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German Pages [161] Year 2019
HANSPETER MARTI KARIN MARTI-WEISSENBACH (HG.)
Traditionsbewusstsein und
AUFBRUCH
ZU DEN ANFÄNGEN DER UNIVERSITÄT HALLE
Hanspeter Marti Karin Marti-Weissenbach (Hg.)
Traditionsbewusstsein und Aufbruch Zu den Anfängen der Universität Halle
Böhlau Verlag wien köln weimar
Der Druck dieser Publikation wurde von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Engi, unterstützt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen : Vorne links : Christoph Cellarius (1638–1707) : Kupferstich von Martin Bernigeroth. https://www. bildarchivaustria.at/Pages/ImageDetail.aspx?p_iBildID=9174533. Vorne rechts : Paul Anton (1661–1730): Kupferstich von [Martin Bernigeroth]. Halle, Franckesche Stiftungen: BFSt: Porträtsammlung : B 160 (elektronische Quelle: http://192.124.243.55/cgi-bin/ boet.pl). Hinten links : Johann Peter Ludewig (1668–1743, 1719 geadelt) : Kupferstich von Martin Bernigeroth. MDZ, VD 18: 11067268, urn: nbn: de: bvb : 12-bsb11019992-8. Hinten rechts : Johann Daniel Herrnschmidt (1675–1723) : Ölporträt. Die Rechte am Original und das Urheberrecht an der Fotografie liegen bei Martin Müller, Gifhorn-Kästorf. Korrektorat : Karin Marti-Weissenbach, Engi/Glarus Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51640-6
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hanspeter Marti Humanistische Propädeutik und akademisches Studium in der Frühzeit der Universität Halle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Robert Seidel Diskurse einer Disputation – Johann Peter Ludewigs Thesenschrift De prima academia, villa Platonis, cum nova Halensium collata (Halle 1693) . 65 Andres Straßberger Aufklärung im Pietismus. Zum Neuheitsanspruch einer Homiletikvorlesung Johann Daniel Herrnschmidts . . . . . . . . . . . .
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Dietrich Blaufuß Halle – »eine neu angelegte academie«. Philipp Jakob Speners Programm des Theologiestudiums und Paul Antons Elementa homiletica .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Publikationen zur Geschichte der Universität Halle haben nach wie vor Konjunktur, und dies wird hoffentlich so bleiben. Zu viele Desiderate warten darauf, von der Forschung benannt, anerkannt und behandelt zu werden. Auch vertrauten Themen lassen sich immer wieder neue Erkenntnisse abgewinnen. Die Umschlag-Vorderseite unseres Bands zeigt nicht die Porträts von Christian Thomasius, August Hermann Francke oder Christian Wolff. Stattdessen begegnen wir dort dem Rhetorik- und Geschichtsprofessor Christoph Cellarius und dem Theologen Paul Anton, die bis jetzt von der Forschung zu wenig beachtet wurden, hier jedoch mit den auf der Rückseite abgebildeten beiden Hallenser Amtskollegen, dem Geschichts- und Rechtsprofessor Johann Peter Ludewig und dem früh verstorbenen Theologen Johann Daniel Herrnschmidt, in den historiographischen Mittelpunkt rücken. Gleichzeitig wird unterrichtsgeschichtlichen Aspekten sowie einschlägigen literarischen Gattungen und deren Wechselbeziehungen Beachtung geschenkt. Lässt man sich auf scheinbar eher abseitige Themen ein und verortet die behandelten Protagonisten in ideen- und sozialgeschichtlichen Kontexten, übertrifft das Forschungsergebnis meistens die zunächst vielleicht geringen Erkenntniserwartungen. In diesem Sinn werden hier erste Anregungen für weitere, eingehendere Studien vermittelt, und auch der gegenwärtigen wissenschaftlichen Tätigkeit wird ein Platz im historisch-dynamischen Feld von Traditionsgebundenheit und Innovationsbereitschaft gesichert. Im akademischen Kleinschrifttum der 1693 gegründeten und im Jahr darauf eröffneten Universität Halle wurde das Verhältnis von Traditionstreue und Abkehr von der Vergangenheit außergewöhnlich lebhaft und mit sehr unterschiedlichen Akzenten diskutiert.1 Während – um nur ein Beispiel zu nennen – die einen für ihre medizinischen Inauguraldisputationen mit der Originalität ihres Themas warben, gaben sich noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts andere bescheiden und würdigten, um den Vorwurf der Ruhmsucht präventiv abzuwenden, in erster Linie die Verdienste ihrer Vorgänger. Am Novitätsanspruch 1 Hanspeter Marti : Altes festhalten, Neues suchen. Hallenser Disputationen im frühen 18. Jahrhundert. https://forschungen-engi.ch/projekte/Halle-Schlussreferat-kmw.pdf (letzter Aufruf 17.03. 2019).
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Einleitung
als wissenschaftlicher Erkenntnismaxime hielten aber auch rückwärtsgewandte Mediziner fest.2 Das Spektrum der Antworten auf Neuheitsforderungen war im Vergleich mit Kleinschrifttum anderer frühneuzeitlicher Hochschulen deutschsprachiger Länder in den Hallenser Universitätsschriften auffällig breit. Darauf gehe ich demnächst im Rahmen einer in Arbeit stehenden Geschichte des frühneuzeitlichen Disputationswesens ausführlicher ein. Die historiographische Beantwortung der Frage nach dem Neuen in der Geschichte setzt die Kenntnis eines umfassenden, wie auch immer geschichtsphilosophisch bzw. -theoretisch untermauerten Ganzen voraus, das dem Historiker respektive Betrachter erlaubt, Erstmaliges von Früherem zu unterscheiden. Diesem Erfordernis entspricht am besten eine dogmatische Geschichtsschreibung mit universalem Geltungsanspruch, die aber ihrerseits Gefahr läuft, sich neuen, das heißt nicht in ein vorfabriziertes (Epochen-)Schema passenden Befunden zu entziehen. Tatsächlich Neues zu erkennen, das zugleich von historischer Relevanz ist, stellt angesichts der beschriebenen Zirkularität das Resultat eines von Erfolg gekrönten historiographischen Wagnisses dar. Auf ein solches Abenteuer ließen sich die Autoren der in diesem Band vereinigten Aufsätze ein. Das Urteil über das Gelingen müssen sie den Lesern überlassen. Im einleitenden Beitrag behandelt der Herausgeber zunächst die Unterrichtstätigkeit von Christoph Cellarius (1638–1707). Mit seinen Lehrbüchern und anderen Philologie und (römische) Historie betreffenden Publikationen wirkte der Hallenser Gründungsprofessor weit über die Fridericiana hinaus. Der Aufsatz stellt vorerst anhand ausgewählter Vorlesungsverzeichnisse das Unterrichtsangebot der Hallenser philosophischen Fakultät vor, um dann auf die bislang unbeachteten Ankündigungen von Deklamationen und auf von Cellarius als Rektor des Gymnasiums in Zeitz gehaltene Reden einzugehen. 2 Dazu ein lehrreiches Beispiel, in dem die in Bezug auf die novitas-Forderung traditionell anmutende Themenwahl mit einer Serie topischer Argumente gerechtfertigt wird : Andreas Elias Büchner (Pr.), David Gottlieb Zierold (Breslau) (Resp.) : Dissertatio inauguralis medica sistens nexum podagrae cum calculo renum et vesicae. 15. März 1752. Halle, Prooemium, Bl. A3r–A3v, hier Bl. A3v : »Inter tot innumera, quibus corpus humanum, tam ratione structurae particularis intrinsecae, quam corporum externorum in illud diversa vi agentium, expositum est, mala, Podagra et calculus sibi iam ab antiquissimis temporibus non ultimum locum vindicarunt ; nostro autem seculo multos non infimae sortis homines affligendo, Medicos quam plurimos ad sui accuratiorem considerationem, et ad diffusiorem a compluribus susceptam in scriptis pertractationem, impulerunt, unde etiam isti affectus iamiam ita sunt pervestigati et enucleati, ut novum aliquid addere fere impossibile videatur. Quum vero, his non obstantibus, singulares quaedam rationes ad praesentis Thematis electionem et specialiorem expositionem me determinarent, novis idcirco inventis gloriari haud volui, sed cognitis veritatibus inhaerere, illasque studiose connectere, mihi proposui […]«.
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Es bietet sich die Gelegenheit, die quellengeschichtliche Bedeutung frühneuzeitlicher Programmschriften voruniversitärer hoher Schulen am Beispiel einer Serie von Texten vorzustellen. Die sächsische Kleinstadt Zeitz und der dortige Hof erfüllten bildungsgeschichtliche und -politische Aufgaben ; sie waren (geistiger) Begegnungsort verschiedener für die Gründung der Universität Halle wichtiger Persönlichkeiten (Veit Ludwig von Seckendorff, Philipp Jakob Spener, Christian Thomasius). In einem nächsten Abschnitt wird der Lebensweg von Christoph Cellarius kurz nachgezeichnet und das anhand der Zeitzer Schriften bereits thematisierte Verhältnis von antik-paganer und christlicher Tradition an einigen Hallenser Dissertationen veranschaulicht, die unter dem Vorsitz von Cellarius verteidigt wurden. Dieser setzte sich nicht nur in ihnen, sondern auch in anderen Textgattungen und Unterrichtsforen (Reden, Gründung des Collegium elegantioris litteraturae) unermüdlich, jedoch nicht unumstritten für die Aufwertung der Philologie als einer Kunde der antiken Altertümer ein, deren Nutzen für angehende Politiker und Juristen er immer wieder hervorhob. Bei der gleichzeitig postulierten Präferenz christlicher Autoritäten ergaben sich Berührungspunkte zum Pietismus und zu Christian Thomasius, von dem Cellarius sich aber durch die grundsätzlich stärkere Gewichtung der studia humanitatis im Fächerkanon der philosophischen Fakultät unterscheidet. Dem politisch und in gelehrten Kontroversen engagierten, auch nichtuniversitäre Bildungsschichten ansprechenden Rechtsprofessor folgte Cellarius weder in der Kritik an der verblümten Rede (ornatus) noch in der zeitweise entschiedenen Ablehnung der Poetik als Unterrichtsfach. Der Vergleich der Positionen lässt aber dennoch Gemeinsamkeiten in den pädagogischen Konzepten der beiden Universitätslehrer erkennen, so die Ausschöpfung der (römischen) Geschichte als nach wie vor unentbehrlichen Beispielreservoirs politisch-juridischer Argumentation sowie der Einsatz für ein auf adelige Studenten zugeschnittenes Ausbildungsprogramm. Ferner ließ Cellarius in mehreren Dissertationen gezielt den von ihm entworfenen Kanon antiker Literatur zum Zweck der Lehrerbildung in Geschichte, Rhetorik und Poesie verteidigen. Sein wohl bedeutendster Hallenser Schüler, Andreas Julius Dornmeyer (1675–1717), setzte die pädagogisch-didaktischen Bestrebungen seines Lehrers am Friedrichwerderschen Gymnasium in Berlin fort. Christian Thomasius, der gerne etablierte Grenzen der Fakultätszuständigkeit zur Philosophie und zur Theologie hin überschritt, stand unter anderem zugleich in der Nachfolge seines Vaters Jakob Thomasius, der in Leipzig versucht hatte, die Lektüre und Nachahmung pagan-antiker Autoren im Unterricht streng zu begrenzen. Die unterschiedlichen Stellungnahmen von Hallenser Pro-
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fessoren zum philosophischen Fächerkanon stützten, aufs Ganze gesehen, den propädeutischen Stellenwert der untersten Fakultät im nach wie vor universal und hierarchisch angelegten System gelehrter Disziplinen, auch wenn sie im Feld der Sprachausbildung ihre pädagogische Mission mit den voruniversitären, nicht promotionsberechtigten Schulen zu teilen hatte. Der Bedeutungszuwachs der philosophischen Fakultät resultierte aus der Aufwertung bestimmter Fächer oder Sachbereiche, die, wie das Naturrecht, die Quellenkritik sowie die eigentlich der Theologie zugehörige Bibelexegese, auch in ihre Zuständigkeit fielen. Robert Seidels Analyse von Johann Peter Ludewigs De prima academia, villa Platonis, cum nova Halensium collata (Halle 1693) enttäuscht Erwartungen, die sich allein auf den Titel bzw. den ungelesenen Text dieser Thesenschrift beziehen könnten : Ludewig ging es nicht um eine Präsentation und Kritik der Philosophie Platons, sondern um eine philologisch gründlich abgestützte Untersuchung zu einem isolierten Spezialgegenstand antiquarischer Studien, dem Gebäude der Platonischen Akademie, mit unverkennbar litterärhistorischer Absicht, die explizite Referenzen auf die neu gegründete Fridericiana weitestgehend vermissen lässt. Seidel verortet die von akribischer Philologie durchsetzte Abhandlung in der Tradition des Polyhistorismus, wie ihn Ludewigs Lehrer Konrad Samuel Schurtzfleisch (1641–1708) in Wittenberg unterrichtet hatte. Die Belastung der memoria, die Christian Thomasius in seinen philosophischen Kompendien und in den Monatsgesprächen immer wieder dem Pedanten vorwarf und zugunsten der Ausbildung des iudicium ablehnte, erscheint in Ludewigs Dissertation, positiv gewendet, als Erfordernis seriöser Geschichtsschreibung, wie Ludewig sie in weiteren Thesenschriften mit ellenlangen Anmerkungs- und Belegapparaten demonstrativ vorführt. Für ihn ist historische Objektivität an die Beweiskraft der Fußnoten gebunden. Der Schwerpunkt von Ludewigs Gelehrtentätigkeit lag, wie erwähnt, unter anderem in der Vermehrung und Thesaurierung von Wissen. Seidels Textinterpretation setzt einen Kontrapunkt zur bisherigen Hallenser Universitätsgeschichte, die sich – vielleicht zu einseitig – von einem mit ›Fortschritt‹ konnotierten Gründungs- und Entwicklungsmodell leiten ließ. Die Kritik am gelehrten Pedanten wie an dessen Kontrahenten waren (auch) an der Universität Halle simultane Zeiterscheinungen. Gelehrte ganz unterschiedlicher Denkrichtungen sowie aller Universitätsfakultäten griffen mit Vorliebe auf die Geschichte als Argument der Standortbestimmung und (moralischen) Orientierung zurück. Eine Monographie über Johann Peter Ludewig, der später ein erfahrener politicus wurde, lässt immer noch auf sich warten. Robert Seidel liefert für eine solche wichtige Bausteine, allein schon, indem er die disparaten Themen unter Ludewigs Vorsitz verteidig-
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ter Dissertationen in Erinnerung ruft, die zu Vergleichen mit der präsentierten Thesenschrift anregen. In den letzten Jahrzehnten erschienene Sekundärliteratur stellt die durchgängige Rationalität von Aufklärung in Frage, bezieht Einflüsse esoterischer Traditionen auf die universitäre Gelehrsamkeit ein und gelangt zu Differenzierungen in der wissensgeschichtlichen Verortung und Wirkung aufklärerischer Diskurse.3 Die erzielten Forschungsergebnisse relativieren die Ausstrahlungskraft eines sich angeblich seit dem letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts auch von Halle aus verbreitenden Lichts von Vernunft und Aufklärung. Es ist die Aufgabe künftiger Forschung, der Pluralität verschiedener Denkrichtungen noch besser gerecht zu werden. Andres Straßberger nimmt die ausführliche Nachschrift einer Vorlesung des Pietisten Johann Daniel Herrnschmidt zum Anlass, den im Spannungsfeld von Innovation und Tradition angesiedelten Homiletikunterricht an der Universität Halle auszugsweise zu untersuchen. Im Unterschied zu Vorlesungsverzeichnissen sind in Form von Manuskripten überlieferte Lehrveranstaltungen in Logik, Disputationslehre und Rhetorik an Hohen Schulen deutschsprachiger Länder eine Rarität. Herrnschmidts Vorlesung stellt solch eine Ausnahme dar. In seinem innovativen Beitrag lokalisiert der Verfasser die Homiletik des Hallenser Gelehrten einerseits im Umfeld logikzentrierter frühaufklärerischer Rhetorik, wie sie von Friedrich Andreas Hallbauer (1692–1750), Johann Andreas Fabricius (1696–1769) und Johann Christoph Gottsched 1700–1766), im reformierten Basel unter cartesianischem Einfluss von Samuel Werenfels (1657–1740) vertreten wurde.4 Andererseits weist er bei Herrnschmidt den Einfluss der Affekt3 Dazu vgl. Aufklärung und Esoterik. Hg. von Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarbeit von Holger Zaunstöck. Hamburg 1999. Aufklärung und Esoterik. Wege in die Moderne. Hg. von Monika Neugebauer-Wölk, Renko Geffarth u. Markus Meumann. Berlin, Boston 2013. Renko Geffarth, Markus Meumann, Holger Zaunstöck (Hg.) : Kampf um die Aufklärung ? Institutionelle Konkurrenzen und intellektuelle Vielfalt im Halle des 18. Jahrhunderts. Halle/Saale 2018. Frühneuzeitliche Dissertationen lenkten die Aufmerksamkeit der Historiker schon früh auf die Simultaneität von Rationalismus und okkultistischer Tradition, dies auch für das 18. Jahrhundert. Vgl. die Monographie Christoph Daxelmüllers : Disputationes curiosae. Zum »volkstümlichen« Polyhistorismus an den Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts. Würzburg 1979, sowie ders : Bibliographie barocker Dissertationen zu Aberglaube und Brauch. In : Jahrbuch für Volkskunde 3, 1980, S. 194–238, ebd., 4, 1981, S. 225–243, ebd., 5, 1982, S. 213–241, ebd., 6, 1983, S. 230–244, ebd., 7, 1984, S. 195–237. Das von Daxelmüller benutzte Adjektiv ›barock‹ tut in unserem Zusammenhang nichts zur Sache ; auch der ›Aufklärungsforscher‹ wird die eben aufgelisteten Bibliographien mit Gewinn konsultieren. 4 Hanspeter Marti : Frühaufklärerische Schulrhetorik. Das Beispiel des Oratorikprofessors und
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Einleitung
bezogenheit von August Hermann Franckes Bibelhermeneutik nach und stellt damit eine Beziehung zum Wirkungsziel des traditionellen movere als zentralem Bestandteil rhetorischer Kunstlehre her. Herrnschmidts Predigttheorie lässt sich damit als Variante einer homiletica nov-antiqua, das heißt als eine Version frühaufklärerischer Eklektik bestimmen.5 Ihr ist auch die von Pietisten wie Frühaufklärern, insbesondere Christian Thomasius, gemeinsam vorgebrachte Kritik am praeiudicium auctoritatis eigen, unter welches die mittelalterliche Scholastik, der dogmatische Aristotelismus und die mit ihnen in enge Verbindung gebrachte Haltung der katholischen Kirche fielen.6 Die Vorlesungsnachschrift gibt nicht nur Einblick in den vermittelten rhetorisch-homiletischen Lehrstoff, den uns die Vorlesungsverzeichnisse vorenthalten, sondern legt Begründungen vor, die viel detaillierter als in gedruckten Lehrbüchern ausfallen. Es bleibt künftigen rhetorikgeschichtlichen Forschungen überlassen, den thematischen Faden des Verfassers aufzunehmen und das Verhältnis von gleichzeitig vernunft- und affektbetonter Rhetorik Ende des 17. Jahrhunderts und im beginnenden 18. Jahrhundert in allen Erscheinungsformen zu beleuchten.7 In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich, sowohl über Philipp Jakob Speners Einstellung zur Rhetorik nachzudenken als auch rhetorikkritische Äußerungen radikaler Pietisten einzubeziehen. Straßbergers wegleitende Publikationen zur Geschichte geistlicher Beredsam keit richten sich nicht zuletzt an Theologen, die sich bisweilen schwer damit tun, Theorie und Praxis der Redekunst in ihr Themenrepertoire aufzunehmen. Vom jüngst verstorbenen Erforscher pietistischer Rhetorik Reinhard Breymayer späteren Theologen Samuel Werenfels (1657–1740). In : Literatur und praktische Vernunft (Festschrift für Friedrich Vollhardt zum 60. Geburtstag). Hg. von Frieder von Ammon, Cornelia Rémi u. Gideon Stiening. Berlin, Boston 2016, S. 253–293. Karin Marti-Weissenbach : [Artikel] Nr. 23 zu Samuel Werenfels (Pr.), Joachim Lydius, Johann Georg Meyer (Resp.), Dissertatio de meteoris orationis. Basel 1694. In : Rhetorik, Poetik und Ästhetik im Bildungssystem des Alten Reiches. Wissenschaftshistorische Erschließung ausgewählter Dissertationen von Universitäten und Gymnasien 1500–1800. Hg. von Hanspeter Marti, Reimund B. Sdzuj u. Robert Seidel unter Mitarbeit von Karin Marti-Weissenbach. Köln, Weimar, Wien 2017, S. 228–243. 5 Zur Eklektik siehe Michael Albrecht : Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. 6 Hanspeter Marti : Aristotelismus. In : Das 18. Jahrhundert. Lexikon zur Antikerezeption in Aufklärung und Klassizismus. Hg. von Joachim Jacob u. Joachim Süßmann (= Der Neue Pauly, Supplemente Bd. 13). Stuttgart 2018, Sp. 66–70, hier Sp. 67. 7 Diesem Forschungsdesiderat wird die von uns geleitete Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen im zweiten Band der Erschließung ausgewählter rhetorischer, poetischer und ästhetischer Dissertationen (vgl. Anm. 4) Rechnung tragen.
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(1944–2017), dem der vierte und letzte Beitrag unseres Bandes gewidmet ist und den auch Andres Straßberger zu den wichtigen Gewährsleuten zählt, gingen programmatisch entscheidende Impulse zur Aufwertung der Rhetorik als Forschungsgegenstand auch der Theologie aus. Zumindest in der Frühen Neuzeit stand die Vermittlung der Glaubenswahrheiten keineswegs im Widerspruch zu rhetorischen praecepta. Allenfalls sah man in der Rhetorik eine den spontanen Ausdruck des Glaubens hemmende Kunst(fertigkeit bzw. ars). Die Begründungslücke füllte die Rede des Heiligen Geistes, die nach Aussagen radikaler Pietisten sogar ohne den Buchstaben, das äußere Wort, auskommen konnte. Als erster setzt sich im Anschluss an Straßberger Dietrich Blaufuß ausführlich mit der Homiletik des Theologieprofessors Paul Anton auseinander. Auch unterrichts- und wirkungsgeschichtlich vermittelt der bewährte Spenerforscher wichtige Erkenntnisse, indem er das Wechselverhältnis verschiedener literarischer Gattungen (Dissertation, Lehrbuch, Vorlesungsnachschrift, Studienprogramm) im Umfeld des Pietismus behandelt. Die Elementa homiletica, zuerst unter einem anderen Titel im Rahmen einer Disputation verteidigt, fügten sich in Paul Antons öffentliches Vorlesungsangebot ein und entfalteten eine beachtliche Wirkung, was auch aus dem Buchbesitz des radikalen Pietisten Gottfried Arnold hervorgeht.8 Seinen Aufsatz gliedert Dietrich Blaufuß in zwei Hauptkapitel. Das erste behandelt Philipp Jakob Speners affirmatives Verhältnis zur Universität Halle und dessen Grundpostulate für eine erfolgreiche Ausbildung künftiger Pfarrer. Für den Vater des Pietismus stand diese ganz im Zeichen einer Theologie des Heiligen Geistes. Nachdrücklich kann diese Überzeugung Speners am Beispiel seiner Begleitung eines spät zum Theologiestudium entschlossenen Kaufmanns gezeigt werden. Zwar betont Blaufuß die Abhängigkeit Antons von Spener, doch setzt er sich im zweiten Hauptkapitel seines Beitrags entschieden für die längst fällige historiographische Rehabilitation des weithin unbekannten Hallenser Theologen ein und würdigt diesen als eigenständigen, auf praktische Frömmigkeit ausgerichteten Universitätslehrer. Zuerst wendet sich der Verfasser dem Leben Paul Antons zu, um dann das Verhältnis des Hallenser Theologieprofessors zu Rhetorik und Predigttheorie zu bestimmen. Dabei stellt er die Präferenz des docere als Wir8 Hanspeter Marti : Die Rhetorik des Heiligen Geistes. Gelehrsamkeit, poesis sacra und sermo mys ticus. In : Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Hg. von Antje Mißfeldt. Wien, Köln, Weimar 2011, S. 15–76, hier S. 52 Anm. 119 zu Arnolds Besitz von Antons Elementa homiletica.
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kungsziel von Antons Predigtlehre heraus, in deren Mittelpunkt die Auslegung der Heiligen Schrift und die sie begleitende, mit Gewissenserforschung verbundene Selbstkritik des Pfarrers (»nach der Predigt ist vor der Predigt«) stehen. Das geistliche Porträt, das von Paul Anton entworfen wird, ist offen für geistes- und frömmigkeitsgeschichtliche Zuschreibungen und lässt daher Raum für die differenzierte Ermittlung historischer Kontexte. Bleibt zu hoffen, dass die hier vorgelegte Antonstudie den Auftakt für weitere Begegnungen mit diesem Repräsentanten des Hallenser Pietismus bildet. Allein die Untersuchung der Kontroverstheologie Paul Antons und der unter seinem Vorsitz verteidigten Dissertationen würde unsere Kenntnis über den einflussreichen Theologieprofessor beträchtlich erweitern.9 Es ist an der Zeit, Paul Anton und Johann Daniel Herrnschmidt, diese beiden markanten Gestalten des Hallenser Pietismus, der Vergessenheit zu entreißen. Die Aufsätze von Dietrich Blaufuß, Robert Seidel und Andres Straßberger sind aus zwei Tagungen hervorgegangen, die 2016 von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen in Engi (Kanton Glarus, Schweiz) und vom Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle/Saale (IZEA) organisiert wurden. Den drei Autoren sind wir zu großem Dank verpflichtet, dass sie uns ihre Beiträge zur Publikation überließen. Diese wie auch der erste Aufsatz wahren die Einheit der im Buchtitel angekündigten Materie, auch weil sie alle die unterrichtsgeschichtliche Komponente, vergleichbare Lehrinhalte sowie deren Rezeption und Verbreitung, thematisieren. Der mediale Aspekt, dem gegenwärtig nicht nur in der praxeologisch ausgerichteten Universitätsgeschichtsschreibung viel Beachtung geschenkt wird, bleibt nicht ganz unberücksichtigt. Meine Frau, Karin Marti-Weissenbach, ist Mitherausgeberin dieses Bandes. Sie hat dessen Entstehung von Anfang an begleitet. Herrn Martin Müller, Gifhorn-Kästorf, sind wir sehr zu Dank verpflichtet, dass er uns erlaubt hat, eine Fotografie des in seinem Privatbesitz befindlichen Ölporträts von Johann Daniel Herrnschmidt im vorliegenden Band abzudrucken. Dem Regierungsrat und der Kulturkommission des Kantons Glarus danken wir auch im Namen des Stiftungsrats unserer Arbeitsstelle einmal mehr für die von uns nie als selbstverständlich betrachtete finanzielle Unterstützung universitätsgeschichtlicher Vorhaben, 9 Paul Anton : Collegium Anti-Theticum universale fundamentale. Nach der in den Thesibus Breithauptianis befindlichen Ordnung der Theologischen Materien Anno 1718. und 1719. gehalten. Aus dem, was verschiedene Auditores dem sel. Auctori nachgeschrieben/ gesammlet und herausgegeben von Ioh. Ulrich Schwentzel, Past. zu St. Moritz und des Gymnasii Scholarcha. Halle 1732.
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die sich nicht mit schweizerischen, geschweige denn mit glarnerischen Themen befassen. Mögen viele Teilnehmer unserer Tagungen, die im Laufe von 15 Jahren im Ferienheim Gufelstock in Engi veranstaltet wurden, auch außerhalb ihrer dienstlichen Obliegenheiten die Schönheiten der Natur unseres Gebirgskantons abermals aufsuchen. Dem Verlag Böhlau, insbesondere Harald S. Liehr, danken wir für die wie gewohnt gute Zusammenarbeit und Beratung. März 2019, Engi/Glarus Süd Hanspeter Marti
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Humanistische Propädeutik und akademisches Studium in der Frühzeit der Universität Halle
Einmal mehr wird in Wissenschaftskreisen das Verhältnis der Philosophie und der Philosophen zur Geschichte heftig diskutiert und ein rational nachvollziehbarer Ausweg aus der behaupteten Aporie der Historizität der Wahrheit gesucht. Vor allem Philosophiehistoriker, die sich nicht (nur) in der Gipfelregion, sondern (auch) an den Abhängen und in den Tälern der Geschichte ihres Fachs bewegen, gehen zu Philosophen auf Distanz, die sich ausschließlich als Sinnsucher und -vermittler, als Hüter und Verfechter der einen unteilbaren Wahrheit, verstehen. Der folgende Beitrag ist eine Hommage an den Philosophiehistoriker Werner Schneiders, dessen Arbeiten ich meist aus dem Blickwinkel des Anliegens, im philosophischen Diskurs historisches Denken wachsen zu lassen, gelesen und hoffentlich richtig verstanden habe. Die hier auf ganz unphilosophischem Niveau, nämlich im Spiegel von Unterrichts- und Rezeptionsgeschichte, sehr weit gediehene Historisierung philosophischen Denkens möge Philosophen und Philosophiehistoriker anregen, weiterhin über die Möglichkeiten und Grenzen ihres mit (anderen) wissenschaftlichen Disziplinen durch Historizität verbundenen ›Fachs‹ nachzudenken. Dass nicht so klar ist, was unter ›Philosophie‹ zu verstehen sei und was sie leisten solle, bestätigt auch die in der Frühen Neuzeit immer wieder gestellte Frage nach der Relevanz einzelner Fächer, die in den Zuständigkeitsbereich der philosophischen Fakultäten fielen. Die 1693/94 von Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg ins Leben gerufene, auch Fridericiana genannte Universität Halle gilt in der Forschung, zusammen mit der 1733 gegründeten und 1737 eröffneten Georgia Augusta in Göttingen, zu Recht als von der Aufklärung geprägte, als fortschrittlich eingestufte frühneuzeitliche Bildungseinrichtung. Diese privilegierende Zuschreibung rief historiographischen Protest hervor, weil andere Universitäten, die, wie die Leipziger Albertina, aus der Sicht aufklärerischer Reform durchaus Beachtung verdienen,1 1 Dazu : Hanspeter Marti u. Detlef Döring (Hg.) : Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Basel 2004, bes. das Vorwort, S. 7–10. Grundlegend Detlef Döring : Anfänge der modernen Wissenschaften. Die Universität Leipzig vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Universitätsreform 1650–1830/31. In : Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Bd 1 : Enno
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weithin vergessen gingen oder als angebliche Residenzen einer starren theologischen Orthodoxie zumindest in den Hintergrund rückten. Von dieser einseitigen Sicht der Dinge ging die Universitätsgeschichtsschreibung inzwischen zu einer differenzierten über, ohne dass die bisherige Einschätzung der Verdienste der Fridericiana als Stätte aufklärerischer Reformen hätte preisgegeben werden müssen – ein Ruf, den sie maßgeblich der Lehr- und Publikationstätigkeit des Juristen Christian Thomasius sowie der Konjunktur der mit ihm befassten Forschungen verdankt. Die Geschichte des Hallenser Theologie-, Medizin- und Philosophieunterrichts steckt jedoch in den Anfängen. Selbst der Unterricht der Hallenser Juristen ist – hier nehme ich nicht einmal Christian Thomasius ganz aus – unzureichend erforscht. Seit dem Erscheinen der Arbeiten von Gertrud Schubart-Fikentscher sowie der Dissertation Werner Schneiders steht Thomasius als Hauptprotagonist der Hallenser Studienreform im Mittelpunkt des Interesses.2 In diesem Aufsatz wird zunächst Christoph Cellarius, einem Gründungsprofessor der Fridericiana, der das Fortleben der humanistischen Tradition in Halle verkörpert, die längst fällige Beachtung geschenkt. Es geht um seinen Beitrag zur Hallenser Universitätsreform, um die Stellung der Humaniora im Kanon der philosophischen Fächer, einleitend in geraffter Kürze um das Lehrangebot und die Bedeutung der bis jetzt im Schatten der oberen Fakultäten, insbesondere der Theologie und der Jurisprudenz, stehenden philosophischen Fakultät. Seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts wurde, nicht nur in Abhängigkeit von Christian Thomasius, auch an anderen Hohen Schulen des deutschen Bünz, Manfred Rudersdorf, Detlef Döring : Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31. Leipzig 2009, S. 517–771, insbes. S. 554–559. 2 Gertrud Schubart-Fikentscher : Untersuchungen zur Autorschaft von Dissertationen im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 1970. Dies : Studienreform. Fragen von Leibniz bis Goethe. Berlin 1973. Dies : Christian Thomasius. Seine Bedeutung als Hochschullehrer am Beginn der deutschen Aufklärung. Berlin 1977. Werner Schneiders : Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim, New York 1971. Heiner Lück : Neuere Forschungen zu Christian Thomasius – Versuch einer Bestandsaufnahme. In : Heiner Lück (Hg.) : Christian Thomasius (1655–1728). Gelehrter Bürger in Leipzig und Halle. Wissenschaftliche Konferenz des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig in Leipzig (7./8. Oktober 2005) aus Anlass des 350. Geburtstages von Christian Thomasius. Stuttgart, Leipzig 2008, S. 8–33. Zur Kritik am Thomasiusbild der Geschichtsschreibung vgl. Frank Grunert : Mythos Thomasius. Zur Instrumentalisierung einer historischen Figur. In : Kampf um die Aufklärung ? Institutionelle Konkurrenzen und intellektuelle Vielfalt im Halle des 18. Jahrhunderts. Hg. von Renko Geffarth, Markus Meumann u. Holger Zaunstöck. Halle/ Saale 2018, S. 256–267.
