des 836 Nach dem englischen Schriftsteller benannte Gruenter ihren Hund; der Dichter wird ebenso in »Der Autor als Souffleur« erwähnt. 837 Größtenteils aus dem Original in englischer Sprache. 838 Hierbei handelt es sich u. a. um Texte wie: »The Human Abstract« (DH, 7), »London« (ebd.), »The Land of Dreams« (DH, 12), »The Chimney Sweeper«(DH, 14) oder »A Poison Tree« (DH, 15). 839 Weitere wären hier nur beispielhaft zitiert: »And everytime« (wozu in den Anmerkungen extra notiert wird, dass dieses aus dem Gedächtnis stammen), »I was a poor«, »I want to go home« (Altenglische Lieder, interpretiert von Alfred Deller), »I shall dy«, von englischen Dichtern wie Edgar Allan Poe (»The Raven«, DH, 7, 18, »The Sleeper« (DH, 19), aber auch Songs von Charles Swinburne (Chorus from »Atlanta«, DH, 18, The Death of Meleager DH, 19; von Oscar Wilde (1854–1900) (»Le Jardin des Tuileries«, DH, 19), von William Butler Yeats (1865–1939) (»Where my books go«, DH, 20, »Down by the Salley Gardens« (DH, 23), John Donne, »Break of Day«, (DH, 22), und von Dylan Thomas (»Do not go gentle into that good night«, DH, 25).

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Surrealismus wie terrains vagues, DH, 103 (Unbekannte Gebiete, von der Autorin verfasst, U.G. DH, 144), die »Erläuterung« verschiedener französischer Begriffe wie ballon etc. (Kulturvokabeln, z. B. DH, 105 etc.) oder literarische Topoi. Über ihre »Entfremdungskonzeption« gibt Gruenter in dem Werk Auskunft, wo sie als Anmerkung schreibt (DH, 148): »[…] dépaysement (wörtlich: Entheimatung, sinngemäß: in ungewohnter Umgebung), Begriff aus dem Surrealismus.« Der Effekt, der aus dem dépaysement entsteht, ist eine Metamorphose der Gegenstände, man könnte den Begriff Verfremdung gebrauchen, wenn er nicht auf den falschen Weg – zu Brechts Begriff – führte. Es lässt sich von daher mit einiger Berechtigung behaupten, dass das lyrische Ich hier eine Übersicht über die literarischen, künstlerischen und philosophischen Beeinflussungen Gruenters aufzeigt, sowohl was die Figuren als auch was Motive ihres Werks betrifft. Man könnte die Vielzahl der Verweise und Zitate als einen Hinweis auf ihre vielschichtigen Beeinflussungen und Lektüren verstehen. Insofern ist »Durch den Horizont. Ein Poem« trotz der Nichtveröffentlichung ein wichtiges poetologisches Zeugnis in Undine Gruenters Gesamtwerk, gerade, was die Topoi betrifft. »Die vielfältigen Spiegelungen, Verdoppelungen, Wiederholungen, die in den Pariser Hinterhäusern, Gärten, Straßen, Hotels und Bars der Prosatexte von Undine Gruenter Gestalt annehmen, expliziert das Poem in einer komplexen, gleichwohl sehr durchkomponierten und transparenten Form. Die drei Teile dieses langen Gedichtes, das sich frei nach Edgar Allan Poe als Serie, als serielle ›Abfolge kurzer Gedichte, kurzer poetischer Effekte‹ entfaltet, sind in einem synchronen Aufbau wie ein Altarbild mit Seitenflügeln organisiert: sie operieren wie ein lyrisches Triptychon.« [im Original fett gedruckt] (DH, 156)

Abschließend lässt sich für das Werk festhalten: Selbst wenn man Undine Gruenters Schreibstil keineswegs durchweg und wenn dann nur sehr bedingt als »surrealistisch« einschätzen kann, wie ausgeführt worden ist, so hat sie ihre schriftstellerische Haltung doch stark an den Surrealisten geschult: im Führen einer ästhetischen Existenz, die wenig mit dem eigenen Dasein zu tun hatte, sondern zu einem ganz eigenen künstlerischen Dasein führt. Selbst wo sie ihrem biographischen Dasein Versatzstücke entnimmt, bieten sich die Protagonisten doch nicht – weder für sie noch für den Leser – als Identifikationsfiguren an. Sie werden aus einer ästhetischen Distanz zu ihrem eigenen Leben heraus beschrieben und man könnte so weit gehen, zu sagen, sie »entwickeln« sich aus einer Distanz zu ihrem eigenen Leben. Von daher steht Gruenter nie in der Gefahr, ihre Krankheit zum Thema oder Motiv ihrer Literatur bzw. Thema ihrer Protagonisten zu machen.840 Sie führte eine ästhetische Existenz in einem anti840 Damit einem existenzialistischen oder psychoanalytischen Standpunkt diametral entgegengesetzt.

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bürgerlichen Sinne, hier lassen sich ebenfalls durchaus Bezüge zu den Surrealisten aufzeigen, in erster Linie in Zusammenhang mit deren Intention, die Kunst ins Leben zurück zu führen, was mit einem stark antibürgerlichen Gestus verbunden war. Bereiche wie Arbeit, Glaube oder Moral, die vor dem bürgerlichen Hintergrund von eminenter Bedeutung waren, spielten für die Surrealisten um André Breton kaum eine Rolle. Genau an dieser Stelle verbindet sich das Lebenskonzept der Surrealisten mit der ästhetischen Existenz Gruenters. Noch in einem anderen Punkt stimmt Gruenters Schreiben mit der Haltung der Surrealisten überein, nämlich darin, dass der Traum nicht psychoanalytisch zu »heilen« oder zu »domestizieren« ist. Es finden sich keine Erklärungen von Träumen als Basis von Sublimierung und Heilung, sondern Träume besitzen einen eigenen ästhetischen Mehrwert, einen Überschuss, eine subversive Kraft, die aus Traum und Wachtraum unmittelbar ins Leben übergeht. Das lässt sich weiterhin an anderen unveröffentlichten Werken Gruenters feststellen. Innerhalb des Poems »Durch den Horizont«wird das Fremdstellen von Stellen bekannter Werke in Perfektion vorgeführt.

5.5. Unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass Es ist bereits am Anfang dieser Abhandlung auf die Werke hingewiesen worden, die als Nachlass von Undine Gruenter im Literaturarchiv Marbach aufbewahrt werden. Formal ist dieser Nachlass unterteilt in Manuskripte, Gedichte, Epen, Dramatisches, Prosa, Rezensionen, Konvolute und Verschiedenes (hierbei handelt es sich nur um Gruenters Abschrift von Edith Piaf »L’accordeoniste« (eine Mappe). Dazu finden sich ca. 20 Briefe von Gruenter und ca. 60 Briefe an Gruenter. Die Briefsammlung scheint allerdings unvollständig zu sein. In den Gedichtsammlungen liegen Mappen mit einem komplett erhaltenen Zyklus »Meerbilder« vor, eine Mappe zu einem weiteren vollständigen Zyklus »Ein Wappenvogel« und insgesamt vier Mappen mit dem Titel »Zerstückelungen«, darunter jeweils zwei Mappen zum Motiv »Krater Stadt« und »Krater Körper«, dazu zwei weitere Mappen verschiedener Entwürfe und eine Mappe zu 38 einzelnen Gedichten. Unter den »Epen« befindet sich das Manuskript zu »Durch den Horizont. Ein Poem« sowie ein komplettes Typoskript und eine Typoskript-Kopie eines unveröffentlichten Werks »Monolog vor dem Spiegel. Ein Stationenleben«, worin Vorarbeiten und ein Entwurf sowie ein weiterer »Wappenvogel«-Entwurf enthalten sind. Im Bereich »Dramatisches« existieren drei Mappen zu einem Text

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»Meerwasser-Worte?«841, dazu ein Stück mit dem Titel »Ein Ort in der Arena« (zwei Mappen) sowie die Vorlage eines Werks mit dem Titel »Offene Anstalt«842 und ein anderes Stück unter dem Titel »Tod eines Seidenäffchens«. Im Bereich der getrennt aufgeführten Prosa wird man auf Manu- und Typoskripte veröffentlichter Werke wie »Das gläserne Café« (eine Mappe), »Pariser Libertinagen« (drei Mappen mit unterschiedlichen Arbeitstiteln, Typoskripte) und Sommergäste in Trouville (elf Mappen, Manuskripte) aufmerksam. Dazu existiert noch ein unveröffentlichtes Werk »Nachrichten aus einer Paprikaschote« (eine Mappe) und Einzelmanuskripte zu »Vertreibung aus dem Labyrinth« (vier Mappen, Entwürfe und Manuskript) »Der verschlossene Garten« (ein ganzer Kasten, neunzehn Mappen, Vorarbeiten, Entwürfe, Kopien davon und ein Typoskript), »Das Versteck des Minotaurus« (sieben Mappen, Vorarbeiten, Entwürfe) sowie die unveröffentlichten Einzelmanuskripte »B, B und wieder B« (eine Erzählung, eine Mappe), »Bio-bibliographische Angaben« (eine Mappe), »Die Welt verletzten« (Essay, eine Mappe) und der unvollendete Roman »Vergessen«.843 Darunter ist eine Rezension zu Nathalie Sarraute (zu dem Werk »Hier«) mit dem Titel »Worte sind wie Wandschirme« auffindbar. Vornehmlich bei den drei abgeschlossenen Werken »Nachrichten aus einer Paprikschote« (Prosa), »Affentänze« (Kleine Prosa, 61 Texte, genau 200 Seiten) und der Gedichtzyklus »Ein Wappenvogel« (14 Gedichte und 15 Fotos) fragt man sich, warum Gruenter sie nicht zur Veröffentlichung freigegeben hat, zumal sie nach Auffassung des Verfassers von hoher literarischer Qualität sind. Gruenter sah einige ihrer unveröffentlichten Werke durchaus in einem Zusammenhang mit anderen veröffentlichten, wie sie in einem Brief an Thorsten Arend vom 11. 10. 1999 schreibt, wo sie sich äußerst erfreut über die Möglichkeit einer erneuten Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp-Verlag zeigt: »Ich denke, was Sie interessieren könnte, wäre ein Gedichtzyklus Bilder vom Meer oder eine im Entstehen begriffene, auf vier Bände angelegte Komposition (bessere Bezeichnung fällt mir nicht ein) von kleiner Prosa, Titel Miniaturen, Minotauren. Bd. I: autobiographisch – fiktive Prosa: Nachrichten aus einer Paprika-Schote: Bd. II : Pariser Prosa: Libertinagen (einige erschienen in der NZZ, der Titel ist eine Hommage an das Buch von Aragon, Libertinage); Bd. III: phantastische Prosa: Affentänze; BD IV: Tierparabeln: Miniaturen, Minotauren. Bd. I und II sind fertig bis auf ein paar Lese-Korrekturen. Sollten Sie an Meerbildern oder Miniaturen Interesse haben, schicke ich Ihnen gern das Manuskript der fertigen Titel (um 200 und 300 Seiten).« (ebd.)

841 Darunter zwei Typoskript-Kopien, eine Handschrift mit Gedichten und die »kleine Prosa« »Tod eines Seidenäffchens«. 842 Fünf Mappen, Handschrift und korrigiertes Typoskript, allerdings handelt es sich hier nur um eine Skizze von wenigen Seiten. 843 Vier Mappen, Entwürfe, Manuskript und Typoskript, ein Entwurf von ca. 50 Seiten mit einem langen ersten Text »Das absolute Bild« von 30 Seiten.

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5.5.1. Lyrische Versuche Das lyrische Werk Gruenters gilt es erst noch zu entdecken. Trotz des abgeschlossenen Zyklus »Ein Wappenvogel« und der fast abgeschlossenen Sammlung »Zerstückelungen« mit den signifikanten Untertiteln »Krater Stadt« (I) (zwei Mappen), »Krater Auge« (II) und »Krater Haut« (III) (zwei Mappen) hat sie Gedichte eigentlich kaum zur Veröffentlichung freigegeben, auch wenn man ihre Prosa als »lyrische Prosa« bezeichnen kann. Der zweite Teil »Krater Auge« liegt nur fragmentarisch vor. Es sei daran erinnert, dass einige dieser wenigen erhaltenen Gedichte von Gruenter in den beiden Lyrikbänden »Topographien« und »Panoramen« veröffentlicht wurden, die dann vom Suhrkamp-Verlag aber nicht angenommen wurden. (vgl. Kap. 2.1)844 Dennoch sei an die Konzeption erinnert, welche Gruenter auf die Bände bezogen vorschwebte und die sie im Brief an Döring vom 13. 02. 1995 folgendermaßen beschreibt: »Beide Manuskripte sind in drei Teile gegliedert. I und III jeweils um das Thema Stadt gruppiert (erkennbar Paris in Panoramen), Teil II in Topographien um Körper, in Panoramen um Psyche, jeweils ins Phantastische gehend. (Brinkmann ist geliebt, aber Kölner Realismus ist nicht.) […]. Die Stadt als Gedächtnisraum – die eher abstrakt bleibende des Ruhrgebiets (in Topographien), die mit Wegmarken durchsetzte (wie Chatelet, Ménilmontant oder St. Anne) in Panoramen. Vergessen und Erinnern mäandrieren sich ineinander (altes Romanthema von mir) die Amnesie mit aufleuchtenden Erinnerungsfragmenten als das literarische Feld, auf dem das Subjekt kreuzt.« (ebd.)

Einige wenige Gedichte erschienen im Merkur845, in »Der Autor als Souffleur«846, ansonsten wurde nur das Werk »Durch den Horizont. Ein Poem« posthum 844 Gruenter scheint unter der Nichtveröffentlichung sehr gelitten zu haben, sie fragt mehrere Male nach u. a. in einem Brief an Döring und Unseld vom 15. 05. 1996, spricht da von einigen »unbeantworteten Briefen«, und bekennt in einem weiteren späteren Brief an Thorsten Arend, dem Nachfolger von Christian Döring, vom 11. Oktober 1999, dass »sie als Autor(in) bei Suhrkamp zunächst abgemeldet« war. 845 Vgl. Der »Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken«, im Jahre 1947 gegründet, gilt als eine der ältesten Kulturzeitschriften Deutschlands. Sie wurde 1990 mit dem Deutschen Kritikerpreis ausgezeichnet. Karl-Heinz Bohrer stand von 1984–2011 zusammen mit Kurt Scheel der Zeitschrift vor. In der Selbstdarstellung der Zeitschrift heißt es, dass diese sich an »ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist« wende. Formal lässt sich festhalten, dass alle Beiträge essayistisch, nicht wissenschaftliche Fachartikel im eigentlichen Sinne sein sollten. Vgl. dazu auch den Nachruf von Karl Heinz Bohrer: Kurt Scheel. Eine Erinnerung. In: Merkur, 01. 10. 2018 (https://www.merkur-zeitschrift.de/2018/10/01/kurt-scheel-eine-erin nerung/, zuletzt abgerufen: 16. 01. 2020), der mit dem Satz beginnt: »Er war im Leben und Tod einer der mir fremdesten Menschen, die ich kenne und gekannt habe.« 846 Vgl. AS, 224–226 »Der Lauf des Flusses«, AS, 227 Ohne Titel, AS, 228 2mal Ohne Titel, AS, 235 u. 258 »Fang« oder die Interpretation ihres eigenen Gedichts »Bahnhof. Die Schrecken des Abschieds«, AS, 250.

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veröffentlicht. Aber es existieren im Literaturarchiv Marbach einige Beispiele unveröffentlichter Gedichte, die belegen, was für eine hervorragende Lyrikerin Gruenter war. Leider fehlen bei den meisten Gedichten die Zeitangaben. In der Handschriftensammlung findet sich ein Konvolut, ein Bündel von Schriftstücken oder Schriftsachen, von 38 Gedichten, bei denen es sich um zum Teil durchgestrichene Fragmente handelt, so dass schwer zu rekonstruieren ist, was von der Autorin als zur Veröffentlichung bestimmt war. Der Verfasser versucht, seine Lesart der bislang unkommentierten Gedichte vorzustellen, im Zuge derer sich eng an den Text angelehnt werden soll, auch und trotz allem mit Bezügen zu Rilke und zur französischen Moderne. Wichtig erscheint die »phänomenologische Vorgehensweise« Gruenters zu betonen, das kurze »Aufscheinen« von Motiven und (Gedanken-) Blitzen, die dann wieder »verglimmen«, metaphorisch gesprochen, ganz im Sinne von Emil Staiger, der in den 1946 erstmals erschienenen »Grundbegriffen der Poetik« betont, dass das Gedicht, besser das Lyrische, in nur einem Moment aufleuchtet und »vergeht«.847 Die Motivik von Gruenters Lyrik ist in der Regel einem kleinen überschaubaren Motivkreis entnommen848: die Stadt, das Meer, der Blick, die Augen, das Sehen, das Vegetative, das jederzeit ausbrechen kann, die Anatomie, der (menschliche) Körper, Straßen, Requisiten, Zimmer, wenig bis kaum Menschen, dazu Bildungsvokabel, Resonanzböden und Anspielungen auf entvölkerte Großstädte sowie damit verbundene Leere und Einsamkeit. Die Landschaften entstehen erst im Zusammenstoß mit dem Auge, in der Wahrnehmung. Hierbei lässt sich von jener besonderen Art der Verfremdung sprechen. Was es für den Betrachter problematisch macht, ist der Umstand, dass viele der Gedichte weder zeitlich noch räumlich datiert und somit genauer zuzuordnen sind, so dass man sie nur beschreiben kann und ansonsten auf Vermutungen angewiesen ist. Es wurde darauf hingewiesen, wie autonom Gruenter in ihrem Schaffen war. Dennoch legen einige Gedichte nahe, dass sie zumindest »philosophisch« und literaturtheoretisch, nicht unbedingt künstlerisch, in regem Austausch mit ihrem Ehemann entstanden sein könnten. Dabei denkt der Verfasser hier an Bohrers Kritik der Deutschen Romantikrezeption und seines Versuchs unter Berufung auf Friedrich Schlegel, die Romantik (besonders die deutsche849) als »modern«, reflexiv und keinesfalls nur, oder in erster Linie irrational aufzufassen. Vielleicht könnte man den Ansatz etwas verkürzt auf den folgenden Nenner bringen: die Rehabilitierung der Romantik850 unter Verweis auf den zitierten Schlegel, aber 847 Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis-Verlag 1946. 848 Vergleichbar dem, was Guardini oder Bollnow über Rilke gesagt hatten, er sei der Dichter des »Mangels«, der aus einem nur kleinen Motivkreis geschöpft habe, vgl. Teil 1. 849 Vgl. hierzu: Anmerk. 60. 850 Sowohl seine Dissertation »Der Mythos vom Norden. Studien zur romantischen Geschichtsprophetie.« Heidelberg: Lettres Heidelberg 1962, bei Arthur Henkel in Heidelberg

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unter Rückbezug auf Kleist, Hölderlin, Nietzsche oder Benjamins Lesart. Bohrer versucht zu belegen, dass der Romantik neben einem »phantastischen Element« ein »reflexives Element« eigen sei und er sich auf diese Weise gegen jede Form von Teleologisierung, Irrationalisierung oder Abstempelung der Romantik als »präfaschistisch« wehrt. »Verkannt bleibt nämlich, daß es gar nicht so eindeutig die frühromantische, noch stark vom Frühidealismus geprägte Intellektualität und ihre poetischen Ausdrucksformen gewesen sind, die das moderne ästhetische Bewußtsein nachdrücklich geprägt haben, sondern dass dies in viel stärkerem Maße durch die spätromantische Form des Phantastischen geschah.«851

Mit dieser Differenzierung und der Unterscheidung dieser Konzeption in der Früh- und Spätromantik lässt sich eine Verbindung zum lyrischen Werk Gruenters herstellen: Dem Phantastischen, als »Vorläufer« des Surrealistischen, wie dem Selbstreflexiven widmet sie in ihren Gedichten breiten Raum, mehr als in der veröffentlichten Prosa. Im Gegensatz zu Bohrer hat sie sich aber keinesfalls als Literaturtheoretikerin empfunden, sondern als Autorin, die das »Programmatische« in ihrem Werk umzusetzen versuchte, das wiederum durchaus zum Teil mit Positionen Bohrers zusammenhing, etwa was die Selbstreflexivität des Kunstwerks betrifft. »Die wichtigste, bei der generalisierenden Identifikation des deutschen Denkens mit dem Geist der Romantik übersehenen Tatsache ist jedoch, daß die beiden zentralen Figuren des Bewußtseins, die Reflexivität des Kunstwerks und das Phantastische, nicht rezipiert wurden, sondern von den führenden Köpfen der Philosophie und Literaturgeschichte des Vor- und Nachmärz tabuisiert worden.« (Bohrer 1997, 11)

Zur Technik lässt sich in diesem Zusammenhang ergänzen, dass Gruenter dem programmatischen Credo der Surrealisten folgt: Realistische Versatzstücke in neue, unbekannte Zusammenhänge zu stellen, was an verschiedenen Einzeluntersuchungen deutlich werden dürfte. 5.5.1.1. Gedichtzyklen und einzelne Gedichte Was die Lyrik Gruenters anbetrifft, so spielen an erster Stelle ihre teilweise schon genannten Gedichtzyklen eine primäre Rolle, namentlich die Sammlungen »Meerbilder« (drei Mappen) oder »Ein Wappenvogel« (eine Mappe). Zu den Zyklen lässt sich im Einzelnen festhalten: Die Sammlung »Zerstückelungen«, die Gruenter selbst als »Entwürfe« bezeichnet, wird in dem Teil »Krater Körper« von als auch seine 1978 an der Universität Bielefeld vorgelegte Habilitationsschrift Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. Carl Hanser, München–Wien 1978, gehen in diese Richtung. 851 Bohrer (1989), 13.