Humanistische Propädeutik und akademisches Studium
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Sprachgebiets, so an den Universitäten Altdorf, Helmstedt, Jena und Leipzig, der Philosophie im Allgemeinen die Rolle einer Leitwissenschaft zugeschrieben.3 Zwar schien im Licht der in der thomasianischen Hofphilosophie plakativ formulierten Pedantismuskritik das Ansehen der Philologie als Unterrichtsfach in Halle zerronnen zu sein. Doch der Schein trügt. Im Bildungsprogramm des von August Hermann Francke repräsentierten Hallenser Pietismus kam der Exegese und der Philologie zentrale Bedeutung zu. Für das Ansehen der philosophischen Fakultät stehen überdies die zahlreich ins Unterrichtsangebot aufgenommenen rechts- und litterärhistorischen, natur- und völkerrechtlichen Lehrveranstaltungen, und Christian Thomasius ist, wie sich zeigen wird, den Humaniora weniger abgeneigt, als man vielleicht vermuten würde. 1. Das philosophische Lehrangebot im Spiegel von Hallenser Vorlesungsverzeichnissen Die universitätsgeschichtliche Forschung anerkennt inzwischen den Q uellenwert von Vorlesungsverzeichnissen,4 obwohl sie kein umfassendes Bild von dem an 3 Hanspeter Marti : Plädoyer für Unbekannt. Bemerkungen zum Streit der vier Fakultäten im vorkantschen Gelehrtenschrifttum. In : Heinrich P. Delfosse u. Hamid Reza Yousefi (Hg.) : ›Wer ist weise ? der gute Lehr von jedem annimmt‹. Festschrift für Michael Albrecht zu seinem 65. Geburtstag. Nordhausen 2005, S. 173–184. Jens Bruning : Academia Norica und Academia Julia. Die Universitäten Altdorf und Helmstedt und ihre philosophischen Fakultäten im Vergleich. In : Hanns Christof Brennecke, Dirk Niefanger, Werner Wilhelm Schnabel (Hg.) : Akademie und Universität Altdorf. Studien zur Hochschulgeschichte Nürnbergs. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 97–120. Ders : Innovation in Forschung und Lehre. Die Philosophische Fakultät der Universität Helmstedt in der Frühaufklärung, 1680–1740. Wiesbaden 2012. Hanspeter Marti : Naturphilosophische Eklektik : Das Beispiel der ersten Auflage von Johann Jakob Scheuchzers »Physica« (Zürich 1701). In : Urs B. Leu (Hg.) : Natura Sacra. Der Frühaufklärer Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Zug 2012, S. 33–56. Ders : Das Bild des Gelehrten in Leipziger philosophischen Dissertationen der Übergangszeit vom 17. zum 18. Jahrhundert. In : ders., Döring (Hg) : Die Universität Leipzig (Anm. 1), S. 55–109. Ders : Nov-antiquitas als Programm. Zur frühneuzeitlichen Schuldisputation an der Universität Jena (1580–1700). In : Klaus-Dieter Herbst (Hg.) : Erhard Weigel (1625–1699) und die Wissenschaften. Frankfurt/Main 2013, S. 15–49. 4 Ulrich Rasche : Über Jenaer Vorlesungsverzeichnisse des 16. bis 19. Jahrhunderts. In : Thomas Bach, Jonas Maatsch, Ulrich Rasche (Hg.) : ›Gelehrte‹ Wissenschaft. Das Vorlesungsprogramm der Universität Jena um 1800. Stuttgart 2008, S. 13–57. Ders : Seit wann und warum gibt es Vorlesungsverzeichnisse an den deutschen Universitäten ? In : Zeitschrift für historische Forschung 36, 2009, S. 445–478. Jens Bruning : Vorlesungsverzeichnisse. In : Ulrich Rasche (Hg.) : Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven. Wiesbaden 2011, S. 269–292 (mit Bibliographie). Zu Halle : Dominik Recknagel : Naturrecht in der Lehre.
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Hohen Schulen erteilten Unterricht vermitteln : Sie kündigen oft nur die Lektio nen von Professoren, nicht auch die des subalternen Lehrpersonals (Adjunkten, lehrende Magister) an. Um jedoch das Profil des Unterrichts in den Kernbereichen des philosophischen Curriculums der Fridericiana zu schärfen, genügt es, einen ersten Blick in exemplarisch ausgewählte Vorlesungsverzeichnisse zu werfen. Die Lektionsankündigungen für das Jahr 1695 werden mit einem Lob der studia humanitatis eingeleitet und die Lehrveranstaltungen der philosophischen Fakultät, wie später eine Zeitlang auch noch, unter einer die humanistischen Studien fast gleichberechtigt neben die Philosophie stellenden Titelrubrik (»Lectiones Philosophiae et Humaniorum Litterarum«) aufgelistet – Zeichen der Absicht, die humanistische Tradition an der Fridericiana in ungebrochener Kontinuität fortleben zu lassen.5 Sechs ordentliche Professoren kündigen Lehrveranstaltungen an, der Extraordinarius Martin von Ostrow Ostrowski verspricht, dies nach seiner Rückkehr von einer Reise nachzuholen. Christoph Cellarius, Rhetorik- und Geschichtsprofessor, beabsichtigt, den Quintilian zugeschriebenen Dialog De causis corruptae eloquentiae zu interpretieren, die Geschichte des vorangegangenen und des laufenden Jahrhunderts zum Nutzen der oberen Fakultätswissenschaften, die Kenntnis der Gelehrsamkeit und nicht näher benannter Antiquitäten sowie, in einem Privatkolleg, die Universalgeschichte sowie die Genealogie europäischer Fürstenhäuser zu behandeln. August Hermann Francke, Professor für Griechisch und orientalische Sprachen, will sich mit dem Matthäusevangelium, mit der Genesis und der Auslegung weiterer Bibeltexte, insbesondere im Hinblick auf die deutsche Übersetzung, beschäftigen. Friedrich Hoffmann, Physikprofessor, wendet sich der Naturphilosophie sowie physikalischen Experimenten zu und möchte alle vierzehn Tage mit einschlägigen Disputationen fortfahren. Johann Franz Buddeus, der die Professur der Ethik und Politik innehat, nimmt sich des Natur- und Völkerrechts an, indem er seiner Naturrechtliche Vorlesungen an der Friedrichs-Universität zu Halle bis zum Jahr 1850. In : ders., Sabine Wöller (Hg.) : »Vernunft, du weißt allein, was meine Pflichten sind !« Naturrechtslehre in Halle. Katalog zur Ausstellung im Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Halle/Saale, 10. Oktober 2013 bis 6. Januar 2014. Halle 2013, S. 8–19. 5 Die Vorlesungsverzeichnisse der Jahre 1694 und 1695 sowie des Sommersemesters 1723 sind abgedruckt bei Wilhelm Schrader : Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Zweiter Teil. Berlin 1894, Anlage 8, S. 368–381, hier S. 372–376 Vorlesungsverzeichnis von 1695, hier S. 373 zur Propagierung der freien Künste : »Virtus est et liberalium disciplinarum doctrina, quae mentem perficiunt, ut intelligat, quod verum est et dignum homine ; eaque faciat et concupiscat, quae proba et laudabilia esse intellexit. […] Quid quaeritis ? Liberalium artium doctrina et disciplinae ad bonae mentis formationem faciunt, quae nemini seclusa, apud nos certe, difficilis ad obtinendum est.«
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Vorlesung die nach dem Vorbild von Hugo Grotius verfassten Institutiones iuris naturae et gentium des Leidener Rechtsgelehrten Philipp Reinhard Vitriarius (1647–1720) zugrunde legt. Ferner beschäftigt sich Buddeus mit Tacitus’ Annalen, über die er auch disputieren lässt. Im Privatkolleg zu Politik und Naturrecht zieht er die Lehrbücher von Adam Rechenberg (Lineamenta philosophiae civilis) und Samuel Pufendorf (De officio hominis et civis) heran. Der Franzose Johannes Sperlette unterrichtet Philosophie nach eigenen Vorarbeiten, stellt privatim im Sinn der Eklektik Lehren alter und neuer Philosophen vor, erklärt insbesondere die Prinzipien der cartesianischen Philosophie und will den adeligen Studenten die Geographie in französischer Sprache vermitteln. Johann Peter von Ludewig (1668–1743) schließlich, Professor für Logik und Metaphysik, setzt den Schwerpunkt seines Unterrichts eigenwillig bei Privatkollegien zur Herrschergeschichte des Alten Reichs, erweitert um Genealogie, Heraldik und Geographie, also allgemein in der Vaterlandskunde. Er nimmt, ebenfalls ungewöhnlich für die ihm zugeteilte Fächerkombination, die Interpretation der in Hexametern verfassten Kampfschrift des Prudentius gegen Symmachus in sein Unterrichtsangebot auf, das Logik und Metaphysik zwar pflichtgemäß, jedoch eher am Rande berücksichtigt. Zusammenfassend dominieren Geschichte und Sprachen, namentlich die Exegese, das den Juristen zuarbeitende Natur- und Völkerrecht sowie der auf Beschreibung und Empirie ausgerichtete Physikunterricht. Den Bildungsbedürfnissen adeliger Studenten sowie den an Juristen und Theologen gestellten Anforderungen wird ausgiebig Rechnung getragen und damit die Philosophie, einschließlich der studia humanitatis, auf die herkömmliche Dienerrolle festgelegt. Exegese, Natur- und Völkerrecht stellen eine enge Verbindung zu den höheren Fakultäten her, was trotz der erwähnten Auxiliarfunktion der Philosophie einer guten Positionierung einzelner philosophischer Fächer sowie deren Aufwertung für die sogenannten Brotberufe gleichkommt. Das zehn Jahre später gedruckte Vorlesungsverzeichnis bietet wiederum Lehrveranstaltungen von sechs Professoren an, darunter von vier, die bereits 1695 an der Hallenser philosophischen Fakultät unterrichteten. Christoph Cellarius wendet sich nicht genau beschriebenen historischen Gegenständen (»varias Antiquitates, liberali eruditioni necessarias, per saecula et imperia distributas«) zu, lehrt die Studenten Briefe in lateinischer Sprache abzufassen, interpretiert römische Musterautoren (»optimos ad imitationem auctores«) und fährt in einem Privatkolleg mit der Kunde römischer Antiquitäten respektive der römischen Geschichte (»Antiquitates Romanas«) fort. Friedrich Hoffmann bleibt zum einen bei seinen physikalischen Experimentierkollegien, eröffnet aber ein weiteres Kollegium, das der Natur- respektive Landeskunde gewidmet ist und vor allem
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zukünftigen Politikern von Nutzen sein soll.6 Sperlette nimmt sich für den Unterricht die Elementa philosophiae practicae des eben nach Jena berufenen Johann Franz Buddeus vor und verspricht in einer – bislang nicht gefundenen – Programmschrift, Auskunft zu geben über die in Ethik und Politik von ihm angekündigten Pensen. Johann Peter von Ludewig setzt sich mit Pufendorfs Einführung in die Geschichte der europäischen Staaten auseinander, unterrichtet privatim das deutsche ius publicum nach der Anleitung Heinrich von Coccejis (1644–1719), damals Professor in Frankfurt an der Oder, sowie die allgemeine Reichshistorie auf Quellenbasis und erklärt die Pandekten nach den Vorgaben des Tübinger Juristen Wolfgang Adam Lauterbach (1618–1678), ebenfalls im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit auf deutsche Territorien. Johann Heinrich Michaelis, verantwortlich für die biblischen Sprachen, behandelt, mit dem Kolosserbrief beginnend, das Neue Testament, und Johann Friedemann Schneider schleppt, wie es seine Professur verlangt, die Metaphysik mit, erläutert deren Nutzen für andere Disziplinen und bietet in Privatkollegien eklektische Logik und die Beschäftigung mit Hugo Grotius’ De iure belli et pacis (»ad uberiorem iuris naturalis adplicationem«) an. Im Vergleich mit den Ankündigungen von 1695 dominiert die Geschichte noch stärker, sogar der Physikunterricht wird in Teilen auf die Bedürfnisse der Politik abgestimmt, das Natur- und Völkerrecht noch mehr berücksichtigt und damit die philosophische Fakultät unausgesprochen zur Magd der juristischen, in geringerem Maße, durch den Unterricht in den biblischen Sprachen, zu einer solchen der Theologie. Das Unterrichtsprogramm der untersten Fakultät entsprach 1705 deutlicher als zehn Jahre zuvor den an die akademischen Eliten in Staat und Kirche gestellten Kenntnisanforderungen. Erstmals im Sommersemester 1708 wurde Nikolaus Hieronymus Gundling (1671–1729), geschmückt mit dem Amtstitel »Eloquentiae et Antiquitatum etc. Professor Ordinarius«, als Nachfolger des 1707 verstorbenen Christoph Cellarius genannt. Er bot ein öffentliches Kollegium zum Erlernen wahrer Eloquenz (»verae et non fucatae eloquentiae«) an – dies wohl ein Indiz für sein frühaufklärerisches Rhetorikkonzept – und machte privatim die Geschichte mehrerer deutscher Fürstenhäuser sowie das ius publicum anhand des Lehrbuchs des erwähnten Cocceji zum Gegenstand des Geschichtsunterrichts. Hoffmann hielt 6 »aperiet aliud perquam utile Politicis omnibusque et jucundum. Nempe physice tractabit Geographiam, et omnia naturalia, curiosa, et ad physicam specialem pertinentia in quavis regione et loco occurrentia ostendere et docere vult.« Die Hallenser Vorlesungsverzeichnisse sind mit geringen Lücken im Original in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle, in Fotokopie im Universitätsarchiv Halle vorhanden.
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das gewohnte physikalische Experimentierkolleg ab, Sperlette las allgemein über Nutzen und Methode der Wissenschaften, Johann Heinrich Michaelis über die Exegese beider Testamente, Johann Friedemann Schneider erklärte die Logik auf der Grundlage seines Lehrbuchs (Fundamenta philosophiae rationalis, 1708 in zweiter Auflage). Christian Wolff hatte im Sommersemester 1707 seine Lehrtätigkeit als Mathematikprofessor an der Universität Halle aufgenommen und legte nun in ausgewählten Kapiteln den Nutzen seines Fachs für die Entscheidung juristischer Kontroversen dar. Im privaten Unterricht behandelte er die mathematischen Disziplinen mit Rücksicht auf adelige Zuhörer sowie auf Studenten der Jurisprudenz (»quarum cognitio Nobilibus ac Juris Studiosis proficua existit«) und vermittelte Kenntnisse in Astronomie. Vor allem im Lektionsangebot Wolffs trat erneut die Rolle der philosophischen Fakultät als ancilla iuris prudentiae in den Vordergrund, während umgekehrt Christian Thomasius im Sommer- und im Wintersemester 1708 mit in der juristischen Fakultät angebotenen privaten Vorlesungen über die rechtspraktische Bedeutung der Logik und der Ethik der philosophischen Fakultät Konkurrenz machte. Schon 1694 waren Lehrveranstaltungen zur Kirchengeschichte und zur Ethik, dank der Initiative von Christian Thomasius, in die juristische Fakultät abgewandert.7 Im folgenden Jahr verstärkte sich diese Tendenz im Hinblick auf die angebotenen Privatkollegien.8 In der bisherigen Geschichtsschreibung wurde daher zwar mit Recht die Bedeutung der Jurisprudenz betont, letztere aber fälschlicherweise zur alleinigen Leitwissenschaft im Hallenser Lehrplan erklärt.9
7 Schrader : Geschichte, Zweiter Teil (Anm. 5), S. 370. 8 Ebd., S. 374 : »In Collegiis privatis lectionibus Historicis et Politicis eo incumbet sedulo, ut ex Historia Germaniae debitis Juris publici et Ecclesiastici principiis imbuatur Juventus, sequestratis doctrinis nil nisi superstitiosam autoritatem spirantibus.« 9 Notker Hammerstein : Jus und Historie : ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Göttingen 1972. Ders : Vom Rang der Wissenschaften. Zum Aufstieg der Philosophischen Fakultät. In : ders : Geschichte als Arsenal. Ausgewählte Aufsätze zu Reich, Hof und Universitäten der Frühen Neuzeit. Hg. von Michael Maaser u. Gerrit Walther. Göttingen 2010, S. 185–197, bes. S. 188. Ders : Thomasius und die Rechtsgelehrsamkeit. In : ebd., S. 245–268, hier S. 250 : »Thomasius hat die Welt juridifiziert.« Zur Schlüsselrolle der Philosophie bei Christian Thomasius und zur berechtigten Kritik an Hammersteins Panjuridifizierungsthese Frank Grunert : Der Jurist als Philosoph. Zur Disziplinendifferenzierung und Disziplineninterferenz bei Christian Thomasius. In : Heiner Lück (Hg.) : Christian Thomasius (1655–1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Rechtswissenschaftliches Symposium zu seinem 350. Geburtstag an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Hildesheim, Zürich, New York 2006, S. 152–172.
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In der Gründungsphase der Fridericiana ist generell von einer starken Verbindung der Philosophie mit den übrigen Fakultätswissenschaften auszugehen, die sich, vor allem durch Friedrich Hoffmann gefördert, auch in der Medizin manifestiert. Der Konnex der medizinischen Fakultät mit der philosophischen war im Physikunterricht ohnehin stets gegeben. Die hierarchische Ordnung der Fakultäten wird in Halle im Aufbauschema der Vorlesungsverzeichnisse befolgt und die Rangordnung der Fächer, zumindest in theoria, grundsätzlich respektiert, die herkömmlichen Zuständigkeiten werden aber, wie die von Christian Thomasius und später von Christian Wolff mit den Theologen ausgetragenen Kompetenzkonflikte zeigen, in der Unterrichtspraxis immer wieder in Frage gestellt.10 Christian Thomasius verwendete einen doppelten Begriff von Philosophie : Zum einen verstand er darunter die Summe der an der philosophischen Fakultät unterrichteten Disziplinen, andererseits einen Habitus des Denkens und Handelns, der, mit ›Weisheit‹ gleichgesetzt, auf einen Zustand menschlicher Glückseligkeit in der Welt zielte und der daher fundamentale Bedeutung für die allgemeine Lebenspraxis hatte.11 Der Disziplinen übergreifende, insbesondere von Christian Wolff mit der Etablierung der Mathematik als Universalwissenschaft verstärkte nexus disciplinarum konnte die (freilich stets relative) Autonomie der Fakultätswissenschaften bedrohen. Wolffs Universalmethode steigerte 10 Siehe zu Christian Thomasius Marianne Taatz-Jacobi : Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713). Berlin 2014, bes. S. 271–288 : Abgrenzungsbemühungen der Universitätstheologie gegenüber Christian Thomasius 1693–1713. Zu Christian Wolff siehe Albrecht Beutel : Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus. Tübingen 2007, hier S. 125–169 : Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen Halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie. Ferner Andreas Pečar, Holger Zaunstöck u. Thomas Müller-Bahlke (Hg.) : Die Causa Christian Wolff. Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe. Halle 2015. 11 Dazu Grunert : Der Jurist als Philosoph (Anm. 9), bes. S. 164f., hier S. 165 : »Weisheit geht hier – nicht zuletzt als Folge der von Thomasius vollzogenen voluntaristischen Wende – entschieden über ein theoretisches Wissen zum Guten hinaus, sie ist im Kern vielmehr eine Haltung, die auf einer Disposition des Herzens beruht und sich in einem tätigen Streben nach dem eigenen und dem Glück anderer praktisch umsetzt.« Es stellt sich die Frage, inwieweit die nicht zwingend an gelehrte Fachkompetenz gebundene Weisheit im Unterricht vermittelt, ja überhaupt gelehrt wurde und auf den Rang der Fakultäten Einfluss nahm. Für Grunert verdankt sich die fundamentale Bedeutung der Philosophie dem von Christian Thomasius entworfenen Berufsbild des Juristen. Wie Thomasius, der philosophierende Jurist, an der juristischen Fakultät die doppelte Bedeutung der Philosophie im Unterricht zur Geltung brachte und wie sich dieses pädagogische Wirken auf den Stellenwert und die Funktion der philosophischen Fächer auswirkte, wird an anderer Stelle näher ausgeführt.
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das Prestige der philosophischen Fakultät beträchtlich und bereitete die in Kants Streit der Fakultäten erfolgte Umwälzung der traditionellen Fächerhierarchie vor.12 Der Aufschwung der Geschichte und des Natur- und Völkerrechts, der den Bedürfnissen der adeligen Studenten entsprach, wie auch die von den Pietisten geförderte Exegese erhöhten ebenfalls das Ansehen der philosophischen Fakultät. Die dort mit dem Tod von Christoph Cellarius entstandene Lücke wurde von Nikolaus Hieronymus Gundling ausgefüllt, der nominell zwar als Professor der Geschichte und der Beredsamkeit beschäftigt wurde, aber als Mitglied der philosophischen Fakultät auch juristische Lehrveranstaltungen anbot, was die Position der zuvor mit Hingabe von Cellarius eifrig vertretenen studia humanitatis schwächte. Vom Wintersemester 1707 an wurden die Pensen der untersten Fakultät, wohl nicht zufällig, nur noch mit dem Titel ›Lectiones philosophicae‹ angekündigt. Die Beschäftigung mit antiken Autoren blieb, von dem auch für die Politik und die Reichsgeschichte verwertbaren Tacitus abgesehen, weitgehend auf der Strecke, wenigstens soweit dies den Vorlesungsverzeichnissen zu entnehmen ist. 2. Christoph Cellarius – Gründungsprofessor, Philologe, Historiker, Pädagoge Als Professor der Beredsamkeit und der Geschichte wurde 1693 Christoph Cellarius an die neugegründete Universität Halle berufen.13 Er ging in Wilhelm Schraders Maßstäbe setzendem Werk – mit ein paar Retouchen – als Repräsentant von Unfähigkeit und Misserfolg in die Annalen der Hallenser Universitätsgeschichte ein : Für das Lehramt habe er »ebenso wenig Neigung als Begabung« gehabt.14 Nicht von ungefähr überging ihn die Geschichtsschreibung bis in die jüngste Zeit weitgehend.15 Andererseits soll noch Daniel Albert Wyttenbach 12 Regina Meyer : Das Licht der Philosophie. Reformgedanken zur Fakultätenhierarchie im 18. Jahrhundert von Christian Wolff bis Immanuel Kant. In : Notker Hammerstein (Hg.) : Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995, S. 97–124. 13 In den Vorlesungsverzeichnissen werden seine Zuständigkeiten, wenn überhaupt, unterschiedlich beschrieben : 1694 und 1695 erscheint er als »Eloq. et Histor. P.P.«, 1700 ohne Angabe der Fachgebiete, dann wieder mit der anfänglichen Amtsbezeichnung, im Wintersemester 1703 als »Antiquitatum et Eloquentiae P.P.«, danach bis zu seinem Tod fehlt der Zusatz abermals. Vom Vorlesungsverzeichnis des Sommersemesters 1703 konnte bis jetzt allerdings kein Exemplar gefunden werden. 14 Wilhelm Schrader : Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Erster Teil. Berlin 1894, S. 59. 15 Herbert Jaumann : Cellarius, Christoph. In : Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des
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(1746–1820), Lehrer der Humaniora an Amsterdamer Gymnasien, danach Professor in Leiden, in seinem Unterricht über römische Antiquitäten Christoph Cellarius herangezogen haben.16 Christoph Cellarius wurde am 22. November 1638 in Schmalkalden als Sohn des gleichnamigen Superintendenten (1599–1641) und der aus Schleusingen stammenden Maria geb. Zehner (1605–1679), der Tochter eines Generalsuper intendenten, geboren. Er besuchte das Lyceum in Schmalkalden und immatrikulierte sich 1656 an der Universität Jena, an der er bis 1659, dann wieder von 1661 bis 1663 studierte und im Jahr 1666 den Magistergrad erlangte. Von 1659 bis 1661 weilte er an der Universität Gießen. 1667 wurde er zum Professor des Hebräischen und der Ethik am Gymnasium Weißenfels ernannt, 1673 übernahm er das Amt des Rektors am Gymnasium in Weimar, 1676 auf Empfehlung Veit Ludwig von Seckendorffs (1626–1692) die Leitung der Stiftsschule in Zeitz, 1688 das Rektorat an der Merseburger Domschule. Von 1694 an unterrichtete er an der Universität Halle. Er wirkte maßgeblich an der Ausarbeitung der Statuten der philosophischen Fakultät der Fridericiana mit, bekleidete seit 1696 das Amt des Universitätsbibliothekars und veröffentlichte eine Dokumentation zur Einweihung der Universität Halle (1698). Cellarius starb am 4. Juni 1707 in Halle. August Hermann Francke hielt ihm die Leichenpredigt. Mit der bis zum Jahr 1753 in offenbar elf Auflagen erschienenen Historia universalis in antiquam et medii aevi ac novam divisa (erstmals in dieser Form Jena 1702), die mit dem dreiteiligen Epochenschema die universalgeschichtliche Viermonarchienlehre verdrängte, ging Cellarius in die Geschichte der Historiographie ein. In seinen Vorlesungen beschäftigte er sich mit allen Epochen der Universalgeschichte, das 16. und das 17. Jahrhundert eingeschlossen. Der Schwerpunkt seines Unterrichts lag aber bei der Geschichte der alten Römer und daher bei den römischen Historikern (Caesar, Livius, Sallust, Sextus Rufus, Tacitus, Velleius Paterculus), ferner bei Cicero, den er u. a. mit den XII panegyrici Latini verglich. Rhetorik unterrichtete Cellarius in der Regel ebenfalls am Beispiel römischer Autoren, hin und wieder kam, nicht näher umschrieben, Litterärgeschichte hinzu, nicht aber umfasste das Lehrpensum die (römische) Dichtung. Oft bot Cellarius Lektionen an, in denen er die Studenten lateinische Briefe verfassen, selten, auch in Reden, rödeutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Bd. 2. Berlin, New York 2008, S. 394f. Ferner ausführlich Klaus-Dieter Beims : Antike Texte an christlichen Schulen. Die römischen Autoren im Lateinunterricht des Halleschen Pietismus. Halle 2015, hier S. 471 (Register). 16 Wilhelm Leonhard Mahne : Vita Danielis Wyttenbachii, literarum humaniorum nuperrime in academia Lugduno-Batava professoris. Editio altera. Gent 1823, S. 140.
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mische Autoren nachahmen ließ. Häufiger erteilte er Unterricht in Geographie, und ausnahmsweise setzte er sich mit der Abstammung fürstlicher Geschlechter auseinander. Einmal behandelte er Reden des niederländischen Späthumanisten Petrus Cunaeus (1586–1638), ein andermal interpretierte er die Dankesrede des Decimus Magnus Ausonius an Kaiser Gratian (359–389) ; ferner bezog er aus kirchengeschichtlichem Interesse Prudentius in den Unterricht ein.17 Nur ein einziges Mal, ganz am Anfang seiner Lehrtätigkeit, stellte er die Behandlung der römischen Geschichte in den Dienst der besseren Kenntnis des römischen Rechts.18 Dies entsprach zwar zum einen der an der Universität Halle typischen Indienstnahme von Disziplinen der philosophischen Fakultät für die Ausbildung der Juristen, die nur einmal erfolgte Instrumentalisierung bestätigt zum anderen aber indirekt wohl die bei den Hallenser Juristen auf dem deutschen Recht, der Reichsgeschichte und dem ius publicum beruhende Priorität. 2.1 Schulrhetorik am Lyceum in Zeitz
Noch lange nach dem Antritt der Hallenser Professur für Rhetorik und Geschichte durch Christoph Cellarius wirkten die von ihm bereits 1689 veröffentlichten Zeitzer Programmschriften und Reden nach :19 Der Verfasser verweist in späteren Publikationen gerne auf sie zurück ; Anhänger und Schüler erkennen in seinen akademischen Kleinschriften ein wertvolles Vermächtnis. Sie stehen für die Kontinuität von Cellarius’ pädagogischen Zielsetzungen. Neben seinen Dissertationen sind sie wichtige Zeugnisse sowohl seiner Unterrichtstätigkeit als auch für das frühneuzeitliche Ansehen der beiden durch sie repräsentierten Gattungen gelehrter Literatur.20 Die Programmata enthalten eine Widmung des 17 Petrus Cunaeus (Sommer- und Wintersemester 1702), Prudentius (Wintersemester 1703), im Weiteren Ausonius (Wintersemester 1704). 18 Schrader : Zweiter Teil (Anm. 5), S. 372, Vorlesungsverzeichnis von 1694 : »ex historiis et antiquitatibus Romanis, quae interpretando Juri Romano aliquid adferunt«. 19 Christoph Cellarius : Programmata varii argumenti oratoriis exercitiis in Citicensi lyceo praemissa. […] orationes ibidem in illustriore consessu recitatae. Additi rerum notabiliorum indices. Leipzig 1689. Zur frühen Abhängigkeit Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs von Christoph Cellarius’ Zeitzer Programmschriften vgl. Otto Teigeler : Zinzendorf als Schüler in Halle 1710–1716. Persönliches Ergehen und Präformation eines Axioms. Halle/Saale 2017, hier S. 125–134. 20 Zum allgemeinen Quellenwert frühneuzeitlicher Programmschriften siehe Bernhard Homa : Die Bedeutung von Universitätsprogrammen für Forschungen zur Universitätsgeschichte. Mit einer exemplarischen Auswertung von Programmen der Universitätsbibliothek Tübingen und einem Verzeichnis der bekannten Bestände an deutschen Archiven und Bibliotheken (16.–19. Jahrhundert). In : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 19, 2016, S. 51–84.
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Verfassers an Moritz Wilhelm, Herzog von Sachsen-Zeitz (1664–1718), eine kurze Vorrede an den Leser, siebzig zwischen 1676 und 1688 am Zeitzer Lyceum entstandene Programmschriften und sechs in Zeitz gehaltene Schulreden, einen Index der Bibelstellen, ein Personen- und ein Sachregister sowie eine Korrigenda-Liste. Soweit bis jetzt bekannt, sind keine gedruckten Zeitzer Disputationen überliefert. Deren Platz nahmen wohl die in den Programmen angekündigten Redeanlässe (actus scholastici) ein. Zur Übernahme der Rhetorikprofessur an der Universität Halle waren für Cellarius die gedruckt vorliegenden Programme und Reden die passende Referenz. Die Zeitzer Programmschriften werden auch als ›Dissertationes‹ deklariert, obwohl es nicht Einladungsschriften zu Disputationen, sondern zu Deklamationen respektive rhetorischen Übungen waren, die als Valediktionsreden von mit Namen genannten Lyceisten vor der Aufnahme des Universitätsstudiums gehalten wurden. Von 1676 bis 1688 fanden in Zeitz jährlich im Durchschnitt sechs solcher öffentlichen Auftritte statt, im Jahre 1680 sogar acht, 1686 nur drei. Da diese Veranstaltungen mit einem beträchtlichen organisatorischen Aufwand verbunden waren und neben dem regulären Unterricht vorbereitet werden mussten, spiegelt ihre recht hohe Durchschnittszahl die Bedeutung wider, die man ihnen in der akademischen Öffentlichkeit und im schulpolitischen Kontext beimaß. Wie die Thesendrucke vermitteln die Programmschriften nur einen bruchstückhaften Eindruck des Redeakts, zu dem sie einluden. Immerhin kennt man die Namen der Protagonisten, die behandelten Themen und die Ausrichtung der Argumentation, nicht aber den Wortlaut der hin und wieder kontrovers angelegten Deklamationen. Eine Redeübung war zum Beispiel der Freundschaft gewidmet, deren Pflege vom einen Schulabgänger mit einem Plädoyer für ein Leben in Einsamkeit kritisiert, von einem anderen gelobt wurde, während ein dritter eine ausgleichende Position einzunehmen hatte.21 Unter den Programmschriften laden einige nicht dem Kontroversschema folgende zu Trauerreden oder zu feierlichen Schulanlässen ein oder behandeln ein Thema, zum Beispiel den Untergang bedeutender Staatswesen,22 von verschiedenen, einander ergänzenden Aspekten her. Das jeweilige Einladungsprogramm stimmt auf die in den Redeakten vorgetragenen Gegenstände ein und 21 Cellarius : Programmata (Anm. 19), Programma LI exercitii oratorii de amicitia, S. 365–372 (2. April 1685), hier S. 372 die Namen der Schüler ( Johann Christoph Andreae, Abraham Scultetus und Gottfried Köhler) samt den von ihnen vertretenen Positionen. 22 Ebd : Programma XLIX exercitii oratorii de ruinis illustrium rerumpublicarum (12. Dezember 1684), S. 346–355, hier S. 350f., Aufteilung des Stoffs : Einführung ; Assyrer, Perser (Burkhard Gotthelf Struve, der als Zeitzer Gymnasiast hin und wieder als Deklamator auftrat) ; Griechen ; Römer.
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steht daher zu letzteren in einer im Einzelfall zu bestimmenden – mehr oder weniger engen – Beziehung. Es lassen sich zwei Hauptthemenkreise ausmachen, die römische Geschichte und die Christologie, hierunter Christi Leiden und Auferstehung. Weitere Programme sind anderen Bereichen der christlichen Dogmatik, der Auseinandersetzung mit Häresien, dem Verhältnis der Christen zu den Heiden, den Einfällen der Barbaren und den Kreuzzügen, der Bekehrung der Juden, der Erziehung und der Schule, dem Reisen, der Trostfunktion der Philosophie sowie der Tugendlehre gewidmet. Drei der sechs orationes sind Trauerreden,23 eine Rede nimmt auf die Erneuerung der Zeitzer Schulordnung Bezug, die letzte auf Cellarius’ Abschied von der Stiftsschule Zeitz. Anlässlich der Einweihung eines neuen Unterrichtssaals (1685) ging der Verfasser auf den Gebrauch heidnischer Werke in christlichen Schulen ein und nahm damit ein Anliegen vorweg, das ihn auch nach dem Antritt der Hallenser Professur wiederholt beschäftigte.24 Die erwähnte Zeitzer Inaugurationsfeier wurde von Cellarius zudem mit einem passenden Programm angekündigt, das in einem Aufriss den Sieg der christlichen Wahrheit im Kampf gegen Heiden, Juden und Mohammedaner preist und das Bild einer christlichen Schule entwirft.25 Die geschichtlichen Abläufe stehen unter dem Auspizium der göttlichen Vorsehung, die Apologie des christlichen Glaubens ebenso wie die Eröffnung des neuen Hörsaals unter der Ägide der affektrhetorisch inszenierten Freude (laetitia).26 Cellarius’ Ansprache, die er vom oberen Katheder aus hielt, flankierten drei nicht im Druck überlieferte Schülerreden, die aus verschiedenen Blickwinkeln die Überlegenheit der christlichen Religion bezeugten. Burkhard Gotthelf Struve (1671–1738), der später als Litterärhistoriker bekannt gewordene Sohn des Juristen Georg Adam Struve (1619–1692), als Absolvent des Zeitzer Lyceums, wie erwähnt, dort wiederholt Protagonist bei Schulanlässen, war im 23 In ihnen werden Herzog Moritz von Sachsen Zeitz (1619–1681), seine dritte Gemahlin, Herzogin Sophie Elisabeth von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Wiesenburg (1653–1684), und der Hofprediger und Barockdichter Johann Sebastian Mitternacht (1613–1679) betrauert. Zu diesen Personen siehe : Barocke Residenzkultur in Zeitz. Für das Museum Schloss Moritzburg Zeitz hg. von Detlef Deye und Roland Rittig. o.O. 2008 (Beiträge von Kai Agathe und Jochen Vötsch). 24 Cellarius : Programmata (Anm. 19), Oratio IV. De usu gentilium librorum in scholis christianis sive dedicatio auditorii renovati, S. 577–592. 25 Ebd : Programma LV. Dedicationis renovati scholae auditorii (6. Oktober 1685), S. 394–402. 26 Ebd., S. 394f. (Vorsehung, Sieg der göttlichen Wahrheit), S. 400 (Freude). Deutlicher zum pädagogischen Postulat, das Wirken der göttlichen Vorsehung zu erkennen : Programma XLIX exercitii oratorii (Anm. 22), S. 349.
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Haus des mit seinen Eltern befreundeten Christoph Cellarius untergebracht.27 Struve attackierte in seinem Referat Atheisten und Epikureer. Ein Kommilitone brandmarkte die Ruchlosigkeiten der Heiden, ein anderer bekämpfte den Islam, dessen Gefährlichkeit bereits das Einladungsprogramm am Beispiel der Kriege gegen die Türken thematisiert hatte. Werfen wir nun kurz einen Blick auf Cellarius’ Ansprache, die in individueller Färbung ein altes Thema, die Frage nach der Vereinbarkeit von paganer Überlieferung mit den christlichen Glaubensinhalten, aufgriff und den deutlichen Vorrang der christlichen Tradition, doch gleichzeitig eine antipaganen Rigorismus vermeidende Beurteilung der strittigen Beziehung vornahm. Die stärksten Vorbehalte des Festredners, der sich um ein differenziertes Urteil bemühte,28 richteten sich gegen die antike Dichtung, die er hauptsächlich aus moralischen Gründen als für den Schulunterricht ungeeignet hielt : Zu groß erschien Cellarius das Risiko sittlicher Depravation. Tibull, Properz und in manchen Gedichten Horaz würden zwar nur verdeckt obszön schreiben, seien aber nicht weniger gefährlich als Martial, Catull, in den Liebeserzählungen Ovid und die Verfasser priapeischer Dichtung. Die Satiriker Petron und Apuleius werden ebenso verurteilt wie Homer, von dem wegen des vernachlässigten Griechischunterrichts kaum mehr eine Gefahr ausgehe.29 Ovids Metamorphosen zirkulieren in vielen Händen ; eine moralisch vertretbare Auswahl der Texte sei angezeigt.30 Die Komödiendichter möchte Cellarius zwar nicht missbilligen, sie sind aber, da in ihren Werken einfache Leute auftreten, kaum stilistische Vorbilder ; schwere moralische Bedenken werden gegen sie, namentlich gegen Plautus und Terenz, vorgebracht, doch kann man sie in gereinigter Darbietung tolerieren.31 Cellarius’ Schelte will nur die 27 Paul Mitzschke : Burkhard Gotthelf Struve. In : Allgemeine deutsche Biographie. Bd. 36. Leipzig 1893, S. 671–676, wo berichtet wird, Struve habe während seines Aufenthalts in Zeitz Cellarius bei lexikalischen Arbeiten unterstützt (hier S. 672). 28 Cellarius : Oratio IV (Anm. 24), S. 582 : »cum notissimum sit, ut de poetis prius loquamur, alios fabulosos esse, alios seriis studiis et virtuti intentos ; non paucos etiam procaces, petulantes, lascivos et impudicos.« 29 Ebd., S. 584 : »Ab Homero quod metuamus nobis, minus hodie superest, quia malo saeculi exemplo ita Graeca studia negliguntur, ut paucissimi hunc poetam inspiciant, nedum omnia eius excutiant et examinent.« 30 Ebd : »Nasonis Metamorphoses in plurimorum manibus versantur, quos iucunda velim et utiliora ex illis excerpant : stupra et adulteria, illecebrosis saepe verbis descripta, inoffensa pietate praetereant.« 31 Ebd., S. 586 : »Quare optime consuluisse integritati morum videntur, qui comicos poetas aut excerpserunt, abscissis quae noxia sunt et castitati adversaria : aut honestiores inde adornarunt fabulas, abiectis pariter, quae sanctitatem laedunt, retentis melioribus.«
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›frechen‹ Dichter treffen ; so zählt offenbar Vergil, der weder als Vorbild noch als abschreckendes Beispiel erwähnt wird, nicht zu den inkriminierten Autoren. Rednern und Philosophen begegnet Cellarius mit weniger Vorbehalten, Cicero und Seneca sind für ihn in mancher Hinsicht Musterautoren.32 Die Funktion der heidnischen Autoritäten sieht er im Wesentlichen darin, christliche Autoren zum Wetteifer und zur Überbietung anzuspornen. Dank der ihnen zugestandenen natürlichen Vernunft können pagane Autoren im Kontext der Aufklärung sowohl in formal-sprachlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht Leitfunktionen übernehmen. Auch für die Generierung von geographischem, historischem und rhetorischem Wissen sind sie unentbehrlich.33 Selbst der antiken Mythologie spricht Cellarius, auch in mnemotechnischer und sogar in moralpädagogischer Hinsicht – es werden bittere Wahrheiten angenehm verhüllt und daher annehmbar vorgestellt – eine wichtige Bedeutung zu.34 Schließlich kann die am Beispiel antiker Autoritäten trainierte philologische respektive exegetische Kompetenz der Auslegung des Bibelworts und damit indirekt der Verbreitung der christlichen Glaubensinhalte dienen.35 Für Cellarius spielt sich die ›Querelle des anciens et des modernes‹ auf der Ebene eines Wettstreits von christlicher und paganer Tradition ab. Sein Ziel ist es, den Vorrang des Christentums zu bekräftigen, ohne die heidnischen Autoren aus dem literarischen Kanon verbannen zu müssen. Die gegen pagane Dichter geäußerten Bedenken machen verständlich, weshalb an der Universität Halle zunächst keine selbstständige poesiologische Professur vorgesehen war.36 Cellarius’ Einschätzung der Musterautoren der römischen Antike deckte sich weitestgehend mit der Meinung der Repräsentanten des Hallenser Pietismus über die
32 Ebd., S. 587, mit der Kritik an der Billigung des Selbstmords durch die Stoa und der dennoch gemäßigten Folgerung : »Ciceronis et Senecae, ut Graecos taceam, eruditissima monumenta non sine insigni vitae morumque fructu perleguntur, et si quid forsan occurrit in illis, quod ab officio abhorreat, ut apud Stoicos commendatio mortis voluntariae ; id sectae et disciplinae illorum temporum condonandum est, non propter pauca illa reiicienda omnia.« 33 Ebd., Ansporn zum Wetteifer, natürliche Vernunft, Kenntnisse in Geographie, Geschichte und Rhetorik. 34 Ebd., S. 588, allerdings mit der Warnung, nicht zu viel Zeit mit der Mythologie zu verschwenden. 35 Ebd., S. 589f. 36 Im Wintersemester 1696 erscheint Johann Peter Ludewig gleichzeitig als Professor der Metaphysik, Logik und Poetik. Poetik unterrichtete er, auch in den folgenden Jahren, eher nebenbei. Immerhin bot er, was bislang kaum bekannt war, im Sommersemester 1699 eine Vorlesung über deutsche Dichtung und im folgenden Wintersemester eine solche über deutsche Poetik an. Zu Ludewig vergl. den Aufsatz Robert Seidels in diesem Band.
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antik-heidnische Tradition.37 Auch sie distanzierten sich von der Preisgabe des humanistisch-säkularen Erbes, die von radikalen Pietisten bisweilen gefordert wurde. Wegleitend blieb der Grundsatz der erudita pietas, der von der humanistischen Pädagogik formuliert und vor allem von Johannes Sturm (1507–1589) in Straßburg institutionell umgesetzt wurde. Cellarius ging in einer seiner Programmschriften sogar von einer Blütezeit der natürlichen Vernunft in der heidnischen Antike und vom späteren Verlust rational-moralischer und humaner Qualitäten aus, die ihn den Wert antiker Exempel und der alten Geschichte als der neueren überlegen einstufen und die studia humanitatis pädagogisch umso besser rechtfertigen ließen.38 Damit widersprach er der von ihm anderswo hervorgehobenen moralischen Inferiorität paganer Autoren. An der Nachahmung antiker Vorbilder in der rhetorischen Praxis hielt er jedenfalls nicht nur aus stilistischen Gründen fest. Die Lektüre antiker Autoren war für ihn sogar ein rationeller, weil auch risikofreier Ersatz für kostspielige und gefahrvolle Reisen in entfernte Länder.39 Das Kalkül des Nutzens der studia humanitatis, das ihn mit dem frühaufklärerischen Utilitarismus verband, war ein Kernpunkt seiner didaktischen Überlegungen.40 Als Rektor eines Gymnasiums setzte Cellarius den Akzent in der von ihm propagierten Schulreform auf die voruniversitäre Ausbildung. An sie delegierte er vollumfänglich die studia humanitatis mit der Rhetorik als wichtigstem Fach41 und entzog ihr gleichzeitig den Unterricht in der Philosophie. Letzteren ver37 Cellarius : Programmata (Anm. 19), Programma LI exercitii oratorii de amicitia (Anm. 21), S. 371 : »Non enim illiterata est litteratorum pietas, sed profundam in Dei verbo indagat sapientiam, in sancta philologia delicias et animi laxamenta inquirit, ex saecularibus libris excerpit, quae proba et honesta, reputatis [sic ; recte repudiatis], quae impia sunt et ad corrumpendam adolescentiam valent.« Hier stimmt Cellarius mit der frühaufklärerischen Eklektik und mit 1. Thess. 5,21 überein. Zu Cellarius als Schulautor vgl. Beims : Antike Texte (Anm. 15). 38 Cellarius : Programmata (Anm. 19), Programma XXIV actus oratorii de felicitate civili, S. 157–164, hier S. 158, wo es um die Profangeschichte, die Domäne der natürlichen Vernunfterkenntnis, um den moralischen Zerfall, letztlich um eine Zeitklage, geht : »Veterem etiam novae historiae anteferendam putamus, quod ita iam deventum est in malam peccandi consuetudinem, ut hominum vita magis magisque in deterius quotidie ruat, et saepe virtutum nomine detestanda vitia induantur.« Beschworen werden die Reinheit respektive Einfachheit alter Sitten (incorrupta simplicitas morum) und, davon abgeleitet, die höhere Valenz althistorischer Exempel. 39 Ebd : Programma LXIV exercitii oratorii de orbis terrarum quatuor partibus, S. 464–470, hier S. 468f. 40 Ebd : Programma LX exercitii oratorii de praeparatione studiorum scholastica, S. 432–438, hier S. 436f ; Oratio VI qua provinciae XII. annis administratae auctor rationem reddidit et simul Cizenses musas earumque patronos et fautores valere iussit, S. 600–616, hier S. 606. 41 Ebd : Oratio VI (Anm. 40), S. 607.
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traute er ohne genauere inhaltliche Bestimmungen der Universität an, welche die Studenten erst nach dem Erwerb gründlicher Vorkenntnisse aufsuchen sollten.42 Hiermit verbunden war eine (postulativ) auch institutionell abgesicherte Hierarchisierung des Fächerkanons, der auf der ersten Stufe die philologisch-historisch-rhetorische Grundausbildung umfasste. Ihr schloss sich, wie erwähnt, auf der zweiten der eigentliche philosophische Unterricht an. Die Steigerung der Unterrichtsqualität auf der voruniversitären Ebene konnte aber nur erreicht werden, wenn qualifiziertes Personal für diese Schulstufe ausgebildet wurde und den entsprechenden Ausbildungsstätten nach Bedarf zur Verfügung stand. In den Dienst dieser schulpolitischen Aufgabe stellte Christoph Cellarius dann seine Tätigkeit als Professor der Geschichte und der Rhetorik an der Universität Halle. 2.2 Die philosophische Fakultät der Universität Halle als Stätte der Lehrerausbildung 2.2.1 Die Gründung des Collegium elegantioris litteraturae
In Friedrich Paulsens Geschichte des gelehrten Unterrichts repräsentiert die Gründung der Universität Halle einen epochalen Wendepunkt in der Ausbildung der Eliten im deutschsprachigen Raum : Sie markiert das Ende des hauptsächlich auf Philipp Melanchthon zurückgeführten Althumanismus, der in der philosophischen Fakultät im Zeichen der studia humanitatis, das heißt des Erlernens und der Beherrschung vor allem der lateinischen Sprache sowie der Kenntnis und der Nachahmung römischer, manchmal griechischer Autoren, stand. In einem von Halle ausgehenden Reformprozess wurde der humanistische Lehrplan, so lautet die historiographische fable convenue, durch das von politisch-praktischen Anforderungen geprägte höfische Bildungsideal abgelöst.43 Die Folge die42 Ebd., bereits in der Vorrede an den Leser, an prominenter Stelle ; ferner Programma LX (Anm. 40), S. 437f : »fugiatque praeposteram multorum consuetudinem, qui vel vagientes pueros philosophiae arcanis imbuunt, Latinae Graecaeque linguarum nitidiorem stilum, Rhetoricae usum et exercitationem, Historiae et Geographiae principia, et quae alia debent esse scholarum studia, tanquam superflua et inutilia praetermittentes, quum tamen sine illis ne consistere quidem possint, quae imponuntur graviores altioresque disciplinae« (ebd., S. 437). Oratio VI (Anm. 40), S. 605. 43 Friedrich Paulsen : Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Erster Band. Zweite, umgearbeitete und sehr erweiterte Auflage. Leipzig 1896, hier : Drittes Buch. Zeitalter der französisch-höfischen Bildung. Beginnende Modernisierung der Universitäten und Schulen 1600 (1648) – 1740, hier : Viertes Kapitel. Die Universitäten unter dem Einfluß der höfisch-modernen Bildung und des Pietismus. Die neue Universität Halle. Thomasius.
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ser unter dem Begriff einer Modernisierung gefassten Entwicklung, die mit der Gründung der Universität Göttingen und dem Aufkommen des Neuhumanismus eine wiederum auf die Antike, diesmal aber auf die Griechen, ausgerichtete Rückbindung erfuhr, sei zunächst eine Krise der humanistischen Fächer gewesen, die unter anderem in Zeitklagen und in hilflosen Wiederbelebungsversuchen ihren Ausdruck gefunden habe.44 Christoph Cellarius scheint im Vergleich mit den dem pädagogischen Fortschritt zugeordneten Leitgestalten Christian Thomasius, August Hermann Francke und Christian Wolff nur als Außenseiter und Fürsprecher jenes überholten Humanismus gelten zu können, dessen Untergang, wie der Leipziger Professor der Beredsamkeit Johann Erhard Kapp (1696–1756) in seiner Antrittsrede annahm, nicht zuletzt vom Aufschwung herrühre, den in Halle die eigentlich philosophischen Disziplinen genommen hätten.45 Als Geschichtsschreiber des philologischen Unterrichts respektive der studia humanitatis ging Paulsen auch auf Christoph Cellarius ein, den angeblichen Antagonisten des von Pietismus und rationalistischer Philosophie verantworteten Modernisierungsprozesses. Selbst im Horizont teleologisch konzipierter Bildungsgeschichte rückte der scheinbar rückwärtsgewandte Pädagoge für einen kurzen Augenblick in das Rampenlicht einer durchaus positiven Darstellung.46 Nach dem Erscheinen des unterrichtsgeschichtlichen Standardwerks Paulsens, das ihn keineswegs auf die Position des Gestrigen festlegte, verschwand Cellarius rasch und beinahe spurlos aus dem Gedächtnis der Universitätshistoriker.47 Im Licht bestimmter Fragestellungen aber, hier der Position der studia humanitatis innerhalb des philosophischen Fächerkanons sowie der philosophischen Fakultät im Kontext der gesamten universitären Wissensorganisation, kommt ihm, dem Aktualisator ›althumanistischer‹ Studien, und seiner Rolle im Hallenser Reformbetrieb auch Francke. Wolf, S. 511–550, sowie Fünftes Kapitel. Die Modernisierung der Gelehrtenschulen unter dem Einfluß der höfischen Bildung und des Pietismus, S. 550–584. 44 Ebd., Sechstes Kapitel. Zustände des gelehrten Unterrichtswesens am Anfang des 18. Jahrhunderts und Urteile darüber, S. 584–599. Zu Göttingen, ebd. Zweiter Band. Leipzig 1897, Viertes Buch. Das Zeitalter der Aufklärung. Allmähliches Aufsteigen des Neuhumanismus 1740–1805, S. 3–186. 45 Nach Paulsen : Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 1 (Anm. 43), S. 547f. 46 Ebd., S. 531, mit der grundsätzlich zutreffenden Gesamteinschätzung : »Die Professur der Eloquenz, womit der Vortrag der alten und neuen Geschichte verbunden war, wurde von Christoph Cellarius (1638–1707), einem nicht unbedeutenden, tüchtigen und thätigen Mann als erstem Inhaber verwaltet. Er war der neuen Bildung gar nicht feindlich ; er war nichts weniger als Verbalphilolog oder Imitationspoet.« 47 Erste Vorbemerkungen bei Reimar Lindauer-Huber : Christoph Cellarius und Veit Ludwig von Seckendorff in Zeitz. In : Barocke Residenzkultur in Zeitz (Anm. 23), S. 47–52.
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angesichts von Paulsens Aufwertung eine bisher stark unterschätzte Bedeutung zu.48 Der Verfasser des biographischen Artikels in Zedlers Universallexikon billigte dem ersten Hallenser Rhetorik- und Geschichtsprofessor, ohne allgemeine Entwicklungen im Bildungssektor vor Augen zu haben, persönliche Verdienste um die Ausbildung von Lehrern der studia humaniora zu : Obwohl Cellarius »die auf Academien übliche Hindansetzung derer Humaniorum mit ansehen muste, und also die Anzahl seiner Zuhörer gar schlecht war, so stunde er doch denen wenigen, die von ihm was zu lernen verlangten, mit unermüdetem Fleiß vor«.49 Im Folgenden soll die Aussagekraft des Topos des in Halle eingeleiteten unterrichtsgeschichtlichen Paradigmenwechsels differenziert beurteilt, das heißt der Stellenwert des von Cellarius verkörperten sogenannten althumanistischen Bildungsideals vor allem im Kontext der thomasianischen Unterrichtsreform genauer bestimmt und letztere aus einem ungewohnten Blickwinkel vergleichend betrachtet werden. Den Ausgangspunkt bildet das zum Jahresbeginn 1697 unter dem Patronat des brandenburgischen Kurfürsten sowie des Prorektors der Fridericiana, des Physik- und Medizinprofessors Friedrich Hoffmann (1660–1742), eröffnete Collegium elegantioris litteraturae, zu dessen ›Direktor‹ Christoph Cellarius hochoffiziell ernannt wurde. Hoffmann leitet in dem auf den 1. Januar 1697 datierten Einladungsprogramm seine Werbung für das neugegründete Collegium im Blick auf alle Fakultäten mit dem Lob der auch politischen Nutzen stiftenden studia humanitatis ein und beklagt die damals seit Kurzem eingetretene Vernachlässigung der klassischen Autoren und der Kenntnis der Antike im Unterricht.50 Insbesondere 48 Für Lindauer-Huber : Cellarius (Anm. 47), S. 47, war Cellarius »der größte Philologe und Pädagoge in Deutschland in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts«. Dieses Lob geht meines Erachtens, trotz der sehr berechtigten Würdigung der Verdienste des Hallenser Professors, zu weit, trifft sich aber mit dem hier vertretenen Anliegen. Positive Beurteilung der Leistungen des Cellarius auch bei Taatz-Jacobi : Erwünschte Harmonie (Anm. 10), S. 176 (innovatives Geschichtskonzept, »als Philologe war er ohnehin berühmt«). Vgl. ferner Beims : Antike Texte (Anm. 15) und Jaumann (Anm. 15). Eine Monographie über Cellarius bleibt ein Forschungsdesiderat. 49 Johann Heinrich Zedler : Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften. Bd. 5. Halle 1733, Sp. 1790f., hier Sp. 1791. 50 Friedrich Hoffmann : Collegium elegantioris litteraturae serenissimis auspiciis in academia Fridericiana institutum. [Halle] 1697. Zur Hochschätzung der Humaniora durch Friedrich Hoffmann und zum Collegium elegantioris litteraturae vgl. Daniel Ulbrich : Fucus et delectus inutilis oder Disciplinarum fundamentum et apparatus ? Georg Ernst Stahl und Friedrich Hoffmann über Nutzen und Nachteil des Lateinischen für Medizin und Naturwissenschaft. In : Michael Prinz u. Jürgen Schiewe (Hg.) : Vernakuläre Wissenschaftskommunikation. Beiträge zur Entstehung und Frühgeschichte der modernen deutschen Wissenschaftssprachen. Berlin, Boston 2018, S. 397–448, insbes. S. 439.
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bedauert er, dass die Philosophie und die höheren Wissenschaften die Humaniora in den Hintergrund gedrängt hätten, statt dass letztere als Fundamentaldisziplinen jeder Wissenschaft anerkannt und geschätzt würden.51 Nur in begrenztem Ausmaß traut Hoffmann Neuerungen fortschrittsfördernde Wirkungen zu, umso stärker werden die alten, konstanten Bildungswerte hervorgehoben, die in den auf Nachahmung ausgerichteten humanistischen Fächern vermittelt werden müssten. Die Schuld für den Misserfolg der auf das Universitätsstudium vorbereitenden Schulen schiebt der Verfasser der Inkompetenz der dort unterrichtenden Lehrer und letztlich dem Versagen der Universität, geeignete Lehrer auszubilden, zu. Diesem Übel will man mit dem ins Leben gerufenen Collegium begegnen, in dem Cellarius wöchentlich in zusätzlichen Stunden die Humaniora unterrichten soll. Sein Lehrpensum umfasst Lektionen in Beredsamkeit, in römischer Geschichte,52 in allgemeiner Geschichte sowie in Geographie und soll die Studenten so weit bringen, dass sie »alios possint humanitatis litteras docere, et gymnasiis ac scholis ex usu reipublicae praeesse«.53 Den Absolventen humanistischer Studien wird eine Stelle im brandenburgischen Schuldienst in Aussicht gestellt, gleichzeitig aber eine aus monetären Gründen getroffene Studienwahl missbilligt, und die Humaniora sollen sich von der später als Brotstudium bezeichneten Ausbildung abheben. In seiner bereits von Paulsen bekannt gemachten Eröffnungsrede vom 4. Januar 1697 setzte sich Christoph Cellarius ausführlicher mit der Krise der studia humanitatis auseinander und stellte den pädagogischen Leitgedanken der von ihm geleiteten Bildungseinrichtung vor.54 Das Collegium elegantioris litteraturae übernahm zwar in einem weiten Sinn die Aufgabe eines Lehrerseminars, war aber als Einmann-Kolleg zu schwach dotiert, als dass es jene Bezeichnung verdient hätte.55 Denn ihm fehlte auch ein Statut, in dem sowohl die organi51 Hoffmann : Collegium (Anm. 50), Bl. a3v : »Si, quod res est, non abscondemus ; utique non deest quod fateamur, initium illius in academiis natum esse, quae acriore, aut nimio philosophiae studio, aut disciplinarum etiam superiorum, primum hasce litteras, quae loco fundamenti sunt, segnius coeperunt tractare, unde neglectus illarum pedetentim irrepsit, et tandem suborta est oblivio.« 52 Ebd., Bl. a3r, »antiquitates Romanae«, hier wohl wieder im weiten Sinn von römischer Geschichte, die sogenannten Antiquitäten eingeschlossen, zu verstehen. Auf den Titelblättern der Dissertationen erscheint Cellarius als »antiquitatum et eloquentiae prof. p.« ; »antiquitates« ist dort vermutlich im allgemeinen Sinn von ›Geschichte‹ zu verstehen, obwohl die römische Geschichte zweifellos der Hauptschwerpunkt von Cellarius’ Unterricht war. 53 Ebd., Bl. a4r. 54 Paulsen : Geschichte des gelehrten Unterrichts, 1. Bd. (Anm. 43), S. 531f. 55 Ebd., S. 531, nennt, wohl nicht ganz unzutreffend, das Collegium elegantioris litteraturae das erste philologische Seminar im Sinn der später gleichnamigen Institution sowie der gleich bezeichneten
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satorischen Strukturen als auch die Methoden und Inhalte der Lehrerbildung genauer umschrieben worden wären. Von den didaktischen und schulpolitischen Zielen des aus der Taufe gehobenen Collegiums vermittelt die apologetische Ansprache des Direktors allerdings eine dezidierte und klare Vorstellung.56 Nach dem an den brandenburgischen Kurfürsten adressierten Herrscherlob preist Cellarius die im holländischen Leiden unter Petrus Cunaeus blühenden studia humanitatis. Sie verleihen allen Universitätsdisziplinen Glanz und tragen, jenseits eines unmittelbaren materiellen Nutzens, mit der Einhaltung des sprachlichen decorum (latinitas) und der hieraus resultierenden Anmut der Rede zum Gelingen der Kommunikation auch im politischen Leben bei. Mit einem fast wörtlich aus der Zeitzer Abschiedsrede übernommenen Zitat wird darauf hingewiesen, dass die Lektüre der römischen Redner, Historiker und Philosophen (Cicero, Seneca) den künftigen politicus mit einem an keine historischen Bedingungen gebundenen Gedankenvorrat ausstatte.57 Die Klage erneuert die Kritik an der unzureichenden Vorbildung der Studenten, an den nur nach raschem materiellem Erfolg Ausschau haltenden Eltern, an der Unfähigkeit der Lehrer im Umgang mit den antiken Autoren sowie an der Auslastung der Studierenden, Lehrveranstaltung innerhalb des organisatorischen Gefüges der Universität. Vorsichtiger, dazu mit einer angemesseneren Würdigung von Cellarius’ Verdiensten : Konrad Bursian : Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. München, Leipzig 1883, S. 349–351, hier S. 349 das Collegium als »eine Art Vorläufer der erst später an den deutschen Universitäten begründeten philologischen Seminarien«. Zur Geschichte des (späteren) universitären Seminarbetriebs : Carlos Spoerhase, Mark-Georg Dehrmann : Die Idee der Universität. Friedrich August Wolf und die Praxis des Seminars. In : Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft V/1, Frühjahr 2011, S. 105–117. 56 Christoph Cellarius : Oratio de meliorum litterarum restitutione sub initium collegii elegantioris litteraturae, in Fridericiana academia serenissimis auspiciis constituti, publice habita prid. nonas ianuarias ϹIϽ IϽC XCVII. Halle : Chr. Henckel o.J. (Exemplar der Marienbibliothek Halle, Signatur : Hof 180 [13]). Die Rede erschien außer in dieser heute seltenen Erstauflage mit gleichem Textwortlaut als selbstständige Publikation ein zweites Mal mit dem folgenden Titel : Oratio de melioribus litteris restituendis sub initium collegii elegantioris litteraturae, in Fridericiana academia serenissimis auspiciis constituti, publice habita prid. nonas ianuarias ϹIϽ IϽC XCVII. [Halle :] Christoph Andreas Zeitler 1703. Dritte Edition von Johann Georg Walch in : Christoph Cellarius : Orationes academicae. Leipzig 1714, Oratio XIV, S. 254–273. Zitiert wird hier nach der ersten Auflage. – Friedrich Hoffmanns Einladungsprogramm (vgl. Anm. 50) wird im Anhang der beiden ersten Auflagen der Cellariusrede, mit veränderten Angaben zu den Abhaltezeiten des Collegiums, ohne separates Titelblatt und mit durchgehender Bogenpaginierung, ebenfalls abgedruckt, vgl. zum Inhalt dieser Appendix auch Paulsen : Geschichte (Anm. 43), S. 532. 57 Cellarius : Oratio (Anm. 56), Bl. B2v, und Cellarius : Programmata (Anm. 19), Oratio VI (Anm. 40), S. 600–616, hier S. 607 die oben erwähnte, in die Eröffnungsrede wortwörtlich übernommene Passage.
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Abb. 1 : Titelblatt der ersten Ausgabe von Cellarius’ Oratio (1697). VD17 12 :162281H, SBB-PK Berlin : , Digitalisat unter http://resolver.staatsbibliothek-berlin. de/SBB0001969600000000.
Abb. 2 : Titelblatt der zweiten selbstständigen Publikation von Cellarius’ Oratio (1703) mit leicht verändertem Titel ; SLUB Dresden : Coll.diss.A.19,28. Digitalisat unter http:// nbn-resolving.de/urn :nbn :de :bsz :14-db-id3 470266801.
die auf das unverzüglich in Angriff genommene Pflichtstudium und die freiwillig betriebenen Übungen zur körperlichen Ertüchtigung zurückgeführt wird. Dem Vorwurf, er vermittle nur altes, unbrauchbares Wissen, begegnet Cellarius mit dem Hinweis auf die Lehrveranstaltungen zur neuesten Geschichte und zur Reichshistorie und weist am Beispiel von Plinius’ des Jüngeren Lobrede auf Trajan auf die ungebrochene Aktualität der römischen Kulturgeschichte und vor allem des römischen Rechts hin.58 Der Redner kontert die Vorwürfe und erklärt die geringen Frequenzen in seinen Lektionen mit den von ihm gestellten hohen Anforderungen und mit der aus den erwähnten bedenklichen Gegebenheiten resultierenden Unlust der Studenten, sich auf die Humaniora einzulassen. Cellarius schließt sein Lob der zum Inhalt der Lehrerausbildung erklärten huma58 Cellarius : Oratio (Anm. 56), Bl. B4v, die rhetorische Frage, mit der sich Cellarius im Anschluss an sein Lob des Plinius u. a. als rechtsgeschichtlicher Quelle gegen die Verächter der römischen Geschichte im Studium der Jurisprudenz wendet : »Haec vero et similia num adeo indigna sunt, ut sperni ab iuris et civilis prudentiae studiosis debeant ?«
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nistischen Studien mit dem Angebot von wöchentlich sechs öffentlichen Vorlesungsstunden, der Einladung, das angekündigte Collegium zu besuchen, und mit der unverbindlichen Prophezeiung guter beruflicher Aussichten für dessen Absolventen. Offenbar entsprach der Erfolg des hiermit gegründeten Collegiums nicht den Erwartungen. Bereits in einer auf den 14. November 1697 datierten Programmschrift, die zu den Lektionen in römischer Geschichte und Antiquitätenkunde (u. a. Rechtsgeschichte) einlud, klagte Cellarius über die tiefen B esucherzahlen und zitierte aus einem Mandat des Landesherrn, das die Studenten, insbeson dere Stipendiaten, verpflichtete, vor der Aufnahme des Studiums in einer o beren Fakultät ein einjähriges Propädeutikum an der philosophischen zu absolvieren. Cellarius bot Lektionen zur römischen Geschichte auf der Grundlage von Eutropius und zur Nachahmung des Velleius Paterculus an. Den Theologiestudenten wurde auferlegt, parallel zum Fachstudium philosophische Lehrveranstaltungen zu besuchen und die studia humaniora zu pflegen.59 Ob dieser von der Landesherrschaft gedeckte Aufruf den erwarteten Erfolg zeitigte, muss hier offen bleiben. Noch im Wintersemester 1706, kurz vor seinem Tod, legte Cellarius, vielleicht auch aus Altersmüdigkeit, Zeitzer Programmschriften einer Vorlesung zugrunde.60 Hierin manifestiert sich die ungebrochene Kontinuität pädagogischer Grundgedanken, die Cellarius ohne Wenn und Aber zeitlebens in der Unterrichtspraxis umzusetzen versuchte. 2.2.2 Frühe Hallenser Dissertationen – Wegleitungen zu humanistischer Unterrichtspraxis
Die Mannigfaltigkeit in Form und Inhalt, ihre Eignung für die Aufnahme von Paratexten (Widmungen, Glückwunschadressen, Leistungsattesten) sowie ihre Verwendbarkeit für unterschiedliche, auch außeruniversitäre Zwecke haben die frühneuzeitlichen Dissertationen in jüngster Zeit zu einem für die Wissenschafts- und Schulgeschichte unentbehrlichen Gegenstand gemacht. Der an 59 Christoph Cellarius : Elegantioris litteraturae collegium renovatis auspiciis iisque serenissimis in academia Fridericiana institutum, denuo aperit, commendat prorector Christophorus Cellarius, elegantiorum litterarum prof. publ. [Halle :] 1697 (Exemplar : Marienbibliothek Halle : Signatur : Hof 180 [14]). Cellarius’ Absicht, die studia humanitatis aufzuwerten und institutionell besser zu verankern, spiegelt sich auch in der zitierten Berufsbezeichnung wider. 60 Vorlesungsverzeichnis Wintersemester 1706 (Anm. 6) : »et hora III in programmatibus suis varii argumenti etiam publice interpretandis.« Zur Rezeption der Zeitzer Programmschriften vgl. Teigeler : Zinzendorf als Schüler (Anm. 19).
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den Hohen Schulen vermittelte Unterrichtsstoff fand in sie Eingang und wurde anlässlich der Disputation, zu der sie einluden, repetiert und gegen Einwände von Opponenten verteidigt. Sie gaben dem gelehrten Leser einen raschen Überblick zu allgemeinen Themen oder behandelten, ausführlicher als die Lehrbücher, Einzelfragen, die an anderen Stellen nur kurz abgehandelt oder sogar übergangen wurden. Lehrbücher gingen aus Disputationsreihen hervor oder lagen letzteren zugrunde. Christoph Cellarius und einige seiner Schüler ließen eine ganze Anzahl von Dissertationen verteidigen, die von den Lehrern zur Hebung des Unterrichtsniveaus in der der Universität unmittelbar vorangehenden Schulstufe herangezogen werden sollten. Zwar erfüllten, wie angedeutet, schon vor der Gründung der Universität Halle manche Dissertationen dieselbe Aufgabe wie Lehrbücher, doch eher selten wurden sie, wie an der Fridericiana, einem klar definierten schulischen Reformzweck dienstbar gemacht oder gar ausdrücklich mit einem didaktischen Auftrag im Rahmen der Lehrerbildung verknüpft. Am 29. März 1706 verteidigte Georg Beiche unter dem Vorsitz von Christoph Cellarius seine Inauguraldissertation zum Erwerb des Magistergrads, in der er, entsprechend der pädagogischen Zielsetzung des Präses, einen Kanon antiker Dichter für die voruniversitäre Unterrichtspraxis etablierte.61 Der Respondent war von 1704 bis 1709 Informator am Franckeschen Pädagogium und wurde 1709 Inspektor an der Lateinischen Schule in Halle. Von 1710 bis 1722 amtete Beiche als Rektor in Calbe, dann bis zu seinem Tod 1729 dort als Diakon.62 Sein Rektorat war überschattet von erfolglosen Reformversuchen, wie aus seinem Briefwechsel mit August Hermann Francke hervorgeht.63 Den Akzent legten die Protagonisten der Hallenser Magisterdisputation auf den Griechischunterricht, in welchem statt der umfangreichen Werke Homers und Hesiods Aratus von Soloi und Dionysius der Perieget gelesen werden sollten. Der Leser wird mit detaillierten litterärgeschichtlichen Informationen über 61 Christoph Cellarius (Pr.), Georg Beiche (Resp.) : Dissertatio philologica de poetis scholae publicae utilioribus. 29. März 1706. Halle. Die Dissertation wurde ausführlich behandelt, siehe Hanspeter Marti : Nr. 37. In : Hanspeter Marti, Reimund B. Sdzuj, Robert Seidel (Hg.) : Rhetorik, Poetik und Ästhetik im Bildungssystem des Alten Reiches. Wissenschaftshistorische Erschließung ausgewählter Dissertationen von Universitäten und Gymnasien 1500–1800. Unter Mitarbeit von Karin Marti-Weissenbach. Köln, Weimar, Wien 2017, S. 355–366. Vgl. auch Beims : Antike Texte (Anm. 15), S. 38–44. 62 Die biographischen Angaben stammen aus der Datenbank zu den Einzelhandschriften in den historischen Archivabteilungen des Studienzentrums August Hermann Francke, Halle. 63 Zu den fehlgeschlagenen Reformversuchen vgl. Axel Oberschelp : Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert. Lernen und Lehren im Kontext einer frühneuzeitlichen Bildungskonzeption. Tübingen 2006, S. 342–344.