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ihr auf die Jahre 1980–1982 datiert. Der Teil »Krater Stadt«, der für den hiesigen Zusammenhang am signifikantesten ist, beinhaltet 28 Texte, sprich Gedichte, von denen die Mehrheit nur mit Einworttiteln überschrieben ist, wie z. B. »Schienenwüste«, »Metrostation«, »Stilleben« (sic!), »Tankstelle«, »Vorstadt«, »Locus Desertus«, »Hotel« oder »Park der Revolution«. Der zweite Teil betitelt »Krater Körper« beinhaltet 56 Texte mit Titeln wie »Aufenthalt«, »Netzhaut«, »Vorsichtige Augenstiche«, »Nadelsprung aus der Nacht«, »Maschinenträume«, »Kurzschluss«, »Stromkreis«, »Passage I–III«, »Schattenbilder«, »Selbstbildnis I–III«, »Babylon«, »Abgrund«, »Friedhof am Mittag«, »Bahnhof« und »Abschied«. Der Band kommt auf einen Umfang von 84 Texten. Was die Titel betrifft, so zeigt sich an den Unterkapiteln keine eindeutige Zäsur oder Trennung. Sofort beim ersten Lesen fällt auf, dass es sich bei den Überschriften um Titel der Bildenden Kunst handeln könnte. Die Motive stammen erneut aus wenigen Bereichen: die Stadt, die Technik, der Körper etc. Vom dritten Teil finden sich nur vereinzelt Gedichte in dem späteren Zyklus wieder. Im Folgenden wird exemplarisch auf einige Texte eingegangen. Die Sammlung »Ein Wappenvogel« (wird an anderer Stelle »Ein Rabenvogel« genannt) besteht aus vierzehn Gedichten und 15 von Gruenter gemachten Fotos, die Motive ihrer Wohnung zeigen. Ein wiederkehrendes Motiv ist ein Wappenvogel aus Messing auf dem Regal, der leitmotivisch mit weiteren Fotos (u. a. des jungen Bohrers und Kathedralen in Frankreich) bzw. Büchern in der Komposition verbunden ist. »Der Wappenvogel« erinnert an das Gedicht »The Raven« von Edgar Allan Poe; die einzelnen Texte »spielen« zum Teil in London: »Nebel über der Themse/über die Brücke/fliegt keine Möwe/sondern der Rabe/an Türme/an Tower.« Der Rabe bzw. der Wappenvogel wird symbolisch für jemanden, der sogleich den Ort wie die Zeit verliert (»der Rabe wechselt/den Ort seiner Geschichte/wann – verliert sich in Nebel/und er zeigt seinen Flug/das Unglückszeichen/am Himmel/die Botschaft/aus den verbrannten Zonen/der Stadt.« Die Sammlung »Meerbilder« (Entwürfe) ist von Gruenter auf die Zeit vom 03.11.97–09. 02. 1998 datiert. Der Titel ist handschriftlich auf eine ClairefontaineKladde geschrieben und noch mal weiter in eine »Meeres-Anthologie« vom 03. 01. 1997–09. 02. 1998 unterteilt. Einige wenige dieser Gedichte sind mit eigenen Zeichnungen Gruenters versehen852 wie »Weiten«853, »Hafen«, »Becken von Le Havre«, »La Nuit«, »Herzflimmern«, »Quai«, »Côte des Grâce«, »Rede von Tod und Meer«854 sowie »Flaschenpost aus der Retorte« (vom 7. Februar 1998). Zudem finden sich Hinweise auf Debussys »La mer« und auf Mussorgskys 852 Das Meer oder Meereswesen wie eine Meeresjungfrau oder ein Seepferdchen, dazu sind auf der ersten Seite handschriftlich Begriffe geschrieben wie »Les Tableaux« oder »la mére grise (compositions des scenes)«. 853 Mit einer Zeichnung Gruenters als »Selbstbildnis am Strand«. 854 Es findet sich hier dazu ein Hinweis auf Eric Satie.

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»Bilder einer Ausstellung« und darauf, dass manche der Bilder in »Durch den Horizont. Ein Poem« – verwendet werden. Wie so oft sind die Titel Einworttitel; der Band ist in fünf Teile unterteilt: »I Abstraktionen (Wasserspiele)«, »II Bilder einer Ausstellung«, »III Etüde«, »IV Konklusionen (zu Lande) und Memoiren – Imaginationen.« Der 1. Teil enthält dann Titel wie »Das Meer (I–IV)«, »Flut«, »Weiten«, »Ein Ereignis in Trouville«, »Mole«, »Regen«, »Strand«, »Letzter Strand«, »«Le Havre, »Quai I – 18, II-19« etc. Der zweite Teil trägt in der Überarbeitung den Titel »Das Meer, die Düne« und wird durch »Seestern« und »Kuben« als Titel ergänzt. Der Teil III wird in der Überarbeitung zu dem angeführten Titel »Bilder einer Ausstellung« zusammengefasst mit Gedichttiteln wie »Der Himmel über dem Meer«, »Hafenbecken«, »Platz auf dem Meer« oder »Winterparade«. Unter der Überschrift »Konklusionen zu Lande«, dem späteren IV. Teil, liest man Titel wie »Stundenglas«, »Sterne«, »Tang I und II«, »Meerstern«, »Nachsaison«, »Côte des Grâce«, »Place St. Catherine«, »Brücke (Honfleur)«, »Kanalbild« oder »Café am Strand«. Schließlich beschriftet Gruenter diesen letzten Teil mit dem Titel »Küstenstädte«, woran sich der Prozess ihrer Arbeit ablesen lässt. Der letzte Teil (47 Seiten), schließlich Teil IV mit Texten unter dem Obertitel »Memoiren und Imaginationen«, setzt sich u. a. aus Titeln zusammen wie »Brücke nach…«, »Ein Skin am Strand«, »Kornfeld«, »Nachtschiff«, »Zur-See-Gehen«, »Saltimbanque«, »Wir sprechen über Fellini«, »Wasserspiegel«, »Das Meer und der Tod« oder »Fenster am Meer« zusammen. Die Titel sind nicht als reine Aufzählungen zu verstehen, sondern geben dazu die Orte und den Zusammenhang dieser wieder. Von neuem hat Gruenter einen Teil der sie umgebenden »Realität« zu einem künstlerischen Raum verdichtet, mit verschiedenen Motiven auf engstem Raum. Von den verschiedenen Entwürfen sind von den Konvoluten vor allem die Vorarbeiten zu »Durch den Horizont. Ein Poem« und unveröffentlichte, fragmentarisch gebliebene Entwürfe wie »Topographien und Flucht« (17 Seiten), »Trauerwände«, »Spurensicherung« oder »Babylon I–IV« zu nennen, wo vermehrt eine südfranzösische Stadt im Département Pyrénée-Orientale mit Namen Céret auftaucht.855 Auf diese Weise wird in den unveröffentlichten Gedichten von neuem die Verbindung zu geographischen Orten und künstlerischen Räumen hergestellt.856 Zudem geben die Titel Hinweise auf Gruenters immer wieder neu »zitierte« Motive, die gleich bleiben und sich doch verändern. Viele ihrer weiteren, sich im Marbacher Literaturarchiv befindlichen Gedichte, sind von ihr durchnummeriert worden. Auf den ersten Blick bestechen die Gedichte durch ihre Kürze, Kargheit und Prägnanz wie das Gedicht »Geschlossen« (numeriert: 10), das auf gewisse Weise als repräsentativ genommen 855 Die auch in den Erzählungen erscheint. 856 Raum gilt hier als das nicht Angefüllte, in der Gegenüberstellung von space und place.

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werden kann; erneut wird so ein Ort, hier der Flur, in den Mittelpunkt gerückt: »Am Ende/Des Flurs/Ein schmales Loch/In der Tür/Das mich belauert/Obwohl/ Der Schlüssel streckt.« Das Gedicht hat gerade mal sieben Zeilen und kommt mit 17 Wörtern aus. Fast alle Gedichte Gruenters dieses Zyklusses zeichnen sich durch Kürze (anders als ihre Prosa) und Lakonie (ähnlich ihrer Prosa) aus. Die Motivik weist ein Interieur aus, ein Zimmer, in welches sie durch ihre Krankheit in den letzten Jahren eingesperrt war. Es liegt etwas Bedrohliches in diesem Zimmer, in diesem Ausgang, in dieser Geschiedenheit von innen und außen, »ein schmales Loch, das mich belauert« (ebd.). Es dreht sich hier um den umgekehrten Blick, der Blick, der sich dreht, das »Schlüsselloch«, das zurückblickt.857 Es hat etwas vom Aufstand der Dinge, wovon die Moderne so voll ist, »Dinge tun aus Angst«, wie Rilke es genannt hat. Selbst wenn es nur wenige Stellen gibt, an denen sich Gruenter explizit auf Rilke bezieht, so liegt doch hier erneut die Analogie zu Rilke auf der Hand. Ähnlich wie er schöpft sie aus einer überschaubaren Anzahl von Motiven, die sie dann im Sinne einer Bricolage, in Anspielung auf Lévi-Strauss, immer neu zusammenbastelt.858 Es deuten sich hier darüber hinaus Motive der französischen Moderne an, etwa Baudelaires »Blumen des Bösen« oder jene Ästhetik des »Theaters der Grausamkeit« im Sinne von Antoine Artaud, auf den sich Gruenter wiederholt bezieht. Einmal mehr lässt sich festhalten, dass es sich bei dieser Lyrik um relativ wenige, wiederkehrende Motive handelt. Zum Teil könnte der Eindruck entstehen, es handele sich um ein Schreiben wie in und aus einem Zimmer heraus.859 Nicht zuletzt erinnert die Motivik von Licht und Gegenlicht und des sich daran festhaltenden Blicks. Diese Motivik des Sehens, des Blicks bzw. des Auges wird in dem Gedicht »Liebesgedicht« aufgenommen. Zugleich wird der Bedrohung nachgespürt, die damit verbunden ist, die zudem mit Erotik assoziiert wird, welche aber einem analytischen, sezierenden Blick ausgesetzt ist: »Liebesgedicht (von der Autorin numeriert, Ergänzung SW: 119) /Berührung. /Das einzige Organ ist mir das/Auge. Also heißt das/Bild grenzenloser/Hingabe: das Glied im Auge, in der/Pupille. (Gewaltsamkeit, die das empfindlichste/Organ im Überfall verwüstet, zerstört).« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Es finden sich wiederum Bilder des Verfalls, des Bösen, des Grausamen, die mit einer Art Ästhetik der Erotik verbunden werden: Motive vom Bild, vom Sehen und vom Angesehen-Werden. Insofern passt das Gedicht »Versuchung« in diese 857 Das Motiv des Blicks, das in der Phänomenologie eine so große Rolle spielte, etwa bei Merleau-Ponty oder bei Sartre in »Das Sein und das Nichts«, wo es der Blick des Anderen ist, der tötet, indem er das Selbst zum Objekt des Anderen macht (Sartre 101993, 474 und 477). 858 Vgl. Claude Levi-Strauss: Das wilde Denken. (Original 1962). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973. 859 Manches erinnert an Rilkes »Neue Gedichte« oder an den »Malte«-Roman, was erneut den Bezug zur Moderne verrät.

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Reihe, in Form einer Art von dargestellter (Auge-) Auto-Erotik bzw. einer Erotik, die mit dem »Schauen« in Verbindung gebracht werden kann und die mit Bildern wie Saugnäpfen und Fleisch fressenden Pflanzen verbunden wird: »Versuchung (29)/Im Spiegel/Bewegen sich die Pupillen/Wie Saugnäpfe/Fleischfressende Pflanzen/Gefängnis/Des eigenen Bildes.« (ebd.) Im Gedicht »Aufenthalt« sind es gleichfalls die Blicke, die mit anderen Körperorganen verbunden werden, Bilder im Raum wie Scheinwerfer und Wartesaal werden mit Bildern und Blicken in Verbindung gebracht. Diese »Anatomisierung des Blicks« lässt sich ebenso bei Rilkes »Der Panther« festzustellen. Insofern lässt sich hier eine Fortführung des Ästhetischen860 im Sinne der ästhetischen Moderne erkennen. Die Gedichte sind jeweils mit Zahlenangaben versehen, sie waren von daher offensichtlich doch zur Veröffentlichung bestimmt. Es gibt aber bis auf den Hinweis auf eine Veröffentlichung bei Suhrkamp darüber hinaus keine weiteren Anzeichen, dass ihre Veröffentlichung versucht oder beabsichtigt worden sei. Selbst in noch so kurzen Versen wird ein Ort, hier der Wartesaal, aufgerufen bzw. bemüht: »Aufenthalt (numeriert: 75) /Blicke/Traurige Scheinwerfer/Zerstoßen/ Im Wartesaal/Totes Fleisch.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Das nicht nummerierte Gedicht »Nähte, Stiche« erinnert an Stellen aus surrealistischen Werken, etwa von Dalí oder dem nach einem Werk Dalís in Zusammenarbeit mit Luis Bunˇuel entstandenen Film »Ein andalusischer Hund«, jenem Meisterwerk des Surrealismus von 1929, in dem in der berühmtesten Szene mit einer Rasierklinge ein Schnitt durch ein Auge gezogen wird. Es wurde schon darauf verwiesen, dass sich Gruenter, hierin den Surrealisten ähnlich, jeden psychoanalytischen Zugriff auf ihr Werk verbat. Dieser Schnitt wurde nicht nur inhaltlich, sondern vor allem formalästhetisch vollzogen und interpretiert.861 Im Grunde sind die Gedichte Gruenters stark von dieser besonderen filmischen Technik beeinflusst: Beobachten – Schneiden – Sezieren, sich dabei jeder Interpretation enthalten bzw. sich ihr entziehen. In diesem Sinne lässt sich das nächste Gedicht wie ein beinahe programmatisches ästhetisches Credo »verstehen«, angelehnt an den Surrealismus: »Nähte Stiche/Worte Bilder wie genähte 860 Unter dem Einfluss von Bohrers poetologischem Prinzip der Grausamkeit, aber auch dem der Plötzlichkeit. Vgl. Karl Heinz Bohrer, aber dazu: ders.: Imagination des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie. München: Carl Hanser Verlag 2004. 861 Vgl. Stefan Volk: Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute. Marburg: Schüren Verlag 2011, 43.«Der Schnitt, der in dieser legendären Eröffnungsszene das Auge durchtrennt, wird letztlich nicht vom Rasiermesser, sondern von der filmischen Montage ausgeführt. Auf geniale Weise verschränken sich hier Form und Inhalt: erst der Filmschnitt gebiert den Schnitt durchs Auge, der wiederum den Filmschnitt symbolisiert. Denn wie das Messer das Organ der Erkenntnis durchtrennt, so zerschneidet die Montage die narrative Kohärenz des Filmes. Und so wie der Mann seine Rasierklinge an das Auge der Frau legte, legten Buñuel und Dali ihre Klingen an das Auge des Zuschauers.«

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Wunden/Legen Spur im Zickzack der Stiche/Der schlechten Vernarbung/Worte Blicke/Immer kurz vor dem Platzen der Naht im Augenblick der Erkenntnis/ Stiche ins Herz der Augen/Worte Bilder verwachsener Tod.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Schließlich verfasst sie ein weiteres »surrealistisches Gedicht«, das den Traum sowie den »Sturz durch tiefe Schächte« zum Thema macht. Es berührt die verschiedenen Phasen und Ebenen des Schlafs, die Traumzonen, erneut in einer zum Teil surrealistischen Art, zu dem sich Gruenter im Gegensatz zur Psychoanalyse durchgängig bekennt, im Sinne jenes »anderen Ende« des »Märchens«, das niemals völlig aufgeschlüsselt werden kann: »Märchen/Jede Umarmung/ Ein Sturz/Durch tiefe Schächte/Auftauchen am anderen Ende/Des Traums (Schlafs).« (ebd.) Aus einem anderen Zyklus schließlich stammt das Gedicht »Sperrfrist«, das mit Untertiteln wie Krater (Stadt, Auge, Haut etc.) versehen ist. In diesem Zyklus sind weitere Motive miteinander verbunden, die eine zentrale Rolle im lyrischen Werk Gruenters spielen: die Stadt, das Auge sowie die Haut, oft miteinander verwebt. Das Motiv des Kraters verweist dabei auf das Verwüstete in vielerlei Schattierungen. Es bleibt nur die »Sperrfrist. I Krater Stadt/II Krater Auge/III Krater Haut.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Das Gedicht »Salome I« umspannt Räume und Handlungsfelder, die die Wahrnehmung leiten und zugleich begrenzen. Die Auflösung bedeutet »Entgrenzung«. Hier ist an einigen Stellen der Einfluss von Bohrers »Ästhetik der Grausamkeit« deutlich spürbar, den sie in einem Brief nicht völlig abstreitet. (vgl. Bohrer 2004862) Es wäre dennoch grundverkehrt und ist schon an verschiedenen Stellen verworfen worden, Gruenters Lyrik bzw. Werk mit der Optik Bohrers interpretieren zu wollen. Gleichwohl kommt man nicht umhin, Gemeinsamkeiten festzustellen, die sich aus ihrer gemeinsam verbrachten Lebenszeit und den miteinander geführten Gesprächen ergeben haben: »Salome 1/Hast/In Fetzen gerissen (zerrissen)/Grenzstreifen/Umspannt/Das Gebiet/Den Kopf des Fremden/Zwischen den Schenkeln/Gefangen im Grenzgebiet/Seiner Haut.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Dazu ist von ihr handschriftlich angemerkt worden: »Das Gesetz der Liebe ist nicht Verstehen. Die einzige Form ist der Mord.« Auf das Verstehen oder Verstanden-Werden in einem streng hermeneutischen Sinne ist es ihr nie angekommen. Martialisch wie zugleich analytisch konsequent klingt das Gedicht mit dem Motiv des Mordes als einem ästhetischen Phänomen aus.863 Des Weiteren spielt das Motiv des Todes in dem Gedicht Reise eine besondere Rolle, von neuem 862 Vgl. dazu: Karl Heinz Bohrer: Ästhetische Negativität. München: Carl Hanser Verlag 2002. 863 Vgl. hierzu: Thomas de Quincy/Gerhild Tieger (Hg.): Der Mord als schöne Kunst betrachtet. Ahlbeck/Heringsdorf: Autorenhaus Verlag 2004.