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die beiden wenig bekannten griechischen Autoren eingedeckt und damit Zeuge einer Kanonrevision, die dem zeitbedingten Prestigeverlust des Griechisch als Schulfach Rechnung trägt. In gedrängter Form werden dann die römischen Autoren einer an die Zeitzer Rede erinnernden kritischen Begutachtung unterzogen, aufgrund welcher sich Vergil als alle überragendes Muster zur Nachahmung empfiehlt und in der gegen andere Autoritäten die bekannten moralischen Bedenken vorgebracht werden. In einem kurzen Schlussabschnitt, der der deutschen Dichtung gewidmet ist, wird didaktisch dem Erlernen des Lateins Priorität eingeräumt, das heißt die Ausbildung in der deutschen Sprache in eine spätere Unterrichtsphase verlegt und damit zur propädeutischen Nebensache erklärt. Anders als Cellarius in den Zeitzer Programmschriften und Reden gewähren die Disputanten der antiken Poesie einen wichtigen Platz und postulieren damit eine weitere Aufwertung der humanistischen Fächer im voruniversitären Unterricht. Mit praktischen Vorschlägen zum Kanon antiker Autoren unterstreichen sie die Forderung einer sachadäquaten Lehrerausbildung. Der Respondent verschaffte sich mit der von ihm verteidigten Inauguraldissertation, die ein Schlaglicht auf den institutionellen Konnex von Universität und Franckeschen Anstalten, ferner auf die persönliche Sympathie von Christoph Cellarius zu August Hermann Francke, wirft, unter anderem eine Legitimation für seine (bisherige) berufliche Tätigkeit. Eine ähnliche Funktion hatte die kurz darauf, am 18. Mai 1706, von Christoph Andreas Weber unter dem Präsidium von Christoph Cellarius verteidigte Inauguraldissertation, in der mit derselben pädagogisch-praktischen Absicht ein Schulkanon römischer Prosaautoren erstellt wurde.64 Diese Thesenschrift enthält eine didaktische Handreichung für Lehrer an Trivial- und Lateinschulen sowie für den Unterricht der Humaniora an Gymnasien. Sie unterscheidet drei Kurs- respektive Niveaustufen (»cursus«, »classis«), für welche die Pensen des Griechisch- und hauptsächlich des Lateinunterrichts im Einzelnen umschrieben werden. Unter den Musterautoren nimmt Cicero mit seinen Briefen und Reden den wichtigsten Platz ein, die Interpretation von De officiis mit den anspruchsvollen naturrechtlichen Darlegungen wird der Universität delegiert,65 auf die Ausbildung des iudicium jedoch bereits im voruniversitären Sprachunter64 Christoph Cellarius (Pr.), Christoph Andreas Weber (Resp.) : Disputatio philologica de solutae orationis scriptoribus scholarum usui publico commendandis. 18. Mai 1706. Halle. Auch diese Dissertation wird besprochen von Hanspeter Marti : Nr. 38. In : Marti, Sdzuj, Seidel : Rhetorik (Anm. 61), S. 367–373. 65 Ebd., § X, S. 9f : »Officia enim illa Naturae ius comprehendunt, quod supra captum est scholasticorum, atque ita in academiis demum, ubi ius illud explicatur, simul Officia interpretanda.«
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richt Wert gelegt. Im Griechischen steht auf allen Stufen die Lektüre des Neuen Testaments im Mittelpunkt. Der Privatunterricht hat, was hervorzuheben ist, vor allem für Fortgeschrittene große Bedeutung. Expliziter als in ihrer Vorläuferin werden in dieser Dissertation die Lehrer als Zielpublikum angesprochen und wird so die Funktion der Thesenschrift als Vademecum für den Unterricht unterstrichen.66 Von der philosophischen Fakultät und vom Unterricht in den Humaniora, insbesondere in der Kenntnis der römischen Antiquitäten und in der Geschichte des Altertums, gingen Reformbestrebungen aus, die Einfluss auf die voruniversitäre Ausbildung nehmen sollten und durch Absolventen der Fridericiana auch nahmen. In anderen Bereichen, so in der fachlichen Aufwertung der Geschichte, die sich auch in theoretischen Legitimationsversuchen kundtat, stimmten die Ziele der philosophischen Fakultät mit solchen der höheren Fachdisziplinen, insbesondere mit der von Christian Thomasius eingeleiteten Reform der juristischen Studien, überein. 2.3 Geschichtstheorie und Quellenkritik als Unterrichtsgegenstände
Der bedeutendste Schüler von Christoph Cellarius war Andreas Julius Dornmeyer (1675–1717). 1701 verteidigte er unter dem Vorsitz seines Lehrers die Dissertatio de fatis Latinae linguae, im folgenden Jahr erlangte er mit der Diatribe historica de Claudii Drusi expeditionibus maxime Germanicis den Magistergrad. Dornmeyer war Mitglied des Collegium elegantioris litteraturae und hielt für Christoph Cellarius die Trauerrede. Sein Wunsch, dessen Nachfolger zu werden, ging nicht in Erfüllung, obwohl er sich während seines Aufenthalts in Halle, auch als Adjunkt der philosophischen Fakultät und Vorsitzender bei Disputationen, für eine akademische Karriere qualifiziert hatte. 1708 wurde Dornmeyer u. a. mit pietistischer Unterstützung ( Joachim Lange) Konrektor am Friedrichwerderschen Gymnasium in Berlin,67 wo er die humanistischen Reformziele in pädagogische Praxis umsetzte.
66 Ebd., § VIII, S. 8, und § IX, S. 9. 67 Biographie siehe Lothar Noack, Jürgen Splett : Bio-Bibliographien : brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit : Berlin-Cölln 1688–1713. Berlin 2000, S. 132–138. Ferner : Agnes Winter : Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung (1574–1740). Berlin 2008, Personenregister, S. 457 ; Hanspeter Marti : Nr. 33. In : Marti, Sdzuj, Seidel : Rhetorik (Anm. 61), S. 319–327, hier 320f. (4. Bio-bibliographische Informationen).
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Mit der Thesenschrift Historicus falso suspectus, die er im März 1706 vom Philosophie- und Rechtsstudenten Karl August Hübener in Halle verteidigen ließ, wies Dornmeyer die Vorwürfe, Geschichte vermittle kein sicheres Wissen, zurück und verteidigte ihr Ansehen als praxisrelevante wissenschaftliche Disziplin. Bereits sein Lehrer Cellarius hatte in Zeitzer Programmschriften den Nutzen vor allem der römischen Historie betont, den er von der auch den Heiden mit Nachdruck zuerkannten natürlichen Vernunft und von der Annahme der in der Römerzeit herrschenden und nun weitgehend dahingeschwundenen guten Sitten herleitete.68 Dornmeyer wandte sich in der unter seinem Vorsitz verteidigten Dissertation einleitend gegen den von ihm festgestellten allgemein verbreiteten Zweifel und widerlegte die Bedenken der nicht mit Namen genannten Kritiker des historischen Fachs. Er hielt an der humanistischen Engführung der Geschichte mit der Rhetorik, insbesondere am ornatus, fest und bezog sogar die Dichtung ausdrücklich in den Verbund historische Wahrheit generierender Disziplinen ein.69 Der Historiker habe sich nach dem Gegenstand zu richten ; so sei bei der Behandlung hoher Standespersonen der ihnen angemessene Stil (stilus sublimis) zu wählen.70 Der Verfasser weist das Misstrauen über den Quellenwert von Lobreden, Satiren, anonymen Schriften sowie die seiner Ansicht nach nicht immer berechtigten Einwände gegen die einseitige Hervorhebung von Tugenden oder von Lastern zurück. Meinungen, die Personen in Dialogen vertreten, dürften nicht leichtfertig dem Autor des fiktiven Gesprächs zugeschrieben werden. Hier beruft sich Dornmeyer mit einem Zitat aus den Monatsgesprächen auf Christian Thomasius, der noch an einer andern Stelle der Dissertation als Autorität in Erscheinung tritt.71 Auch das Urteil der Feinde brauche nicht falsch
68 Christoph Cellarius : Programmata (Anm. 19), hier Programma VII exercitii oratorii ideam viri boni exemplis ex Graeca Latinaque historia exprimentis, S. 37–42, hier S. 40 (zur natürlichen Vernunft), sowie Programma XXIV actus oratorii de felicitate civili (Anm. 38), S. 158, die erwähnten Wertkonnotationen. Zum fortgeschrittenen moralischen Zerfall, ebd : »Quare exactius lustranda et inspicienda sunt in historiis illa saecula, quae quanto longius a nostro absunt, et suae origini propiora sunt, tanto magis integritatem suam ac incorruptam simplicitatem morum referre, et ideo inde petita exempla praecellere nostrae aetatis exemplis, iudicandum est.« 69 Andreas Julius Dornmeyer (Pr.), Karl August Hübener (Resp.) : Historicus falso suspectus. März 1706. Halle ; zur positiven Beurteilung der Dichtkunst im Hinblick auf die Geschichtsschreibung, § VII, S. 16f : »Perperam itaque agunt, qui vel historicos, quod poetae sint, reprehendunt, vel poeticam artem, quasi suspectam veritatem reddat, prorsus omittunt. Sane quamplurima orator cum historico, multa uterque cum poeta habet communia.« 70 Ebd., § V, S. 11f. 71 Ebd., § XV, S. 25 ; § XVII, S. 28f.
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zu sein.72 Zum Schluss ruft Dornmeyer Autoritäten in Erinnerung, die sich mit methodischen Mängeln der Historie befassten, so Jean Bodin, Johannes Eisenhart, Burkhard Gotthelf Struve und Gerardus Joannes Vossius. Mit Nachdruck setzte sich der Präses für die Ausbildung der quellen- resp. geschichtskritischen Urteilskraft ein und versuchte so, die Meinungen der Kritiker der Geschichtsschreibung zurückzuweisen ; vor kleinen Zugeständnissen an den historischen Relativismus schreckt er aber nicht zurück.73 Letztlich vertritt er eine auf dem Boden der studia humanitatis, insbesondere der Rhetorik, gewachsene Position.74 Die Maßstäbe und der Wert historischer Erkenntnis, an denen die Dissertation grundsätzlich festhält, werden dann im letzten von insgesamt fünf Korollarien, wohl in Erwartung einer positiven Antwort, zur Diskussion gestellt.75 Allerdings löste Dornmeyer das Versprechen, eine Dissertation über die Schwächen der Geschichtsschreibung folgen zu lassen, nicht ein. Ein knappes Jahr später geschah dies in einer unter dem Vorsitz des Rinteler Geschichts- und Rhetorikprofessors Friedrich Wilhelm Bierling (1676–1728), eines Thomasiusschülers, verteidigten Thesenschrift über den historischen Pyrrhonismus, die nicht auf die Hallenser Dissertation Bezug nahm und allein der Zweifelhaftigkeit des historischen Urteils gewidmet war.76
72 Ebd., § XVI, S. 25f : »quod, quum ab hoste nuntiatur, minus est incredibile, quam si amicus retulisset.« 73 Ebd., § XIII, S. 22f., wo es um die Satiren geht und Petrus Cunaeus auch von Cellarius’ Schüler als Vorbild angepriesen wird. 74 Zur historiographiegeschichtlichen Einordnung kurz : Markus Völkel : »Pyrrhonismus historicus« und »fides historica«. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis. Frankfurt/Main, Bern, New York 1987, S. 184 : »Umgekehrt hielten rhetorisch geschulte Methodiker noch zäh an den literarischen Ursprüngen der Historie fest. Sie von ihrer Schwester, der Poesie, abzutrennen, hätte bedeutet, sie der ihrer Natur gemäßen Überzeugungsmittel zu berauben.« 75 Dornmeyer, Hübener : Historicus (Anm. 69), S. 32 : »Ut perfecta componatur historia, non aliud praestantius excogitari potest subsidium, quam si singulis eruditis singulae partes iniungantur.« 76 Friedrich Wilhelm Bierling (Pr.), Gerhard Patje (Resp.) : Dissertatio de Pyrrhonismo historico, Oder von Ungewisheit der Historie. Februar 1707. Rinteln. In : Friedrich Wilhelm Bierling : Dissertationes selectae […]. Ristampa anastatica delle edizioni Rinteln 1701, 1702, 1707 e 1719 a cura di Martin Mulsow. Lecce 1999. Vgl. dazu und zu Christian Thomasius : Friedrich Vollhardt : Vorwort. In : ders. (Hg.) : Christian Thomasius : Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit. Hildesheim, Zürich, New York 2006 (= Christian Thomasius : Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 20), S. V–XXXVI, hier S. XXXIf. Zu Bierling und dessen »Pyrrhonismus moderatus« Völkel (Anm. 74), S. 137–146.
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2.4 Christian Thomasius – Autorität im Cellariuskreis
Am 13. Juli 1705 disputierte der Hallenser Christian Krimpf unter dem Vorsitz Andreas Julius Dornmeyers über das von einem Studenten der Politik erwartete Grundwissen. Der Respondent setzte seine Studien an der Fridericiana fort, verteidigte 1712 unter Jakob Friedrich Ludovici (1671–1723) erstmals eine juristische Dissertation und erwarb, bereits Advokat in königlichen Diensten in Mansfeld, 1721 mit einer mehr als hundertseitigen, auch auf die Geschichte des Rechts ausgerichteten Inauguraldissertation unter der Ägide Johann Peter von Ludewigs den Grad eines Doktors der Jurisprudenz.77 Vom Ausbildungsgang her, insbesondere im Blick auf die von Christian Thomasius inaugurierte Universitätsreform, absolvierte Krimpf ein mustergültiges Rechtsstudium : Erwerb von Grundkenntnissen an der philosophischen Fakultät, Verteidigung einer philosophischen Disputation als »Legum et Philologiae cultor« über das Studium der Politik, Fortsetzung der Ausbildung in Jurisprudenz, Übungsdisputation, Erfahrung in der Rechtspraxis, Inauguraldissertation mit stark historischer Ausrichtung, einem themenspezifischen Vergleich insbesondere des römischen mit dem deutschen Recht, in den Berufserfahrungen einflossen. Die philosophische Dissertation, die der Respondent mit großer Wahrscheinlichkeit allein oder zumindest sehr selbstständig verfasste,78 ist keine Paradeleistung, höchstens von durchschnittlicher Qualität, jedoch, wie die meisten derartigen Stücke, unterrichts- und personengeschichtlich von Bedeutung. Die Thesenschrift bezeugt einmal mehr den für die Fridericiana typischen, außergewöhnlich starken Einfluss der juristischen Fakultät auf die philosophische, die Ausrichtung der philosophischen Fakultät auf die Bedürfnisse der politici und die in diesem Zusam77 Jakob Friedrich Ludovici (Pr.), Christian Krimpf (Resp.) : Dissertatio iuridica de actuarii praesentia in actu testandi. November 1712. Halle. – Johann Peter von Ludewig (Pr.), Christian Krimpf (Resp.) : Dissertatio inauguralis de differentiis iuris Romani et Germanici in donationibus et, barbari adnexus, acceptatione. 30. Juni 1721. Halle. 78 Andreas Julius Dornmeyer (Pr.), Christian Krimpf (Resp.) : Dissertatio de fundamentis et ornamentis studiosi politici. 13. Juli 1705. Halle. Für die Verfasserschaft resp. Hauptautorschaft des Respondenten sprechen die Paratexte : die von ihm geschriebene Widmung an den Rechtsprofessor Samuel Stryk (1640–1710), zugleich ein weiteres Indiz für die Ausrichtung der im weiten Sinn philosophischen Studien auf die Juristenfakultät, sowie die Gratulationsadresse des Präses Dornmeyer. Den Versuch einer Typologie frühneuzeitlicher politischer Dissertationen anhand von Straßburger Thesenschriften unternimmt Michael Philipp : Bernegger – Schaller – Boeckler. Die Straßburger historische Schule der Politikwissenschaft im 17. Jahrhundert. In : Hanspeter Marti u. Robert Seidel (Hg.), unter Mitarbeit von Karin Marti-Weissenbach : Die Universität Straßburg zwischen Späthumanismus und Französischer Revolution. Wien, Köln, Weimar 2018, S. 133–337.
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menhang postulierte Aufwertung der studia humaniora, deren Vernachlässigung den Studenten des Rechts vorgeworfen wird.79 Beigezogen wird der kurze Zeit vorher erschienene Bericht Von denen künfftigen Thomasischen Collegiis und Schriften mit einer Schlüsselstelle über die Unentbehrlichkeit der studia humaniora für die Juristen.80 Eine längere, ins Lateinische übersetzte Passage dieser thomasianischen Programmschrift legt der Verfasser der politischen Dissertation vor. Damit werden die gemeinsamen Ziele der von Cellarius und dessen Schülern verantworteten humanistischen Pädagogik auf der einen sowie der von Christian Thomasius eingeleiteten Reform des Rechtsstudiums auf der anderen Seite unterstrichen. Die entscheidenden Passagen lauten in der thomasianischen Originalfassung : So ist auch von vielen gelehrten Leuten als ein grosser Mangel angemercket worden / daß / da man allenthalben das Römische Recht zum Grund der heutigen Jurisprudenz leget / dennoch fast durchgehends die studia elegantiora und fürnemlich das studium der Römischen Antiquitäten und Historie / ohne die man doch nicht geschickt ist das Römische Recht zu verstehen / von denen Studiosis Juris fast gäntzlich negligiret werden.81
Das Studium der Politik wird von den beiden den Franckeschen Anstalten nahestehenden Protagonisten auf die Bibel abgestützt, die pietas neben der doctrina in christlich-humanistischer Tradition zum fundamentalen Habitus erklärt und der empfohlene Büchervorrat auf ein Minimum beschränkt.82 Die Abhängigkeit der Disputanten von Christoph Cellarius kommt erneut zum Ausdruck, indem sie auf die Zeitzer Programmschriften, auf eine Dissertation zur antik-römischen 79 Dornmeyer, Krimpf : De fundamentis (Anm 78), § XIV, S. 7. 80 Christian Thomasius : VII. Kurtzer Bericht Von Denen künfftigen Thomasischen Collegiis und Schrifften. Anno 1705. In : ders : Auserlesene deutsche Schriften. Zweiter Teil. Vorwort von Werner Schneiders. Personen- und Sachregister von Frank Grunert. Hildesheim, Zürich, New York 1994 (= Christian Thomasius : Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 24), S. 327– 352 (datiert auf den 15. April 1705, d.h. rund drei Monate vor der Verteidigung der Dissertation über den studiosus politicus). 81 Ebd., § 20, S. 345f. Dornmeyer, Krimpf (Anm. 78), § XIV, S. 7, die, auch in lateinischer Übersetzung, die folgende Thomasiusstelle zitieren : »§ 22. Seine Königliche Majestät in Preussen / Unser Allergnädigster König und Herr / hat bey Stifftung dieser Universität uns Professoribus der höhern Facultäten […] sonders erinnern lassen / daß wir die jungen Leute zuförderst zu denen studiis humanioribus et elegantioribus antreiben solten.« (Christian Thomasius : Kurzer Bericht, Anm. 80, S. 347f.). 82 Dornmeyer, Krimpf : De fundamentis (Anm. 78), § XII, S. 5.
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Abb. 3 : Titelblatt der unter dem Vorsitz von Andreas Julius Dornmeyer von Christian Krimpf verteidigten Dissertation über den Studenten der Politik. Google-Digitalisat des Exemplars der Biblioteca Nazionale Centrale Vittorio Emanuele II, Rom : π2 A4 B2.
Bildungsgeschichte sowie auf das Vorbild des Niederländers Cunaeus verweisen. Die natürliche Vernunft und damit die paganen Autoren werden im Licht der wahren christlichen Frömmigkeit abgewertet und der Student der Leitung göttlicher Gnade anvertraut.83 Vor dem Umgang mit Frauen als Vermittlerinnen praktischer politischer Erfahrungen wird ebenso gewarnt wie vor den Gefahren beim Reisen, ohne dass in Beidem ein gänzlicher Verzicht nahegelegt würde.84 Die Dissertation geht, mit Ausnahme der ausführlicher behandelten Grammatik, nur summarisch auf die einzelnen Humaniora und auf die Philosophie ein. Die beiläufige Nennung der Lastertrias (avaritia, ambitio, voluptas) geht wohl auf Christian Thomasius’ Einfluss zurück.85 Wie sich gleich zeigen wird, stimmt das Profil der Ausbildung des politicus christianus, das die Protagonisten in der philosophischen Disputation über das Politikstudium andeutungsweise entwerfen, 83 Ebd., § X, S. 5 (Christoph Cellarius, Pr., Christoph Gottfried Barth, Resp : De studiis Romanorum litterariis in urbe et provinciis. 11. Februar 1698. Halle), § XII, S. 6 (Cunaeus), § XXI, S. 11 (Programmata), § VI, S. 3 (göttliche Gnade). 84 Ebd., § XIX–XXI, S. 9–11, Konversation und Reisen gehören zur Bildung des zukünftigen politicus. 85 Ebd., § XV, S. 7f. (studia humaniora) ; § VII, S. 3, § XVII, S. 9 (Lastertrias).
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in mancher Hinsicht mit den pädagogischen Zielen von Thomasius überein. Wo sich die Vertreter des frühaufklärerischen Humanismus mit Thomasius treffen und worin sie sich von dessen Leitideen unterscheiden, soll nun abschließend in einem thesenartigen Resümee vergegenwärtigt werden, das sich auf das Verhältnis des deutschen Frühaufklärers zu den studia humanitatis und zur christlichen Tradition konzentriert. 3. Christian Thomasius – Christ und Humanist Sieht man von den Arbeiten zu den beiden Sittenlehren ab, wurde bislang in philosophiegeschichtlichen Studien das Verhältnis von Christian Thomasius zu Religion und Konfession weit seltener in den Blick genommen als die weltlich-säkulare Komponente seines Denkens. Man stellte bei Thomasius Vertrauen in die Leistungskraft der natürlichen Vernunft fest und berief sich auf seine Apologie philosophischer Erkenntnis, ferner auf die Theorie und Praxis der Urteilsbildung (iudicium) sowie eine tendenzielle Diskriminierung des Gedächtnisses (memoria). Dagegen wurde Thomasius’ Beziehung zu den studia humanitatis, die von religiösen Interessen durchdrungen ist, im Einzelnen kaum untersucht. Ausgehend von der am Cellariuskreis beobachteten Aufwertung bzw. Beibehaltung der studia humaniora für die frühe Universität Halle wird hier eine Annäherung an Christian Thomasius quasi von außen versucht. Die Lebensläufe von Christoph Cellarius und Christian Thomasius treffen sich zunächst in den Beziehungen zum Fürstenhof der kursächsischen Sekundogenitur Sachsen-Zeitz. Später zählen die beiden Gelehrten zu den Gründungsprofessoren der Universität Halle. Dem von 1664 bis 1682 als Kanzler und Konsistorialpräsident in Zeitz wirkenden Veit Ludwig von Seckendorff hatte Christoph Cellarius seine Berufung zum Rektor an die Zeitzer Schule zu verdanken.86 Zu Ehren von Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz (1619–1681) und von dessen Gemahlin in dritter Ehe, Herzogin Sophie Elisabeth geborene Herzogin von Holstein-Sonderburg-Wiesenburg (1653–1684), verfasste Christoph Cellarius Trauerreden.87 Sophie Elisabeth war seit 1672 Briefpartnerin Philipp 86 Zur Tätigkeit von Seckendorffs in Zeitz Dietrich Blaufuß : Seckendorff, Veit Ludwig von (1626– 1692). In : TRE. Theologische Realenzyklopädie. Bd. XXX. Berlin, New York 1999, S. 719–727, hier S. 720f. Über die Rolle von Seckendorffs bei der Berufung von Christoph Cellarius nach Halle gehen die Meinungen von Lindauer-Huber : Cellarius (Anm. 47), S. 51, und Taatz-Jacobi : Erwünschte Harmonie (Anm. 10), S. 176, auseinander. 87 Christoph Cellarius : Oratio I sive laudatio funebris reverendiss. ac sereniss. principis domini Mau-
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Jakob Speners (1635–1705), von dem 16 Briefe an sie aus den Jahren 1680 bis 1684 überliefert sind, und der Zeitzer Hof war ein Hort des Pietismus.88 1690 setzte sich Christian Thomasius für die Eheschließung des lutherischen Herzogs Moritz Wilhelm (1664–1718), Moritz’ Sohn, mit der reformierten Maria Amalia (1670–1739) ein, der verwitweten Tochter des Großen Kurfürsten, was einem politischen Affront gegen Kursachsen gleichkam. Im selben Frühjahr wurde Christian Thomasius von Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz dem Kurfürsten Friedrich III. empfohlen.89 Kurz danach begann Thomasius’ Aufbauarbeit in Halle.90 Thomasius und Cellarius waren also biographische Weggefährten, die sich trotz einiger geistiger Differenzen im grundsätzlichen Bestreben zusammenfanden, für eine Reform der Studien einzustehen und sie zu verwirklichen. 3.1 Das Spannungsfeld von Humaniora, Philosophie und lutherischer Theologie
Die drei Titelbegriffe stehen, historisch gesehen, in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, indem jeweils der vorangehende dem folgenden untergeord net ist. Auf innerphilosophischer Ebene besteht also ein Subordinationsverhältnis zwischen den ›studia humaniora‹ und den eigentlich philosophischen Disziplinen, während die philosophische der theologischen Fakultät ebenso wie die natürliche Vernunft der Offenbarung den Vortritt lassen muss. Christian Thomasius ist bestrebt, die Wirkungssphären von Natur und Gnade in eine ricii, Sax. Iul. Cliv. et Mont. ducis, postul. administr. episc. Numb. etc. beatis manibus dicata. In : Cellarius, Programmata (Anm. 19), S. 513–535. Ders : Oratio II sive laudatio funebris beatis manibus sereniss. principis viduae Sophiae Elisabethae, ducis Sax. Iul. Cliv. Et Mont. e gente celsissima ducum Holsatorum oriundae, sacra. In : ebd., S. 536–556. 88 Philipp Jakob Spener : Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686. Bd. 5 : 1681. Hg. von Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Tübingen 2010, S. 59 Anm. 1. 89 Vgl. Taatz-Jacobi : Erwünschte Harmonie (Anm. 10), S. 131, die das Empfehlungsschreiben im Haupttext auf den 18. März 1690 und in der dazugehörigen Anmerkung auf den 18. Februar 1690 datiert (ebd., S. 129). Thomasiusbriefe vom 15. und 17./18. März 1690 sind in Leipzig geschrieben, vgl. Frank Grunert, Matthias Hambrock u. Martin Kühnel (Hg.), Mitarbeit Andrea Thiele : Christian Thomasius Briefwechsel. Bd. 1 : 1679–1692. Berlin, Boston 2017, S. 288, Nr. 156 u. 157, mit dem Kommentar (ebd., S. 289) : Der Brief Nr. 157 sei nach Thomasius’ Rückkehr von einer Kurzvisite in Zeitz am 17. März 1690, vor der Weiterreise nach Berlin am 18. März, entstanden. 90 Zusammenfassend : Markus Matthias : Johann Benedikt Carpzov und Christian Thomasius. Umstrittene Religions- und Gewissensfreiheit. In : Stefan Michel u. Andres Straßberger (Hg.) : Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699). Leipzig 2009, S. 223–247, hier S. 231f. Matthias behauptet unzutreffend, dass Christian Thomasius am 18. März 1690 in Halle angekommen sei (ebd., S. 232).
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produktive Beziehung, in ein harmonisches Verhältnis zu bringen. Gleichzeitig liegt ihm daran, den wahren (lutherischen) Glauben von den Einflüssen der verdorbenen Natur zu säubern und in seiner Reinheit wieder herzustellen, aber auch die natürliche Vernunft von göttlichen Offenbarungswahrheiten frei (unvermischt) zu halten.91 ›Rom‹ und ›römisch‹ erscheinen wie die Zuschreibung ›heidnisch‹ in dieser Perspektive als Reizwörter, die einerseits ein Defizit, den als Häresie verunglimpften katholischen Glauben und/oder, konfessionsneutral, die affektgesteuerte Unvernunft, andererseits eine positive Qualität, nämlich die sogar Nichtchristen zugestandene natürliche Vernunft, bezeichnen können. Christian Thomasius’ Verhältnis zum (römischen) Altertum und zur humanistischen Tradition ist daher ambivalent. Seine Philosophie übernimmt im Grundsatz den Antipaganismus des Vaters Jakob Thomasius, tradiert ihn weiter und steht, was oft vergessen wird, ausdrücklich unter dem Regiment eines strengen Biblizismus. In der Einleitung zur Hofphilosophie breitet Christian Thomasius das Inventar der philosophischen Disziplinen aus, indem er, kurz gesagt, vom grundlegenden Unterschied von Instrumental- und ›Principal‹-Philosophie ausgeht. Die philosophia instrumentalis umfasst die Grammatik, die Rhetorik, die Poesie, die Geschichte, die Logik, aber auch die Metaphysik, nämlich als Gefäß philosophisch-ontologischer Begriffe, insgesamt also hauptsächlich die unter den studia humanitatis gefassten Fächer eines erweiterten Triviums. Die philosophischen Prinzipal- oder Hauptdisziplinen werden dann in theoretische (Pneumatik, Physik, Mathematik) und praktische (Ethik, Politik, Ökonomie) unterteilt.92 Der wichtigste Anstoß zur Pedantismuskritik, die in hohem Maße Schulmeister und Philologen traf, ging ebenfalls von der Hofphilosophie und der in ihr abgedruckten einschlägigen Rede Ulrich Hubers (1636–1694), Professors der Jurisprudenz im niederländischen Franeker, aus. Der sich in grammatischer Akribie äußernde 91 Der Reinheitstopos, der keine Vermischung von natürlicher Vernunft und göttlicher Offenbarung zulässt, kehrt immer wieder und wird von Thomasiusinterpreten zu Recht hervorgehoben. Eine frühe Schlüsselstelle findet sich in Christian Thomasius : Einleitung zur Hof-Philosophie. Vorwort von Werner Schneiders. Personen- und Sachregister von Frank Grunert. Hildesheim, Zürich, New York 1994 (= Christian Thomasius : Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 2) (deutsche Übersetzung von 1712), §§ 28–45, S. 70–75. Zum Vermischungsverbot ebd., § 60, S. 80 : »Endlich so verwerffen wir hierinnen alle Heydnische Philosophos, weilen dieselbe mit solcher confusion die Philosophie beschmitzet.« Hier ist daran zu erinnern, dass Christian Thomasius unter ›heydnischer Philosophie‹ die katholische Theologie subsumiert. Die ›Introductio in philosophiam aulicam‹ erschien zuerst 1688 in Leipzig in lateinischer Sprache. 92 Christian Thomasius : Hof-Philosophie (Anm. 91), §§ 67–69, S. 82f. Der von Thomasius wohl als Wörterbuch der Philosophie verstandene und daher zu den Instrumentaldisziplinen gezählte Teil der Metaphysik wird nicht in den hier behandelten Kanon humanistischer Fächer einbezogen.
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Hochmut (superbia) galt als Hauptlaster der anvisierten Spezies von Pedanten. Die Pedantismuskritik der Hofphilosophie richtete sich aber mehr als gegen die humanistische gegen die aristotelisch-scholastische Tradition, die vor Thomasius’ pädagogischem Utilitarismus und den entsprechenden Grundsätzen gelehrter und alltagspraktischer Kommunikation nicht bestehen konnte.93 Der Philologe, der nicht gegen die Normen des geschilderten gelehrten decorum verstieß, blieb von der Kritik ebenso verschont wie die auf praktischen Nutzen ausgerichtete Philologie und Kenntnis von Sprachen. Den utilitaristischen Kriterien, an denen Christian Thomasius alle philosophischen Disziplinen maß, vermochten Dichtung und Poetik am wenigsten zu genügen : Da sie einzig und allein dem Vergnügen dienten, sprach er ihnen meist jeglichen Erkenntnis- und moralischen Lehrwert ab.94 Immerhin ging er im Summarischen Entwurf der Grundlehren (Halle 1699) etwas näher und im Urteil differenzierter auf sie ein als in der Hofphilosophie und in den beiden Vernunftlehren,95 in denen ohnehin die 93 Ebd., Das Sechzehende Capitel. Von der Pedanterey, S. 292–296, hier S. 294, §§ 8 u. 9 (Hochmut), hier § 9, u.a : »Die Philologi und Grammatici, welche sich unterstehen solche Schrifften / welche von Leuten von grossem Verstand sind ausgefertiget worden / durch die Hechel zu ziehen.« Ferner, S. 295, § 10 : »Die die Versickeln / Meynungen / und Lateinischen Wörter / wie auch die Griechischen / Hebräischen und Schulfüchsischen Terminos, imgleichen Regeln / Mittele und andere Sachen / welche gelehrt heissen sollen / alsdann auff die Bahn bringen / wann sie gar nicht können gebrauchet werden / und nirgends zu Nutze sind.« Mit eigenem Titelblatt folgt als Anhang (ebd., S. 298–343) die von Ulrich Huber anlässlich seines Rücktritts als Rektor im Juni 1678 gehaltene ›Freye Rede von der Pedanterey‹, deren verschiedene Fassungen bislang nicht verglichen wurden. Über Metaphysikkritik und ›Grillenfängerei‹ ebd., Das Eilffte Capitel. Von der Klugheit recht nachzudencken, S. 221–248, hier §§ 32f., S. 247f. Zur Pedanterie und zur thomasianischen Pedantismuskritik vgl. Wilhelm Kühlmann : Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, hier S. 288–318 u. 423–454. 94 Christian Thomasius : Hof-Philosophie (Anm. 91), XI. Capitel (Anm. 93), die Warnung vor dem Übermaß, S. 246. Eckhardt Meyer-Krentler : »Der Poesie kann ein studiosus iuris gar wohl entbehren«. Rhetorik, Verfachlichung und literarischer Wandel vom 17. zum 18. Jahrhundert. In : Lothar Bornscheuer, Herbert Kaiser, Jens Kulenkampff (Hg.) : Glaube, Kritik, Phantasie. Europäische Aufklärung in Religion und Politik, Wissenschaft und Literatur. Interdisziplinäres Symposium an der Universität-GH-Duisburg vom 16.–19. April 1991. Frankfurt/Main u. a., S. 181–199, spricht generell von einer »Entfunktionalisierung der Artes liberales [kursiv im Original ; M.]« (hier S. 196), was auch im Blick auf Christian Thomasius und Johann Peter Ludewig zu weit geht. 95 Christian Thomasius : Summarischer Entwurf der Grundlehren, die einem Studioso Juris zu wissen und auf Universitäten zu lernen nötig. Hg. und mit einem Vorwort sowie einem Personenund Sachregister versehen von Kay Zenker. Hildesheim, Zürich, New York 2005 (= Christian Thomasius : Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 13), hier Pars I., Cap. VIII. Von Nutzung der Poeterey im Studio Juris, S. 55–57.