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verkörpert durch tote Zimmer, tote Dinge, in natures mortes, als Stillleben: »Reise Nachts/Sticht der Zeiger/In die schwarze stunde/Verschlossen in toten Zimmern/ Toter Dinge.« Mit einem Male ändert sich die Situation abrupt, was wiederum an »Epiphanien, abgeblendet« erinnert. Nochmals handelt es sich um Worte, das Auge, ein Bild und einen »Ort«, den »Rand der Nacht«: »Plötzlich fallen worte/ Auf meine haut/Wie glühende (nägel) zeiger/Blickt das auge/Über den rand der nacht.« (ebd.) Der Schluss des Gedichts scheint von neuem in einer Art Conclusio zu bestehen, wo viele Motive Gruenters komprimiert auftauchen: der Tod, die Dinge, das Gefängnis, das Meer, die Eisenbahn und »Fenster die sich verschließen«; es wirkt wie eine Art »Inszenierung des Abschieds«, wo der Tod in Zusammenhang mit Räumen wie den Gefängnis, toten Häusern oder verlassenen Türmen gebracht wird, was an den von Gruenter festgestellten »Verlust der Lebendigkeit« erinnert: »Im tod der dinge/Verbrachte ich mein leben/Im gefängnis der bilder/In toten häusern/An den küsten der städte/Im kalten sand/Unter verlassenen türmen/Wenn im november/Der schrei der möven/Über die schienen stob/Und grau die Fenster sich verschlossen.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Das Gedicht oszilliert von der Klein- zur Großschreibung und umgekehrt. Gruenter hat ständig an den gleichen Stücken gearbeitet: Mehrere Versionen befinden sich im Literaturarchiv, ein schmaler Band, an dem sie intensiv gearbeitet hat. Dazu tauchen die gleichen oder ähnliche Motive auf: das Zimmer, das Meer, das Auge, die Haut, Vögel oder verlassene Küstenstädte im Herbst zur Zeit der Nachsaison, was die Verlassenheit und die Leere weiter verstärkt. Sowohl die »große Stadt Paris« (als »Metropole«) als auch die Meeresbäder oder -orte sind verlassen, von Menschen entvölkert. Als wäre alles wie nach einer Apokalypse zerstört und nur Krater übergeblieben, der Krater Stadt, der Ort und Raum, der Ankunft wie Zustand zugleich bedeutet. (ebd.) In einem später notierten Gedicht, das mit der Nummer 46 überschrieben ist, in dem es um den Herbst, den Tod und die Blätter geht, zeigen sich weitere Parallelen zu Rilkes »Malte Laurids Brigge« und dem Protagonisten, jenem jungen Adligen, der sich wie ein Blatt vom Wind durch die Stadt Paris treiben lässt. Von neuem beginnt Gruenter bzw. das lyrische Ich mit der Beschreibung einer Lokalität, der Straßen, denen der Platz »folgt«, dann der Fluss, die Türme, die Gefängnismauern und das Auge, das wandert«. (ebd.) Das Auge des lyrischen Ichs haftet zudem auf einer Straße und am tiefsten Punkt der Wahrnehmung »46 (numeriert, Ergänzung SW) Die Straße Die Liebe Asphalt/Schwarz/Glänzend/Tot streifen blätter/Am platz Schritte/brechen den boden auf/unterm geräusch/des falls in dieser nacht/am fluß/türme/braun die gefängnismauern/ im blick treiben/plötzlich die augen/rot im fluß/der haut stürzen/im anblick wie räder/zer-

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schnitten/der nerv umschlungen/fallen weich die messer aus/den augen.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) In ähnliche Richtung tendiert im zeitlichen wie örtlichen Sinne das Gedicht »Rückkehr: Es sind hier die »Dinge« im Rilkeschen Sinne, die sich erheben, »Menschen entleert« und »einsam«, wie es wortwörtlich in dem Gedicht heißt. Es zeigen sich zum einen immer wieder von neuem Anspielungen auf die »Moderne« im Benjaminschen Sinne, die »Kräne« z. B., die vom Aufbau der Stadt aus Blech und Stahl zeugen, die aber während ihrer Tätigkeit in ihr Gegenteil umschlagen im Sinne der Erhebung der Dinge. Der »Ruinenschmutz« dient als »Asyl« der Kräne. Zudem spielt der Begriff des Asyls in diesem Zusammenhang erneut eine eminente Rolle, der seine umgekehrte Entsprechung im Begriff des Exils findet: Man geht ins Exil und es wird einem vielleicht, wenn man Glück hat, irgendwo Asyl gewährt. Gruenters Asyl war eher künstlerischer oder geistiger Art, ihrer Verwurzelung in der europäischen literarischen Moderne geschuldet. (vgl. Kap. 4.) Ihr musste niemand Asyl gewähren, sie empfand Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, als ihre Heimat, eine Heimat, die von jedem praktischen Realitätsbezug entbunden war. Dies ist hier im wortwörtlichen Sinne als Existenzstadium des Anthropos zu verstehen, des Menschen, der nirgendwo mehr Exil findet. Eine »Rückkehr«, wie das Gedicht paradoxerweise heißt, ist somit ausgeschlossen. Hier wird Paris als eine »Totenstadt« bezeichnet, deren »Kulissen mich mit mir zu sich zurück« bringen. Von neuem liegt hier die Parallele zum Beginn des »Malte Laurids Brigge« nahe, wo die Menschen »nach Paris kommen, um zu leben«, sondern wie es heisst: »Ich glaube eher, es stürbe sich hier.« Anders als Rilke »glaubt« das lyrische Ich bei Gruenter aber nicht an ein SichErheben über oder an ein wie auch immer zu verstehendes »Auferstehen aus den Ruinen« im Sinne eines wie auch immer gearteten »metaphysischen Gesangs« (wie zumindest beim späten Rilke). Es verbleiben nur die Spuren des Einschlags, hier des »Kraters« Stadt bzw. der Kraterlandschaft Paris. Die Motive sind ganz zielgerichtet gewählt: In der Krater Stadt sind jene Einschläge im Sinne des Einschlagkraters mitgerechnet, die verbleiben und woraus es kein Entrinnen gibt. Krater wird im Griechischen als Mischgefäß oder Becher bezeichnet, eine Bedeutung, die Gruenter ohne Zweifel gekannt haben muss. Es ist letztendlich die Stadt, die den Gebrauch und das Beieinander der unterschiedlichsten Dinge miteinander vermischt: »Rückkehr/Die leere regennasse stadt/Mit grauen häuserreihen/Hinterhöfen weiß/ Und stillgelegten parkplatzvierteln/Schlägt ins gesicht/Der einsamkeit/Da wächst aus dem gewitterhimmel/Ruinenschmutz asyl der kräne/Und plötzlich kehren die kulissen/Der totenstadt mit mir zu sich zurück. Krater Stadt.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) In dem undatierten Gedicht »Abreise« stößt man ebenfalls auf Motive der Moderne wie der Bahnhof, die Schienen, das Rollen oder die Schaufenster im

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Sinne der Passagen Benjamins, Bilder der Bewegung, die mit Bildern des »Stillstands«, aber eines »urbanen Stillstands« (wie das Schaufenster) kontrastiert werden. Häufig werden diese »Requisiten der Moderne« von Gruenter in einen Zusammenhang mit anatomischen Motiven gesetzt, wie das »Herz Schaufenster«: »ABREISE/Bahnhof/In den fenstern der züge/Schwimmen/Die schrecken des abschieds/Wie geträumte bilder/Zwischen den schienen/Die zeit/Rollt/Aus dem blick/Das Herz Schaufenster.« (ebd.) So findet sich dieses Verfahren in dem Gedicht »Vollstreckung«, dem ein Motto aus Mussorgkis »Bilder einer Ausstellung« vorangestellt ist: Sum mortuis in lingua mortua (Mit den Toten in der Sprache der Toten). Es ist dieser im wahrsten Sinne des Wortes der Verlust einer Lebendigkeit, die Abwesenheit von Leben, die in vielen dieser Gedichte Gruenters zu bemerken ist. Zugleich wird auf der anderen Seite kontrastiv dazu dieser Drang nach Leben, diese Gier, die sich im »Fressen der Hyänen bei Nacht« ausgedrückt, diesem Un-Leben und der Krankheit entgegengesetzt: »Vollstreckung 114 (numeriert, Ergänzung SW) /Sum mortuis in lingua mortua/Hyänen bei Nacht/Eingeweide zerfressen ausgebrannt/ Weißes Skelett bis auf die Knochen/Gerippe.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Diese Art, zur Untätigkeit verdammt zu sein, empfindet das lyrische Ich wiederum als eine Art Gefängnis, aus dem es sich befreien möchte, einem Gefangenen gleich, worüber ein Satz im Gedicht »Bei Tag« vorangestellt ist. Ohne hier zu biographisch werden zu wollen, so lässt sich vermuten, dass diese Schärfung der Sinne durch die Krankheit Gruenters und ihr An-den-Rollstuhlgefesselt-Sein, gefördert wurde, wobei offen bleiben muss, da undatiert, aus welcher Zeit dieses Gedicht stammt: »Ein Gefangener reißt aus, indem er gerade an der Stelle, wo er hingerichtet werden sollte, über die Mauer springt.« Zum wiederholten Male wird hier das Gefängnis, der Unort, thematisiert, ebenso die Straße, die dagegen als Befreiung erahnt und empfunden wird, und zudem der Körper, der auf diesen Zwiespalt reagiert. Die Orte werden körperlich nachempfunden und auf diese Weise im Gedicht beschrieben. Überhaupt liegen in einigen dieser Gedichte Gruenters Körper und Ort bzw. das Körperliche wie das Örtliche nicht weit voneinander entfernt. Dazu wird die Verbindung der Sinnesorgane und des dargestellten Raums verdeutlicht, der zum einen durch Gitterstäbe begrenzt wird, zum anderen durch das Auge oder andere Sinnesorgane zur Straße hin erweitert ist: »Bei Tag/Versammlung der Kopfjäger/Lästerliche Askese/Und immer das Pochen in den/Gitterstäben/Das Loch in der Tür/Aufgerissen starrt in die Zelle/Die sich öffnet/Wie ein Bauch tief unten/im Schacht/ der Straße das Dröhnen/eines rasenden Motors überschwemmt/an den Wegrand geworfen/zerfetzt.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Es scheint nicht vermessen, in diesem Zusammenhang von einem »poetischen Raum«, einem Raum innerer Freiheit und persönlicher wie künstlerischer In-

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itiative (Augé 2016, 102) zu sprechen, der in der Konfrontation unterschiedlicher Orte im Innen wie Außen geschieht. Dieses Gedicht erinnert darüber hinaus an die Beschreibung des »Dispositivs« bei Foucault im Werk »Überwachen und Strafen«.864 In Gruenters Gedicht ist die Erfassung des Menschen in einen kontrollierten Bereich bereits vollzogen, es werden keinerlei Fragen mehr gestellt, wie es dazu kam. Die Radikalität ihres Schreibens kommt hier deutlich sichtbar zum Ausdruck, etwa in dem Bild des Kurzschlusses des Stromkreises, was an Stromstöße erinnert. Jeder Versuch, in den eingefriedeten Bereich hinein oder aus ihm heraus zu kommen, bleibt zum Scheitern verurteilt. In dem längeren Gedicht »Die Jagd des Augenscheins« werden diese Motive von neuem aufgenommen. Dabei spielen »Requisiten« wie die Interieurs der Zimmer bzw. die Architektur sowie der Aufbau des Raums eine bedeutende Rolle. Martialische Bilder der Jagd werden aufgerufen, Spuren des Heroischen zu legen, aber dies geschieht nie zum Selbstzweck und ist zum Teil sogar mit dem Makel des Verlusts belegt. Es handelt sich beispielsweise um »Wäsche und Kleidungsstücke«, die von der Decke hängen, als die letzten Spuren menschlichen Daseins gleich zu Beginn. Im Verlaufe des Gedichts kommt der »nackte Körper« der Frau ins Spiel, der aber ummauert, umkleidet, jeglicher Lebendigkeit oder Funktion enthoben zu sein scheint. Die Augen, die schauen wollen, die kein Licht mehr sehen, oder die Nacktheit werden allein um ihrer selbst willen gesucht: »Die Jagd des Augenscheins (65, numeriert, Ergänzung SW)/I Wäsche und kleidungsstücke/Hängen von der decke/Wie gehenkt/Eine zinkbadewanne/Steht gefüllt in der ecke/Regloser wasserspiegel/Nackte ziegel/Bauen die wände/Wie die öffnungen nach außen/Mit ummauerten fenstern/Umkleiden/Den nackten körper der frau/Ohne licht/Mit dem geschlossenen raum/Der nacktheit.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Im zweiten Teil wird von den »Zerstückelungen des Körpers« gehandelt, das Motiv der Nacktheit wird aufgenommen, dazu das Motiv des Schauens, des Betrachtens; wieder sind hier die Parallelen zu Rilke evident: »Ich lerne sehen.« (Rilke 1966, 111)865 Aber nochmals ist es nicht die Direktheit oder Unmittelbarkeit der Vor-Moderne, die daraus spricht. Mit dem Begriff der Krankenge864 Mit dem Untertitel: Die Geburt des Gefängnisses aus dem Jahre 1975. Ein Werk, das Gruenter in Vertreibung aus dem Labyrinth erwähnt, VL, 71; »Überwachen (und Strafen…und Wegschließen und…Variationen) standen am Horizont.« 865 Vgl. Rilke (1966), 111: »Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. […] Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher.«

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schichte,866 der Beschreibung der Krankheit, kommt wiederum jene Mittelbarkeit der Moderne mit ins Spiel: »II ein nackter körper/zerstückelt von der zeit/im augenblick/des betrachtens/auge in auge/blind/vom blicken ins blicken/teile/ setzen sich zusammen/wie eine krankengeschichte/im kopf/zum bild des körpers.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Im 3. Teil schließlich wird ein weiteres Mal das Motiv des Spiels aufgenommen, »die Architektur des Bewusstseins«. Fast im Sinne von René Magrittes ästhetischem Prinzip wie »Ce n’est pas une pipe«, werden mögliche Assoziationen oder Begrifflichkeiten zurückgenommen: Das ist kein Akt, kein Aktbild, um die Bilder in ihr »Recht zu setzen« und jede begriffliche Vereinnahmung von Bildern zurück zu weisen, selbst wenn uns die Phänomenologen gelehrt haben, dass dem Bewusstsein nicht unintentional erscheint oder nichts uninterpretiert darin eingeht. Es verbleibt im Horizont des Spiels, des ästhetischen Scheins im Schillerschen Sinne, aus dem man jederzeit austreten kann und dann die Spielregeln nicht mehr zu befolgen hat. Schließlich leuchtet ständig von neuem Gruenters Reserve gegenüber jeglicher Art »realistischer Vortäuschung« auf: Das Gedicht verbleibt im »Spannungsgeflecht zwischen Differenz und Korrespondenz«. Diese Spannung – und davon war Gruenter überzeugt –, ist niemals auflösbar, wozu anzumerken ist, dass sie den auch in vielen ihrer Gedichte umgesetzten ästhetischen wie philosophischen Überzeugungen nie abgeschworen hat. Bestimmte Grundüberzeugungen haben sich dabei durchgehend erhalten wie das Primat der Kunst, so dass in diesem Sinne von einer Art »Entwicklung« in ihrem Werk kaum die Rede sein kann: »III Das spiel/Mit der architektur des bewusstseins/Nährt sich/Aus verknüpfungen/Verstellungen von nacktheit:/Wäsche badespiegel.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Auf diese Weise klingt dieses Gedicht dann im vierten Kapitel wie folgt aus: »IV Keine vortäuschung/Einer realistischen abbildung vertikal gebaute folge/von fünf gerahmten bildteilen/ segmente einer körperpyramide/von fuß bis kopf/ die formate der bildrahmen/in analogie/zum umfang/der einzelnen körperstücke/bild im bild./dies ist kein akt./ Das abbild ist nicht/Das abgebildete.« Das lyrische Ich betont die »Vorstellungsbilder« oder »neugespannte Vorstellungsnetze« und der von Breton bekannte Begriff der »Konvulsion« wird betätigt. Wiederum greift sie auf Bilder des Zerfalls zurück, auf »zerstückelte Bilder« und »Begriffsschalen«, die neue, geheime Verbindungen erzeugen, welche körperliche Reaktionen hervorrufen. Dazu ist der »Moment der Geistesgegenwart im sinnlichen Vexierspiel« von herausragender Bedeutung. Jemand, der so wahrnimmt – und um nichts Geringeres als um ein neues Sehen oder eine neue Wahrnehmung geht es hier –, bezeichnet sich als »einen Jäger des Augenscheins«: »Körper dinge gefühle/Zei866 Ergänzung Susan Sonntag: Über Fotographie. Aus dem Amerikanischen von Mark, W. Rien und Gertrud Baruch. (Erstausgabe 1980). Frankfurt/M.: Fischer 122000).

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ten räume/Zerstückelt/Fragment des augenblicks/Chiffren der totalität im bruchstück/Worte wie umarmungen/Setzen explosionen in umlauf/Gegen geschlossene räume der eindeutigkeit.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Dieser »Jäger des Augenscheins« ist zugleich »ein jäger der lüge/Besessen vom spiel der wiederholung/In der architektur der täuschung« (ebd.), welche die Identität der Verwandlung festlegt, in diesem Sinne ohne festen Ort, festen Namen, feste Identität oder festes Sein: »Durch die der wind namen fegt./Namen sind spielregeln/Im code des allgemeinen/Durch die jagd des augenscheins/ Enthüllt verhüllt/Mit festen grimassen. Lichtbeben/Folter des Lichts.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Als eine Anspielung auf Edgar Allan Poe ist das Poem »Ein Rabenzyklus«867 mit folgenden titelgebenden inhaltlichen Schwerpunktsetzungen zu verstehen: Ein Wappenvogel, Liebeslied, Im Turm, Im Wald, Emblem, Hinterlassenschaft, Richtstätte, Allegorie, Nest, Netz, In der Vorstadt, Wiegenlied, Geschlossen oder the Air of Gothic Garden. Die meisten der Bilder zeigen einen halbwüchsigen wie zugleich großen vergoldeten Raben in einem schwarzen (oder hellen) »Raum«, der eine große Leere ausstrahlt. Das viel zitierte und rezipierte Gedicht Poes erzählt die Geschichte von einem verlassenen Liebhaber und dessen »Liebeslied«, der von einem Raben besucht bzw. heimgesucht wird, von grau schwarzen Rabenträumen/und aus den Wolken fällt, die novembrig sind in/aus Nebeln und Flüssen/Himmeln und Steinen/In London Paris/Fliehen sie ihr Großstadtgefieder/fliegen sie/aus englischen Vorstadthotels/herüber nach Deutschland […] als »Visionen des Untergangs.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Es finden sich jede Menge weiterer Anspielungen auf konkrete Stellen und Orte (Topoi) aus dem Gedicht »Der Rabe«/»The Raven« von Edgar Allan Poe: Dazu bemerkt man ein Bild, ein Bücherregal, auf dem ein vergoldeter Rabe sitzt, eine Ausgabe von Bernhards »Auslöschung«, Bohrers »Die Ästhetik des Schreckens« und »Nach der Natur«, ein Foto von Bohrer mit Jackett und Baskenmütze und einer Tragetasche vor einer Kathedrale, versehen mit dem Text: »Netz. Rabe vergangen/im Netz der Sprache/blinder Flügelschlag/in den Maschen/nistet/ noch gestern/im Schatten der mauern/nicht in den Wipfeln/englischer Eichen/ bald -/ruht auch er/in den imaginären gärten/der Sprache/ In der Vorstadt (durchgestrichen Asnières). Dieser Novembervogel scheint biographisch von der Autorin mit Bohrer in Zusammenhang gebracht zu werden: »Novembervogel der Rabe/Ich traf dich einst in Asnières/Am Bahnhof die Uhr/Stand auf Postmoderne […].« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Die Lyrik) Außerdem befindet sich darüber hinaus im Archiv eine Sammlung: »Meerbilder« (Entwürfe) Datierung von Undine Gruenter: 03. 11. 1997–09. 02. 1998 (1/ 867 Vierzehn Gedichte und 15 Fotos, ohne Zeitangabe.

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3), wo die Autorin eine Verbindung zu Debussy (auch zu Ravel), unter Einbezug des Werks »La mer«, herstellt. Leider ist diese Sammlung nur in Überschriften erhalten geblieben, es gibt dazu keine weiteren Texte im Marbacher Archiv. Deutlich wird aber zum einen ihre Vorliebe für Motive des Meers sowie andererseits für die »moderne Mittelbarkeit« der Darstellung, so dass sie, bezugnehmend auf Debussys »La Mer« wie auf Edgar Allan Poes »Raven«, schreibt. (ebd.)