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Verbesserung der Logik und die Ausbildung des iudicium im Mittelpunkt stehen. Der Ablehnung einer zänkischen Scholastik wird, im Anschluss an Jean Le Clerc ( Johannes Clericus ; 1657–1736), das der Erkenntnis und friedlichem Umgang förderliche sokratische Gespräch gegenübergestellt und damit der griechischen Philosophie in pädagogisch-methodischer Hinsicht und zudem Sokrates als ethischem Vorbild die Ehre erwiesen.96 Ihre Eigenschaft als Reformdisziplin verdankt die Logik, die für Thomasius in erster Linie Pädagogik, Lehre des Lehrens und Lernens, war, maßgeblich der in sie inkorporierten Hermeneutik, welche die Vernunftlehren mit der Philologie, insbesondere mit der Bibelexegese, zu einer Einheitsdisziplin verschmolz.97 In der Hofphilosophie beharrt Thomasius auf der strikten Trennung der Logik von der Grammatik und der Rhetorik und misstraut den auf die memoria verpflichteten Künsten, ohne dass er allerdings den Nutzen der Grammatik gänzlich verkennen würde.98 Auch die Beredsamkeit, insoweit sie sich des Redeschmucks bedient und dabei die Tatsachen aus den Augen verliert, verfällt der Kritik des der nackten Wahrheit verpflichteten Philosophen. Christian Thomasius stellt die Poesiologie, den Nutzen rhetorischer Aussagen und damit in Teilen die Relevanz der humanistischen Tradition 96 Ders : Hof-Philosophie (Anm. 91), Das Zwölffte Capitel. Von der Klugheit seine Gedancken vorstellig zu machen, S. 248–265, hier § 10, S. 254f. Ders : Ausübung der Vernunftlehre. Vorwort von Werner Schneiders. Personen- und Sachregister von Frauke Annegret Kurbacher. Hildesheim, Zürich, New York 1998 (= Christian Thomasius : Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 9), Das 2. Hauptstück / Von der Geschickligkeit andern die Erkäntniß des wahren beyzubringen, S. 68–149, hier S. 128–133, §§ 113–121. Zur methodus Socratica, mit weiteren Belegstellen, Frank Grunert : Von polylogischer zu monologischer Aufklärung. Die Monatsgespräche von Christian Thomasius. In : Martin Fontius u. Werner Schneiders (Hg.) : Die Philosophie und die Belles-Lettres. Berlin 1997, S. 21–38. Hanspeter Marti : Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels. In : Ulrich Johannes Schneider (Hg.) : Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005, S. 317–344. 97 Lutz Danneberg : Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik. In : Friedrich Vollhardt (Hg.) : Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, S. 253–316. 98 Christian Thomasius : Hof-Philosophie (Anm. 91), Das vierte Capitel. Von der Klugheit zu gedencken und vernunfftmäßig zu urtheilen, S. 107–123, hier S. 119, § 27, wo, trotz dem ausdrücklichen Willen zur Abgrenzung, auch Rhetorik und Grammatik auf das kluge Urteil verpflichtet werden ; ferner ebd., S. 121f., § 32. Auch hier ist Christian Thomasius geneigt, durch ein Sowohl-als-AuchDenken einen mittleren, unbestreitbaren Standpunkt zu suchen, mögliche Einwände vorwegzunehmen und zu entkräften, kurz, eine Position zu entwerfen, die Kritik von vornherein integriert und sich durch Relativierung zunächst provokant einseitig formulierter Aussagen gegen mögliche Angriffe schützt.
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in Frage.99 Mit der Verpflanzung der Affektenlehre aus dem Zuständigkeitsbereich der Rhetorik in den der Ethik wird die Redekunst weiter entwertet und ihrer Logifizierung Vorschub geleistet.100 Eine weitere Prestigeeinbuße erfahren die studia humanitatis durch die von Christian Thomasius ebenfalls vor allem in der Hofphilosophie und in der Einleitung zur Vernunftlehre forcierte Aufwertung des Deutschen zur Gelehrtensprache.101 Freilich zieht er in der akademischen Praxis, wie die unter seinem Vorsitz verteidigten Dissertationen zeigen, aus dem Postulat nicht überall die angezeigten Konsequenzen. Die Hofphilosophie wurde zunächst in lateinischer Sprache publiziert, und in der deutschsprachigen Übersetzung wird Ulrich Hubers Postulat, das Latein als Mittel gelehrter Kommunikation beizubehalten, ohne Einschränkung übernommen.102 Allein schon die Aufnahme von Hubers Universitätsrede in das Philosophiekompendium relativiert die an anderen Stellen desselben Lehrbuchs bezeugte Kritik des Frühaufklärers an der Beredsamkeit.
99 Christian Thomasius : Ausübung der Vernunftlehre, Zweites Hauptstück (Anm. 96), S. 92, die Gegenüberstellung von Redner und Philosoph sowie die Schlüsselstelle, an der auch die Kritik am rhetorischen ornatus unter Beizug des Exempels Sokrates kaum relativiert wird : »Aber ein Philosoph braucht bey darstellung der Warheit / die am schönsten ist wenn sie nackend ist / keine solche Schmincke : Und Socrates trägt dieselbe durch die allergemeinste Gleichnisse und exempel vor.« Ferner die Polemik gegen leere Worte, ebd., S. 146–148, hier S. 147f : »Etliche Worte sind hierneben auch verführisch und der Wahrheit schädlich / wenn man sich der Rhetorischen figuren bedienet / des Lesers affect zu bewegen / daß dasjenige / was unsere Gründe nicht zu thun vermögen / er sich selbst durch unsere schönen Worte berede. Die Warheit gleichwie sie selbst nackend ist / also braucht sie des gekünstelten Anstreichs der Redner=Kunst nicht / sondern ist für sich schön genug.« Hinzu kommt für Thomasius ein soziologischer Aspekt : Die Rhetorik dient nicht der sachgerechten Kommunikation, sondern der Überredung des Pöbels (ebd.). 100 Eingehend zum Verhältnis von Christian Thomasius zu den Humaniora, insbes. zur Rhetorik, mit zeitlichen Differenzierungen und weiteren Zitatnachweisen : Dietmar Till : Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, hier S. 277–296, zur Verlagerung der Affektenlehre in die Philosophie, ebd., S. 290. 101 Christian Thomasius : Hof-Philosophie (Anm. 91), XI. Capitel (Anm. 93), S. 246, § 28, zum Vorrang einer deutschen Oratorie, zur Kritik an der Überbetonung der Redetheorie und an der Vernachlässigung der oratorischen Praxis im Unterricht, ferner zur Beibehaltung der lateinischen Beredsamkeit, für die der Briefstil empfohlen wird ; ferner ebd., S. 257, § 17. Ders : Einleitung zur Vernunftlehre. Vorwort von Werner Schneiders. Personen- und Sachregister von Frauke Annegret Kurbacher. Hildesheim, Zürich, New York 1998 (= Christian Thomasius : Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 8), Vorrede, S. 12–16. 102 Ulrich Huber : Freye Rede (Anm. 93). In : Christian Thomasius : Hof-Philosophie (Anm. 91), S. 341.
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Neben der Logik war für Christian Thomasius die dem humanistischen Fächerkanon zugeordnete Geschichte eine Kerndisziplin nicht nur in der philosophischen Fakultät.103 Diese Aufwertung der Historie erfolgte im Rahmen der inaugurierten Reform des Rechtsstudiums, des Aufschwungs des ius publicum und des deutschen Rechts sowie der Zurückdrängung des römischen Rechts, dessen sachgemäße Beurteilung Christian Thomasius von einer genauen Kenntnis der römischen Geschichte, insbesondere der Antiquitäten, abhängig machte.104 Ohne historische Kompetenz wären die Unterschiede zwischen deutschem und römischem Recht nicht auszumachen. Thomasius empfahl anstelle der Glossatoren mit Nachdruck und in Übereinstimmung mit der humanistischen Tradition den unentbehrlichen Rückgriff auf die antiken Quellentexte.105 In der Dissertation De fide historica (1699) widmete er sich in weitgehend pyrrhonistischem Sinn, doch, wie Dornmeyer, mit affirmativem Ergebnis, der Geschichtstheorie respektive -kritik.106
103 Christian Thomasius : Hof-Philosophie (Anm. 91), S. 246, § 29 : Geschichte ist »in einem bürgerlichen Leben am allernützlichsten«. Moniert wird die Vernachlässigung der Philosophie- und der Kirchengeschichte sowie die einseitige Ausrichtung der Historie auf das Altertum. 104 Zur Apologie der Geschichte bei Christian Thomasius ausführlich : Notker Hammerstein : Jus und Historie (Anm. 9), zur Geschichte als Unterrichtsfach an einer bestimmten Universität : Markus Huttner : Geschichte als akademische Disziplin. Historische Studien und historisches Studium an der Universität Leipzig vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Aus dem Nachlaß hg. von Ulrich von Hehl. Leipzig 2007. 105 Schlüsselstelle : Christian Thomasius : VI. Primum programma Halense de instituendis lectionibus publicis et privatis, philosophicis et juridicis. 1690. In : ders : Programmata Thomasiana, et alia scripta similia breviora coniunctim edita. Hg. u. mit einem Vorwort sowie einem Personen- u. einem Sachregister versehen von Georg Steinberg. Hildesheim, Zürich, New York 2010 (= Christian Thomasius : Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 21), S. 101–117, hier S. 112f. Zur übertriebenen Bewunderung der Glossatoren und zur Unkenntnis der römischen Antiquitäten ebd : IX. Programma de lectionibus publicis ad pandectas, et de inscriptione studiorum. 1691, S. 134–148, hier S. 141f. Zum Vergleich des deutschen mit dem römischen Recht, ebd : XXXI. Intimatio lectionum 1710, S. 655–682, hier S. 670. Zur Kritik an den Glossatoren und zu deren Unkenntnis der römischen Antiquitäten auch : Christian Thomasius : Summarischer Entwurf (Anm. 95), Pars II, Cap. VI., Von der Einführung der Römi=Rechte [sic !, M.] in Teutschland / und was darauff erfolget, S. 159–165, hier S. 161, sowie ebd., Cap. VII., Von den Zustand / Mängeln und Curen der heutigen teutschen Rechts=Gelahrheit, S. 165–171 (Unbrauchbarkeit des römischen Rechts). Vgl. neuerdings Michael Prinz : Zwischen Kundenakquise und gelehrter Windbeuteley. Christian Thomasius’ frühe akademische Programmschriften im Kontext zeitgenössischer Praktiken der Vorlesungsankündigung. In : Michael Prinz, Jürgen Schiewe (Hg.) : Vernakuläre Wissenschaftskommunikation (Anm. 50), S. 293–334. 106 Zu dieser Dissertation ausführlich Völkel : Pyrrhonismus (Anm. 74), S. 128–137.
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Fasst man die Befunde dieses Überblicks zur Fächerkonstellation zusammen, ergeben sich disziplinenspezifisch eine differenzierte Ausgangslage und folgende Tendenzen der Wertung : Apologie der (didaktisch erneuerten) Logik sowie der Historie, Akzeptanz der Grammatik, grundsätzliche Vorbehalte gegen die Rhetorik, insbesondere den ornatus, weitgehende Nutzloserklärung von Dichtung und Poetik. Diese Rangordnung spiegelt die von ihrem Urheber vertretene Hierarchie der Humaniora sowie im Blick auf die der Jurisprudenz nützlichen Disziplinen das auch in anderen Sektoren des Wissens von Christian Thomasius angewendete eklektische Auswahlprinzip wider. Entsprechend vielschichtig ist das Verhältnis zur humanistischen Tradition, das, wie vorweggenommen, durch die heidnische Prägung der antiken Überlieferung grundsätzlich belastet erscheint. Ähnlich ambivalent stellt sich die Beziehung des Frühaufklärers zur Überlieferung der übrigen, im eigentlichen Sinn philosophischen Disziplinen (Pneumatik, Physik, Ethik, Politik und Ökonomie) dar. Bei aller Wertschätzung der Leistungen der den Heiden, Griechen und Römern, zuerkannten natürlichen Vernunft sind die auf göttlichem Gnadeneinfluss und geistlich-christlicher Vervollkommnung beruhenden Talente und Tugenden den heidnischen hoch überlegen. Diesen Eindruck vermitteln nicht nur die Schlusspassagen der Ausübung der Sittenlehre, die mit Christian Thomasius’ Annäherung an den (radikalen) Pietismus erklärt werden und die oft bemühte Erkenntniskrise dokumentieren.107 Für Christian Thomasius verkörpert das Wort der Heiligen Schrift die höchste Autorität, seine Philosophie deklariert sich emphatisch als philosophia christiana, insbesondere wo er sich gegen die Vermischung von natürlicher Erkenntnis und geoffenbarter Religion respektive Gnadeneinfluss ausspricht. Der Bibelkonformität aller gelehrten Disziplinen ist in den Grundlehren ein eigenes Kapitel gewidmet : An die Aussagekraft der Sprüche Salomons kommen die Äußerungen der römischen Autoritäten Tacitus und Livius nicht heran, und die als pagan verurteilte Willensfreiheit wird mit den dogmatischen Grundsätzen der lutherischen Gnadentheologie konfrontiert. Die Bergpredigt und die acht 107 Christian Thomasius : Ausübung der Sittenlehre. Vorwort von Werner Schneiders. Personen- u. Sachregister von Frauke Annegret Kurbacher. Hildesheim, Zürich, New York 1999 (= Christian Thomasius. Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 11), Das 15. Hauptstück. Von der Unzulängligkeit der vernünfftigen Kunst / die Affecten zu dämpfen / und wie weit selbige zu gebrauchen sey, S. 488–524, Beschluß, S. 524–552. Zur sogenannten Krisenzeit siehe Werner Schneiders : Naturrecht und Liebesethik (Anm. 2), S. 226–239. Ferner : Wilhelm Kühlmann : Frühaufklärung und chiliastischer Spiritualismus – Friedrich Brecklings Briefe an Christian Thomasius. In : Christian Thomasius (1655–1728) (Anm. 97), S. 179–234. Ferner Teigeler : Zinzendorf als Schüler (Anm. 19), Thomasius, Christian, Register, S. 342.
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Seligpreisungen enthalten für Thomasius den gesamten Kanon der christlichen Ethik, die den heidnischen der sogenannten Scheintugenden, mithin die natürliche Vernunft, in die Schranken weist.108 In den Ostergedancken, die Philipp Jakob Speners Kritik am satirischen Schreibstil zustimmend aufnehmen und sich zur Geisttheologie bekennen, verschärfte Christian Thomasius seine Paganismuskritik mit einer diesmal einseitigen Parteinahme im fingierten freundschaftlichen Gespräch zwischen den in persona auftretenden Kontrahenten ›Fleisch‹ und ›Geist‹.109 Die Frage, wie Christian Thomasius in der wiederholt erwähnten Krisenzeit und danach zum Pietismus stand, wäre im Einzelnen, nicht nur in Bezug auf radikale Pietisten, sondern vermehrt im Blick auf Speners Einfluss und dessen Gnadenschrift, auf die dort propagierten geistlichen Affekte und das eklektische Vorgehen des Hallenser Professors erneut zu stellen.110 Es scheint bislang in der Philosophiegeschichtsschreibung kein Hauptinteresse bestanden zu haben, Christian Thomasius als einen philosophus vere christianus ausreichend zu würdigen. Immerhin war sein Bekenntnis zur Gnadentheologie, wie leicht 108 Christian Thomasius : Ausübung der Sittenlehre (Anm. 107), 15. Hauptstück, S. 490–499 (Willensfreiheit, Scheintugenden), S. 521–523 (Bibelautorität, Philosophie in der Heiligen Schrift, Subordination der Ethik unter die Theologie) ; ebd., Beschluss (Anm. 107), S. 524–552 (Ansehen der Bibel ; Liebe : höchstes Gut und biblische Tugend ; Natur und Gnade ; Seligkeiten ; Wege geistlicher Vollkommenheit). Ders : Summarischer Entwurf der Grundlehren (Anm. 95), Pars I, Cap. XVIII. Wie ein Studiosus Juris die bißherigen Lehren nach dem Christenstand probiren solle (Kolumnentitel »Von der Lehre des Christen=Staats«), S. 137–150, hier S. 149, zu den Sprüchen Salomos, zu Jesus Sirach, zu Tacitus und Livius. 109 Christian Thomasius : XVIII. Christian Thomasens Ostergedancken / Vom Zorn und der bitteren Schreib=Art wider sich selbst. In : ders : Kleine Teutsche Schriften. Vorwort von Werner Schneiders. Personen- u. Sachregister von Martin Pott. Hildesheim, Zürich, New York 1994 (= Christian Thomasius : Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 22), S. 698–734, hier Reue als Grundtenor und geistlicher Affekt, Gegensatz Seneca-Salomo, S. 727, Aristoteles und Aristoteleskritik, S. 721, 724f. Über die wechselnde Einschätzung der Satire siehe Schneiders : Naturrecht und Liebesethik (Anm. 2), S. 226f. 110 Philipp Jakob Spener : Der Klagen über das verdorbene Christentum Missbrauch und rechter Gebrauch 1685, Natur und Gnade 1687. Eingeleitet von Dietrich Blaufuß, Erich Beyreuther. Hildesheim, Zürich, New York 1984 (= Philipp Jakob Spener Schriften. Hg. von Erich Beyreuther. Bd. IV), S. 399–876. Im Unterschied zu Thomasius ist die Gemütsruhe für Spener kein Ziel moralischer (moraltheologischer) Amelioration. Vgl. die Anspielung auf »Natur und Gnade«, wo höchstwahrscheinlich (auch) Speners Schrift gemeint ist, in Christian Thomasius : Ausübung der Sittenlehre (Anm. 107), 15. Hauptstück, S. 499. Hinweise zu Spener und Thomasius bei Schneiders : Naturrecht und Liebesethik (Anm. 2), insbes. S. 226–229. Ferner Grunert, Hambrock, Kühnel : Christian Thomasius Briefwechsel (Anm. 89), Register, Spener Philipp Jacob, S. 527.
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ersichtlich, außer vielleicht im »Beschluss« der Ausübung der Sittenlehre, keine bedingungslose Verurteilung der Leistungen der natürlichen Vernunft, sondern ein Balanceakt, der die Wirkungen von Natur und Gnade auszugleichen suchte und damit, von den Prämissen der Eklektik her, der griechischen und römischen Antike philosophiehistorische Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte. Unter den Vernunftautoritäten fanden daher auch antik-pagane Autoren Gehör, allen voran Seneca und dessen Darlegungen über den Zorn (De ira), die Thomasius sogar zum Gegenstand einer Lehrveranstaltung machte, im Weiteren Cicero in der ihm zugeschriebenen eklektischen Grundhaltung und schließlich, wie erwähnt, Sokrates als legendäre Leitfigur.111 Außerdem gelangte Thomasius in der Hofphilosophie zu einer grundsätzlich freundlichen Beurteilung der philosophischen Leistungen der Griechen und Römer.112 Auch damit ließ er die Möglichkeit einer Konkordanz von natürlicher Vernunfterkenntnis und christlicher Offenbarungswahrheit zu, wobei diese Konkordanz unter dem Diktat der Heiligen Schrift zu stehen hatte. Die Bibelkritik überließ Thomasius aber den Theologen, obwohl er die Demarkationslinie zur obersten Fakultät, vor allem in der Sittenlehre, bisweilen überschritt, was Proteste hervorrief, Konflikte schürte und Thomasius’ irenische Pädagogik einer harten, in der Praxis von ihm nicht immer bestandenen Bewährungsprobe aussetzte. Auch die philosophische Fakultät beschwerte sich bisweilen gegen Thomasius’ Eingriffe in ihren Zuständigkeitsbereich und darüber, dass er ihr Studenten entziehe.113 3.2 Rechtspädagogischer Enzyklopädismus, Humaniora und Paganismuskritik
In den Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit (Halle 1710) entwarf Christian Thomasius das Idealbild des umfassend, beinahe universal gebildeten Juristen, dessen Lernpensum sämtliche philosophischen Fächer, einschließlich die Freien 111 Christian Thomasius : Summarischer Entwurf (Anm. 95), Cap. XIV. Von der Sitten=Lehre, S. 100–105, hier S. 102 (De beneficiis). Zu Seneca als Unterrichtsgegenstand, ders : Ostergedancken (Anm. 109), S. 715, ders : XI. Christian Thomas / JCtus und Chur=Brandenb. Rath publiciret Seine Sommer=Lectiones 1692. In : Kleine Teutsche Schriften (Anm. 109), S. 491–506, hier S. 505f. – Ders : Hof-Philosophie (Anm. 91), Das Erste Capitel. Von mancherley Secten der Welt=Weisen, S. 1–55, hier S. 26 (Cicero als Eklektiker). Zu möglichen Anregungen von Seneca, ferner zur Kritik am stoischen Weisen, zu Epikur sowie zu Thomasius als Christ : Schneiders : Naturrecht und Liebesethik (Anm. 2), S. 153 Anm. 56. 112 Christian Thomasius : Hof-Philosophie (Anm. 91), Das Erste Capitel (Anm. 111), hier insbes. S. 12–21. 113 Taatz-Jacobi : Erwünschte Harmonie (Anm. 10), S. 276.
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Künste, dazu Theologie und sogar Medizin als Unterrichtsinhalte umfasste.114 Es handelt sich bei den Cautelen um das pädagogische Vermächtnis des Frühaufklärers, das auf die Disposition des Summarischen Entwurf der Grundlehren (Halle 1699) zurückgreift, den im Frageton gehaltenen Aufriss des Entwurfs aber um Antworten und lange, erklärende Anmerkungen erweitert, Leitgedanken beibehält, jedoch neue Schwerpunkte setzt.115 Auch übt der Autor in den Cautelen, vor allem im Rückblick auf die Zeit religiöser Verunsicherung, Selbstkritik. Das Werk war für das Selbststudium geeignet, sollte aber vor allem den Lehrenden als Ratgeber bei der Auswahl und Darbietung des Unterrichtsstoffes dienen.116 Werfen wir, stellvertretend für alle philosophischen Disziplinen, einen kurzen Blick auf die Bedeutung, welche in den Cautelen der Grammatik, der Dichtung und der Poetik sowie der Rhetorik, mit anderen Worten den für Thomasius nebensächlichen Bereichen der Humaniora, zukommt. Sein Urteil über diese Fächer änderte der Frühaufklärer grundsätzlich kaum, auch wenn es nun ausführlicher und differenzierter als in den früheren Publikationen ausfiel : Zur Auslegung der Bibel genügen Grammatikkenntnisse nicht, es sind Vorurteilslosigkeit und iudicium erforderlich. Das Latein soll nicht völlig verachtet werden und behält einen eingeschränkten Nutzen, da das corpus Iustinianum in dieser Sprache abgefasst sei.117 Vor ciceronianischem Purismus hat man sich ebenso zu hüten wie vor einem völlig ungepflegten Stil, der als »Stylum obscurorum virorum oder Polnisch und Küchen=Latein« umschrieben wird. Grammatiken sind nicht die geeigneten Mittel des Spracherwerbs, und der Vorrang kommt erneut der ohnehin nicht auf grammatikalischem Weg erlernten Muttersprache, dem Deutschen, zu.118 Jean Le Clercs Ars critica und Johannes von Wowers (1574–1612) Polymathia folgend unterscheidet Christian Thomasius scharf zwischen der »wahren Critique und Polyhistorey« und der »Falschen und Pedantischen« :119 Er nimmt die kritische Philologie ernst und bringt ihr ausdrücklich Wertschätzung entgegen. 114 Thomasius : Cautelen (Anm. 76). 115 In ders : Summarischer Entwurf (Anm. 95), Pars I, Cap. VIII, S. 57, heben sich die negativen Äußerungen zur Romanlektüre von den positiven der Cautelen ab ; einzig die beiden Romane Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel, Aramene und Octavia, ernten als Liebesgeschichten im Entwurf ein Lob. 116 Christian Thomasius : Cautelen (Anm. 76), Das 4. Capitel. Cautelen bey der Lehre von der Pflicht eines Rechts=Lehrers, S. 71–82, vgl. auch Vollhardt : Einleitung (ebd.), S. XVIIf. 117 Ebd., Das 7. Capitel. Cautelen bey dem Studio der Grammatike, S. 136–149, hier S. 139 (Bibel auslegung), S. 140 (Corpus Iustinianum). 118 Ebd., S. 142 (Vorrang der Muttersprache), S. 143 (beschränkter Nutzen der Grammatiken), S. 146 (Ciceronianismus, Küchenlatein). 119 Ebd., S. 148f.
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Die Würdigung der Poesiologie ist in den Cautelen von der Lektüreempfehlung der Parrhasiana, eines weiteren Werks von Jean Le Clerc, begleitet. Zwar soll der Jurist keine Satiren verfassen, aber dort, wo er die Phantasie zu Hilfe nehmen müsse, wird ihm empfohlen, zu einer Poetik zu greifen.120 Auch die Romanlektüre ist nützlich, »darinnen / daß er [der Liebhaber der Weisheit ; M.] die unterschiedene Neigungen und Arten der Menschlichen Natur daraus erkennen lernet / seinen Verstand schärffet / und zu der Klugheit sich behutsam auffzuführen Anleitung bekommt.«121 Einen so großen Nutzwert mochte Christian Thomasius der Poesiologie in seinen früheren Werken niemals zuschreiben, aber er kann freilich auch in den Cautelen die Dichtung nicht als etwas Göttliches sehen.122 In der nun ausführlicher gewordenen Beurteilung der Rhetorik fallen, bei konstant ablehnendem Grundtenor, einige bemerkenswerte Akzentverlagerungen auf. Während das Plädoyer für den mittleren Stil, das vom Sachgehalt her positive Urteil über Plinius den Jüngeren und die Reserve gegenüber dem ausschweifenden Cicero, aufrechterhalten bleiben, verweist Thomasius für den sentenziösen Stil auf Velleius Paterculus, Sallust und Tacitus, allesamt Historiker, warnt aber grundsätzlich vor der Imitation der Römer.123 Im Rückgriff auf eine unter dem Präsidium seines Vaters verteidigte rhetorische Dissertation verwahrt er sich gegen den durch die imitatio, namentlich den Ciceronianismus, empfohlenen Gebrauch antik-heidnischer Redewendungen, geht zu Christian Weise und August Bohse (Talander ; 1661–1740) auf Distanz und widerrät den Juristen die Panegyrik.124 Die Wirkung rhetorischer Figuren schätzt er im Vergleich mit der Gestik des Redners als gering ein und verbannt die für ihn nach wie vor zur Überredung des Pöbels bestimmte Beredsamkeit aus dem der Wahrheit geweihten Diskurs der Gelehrten.125 Wie das poetische Können führt er die Kunst der 120 Ebd., Das 8. Capitel. Cautelen bey dem Studio der Poesie, S. 149–163, hier S. 150 (Parrhasiana), S. 157–159 (Satiren), S. 161 (Poetiken). 121 Ebd., S. 160. 122 Ebd., S. 153 (gegen Daniel Georg Morhof ). 123 Ebd., Das 9. Capitel. Cautelen bey dem Studio der Oratorie, S. 163–191, hier S. 167f. (mittlerer Stil), S. 169 (Urteil über die Ciceronianer, Autorität Le Clercs ; Plinius : gute Gedanken, mangelhaftes Latein ; übrige Musterautoren), S. 171 (Cicero ; Ablehnung der Imitation). 124 Ebd., S. 171 : Ciceronianismus, heidnische Redensarten, Imitatiokritik ; Dissertation : Jakob Thomasius (Pr.), Christoph Schrader (Resp.) : Disputatio rhetorica de styli ethnicismo circa jurandi adverbia fugiendo. Leipzig 1665 ; Talander (August Bohse) ; Christian Weise ; S. 190 : Panegyrik. Bei Komplimenten empfiehlt Christian Thomasius, Maß zu halten (ebd., S. 174–176). 125 Ebd., der Advokat verwende, im Gegensatz zu den antiken Rednern, keine Stilfiguren, trage deutlich vor und führe Beweise (S. 177) ; Wirkung von Gesten und oratorischen Figuren (S. 182) ; die Rhetorik ist zur Überredung einfacher Gemüter bestimmt (S. 183).
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Rede fast allein auf das Talent, nicht auf den Unterricht zurück,126 dem er damit für beide Fächer die Berechtigung weitgehend entzieht. In den Cautelen legte der Verfasser, wie im Summarischen Entwurf und in den kleinen Programmschriften, die Ausrichtung seines Unterrichts offen und schützte sich gegen Angriffe der Gegner, vor allem gegen den Atheismusvorwurf, der wiederholt erhoben wurde. Dies mag die hier prononciertere Paganismuskritik sowie den in philosophischen Fachbereichen (Metaphysik, Naturphilosophie) explizit verstärkten Biblizismus der Wissenschaftsauffassung erklären. Namentlich dort, wo er autobiographisch Rückschau hält, die mystische Theologie und andere Heterodoxien verworfen werden und Thomasius mit sich selbst ins Gericht geht, nehmen die Cautelen Bekenntnischarakter an.127 Geistliche Affekte, darunter Reue und Geduld, treten in den Vordergrund und der dringender denn je dem Leser ans Herz gelegte Urtext der Heiligen Schrift fordert nun vom Juristen ausdrücklich exegetisch-hermeneutische Kompetenzen, die dieser in der Ausbildung erst zu erwerben habe.128 Die Bibel weise eine Fülle von Stilformen auf und vermittle sogar die – von Thomasius in anderen Texten profan ausgelegte – Lehre des decorum. Philipp Jakob Spener wird bescheinigt, dass er im Vergleich mit anderen die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Gnade zwar am luzidesten behandelt, jedoch keineswegs befriedigend beantwortet habe.129 Die Verchristlichungstendenz der Inhalte, die in den Cautelen immer wieder hervortritt, erstreckt sich nach dem Vorbild des Hallensers Georg Ernst Stahl (1659–1734) auch auf die Medizin,130 ohne freilich auf ein Bekennt126 Ebd., S. 150, 152 (Dichtkunst), S. 164 (Beredsamkeit). 127 Ebd., Vorrede, Bl. b2v–b3v ; Das XIX. Capitel. Cautelen bey dem Theologischen Studio, S. 488– 553 (persönlicher Erfahrungsbericht, Bekenntnischarakter). Thomasius’ Selbstkritik erinnert an Gottfried Arnolds ›Offenherziges Bekenntnis‹ sowie an die von Spener auch von Lehrern geforderte Gewissenserforschung (in : ders : Der Klagen über das verdorbene Christentum Mißbrauch, Anm. 110, hier S. 266–275 : »Welche in hohen und andern schulen der jugend zu lehrern verordnet sind / Professores, Praeceptores, Rectores, schulmeister.« 128 Christian Thomasius : Cautelen (Anm. 76), Das I. Capitel / Cautelen bey Beschreibung der wahren Gelehrsamkeit und Weißheit überhaupt, S. 1–34 (immer wieder Bibelzitatnachweise), hier S. 22–24 (Reue) ; Ungeduld (Vorrede, S. 29) ; Barmherzigkeit (S. 29–31). Das II. Capitel. Cautelen bey der Lehre von denen Mitteln die Weißheit zu erlangen, S. 34–63, hier S. 48–52 (Priorität der Bibel), Das XIX. Capitel (Anm. 127), insbes. S. 517–535 (ausführlich zu Bibel und Exegese). 129 Ebd., Das XIX. Capitel (Anm. 127), S. 523–526 (Stilvarianten in der Bibel), S. 508 (Lob Speners und des studium pietatis), S. 515 (Verhältnis von Natur und Gnade) ; Das 15. Hauptstück. Cautelen bey Erlernung der Wissenschafft wohlanständig zu leben, S. 364–405, hier S. 395–400 die biblisch abgesicherte Lehre des decorum. 130 Ebd., Register, S. 7*.
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nis zum gemäßigten Pietismus hinauszulaufen. Dessen Nähe sucht Thomasius aber, wo er es für verantwortbar hält, wohl auch, um die geistigen Divergenzen zu den Krisenjahren möglichst zu verringern und ein in sich stimmiges Bild von sich als Autor zu schaffen. Von der Kenntnis Senecas und der Stoa, aber auch der aristotelischen Philosophie wird der Jurist nach wie vor nicht dispensiert. Weiterhin wird Offenheit für gegnerische Positionen, wohl vor allem aus kontroversstrategischen Beweggründen, generell gefordert.131 Der Bildungsuniversalismus, den Christian Thomasius für das juristische Fachstudium vorsieht, schöpft seine Legitimation aus der in den philosophischen Fächern vermittelten Grundkompetenz, aus der erlernten Fähigkeit zur Kritik, die rudimentär bereits in der voruniversitären Ausbildung erworben werden kann. Dem auf zwei Stufen (Humaniora und eigentliche Philosophie) verteilten Studium in der untersten Universitätsfakultät erwächst daher institutionell Konkurrenz sowohl vonseiten der Lateinschulen und Gymnasien, in denen die Humaniora besser als ehedem unterrichtet werden sollen, als auch vonseiten der juristischen Fakultät, welche sämtliche Disziplinen der philosophischen Fakultät für ihre Lehrgänge vereinnahmt. Christian Thomasius wertet zwar die meisten philosophischen Fächer propädeutisch auf, schwächt aber gleichzeitig die institutionelle Verankerung einiger Humaniora in der philosophischen Fakultät. 4. Fazit : Die ambivalente Stellung der studia humanitatis in den Anfängen der Fridericiana Mit der Kombination der Professur für Rhetorik und Geschichte nahm die neu gegründete Hallenser Universität die humanistische Tradition auf, die Christoph Cellarius bis zu seinem Ableben im Jahr 1707 vertrat. Christian Thomasius war von der propädeutischen Bedeutung der philosophischen Fächer für die höheren 131 Ebd., Das 6. Capitel. Cautelen bey der Historie von denen Philosophischen Secten, S. 108–136, hier S. 127 (Stoa), 136f. (Stoa, Aristoteles), Das 13. Capitel. Cautelen bey dem Studio der Physic, S. 298–325, hier S. 316f. (Seneca) ; Kenntnis gegnerischer Standpunkte, S. 52f., 136, 258, 450. Die polemische Stoßrichtung der Cautelen heben hervor : Merio Scattola, Friedrich Vollhardt : ›Historia litteraria‹, Geschichte und Kritik. Das Projekt der Cautelen im literarischen Feld. In : Manfred Beetz u. Herbert Jaumann (Hg.) : Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Tübingen 2003, S. 159–186. Den ›Elend‹ genannten Grenzen des menschlichen Verstands liegt in den Cautelen ein positives Verhältnis zur natürlichen Vernunft zugrunde ; ein radikaler Skeptizismus lag Thomasius, gerade in Anbetracht der von ihm geforderten und praktizierten Kritik, fern.