5.5.2. Vereinzelte Fragmente dramatischer Versuche Vom dramatischen Werk Undine Gruenters ist posthum bislang nichts veröffentlicht worden. Im Marbacher Literaturarchiv liegt ein unveröffentlichtes Typoskript bzw. eine Kopie eines Dramas mit dem Arbeitstitel »Meerwasser-Worte«, das auf Mai 1998 datiert ist. Außerdem existieren noch zwei weitere Typoskripte bzw. Kopien: »Ein Ort in der Arena« und »Tod eines Seifenäffchens«. Darüber hinaus scheint das unveröffentlichte Drama »Offene Anstalt« in Handschrift und als unveröffentlichter Entwurf für das Werk von besonderer Bedeutung. Das Stück ist insofern als Werk bemerkenswert, dass es vermutlich von der Autorin auf das (Früh-) Jahr 2000 datiert ist868 und nichts mit Frankreich oder Paris zu tun hat, sondern in einer (Reha-) Klinik in Süddeutschland spielt. Gruenter nennt das Stück im Untertitel prospektiv eine Groteske über eine »Welt, die von den Kranken und Krüppeln« beherrscht wird, so der beigefügte handschriftliche Kommentar. Dazu verweist der Namen des Protagonisten, Jean Arto (auf diese Art geschrieben), eines kaputten »Genies« und arbeitslosen Schauspielers, der von Doktor W. und Schwester Floral flankiert wird, auf die »groteske Atmosphäre«. Dies würde noch einmal ein Indiz für Gruenters Fähigkeit zu einer bestimmten Art von Humor, der Parodie oder Groteske, bedeuten. Es existieren daneben weitere handschriftliche Anmerkungen zu Thomas Bernhards Werk »Die Macht der Gewohnheit« und zu Schillers Opus »Das Mädchen aus der Fremde«. Offensichtlich hatte Gruenter schon einen Großteil des Stücks geschrieben, der sich aber nicht mehr auffinden lässt.869 Was auffällt ist die sehr genaue Bühnenanweisung, so dass man davon sprechen kann, dass die Autorin künstlerische Räume diesmal ganz im Sinne Lotmanns beschreibt, der diese Konzeption zunächst für das Theater entwickelt hatte: »Eine große Halle in einer Klinik in Süddeutschland. Jede Szene – im Ganzen vier – spielt in einem anderen Teil der Bühne, während die übrigen im Halbdunkel liegen. Die 868 Gruenter datiert die Vorarbeiten vom 27. Mai an, den Beginn terminiert sie auf den 3. Juni. 869 Sie nummeriert die Teile wie folgt: Teil 1, 1 bis 50, Teil II, 51–59, Teil III, 60–90 und Teil IV 90– 100.

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Halle ist weitläufig, die Säule in der Mitte gigantisch. Sie mündet am Plafond in strahlenförmige Holzbalken. Der Plafond ist aus Milchglas, weißgrünlich getönt, indirekt beleuchtet. Die Klinik ist vor kurzem gebaut. Ein grün gelacktes Eisengeländer trennt den höher gelegenen Teil der Halle vom niedrigeren. Das Geländer – postmodern, historistisch – besteht aus gedrehten Säulen mit Kugelaufsätzen. Die Architektur ist funktional, weder intim noch luxuriös, spielt mit dem Mythos eines öffentlichen Versammlungsortes. […] An den Ausgängen stehen hohe Stelen, wild bemalte Figurinen. […]. Überall leere Rollstühle, Krücken, Rollatoren. Sie sollen nicht pittoresk oder allegorisch wirken. Auf der Bühne wird kein barockes Trauerspiel gezeigt. Auch: Kofferkulis mit Münzen.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Dramatisches)

Als Bühnenbild wird von der Autorin eine Art antiker Säulensaal mit einem steinernen »Brunnenbassin«, ein »Podest«, eine »Emporenwand« oder ein »Relief aus weichem Sandstein« und das »aufgerissene Maul eines Augers« gewählt, zugleich aber »Couchtische, spießiges Grün, Schwedenholzarchitektur«. (ebd.) Damit ist vom Bühnenbild her der Kontrast, die Verzerrung im Sinne der Groteske, angedeutet. Leider blieb das Werk wortwörtlich in den Anfängen stecken. Es findet sich noch ein Hinweis auf die Zitate, die aus Artauds Werk »Briefe aus Rodez/Postsurrealistische Schriften«870 stammen. Die Dialoge sind eher nicht handlungsbefeuernd, sondern erinnern mehr an Dialoge des Nouveau Roman oder von Beckett- bzw. Ionesco-Stücken.871 Die Personen rekrutieren sich aus Silvia Plass, Elvira Jelly, Victoria Bülow, Jean Arto, Doktor Wyss und einem Patientenkollektiv, »in allen Szenen im gesamten Bühnenraum verteilt, manchmal zu zweit oder zu dritt zusammen: Zeitung lesend, Postkarten schreibend, im Kaffee rührend etc.« »Victoria Bülow, ins Publikum: Reden wir von etwas Erfreulicherem. Zu Doktor Wyss: Der Hagebuttentee, Doktor, der Hagebuttentee, der abends auf unseren Tischchen steht, ist […] köstlich, köstlicher als all die Tees, die in Jahrzehnten meine Nachmittage begossen. Die meinen Suff verbargen, meinen angeblichen Suff, denn im Grunde sind es nur Legenden. Legenden um Tees, Earl Grey, das war meine Marke mit Whisky, Rum und Cognac. Journalisten […] müssen trinken, so ist ihr Ruf, kein Artikel ohne Flasche auf dem Schreibtisch, und schreibende Frauen, aus deren Teedämpfen hochprozentige Gerüche steigen, wirken exzentrischer. Es scheint, Exzentrizitäten sind wieder in Mode […] und Journalistinnen wie Djuna Barnes, deren nach Whisky stinkender Rachen noch mit neunzig Gesprächsstoff bleibt – oder sie, wenn schon nicht ihre Nachtgewächse. Doktor Wyss: Es war nur ein Vorschlag […].« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Dramatisches)

870 Antonin Artaud: Briefe aus Rodez. Postsurrealistische Schriften. München: Matthes & Seitz 1979. 871 Man könnte sie für Figuren in einem Stück der französischen Schriftstellerin mit jüdischiranischen Wurzeln Yasmina Reza halten.

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Bei den anderen dramatischen Entwürfen handelt es sich ebenfalls jeweils nur um die Anfänge, so dass davon auszugehen ist, dass diese Werke wohl nicht mehr beendet wurden und nicht zur Veröffentlichung gedacht waren. Dennoch geben bereits diese dramatischen Anfänge bzw. Fragmente Aufschluss über zentrale Motive, Denkfiguren bzw. ästhetische Konzeptionen im Werk Gruenters. Das erste hat den angemerkten, bezeichnenden Titel »Meerwasser-Worte«. Gleich die Regieanweisungen sind von Bedeutung und weisen das Stück als in eine bestimmte Reihe von Gruenters Werken gehörend aus. »Autor: Zwei Frauen. Zwei Frauen, am Meer. Zwei Frauen sitzen, in Liegestühlen, am Meer. Am Rand des Strandes. Das Meer ist weit. Sie sitzen mit dem Rücken zum Autor, zum Zuschauer. Die Bühne ist hell, grau wie der Himmel, über dem Meer. Zwei Frauen, die sprechen. Dialog? Sie sprechen. Fragmente. Gegeneinandergesetzt. Kein Dialog. Kein Trialog. Ein Autor, mit zwei Figuren.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Dramatisches)

Das Typoskript ist mit weiteren diversen Anmerkungen versehen, die aber zum Teil schwer entschlüsselbar oder sogar durchgestrichen sind bzw. ergänzt werden müssen. Immer wieder erscheint dazwischen durchgestrichen »un temps«. Erneut spielen Träume eine exponierte Rolle. Dazu erkennt man Gruenters »Schreibtechnik«, über »überpräzise« bzw. zum Teil »hypergenaue« (um im Wort des Hyperrealismus zu verbleiben) Beschreibungen symbolische bzw. allegorische, manchmal emblematische, Beziehungen, herauszuarbeiten. Das Fragment ist zum Teil wie ein programmatisches Manifest zu lesen, bei dem sich der Autor in die Handlung mit »einmischt«, im Sinne der Vermischung von Referenzebenen. Zum anderen lassen sich die Bühnenanweisungen als poetische Prosastücke lesen, die noch in ihrem Fragment-Charakter über Ganzheit verfügen.872 In den Ausschnitten ist jene Verschiebung von Referenzund Realitätsebene zu beobachten: die unterschiedliche Anschließbarkeit realer, natürlicher Phänomene wie Flut bzw. Artefakte wie Liegestühle oder weite Staubmäntel respektive abstrakter Begriffe (wie Kindheit) wie intertextuelle Anspielungen auf Stücke Tschechows: »Autor: Meerwasser, Flakons. Worauf warten sie, in ihren Liegestühlen. Auf Kindheit, auf Flut? Da – sitzen sie vor mir, sitzen tief in den niedrigen Liegestühlen, zwei Frauen in weiten Staubmänteln, in zwei hölzernen Liegestühlen, die mit Leinen, mit Nessel bespannt sind. Stoff – der Winterbezüge in verlassenen Häusern aus Tschechows Stücken.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Dramatisches)

872 So wie es in fast allen Werken Gruenters ist im einzelnen kleinen Stück meistens schon das Ganze enthalten, es gibt in diesem Sinne keine »Entwicklung«; vielleicht könnte das der Grund sein, weshalb sie sich mit dramatischen Stücken, die geradezu von einer Entwicklung leben, schwer getan hat.

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Der Raum wird jetzt zum einen auf den ganzen Bühnenraum ausgeweitet, zum anderen intertextuell auf Werke Tschechows bezogen. In der darauf folgenden »Erwiderung« im Dialog setzt sich dies fast umgangssprachlich fort. Der Unterschied zwischen Autor als Autor sowie als Figur und Teil des Stücks wird verwischt oder verflüchtigt, um im Bild zu bleiben, zudem »Dinge« verbunden, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben: Glasflakons (künstliche Dinge), Meerwasser, Muschel, Steine als »natürliche« Dinge, Erinnerung, Sommer, Ferien, lange Winter, Monate der Dunkelheit oder der Geruch des Meeres verbleiben als Abstrakta oder Bilder und werden zusammengefügt. bzw. synthetisiert. Schließlich kann sich die nicht weiter bezeichnete dramatis persona nur noch ins somnambule Stammeln flüchten: »NS.: aber wie … kommen die Glasflakons … in meine Träume … war es verboten … sie anzurühren … nahmen wir wirklich Meerwasser mit … nicht Muscheln, Steine … Erinnerung an den Sommer … die Ferien … und rochen daran … in den langen Wintern … Monaten der Dunkelheit … wie roch es … bis der Geruch verblasst … verflüchtigt … Meerwasser.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Dramatisches, im Original mit diesen Auslassungszeichen, Ergänzung SW)

Schließlich gibt die »Antwort« einer weiteren Figur mit den Initialen M.D. von neuem einiges über die versuchte »Bricolage« im Sinne von Levis-Strauss als »surrealistisches Play« preis, indem sie thematisch unverbundene Elemente zusammenfügt wie: Lorbeerbäume, Kinder hier an der Küste, Kinder bei Regen oder Schwarzes Meer. Im Original sind die Begriffe unterstrichen. Überhaupt sind die Substantive hier »handlungstragend«. Es wird wiederum mehr gesprochen, behauptet, kommentiert, als »gehandelt«873: »M.D.: Kleine Natascha … hattest du Lorbeerbäume … wie die Kinder hier an der Küste … Kleine Natascha … singst du … wie die Kinder bei Regen … hier singen am Strand … Schwarzes Meer, schwarzes Meer / gibst du es noch einmal her […]«. (ebd., im Original mit diesen Auslassungszeichen, Ergänzung SW) Darüber hinaus ist von diesem »Fragment« nichts erhalten. Es ist davon auszugehen, dass Gruenter es unvollendet ließ. In den Dokumenten wird von Gruenter auf motivische und inhaltliche Nachbarschaft zu den Gedichten hingewiesen wie im nächsten erhalten gebliebenen Fragment: »Dabei: Gedichte: – Fenster im Wasser etc., vorne im Block, Datierungen von 1998, evtl. Bezug zu Meerbilder Absinth-Farbe, hinten im Block. Datierung 4. 7. 1998, evtl. Bezug zu Meerbilder. Die Halle mündet unten links, oben auf der Empore rechts und geradeaus in einen Gang«. (ebd.)

873 Wie sonst im klassischen Drama nach der »Poetik« des Aristoteles.

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Interessanter Weise sind zwei der Stücke, das gerade behandelte874 sowie »Tod eines Seidenäffchens« auf das Jahr 2000 datiert, letzteres: Dezember 2000. Im zweiten Stückfragment geht es um die Geschichte von Oscar Wilde, zunächst im Alter von 40 Jahren, nach dem Prozess gegen Queensberry und im Alter von 42 Jahren, kurz vor der Entlassung aus Reading Goal. Besonderen Wert legt die Autorin als »Dramatikerin« diesmal auf die Beschreibung der Kostüme, sowohl von Oscar Wilde in verschiedenen Altersstufen als auch von jenen anderen Figuren, seinen Alter-Egi Sebastian und Melmoth875: »Oscar Wilde: 40 Jahre, kurz nach dem Prozeß gegen Queensberry. Lange, über den Mantelkragen fallende Haare. Offener, eleganter dunkelgrauer Mantel mit Samtkragen. Darunter gerade dunkle Hose. Jacke und Weste in tief bordeauxfarbenem, fast schwarzem Samt. Um den weißen Hemdkragen ein resedagrünes Seidentuch zur Krawatte geschlungen. Straßenschuhe, schwarz, knöchelhoch. Großer ovaler Wappenring auf dem Zeigefinger. Ebenholzstock mit Silberknauf.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Dramatisches)

Das Stück spielt im Hotel d’Alssace in Paris, »Rue des Beaux Arts, um 1900. Nachmittag, gerade noch taghell«. Erneut ist die Beschreibung der Bühnenbilder exponierter als die Handlung: »An der Stirnseite ein hohes, zweiflügeliges, französisches Fenster, Kreuz und Rahmen weißgestrichen, keine Vorhänge. Hinter dem Fenster der Hof mit naher, dichter Efeuwand. Rechts vom Fenster ein rechteckiger, kleiner, dunkler Tisch mit Schreibutensilien und roter Lampe mit Messingfuß. Davor ein Schreibtischsessel, hart, mit Lehnen aus dunklem Holz. An der Wand links vom Fenster ein schmales Messingbett mit Überdecke. Kopfende neben dem Fenster. An der rechten Hand, etwa in halber Höhe des Betts beginnend, eine niedrige Truhe aus dunklem Holz. Darauf eine kleine Silbervase mit grüner Nelke. Karaffe und Gläser. Aschenbecher. Davor, an der Wand, ein tiefer Sessel. Halb ins Zimmer gedreht, Ein ähnlicher an der Wand gegenüber, am Fußende des Bettes. Darüber Wandlampen. Rechts und links in der Wand eine schmale Tür. Die linke führt auf den Hotelflur. Die rechte geht in ein kleines Kabinett mit Kleiderstangen und Waschtisch.« (ebd.)

Die Erzählerin nennt als die Grundtöne des Stücks – wiederum wird der Einfluss der Bildenden Kunst deutlich: »Weiß – Grau – Sumpfocker – Paketpapier – Braun – vergilbtes Elfenbein und Schwarz«. (ebd.) Gerade bezogen auf ein Stück über Oscar Wilde erscheint die Beschreibung der Interieurs von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Dagegen wirken die Dialoge auf den ersten Blick banal und nichtssagend: »WILDE, im Sessel neben der Kommode sitzend: Wo sind die Gurkenbrötchen. HELMOTH, schlechtgelaunt, angezogen auf dem Bett liegend: 874 Von Gruenter an den Rand notiert: »[…] geschrieben 3. Juni bis 26. Juni, Korrigiert: 5. Juli bis […] Juli. 875 Oscar Wilde nannte sich nach seiner Haftentlassung Sebastian Melmoth.

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Der Boy wird sie vor der Tür abgestellt haben. Pause. Drei von uns möchte niemand bedienen. Das ist die heutige Form von Takt.« (ebd.) Und schließlich tauchen im dritten und abschließenden Fragment »Ein Ort in der Arena«876 von neuem zwei bekannte Persönlichkeiten des französischen Geisteslebens auf, nämlich Simon de Beauvoir (im Stück als »Schriftstellerin« bezeichnet) und Jean Paul Sartre (analog dazu: »Schriftsteller«).877 Das Stück spielt – wie könnte es anders sein – im Café de Flore in Saint-Germaine des Près in Paris, wo sich Beauvoir und Sartre oft aufhielten, in der Zeit um 1940: »Zwischen drôle de guerre und Okkupation« ist es überschrieben. Abermals spielt die Bühnengestaltung eine zentrale Rolle: »Ein leeres Café, hellerleuchtet. Spiegelwände, Wandlampen aus geschliffenem Glas, Stil Art Deco, Mahagoni-Tische und – Stühle, klein, quadratisch, lackiert, rote Lederbänke an den Wänden. Strahlendes, fast blendendes Licht. Leere. Als ob die Mitternachtsgäste gleich den hell erleuchteten Saal stürmten. Links in den Kulissen, hinter der Theke, ein Kellner mit weißer Serviette. Die Fenster sind angestrichen, mit blauer Farbe, verdunkelt. Paris unter der Okkupation. In einer Ecke sieht man plötzlich ein Glas auf einem Tisch mit einer Flüssigkeit, ein grünlicher Cocktail mit einer roten kandierten Kirsche. Eine Frau sitzt dort am Tisch, ihre völlig weiße Kleidung bekommt langsam Farbe, während sich die Beleuchtung verändert. Sie trägt einen Turban und schreibt auf einem Stapel Papier.« (DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Dramatisches)

Im nun beginnenden Spiel wird die Situation im Café zum Thema gemacht, das nach außen abgedichtet ist und zugleich »hell« erscheint. Das Café, das Beauvoir und Sartre so liebten, in denen sie ganze Tage verbrachten und das bis heute ihr Lieblingsgericht »Welsh rarebit« anbietet, einen Toast mit geschmolzenem Cheddar-Käse, war ihr Ort der Zuflucht, ein Ort der Sicherheit und erhielt auf diese Weise seine besonders exklusive Bedeutung. Insofern spielt das von Gruenter angefangene Stück fast folgerichtig in diesem Café. »BEAUVOIR: Wie hell es ist. Wie leer [handschriftlich eingefügt, Ergänzung SW], wie hell dieses Café wieder ist, seitdem sie die Fenster verdunkeln. Das Café, abgedichtet, nach außen. Vor ein paar Tagen noch schrieb mir Sartre: ›Es tut mir sehr leid, dass ihre kleine Querencia, das Café de Flore, geschlossen ist.‹ Keine Ausflucht mehr. Kein Ort der Zuflucht. Geschlossen. Wir haben das Wort querencia aus der Sprache des Stierkampfs übernommen, aus Hemmingways Buch Tod am Nachmittag, querencia hieß für uns, ob wir getrennt waren oder nicht, ein Ort der Sicherheit. Ein Tisch, ein Café, Ruhe im Sturm, in Marseille, in Rouen, in Le Havre. KELLNER (aus der Kulisse): Ob wir 876 Typoskript, Meerwasser-Worte Typoskript-Kopie, Handschrift. Entwurf, Datierung von Undine Gruenter: 25.10. bis 1.11. Ein Ort in der Arena. Ein Stück. Lag bei: Tod eines Seidenäffchens Typoskript Meerwasser – Worte, 2. Typoskript-Kopie. 877 Zusammen mit einem Kellner, der »Autodidakt« genannt wird. Für Sartre war der Kellner eine wichtige Figur, auch in Gestalt des Anderen. Vgl. auch: Jean Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg 101993: Rowohlt.

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getrennt waren oder nicht. Ein Glas fällt hin. Klirren. Er singt: Some of these days. You’ll miss me honey.« (ebd.)

In einer fast realistischen Schilderung stellt Gruenter die Begegnung der beiden in dieser Lokalität dar, sowie ihr Verhalten, das mit von der Einrichtung geprägt wird. Dazu spielt der Kellner die »Rolle des Dritten«, des Fremden, des Anderen, der aber hier vertraut ist, beinahe wie mit zum Inventar gehörend.878 »Sartre betritt das Café, die Portieren schlagen hinter ihm zusammen, Eingang übereck, rechts vorn an der Bühne, er geht nach links, in Richtung zur Treppe, die zu den Telephonen führt, sieht dann Beauvoir, geht zum Tisch, legt die Pfeife ab. Setzt sich. SARTE, ruft. Einen Doppelten, bitte, mit Eis. KELLNER, aus der Kulisse. Murmelt: Einen wie in Zeitalter der Reife? Laut. Das Café ist geschlossen, Monsieur Sartre: Mon amour. Pause. Mein Castor. Pause. Das sind die Namen, die ich Ihnen gebe, die über meinen Briefen stehen. Meinen Briefen […].« (ebd.)

Die Autorin gibt bei ihrem Stück879 an, auf welche Ausgaben von Werken Sartres bzw. Beauvoirs sie sich bezieht.880 Für dieses Fragment eines Theaterstücks gilt wiederum, dass die Stücke aufgrund ihrer Kürze schwer einzuordnen sind. Sie wurden hier deshalb nur kurz skizziert, weil sie zwar im Marbacher Archiv vorhanden, von der Autorin aber unveröffentlicht gelassen worden sind. Wie in anderen veröffentlichten Werken stellen die Orte wichtige Ergänzungen dar, ja gehen darüber hinaus, geben vor allem die Handlung der Personen im Spiel vor und treiben sie an.

5.5.3. Unveröffentlicht gebliebene Prosa Die unveröffentlichte Prosa Undine Gruenters sei hier abschließend der Vollständigkeit halber erwähnt: Zum einen hat sie ihre anderen Prosawerke größtenteils für veröffentlichungswürdiger gehalten oder die Werke sind nach ihrem Tod veröffentlicht worden, zum anderen sind Teile unveröffentlichter Werke zuvor angeführt worden. Für die Sammlung »Affentänze« unter dem Stichwort »Kleine Prosa« waren von ihr 199 Seiten veranschlagt worden.881 Das unveröf878 Vgl. Otto A. Böhmer. Holzwege. Das Ohr des Anderen. Der Philosoph Jean Paul Sartre. In: https://faustkultur.de/2450-0-Holzwege-Jean-Paul-Sartre.html (zuletzt abgerufen: 01. 07. 2019). 879 Wieder an den Rand geschrieben. 880 De Beauvoir. Briefe an Sartre, Band 1: 1930–1939. Reinbek bei Hamburg, September 1998, Kriegstagebuch 1939–1941, März 1994, In den besten Jahren. Januar 1969, Sartre, Briefe an S.B. 1926–1939, November 1984, S, B 2 1940–1963, August 1985, Tagebücher, Les carnets de la drôle de guerre, September 1939, März 1940, Oktober 1996. 881 Es dreht sich dabei um Titel wie »Drahtpuppe«, »Maske«, »Cirque Hiver«, »Geburt der Infantin«, »Dichterlaufbahn«, »Affe im Paradies des Zöllners«, »Ein gut geschlossenes Café«,

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fentlichte Werk besteht aus insgesamt 61 Texten. Eine Homogenität lässt sich an diesen Titeln weniger feststellen als an den unveröffentlichten Gedichten. Selbst dass es sich – wie für die veröffentlichte Prosa behauptet – eher um einheitliche Orte handelt, lässt sich hier so nicht durchweg aufrechterhalten. Gruenter vermeidet mit wenigen Ausnahmen Anspielungen auf Namen bekannter Orte. Darüber hinaus existieren unter dieser unveröffentlichten Prosa Typoskripte mit Korrekturen von Erzählungen wie »Nacht unter Bäumen« aus »Das gläserne Café«882, aber auch solche unveröffentlichten Werke, die entweder als Vorlage für veröffentlichte Bände vorgesehen waren oder später in posthum erschienen Werken wie »Pariser Libertinagen« nicht veröffentlicht wurden.883 Weitere Vorarbeiten, ein Entwurf und ein Typoskript finden sich zu dem Essay »Die Welt verletzten«884. Sie hat an das Typoskript einen Kommentar geschrieben: »Erotik als Metapher. Zwischen Sadismus und Surrealismus«. Schließlich findet sich das Typoskript mit Korrekturen zum unveröffentlichten Roman »Vergessen«, dem ein Proust-Zitat vorangestellt ist: »Denn mit den Störungen des Gedächtnisses ist eine Intervention, ein Versagen auch des Herzens verbunden.« (ebd.) Der Roman bricht nach einem Text »Das absolute Bild«, der alleine 31 Seiten (Vergessen I) einnimmt, nach 45 Seiten ab. Diese Schrift nennt sie einen »Echokörper, ein »dunkles Gewölbe« (dem ein handschriftlich geschriebener Satz vorausgeht: »Ich sah sie an dem Abend das erste Mal.«). Man könnte den Roman nur für eine Vorarbeit zu den Erzählungen »Sommergäste in Trouville« halten, etwa durch das Zitat I, 40: »Ich versuchte, alles über ihr Land in Erfahrung zu bringen, was man über sie erzählte, im Dorf, in der Stadt, bei Winter. Man sagt, daß sie Mathematik studiert hat. Daß sie früh geheiratet hat. Daß sie mit Winter, ihrem Mann, in das verlassene Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt ist.« (I und II) (In: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Unveröffentlichte Prosa) Das Werk kann ebenso als Vorarbeit zu dem Roman »Vertreibung aus dem Labyrinth« verstanden werden. Sie schreibt an den Rand des Typoskripts »Franziska oder der unendliche Anhang«. Auf der Beschriftung der Mappe sind

»Bildergeschichte«, »Ein missglückter Abschied«, »Früher Morgen in der Metro« oder »Silvesternacht«. 882 Was zunächst »Nächtliches Café« heißen sollte. 883 Dabei handelt es sich um Erzählungen wie »Abfall-Salat«, »Der Karneval«, »Die Seite der Stadt 1«, »Die andere Seite der Stadt«, »Katakomben«, »Die schönen Frauen (Nacht und Matrose)«, »Ein gewisser Herr Calmo«, »Falsche Wüste«, »Französische Orte«, »Schnappschuss«, »Schaufenster«, »Zufall?« »Gashahn und anderes«, »Variation auf einen Schwan« (»An einem grauen Tag ging ich durch den Tuileriengarten.«). Auf der Mappe stand: »Schaufenster: La Belle au louris dormant(e).« (In: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Unveröffentlichte Prosa) 884 Von Gruenter auf 08/1997 datiert und erschienen dann am 05. 09. 1997.

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die Titel »Die Liebe zu den drei Orangen« und »Das blaue Zimmer« erkennbar.885 Dabei handelt es sich um ein Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen. Schließlich sei noch der komplett fertig gestellte Erzählband »Nachrichten aus einer Paprikaschote« genannt, worauf ansatzweise eingegangen wurde (vgl. 127). Einige der Prosastücke sind bereits ausgiebiger besprochen worden wie »Heidelberger Sommer«, »Ein gut geschlossenes Café« o. ä. In den Anmerkungen spricht Gruenter vom »Betrug mit Büchern und Tagebüchern«.886 Und last but not least darf die Rezension zu Nathalie Sarauttes Werk »Hier« »Worte sind wie Wandschirme« nicht vergessen werden, die noch einmal einiges von Gruenters »Poetik« transportiert, wo sie ausführt, wie der »Sprech-Raum zum Text-Bild« wird: »[…] einen Ausweg aus dem Labyrinth des Gerede gibt es für einen kaum […] Die Angst vor der Wahrheit, der Selbstbetrug ist als Unterstellung stets auf das Gegenüber projiziert […] Daß sich die Psyche im Sprechen maskiert, die Demaskierung auch zuvor im Sprechen, der Verrat bleibt versteckt in der Strategie des Nouveau Roman, ein einziges Sinnesorgan zu verabsolutieren.[…] Worte stehen wie Wandschirme zwischen Ich und Ich, was sich dahinter […] verbirgt kommt es zum Vorschein?« (In: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Unveröffentlichte Prosa)

Diese »Worte als Wandschirme zwischen Ich und Ich« bilden die Schreibräume der Undine Gruenter, die niemals authentische Orte im Sinne einer 1:1 Relation von Werk und Wirklichkeit sind, sondern immer künstlerisch-literarisch verwandelte Räume, die dann nichts mehr biographisch über die Autorin aussagen. Dieses Prinzip Gruenters bleibt gleichfalls in den unveröffentlichten Werken erkennbar. Im Sinne einer Textontologie könnte man sich im Sinne der Autorin vorstellen, die Texte ganz radikal, ohne die Verbindung des Lebens von Schriftstellerinnen oder Schriftstellern darzustellen oder zu interpretieren. Die biographischen Bemerkungen dieser Abhandlung stellen wie gesagt eher flankierende Hinweise dar. Das gilt im Übrigen gleichfalls für die Korrespondenz Gruenters.

885 Blaubart l galt als der vorläufige Titel. Zugleich wird von ihr auf die »Assoziation von Spiegelungen und Spaltungen« hingewiesen (28. Mai und 4. Juni 89 die »Vertreibung aus dem Labyrinth«, innen: die Seiten der Protagonisten. Blok 21, Franziska 8, Fanny 12 und Fernanda 22 Seiten, insgesamt 61 Seiten, inzwischen durchgestrichen, Blok 1, Fernanda oder Der Schatz). 886 Zu den weiteren Titeln zählen z. B. »Ein Pariser«, »Nächtlicher Wettlauf«, »Sylvesterkrach« u. a.

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5.5.4. Der Briefwechsel Undine Gruenters »Schreibt man fern seines Landes, um sich zu trösten? Ich bezweifle, dass das Exil einen zum Autor beruft.« Dany Laferrières

Der Briefwechsel der Undine Gruenter lässt sich zunächst ex negativo bestimmen. Es lässt sich dabei festhalten, dass sich im Marbacher Literaturarchiv kein reger Briefwechsel von Gruenter mit anderen Personen findet. Persönliche oder private Briefe fehlen fast vollständig. Es geht vor allem um Briefe an Personen, mit denen sie beruflich in Kontakt stand wie Verleger, Kritiker, Fernseh- oder Radioleute bzw. Personen des öffentlichen Lebens in Deutschland. Sie hat darüber hinaus eine Aufstellung von Rezensenten erstellt, die mit ihr entweder ein Rundfunk- oder Fernsehinterview gemacht oder eine Rezension über ihr Werk geschrieben haben.887 Diese Briefe verraten zum einen die künstlerische Hochschätzung Gruenters, zum anderen ihre Ambition, bekannter zu werden und in bedeutenden Verlagen zu veröffentlichen im Sinne des Herstellens von Öffentlichkeit. Die gesamte im Literaturarchiv vorhandene Korrespondenz kreist in erster Linie um ihr Werk; an politischen Äußerungen oder von Stellungnahmen zu gesellschaftlichen oder kulturellen Themen ist im Archiv wenig zu entdecken. Die meisten Briefe sind in einem sachlichen Ton gehalten, einige wirken kühl oder geschäftlich, mitunter sogar etwas unfreundlich. Sie verraten manchmal eine spöttische Distanz zum Briefpartner.888 Dass sie überaus empfindlich war, was ihre Identität bzw. ihren Namen betrifft, zeigt ein Ausschnitt aus einem Brief vom 28. 04. 1994 an Joachim Feldmann,889 der offenbar ihren Namen falsch geschrieben hat und dem sie daraufhin entgegnet: […] »die Striche/Pünktchen auf Grünter hat mein Vater schon vor mehr als 40 Jahren beseitigt.« 887 In einem Brief an Rainer Weiss (damals Lektor beim Suhrkamp-Verlag) vom 7. Dezember 1993 nennt sie u. a. Kyra Stromberg, Agnes Hüfner, Sigrid Löffler, Ulrich Greiner, Wilfried Schoeller, Martin Lüdke, Gert Mattenklott, Heimo Schwilk, Hartmut Buchholz, Iris Radisch (im Brief vom 10. 01. 1997: »Lange schon suche ich einen Anlaß, um mit Ihnen in Kontakt zu kommen. Ich schätze Ihre Bücher sehr, habe auch schon über Sie geschrieben.«, außerdem: Briefe vom 07. 02. 1997, 18. 03. 1997, 28. 04. 1997) Irene Ferchl, Marcel Reich-Ranicki, Herrmann Kurzke, Raimund Koplin, Jens Jessen, Andrea Köhler. Tilmann Urbach, Michael Hulse, Uwe Dörwald (Schwetzinger Zeitung), Thomas Linden, Beate Berger, Daniela Striegl (Der Standard), Friedrike Kretzen, Susanne Bobek (Kurier), Andreas Wilink, Elke Heinemann, Carola Wedel und Hartmut Buchholz (Basler Zeitung). Darüber hinaus steht sie mit Volker Hage vom SPIEGEL in Kontakt. (In: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie) 888 Es handelt sind in der Regel vorwiegend um Männer. 889 Vgl. »Zeitschrift für Literatur«, Münster, Am Erker, gegründet 1977, Hg. v. Joachim Feldmann und Michael Kofort.

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Über alltägliche berufliche Aspekte wie ausstehende Honorarabrechnungen, beabsichtigte Verlagswechsel, aber auch Lieblingsautorinnen und -autoren, Beeinflussungen ihres Schreibens geben die Briefe mitunter deutlich Auskunft. Zwischen den Zeilen liest man in Ansätzen Fragmente einer Rezensions-, Literatur- oder Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland heraus. Festzuhalten bleibt, dass Gruenter trotz ihrer relativen Unbekanntheit bei einem breiteren Publikum890 doch sehr viel mit dem öffentlichen verlegerischen Leben in der Bundesrepublik Deutschland zu tun hatte. Es finden sich keine Briefe über ihr Leben in Paris, bis auf wenige, wo auf ihre Wohnung rekurriert wird. Eher vereinzelt tauchen Stellen auf, an denen ihre Krankheit zum Thema wird. Zudem lässt die Erwähnung von Kontoverbindungen darauf schließen, dass sie in dieser Hinsicht sehr mit Deutschland verbunden und dort gemeldet war.891 Vielleicht muss man es sich bezogen auf das nach ihrem Tod unveränderte Zimmer so vorstellen, dass Gruenter aufgrund ihrer Krankheit viele Jahre Zuhause, schreibend892 und lesend verbracht hat, sich auf diese Weise bereits in einer Art »Exil« befindend. Sie zeigt sich ihren Briefen durchaus als streitbare, toughe Frau, in einigen Briefen politisch Kritik an der »alten« Bundesrepublik Deutschland und ihres »geistigen Provinzialismus« übend; hierin war sie sich mit ihrem Mann893 durchaus einig. Doch in erster Linie war sie Schriftstellerin, so dass sich eher von einem »ästhetischen« Dasein sprechen lässt, was ihre Lieblingslektüren bekunden. In einem Brief an die Redaktion des Bollmann-Verlags gibt sie über ihre Lieblingslektüren und -autorinnen bzw. -autoren Auskunft: »Verehrte Redaktion, […] mein Lieblingsbuch? Das Stundenbuch des Duc de Berry (Les tres riches heures), Das Buch der Unruhe oder überhaupt ein Buch mit dem Wort Buch im Titel? Lieblingsbücher habe ich viele – geschrieben von Proust, Joyce, Beckett, T.S. Eliot, William Blake, Flaubert, Baudelaire, Apollinaire, Rimbaud, Virginia Woolf, Trakl, Colette, Henry Miller, Roland Barthes, Bataille, Walter Benjamin, Artaud, Kleist, Brentano, Nathalie Sarraute, Margerite Duras, Cortazar, Ionesco, Alberti. Mein Lieblingsbuch? Nicht das Buch des Lebens, nicht die Entzifferung der Schrift (des Alltags, des guten Lebens, der – ontologisch mißverstandenen – Dinge des Seins), aber: der Himmel (über Paris), spiegelt über dem Meer, im Meer (der Manche, zwischen Frank-

890 Was die Briefe ebenfalls indirekt bestätigen, da sie offensichtlich belegen, dass sich die Umsätze ihrer Werke in überschaubaren Grenzen hielten. 891 So steht sie auch mit dem niederrheinischen Mundartdichter Ludwig Soumagne (1927– 2003) in Kontakt (Postkarte vom 04. 07. 1995 von ihm und seiner Frau Margot an Gruenter), wo sich auf eine Begegnung in Paris bezogen wird. 892 So lange es ihr möglich war; das Werk »Der verschlossene Garten« hat sie bekanntlich ihrem Mann diktiert. 893 Den sie in vielen Briefstellen nur »Bohrer« nennt, was einiges über ihre Beziehung aussagt und eine gewisse Distanz markiert.

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reich und England, kurz der Kanal.« [Sie selbst hat Begriffe wie der Manche, gutes Leben etc. unterstrichen, Ergänzung SW]894

Selbst wenn man bei Aussagen von Schriftstellern über ihre Lieblingslektüren immer vorsichtig sein muss, so fällt doch ihre Behauptung auf, dass ihre Lieblingsbücher vorwiegend Bücher über Bücher sind. Sie hat – ähnlich wie Eco, Reich-Ranicki895 oder vor ihr Thomas Mann – in der Tradition der poetae docti, der gebildeten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, gestanden. Was bei dieser Aufzählung außerdem auffällt, ist, dass es sich mit Ausnahme von Trakl, Benjamin, Kleist und Brentano kaum um Werke von Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Literatur, sondern überwiegend um Vertreter der englisch- und im Besonderen der französischsprachigen Literatur handelt. Ansonsten bekennt sie sich neben Friederike Mayröcker ausdrücklich zum Kölner Lyriker Hans Jürgen Brinkmann (1940–1975), über den sie später eine Rezension in der »Frankfurter Anthologie« schreibt. Mit dieser Rezension beginnt ihr Briefwechsel mit Marcel Reich-Ranicki.896 Am 7. Januar 1992 wird Sie von Marcel Reich-Ranicki aufgefordert, an der von ihm herausgegeben »Frankfurter Anthologie« mitzuwirken. Er schreibt, »dass ihm ein höchst bedauerlicher Umstand aufgefallen sei: dass Sie nämlich noch nie in unserer »Frankfurter Anthologie« mit einem Beitrag vertreten waren.« ReichRanicki fährt in seiner geistreich humorvollen Art fort: »Wer ist daran schuld? Ich selber bin es, kein anderer. Aber dieser bedauerliche Zustand lässt sich noch ändern. Kurz und gut: hätten Sie Lust, einen Beitrag für unsere ›Frankfurter Anthologie‹, die sie doch gewiss kennen, zu schreiben?« »Es wäre mir sehr daran gelegen, dass Sie endlich bei unserer ›Anthologie‹ mitmachen. Darf ich sie um 894 Auf die Anfrage der Zeitschrift für Literatur, Münster. Für die Sparte: Die Liebe zu Büchern (das Buch als ästhetischer Gegenstand). (In: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie) 895 Wenn man ihn als Literat weniger als Schriftsteller nehmen soll, wobei es Äußerungen zu seiner Autobiographie gibt, in denen er sein Schreiben durchaus als »schriftstellerisches Treiben« bezeichnet, vgl. Honsza/Wolting (2005). 896 Paradoxerweise war Bohrer als Vorgänger von Marcel Reich-Ranicki für den Literaturteil der FAZ verantwortlich. Bohrer beschrieb seinen Abgang 1974 wie folgt: »Joachim Fest sollte neuer Herausgeber werden und machte es zur Bedingung, dass sein Freund Marcel ReichRanicki meinen Posten bekommt. Dessen am traditionellen Realismus orientierten Literaturvorstellungen lagen Fest sehr viel näher als meine. Ob meine intellektuellen Schrillheiten und politischen Zweideutigkeiten – siehe Baader-Meinhof – eine Rolle spielten, möchte ich nicht kommentieren. Namhafte Leute von Enzensberger bis Habermas protestierten in öffentlichen Telegrammen gegen Reich-Ranicki, aber ich sah, dass er es schaffen würde, die FAZ zu dem Organ des bürgerlichen Buchlesers zu machen. Das habe ich nie gewollt. Kurz bevor ich für die Zeitung nach London ging, habe ich ihm in der großen Konferenz gesagt: »Reich-Ranicki, Sie sind die Rache von Jud Süß am deutschen Bürgertum.« Ich vermute, dass er diesen Satz nicht als Kompliment empfunden hat, obwohl es so gemeint war.« (Bohrer 2017, 185f.) Vgl. auch: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1999.