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Studien, vor allem für das Studium der Jurisprudenz, überzeugt und verwahrte sich stets vehement gegen den Antritt des Rechtsstudiums mit ungewaschenen Händen, das heißt ohne die Absolvierung des philosophischen Curriculums. In sein Wunschbild juristischer Ausbildung bezog er die Humaniora stets ein, dies jedoch mit klaren fachlichen Prioritäten bei der Geschichte und der Logik, bei einer deutlichen Abwertung von Rhetorik und Poesie sowie der Degradierung der Grammatik zur zwar unentbehrlichen, doch voruniversitären Elementarlehre. Alle studia humanitatis unterstellte er, wie den Unterricht insgesamt, dem Gebot des praktischen Nutzens, der von Christoph Cellarius kritisch mit dem reinen Brotstudium ineins gesetzt wurde. Anders als Christian Thomasius, der die Aufwertung des Deutschen zur Gelehrtensprache forderte, plädierte der Cellariuskreis uneingeschränkt für das Latein als Kommunikationsmittel der Gelehrten. Weder kam es aber zwischen dem Rechtsprofessor und dem mit ihm befreundeten eifrigen Verfechter der studia humanitatis zu einem Zwist in der Sprachenfrage noch zu einer Auseinandersetzung um die Position der Humaniora im universitären Unterrichtsplan, wohl weil Christian Thomasius generell am propädeutischen Wert der Fächer der untersten Fakultät festhielt und der Cellariuskreis seinerseits die politisch-juristische Studienreform guthieß und der thomasianischen Paganismuskritik mit der wiederholt betonten Präferenz christlicher Unterrichtsinhalte weit entgegenkam. Grundsätzlich verschieden beurteilt wurde der Lehrwert der Rhetorik : Christian Thomasius konfrontierte sie mit dem Wahrheitskriterium, missbilligte den ornatus sowie die Panegyrik und ordnete die Affektenlehre der Ethik zu, während Cellarius und seine Anhänger zur Beredsamkeit ein völlig ungebrochenes Verhältnis hatten, res und verba, insbesondere die elegantia stili, als gleichgewichtige Komponenten der Rede einsetzten und daher das persuasiv-affektrhetorische Erbe, vor allem an den voruniversitären Ausbildungsstätten, ohne Vorbehalt pflegten und weiterreichten. Da Cellarius zu zahlreichen antiken Autoren aus moralischen Gründen auf Distanz ging, lässt sich auch in dieser Hinsicht kein Gegensatz zwischen ihm und dem utilitaristisch denkenden Amtskollegen feststellen. Christian Thomasius trug mit der inhaltlichen Universalisierung des Jusstudiums, der Erhebung der Jurisprudenz zur Hauptwissenschaft und der Subordination der studia humaniora innerhalb der philosophischen Fächerhierarchie zwar zur Aufwertung der eigentlich philosophischen Disziplinen, aber gleichzeitig zur Reduktion des selbstständigen Lehrangebots der philosophischen Fakultät bei. Seine wiederholten Empfehlungen, auch Lehrveranstaltungen von Philosophenkollegen zu besuchen, konnten das durch seine Reformvorschläge verstärkte Konkurrenzverhältnis der beiden Fa-
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kultäten kaum beseitigen.132 Er plädierte zwar in seinen Lehrbüchern, zuletzt in den Cautelen, für eine Verbesserung der Lehrerausbildung, unternahm aber, im Unterschied zu Cellarius, keinen Versuch, das erkannte Problem mit der Einrichtung einer festen Institution auf Universitätsebene zu lösen. Beide Professoren delegierten den Unterricht in den Humaniora zur Hauptsache an voruniversitäre Bildungseinrichtungen, was eine strengere Aufgabenteilung zwischen Universität auf der einen und den Gymnasien sowie den Lateinschulen auf der anderen Seite bedeutet hätte. Auf der institutionellen Ebene führte diese Verlagerung tendenziell zu einer Schwächung der Position der philosophischen Fakultät im inneruniversitären Kontext und begünstigte wohl den direkten Einstieg der Studienanfänger in eine obere Fakultät. Das breite Unterrichtsangebot, das die philosophische Fakultät in Halle in den beiden ersten Dezennien ihres Bestehens vorzuweisen hatte, wog die von der pädagogischen Reform nolens volens bewirkte Bedeutungseinbuße dennoch wohl weitgehend auf. An ihrem späteren Aufschwung hatte Christian Wolff großen Anteil ; die Humaniora hatten bereits im Unterrichtsprogramm der Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs und von dessen (kritischen) Anhängern einen staats- und zivilisationstheoretisch festen Platz. Genauere, vor allem statistisch erhärtete Untersuchungen zur Besucherfrequenz und zu weiteren Leitaspekten des hier umrissenen Themenfeldes, zum Beispiel zur Häufigkeit von Disputationen, bleiben ein wichtiges Forschungsdesiderat. Jedenfalls überstanden die Belles-Lettres und die inhaltlich weit gefasste antike Altertumskunde die Phasen ihrer Krise im 18. Jahrhundert in Halle mit zeitweise bemerkenswertem Erfolg und außergewöhnlicher Innovationskraft.
132 Christian Thomasius : Summarischer Entwurf (Anm. 95), Vorrede Bl. a5v ; a6v : »daß sie fleißiger als bißhero geschehen die lectiones humaniores, historicas et philosophicas derer Herren Professorum besuchen.«
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Diskurse einer Disputation – Johann Peter Ludewigs Thesenschrift De prima academia, villa Platonis, cum nova Halensium collata (Halle 1693) Am 28. Januar 1693, also während der Eröffnungsphase der Fridericiana, fand unter dem Präsidium des magister legens der künftigen philosophischen Fakultät Johann Peter Ludewig eine Disputation zum Thema De prima academia, villa Platonis, cum nova Halensium collata statt. Respondent war der Magister und spätere Pfarrer von Mötzlich bei Halle Theophil Michael Miculci (ca. 1662– 1730). Von Miculci sind keine weiteren Schriften und auch sonst nur wenige Lebenszeugnisse bekannt.1 Wir könnten also selbst dann, wenn keine eindeutigen Zeugnisse vorlägen, davon ausgehen, dass, wie es ja bei der Mehrzahl akademischer Disputationen der Fall war, der recht umfangreiche Thesendruck vom Präses stammt. Der aus der Nähe von Schwäbisch Hall gebürtige Johann Peter Ludewig (1668–1743) hatte seit 1689 in Wittenberg studiert, führte die Titel eines Magisters und eines poeta laureatus und war mit dem Juristen Samuel Stryk (1640–1710) soeben an die neue Universität Halle gekommen.2 1 Miculci stammte möglicherweise aus ungarischem Adel. Er war als Sohn eines Predigers in Aken bei Halle geboren, wurde am 5. März 1674 in Schulpforta immatrikuliert (Pförtner Stammbuch 1543– 1893 […]. Hg. von Max Hoffmann. Berlin 1893, S. 140), studierte seit 1682 in Wittenberg (Album academiae Vitebergensis. Jüngere Reihe. Teil 2 : 1660–1710. Hg. von Fritz Juntke. Magdeburg 1952, S. 227, 389) und erwarb dort den Magistergrad. 1697 wurde er Pfarrer in Mötzlich bei Halle, wo er 1712 mit dem Umbau der barocken Kirche hervortrat. Vgl. Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexiko […]. Angefangen von Johann Christoph Adelung und vom Buchstaben K fortgesetzt von Heinrich Wilhelm Rotermund. Bd. 4. Bremen 1813, Sp. 1702. 2 Zu Ludewig vgl. vor allem die Studien von Walther Ludwig : 1. J. P. Ludwigs Lobrede auf die Reichsstadt Schwäbisch Hall und die Schulrhetorik des siebzehnten Jahrhunderts. In : Württembergisch Franken 74, 1990, S. 247–294, revidiert in : ders : Miscella Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 1989–2003. Hg. von Astrid Steiner-Weber. Bd. 3. Hildesheim, Zürich, New York 2005, S. 285–339 ; 2. Der zweite Hallesche Universitätskanzler Johann Peter von Ludewig. Ein Beispiel für soziale Mobilität im 18. Jahrhundert. Halle 1995 ; 3. Deklamationen und Schuldramen im 17. Jahrhundert. Das Beispiel des Gymnasiums der Reichsstadt Schwäbisch Hall. In : Bianca-Jeanette u. Jens-Peter Schröder (Hg.) : Studium declamatorium. Untersuchungen zu Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit. München, Leipzig 2003, S. 335–372 ; 4. Ludewig, Johann Peter. In : Wilhelm Kühlmann (Hg.) : Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Bd. 2. Berlin, New York
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Seine Immatrikulation hatte am 5. Januar 1693 stattgefunden,3 mithin nur 23 Tage vor unserer Disputation, mit der er sich also bei der gelehrten Öffentlichkeit der Stadt einführte. Ludewig stand damals am Anfang einer glänzenden Karriere, die ihm nacheinander Lehrstühle in Logik und Metaphysik und in Geschichte, nach einer juristischen Promotion auch in Jurisprudenz einbringen sollte. Daneben bekleidete er eine Reihe bedeutender staatlicher Ämter, wurde 1719 nobilitiert und 1722 Kanzler der Universität. Unter seinen ungezählten Veröffentlichungen aus zahlreichen Fachgebieten befinden sich auch etliche historische, philosophische und altertumswissenschaftliche. Es erstaunt daher nicht, dass schon der junge Ludewig, mit 24 Jahren deutlich jünger als sein Respondent, einen ambitionierten Thesendruck publizierte, dessen Gegenstand, nämlich die Platonische Akademie, ein durchaus geeignetes Thema für eine Disputation an der Artistenfakultät abgab. Die im Titel angekündigte Synkrisis der antiken Philosophenschule und der neuen Universität mochte zwar insofern eine Besonderheit darstellen, als hier die Hohe Schule, an der disputiert wurde, selbst zum Gegenstand des actus erklärt wurde, doch erschien das angesichts der Eröffnung der Universität Halle gut begründet. Tatsächlich hatte die Disputation den Charakter einer Premiere, wie sich Ludewig viele Jahre später erinnerte : Bey dem Anfang hiesiger Universität, am 28. Jan. an. 1693. ehe solche noch eingeweyhet wurde, bin ich der erste gewesen ; der, nach dem verstorbenen Thomasio, auf derselben eine öffentliche Disputation, aus der Philologie des Griechischen Alterthums : de prima academia, villa Platonis, gehalten. Die dann, als ein Hallisches Wunder, nebst 2010, S. 536, revidiert in : Walther Ludwig : Opuscula historico-philologica. Ausgewählte Aufsätze 2008–2013. Hg. von Astrid Steiner-Weber. Bd. 3. Hildesheim, Zürich, New York 2014, S. 429f ; 5. Eine Lesefrucht zum Lateingebrauch. In : Neulateinisches Jahrbuch 11, 2009, S. 95–98, revidiert in : Opuscula historico-philologica (s.o.), S. 431–435. – Weitere Literatur : Reinhold Brode : Der hallische Universitätskanzler Johann Peter von Ludewig. In : Fest-Schrift des thüringisch-sächsischen Geschichtsvereins, […] Ernst Dümmler dargebracht […]. Halle 1902, S. 18–38 ; Robert Skalnik : Der Publizist und Journalist Johann Peter von Ludewig und seine Gelehrten Anzeigen. Diss. München 1956 ; Notker Hammerstein : Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Göttingen 1972, S. 169–204 und passim ; Johann Heinrich Zedler : Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 18. Halle, Leipzig 1738, Sp. 954–959 ; Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Bd. 19. Leipzig 1884, S. 379–381 ; Neue Deutsche Biographie (NDB). Bd. 15. Berlin 1987, S. 293–295 ; John L. Flood : Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook. Bd. 3. Berlin, New York 2006, S. 1208–1210. 3 Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Bd. 1 (1690–1730) […]. Bearb. von Fritz Juntke. Halle 1960, S. 276 : »Ludewig, Joh. Pet., Hala Svevus 5. 1. 1693. Doct. iur. 18. 1. 1705, Prof. Halle.«
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Abb. 1 : Titelblatt von Ludewigs und Miculcis De prima academia (Halle 1693) ; VD17 12 :134869N ; Digitalisat Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle/Saale (urn :nbn :de :gbv :3 :157435).
allen damahls in der Stadt befindlichen vornehmen Collegiis, Geistlichen und Weltlichen, auch von vielen hundert Bürgern und Thal-Leuten besuchet, und weil es darinnen etwas scharf hergegangen, mit Vergnügen und einem starckem [sic] Troupp, der mich nach Hause begleitet, geendiget worden.4
Der Disputationsakt erregte demnach beim Publikum einiges Aufsehen, und auch die Lektüre scheint noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts positive Reaktionen hervorgerufen zu haben, heißt es doch in einer Quelle aus dem Jahre 1760, der Text sei 4 Johann Peter von Ludewigs […] Gelehrte Anzeigen, In alle Wissenschafften, so wol geistlicher als weltlicher, alter und neuer Sachen, Welche vormals denen Wöchentlichen Hallischen Anzeigen einverleibet worden, Nunmehro aber zusammen gedrucket […]. Anderer Theil. Halle 1744 [1735, 26. Stück], S. 126 (Fettdruck zahlreicher Einzelwörter nicht wiedergegeben). Zum Kontext des Dokumentes : Ludewig nimmt im 26. Stück, S. 125–132, ein Reskript König Friedrich Wilhelms vom 14. Mai 1735, in dem den Studenten für den Fall der Verweigerung des Disputierens Sanktionen angedroht werden, zum Anlass, »von dem Nutzen der Disputationen, auf Universitäten, mit wenigem, zu handeln« (S. 127). Es werden die im frühen 18. Jahrhundert geläufigen Argumente zugunsten des Disputierens vorgebracht und allfällige Bedenken entkräftet.
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ein öffentliches Zeugniss seiner gründlichen Gelehrsamkeit […], eine angenehme, gelehrte und aus den griechischen Schriftstellern, aus den Poeten, Scholastikern, Geschichtsschreibern und Philosophen genommene Abhandlung.5
Ludewig selbst gab den Text der Dissertation 1720 in seinen Opuscula miscella erneut heraus6 und äußerte sich in der Vorrede zu dieser Sammeledition über die Gründe, die ihn zur Abfassung der Schrift veranlassten : Non riuulos hic secutus sum, sed fontes,7 scriptores Graecos, poetas, scholiastas, historicos, philosophos, quos eo tempore legi, partim a schvrzfleischio,8 doctore meo, partim a dassovio9 musarum nostrarum usibus commodatos, ex supellectili stolbergiana.10 […] Scilicet cum Vitebergae agerem, in deliciis fuerant litterae humaniores, quibus omnia alia posthabui in scholis Schurzfleischianis. Ex quo igitur anno mdcxcii. b. m. strykii suasu hortatuque petii Fridericianam, non adultam, sed demum nascentem, primi speciminis loco, argumentum hoc elegi, quod pariter faceret ad origines academicas. In quo themate solicitius sum uersatus, quod uiderem, quicquid dictum ea de re a scriptoribus academicis adhuc, dictum esse parce. Cum tamen mereretur Platonis uillula haec, ut in umbratilia illius inquirerem, cui bonarum mentium domicilia et officinae instructiores quaeque hodie etiam debent referuntque
5 Zitiert nach : F. L. Hoffmann : Erinnerung an preussische Bibliographen und Litterarhistoriker, Bibliophile und Besitzer merkwürdiger Büchersammlungen. XV. Johann Peter von Ludewig. In : Serapeum, Heft 1, 1869, S. 1–10, hier S. 2 (hier zitiert nach Johann Peter Nicerons Nachrichten von den Begebenheiten und Schriften berühmter Gelehrten mit einigen Zusätzen aus dem Jahr 1760). Die Formulierung ist wohl übersetzt aus Friedrich Wiedeburg : De vita et scriptis Johannis Petri de Ludewig […] commentarius. Halle 1757, S. 12. Wiedeburg zitiert seinerseits ebd., S. 13, eine lobende Erwähnung der Dissertation durch Jakob Friedrich Reimmann. 6 Johann Peter Ludewig : Opuscula miscella […]. Bd. 2. Halle 1720, Sp. 359–390. Vgl. ebd., Sp. 359, den Hinweis : »Erat haec dissertatio ordine tertia, quae audita est in noua Halensi.« 7 Vgl. Cicero, Academica 1,2,8 : »Sed meos amicos in quibus est studium in Graeciam mitto id est ad Graecos ire iubeo ut ex fontibus potius hauriant quam rivulos consectentur.« 8 Konrad Samuel Schurtzfleisch (1641–1708), 1674–1678 Professor der Poetik, 1678–1702 Professor der Geschichte, 1685–1700 Professor für Griechisch und 1700–1708 Professor der Rhetorik in Wittenberg ; vgl. Heinz Kathe : Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1502–1817. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 283–287 u.ö. 9 Theodor Dassov (1648–1721), 1678–1690 Professor der Poetik in Wittenberg ; vgl. Kathe : Wittenberg (Anm. 8), S. 298 u.ö. 10 Balthasar Stolberg (1640–1684), 1668–1684 Professor für Griechisch in Wittenberg und in diesem Amt Vorgänger Schurtzfleischs ; vgl. Kathe : Wittenberg (Anm. 8), S. 306 u.ö.
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acceptum ortum, nomen, figuram causamque. Cuius adeo iure meritoque repetenda foret ueteris memoriae paulo explicatior recordatio.11 Ich bin hier nicht Rinnsalen gefolgt, sondern den Quellen, den griechischen Schriftstellern, Dichtern, Scholiasten, Geschichtsschreibern, Philosophen, die ich zu dieser Zeit las und die teils von meinem Lehrer Schurtzfleisch, teils von Dassov zum Nutzen unserer Musen aus dem stolbergischen Bücherschatz aufbereitet worden sind. […] Als ich mich in Wittenberg aufhielt, schätzte ich die litterae humaniores sehr, denen ich im Unterricht bei Schurtzfleisch alles andere unterordnete. Nachdem ich mich im Jahre 1692 auf Empfehlung und Rat des seligen Stryk an die Fridericiana begeben hatte, die damals noch nicht erwachsen war, sondern gerade erst geboren wurde, wählte ich daher als erste Probe meiner Gelehrsamkeit diesen Gegenstand aus, weil er zur Gründung der Universität passte. Mit diesem Thema habe ich mich eingehender beschäftigt, weil ich sah, dass das, was über diese Sache bisher von gelehrten Schriftstellern vorgetragen wurde, zu dürftig vorgetragen wurde. Gleichwohl verdiente aber dieses kleine Häuschen Platons es doch, dass ich über das beschauliche Dasein dieses Ortes Untersuchungen anstellte, dem alle Wohnorte und wohleingerichteten Werkstätten guter Köpfe noch heute ihren Ursprung, ihren Namen, ihre Gestalt und ihre Begründung verdanken und auf den sie sie zurückführen. So wäre mit Recht und Billigkeit eine etwas deutlichere Erinnerung an ihre frühe Geschichte hervorzuholen.12
Es könnten noch weitere Selbst- und Rezeptionszeugnisse beigebracht werden, die anklingen ließen, dass das antiquarische Interesse Ludewigs bei der Erarbeitung seines Thesendruckes im Zentrum stand. Zumindest für den heutigen Leser bleibt indessen ein Befund, der sich aus der vollständigen Lektüre der Schrift ergibt, doch überraschend : Ludewig legt den Schwerpunkt tatsächlich auf die »villa Platonis« der Titelformulierung, setzt sich also mit der Lage des Gebäudes, der gesunden Umgebung des Ortes usw. auseinander. Die Vokabel »Academia« wird ebenfalls nicht metonymisch verstanden, sondern etymologisch mit äußerster Gründlichkeit und unter Aufbietung entlegenster Testimonien hergeleitet. Platon schließlich wird als Besitzer des Akademiegebäudes behandelt, nicht als Philosoph, und von seiner philosophischen Lehrtätigkeit, überhaupt von der Philosophenschule, welche als ›Platonische Akademie‹ eine feste Größe der antiken 11 Johann Peter Ludewig : Opuscula miscella […]. Bd. 1. Halle 1720, S. 26f. Ludewig äußert sich im Folgenden skeptisch über eine andere Veröffentlichung, in der antike Philosophenschulen mit christlicher Theologie in Verbindung gebracht werden. 12 Die Übersetzung stammt wie alle folgenden vom Verfasser dieses Beitrags.
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Abb. 2 : Titelblatt des zweiten Bandes von Ludewigs Opuscula miscella (Halle 1720) ; VD18 : 11067268 ; MDZ : um :nbn :de :bvb :12bsb11019992-8.
Abb. 3 : Beginn des Abdrucks der Dissertation, hier mit dem verkürzten Titel und der falschen Angabe des Jahrs (1695 statt 1693), in Opuscula miscella (Bd. 2, Halle 1720, siehe Abb. 2), Sp. 359f.
Kultur darstellte, ist nirgendwo die Rede. Dies gilt gleichermaßen für die Philosophie der Neuzeit, die ja nicht nur in Gestalt der Florentiner ›Academia Platonica‹ auf das Lehrkonzept Platons zurückgriff. Weder die im Stadium der Gründung befindliche Universität Halle, deren im Titel angekündigter Vergleich mit Platons Akademie auffallend knapp gehalten ist, noch andere hohe Schulen der eigenen Zeit werden als Horte philosophischen Denkens und Lehrens ernsthaft in den Blick genommen. Zugespitzt formuliert : Zu einer Zeit, als in Halle bereits ein Thomasius lehrte und auch Ludewig selbst durchaus Disputationen zu genuin philosophischen Themen abhielt,13 und wenige Jahre, bevor weitere bedeutende Gelehrte die neue Universität zu einem Zentrum der zeitgenössischen Philosophie machten, schuf unser Autor sich selbst mit dem Konzept der Synkrisis eine 13 Vgl. Hanspeter Marti : Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarbeit von Karin Marti. München u. a. 1982, Nr. 4625, S. 303.
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ausgezeichnete Basis dafür, Halle als brandenburgisches Athen zu inaugurieren – und ließ dann die Chance so offenkundig ungenutzt, dass man nach der Lektüre zunächst einmal ratlos zurückbleibt. Ich versuche im Folgenden durch einige Erläuterungen dem seltsamen Fall auf den Grund zu gehen. Zunächst soll die Struktur des Thesendruckes anhand einer Graphik anschaulich gemacht werden. Dann werde ich versuchen, die leitende Diskursstrategie des Textes zu ermitteln, und schließlich kurz die Frage nach Funktion und Möglichkeit der Synkrisis, also des abschließenden Vergleiches von Athen und Halle, ansprechen. Der Neudruck der Dissertation in den Opuscula miscella von 1720 weist Kapitelüberschriften auf, an denen die Gliederung des Textes auf einen Blick ersichtlich wird. Die Synopse der Paragraphen des ursprünglichen Thesendrucks und der capita der Neuauflage stellt sich folgendermaßen dar :14 Thesendruck 1693
Opuscula miscella 1720
§
fol.
Caput
p.
[Pr.]
A2r
[Praefatio]
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I.
A3r
I. De academiae diversis etymologicis
361
II.
B1r
II. De academo nominis auctore
363
III.
B2r III. De novo academiae domino Platone
365
369
IV.
B3r
V.
B4v
VI.
C1r
VII.
C1v
IV. De situ academiae
VIII.
C3r
V. Ceramicus num academia ?
371
IX.
D1r
VI. De academiae salubri loco
373
X.
D2r
XI.
E2r
XII.
E3v
VII. Academiae aedificia
381
XIII.
F1r
XIV.
F2r
XV.
F3r
VIII. De academiae excidio
385
XVI.
F3v
[Sy.]
F4v[–G2v]
[Synkrisis : Nova academia Hallensium]
387[–390]
14 Der Neudruck weist auch im Hauptteil, nicht nur in den Fußnoten (wie der Erstdruck) Randglossen auf, die den Text weiter untergliedern. Im Ganzen erscheint die Textwiedergabe zuverlässig, auf eine Kollationierung wurde im Rahmen dieses Beitrags allerdings verzichtet. Die Jahreszahl 1695 statt 1693 gleich im Titel (S. 359) ist ein eindeutiges Setzerversehen.
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Die Gliederungspunkte zeigen bereits, dass hier offenkundig nicht über ein philosophisches Thema strictu sensu disputiert wurde. Den Kapitelüberschriften nach würde man allenfalls im Abschnitt über Platon, den Besitzer des Akademiegebäudes (III.), irgendwelche Hinweise zur philosophischen Lehrtätigkeit erwarten, doch auch hier sieht sich der Leser enttäuscht : Während die Fußnoten allerlei Detailinformationen zu Platons Leben darbieten, beschränkt sich der knappe Haupttext darauf, anzudeuten, dass der Meister ›Ruhe und Abgeschiedenheit‹ in einem Anwesen außerhalb der Stadt erstrebte (»studiis suis otium ac secessionem qvaesivit«),15 was übrigens eher einen Unterschied zu als eine Gemeinsamkeit mit der Hallenser Universität markiert, für die man ja früh ein günstig gelegenes Gebäude inmitten der Stadt suchte.16 Die Bemerkungen über den Unterricht Platons an seiner Akademie sind dann mehr als dürftig : Er habe, was er auf seinen Reisen und von diversen Lehrern gelernt hatte, nun selbst gelehrt und damit Schüler von überallher angelockt. Und auch die übrigen Lehrer der Akademie, unter denen Xenokrates von Chalkedon, Platons direkter Nachfolger, namentlich angeführt wird, hätten zu deren hohem Ansehen beigetragen. Weiter erfährt man nichts. Im nur wenige Seiten umfassenden Abschlusskapitel, das sich mit der Universität Halle beschäftigt, zeigt sich das gleiche Bild : Es geht zwar mehr als im Referenzteil um die Studenten, welche die neue Bildungsinstitution besuchen bzw. besuchen sollen, doch werden fachliche und methodische Aspekte des Unterrichts kaum und philosophische Inhalte gar nicht berührt. Formal unterscheidet sich die Synkrisis von den vorangegangenen Kapiteln vor allem dadurch, dass sie keinerlei Fußnoten, somit also auch keine Belegstellen oder gelehrten Exkurse bietet. Auch im Text selbst werden hier, von den Initiatoren und Kuratoren der neuen Universität abgesehen, keine Namen genannt. Insofern erweist sich die Titelformulierung der Dissertation, De prima academia, villa Platonis, cum nova Halensium collata, als konsequent, denn es geht in der Sache ganz überwiegend um die Platonische Akademie ; die Gründung der Hallenser Universität bildet für die Disputation offenbar vor allem den Anlass eines, wie sich zeigen wird, nicht sehr ergiebigen Vergleiches. 15 De prima academia, villa Platonis, cum nova Halensium collata praeside M. Johan. Petr. Ludovico, Sv. Halensi, poet. l. Caes. disseret in publicum Theophilus Michael Miculci, Müchelensis Saxo, alumnus electoralis Brandeburgicus. Ad diem XXVIII. Januarii MDCVIIC. Halle : Salfeld [1693], fol. B4r. – Zitate aus dieser Schrift werden im Folgenden jeweils direkt im laufenden Text nachgewiesen. 16 Vgl. Friedrich de Boor : Die ersten Vorschläge von Christian Thomasius »wegen auffrichtung einer Neuen Academie zu Halle« aus dem Jahre 1690. In : Erich Donnert (Hg.) : Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 4. Deutsche Aufklärung. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 57–84, bes. S. 68.
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Bei der Suche nach der leitenden Diskursstrategie des Thesendruckes erscheint ein Hinweis des Klassischen Philologen Walther Ludwig ergiebig. Ludwig, nach eigenem Bekunden übrigens ein Nachfahre unseres Protagonisten, analysiert in einer eingehenden Untersuchung Struktur und Inhalt von Johann Peter Ludewigs Hallarum encomium, der 1688 erschienenen Lobrede des jungen Mannes auf seine Heimatstadt Hall – gemeint ist natürlich Schwäbisch Hall, nicht etwa Halle ! In einer Fußnote zieht Ludwig einen Vergleich des Encomium mit dem fünf Jahre später publizierten Thesendruck : Wie solche Deklamationen die üblichen Universitätsdissertationen vorbereiteten, lässt sich gut illustrieren durch einen Vergleich dieser Schwäb. Haller Gymnasialrede mit der Dissertation, die […] Johann Peter Lud[e]wig verfasste […]. Sie stellt die Geschichte und Form der platonischen Akademie dar und vergleicht sie unter Zugabe eines Stadtlobs mit der neuen ›Akademie‹ in Halle. Ein formaler Unterschied ist, dass nun zahlreiche Fußnoten mit Literaturbelegen den Text unterbauen. Die lateinische Ausdrucks-, Argumentations- und Darstellungsweise stimmen prinzipiell überein.17
Ludwig, der unseren Text nur knapp erwähnt,18 legt den Fokus des Vergleichs beider Texte also auf die Strukturunterschiede zwischen Gymnasialrede und Thesendruck. Von diesen formalen Aspekten abgesehen stimmten, so Ludwig, »Ausdrucks-, Argumentations- und Darstellungsweise« der Schriften überein. Dies ist eine interessante Bemerkung. Das humanistische Städtelob, sei es in Versen oder in Prosa abgefasst, folgt in der Tat einer festgelegten Topik, zu der auch die Behandlung etwa des Ursprungs der Stadt, der Lage und des Klimas, der Gebäude oder der Leistungen ihrer bedeutendsten Bürger gehören. Nimmt man nun die Kapitelüberschriften unseres Thesendrucks in den Blick, finden sich zentrale Aspekte dieses Schemas wieder, angefangen vom ›locus a nomine‹ über die Topoi ›Gründung‹, ›Lage‹ und ›Gebäude‹ bis hin zur ›Zerstörung‹, die im Schema zwar nicht auftaucht, bei untergegangenen Stätten des Altertums aber natürlich ihre Berechtigung hat. Bemüht man die Vorstellung der Akademie als einer ›Stadt in der Stadt‹, wäre es gar nicht abwegig, wenn Ludewig sein Lob der platonischen Philosophenschule nach dem Modell des Städtelobs angelegt hätte. Allerdings wirft der Vergleich auch ein Licht auf das Versäumnis, das ja schon 17 Ludwig : Deklamationen (Anm. 2), S. 336. Die Analyse des Encomium findet sich in Ludwig : Lobrede (Anm. 2). 18 Abgesehen von der genannten Stelle noch in Ludwig : Universitätskanzler (Anm. 2), S. 10 u. 23, ebenfalls nur beiläufig.
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eine erste Übersicht zutage gefördert hatte : Im traditionellen Städtelob der Humanisten spielen die Verfassung und Leitung des Gemeinwesens wie auch das Erziehungs- und Bildungssystem, materialisiert in den Schulen der Stadt, eine ganz zentrale Rolle. Diese Aspekte müssten nun, so sollte man meinen, beim Lob einer Institution, deren einziger Zweck ja in der umfassenden Bildung besteht, ganz im Mittelpunkt stehen. Genau dies ist aber nicht der Fall, was durch die strukturelle Analogie zum Städtelob noch deutlicher hervortritt. Es wäre demnach zwar korrekt, wenn man anhand eines klar umrissenen Gegenstandes – der ›Stadt in der Stadt‹ –, eines erkennbaren Regelsystems – des Gattungsschemas des Städtelobs – und eines deutlichen Argumentationszieles – des Lobs der Platonischen Akademie in Vorbereitung eines Abgleiches mit der ebenfalls zu lobenden Fridericiana – von einem Leitdiskurs der humanistischen laus urbis spräche. Erstaunlich bliebe aber, dass die Regeln dieses Diskurses gerade im entscheidenden Punkt des Bildungswesens durch weitgehenden Verzicht auf eine inhaltliche Füllung unterlaufen würden. Mit Blick auf den Umstand, dass die Abhandlung über die Platonische Akademie ja auf eine Analogie zur Reformuniversität Halle zuläuft, könnte man nun weiter fragen, ob der laus urbis-Diskurs vom Fortschrittsdiskurs überlagert wird. Der Fokus läge dann auf dem innovativen Potenzial der Athener Akademiegründung, auch wäre daran zu denken, dass im Modus der Überbietung das ›neue Athen‹, also Halle, als zukunftsweisende Neuauflage des antiken Akademieprojektes gesehen werden könnte. Eine solche Erwartung würde freilich enttäuscht werden. In einer langen, zentralen Anmerkung über Platons Leben wird über den griechischen Philosophen vor allem festgehalten, dass er »in geistlichen Dingen ganz nah an die wahre Gotteserkenntnis herankam« (»proxime in rebus divinis ad veram Dei notitiam accesserit« ; Bl. B3v), und wenig später heißt es über Thomasius, »das große Licht dieser Hochschule« (»magno Academiae hujus Lumine« ; ebd.), dass in seiner zu erwartenden Abhandlung über die Geschichte der Philosophie historische Anmerkungen über Platon zu finden sein würden – weiter äußert sich Ludewig über den berühmten Kollegen nicht.19 Generell wird die Platonische Akademie kaum als fortschrittliche Institution präsentiert, wenn man nicht das vereinzelt belegte Lachverbot (Bl. C1v) als Empfehlung für den zeitgenössischen Pietismus lesen will. – In der Synkrisis stellt sich der Befund 19 »A cujus [ Jacobi Thomasii] Excellentissimo Filio, magno Academiae hujus Lumine, qvid expectare cum erudito Orbe in simili argumento possimus, historia ejus Philosophica, qvam promisit nuperrime, copiosius docebit« (Bl. B3v). – Ludewig verweist vermutlich auf : Historiae sapientiae et stultitiae collecta a Christiano Thomasio. 3 Bde. Halle 1693.
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etwas anders dar. Zum einen gibt es Lobtopoi, die nicht unmittelbar die Modernität der neuen Einrichtung behaupten, aber eine entsprechende Argumentation doch leicht flankieren könnten. So wird eine durch den Einfluss fremder Menschen, Gebräuche und Künste hervorgebrachte kosmopolitische Ausrichtung der Stadt postuliert, die es den einheimischen Studenten ermögliche, ohne den Aufwand von Geld und beschwerlichen Reisen (»magnis itineribus« in Anlehnung an die Märsche in Caesars Bellum Gallicum) gleichsam die ›Welt‹ vor der eigenen Haustür kennenzulernen.20 Auch der Vergleich des vorbildlichen athenischen (attischen) Griechisch mit der besonders entwickelten Volkssprache in Sachsen kann als Fortschrittsbehauptung verstanden werden, da bekanntlich von Luther bis in die Zeit Gottscheds die ›meißnische‹ Mundart als vorbildlich für die deutsche Kultursprache gesehen wurde.21 Zum anderen gibt es, auch wenn in der Synkrisis nirgendwo explizit die Modernität der neuen Universität betont wird, doch einige Hinweise auf bemerkenswerte Inhalte und Methoden des Unterrichts. In einem kurzen Abschnitt über die körperliche Ertüchtigung (»de illis […] exercitiis […], qvae corpus et perficiunt, et agile ac dextrum reddunt«), für die sich schon Platon engagiert habe, lobt Ludewig die französischen und italienischen Lehrmeister, die in Halle derartige exercitia durchführten (Bl. G1r). Ähnliches gilt für den Unterricht in den modernen Fremdsprachen, wo es – nun ohne direkte Parallele zum antiken Athen – heißt : Peregrinum vero sermonem illi juvant, qvi e Gallis hic ex honestissimis eruditissimisqve hominibus vivunt, qvorum vel sola plurimum huc faciet conversatio (Bl. G2r). 20 In Halle »tot illustres ex omni ordine personae florent ; tot gentes et populi confluunt : qvorum suae qvivis terrae indolem ac mores seqvitur, virtutes exprimit, artes ac disciplinas refert et exercet. Qvarum rerum notitiam, cum magnis sumptibus, impensis, ac itineribus qvaerant alii ; hic uno eae intuitu conspiciuntur« (Bl. F4v–G1r). 21 »Unum tamen ex pluribus addo, qvod hanc denuo urbem cum Athenis conjungit. In Attica enim si Lingvam suam Graeci optimam purissimamqve audiverunt : hic elegantem ac emendatam vernaculae nostrae indolem florere, dialectum vulgo nominant, qvis dissimulavit unqvam ?« (Bl. G1v–2r). – Zu den zeitgenössischen Debatten vgl. Hans Eggers : Deutsche Sprachgeschichte. Bd. 2. Das Frühneuhochdeutsche und das Neuhochdeutsche. Reinbek 1986, Register sub verbo »Meißnisches Deutsch«. Vorsichtiger als seine Vorgänger urteilt Gottsched selbst, der 1731 in seiner Nachricht von der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig einräumte, dass »die Meißnische Mundart an und vor sich selbst keine Vorzüge vor den Ubrigen hätte« ; zitiert nach : Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Bd. 4/2. 18. Jahrhundert. Hg. von Walther Killy in Verbindung mit Christoph Perels. München 1983, S. 858. Die komplizierte Debatte um die Vorzüge der deutschen Mundarten, in der übrigens nicht selten ein Bezug zur Vielfalt der griechischen Literaturdialekte hergestellt wurde, kann hier nicht nachgezeichnet werden.
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Den Fremdsprachengebrauch aber fördern jene, die von den ehrbarsten und gebildetsten Menschen aus Frankreich hier leben und mit denen schon die bloße Unterhaltung das meiste zum Erfolg beitragen wird.
Es darf freilich nicht übersehen werden, dass körperliche exercitia – also Reiten, Fechten und Tanzen – sowie der Unterricht im Französischen zu den genuinen Unterrichtsgegenständen von Ritterakademien gehörten. Nun war in Halle 1686 von Michel Milié, genannt La Fleur, dem ehemaligen französischen Kammerdiener des letzten Administrators des Erzstifts Magdeburg, Herzog August von Sachsen-Weißenfels (1614–1680), mit kurfürstlichem Privileg eine so genannte Exerzitienschule eröffnet worden,22 die zwei Jahre später zu einer Ritterakademie umgestaltet wurde.23 Diese bestand fort, auch nachdem die eigentliche Universität gegründet worden war. Sie ermöglichte sowohl den Schülern des Gymnasiums wie auch den Studenten eine Art Grundausbildung in höfischen Umgangsformen, was zwar zeitgemäß, aber im Kontext der Gründung einer aufklärerischen Reformuniversität nicht im eigentlichen Sinne innovativ war. Ludewig selbst berichtet darüber in seiner Historie der Friedrichs-Universität Halle recht ausführlich, und in dieser Darstellung wird der Ritterakademie tatsächlich nicht mehr als die Rolle einer eher zufällig vorhandenen Vorstufe der Universität zugeschrieben.24 Immerhin wäre aber doch »an die kulturelle Ausstrahlung der halleschen Französischen Kolonie« zu denken, »die bildungsbeflissenen Deutschen eine Reise nach Frankreich ersparen könnte.«25 Sogar eine leichte konfessionspolitische Implikation ließe sich kon22 Vgl. Wilhelm Hehlmann : Die Gründung der Ritterakademie Halle im Jahr 1686. In : Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 25, 1935, S. 92–101. Ferner : Christian Thomasius : Briefwechsel. Bd. 1 : 1679–1692. Hg. von Frank Grunert, Matthias Hambrock u. Martin Kühnel unter Mitarbeit von Andrea Thiele. Berlin, Boston 2017, Nr. 169, S. 305 Anm. 2, wo die genauen Angaben zum Namen des ehemaligen Kammerdieners und zu dessen früheren Lebensumständen zu finden sind und wo die Vermutung geäußert wird, dass die »private Sprach- und Exercitien-Schule« bereits seit 1680 bestanden habe. 23 Vgl. Wilhelm Schrader : Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Bd. 2. Berlin 1894, S. 354–356. 24 Johann Peter Ludewig : Historie der Friedrichs-Universität Halle. In : ders : Consilia Hallensium iureconsultorum. Tomus II. […] Nebst einer Historie Der Hallischen Universität, 1531 biß 1692 und 1694. Halle 1734, S. 1–96 [getrennte Paginierung], hier S. 36–41. – Vgl. hierzu jetzt Holger Trauzettel : Eigengeschichte gegen die Krise ? Johann Peter von Ludewigs Historie der Friedrichs-Universität Halle (1734) im Kontext akademischer Imagepolitik. In : Renko Geffarth, Markus Meumann u. Holger Zaunstöck (Hg.) : Institutionelle Konkurrenzen und intellektuelle Vielfalt im Halle des 18. Jahrhunderts. Halle 2018, S. 81–98, zum Kontext knapp S. 87f. 25 Heinz Kathe : Städtischer Funktionswandel im frühaufklärerischen Preußen : Halle 1680–1740.
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struieren, insofern die Hugenotten im Preußen der Frühaufklärung staatstragende Funktionen übernahmen. – Einen möglichen indirekten Hinweis auf Neuerungen, die die Universitätsgründung mit sich brachte, gibt Ludewig in dem ausdrücklichen Verweis auf die positive Aufnahme der neuen Anstalt bei den Hallenser Bürgern : Cives enim si aestimo, literarum amantissimi sunt, et magni, verum fatear, doctorum hominum admiratores, non absurdi abjectiqve contemptores eorum, ut in vulgo fieri consvevit alias, digni propterea, ut inter eruditos, mediasqve Musas cum Atheniensibus vivant (Bl. G1v). Wenn ich die Bürger einschätze, so sind sie große Liebhaber der Studien und große Verehrer – ich will die Wahrheit bekennen – gelehrter Männer, nicht stumpfsinnige und gemeine Verächter von ihnen, wie es anderswo unter dem Volk gewöhnlich der Fall ist ; und daher sind sie würdig, unter gebildeten Menschen und inmitten der Musen mit den ›Athenern‹ zu leben.
Diese Behauptung markierte freilich eher einen Wunsch als die Realität, denn die Hallenser Bürger wandten sich wegen der angeblich zu hohen Kosten, dann aber auch wohl aus Angst vor dem Verlust eigener Reputation gegen eine Universitätsgründung.26 Ludewig wusste durchaus von diesen Widerständen, wie aus einem späteren Bericht hervorgeht, in dem er die wahren Gründe der Stadt obrigkeit und der übrigen Bewohner entlarvt : In der Stadt selbsten, hatten die Musen ihre Feinde. Rathsmeister und Rathmannen sahen zum voraus ; das grosse Licht von Gelehrten würde das kleine verdunckeln. […] Der gemeine Mann, sahe Vernunfftloß, nur auf das Gegenwärtige, und beklagte sich, daß die Menge der Studenten alles theuer machen würde.27
Auch wenn sich an der genannten Stelle der Dissertation also die interessegeleitete Konstruktion einer neuerungswilligen Öffentlichkeit nachweisen lässt, sieht es alles in allem doch nicht so aus, als könnte der Fortschrittsdiskurs als doIn : Günter Jerouschek u. Arno Sames (Hg.) : Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806). Hanau, Halle 1994, S. 55–63, hier S. 61. 26 Vgl. Wilhelm Schrader : Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Bd. 1. Berlin 1894, S. 44f. 27 Ludewig : Anzeigen (Anm. 4) [1735, 42. Stück], S. 209f.
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minante textuelle Strategie unseres Thesendruckes bestimmt werden. Auf eine andere Spur führt ein weiteres Selbstzeugnis Ludewigs. Dieser berichtet in der Leservorrede zu seiner ersten umfangreichen Monographie, der 1695 zuerst erschienenen Erleuterung über des Freyherrn von Pufendorf Einleitung zur Historie, über die Anfangsphase seiner Lehrtätigkeit in Halle : Wie nun damahls [1693] die Academie allhier meistens aus vornehmer Jugend bestunde / als muste [ich] meine Philosophie, die biß dahin einen grossen Theil meiner studien ausmachte / etwas bey Seite legen / und dasjenige hervor suchen / dardurch ich meinen Zweck bey solchen erreichen kunte. Ich nahm dannenhero Historica, Genealogica, Geographica und andere Dinge zur Hand / davon diese Leute estime machten.28
Ludewig schreibt hier aus der Perspektive des Professors der Logik und Metaphysik, der er von 1695 bis 1703 war. Es gibt allerdings mehr als einen Anhaltspunkt dafür, dass die systematische Philosophie, und damit natürlich auch das Lehrgebiet Platons und seiner Akademie, nicht Ludewigs vorrangigen Anliegen entsprach.29 Seine Interessen waren weiter gestreut, wie es eine Übersicht über seine an den philosophischen Fakultäten zu Wittenberg und Halle abgehaltenen Disputationen zeigt :30 Wittenberg 1691 Rhetoricae ad Herennium Cicero auctor vindicatus (Dissertatio prior ; als Resp.) 1691 Rhetoricae ad Herennium Cicero auctor vindicatus (Dissertatio posterior) 1691 De idylliis satiricis Halle 1693 De prima academia, villa Platonis, cum nova Halensium collata 1693 Historia sine parente. De causis fabularum circa gentium origines 1694 Lineamenta quaedam generalia de methodo in veritatem inquirendi 28 Johann Peter Ludewig : Erleuterung über des Freyherrn von Pufendorf Einleitung zur Historie […] [1695]. 2. Aufl. Leipzig, Halle 1700, S. 18. Vgl. Ludwig : Universitätskanzler (Anm. 2), S. 10. 29 Vgl. Ludwig : Universitätskanzler (Anm. 2), S. 9–12. 30 Nach Marti : Dissertationen (Anm. 13), S. 303 u. 264. Ich habe darauf verzichtet, über die dort dokumentierten Titel hinaus nach weiteren Thesendrucken zu suchen, und auch nicht verifiziert, ob andernorts (z. B. bei Flood : Poets, Anm. 2) nachgewiesene Disputationen in anderen Fakultäten als der philosophischen abgehalten wurden. Die Zusammenstellung bei Marti ist für die Argumentation vollkommen hinreichend.
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1695 1696 1696 1698 1699 1699 1700 1702 1711 1713
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An praescientia dei rebus inferat necessitatem Vita aeterna ex ratione gentiumque consensu Omnium fere gentium de vita aeterna concentus De philosophis caute legendis Historia rationalis philosophiae apud Turcas Theses miscellae e philosophia Theses miscellae ex universa philosophia Edictus Juliani contra philosophos christianos Historia quadripartitae eruditionis in epitome exhibita Henricus Auceps, historia anceps
Und sie richteten sich offenbar weit stärker auf ein Gebiet bzw. eine Methodik, die man mit einem Terminus der Zeit als ›historia litteraria‹ bezeichnen könnte. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an die Erwähnung von Ludewigs Wittenberger Lehrer, dem Polyhistor und Litterärhistoriker Konrad Samuel Schurtzfleisch, der wohl neben Samuel Stryk den größten Einfluss auf ihn ausgeübt hatte : »Scilicet cum Vitebergae agerem, in deliciis fuerant litterae humaniores, quibus omnia alia posthabui in scholis Schurzfleischianis.«31 Im konkreten Fall unserer Dissertation vermischt sich die gelehrtengeschichtliche Bestandsaufnahme im Sinne systematischer bio-bibliographischer Dokumentation32 mit einer polyhistorisch motivierten, von einem Aspekt zum nächsten treibenden Ermittlung antiquarischer Wissensbestände. Zwei Beispiele sollen Ludewigs Vorgehensweise illustrieren : In § 1 des Thesendruckes wird gemäß dem locus a nomine die Etymologie des Wortes ›Academia‹ eruiert . Dabei stellt Ludewig nicht nur die geläufige Deutung – nach dem Heros Akademos, der in § 2 näher behandelt wird – vor, sondern gibt auch alternative Herleitungen an, die allerdings entschieden verworfen werden. Ausführlich äußert er sich zu abweichenden, in den Quellen gleichfalls belegten Schreibungen 31 Ludewig : Opuscula (Anm. 11), S. 27. 32 An einigen Stellen orientiert sich Ludewig ausdrücklich an den Usancen litterärgeschichtlicher Handbücher, in denen die Präsentation kondensierter Wissensbestände zuweilen durch die bloße Nennung von Autoritäten ersetzt werden konnte. So verfährt er bei der gut bezeugten Vita Platons : »Operae hic pretium foret, de Vita Platonis aliqvantum disserere, sed cum angustioribus haec ipsa terminis includi commode non possint ; satis erit, ad qvosdam auctores lectorem remittere« (Bl. B3r). Vgl. Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt (Hg.) : Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007 ; Hanspeter Marti : Die historia literaria im akademischen Unterricht am Beispiel philosophischer Disputationsschriften. In : Marion Gindhart, Hanspeter Marti u. Robert Seidel (Hg.) : Frühneuzeitliche Disputationen. Polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens. Köln, Weimar, Wien 2016, S. 311–342.
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von ›Academia‹ bzw. des griechischen Pendants, wo alternativ ι und ει überliefert ist. Von hier ist der Weg nicht weit bis zu allgemeinen Erörterungen über die griechische und lateinische Prosodie, denn die korrekte Aussprache von ›Academia‹ – Betonung auf der drittletzten Silbe oder auf der Paenultima – hängt von der Beurteilung der griechischen Vorlage sowie von der Übertragung griechischer Eigennamen durch die Römer ab. Unter der Randglosse »Prosodiae ratio« (Bl. A3v) erörtert Ludewig in drei dicht gefüllten Fußnotenspalten antike33 und neuzeitliche Autoritäten, stellt die Frage nach dem Vorrang von Quantität oder Wortakzent bei der Transformation griechischer Eigennamen ins Lateinische, äußert sich zur Praxis der Akzentsetzung in griechischen Originalquellen wie etwa auf Münzen und verweist schließlich auf eine von ihm selbst ein Jahr zuvor in Wittenberg abgehaltene Disputation, in der vergleichbare Themen verhandelt wurden. § 1 bildet somit als Ganzes eine ausufernde, aber in der Argumentation doch halbwegs geschlossene Abhandlung über ein bestimmtes philologisches Problem, das von der Frage nach Herkunft und Betonung des Wortes ›Academia‹ seinen Ausgang nimmt. Die offenkundige Leidenschaft des Präses für seinen Gegenstand und seine Kenntnis der einschlägigen Schriften, die sich gerade auch auf Autoritäten des europäischen Humanismus erstreckt – erwähnt werden u. a. Henri Estienne, Jacobus Micyllus, Gerardus Joannes Vossius oder Friedrich Taubmann –, lässt schon zu Beginn die aus dem Titelblatt sich ergebende Frage nach dem Vergleich zweier Lehranstalten weit in den Hintergrund treten. Ähnliche Detailuntersuchungen zu eher abgelegenen Fragen finden sich über die ganze Dissertation verteilt. Im Zusammenhang mit dem Erwerb des Akademiegebäudes durch Platon versucht Ludewig etwa den aktuellen Gegenwert zu den überlieferten 3000 Drachmen zu errechnen und führt als Hilfsmittel mehrere zeitgenössische Fachbücher zum Münzwesen an (Bl. B4v). Die archäologisch komplizierte Frage nach der räumlichen Zuordnung und überhaupt der Identität von Akademie, Gräberstraße und dem Friedhof Kerameikos, die sich allesamt außerhalb der Athener Stadtgrenze jenseits des Dipylon-Tors befanden, verfolgt er mit außerordentlicher Gründlichkeit und unter Rekurs auf zahlreiche antike Quellen wie auch gelehrte Studien aus neuerer Zeit (Bl. C2v–D1r). Ich komme zu einem zweiten, etwas anders gearteten Beispiel für Ludewigs Argumentationsweise : In § 10 führt er, replizierend auf ein in § 9 vorgeführtes Gegenargument, einen ausführlichen Beweis für die These, dass die Platonische Akademie sich in einer gesunden Umgebung befunden habe. Die These wird, wie 33 Als Beispiele im Lateinischen werden Verstexte gewählt, an denen man die jeweils angenommene Quantität der vorletzten Silben ablesen kann (Bl. A3v).
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stets unter Rekurs auf antike und neuzeitliche Gewährsleute, ausführlich belegt, teilweise mit weit hergeholten Argumenten. Als Beweis für die trockene und somit gesunde Lage des Ortes wird angeführt, dass sich dort Grabmäler fänden, die man nicht an feuchten Plätzen errichte, weil sie davon Schaden nähmen (Bl. D3v–4r). Darauf nimmt die Gedankenführung Ludewigs absurde Züge an. Er begegnet dem in den Quellen grassierenden, durch die bisherige Beweisführung jedoch in Zweifel gezogenen Gerücht, Platon habe zum Zwecke der Abtötung sinnlicher Leidenschaften seiner Schüler bewusst einen ungesunden Platz gewählt, mit dem Argument, die Adepten würden durch das mühevolle Studium schon genug in ihrer Körperlichkeit beeinträchtigt : Platonem igitur cum Academiae suae freqventiam qvaereret, et inveniret etiam, deterrere multos loci pestilentia voluisse, ne verisimile qvidem est. Corporis vero impetum, ac libidinem assiduis laboribus, qvibus invigilavit, studiisqve fregit facile Plato, ut loci pestilentia non fuerit opus (Bl. D4v–E1r). Es ist also kaum wahrscheinlich, dass Platon, da er ja großen Zulauf zu seiner Akademie anstrebte und ihn auch fand, viele Leute durch die ungesunde Luft des Ortes habe abschrecken wollen. Platon zerrüttete ja das Ungestüm des Körpers und die Begierde leicht durch andauerndes Arbeiten und Studieren, worauf er sehr bedacht war, so dass es einer ungesunden Luft am Ort nicht bedurfte.
Doch damit nicht genug. Während die eigentliche Argumentation hier endet, entfalten die Anmerkungen, über mehrere Spalten hin gleichsam wuchernd, eine Debatte über den Nutzen und Schaden von ungesunden Lebensverhältnissen, Krankheiten und übergroßem Arbeitseifer, jeweils gestützt auf eine Fülle von Belegstellen und Beispielen. Ludewig selbst scheint zu den ›vernünftigen‹ Positionen zu tendieren : Er begrüßt es, dass – hier ein seltener Blick auf die neuere Zeit34 – Universitäten beim Ausbruch von Epidemien an andere Orte verlegt werden (Bl. E1r), er verspottet die Versuche, nach dem Muster von Pirckheimers Podagrae laus Krankheiten zu loben (ebd.),35 und er führt zahllose Beispiele berühmter Gelehrter an, die wegen Arbeitsüberlastung vorzeitig verstorben seien (ebd.). Am Schluss folgen Beispiele für die »incredibilis eruditorum industria« (Bl. E1v), womit auf das humanistische Ideal der lucubratio, 34 Ludewig zitiert hier Johannes Limnaeus : Tomus tertius juris publici imperii Romano-Germanici […]. 3. Aufl. Straßburg 1667, liber VIII [De Academiis], § 54. 35 »nobis orandum potius illud est, ut sit mens sana in corpore sano« (Bl. E1r).
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des ausgedehnten nächtlichen Arbeitens, Bezug genommen wird. Die betreffende Fußnote endet mit einem Beleg für die Arbeitswut des niederländischen Gelehrten Vossius, der selbst beim Essen Bücher las und daher von seiner Frau gefüttert werden musste,36 ohne dass der Leser aus dem Text eindeutige Signale erhielte, ob Kritik an dem schrulligen Gebaren oder Bewunderung für die gelehrte Leidenschaft überwiegt. Ludewig führt hier, anders als im ersten Beispiel, mit seinen gelehrten Erläuterungen eher an das allgemeine Thema der akademischen Lehre heran, als dass er sich davon abwendete. Methodisch und sachlich bleibt er allerdings dem polyhistorischen Diskurs verhaftet, und es gibt eine Reihe autobiographischer Zeugnisse, in denen Ludewig sich selbst als Märtyrer der Arbeit stilisiert.37 Diese Beobachtungen lassen nun keinen anderen Schluss zu, als dass Ludewig mit seiner ersten Hallenser Disputation, die als Thesendruck ja auch unter den Kollegen und Studenten zirkulierte, sich als Gelehrtentypus präsentierte, der – zumindest aus dem Rückblick der Universitätshistoriker – nicht mit den Vorstellungen einer brandenburgisch-preußischen Reformuniversität vereinbar war. Es wäre nun eine größere Aufgabe, Ludewigs Lehr- und Publikationstätigkeit systematisch in die zeittypischen Auseinandersetzungen um den gelehrten Pedantismus einzuordnen. Dass er selbst diesem Typus bis zu einem gewissen Grade entsprach, zeigt schon die kurze Definition der pedantischen ›praxis eruditionis‹, die Christian Thomasius wenige Jahre zuvor gegeben hatte. Dort heißt es, dass die ›ineptitudo iudicii‹ sich unter anderem zeige In praxi eruditionis, si quis notoria vel taediosa ac impertinentia proferat, et in iis recensendis prolixus sit.38 36 »Qvid ? qvod ne inter ipsas epulas qvidem sibi temperaret, qvo minus vel lectitaret libros, vel cogitationibus inhaereret, adeo ut ipse viderim aliqvoties dextram ejus necessariis usibus ab uxore aptari ut inediae succurreret« (Bl. E1v–E2r). Zitiert dort nach : Gerardus Joannes Vossius : De quatuor artibus popularibus. Amsterdam 1650, Bl. **3r [Leservorrede von Franciscus Junius]. 37 Vgl. Ludwig : Universitätskanzler (Anm. 2), S. 19f. Vgl. zum Kontext ein zeitgenössisches Anleitungsbuch für Studenten, in dem von ausgedehntem nächtlichem Arbeiten abgeraten wird : Heinrich Kaspar Abel : Wohlerfahrener Leib-Medicus Der Studenten […]. Leipzig 1701, 1. Buch, 2. Abteilung, 2. Kapitel : Von des Schlaffes Nothwendigkeit, S. 37–41 ; 3. Kapitel : Von vielen Wachen und dessen Schaden, S. 41–43 ; 16. Kapitel : Vom Lucubriren, S. 72–75. Zum ›Lukubrieren‹, d.h. nächtlichem Arbeiten, vgl. Michael Maurer : Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815). Göttingen 1996, S. 405–408. 38 Christian Thomasius : Introductio ad philosophiam aulicam. Leipzig 1688 [Nachdruck : Christian Thomasius : Ausgewählte Werke. Bd. 1. Hildesheim, Zürich, New York 1993], S. 244. – Zur
Johann Peter Ludewigs Thesenschrift
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in der gelehrten Praxis, wenn jemand Allbekanntes oder Langweiliges und Unpassendes vorträgt und sich lange dabei aufhält, diese Dinge durchzumustern.
Aus Sicht der frühen Aufklärung wären Ludewigs Erläuterungen zur Platonischen Akademie wohl unter dieses Verdikt gefallen. Zugleich zeigt der Thesendruck in Form und Inhalt, dass die im Titel angekündigte Synkrisis der antiken und der modernen Lehranstalt unter den methodischen Prämissen des Polyhistorismus nicht wirklich gelingt. Ludewig kann in Bezug auf die Hallenser Neugründung kein gelehrtes Wissen ausbreiten, und dass der Vergleich überdies an manchen Stellen hinkt, wurde schon gezeigt. Es wäre interessant zu erfahren, wie der Disputationsakt am 28. Januar 1693 vonstatten gegangen ist, aber darüber gibt es, wie in fast allen Fällen, keine Dokumente. Wir besitzen nur die zu Anfang zitierte Stellungnahme von Ludewig selbst, wonach es »darinnen etwas scharf hergegangen« sein soll. Man kann sich das schwer vorstellen. Ludewigs persönliche Motivation zur Abhaltung dieses Aktes ist dagegen plausibler zu ermitteln. Zum einen galt für ihn, was Hanspeter Marti für die neue Universität in Halle generell bemerkt hat : »Wer wie die Adjunkten […] einen unteren Platz in der Universitätshierarchie einnahm, mußte oder konnte sich durch den Vorsitz bei Disputationen qualifizieren.«39 Möglicherweise handelte es sich in unserem Fall um eine so genannte pro-loco-Disputation, die von Ludewig als neu bestalltem Adjunkt der philosophischen Fakultät wohl erwartet wurde.40 Des weiteren liegt auf der Hand, dass das Thema, so wie es auf dem Titelblatt formuliert ist, eine große Zahl von Interessierten anziehen musste, zumal in der Vorrede die junge Universität als ein neues Athen proklamiert wurde.41 Auch Pedantismuskritik bei Thomasius vgl. Wilhelm Kühlmann : Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 423–437. 39 Hanspeter Marti : Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels. In : Ulrich Johannes Schneider (Hg.) : Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005, S. 317–344, hier S. 320f. – Mehr als 40 Jahre später äußerte sich Ludewig zustimmend über das Edikt König Friedrich Wilhelms, wonach »zu Bedienungen, die besondere Gelehrsamkeit und Wissenschafften erfordern, niemand gelangen solle, der nicht auf Universitäten, davon eine Probe, von einer Disputation, abgeleget« (Ludewig : Gelehrte Anzeigen, Anm. 4, S. 131). 40 Die Statuten der philosophischen Fakultät, die eine entsprechende Bestimmung enthalten, tragen allerdings das Datum 1. Juli 1694 ; vgl. Schrader, Bd. 2 (Anm. 23), S. 437 (Cap. V. De Adjunctis Philosophiae), S. 438 (Datierung). 41 »Omni vero eruditae juventuti gratulabimur tandem ; qvae suas hic Athenas & invenit, & freqventat« (Bl. A2v).
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Robert Seidel
sind die fünf abschließenden Seiten über die Hallenser Neugründung im Stil einer epideiktischen Prunkrede gehalten, so dass zu überlegen ist, ob dieser Passus weniger der Gegenstand eines Streitgesprächs war, sondern womöglich im Wortlaut vorgetragen wurde, sei es vom Präses selbst oder von einem durch ihn instruierten Adepten. Der wichtigste Grund zur Abfassung der Dissertation dürfte aber, wie gezeigt, in Ludewigs Selbstverständnis als Gelehrter aus dem Geiste des Polyhistorismus bestanden haben. Das vitale Interesse des Autors an den Verästelungen der historischen Überlieferung, insbesondere an der Sicherung und Dokumentation antiker Wissensbestände, war anscheinend so massiv, dass der mögliche Vorwurf des Pedantismus seitens bestimmter aufklärerischer Kreise in Kauf genommen wurde. Jedenfalls bleibt es bemerkenswert, dass Ludewig an der jungen Universität mit seinen Schriften so offenkundig und dauerhaft reüssierte.42
42 Gänzlich ausschließen kann man nach Lage der Dinge wohl, dass der von Ludewig durchgeführte Vergleich einer antiken und einer zeitgenössischen Lehranstalt in irgendeinem Verhältnis zur ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ stand, so reizvoll es auch wäre, vier Jahre nach Perraults Gedicht Le Siècle de Louis le Grand, das den Disput um die Vormachtstellung der Antike gegenüber der Moderne auslöste, nach Spuren dieser in Deutschland seit spätestens 1690 nachweisbaren Rezeption der Debatte zu suchen. Ich muss mich hier auf den Nachweis einer Stelle bei Perrault beschränken, an der Platon polemisch als ›langweilig‹ in den Augen der Modernen bezeichnet wird : »Platon qui fut divin du temps de nos ayeux, / Commence à devenir quelquefois ennuyeux : / En vain son Traducteur partisan de l’Antique, / En conserve la grace et tout le sel attique, / Du lecteur le plus aspre et le plus resolu, / Un dialogue entier ne sçauroit estre lû.« Le Siècle de Louis le Grand. Poeme. Par M. Perrault de l’Academie françoise. Paris 1687, S. 4. Zur Rezeption der Querelle in Deutschland vgl. Peter K. Kapitza : Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981. – Skeptisch bin ich auch hinsichtlich einer Vermutung, die im Verlaufe der Diskussion während einer diesem Beitrag vorausgehenden Konferenz geäußert wurde, dass Ludewig nämlich hier das Genre der dissertatio parodiert habe. Sachgehalt, sprachlicher Duktus und Anlass der Schrift sprechen eher gegen eine solche Theorie. Allenfalls würde ich eine leichte Selbstironie in Erwägung ziehen, wenn Ludewig etwa mehrfach bedauert, seine ausführliche Quellendokumentation aufgrund des Mangels an griechischen Drucktypen nicht noch weiter ausdehnen zu können : »Adscriberem verba ejus, nisi Graeci characteres deficerent typographum« (Bl. C1v ; ähnlich Bl. C3v, E4v).
Andres Straßberger
Aufklärung im Pietismus. Zum Neuheitsanspruch einer Homiletikvorlesung Johann Daniel Herrnschmidts
Eine erste Fassung dieses Beitrags wurde am 23. November 2016 auf dem Studientag »Innovationsuniversität Halle ? Neuheit und Innovation als historische und historiographische Kategorien« am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Aufklärung (IZEA) in Halle/Saale unter folgendem Titel vorgetragen : »Das Alte ist das Neue ? Hallisch-pietistische Predigttheorie zwischen Kritik und Erneuerung der rhetorischen Tradition am Beispiel Johann Daniel Herrnschmidts.« Für den Druck wurden die Ausführungen grundlegend umgearbeitet und unter der neuen Überschrift hinsichtlich der Thesenbildung neu fokussiert. 1. Im Einblattdruck des Vorlesungsverzeichnisses der Universität Halle, der auf den 29. September 1718 datiert ist, wird für das anstehende Wintersemester eine Homiletikvorlesung des predigtgeschichtlich wenig beachteten Theologen Johann Daniel Herrnschmidt (1675–1723) wie folgt angekündigt : »Lectiones Homileticas theoretico-practicas nova methodo denuo1 inchoabit, et B[ono] cum Deo hoc semestri ad finem perducet.«2 1 Es ist unsicher, worauf sich Herrnschmidt damit bezieht. In den Einblattdrucken der Vorlesungsverzeichnisse taucht er, obwohl seit September 1716 in Halle, vor dem 29. September 1718 nicht auf, was im Blick auf seine Vorlesungstätigkeit nichts bedeuten muss, da Lehrveranstaltungen, vor allem wenn sie privatim erfolgten, einfach am Schwarzen Brett angekündigt werden konnten. Außerdem verzeichnen die Einblattdrucke keineswegs alle angebotenen Lehrveranstaltungen, wie ein Vergleich mit den allerdings nur selten überlieferten ausführlichen Lektionskatalogen der theologischen Fakultät zeigt. Ein solcher Vergleich ist z. B. für das Sommersemester 1717 möglich, für das der Einblattdruck keine Vorlesungen und Übungen Herrnschmidts ausweist, wohingegen im ausführlichen Lektionskatalog (Conspectvs Lectionvm, Qvas Collegivm Theologicorvm In Academia Regia Fridericiana Instanti Semestri Aestivo, Volente Deo Pvblice Et Privatim Habebit, […] Anno Ecclesiae Evangelicae Secvlari MDCCXVII, S. 12 ; datiert »VI. Non. Mart. 1717« = 2.3.1717) folgende Lehrveranstaltungen Herrnschmidts angezeigt werden : »promissum Programmate typis exscripto Collegium Homileticum ita semestri praeterito, Dei opitulante gratia, ad
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Andres Straßberger
2Die Kennzeichnung der Vorlesung »nova methodo« führt zur Frage, ob es sich hierbei um eine Neuerungsemphase, mithin um eine bloße rhetorische Behauptung, oder um den begründeten Hinweis auf etwas tatsächlich Neues handelt. Nach zeitgenössischem Verständnis hätte schon eine Neuerung in der Lehrart (lat. »nova methodo«),3 also in der Art und Weise des Vortrags der homiletischen Wissensbestände, einen Neuheitsanspruch für sich mit Fug und Recht erheben können, von inhaltlichen Neuerungen ganz zu schweigen.4 Sollte dieses scopum suum perduxit, ut Elementa Homiletica, quae fundamenti loco fuerunt posita, tum rhetorice explicuerint, tum practice, integros Textus resolvendo ac disponendo, ad usum applicuerit. In templo etiam Glauchensi binae singulis septimanis habitae sunt Conciones Docimasticae, quas hora peculiari subsequuta est repetitio, cum censura et dispositionis variatione. Hoc itaque penso absoluto, decretum ipsi est, Deo adjuvante, exercitium illud concionandi docimasticum, novo Homiletices Cultorum circulo formato, certisque legibus adstricto, continuare, et censuram, quod jam per incrementa dierum licet, confestim subjungere. Nec denegabitur desiderantibus, si qui erunt, praeceptorum homileticorum iteranda expositio.« Vielleicht nimmt Herrnschmidt mit dem »denuo« Bezug auf das hier angekündigte collegium homileticum. 2 »Eine theoretisch-praktische Homiletikvorlesung auf neue Lehrart beginnt abermals und wird, so Gott will, in diesem Semester auch zu Ende gebracht« (Übersetzung A.S.) ; Vorlesungsverzeichnis (Einblattdruck) der Universität Halle/Saale, datiert 29.9.1718. – Für meine Forschungen stand mir eine gebundene Sammlung der fotokopierten Vorlesungsverzeichnisse der Universität Halle im Universitätsarchiv Halle-Wittenberg zur Verfügung (Bandtitel : Codex lectionum annuarum, Bd. 1). Die originale Sammlung befindet sich in der Universitäts- und Landesbibliothek Halle und wird im Opac unter folgendem Titel grammatikalisch falsch verzeichnet : Vorlesungsverzeichnisse der Academia Fridericiana Halensi – Friedrichs-Universität zu Halle, der Universitate Litteraria Fridericiana Halensi cum Vitebergensi Consociata – Königlichen Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg und der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg des Zeitraumes vom 8.7.1694 bis zum Sommersemester 1932 im Bestand der Abteilung Sondersammlungen der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle an der Saale / [Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt. Zusammengestellt von Markus Lucke]. Aus praktischen Erwägungen zitiere ich die hier zusammengetragenen Vorlesungsverzeichnisse nur unter Nennung des jeweiligen Semesters, gegebenenfalls unter Angabe einer im Lektionskatalog selbst befindlichen Datierung. 3 Johann Heinrich Zedler : Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 20. Halle, Leipzig 1739, Sp. 1291, erläutert zur Semantik : »Methode, ist ein Griechisches Wort, welches überhaupt eine gewisse Art und Weise, nach welcher man mit einer Sache umgehet, bedeutet, und wird im Deutschen auch Lehr=Art genennet.« Ergänzend dazu und für den von Herrnschmidt verwendeten Wortsinn erhellend heißt es weiterhin (ebd., Sp. 1334) : »Methode (Vorstellungs=) Methodus doctrina, Methodus didascalica, Methodus doctrinalis, Methodus didactica, so auch von einigen schlechterdings die Methode genennet wird, ist die Art und Weise, wie man die erkannten Wahrheiten andern entweder mündlich oder schrifftlich mittheilen, und sie darinnen unterweisen soll.« 4 Johann Georg Walch : Philosophisches Lexicon, Darinnen Die in allen Theilen der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic, Pneumatic, Ethic, natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsam-
Homiletikvorlesung Johann Daniel Herrnschmidts
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hier der Fall sein, würde das nicht nur ein Licht auf das Innovationspotenzial der theologischen Fakultät der Universität Halle im Bereich des akademischen Homiletikunterrichts ihrer Zeit werfen, sondern für den Predigthistoriker zugleich die Frage nach sich ziehen, wie der erhobene Befund in das geläufige Bild der Predigtgeschichte einzuzeichnen ist. Die Möglichkeit, diesen Fragen, die sich an eine akademische Vorlesung als einen eigentlich mündlichen und damit historiographisch schwer fassbaren Kommunikationsvorgang richten, im Folgenden nachgehen zu können, verdankt sich dem glücklichen Umstand, dass sich eine äußerst umfangreiche Nachschrift von Herrnschmidts Lektion im Archiv der Franckeschen Stiftungen (Halle/ Saale) erhalten hat.5 Auf faszinierende Weise gibt der Text einen ungewöhnlich lebendigen, nahezu ungefilterten Einblick in die Vorlesungspraxis des Professors. Das hat mit der Beschaffenheit der Quelle zu tun, die keine der üblichen studentischen Mitschriften darstellt, in denen eine Einzelperson unter Zuhilfenahme einer Kurzschrift – Stenographie gab es damals noch nicht – versucht hat, das mündliche Sprachgeschehen mehr oder minder rudimentär schriftlich abzubilden. Demgegenüber weist die Quelle jenen außergewöhnlich hohen Qualitätsstandard auf, wie er für alle Kolleg- und Predigtnachschriften kennzeichnend ist, die auf Initiative August Hermann Franckes nach einem ausgeklügelten Mitschreibsystem und einem im Laufe der Zeit perfektionierten und professionalisierten Herstellungsprozess von einem Kollektiv von Mit- und Abschreibern unter Anleitung und Aufsicht des Waisenhausinspektors zunächst von dessen eigenen Predigten und Vorlesungen, dann aber auch von denen seiner Kollegen angefertigt wurden.6 Denn das unter dem Einsatz hoher personeller und keit, wie auch Politic vorkommenden Materien und Kunst-Wörter erkläret und aus der Historie erläutert […]. Leipzig 1726, Sp. 1889, führt dazu aus : »Neuerungen können in gedoppelter Absicht geschehen : einmal in Ansehung der Wahrheiten selbst, wenn man entweder gantz neue Principia einer Wissenschafft erfindet ; oder die bereits erfundene besser einrichtet und mehrere Conclusiones daraus ziehet ; hernach in Ansehung der Methode, daß man auf eine andere Art die Sachen vorträget.« 5 b[eati] Herrnschmidii Collegium homileticum. Bd. 1 (S. 1–854) ; Bd. 2 (S. 855–1477) : Archiv der Franckeschen Stiftungen (AFSt/H [Hauptarchiv]) H 24a+b. Im Folgenden zitiert : Herrnschmidt : Collegium homileticum, Bd. 1 (2). – Den Beginn der Vorlesung vermerkt eine Notiz auf der ersten Seite des Manuskriptbandes für den 7. November 1718 um 10 Uhr. 6 Vgl. zu Art und Weise des Mitschreibsystems die Selbstmitteilung Franckes bei Gustav Kramer : Vier Briefe August Hermann Francke’s zur zweiten Säcularfeier seines Geburtstags. Halle 1863, S. 28–76 (A. H. Francke an Samuel Stryck, 27.4.1700), hier S. 33f ; siehe auch Peter Menck : Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten. Die Pädagogik August Hermann Franckes. Halle 2001, S. 138–142.