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zwei oder drei Vorschläge bitten? Lassen Sie mich nicht zu lange warten und seien Sie bestens gegrüßt von Ihrem MRR […]«897 (In: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie)

Wie aus dem Brief hervorgeht, war es für Reich-Ranicki offensichtlich ein besonderes Anliegen, Gruenter zur Mitarbeit an der »Frankfurter Anthologie« zu bewegen. Er betont das relativ hohe Honorar von 8 000,– DM für einen Beitrag von 60 Maschinenzeilen mit 60–65 Anschlägen. Sie antwortet ihm bereits gut eine Woche später am 18. 02. 1992, dass sie seinen Vorschlag, in seiner »›Frankfurter Anthologie‹ mitzumachen«, gerne annehme: »Am liebsten nähme ich den frühen Trakl, sonst Brinkmann oder Mayröcker.« (ebd.) Überhaupt ergibt sich mit Marcel Reich-Ranicki ein im Verhältnis zu anderen Kritikern durchaus reger Briefwechsel, wenn man konzediert, dass Gruenter insgesamt nur wenige Briefe schrieb bzw., dass nur verhältnismäßig wenige Briefe in Marburg deponiert sind. Die Antwort von Reich-Ranicki lässt wiederum nicht lange auf sich warten. Sein Brief ist vom 21. Januar 1992 datiert, wo er an die »liebe Frau Gruenter« schreibt: »[…] machen Sie bitte zuerst ein Gedicht von Brinkmann. Wir hatten von ihm bisher nur zwei Gedichte, nämlich »Hölderlin-Herbst« und »Einen jener klassischen […]«. Es kommt also jedes andere in Frage, aber natürlich muss es aus einem Band von Brinkmann stammen und darf nicht mehr als etwa 36 Verse umfassen. Es erübrigt sich zu sagen, was ich dennoch sagen muss: Es muß schon ein Gedicht sein, von dessen Qualität Sie ganz und gar überzeugt sind. Darauf kommt es in unserer ›Anthologie‹ vor allem an – den Lesern zu erklären, warum Sie das von Ihnen ausgewählte Gedicht für schön und gut halten. Und da Sie Philologin sind, muß ich sie bitten, auf Fachausdrücke zu verzichten und Fremdwörter eher zu meiden. Sie werden mir diese schüchternen Hinweise nicht verübeln, aber ich bin ziemlich sicher, dass Sie sehr wohl verstehen, worum es mir geht und dass Sie es wohl auch billigen. Alles Persönliche ist in den Beiträgen der ›Frankfurter Anthologie‹ nicht nur erlaubt, sondern erwünscht.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie)

897 Er gibt in dem Brief Auskunft über die weiteren Konditionen: »In Frage kommen deutschsprachige Gedichte aus allen Epochen der Literaturgeschichte. Das Gedicht kann jedoch nicht mehr als vierzig Verse umfassen und muß aus einer Buchausgabe stammen und natürlich darf es nicht ein Gedicht sein, das schon einmal in der ›Frankfurter Anthologie‹ vorgekommen ist. Wir hatten in dieser Rubrik, die seit 1974 existiert, schon beinahe 900 Gedichte. Der Umfang ihres Beitrags sollte nicht mehr als sechzig Maschinenzeilen mit 60– 65 Anschlägen betragen. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, dass uns weniger an philologischen Interpretationen gelegen ist als vor allem an möglichst individuellen literarischen Stellungnahmen. Das Honorar für den Kommentar beträgt DM 8000,–. […] jeweils sechzig Gedichte mit den entsprechenden Beiträgen erscheinen später in einem Band im Insel-Verlag. Bisher gibt es schon vierzehn Bände in dieser Serie.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie)

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Daraufhin scheint ihre Interpretation des Brinkmann-Gedichts bei Reich-Ranicki eingegangen zu seinen, wozu aber keine Belege vorliegen. Er schreibt ihr am 10. Februar 1992 zurück: »Ihre Brinkmann-Interpretation ist originell und höchst intelligent, sie ist vorzüglich. Dennoch wage ich es, mich Ihnen mit Wünschen zu nahen, schüchternen freilich. 1. Das deutsche Volk ist leider ungebildet und weiß von Brinkmann so gut wie nichts. Wäre es möglich, dass Sie am Anfang des zweiten Absatzes Ihres Textes zwei oder drei Zeilen einfügten, die Brinkmanns Lyrik charakterisieren? Dabei wäre es nicht ganz schlecht, wenn Sie auch sein Geburtsjahr und sein Todesjahr irgendwie unterbringen könnten (1940 und 1975). 2. Die letzten beiden Sätze treffen ins Schwarze. Ich verstehe jedes Wort, aber ob die Leser eine solche Abbreviatur auch wirklich begreifen werden – dessen bin ich nicht ganz sicher. Wäre es denkbar, dass Sie, drei oder vier Zeilen hinzufügend, den Schlussgedanken etwas ausführlicher erklärten? Und liegt Ihnen wirklich an dem Wort »Verfasstheit?«, das mir, offen gesagt, Schmerzen bereitet? Sollten Sie kein Wort ändern wollen – was mir wiederum Schmerzen bereiten würde –, so wird Ihr Text selbstverständlich so gedruckt, wie Sie ihn mir geschickt haben […].« (ebd.)

In ihrem Antwortschreiben vom 18. Februar 1992 aus Paris verrät Gruenter durchaus Humor, wenn sie leicht ironisch schreibt, »dass das ›deutsche Volk‹, wie Sie es nennen898, ungebildet ist, könnte ich noch ertragen, dass Ihnen Schmerzen bereitet werden, wohl nicht. Ich habe dem Text zugefügt, was Sie vorgeschlagen haben – für das Wort ›Verfasstheit‹ fiel mir allerdings kein besseres ein. Wenn Sie unbedingt müssen, lassen sie es weg – ich selbst möchte es stehen lassen. Manchmal liegt in einem solchen Wortungetüm – sofern es sich nicht der Sachzwangssprache und der Strumpfhosenmentalität verdankt – etwas, was sich nicht anders ausdrücken lässt. Ich betrachte es nicht als Behelfswort, sondern als Erfindung.« (ebd.)

Hervorgehoben sind hier die Begriffe »Sachzwangsprache« und »Strumpfhosenmentalität«, wobei letzterer Begriff als Neuschöpfung Gruenters betrachtet werden kann, ein Begriff, der sich von außen nicht jedem sogleich erschließt. Auf jeden Fall werden beide Begriffe in einen pejorativen Zusammenhang gestellt, der wieder die humorvolle Fantasie der Sprache (und damit Welt Gruenters) zum Vorschein bringt. Die Dichterin bzw. der Dichter sollte einer solchen »Sachzwangsprache« enthoben sein. Sei es wie es sei, auf jeden Fall antwortet ihr wiederum Reich-Ranicki postwendend am 28. Februar 1992: »[…] ich danke für die Neufassung Ihres schon vorher ausgezeichneten und jetzt noch besseren Beitrags. Ich fühle mich beinahe wie jener Brechtsche Zöllner, der dem Weisen die Weisheit abverlangt. Aber mir genügt nicht, was ich schon habe: Ich bitte nicht nur um etwas Geduld (denn in der ›Frankfurter Anthologie‹ dauert es immer eine Weile, bis ein Beitrag erscheinen kann), sondern auch um den nächsten Gedichtvorschlag. 898 Sie schreibt sie im Original klein, vielleicht eine Art freudscher Fehlleistung.

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Das Gesamtwerk Undine Gruenters

Kommentare aus der Feder einer so hervorragenden Interpretin wünscht die Nation häufig zu lesen. […] (FAZ Beilage »Bilder und Zeiten« vom 04. April 1992, in der Gruenters Interpretation erschienen ist)

Kurz danach fordert er sie also erneut auf, ein Gedicht für die »Anthologie« zu schreiben, diesmal möchte er, dass sie ein frühes Traklgedicht zum Gegenstand ihrer Betrachtungen macht. Deshalb schreibt Ranicki im Brief vom 14. April 1992: »[…] Ihre Reflexionen über die Strumpfhose, die Liebe und Rolf Dieter Brinkmann haben ein starkes Echo gehabt und ein erfreuliches. Nun bitte ich Sie um den nächsten Beitrag für unsere ›Frankfurter Anthologie‹. Sie wollten ein frühes Trakl-Gedicht machen. Das ist mir sehr recht. Wir hatten bisher von ihm folgende Gedichte: ›Im Park‹, ›Grodek‹, ›Trompeten‹, ›De profundis‹, ›Die schöne Stadt‹, ›Im Herbst‹, ›Verklärung‹ und ›Abend in Lans‹. Lassen Sie bitte von sich hören. Im wunderschönen Monat Mai, wenn alle Knospen springen, hoffe ich, Ihr Manuskript zu erhalten.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie)

Dabei sind es Bonmots oder literarische Zitate,899 die den Briefwechsel zwischen beiden »würzen«. Die Korrespondenz scheint beiden – wenn man dies mit anderen Briefen Gruenters vergleicht – offensichtlich große Freude bereitet zu haben, voll von Anspielungen, Wortwitz und »Bildungsvokabeln«. Zum Teil überschneiden sich die Briefe, wie das nächste Schreiben ausweist: »Am 24. April 1993 Paris. […] da der Text über Trakl fast fertig war, bevor Ihr Brief vom 19. April eintraf, schicke ich ihn, obwohl wir den Trakl-Text vorher nicht ausdrücklich vereinbart hatten. Wenn er nicht in Ihr Programm passt, habe ich deshalb dafür Verständnis.« Diesen Text lehnt Reich-Ranicki allerdings aus formalen Gründen zur Aufnahme in die »Frankfurter Anthologie« ab, indem er darauf verweist, dass in die Anthologie nur Lyrik aufgenommen würde und keine »poetische Prosa« – »aller Hochschätzung der Person Gruenters und des Dichters Georg Trakl zum Trotz«. Im Brief vom 14. Juni 1993 schreibt er dazu wie folgt: […] verzeihen Sie, dass ich Ihr Manuskript über das Prosastück von Trakl erst heute zurücksenden kann. Ich möchte in diese Rubrik keine Prosa aufnehmen, selbst wenn es sich unzweifelhaft um poetische Prosa handelt. Für die ›Frankfurter Anthologie‹ gelten strenge Regeln, und ich glaube, dass gerade dieser Umstand die langjährige Existenz der Rubrik ermöglicht hat. Die ›Frankfurter Anthologie‹ wurde vor 19 Jahren gegründet.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie)

Vor dem Hintergrund dieser Absage erscheint es umso bemerkenswerter, dass er von der Interpretation des Gedichts von Brinkmann begeistert war und dass er dies ausdrücklich gefördert hat, obwohl zudem sein Verhältnis zu Brinkmann,

899 Wie hier von Heines Gedicht »Im wunderschönen Monat Mai« von 1821 aus dem Zyklus »Lyrisches Intermezzo« im »Buch der Lieder«.

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euphemistisch ausgedrückt, äußerst zwiespältig war, wie er in seiner Autobiographie »Mein Leben« bekennt. (vgl. Honsza/Wolting, 2007) »Den jungen Autor Rolf Dieter Brinkmann habe ich 1965 in der ›Zeit‹ als neues Talent der deutschen Prosa freudig begrüßt. 1968 habe ich seinen ersten Roman ›Keiner weiß mehr‹ enthusiastisch gerühmt, ebenfalls in der ›Zeit‹. Im November 1968 saßen wir, Brinkmann und ich, zusammen auf dem Podium der Akademie der Künste in Berlin. Ich hatte ihn unmittelbar Mal gesehen. Zu meiner Überraschung schaute er mich wütend an. Ich ahnte nicht, daß er auf einen Skandal aus war. Unsere Diskussion dauerte noch nicht lange, da brüllte er mich ohne erkennbaren Anlaß an: ›Ich sollte überhaupt nicht mit Ihnen reden, ich sollte hier ein Maschinengewehr haben und Sie niederschießen.‹ Das Publikum war empört und verließ aufgeregt den Saal. Brinkmann hatte nun den Skandal, an dem ihm offensichtlich so gelegen war. Seine Verlagslektorin wollte mich beschwichtigen: ›Sie sind doch für ihn eine Vaterfigur, und dazu gehört auch der Vatermord – dafür sollten Sie Verständnis haben.‹ Ich hatte dafür kein Verständnis.« (Reich-Ranicki 1999, 446)

Noch nach dem Abschied von Reich-Ranicki als Literaturchef der FAZ versucht Gruenter, den Kontakt zur Feuilleton-Redaktion der FAZ zu unterhalten. Aber ihre Kontakte blieben von da an nur (noch) punktuell. In einem Brief vom 19. August 1994 an den Redakteur Gustav Seibt, von Haus Historiker und Literaturkritiker, schreibt sie aus Paris: »[…] am 2. September hat Cyrus Atabay Geburtstag – es ist der fünfundsechzigste. Vielleicht haben sie Platz, beiliegenden Artikel aus diesem Anlass zu drucken.« Ihr wurde beschieden, dass 65. Geburtstage grundsätzlich nicht berücksichtigt würden, was kein abschätziges Urteil über ihr »schönes Gedicht« bedeuten würde. Gruenter bleibt zum Teil sehr umgangssprachlich in den Formulierungen ihrer Briefe. Sie unterhält keine oder fast keine Kontakte zu anderen Literaten, Schriftstellern oder Philosophen. Zugleich verwahrt sie sich auch in diesem Zusammenhang gegen jede Form von Provinzialität,900 der sie selbst nicht immer entraten kann.901 Es bleibt die »geistige Flucht« und der weite »humanistisch philosophische Blick« sowie die Kontrastierung von Paris, als Hauptstadt der Moderne bzw. im Benjaminschen Sinne des »19. Jahrhunderts« auf der einen,

900 Wozu für sie auch das Rheinland zählte, insbesondere auch Köln, die »Hochburg des rheinischen Kleinbürgertums«. Brief von Döring an Bohrer/Merkur vom 16. 09. 1997, in dem er im Hinblick auf diesen Ausdruck einen früheren Brief Gruenters zitiert, oder im Brief an Gruenter vom 11. 05. 1999 bezeichnet Döring ein solches Verhalten als »rheinischen Konsumismus«. (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie) 901 Ich denke beispielsweise an Veranstaltungen des Literaturbüros Detmold in Schwalenberg, dazu Literatur in der Rotunde in Düsseldorf am Montag, dem 16. 09. 1991 (immerhin 1000 DM Honorar (Brief vom 21. 09. 1991) und eine Lesung im Heine-Haus in Düsseldorf am 19. 12. 1992. (Vgl. auch: Brief von Bollmann vom 30. 07. 1990. (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie)

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und dem »rheinischen Kosmos« auf der anderen Seite, dem sie nie so ganz entkommen kann, wie sie in einigen Briefwechseln betont. Neben den Adressaten gibt der Briefwechsel zudem Auskunft über Gruenters verschiedene Wohnungen bzw. Adressen in Paris und Köln, über ihre durchaus vorhandene Geschäftstüchtigkeit im Sinne detaillierter Aufstellungen über Honorare. Dazu mag ihre Öffentlichkeitsscheu wie ihre Kompromisslosigkeit und zeitweilige Ungeduld passen, mit der sie einzelnen Menschen begegnet, zu denen sie dann manchmal den Kontakt ganz abbricht oder Veranstaltungen von heute auf morgen absagt. Es handelt sich im Einzelnen um Korrespondenz mit Verlagen bzw. Verlegern: Oft geht es dabei um Honorarrechnungen, ganz vereinzelt trotz ihrer Öffentlichkeitsscheu um Auftritte bzw. Lesungen, wobei es überrascht, dass sie auch »fachfremde Institutionen« wie die evangelische Akademie in Schwalenberg »in der Provinz« wählt. Vereinzelt lassen sich in den Briefen zwischen den Zeilen Stellungnahmen zu Werken finden. Den Löwenanteil ihrer Korrespondenz machen jedoch die mit Verlegern gewechselten Briefe aus, allen voran mit Michael Krüger vom Hanser-Verlag. Wie ausgeführt stand Gruenter mit vielen verlegerischen Größen und Verlagen in Deutschland in Kontakt. Von Carl Corinno vom Hessischen Rundfunk, einem der damaligen Juroren, die in Klagenfurt eigene Vorschläge machen können, wird sie zu den Klagenfurter Literaturtagen (Ingeborg-Bachmann-Preis) eingeladen. Nach kurzem Zögern lehnt sie aber ab, weil sie der Meinung ist, dass sie »für solche literarischen Pferderennen nicht geeignet sei«. Namentlich zu Michael Krüger vom Hanser Verlag, von 1976 bis 2014 Herausgeber der Literaturzeitschrift »Akzente«, unterhält sie enge Kontakte. Für ihren Beitrag »Glasasche«902 erhält sie 100 DM Honorar, nachdem sie die Zeitschrift am 21.11.91 mit einem Brief an Michael Krüger aufgrund des Ausbleibens eines Honorars aufgekündigt hatte. (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr) Michael Krüger, Gruenters »Entdecker«903 gehört sicherlich zu einer der einflussreichsten literarischen Nachkriegsverlegergestalten der Bundesrepublik Deutschland904 und gilt trotz einer Art ambivalenten Freundschaft, durch die sie mit ihm teilweise verbunden war, zu den zentralen Bezugspersonen Gruenters. In einigen Briefen schimmert trotz gegenteiliger Ansichten und zum Teil Vorwürfen eine große Vertrautheit und Zuneigung durch, etwa im Brief aus Paris vom 21. März 1994, in dem sie trotzdem ihren Rückzug vom Hanser Verlag ankündigt.

902 Zeitschrift für Literatur Hg. v. Michael Krüger, Heft 4/92. 903 Vgl. Anmerk. 25, 10/88/343, Bohrer (2017), 434. 904 Krüger ist seit 2013 Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und wurde 2014 vom damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet.

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»[…] während der Vorbereitung von Nachtblind [im Original unterstrichen, SW] schrieb ich Dir schon einmal einen Brief, den du mir zurückschicktest mit der Bemerkung, ›solche Briefe brauche ich nicht‹. Ich habe jetzt eine Weile nichts von mir hören lassen, weil auch Dein beigefügter Brief vom 20.2.92 dasselbe Schema wiederholt – eine Klage, Beschwerde oder Nachfrage wird abgewehrt. In diesem Fall: durch die Abreise der Lesereise schade ich der Glaubwürdigkeit des Hanser-Verlags.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr)

Einzelheiten der Begründung, warum sich Gruenter vom »Hanser-Verlag distanziert habe«, verrät sie im weiteren Verlauf des Briefs, dass die Vorauszahlung für »Ein Bild der Unruhe« doppelt erfolgte oder die Abrechnung von 1992 zwei Jahre nach dem Umzug Gruenters und Bohrers immer noch in der Rue Lapeyrère statt in der Rue de Gatines gelandet wäre.905 Ansonsten listet sie dazu andere Verfehlungen auf, dass »der Werbetext für »Vertreibung aus dem Labyrinth« in der ZEIT vom 10. April 1992 aus »Nachtblind« stamme, sich Druckfehler in »Vertreibung aus dem Labyrinth« und »Nachtblind«906 befinden würden, die in den Fahnen nicht gewesen seien, sie keinen Vertrag für »Nachtblind« erhalten habe und die Veröffentlichungen von »Ein Bild der Unruhe«, »Nachtblind« oder »Vertreibung aus dem Labyrinth« jeweils verschoben worden seien oder sie keine Belegexemplare und Sonderdrucke von »Glasasche« aus »Akzente« 4/92 erhalten habe. (ebd.) Außerdem geht sie auf die Absage der Lesereise ein,907 den eigentlichen Grund erfährt man aber aus dem Brief nicht. Diese ist wahrscheinlich schon auf ihre Krankheit zurückzuführen, denn abschließend stellt sie Krüger die rhetorische Frage, ob er glaube, dass sie sich durch die Absage selbst schädigen wolle. Schließlich betont sie, dass ihr Rückzug vom Hanser-Verlag nicht allein mit dem Hanser-Verlag zusammenhängen würde, sondern darüber hinaus mit Erfahrungen in Paris, »von denen meine damals verschwundenen Manuskriptseiten und die früheren anonymen Anrufe nur ein Bruchteil sind.«908 (ebd.) Immer von neuem scheint es mit dem Hanser Verlag Probleme mit der Abrechnung gegeben zu haben, wie Gruenter beispielsweise am 11. April 1994 an den Verlagsmitarbeiter Stempel schreibt. Krüger wird in diesen Einzelfällen von Gruenter oft direkt angesprochen, um Vermittlung gebeten, aber auch mit Vorbehalten konfrontiert, wie am 20. 10. 1995 von Köln aus, wo sie an den »lieben Michael« schreibt:

905 Dieser traf dort erst im Mai 1993 ein. 906 Gruenter unterstreicht dabei die Werke immer. 907 Im Brief vom 09. 02. 1992 an Uschi Engelbrecht vom Hanser-Verlag. (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie) 908 An Michael Krüger, Hanser Verlag, Paris, den 21. März 1994. (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie)

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»[…] noch einmal – seit Jahren seid ihr jedes Jahr mit Abrechnung oder Überweisung im Verzug. In den Verträgen steht aber als Abrechnungsdatum: bis zum 31. März. Ich habe das schon öfter moniert […]. Jetzt im Oktober fand ich die Abrechnung vor mit Stempel auf Briefumschlag vom 25. August. […] Delegation in Ehren, ich habe aber die Verträge mit Dir gemacht und möchte diesen Abschluß mit Dir verhandeln – schließlich sind Bohrer und ich wegen Deines intellektuellen Programms ursprünglich zu Hanser gegangen und nicht wegen Störung herstellenden Mitarbeitern.« (ebd.)

Das Verhältnis zu Krüger scheint zu dieser Zeit nachhaltig gestört gewesen zu sein: Vorwiegend geht es um die Einhaltung von Verträgen oder die Auszahlungen von Tantiemen oder Gagen, wie die folgende Stelle belegt, wo die Autorin so weit geht, dass sie den Vertrag mit Hanser in Bezug auf einige bereits erschienene Werke wie für ein »Bild der Unruhe«, »Nachtblind« und »Vertreibung aus dem Labyrinth« »auflösen möchte«. Zum anderen zeichnen sich daran zwischenmenschliche Störungen und Probleme ab, sowie mangelnder Respekt und zugleich Missverständnisse auf beiden Seiten, wo Gruenter auf eine der wenigen von ihr abgehaltenen Lesungen zurückkommt: »[…] Apropos – im Dezember 92 las ich in München in der Seidel-Villa. Bei Dir hatte ich mich aber nicht angesagt. Musste sofort über Straßburg zurück. Döring nun sagte mir, du habest bei Unseld verlauten lassen, ich habe mich für den fraglichen Termin bei Dir angesagt. Hast Du’s erfunden, hat jemand aus dem Verlag behauptet, ich hätte mich angesagt? (Ich war’s nicht.) Also: bitte keine Stimmungsmache, bleiben wir bei der Sache.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie)

Schließlich scheint sich das Verhältnis aber wieder eingerenkt zu haben, nicht zuletzt auf Bohrers Vermittlung hin, der über die ganze Zeit guten Kontakt zu seinem bzw. dem gemeinsamen Freund »Michel« hält. Krüger jedenfalls bleibt ein Leben lang eine der ganz wichtigen Bezugspersonen Gruenters. Nicht zuletzt macht sie ihm zur Figur ihres Prosatextes »Neue Adresse« in »Pariser Libertinagen«. Die Kontakte zum damals noch und bis heute unbekannten, inzwischen eingestellten Bollmann Verlag sind nach Angaben Bollmanns über die Bekanntschaft mit Bohrer entstanden: der Kontakt zu Bohrer wurde 1978/79, lange vor der Pariser Zeit Gruenters und Bohrers über den damaligen Mitherausgeber der »Zeitmitschrift« Claus Eckkehard Bärsch hergestellt. Bemerkenswerterweise war Gruenter bereit, die damals schon bei Hanser veröffentlicht hatte, ihr nächstes Werk, das sogar im »Literarischen Quartett« besprochen wurde, bei einem kleinen, relativ unbekannten Verlag herauszugeben909, wie der mehrjäh909 Wie Gruenter in einem Brief vom 29. 07. 1990 an den Bollmann-Verlag betonte, der damals in Bensberg residierte, wohin sie auch ihren alten Vertrag mit Hanser schickt, weil sie auf »normalen Geschäftsgrundlagen« arbeiten möchte und zudem ihre Mitarbeit in einem

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rige Briefwechsel und die über eine reine Bekanntschaft hinausgehende Freundschaft zu Bollmann belegen.910 Nach einigen Jahren ging die Freundschaft unspektakulär zu Ende. Später berichtete Bohrer Bollmann über den Tod seiner Frau, was Bollmann, wie er sagte, sehr bestürzte911, selbst wenn zuvor bereits kein Kontakt mehr zwischen ihn bestanden hatte. Es handelte sich auch zuvor nicht um eine sehr innige Freundschaft. Immerhin half Bollmann mit, dass Undine Gruenter in den vom damaligen Leiter des Goethe-Instituts Paris Lechner herausgegebenen Band »Prägungen: Deutsche in Paris« mit aufgenommen wurde. (vgl. Lechner, 1991)912 Über eine Art von spledid isolation Gruenters und Bohrers in Paris bestehen im Übrigen unterschiedliche Auffassungen. Einige Freunde betonen, dass sie sich häufig mit Bohrer und Gruenter im damals von Kalabriern geführten Restaurant l’Etoile de Montmartre (Ecke La rue de la Fontaine au But/ Rue Duhesmel, vormals Campagnola) getroffen hätten, andere nennen ebenfalls häufige Treffpunkte ähnlich wie Gruenter selbst das Restaurant La Perla, die Bar auf Rêve oder das Maison de la Poesie, eine Literaturbühne, die heute noch in der Rue St. Martin 157 besteht. Wieder andere akzentuieren im Gespräch, dass es doch einen Freundeskreis, wenngleich keinen großen, gegeben habe, dass Gruenter auf der anderen Seite aber auch, was die Freunde betraf, durchaus in ihrer eigenen, geistigen Welt gelebt hätte, was Vorrang vor den geselligen Treffen hatte.913 Après la lettre wird zudem betont, dass Gruenter und Bohrer beide starke gemeinsame inhaltlich substanzielle Interessen miteinander verbunden und auf diese Weise in ihrer Welt gelebt hätten. Der Umzug nach Paris bedeutete genau wie das Sich-Einlassen auf die Beziehung mit Bohrer für Undine Gruenter zugleich einen Versuch, ihre Familiengeschichte, über die sie oder gar nicht oder ungern sprach, hinter sich zu lassen. Bohrer hätte für sie zunächst eine Art »Vaterfigur« gespielt, eine Art »Seelenführer in die neue Heimat«, wie weitere Bekannte sich ausdrückten. Dagegen betonen andere im Gespräch, dass sich im Laufe der Beziehung das Verhältnis umdrehte und sie als »femme fragile« eine Art Dominanz erlangte. Gruenter wird durchaus als subkutan »rebellisch« be-

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Sammelband »Prägungen« zurückzieht (was sie später wieder rückgängig macht), weil »die Autoren dieses Bandes ungefragt hin und her geschoben wurden.« Sie erhebt dort auch Einwände gegen einen Titelvorschlag »Der grüne Käfig« anstelle von »Das gläserne Café« und bezeichnet dies Erzählungen als »Steinstücke«. (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe von ihr) Er war zusammen mit seiner damaligen Frau sogar beim Hochzeitsessen im Düsseldorfer Hafen eingeladen, vgl. die Erzählung »Heiratspläne«, PL 33–37, vgl. 342 und 344. »Der Tod einer solchen Erscheinung« wie er sich ausdrückte. Vgl. auch den Brief Dörings an Gruenter vom 30. 11. 1993: »Und danke auch für das Buch »Prägungen«, Georg Stefan Trollers Intermezzo habe ich mir zum Nachmittagskaffee gegönnt.« (Unter: DLA, HS 2008.001, A: Gruenter, Undine, Briefe an sie) Etwa in der Idee des »Hortus conclusus« oder des »Paradiesgärtleins«.

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Das Gesamtwerk Undine Gruenters

zeichnet, die sich jeder Form von Verboten oder (früherer familiärer) Gewalt entzogen und auf diese Weise ihre Distanz zu den frühkindlichen Erfahrungen gemacht hätte, was in den Briefen allerdings so explizit nicht zum Ausdruck kommt. Ihre Haltung bzw. der Wechsel von emphatisch-poetischer, manischdepressiver Stimmungen zu selbstreflexivem Umgang damit lebensgeschichtlich half ihr dabei genauso wie der angedeutete Sarkasmus bzw. die verdeckte Ironie, die in einigen ihrer Werke ebenfalls zum Ausdruck kommen (wie z. B. »Das Treibhaus« oder »Heiratspläne«). Anhand dieser biographischen Versatzstücke gelang es Gruenter, ihre Wahrnehmung mit Imagination aufzuladen, so dass die (Pariser) Literatur wie eine Umfriedung, eine »Art Wohnung« oder ein Haus fungierte.914

914 Gedankt sei dabei auch Stefan Bollmann für den Hinweis, dass seiner Auffassung nach Gruenter in der Tradition der Modistinnen oder Modisten stand, jener Schreibkünstler des Mittelalters, die ein neues Sprachdenken ausbilden und zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Sprache vermitteln wollten. Desweiteren wurden ihre Erzählungen von Bollmann als Fotostrecke von sechs bis sieben Bildern, mit Arbeiten des amerikanischen Fotografen Duane Stephen Michals verglichen, der Fotosequenzen und Texte verbindet, um Gefühlsregungen und Lebensanschauungen festzuhalten, die in Momenten fixiert werden. Beide Hinweise sind es sicherlich wert, weiter verfolgt zu werden.

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»Nie war ich irgendwo so zu Hause.« Ziel Paris als »kulturelles Anderswo« und »literarischer Echoraum«

»Man kennt eine Gegend erst, wenn man sie in möglichst vielen Dimensionen erfahren hat. Auf einen Platz muß man von allen vier Himmelsrichtungen getreten sein, um ihn inne zu haben, ja auch nach allen diesen Richtungen ihn verlassen haben.« (Walter Benjamin, 15. Dezember 1926, »Moskauer Tagebuch«, GS, Bd. 6, 306)

Innerhalb dieser Studie ist erstmals versucht worden, Leben und Gesamtwerk der Schriftstellerin Undine Gruenter (1952–2002) zu untersuchen. Für den Verfasser dieser Arbeit gilt Undine Gruenter trotz geringerer Resonanz bei einem größeren Lesepublikum als eine der bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Bei Betrachtung ihres Gesamtwerks unter Zuhilfenahme hermeneutischer Kategorien wie Raum, Fremde respektive fremder Raum Paris und flankierender biographischer Anmerkungen ist ihre literarische Bedeutung herauszustellen versucht worden. Dabei wurde auf Untersuchungen zum Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs zurückgegriffen, auf Gumbrechts Exponierung der »Stimmung« im literarischen Kontext915, auf den Stilbegriff im Sinne Bohrers u. a. sowie auf bereits vorliegende Arbeiten zu Einzelaspekten von Gruenters Werk: etwa zur Liebes-Konzeption und zum Zeit-Begriff (Stichwort: Warten) oder zum »Labyrinthischen« ihres Denkens und Schreibens, nicht zuletzt auf die Beziehung ihres Schaffens zum Traum oder zum Somnambulen. Zudem wurde ihren Anleihen bei literarischen wie künstlerischen Werken der Moderne oder »2. Moderne«, vorwiegend der französisch surrealistischen Literatur916, besondere Beachtung geschenkt. Festzuhalten bleibt, dass Undine Gruenter auf Deutsch unter Einbezug »französischer Kulturvokabeln«schrieb: Sie war eine deutschsprachige Schriftstellerin mit Ziel Paris. Bezogen auf Leben und Werk lässt sich von einer Art dreifacher Abgrenzung sprechen. In biographischem Sinne grenzt sie sich erstens früh von ihrer »Heimat« (dem Rheinland) und ihrer deutschen Herkunft ab, wie sie umgekehrt lange vor ihrer Übersiedlung die Anziehungskraft des »magnetischen Orts Paris« entdeckt. Sie setzt sich zweitens im Hinblick auf ihr Werk zudem von jeder »Jetztzeit« ab und entwickelt eine Distanz zu literarischen Werken der Gegenwart. Ihre geistigen Wurzeln findet sie in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts wie des 20. Jahrhunderts, im Existentialismus, aber vor allem im Surrealismus. Im Verlaufe der Entwicklung ihres 915 D. h. den spezifischen Sound oder Ton eines Werkes. 916 Die Surrealisten, die wiederum zum Teil die deutsche Romantik rezipierten.

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Schaffensprozesses streift sie diese Prägungen ab, emanzipiert sich davon und schafft in ihrem Werk etwas genuin Eigenständiges. Im Zuge dieser Entwicklung setzt sie sich schließlich drittens literarisch wie kulturell größtenteils von Werken der deutschsprachigen Literatur ab und bewegt sich in einem ganz eigenen »poetischen Kosmos.« . Diese Einzigartigkeit des Werks Gruenters lässt sich nicht zuletzt an ihrer »Technik« eines Supranaturalismus’ oder Hyperrealismus’, am Vorrang des Erfindens vor dem Finden, am Primat von Bildern vor Handlungen, festmachen. Auf diese Weise zählt sie zu den ganz wenigen, stark vom Surrealismus beeinflussten Schriftstellerinnen und Schriftstellern innerhalb der deutschen Literatur.917 Innerhalb ihres literarischen Schaffens bevorzugt sie das Konzept der künstlerischen Maske vor der Darstellung eines nur vermeintlich »authentischen Selbst’«. Diese Vorstellung wird durch die starke Orientierung ihres Lesens und Schreibens an Texten von Aragon und Breton bzw. ihrer »Vorbilder« Bataille oder Artaud gefördert, nicht zuletzt auch durch ihre Rezeption von Benjamins »Sürrealismus«-Konzeption. Auf den ersten Blick mochte sie neben ihrer Neigung zur literarischen Urbanität in Gestaltgebung der Metropole Paris durchaus als »neue Romantikerin« erscheinen, allerdings weniger, was ihre Motive wie die Parks, das Meer, den Garten etc. betrifft, sondern durch einen nur scheinbar »kitschigen« Zugang zu den »Dingen« wie den Räumen, der im Werk aber immer »gebrochen« erscheint und dabei zu einem »poetischen« wie reflexiven Raum zugleich konfiguriert wird. Zudem ist der Bezug zu den dargestellten Motiven, Topoi oder Phänomenen nie naiv oder unmittelbar, sondern immer schon durch ihre Lektüren »gefiltert«. Es sei etwa an die Erzählung »Place Dauphine« erinnert. In diesem Kontext wurde innerhalb dieser Untersuchung darzulegen versucht, inwieweit Undine Gruenter eine poeta doctus respektive femme de lettres, also eine »große Leserin« (wie Nicht-Leserin) war und inwieweit sie Einflüsse ihrer Lektüren in ihrem Werk verarbeitete, selbst wenn ihre konkrete Bibliothek, die weiterhin Bestand hat, sich eher bescheiden ausnahm. Mit wenigen Ausnahmen hat sie viele Werke nicht im französischen Original, sondern auf Deutsch gelesen. Dennoch sind ihre Romane gespickt mit Anspielungen eines gewissen (vorwiegend französischen) »Bildungsvokabulars«918 respektive »Kulturvoka-

917 Der Verfasser tendierte zunächst dahin, sie als »Surrealistin« zu labeln, was in Bezug auf Gruenter an sich schon problematisch wäre. Im Verlauf der Arbeit hat er jedoch seine Ansicht dazu revidiert, wie in den vorausgegangen Kapiteln deutlich geworden sein sollte. Sie nahm surrealistische Texte eher als Impuls, um schließlich etwas völlig Eingeständiges in ihrem Werk zu entwickeln. 918 Vorwiegend der französischen Moderne, aber auch der Kunst insgesamt, insbesondere in Hinsicht auf ihre Vorlieben von Stillleben, wie sie selbst schreibt.

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beln«919. Konzedierend sei sogleich hinzugefügt, dass ihre Texte als Kunstwerke auch ohne großes literarisches Wissen zugänglich sind. Was sie allerdings durch ihre Art des Schreibens, unhierarchisch strukturiert und bis ins Kleinste bedeutungsvoll wie anspielungsreich, dem Lesepublikum abverlangt, ist eine sehr intensive Lektüre ihrer Texte, was diese im übrigen sehr schwer »nacherzählbar« macht. Sie setzt »langsame Bilder«, zum Teil Begriffe, gegen das beinahe filmische schnelle Ver-, Weiter- und Zurückgehen oder »Verfließen« der Zeit. Damit wendete sie sich gegen einen bestimmten »Zeitgeist« – einen Ausdruck, den sie selbst benutzt –, der dieser Auffassung diametral entgegenzustehen schien, woran sich bis heute nicht geändert zu haben scheint, nicht allein, was literarische Werke, sondern auch, was wissenschaftstheoretische und philosophische Positionen betrifft.920 Daran anknüpfend, »anschlussoperativ« um mit Luhmann zu sprechen, kommt man nicht zu bemerken umhin, dass Gruenter sich sehr mit philosophischen oder programmatischen Schriften sowie mit der Psychoanalyse Freuds auseinandergesetzt hat, selbst wenn sie vor allem Positionen des letzteren nicht unbedingt teilte. Auf einige wenige postmoderne Denker (beispielsweise: Derrida) wird sogar in ihren Prosa-Werken explizit Bezug genommen, manchmal auch nur textsubkutan, wohingegen diese in ihren programmatischen Schriften eher moderat vorkommen. Ähnliches gilt für Heideggers Existentialontologie. Innerhalb ihrer theoretischen Ausführungen, die sie vor allem in »Der Autor als Souffleur«, aber auch in posthumen oder unveröffentlichten Texten darlegt, bezieht sie sich auf Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Kulturen wie Zwetajewa, Woolf, de Beauvoir, Colette, Duras oder auch Atabay oder Kisˆ, die eher als Singuläre in der Literatur ihrer Kulturen gelten. Innerhalb der deutschsprachigen Literatur steckt sie ihren Referenzrahmen ebenfalls eher in Hinsicht auf anspruchsvolle, »hermetische« Vertreterinnen und Vertreter wie Peter Handke, Brigitte Kronauer oder Hertha Müller ab, mit der sie neben Ingeborg Bachmann zum Teil verglichen wird. Auffallend ist ihre Hinwendung zu einer bestimmten Art oder »Verfasstheit« der Moderne (Aragon, Breton, Baudelaire, Poe etc.). Dagegen fallen Autoren wie Claudel oder Rilke fast komplett aus dem Raster ihrer »bewussten Wahrnehmung« bzw. Lektüre. Besonders virulent wird dies bei letzterem, der den größten »Parisroman« innerhalb der deutschsprachigen Literatur geschrieben hat, den er allerdings selbst nur »Prosawerk« nennt, und der von Gruenter trotz verwandter Themen und Motive921 kaum erwähnt wird. Über die Gründe lässt sich keine abschließend befriedigende 919 Mit Namen real existierender Straßen, von Orten, Theatern, Cafés, was auf eine gewisse Weise dann sogar Anzeichen eines Realismus zeigt. 920 Vgl. hierzu: Rosa (2013). 921 Wie die Dinge, die Epiphanie der Großstadt, überhaupt das Motiv von Paris etc.

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Antwort geben. Es ist innerhalb der Arbeit zu verdeutlichen versucht worden, dass dies mit Gruenters anderer, radikalerer Auffassung der Moderne zu tun haben könnte, unter deren strengen künstlerischen Verdikt Rilkes Werk keinen Beifall fand. Sicherlich könnte auch Gruenters stärkere Hinwendung zum Bild und zur Bildenden Kunst damit zu tun haben. Trotz ihrer »poetischen Prosa« blieb ihr die Musik als Referenzrahmen eher fern: Rilke, aber auch spätere Autorinnen oder Autoren wie Bachmann etc., mit der Gruenter zum Teil gerne verglichen wird, werden innerhalb einer bestimmten Richtung in der Forschungsliteratur in ihrer Prosa und Poesie eher »musikalisch begriffen«, ja sogar als klanglich »harmonisierend« wie »deklamierend« beschrieben. Gruenter dagegen ist so nicht zu begreifen. Dazu hat sie zu sehr den »Riss der Moderne« empfunden, wenngleich sie im Anschluss daran versucht – und hier setzt sie sich von surrealistischen Positionen deutlich ab922 –, eine Übereinstimmung von Inhalt und Form zu finden. In diesem Zusammenhang ist innerhalb der Studie weiter nach ihren philosphischen Grundannahmen gefragt worden. Selbst unter der Annahme einer Entwicklungslinie in ihrem Werk und trotz der Erwähnung von Luhmann und der »Auseinandersetzung« mit dessen Opus »Liebe als Passion« in ihrem letzten Werk »Der verschlossene Garten«, wo Luhmann als der Protagonistin »deutscher Lehrer« bezeichnet wird923, tendiert sie doch prinzipiell epistemologisch durchgängig eher zur Phänomenologie im Sinne von Merleau-Ponty924 oder Aron Raymond925. Zudem findet sich darüber hinaus in ihrem letzten Werk »Der verschlossene Garten« durch den Namen des Protagonisten Soudain eine Auseinandersetzung mit dem Werk und der Person Karl Heinz Bohrers und dessen Prinzip der Plötzlichkeit, mit dem sie geistig und bewusstseinsmäßig durch gemeinsame Lektüren wie durch dessen frühe Werke – trotz der Eigenständigkeit ihrer Werke, auf die beide hinweisen – stark verbunden war. Bohrers Prinzip der Plötzlichkeit kann sie allerdings nur sehr bedingt folgen und führt formalästhetisch zugleich das Prinzip der Ewigkeit dagegen an, worauf an konkreten Stellen des Werks hingewiesen wurde. Worin sie mit Bohrer ebenfalls nicht übereinstimmte, war dessen Ästhetik des Schreckens – auch wenn sie seinen Text »Terror und Authentizität« rezipiert und zitiert (DH, 78). Darüber hinaus teilte sie seine im weitesten Sinne »politische 922 Wenn man etwa an das surrealistische Prinzip der »ecriture automatique« oder das »hazard objective« denkt. 923 Was sie zudem deutlich in »Der Autor als Souffleur« expliziert. 924 Der häufiger genannt wird, wohingegen Husserl in ihrem Werk nicht auftaucht. Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (Perspektiven der Humanwissenschaften 7). Berlin: de Gruyter Studienbuch 61976. 925 Etwa seines berühmten Zitats im Gespräch mit Sartre über den Aprikosencocktail. Vgl. Bakewell (2016), 13ff. Vgl. hierzu auch den Memoirenband von Simone de Beauvoir: In den besten Jahren. Übersetzt von Rolf Soellner. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1961. (Original: La force de l’âge, Paris: Gallimard 1960).

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Haltung« nicht, wie Bohrer selbst schreibt. Sie wurde deshalb auch nie verdächtigt, in irgendeiner Weise, einem »Rechtsrevolutionismus« anheim gefallen zu sein. Im Gegenteil: Durch ihre genaue Beobachtung und Beschreibung der Dinge, Interieurs wie Exterieurs, wie auch der Stadtviertel und Märkte von Paris, gab sie beispielsweise den Pariser Migranten aus dem Maghreb in der Goute d’or ihre Stimme und auf diese Weise ihre Würde, aber auf poetisch emphatische Weise. Von daher lässt sie sich genausowenig als politisch »Linke« oder »Feministin« bezeichnen; sie bekleidet zum Teil vergleichbare »anarchistische Positionen« wie Bohrer, sah dabei allerdings stärker als er die soziale Verortung und Verantwortung von Kunst bzw. Literatur. Insofern schimmert doch eine Art von erdichtetem, poetisch »politischem Engagement« in ihren Werken bzw. programmatischen Schriften durch (hierin wieder einigen der Surrealisten ähnlich). Einig war sie sich mit Bohrer ebenfalls in der Einschätzung der »Provinzialität der damaligen Bundesrepublik« Deutschland bzw. ihres Herkunftsorts, der Gegend des Rheinlands, deren Beschreibung oft kontrapunktisch zur Metropole Paris aufscheint. Überhaupt lässt sich eine große Paris-Begeisterung ihrerseits ausmachen, die auch aus ihrer als defizitär erscheinenden Beziehung zu ihrer geographischen wie kulturellen Herkunft resultiert. Als »große und großzügige Gegenwelt« hierzu fungierte Paris. Solange sie noch gehen konnte926, unternahm sie häufig Spaziergänge in und durch Paris927, insbesondere zur Schärfung der ästhetischen Wahrnehmung beim Gehen bzw. Flanieren928. In ihrer Paris-Darstellung steht sie sowohl in einer großen französischen als auch in einer starken fremdkulturellen Tradition, bezogen auf den Mythos von Paris wie zugleich auf dessen »Dekonstruktion«929. Paris wird bei ihr auf diese Weise in mannigfaltiger Brechung zum Zentralmotiv der Fremde, des Raums bzw. des fremden Raums, zum einen durchaus im autobiographischen Sinne, aber zum anderen als künstlerischer Raum im Sinne Lotmans bzw. als poetischer Raum. In dieser Hinsicht durchziehen weitere Antagonismen das Werk Gruenters, etwa jener Gegensatz von Frankreich und Deutschland im kulturellen Sinne, von Metropole und Provinz im gesellschaftlichen Sinne, von Traum und »Analyse« im psychologischen Sinne, von Wissenschaft (bzw. Philosophie) und Kunst im erkenntnistheoretischen Sinne, von 926 Was ihr bezeichnender Weise später durch die Krankheit genommen wurde und sie »von der Lähmung als dem Zentrum ihres Schreibens« schreibt. 927 Inspiriert durch die Schriften von Benjamin oder Franz Hessel, aber vor allem auch durch die Auseinandersetzung mit den Texten der Surrealisten Aragon und Breton. 928 Oft begleitet oder inspiriert durch Bohrer bzw. ihre Freundin Andrea Köhler, sowie durch den Germanisten und Komparatisten Betz, den Romanisten und Komparatisten Oehler oder den Romanisten Stoll, die in Paris wohnten. Dolf Oehler brachte Undine auf die Spuren Baudelaires in Paris. 929 Ein inzwischen inflationär gebrauchter Begriff, den Gruenter nicht wirklich benutzen wollte.

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Bild und Wort im formalästhetischen Sinne, von Bildender Kunst und Literatur, von Intuition und Reflexion, von Installation und Performanz o. ä. Gruenters Standpunkt ist dabei primär immer ein ästhetischer, im Gegensatz etwa zum akademischen oder wissenschaftlichen Fokus. Gegenüber der Realität räumt sie dem (Tag-) Traum den Vorrang ein, der ihrer Meinung nach als künstlerische Potenz bestehen bleiben muss und nicht psychoanalytisch »weganalysiert« werden darf. An diesem Punkt trifft sie sich erneut mit den meisten Surrealisten (hier allerdings auch mit Rilke). In diesem Sinne lässt sich der von ihr zum Teil selbst vertretene Gegensatz von Leben und Werk nicht durchweg so aufrecht erhalten. Auf gewisse Weise hat ihr Leben ihr Werk auf jeden Fall beeinflusst, allerdings verhielt es sich umgekehrt genauso. Beleg dafür wurden vor allem aus dem sowohl ästhetisch-literarisch programmatischen als auch autobiographischen Journal »Der Autor als Souffleur« angeführt: Nach der Erstlektüre könnte die Leserin wie der Leser von einigen autobiographischen Details geradezu »schockiert« sein, insbesondere bei einer Autorin, die wiederholt betont, dass das Biographische keine Rolle für ihr Schreiben spiele bzw. zu spielen hätte, ja, dass es ihr Schreiben schlechter machen würde. Letztendlich könnte es sich aber auch hier im Sinne der angesprochenen »Autoren-Maske« um »reine Fiktion«, sprich Literatur, handeln. Umgekehrt fließen viele »Orte«, die sie im »Journal« nennt, selbst was Namen und Titel betrifft, in ihr Werk mit ein, so dass es scheint, dass das »Autobiographische« doch nicht so weit vom im Werk Realisierten entfernt liegt, selbstredend immer konzedierend, dass die Erzählerin bzw. der Erzähler niemals mit der Autorin identisch ist. Sie antwortet in diesem Kontext auf die Frage, weshalb sie oft einen männlichen Erzähltypus benutzt, wie folgt: »Ich bin in meinen Büchern oft ein Mann, weil ich die Mädchenerziehung des Dienens und Schweigens genossen habe.«930 Darüber hinaus betont sie das Erzählen aus der Perspektive anderer im Sinne eines »literarischen Assimilierens« der Identität. Abschließend soll noch einmal auf einen zentralen, den vielleicht schwierigsten Aspekt des Werks eingegangen sein, nämlich auf die Sprache respektive den eigenen Sound oder Ton der Autorin. Die Sprache Gruenters wird von Kritikern immer wieder im weitesten Sinne mit ihrem besonderen (Schreib-) Stil in Verbindung gebracht. Dabei kann die Frage, ob sie vom Französischen stark beeinflusst ist, nicht abschließend beantwortet werden – der Verfasser neigt eher, anders als einige Kritiker, – zu einer abschlägigen Antwort. Signifikanter erschien dem Verfasser allerdings das über den zugrunde gelegten »fremden« Raumbegriff herausgestellte glänzende Vermögen der Autorin der Schilderung von Atmosphären, Stimmungen oder Erinnerungen, die in der Sprache »verörtlicht« und auf diese Weise sinnlich erfahrbar werden. 930 AS, 192.

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Das Faszinierende wie schwer Zugängliche des Gesamtwerks Gruenters liegt also in der Sprache selbst begründet, in deren Lakonie, in deren Komplexität, aber vor allem in Gruenters Fähigkeit, durch ihre Sprache fast »romantische Atmosphären« zu schaffen und diese sogleich wieder zurück zu nehmen, damit die Rezipientin wie der Rezipient nicht in einen falschen Sog von Identifikation geraten. Damit verbleibt ihre Sprache in jener Spannung von Identifikation und Distanzierung (Reflexion), wie sie von Literaturkritikern generell oft eingefordert wird. Es gibt innerhalb der deutschsprachigen Literatur nicht viele Vertreterinnen und Vertreter einer solchen Schreibkonzeption sowie der Verwirklichung derer, was erneut für die »Einzigartigkeit« der Prosa Gruenters spricht. Mit diesem Verständnis literarischen (Schreib-) Stils steht Gruenter in der Tradition Heinrich Heines, der, welche Paradoxie des Schicksals, nur ein paar Meter von ihr entfernt auf dem Friedhof Montmartre begraben liegt. Darüber hinaus lässt sich Gruenter geradezu als ein Paradebeispiel für das von Gumbrecht exponierte Prinzip des »Stimmungen-Lesens« in der Literatur anführen. Diese »Technik« Gruenters hat nichts mit der Darbietung einer gewöhnlichen Stimmung zu tun, die Gumbrecht so auch nicht meint, sondern ist eine artifizielle, hoch komponierte Art der literarischen Darstellung, die in Gruenters Schreiben nicht zuletzt dadurch entsteht, dass Dinge durch die Perspektive der anderen oder des anderen (»der Dinge«, durchaus im Sinne von Heideggers »Seinsontologie«) beschrieben werden, um sich damit jeder zu stark fixierenden Art von Identität zu entziehen. In diesem Sinne wird die »Beobachterrolle« der Erzählerin oder des Erzählers von Gruenter wie folgt betont: »Es gibt zwei Arten von Schriftstellern, der eine ist der Man-muß-alles-vorher-ErlebenTyp und der andere ist der Incognito-Typ. Er ist der absolute Beobachter. Er zehrt von den Geschichten der anderen. Ein höchst einfaches System.« (NB, 99, der Erzähler in der gleichnamigen Erzählung »Nachtblind«, Ergänzung SW)

Kontrapunktisch dazu lässt sich der Begriff der literarischen »Maske« im Sinne der russischen Protonarratologie auf die Figuren der Erzählungen, aber stärker noch auf die Darstellung des Räumlichen in Gruenters Prosa übertragen, so dass man sagen kann, dass Gruenter eine Art »geographisches Maskenspiel« betreibt. Sie stellte räumliche Situationen überdeutlich visualisiert und versinnlicht dar, als würde sie ein schon vorhandenes Bild eines Orts »übermalen«, eine Schicht über die andere legen, in einer Art von »klassischem bzw. geographischem Reclassement« einen neuen poetischen Ort generieren, in dem die Figuren zu Staffagen dieses Environments oder »Stilllebens« werden. Man könnte sagen, dass sie »literarisch« mit der lokalen Vorgabe oder dem gegeben Rahmen »spielt« und auf eine Weise verändert, so dass dabei etwas vollkommen Neues, das »ganz Andere« entsteht, nicht allein der fremde Ort als künstlerischer Raum, sondern zugleich der »fremde Text« als poetischer Imaginationsraum.

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Damit steht sie für eine Art von Literatur, wie sie in den letzten Jahren innerhalb der deutschsprachigen Literatur verschwunden zu sein scheint. Es handelt sich um eine Auffassung von Literatur, die aus der Autonomie des Kunstwerks erwächst und darauf besteht, sich einem Werk allein mit ästhetischen Kategorien zu nähern, dabei jede andere politische, gesellschaftliche, kulturelle oder welche Funktion der Literatur auch immer ablehnt. Gruenters Auffassung von Literatur entfernt sich somit weit von jeder Konzeption eines »cultural turn«, »narrativen approach«, »kulturellen Gedächtnis’« o. ä. und will sich von solchen Interpretationskategorien nicht vereinnahmen lassen. Die Prosa Gruenters bzw. deren Lektüre könnte als ein Plädoyer für die Zukunft verstanden werden, Literatur wieder als jene Kunst zu begreifen, die nicht zum Sprachrohr weltanschaulicher methodischer Kämpfe degeneriert oder dazu funktionalisiert wird, in dem Sinne wie Gumbrecht meint, dass auf diese Weise bald jede Art von »Methode« wegfallen könnte. Ein literarisches Werk als Kunstwerk zu lesen, zu zitieren und zu betrachten, darauf macht die Literatur Gruenters aufmerksam. So fungiert Gruenter mit ihrer Literatur und über ihren Tod hinaus als eine noch immer mahnende »erfrischende« Stimme, gerade in einer Zeit, die dieser Tendenz diametral entgegen zu laufen scheint. Vielleicht kann man in Hinsicht auf das Schaffen Gruenters metaphorisch das bekannte Bild jenes Malers betätigen, der in sein eigenes Bild stieg und nie mehr hinauskam. Ebenso stieg Undine Gruenter in ihr Werk (und manchmal in das ihrer Vorgänger, ohne dabei in irgendeinem Sinne Epigonin zu sein) und versuchte, darin zu leben. Dass dies mitunter mit gesellschaftlichem Eskapismus verbunden sein kann, lässt sich nicht ganz von der Hand weisen. Last but not least sei noch auf zwei weitere zentrale Aspekte in Hinblick auf das Werk Gruenters hingewiesen: Zurückkommend auf die gestellte Eingangsfrage ist das Werk Gruenters in der Tat ohne das literarische und künstlerische ParisMotiv schwer vorstellbar, weil dies ihr einen kulturellen Fluchtpunkt und ästhetische Inspiration bot, was Gruenter nirgendwo sonst fand, als »kulturelles Anderswo« und »literarischer Echoraum«. Desweiteren sei ein weiterer, letzter Gesichtspunkt herausgestellt, der in der Beschäftigung mit Gruenter eine bislang eher untergeordnete Rolle spielte, den Köhler im Gespräch mit dem Verfasser mit in die Diskussion einbringt und der evtl. ebenfalls zukunftsweisend für eine weitere Beschäftigung mit dem Werk Gruenters sein könnte: die persönliche Haltung bzw. literarische Erzählweise Gruenters aus einer ironischen Distanz heraus, wie sie in einigen Werken Gruenters wie z. B. »Das Treibhaus«, »Hochzeitspläne« oder »Das Versteck des Minotaurus« durchschimmert, aber auch in der Beschreibung von Menschen oder Situationen im »Journal«. So ließe sich noch einmal auf die Erkenntnisse der russischen Proto-Narratologie verweisen, von Tynjanov (1975) oder Gruzdev (2008) in Hinblick auf die schon oben erwähnte »Autorenmaske« oder die

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»Maske als literarischem Verfahren«.931 Selbst wenn von dieser Richtung nur Gruzdev von Gruenter direkt genannt wird, so eröffnet sich durch die Studien in Richtung dieser Lesart doch der Blick auf die »Maske als Parodie« im Sinne einer »Selbstmaskierung«. Dieser Doppelschritt von poetischer Annäherung an Orte, Menschen und Phänomene bei gleichzeitiger parodistischer Maskierung und Distanzierung im Sinne einer reflexiven Relativierung scheint für das Werk Gruenters essentiell. Die Unterschiede zwischen Leben und Literatur, zwischen Bild und Gegenstand etc. werden zugleich markiert wie sie in jener beschriebenen Offenheit und Prozesshaftigkeit verschwinden.932 Insofern scheint im Sinne Sˇklovskijs, den sie und sein Werk »Kunst als Verfahren« (1994) nennt, eine ganz »neue Wahrheit« auf, die ganz im Sinne Heideggers (1986) den »Ursprung des Kunstwerks« nur mit ästhetischen, nicht mit wissenschaftlich diskursiven Mitteln begreifen lässt. Wenn man abschließend und daran anschließend von einer »Technik« Gruenters sprechen mag, so geht es sich dabei darum, (auto-)biographische Versatzstücke ihres Lebens in völlig veränderte, sich nicht mehr auf die Wirklichkeit beziehende, ästhetische Texte zu verwandeln. Die Autorin überträgt Fragmente des eigenen Lebens in kleine kunstwerkartige Szenen, deren biographische Akzidentien in dieser literarischen Maskierung über das Leben der Autorin hinaus Bestand haben werden. Auf diese Weise wird letztendlich die eigene Mortalität in hinreißend gelungenen Texten bezwungen und die je spezifischen Orte in Atmosphären und Stimmungen übersetzt, wodurch das Leben literarisiert und die Literatur wiederum von eigenen Lebensorten durchsetzt ist. In dieser Hinsicht ist die Autorin sicherlich einzigartig in der deutschsprachigen Literatur. Die Frage Literatur oder Leben wird auf diese Weise obsolet und wirkt mit einem Male unangemessen, weil dieser nur vermeintliche Gegensatz somit aufgehoben erscheint. Gruenters Prosa macht auf einen entscheidenden Kunstgriff aufmerksam: Zum einen ist (hier) jede Form autobiographischer Rückbesinnung, Erinnerung immer Fiktion, »Lüge« (mit Platon gesprochen), »Literatur«, d. h. ästhetisch ge-, ver- und durchformt, und auf der anderen Seite wird dennoch nicht von inexistenten Orten ausgegangen, sondern von konkreten Orten, die auf diese Weise zu »Imaginationsorten« mutieren. Bei aller herausgestellten Eigenständigkeit der Autorin steht sie dann doch in der von ihr so geschätzten surrealistischen Tradition, ohne diese zu imitieren oder sich in irgendeiner Weise in diese Tradition einschreiben zu wollen. Durch das je spezifisch Eigene ihres Kunstvermögens wie ihres Lebenswegs führt sie diese Ansätze aber zu einer großartigen »neuen Einzigartigkeit« literarischer Prosakunst wei931 Auch von Bachtin (2006) oder Sˇklovskij (1994). 932 Im Sinne von Kafkas Erzähler in »Von den Gleichnissen«, dass man nie sicher sein kann, ob man in der Literatur, der Kunst oder der Realität verbleibt.

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ter, was als Qualitätskriterium zu verstehen ist. Auf diese Weise lässt sich von einer doppelten Rückbezüglichkeit der Undine Gruenter in Richtung Paris sprechen: konkret als Lebensraum und Schaffensort wie literarisch künstlerisch als Motivhorizont, der auf ihr Leben zurückwirkte und vice versa.

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