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Andres Straßberger
zeitlicher Ressourcen von Francke etablierte Mitschreibsystem zielte im Kern darauf, das gesprochene Wort im Idealfall in seiner gesprochenen Form vollständig zu verschriftlichen, was zumindest annäherungsweise erreicht wurde.7 Von den einst zahlreich vorhandenen, in den älteren Handschriftenverzeichnissen der Waisenhausbibliothek noch dokumentierten akademisch-theologischen Vorlesungsmitschriften dieser Art haben sich – von den zahlreichen Nachschriften der Predigten und paränetischen Vorlesungen Franckes einmal abgesehen – neben der erwähnten bis heute nur noch wenige erhalten.8 Obwohl in der Art ihrer Anlage im zeitgenössischen Vergleich als nahezu einzigartig einzuschätzen,9 ist diese Quellengruppe bislang nur ansatzweise in den Fokus der Forschung gelangt. Dabei bietet sie – wie im Falle Herrnschmidts bzw. einer auf die gleiche Weise entstandenen Mitschrift einer Homiletikvorlesung August Hermann Franckes10 – nicht nur reiches Material für theologie- und predigtgeschicht 7 Neben der oben in Anm. 6 genannten Literatur siehe auch die aus intimer Vertrautheit mit den Quellen geschöpften Ausführungen bei Friedrich de Boor : Die paränetischen und methodolo gischen Vorlesungen August Hermann Franckes [1693–1727]. Theol. Habil. masch. Halle/Saale 1968, S. 27–29 (vgl. ders : A. H. Franckes paränetische Vorlesungen und seine Schriften zur Methode des theologischen Studiums. In : Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 20, 1968, S. 300–320, hier S. 303–305) ; ferner F[riedrich] Schreiter : Bemerkungen zu den Predigtnachschriften August Hermann Franckes. In : Allgemeine deutsche Stenografen-Zeitung 1919, S. 92–95 ; [Friedrich] Schreiter : Die Nachschriften der Reden August Hermann Franckes. In : Der Kurzschriftlehrer 12, 1935, S. 158f ; L[aurenz] Schneider, G[eorg] Blauert : Geschichte der deutschen Kurzschrift. Wolfenbüttel 1936, S. 50f. 8 Außer den in 59 Bänden handschriftlich überlieferten Predigten Franckes (vgl. Erhard Peschke [in Verbindung mit Friedrich de Boor] : Katalog der in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt zu Halle [Saale] vorhandenen handschriftlichen und gedruckten Predigten August Hermann Franckes. Halle 1972) betrifft das vor allem Mitschriften der paränetischen Vorlesungen (dazu de Boor : Die paränetischen und methodologischen Vorlesungen, Anm. 7 ; ders : A. H. Franckes paränetische Vorlesungen, Anm. 7, S. 300–320) sowie die Mitschriften einer sich über mehrere Semester erstreckenden exegetischen Vorlesung zu einem Propheten des Alten Testaments (A. H. Francke : Vorlesungen zum Buch Jesaja 1709–1713 : AFSt/H M 32a+b, H 25a+b). Zur Mitschrift einer Homiletikvorlesung A. H. Franckes siehe unten in Anm. 10. 9 Ein von Halle inspiriertes Mitschreibsystem wurde später durch Zinzendorf in Herrnhut etabliert ; Hermann Plitt : Das theologische Seminarium der evangelischen Brüder-Unität in seinem Anfang und Fortgang. Zur Erinnerung an die Jubelfeier seines hundertjährigen Bestehens den 18. Mai 1854. Gnadau [1854], S. 4 u. 28 ; Otto Uttendörfer : Aus Zinzendorfs Alltagsleben. In : Mitteilungen aus der Brüdergemeinde. Heft 3, 1939, S. 55–108, hier S. 58–61 ; Hans-Christoph Hahn, Hellmut Reichel (Hg.) : Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722–1760. Hamburg 1977, S. 142–147 ; Gisela Mettele : Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727–1857. Göttingen 2009, S. 149. 10 Über den Fund einer noch umfangreicheren Nachschrift einer Homiletikvorlesung August Hermann Franckes im Archiv der Franckeschen Stiftungen ([A. H. Francke] : In Elementa Homiletica
Homiletikvorlesung Johann Daniel Herrnschmidts
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liche, sondern auch für vielfältige andere Fragestellungen. Der immense Gehalt der Quelle kann angesichts der hier interessierenden Leitfragen, auch und gerade was den predigttheoretischen Gehalt betrifft, im Folgenden nur angedeutet, bei weitem aber nicht ausgeschöpft werden.11 Es muss genügen, an dieser Stelle auf den Schatz, der sich der Forschung mit dieser wie auch mit den anderen Nachschriften bietet, hinzuweisen und dazu einzuladen, ihn sukzessive zu heben. 2. Bevor sich die weitere Aufmerksamkeit auf die Vorlesung selbst richtet, soll über die Person des Vortragenden zumindest insoweit informiert werden, als es für die hier verhandelten Zusammenhänge von Interesse ist. Denn wer war jener weithin unbekannte Theologe, der von seiner Homiletikvorlesung behauptete, sie würde ihren Stoff »nova methodo« präsentieren ? Wie kam er nach Halle und wie ist seine Stellung im Verhältnis zu seinen Kollegen an der theologischen Fakultät einzuschätzen ? Stand er isoliert oder kann er als repräsentativer Vertreter des halleschen Pietismus in jener Zeit eingeschätzt werden ? Johann Daniel Herrnschmidt wurde am 11. April 1675 im schwäbischen Bopfingen als Sohn eines Pfarrers geboren.12 Ab 1696 studierte er in Altdorf, Ven. Dn. D. Antonii ; AFSt/H H 22a–c), die bis zu ihrer Entdeckung im Handschriftenverzeichnis als eine Homiletikvorlesung Paul Antons geführt wurde, habe ich auf dem IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung, 25.8.–29.8.2013 in Halle/Saale im unpublizierten Beitrag ›Die Nachschrift einer Homiletik-Vorlesung (1700/1701) August Hermann Franckes : ein Quellenfund und seine mediengeschichtliche Bedeutung‹ erstmals Bericht erstattet. Zu den im Titel der Vorlesung genannten Elementa homiletica Antons siehe den Beitrag von Dietrich Blaufuß in diesem Band. 11 Beispielsweise macht Herrnschmidt : Collegium homileticum (Anm. 5), Bd. 1, S. 18f., die homiletikgeschichtlich interessante Angabe, die Anlass zu mancherlei Überlegungen gibt : »Ich habe zwar vor etliche 20 Jahr auch vormahls ein Collegium homileticum docendo tractiret, einen Versuch gethan, ob man die praecepta des Dionysii Longini ad artem Oratoriae sacrae oder ad artem homileticam adpliciren könne ; allein ich habe befunden, daß dieses nicht wohl practicable, auch daß der Vsus dieser Scribenten nach der heutigen Art der Beredsamkeit, so gantz sonderlich nicht sey.« 12 Zu Johann Daniel Herrnschmidt ist die Forschungsliteratur sehr überschaubar : [unbekannter Verfasser] : Herrnschmidt. In : Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 12. Leipzig 1880, S. 221f ; Gustav Kramer : August Hermann Francke. Ein Lebensbild. Bd. 2. Halle 1882 (Nachdruck Hildesheim 2004), S. 208–213 ; Martin Schmidt : Der Pietismus als theologische Erscheinung. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus. Göttingen 1984, S. 12–14 ; Udo Sträter : Herrn-
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Andres Straßberger
promovierte dort zum Magister und wechselte 1698 nach Halle. Hier erscheint er in den Quellen bald als rechte Hand August Hermann Franckes, der ihn u. a. bei seinen Korrespondenzen heranzog. Innerhalb kurzer Zeit gehörte der von außen hinzugekommene Magister zum inneren Zirkel der pietistisch geprägten theologischen Fakultät. An Franckes Seite erhielt er intimen Einblick in Prozesse und Abläufe des im Auf- und Ausbau befindlichen Mikrokosmos ›Waisenhaus‹ wie auch in das pietistische Kommunikationsnetzwerk. Die Vertrautheit mit Protagonisten und Struktureigentümlichkeiten der halleschen theologischen Fakultät prädestinierte ihn zum Verfasser eines anonym publizierten Sendschreibens, in welchem das hallesche Theologiestudium einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt und womit für dasselbe auf diese Weise Werbung gemacht wurde.13 Der Ruf seines Vaters, der Herrnschmidt zum Jahreswechsel 1701/02 erreichte und der ihn dazu aufforderte, zurück nach Bopfingen zu kommen, zerschlug etwaige Hoffnungen Franckes und Cansteins, den jungen Theologen längerfristig in ihre Projektplanungen einzubinden.14 Johann Daniel folgte der an ihn ergangenen Bitte und wirkte die nächsten zehn Jahre an der Seite seines Vaters im schwäbischen Pfarramt. In all den Jahren riss der Kontakt nach Halle nicht ab, und auch die Hallenser behielten Herrnschmidt im Fokus ihrer Aufmerksamkeit. Insofern kann es nicht überraschen, wenn Francke seit 1715 alle Hebel in Bewegung setzte, den mittlerweile zum Superintendenten und Hofprediger im schmidt, Johann Daniel. In : Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage. Bd. 3. Tübingen 2000, Sp. 1687f. Für das Folgende stütze ich mich vor allem auf den Aufsatz von Claudia Drese : Franckes Kronprinz. Zur Installation Johann Daniel Herrnschmidts. In : Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen. Hg. von Holger Zaunstöck, Brigitte Klosterberg, Christian Soboth u. Benjamin Marschke. Halle 2017, S. 19–35 (zuvor als Vortrag gehalten auf der Tagung : Francke und seine Könige. Hallischer Pietismus und Preußen [1690–1750]. Tagung anlässlich des 350. Geburtstages August Hermann Franckes und des 300-jährigen Thronjubiläums Friedrich Wilhelm I. vom 16.–18. Januar 2013 im Historischen Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale), den mir die Verfasserin freundlicherweise als Manuskript zur Verfügung gestellt hatte. Dafür danke ich sehr herzlich ! 13 [ Johann Daniel Herrnschmidt :] Warhafftiger Bericht Von dem jetzigen Zustand der Löblichen Theologischen Facultät Auf der weitberühmten Königlich=Preussischen Universität zu Halle / In einem Send=Schreiben an einen Christlichen Freund entworffen / Durch einen / der von allem gnugsame eigene Erfahrung hat ; Nunmehr aber Zu Beförderung des gemeinen Nutzens im Druck mitgetheilet. Gedruckt im Jahr Christi MDCCII. (24 S.) – Die Verfasserschaft Herrnschmidts ist auf einem von mir benutzten Exemplar aus dem Besitz Heinrich Mildes (1676–1739), vermutlich vom Besitzer selbst, notiert (Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, Sign : 76 D 7 [7]). 14 Zur hohen Präsenz von Herrnschmidts Namen im Canstein-Francke-Briefwechsel vgl. die zahlreichen Registereinträge in : Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. Hg. von Peter Schicketanz. Berlin, New York 1972.
Homiletikvorlesung Johann Daniel Herrnschmidts
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hessen-nassauischen Idstein aufgestiegenen Herrnschmidt zurück nach Halle zu holen. Es dauerte fast zwei Jahre, bis diese Bemühungen von Erfolg gekrönt wurden. Im September 1716 zog der Francke-Vertraute mit einer Vokation auf eine Theologieprofessur wieder in der Stadt an der Saale ein. Seinen Lehrstuhl trat er mit einem 16seitigen theologischen Programm an, in welchem er den Unterschied von Rhetorik und Homiletik thematisierte, einer seinerzeit strittigen predigttheoretischen Problemkonstellation.15 Es ist dies seine einzige homiletischen Fragestellungen gewidmete Druckschrift. Mit der Berufung verfolgte der Gründer des Waisenhauses den weit vorausschauenden Plan, Herrnschmidt in die Leitung der Anstalten einzubinden und ihn als seinen Nachfolger im Direktorat aufzubauen. Der frühe Tod Herrnschmidts im Jahr 1723 machte nicht nur diesen Plan zunichte, sondern er war auch wesentlich dafür verantwortlich, dass der hoch begabte Theologe sich nicht in dem Maße in die Theologie- und Kirchengeschichte einschreiben konnte, wie es seinen vielversprechenden Anlagen, von denen die Homiletikvorlesung ein eindrückliches Zeugnis gibt, entsprochen hätte. Zusammenfassend wird man daher festhalten können, dass mit Herrnschmidt ›Franckes Kronprinz‹16 zum Inhaber der Theologieprofessur bestimmt worden war, ein Mann, der nicht nur bei Francke, Paul Anton und anderen halleschen Theologen der ersten Generation als Student noch selbst die Theologie, mutmaßlich auch die Homiletik, gehört hatte, sondern der darüber hinaus das volle Vertrauen des Waisenhausgründers genoss. Was dieser pietistische Hoffnungsträger theologisch-homiletisch zu sagen hatte, kann demnach den Anspruch erheben, als genuine Äußerung des hallischen Pietismus17 in jener Zeit angesehen zu werden.
15 Johann Daniel Herrnschmidt : Programma theologicum, de discrimine artis rhetoricae et homileticae […]. Halle 1716. 16 So die pointierte Titelformulierung im Aufsatz Claudia Dreses (Anm. 12) ; Schmidt : Der Pietismus als theologische Erscheinung (Anm. 12), S. 14, spricht von Herrnschmidt als dem ›Erben‹, den Francke für sich ausersehen hatte. 17 Eine in der Pietismusforschung gelegentlich anzutreffende Nomenklatur unterscheidet ›halleschen‹ (d.h. den mit Stadt und Fakultät verbundenen) und hallischen (d.h. den von Halle in seinen Wirkungen ausgehenden) Pietismus. Dieser Nomenklatur folge ich nicht streng. Ganz überwiegend spreche ich im Folgenden vom ›hallischen Pietismus‹ und beziehe mich damit sowohl auf den mit der halleschen theologischen Fakultät verbundenen als auch auf den von dort ausstrahlenden Pietismus. Die davon abweichende Semantik erschließt sich aus dem Kontext.
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Andres Straßberger
3. Herrnschmidts Homiletikvorlesung präsentiert sich nicht nur in einem klaren, übersichtlichen Aufbau, sondern auch als konzeptionell vollständiger und systematisch in sich geschlossener Entwurf. Angesichts der Tatsache, dass nur wenige pietistische Predigtlehrbücher aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannt sind, steigert dies den Wert der Nachschrift erheblich. Denn damit wird eine wichtige Lücke in der Entwicklungsgeschichte pietistischer Homiletik, vor allem was die hallische Traditionslinie betrifft, geschlossen.18 Eröffnet werden die Ausführungen mit einer geistlichen Betrachtung, »Votum initiale« überschrieben, die im Anschluss an 2 Tim 1,6 erfolgt (S. 1–5).19 Daran schließt eine 200seitige »Tractatio praeliminaris« an (S. 5–210), in deren letztem Paragraphen die Gliederung der Hauptvorlesung, die sich nachfolgend auf sieben Kapitel erstreckt und die im Manuskript rund 1250 Seiten füllt, vorgestellt und begründet wird (S. 211–1475). Ein »Votum finale« überschriebenes Schlussgebet beendet die Ausführungen (S. 1476f.). In extrahierter Form liegt der Vorlesung demnach folgender Aufriss zugrunde : 18 Die Linie der akademisch-homiletischen Lehre an der theologischen Fakultät in Halle reicht im engeren Sinne von Joachim Justus Breithaupt (1658–1732) und Paul Anton (1661–1730 ; zu dessen Homiletik siehe den Beitrag von Dietrich Blaufuß in diesem Band) über August Hermann Francke (1663–1727 ; zu dessen homiletischem Neuansatz Andres Straßberger : »Ich glaube, darum rede ich«. Zur Konzeption einer ›Homiletik des Affekts‹ im hallischen Pietismus. In : Christian Soboth, Udo Sträter [Hg.] : »Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget« : Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Bd. 1. Halle 2012, S. 259–270) und Joachim Lange (1670–1744) bis hin zu Johann Jakob Rambach (1693–1735) und dessen homiletikgeschichtlich wichtigem Predigtlehrbuch Erläuterung über die Praecepta homiletica (Gießen 1736, 21746 ; ausführlich bibliographiert in Anm. 25). Bei Breithaupts und Langes Homiletiken ist zu berücksichtigen, dass diese bereits vor Aufnahme der Lehrtätigkeit ihrer Verfasser an der Fridericiana zuerst in Kiel (Breithaupt : Institutio hermeneutico-homiletica, hoc est, praecepta interpretandi scripturam sacram et concionandi, ex divi Augustini de doctrina christiana libris quatuor. Kiel 1685 ; u.ö.) bzw. in Berlin (Lange : Oratoria sacra, ab artis homileticae vanitate repurgata. Frankfurt/Main 1707, Halle/Saale 2 1717) abgefasst wurden. Rambachs postum veröffentlichte Homiletik ist hingegen primär als Produkt seiner halleschen Phase anzusehen, geht sie doch auf Vorlesungen zurück, die er hier erstmals 1726 gehalten hat. – Vgl. zum Ganzen auch Andres Straßberger : »… reden und predigen nach dem, was der Geist Gottes eingibt« : Aspekte der Theorie und Praxis der homiletischen Ausbildung an der Universität Halle zurzeit August Hermann Franckes. In : Pietismus und Neuzeit [PuN] 43, 2017 (erschienen 2019), S. 33–70. 19 Siehe auch Abb. 1 (S. 94), wo der Anfang des »Votum initiale« wiedergegeben ist. – Seitenzahlen in Klammern entsprechen im Folgenden der durchlaufenden Paginierung des Manuskripts.
Homiletikvorlesung Johann Daniel Herrnschmidts
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Votum initiale (S. 1–5) Tractatio praeliminaris (S. 5–210) §. 1 de Natura et indole verae Eloqventiae (S. 5–102) §. 2 de applicatione ad veram eloqventiam sacram (S. 103–169) §. 3 de subsidiis ad eloqventiam sacram (S. 169–206) §. 4 de methodo tractandi (S. 206–210) Cap. I. de fine Sermonum Sacrorum et quo pacto Orator Sacer debeat esse comparatus (S. 211–447) Cap. II. de Fonte rerum Sacrarum qvae in concionibus proponenda sunt, sive de Scriptura Sacra, ejusque interpretatione legitima (S. 447–854) Cap. III. Qvo[modo] / de Ratione / de Methodo qvaevis in justum ordinem redigendi de Inventione, Dispositione, Partitione et Variatione (S. 855–1080) Cap. IV. de Tractatione et Simul de Argumentis amplificantibus et illustrantibus (S. 1080–1202) Cap. V. de argumentis commoventibus seu de Pathologia Sacra (S. 1202–1266) Cap. VI. de Ornamentis concionis (S. 1266–1345) Cap. VII. de iis, quae observanda sunt circa singulares concionis partes (S. 1345–1475) Votum finale (S. 1476f.)
Im Folgenden konzentriert sich die Aufmerksamkeit vornehmlich auf den Präliminarteil, weil Herrnschmidt hier eine prinzipielle Homiletik in didaktisch motivierter Form systematisch entwickelt.20 Zur methodischen Begründung dieses Teils, der, was an dieser Stelle hervorzuheben ist, sich in seiner Anlage und Ausführlichkeit erheblich von einer zu Vergleichszwecken herangezogenen Homiletik lutherisch-orthodoxen Typs des 17. Jahrhunderts unterscheidet,21 be20 Zur Unterscheidung von prinzipieller, materialer und formaler Homiletik siehe Hans Martin Müller : Homiletik. In : Theologische Realenzyklopädie, Bd. 15. Berlin, New York 1986, S. 526– 565, hier S. 526f. In der homiletischen Fachwissenschaft wird diese Unterscheidung seit längerem problematisiert ; im Bereich der historischen Homiletik eignet sie sich noch immer als heuristisches Instrument. 21 Zu Vergleichszwecken wird im Folgenden des öfteren die meines Erachtens bedeutendste lutherisch-orthodoxe Homiletik herangezogen : Johann Hülsemann : Methodus concionandi, auctior edita, cui accesserunt ejusdem autoris methodus studii theologici, in privatum quorundam usum conscripta ; nec non doctoris Johannis Forsteri methodus ac formulae concionandi, eiusdemq(ue) et […] Leonharti Hutteri, ac Balthasaris Meisneri […] consilia de studio theologico, et lectione biblica recte instituendis […] editio sexta. Wittenberg 1671 [Erstausgabe : Wittenberg 1632]. – Beim Vergleich mit Hülsemanns Homiletik wird man mit voreiligen Verallgemeinerungen in Richtung ›der ganzen lutherischen Orthodoxie‹ vorsichtig sein müssen. Unsere Kenntnis der homiletischen Landschaft des 17. Jahrhunderts ist noch immer unzureichend. Sollte die Forschung in diesem Be-
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Abb. 1 : Erste Seite aus der Vorlesungsnachschrift b[eati] Herrnschmidii Collegium homileticum. Bd. 1 (Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle/Saale, Hauptarchiv H 24a+b).
merkt Herrnschmidt, dass »darinn der rechte Grund zur wahren Beredsamkeit in Geistlichen [Dingen] soll geleget werden« (S. 5).22 Was im Präliminarteil vorgetragen wird, ist also als Basis und Grundlegung der im Hauptteil vorgetragenen materialen und formalen Homiletik zu verstehen. Dafür fasst Herrnschmidt reich Fortschritte machen, dürfte sich zeigen, dass hier sehr unterschiedliche Strömungen lebendig waren. Der mit Hülsemanns Homiletik verbundene Traditionsstrom der ›Leipziger Predigerkunst‹ ist dann als einer unter mehreren, wenngleich noch immer als ein sehr bedeutsamer anzusehen. Zur Sache vgl. meinen Beitrag : Andres Straßberger : Die ›Leipziger Predigerkunst‹ im (Zerr-) Spiegel der aufklärerischen Kritik : Plädoyer für eine geschichtliche Betrachtung orthodoxer Homiletik. In : Andreas Gößner (Hg.) : Die Theologische Fakultät der Universität Leipzig. Personen, Profile und Perspektiven aus sechs Jahrhunderten Fakultätsgeschichte. Leipzig 2005, S. 162–218, bes. S. 204–218. 22 Herrnschmidt : Collegium homileticum (Anm. 5), Bd. 1, S. 5f.: »Ehe wir zur Sache schreiten, will ich eine praeliminar Tractation praemittiren, darinn der rechte Grund zur wahren Beredsamkeit in Geistlichen [Sachen] soll geleget werden. Wir wollen alß I. betrachten. Naturam et indolem verae Eloqventiae. II. wollen wir dieses ad Eloqventiam sacram appliciren, und zeigen, worinn die wahre Beredsamkeit auf der Kanzel oder in Geistlichen Sachen bestehet. III. will ich von einigen Subsidiis und vom Methodo tractandi etwas hinzufügen, und die Praeliminar Tractation damit beschließen.«
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in § 1 vor allem die sprachlich-rhetorische Dimension des Predigtgeschehens ins Auge. Er setzt mit der These ein, dass über die Predigt viele alberne Urteile im Umlauf seien, da »die meisten Menschen […] keinen rechten Begrief von der wahren Beredsamkeit« (S. 6) hätten. Deswegen stellt er seinen Ausführungen eine Definition voran, die eben diesen Begriff wahrer Beredsamkeit formulieren will und anhand derer die didaktische Auffächerung des Themas vorgenommen wird. Die Definition lautet : »Eloqventia est habitus, ea, qvae recte excogitavimus, apte eloqvendi, ut Auditores ad veritatem et agnoscendam et admittendam perducantur« (S. 6).23 Gleich im Anschluss an diese Definition, die in ihrer auf die geistliche Beredsamkeit applizierten Form (§ 2)24 nahezu wortwörtlich in der 1736 postum veröffentlichten Homiletik des Ex-Hallensers Johann Jakob Rambach wiederkehrt und damit auf äußerst interessante wirkungsgeschichtliche Linien verweist (denen an dieser Stelle jedoch nicht weiter nachgegangen werden kann),25 artikuliert Herrnschmidt einen wesentlichen Aspekt seiner Neubegründung der homiletischen Aufgabe :26 Er möchte die Frage nach der Natur und Beschaffenheit 23 »Diese Definition will ich qvoad singula verba erklären. Wir wollen erstlich betrachten A. das Wort Eloqventia. B. warum es heißet Habitus. C. ea qvae recte excogitavimus. D. apte eloqvendi. E. ut Auditores ad veritatem agnoscendam et F. admittendam permittantur« (ebd., S. 6). 24 Herrnschmidt : Collegium homileticum (Anm. 5), Bd. 1, S. 103, § 2 : »Damit wir aber ordentlich verfahren, wollen wir mutandis mutatis eine definition von der geistlichen Beredsamkeit geben und die selbe gleichfals ordentlich erklären : Eloqventia sacra est habitus de rebus divinis ex. S.S. cognitis apte verba faciendi, ut auditores ad veritatem agnoscendam et admittendam, adeoque ad fidem et per eam ad salutem aeternam perducantur.« 25 Johann Jakob Rambach : Erläuterung über die Praecepta Homiletica, von dem seligen Auctore zu unterschiedenen mahlen in Collegiis vorgetragen, nun aber aus dessen Manuscriptis heraus gegeben von Johanne Philippo Fresenio. Gießen 1736, S. 4, § 2 : »Homiliae igitur vocabulum est synonymum eloquentiae sacrae, per quam intelligimus spiritualem habilitatem de rebus divinis ex sacra scriptura cognitis, debito modo loquendi, ut hoc modo auditores ad veritatem cognoscendam, admittandam, tandemque ad aeternam salutem perducantur.« – Da Herrnschmidts Definition in der Formulierung ohne homiletikgeschichtliche Vorläufer ist und auch nicht durch Druck öffentlich verbreitet wurde, können die Übereinstimmungen nur dadurch erklärt werden, dass Rambach selbst Hörer einer Homiletikvorlesung Herrnschmidts war oder Zugang zu einer Vorlesungsnachschrift (entweder zu der hier benutzten oder zu einer anderen) hatte. Seiner Erläuterung über die Praecepta Homiletica liegt, wie in Anm. 18 angedeutet, nach Ausweis der Vorrede (Bl. )(2r) das Manuskript einer Vorlesung zugrunde, die er 1726 erstmals in Halle hielt. Die inhaltliche Nähe zu Herrnschmidts Homiletik kann daher nicht wirklich überraschen. 26 Zur Neubegründung der Homiletik bei Herrnschmidt bzw. im Pietismus das Folgende nur als Hinweis : Während es in der Makrostruktur der Homiletiken von Herrnschmidt und Hülsemann (Methodus concionandi, Anm. 21) zwar Ähnlichkeiten gibt, entwickeln sie die Predigttheorie inhaltlich auf sehr unterschiedlichen Wegen. Bei Hülsemann ist dem homiletischen Hauptteil
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wahrer Beredsamkeit zunächst nach der Vernunft analysieren und zur Darstellung bringen. Im Zusammenhang seiner Definition hört sich das so an : daß ich zugleich bei diesem Punckt die rechte Haupt principia einer veritablen Beredsamkeit nach der Vernunft will zeigen, daraus hernach gar leicht und in der schönsten Ordnung kan deriviret werden, was es mit der Prediger Kunst vor eine Bewandniß habe« (S. 7 ; Hervorhebung A. S.).
Dieser ebenso unzweideutige wie im Munde eines Pietisten zunächst vielleicht irritierende Vernunftbezug, der die rhetorische Fundierung der Predigt leitet, wird in seinen sachlichen Bezügen dort evident, wo Herrnschmidt das »ea qvae recte excogitavimus« seiner Definition näher erläutert (S. 42–66). Hier führt er aus : Nemlich das ist nun das Haupt Werck[,] wär recht reden will muß A.) recht gedencken lernen. Denn die Wort sind ein Bildniß und Abdruck unserer Gedancken. Wer nun nicht recht gedenckt, mein Gott ! wie ist es möglich daß er recht reden kann […] (S. 42f.).
Denn :
(ebd., S. 19–257 [Kap. 1–13]) zwar auch ein Prolegomena-Teil (ebd., S. 1–19) vorangestellt, der laut Inhaltverzeichnis »de naturâ Concionis et materiae divisione« (ebd., S. 258) handelt und der für das Weitere ebenfalls eine systematisierende Funktion hat. Aber anders als bei Herrnschmidt wird die Homiletik hier als eine textwissenschaftliche Kunstlehre definiert und entfaltet, die lehrt, einen Bibeltext zur Lehre, Mahnung und zum Trost der Hörer richtig zu disponieren und vorzutragen (ebd., S. 1) : »1. Oratoria Sacra est textûs cujusdam Biblici artificiosa, et ad instituendum et arguendum in doctrinâ, ad informandum et corrigendum in moribus, ad consolandum denique apta dispositio, et enunciatio.« Anders gesagt : Während Hülsemanns Homiletik ihren konzeptuellen Ausgangspunkt beim Predigttext nimmt, um dem reformatorischen sola-scriptura-Prinzip homiletisch Rechnung zu tragen, setzt Herrnschmidt bei der Eloquenz des Predigers als eines Habitus ein, der für die Aufschlüsselung der Predigtaufgabe den Dreh- und Angelpunkt bildet. Die Homiletik wird damit von der Exegese prinzipiell unterschieden und fachwissenschaftlich auf eigene Füße gestellt. Den Hintergrund für diesen homiletischen Paradigmenwechsel bildet die sogenannte anthropologische Wende im Denken der Neuzeit. Zur dem selben Prinzip verpflichteten Neubegründung der Homiletik bei A. H. Francke siehe Straßberger : »Ich glaube, darum rede ich« (Anm. 18), S. 259–270, hier bes. S. 270 ; zum größeren Zusammenhang des hier nur angedeuteten homiletikgeschichtlichen Entwicklungsprozesses siehe Andres Straßberger : Johann Christoph Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik. Tübingen 2010, S. 547f.
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Das müßen ja alle Leute erkennen, die Auditores die ein Orator oder Prediger hat, es sind ja Menschen. Menschen sind ja nun keine Stöcke und Steine. Sind sie Menschen so müßen es ja vernünfftige Creaturen seyn, denn wir pflegen ja alle in der Schul zu lernen : Homo est animal rationale. Sind es nun vernünftige Creaturen, so muß ein Redner auch vernünftig reden, und muß in seinen raisonnements, und gantzer Rede per arg[umen]ta dieselbe überzeugen sonst wird nichts draus : Es möchte jemand sagen : Wo lerne ich das, daß ich meine Gedanken soll recht faßen, oder daß ich recht denke. R[esponsum.] Dieses lernet uns die Philosophie, wenn wir reden von der Eloquenz in genere, dann zum rechten Gedencken gehören 2[er]ley. 1.) das obiectum. 2. der modus. Den Modum recht zu gedencken zeuget mir die Logic (S. 43f.).
Während sich Herrnschmidt, was die Art und Weise des rechten, vernünftigen Denkens betrifft, an anderen Stellen beispielsweise auf Descartes und Malebranche beruft,27 ist es im zitierten Zusammenhang ein Cicerozitat, das ihm zur autoritativen Absicherung seiner These dient, dass die wahre Beredsamkeit der Philosophie, insbesondere einer vernünftigen Logik,28 bedürfe : Wann wir nun also von der Weltlichen Beredsamkeit reden, so siehet man daraus zugleich wie nöthig die Philosophie sey ad veram eloquentiam. Wollt ihr mir es nicht glauben, so werdet ihr es vielleicht dem Cicero glauben, dem vortrefflichen Römischen Redner. Hört ! was dieser vortreffliche Mann spricht [Cicero : Orator 14] : Positum sic in primis est sine Philosophia non posse effici, quem quaerimus eloquentem. Das sage ich 1. ist e[xempli] c[ausa] gesetzt, ohne Philosophie kann ein rechter beredter Mann nicht gefunden werden, den wir doch suchen (S. 44f.).
Im Blick auf diverse Aspekte des rhetorischen Produktionsprozesses macht der Theologieprofessor diese These sodann anhand von fünf Observationen transparent, die hier auszugsweise dokumentiert werden :
27 Beispielsweise nennt Herrnschmidt : Collegium homileticum (Anm. 5), Bd. 1, S. 11, Descartes »de[n] große[n] Philosophus« und bezieht sich dabei auf dessen Abhandlung über die Methode, richtig zu denken (Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences). Und ebd., S. 21, heißt es : »Kurtz : es ist fast keine Kunst und Wißenschaft die nicht am füglichsten und leichtesten per imitationem gelernet wird, und ist nicht zu leugnen wie solches der berühmte Philosophus Mr. Malebranche wohl remarquiret hatte : die Menschen hätten von Natur einen Instinctum ad imitandum.« 28 Ausführlich zum Nutzen der Philosophie, insbes. der Logik, in der Theologie handelt Herrnschmidt : Collegium homileticum (Anm. 5), Bd. 1, S. 295–303.
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1. obs[ervatio] : Einer der recht gedencken will, der muß iustas et accuratas Ideas haben von solchen Sachen davon er reden will. Das ist das 1ste requisitum (S. 46). 2. Weil die meisten Ideen, welche wir von Sachen haben, davon wir reden Idea composita sind, ist höchstnöthig, daß man weiß die Ideas zu evolviren, und NB daraus entstehet ein großer Uberfluß der Argumentorum probantium et illustrantium (S. 47f.). 3. Wenn man recht gedencken will, so muß man die Ideas wiederum unter einander combiniren können und aus dieser combinatione Idearum entsteht dann in der That die Inventio (S. 59). 4. Wenn man ferner recht gedenken will, so muß man sich auch bemühen, die Ideen accurat zu connectiren und aus dieser connexion entstehen denn die propositiones und asserta selbsten (S. 62). 5. Wenn ein Mensch nun recht gedencken will, so muß er sich auch befleißigen, daß er in seinen Vernunfft-Schlüßen richtig ist, denn daraus entstehet nun die Probation und der Beweiß. Alles was nun ein Orator darthun will, das muß er mit bündigen und unwiderrufflichen rationibus demonstriren. Es ist nicht nöthig, daß ich alsobald einen Syllogismum in forma proponire […] Das gehet zwar in Collegiis philosophicis an, aber nicht wenn man einen Oratorem abgeben will, auch nicht, wenn man auf der Cantzel stehet, das würde gar zu Schulfüchsisch und pedantisch heraus kommen p[erge] man kan im übrigen doch mit einer Manier die Sache so proponiren, daß doch allezeit der Vernunfftschluß selbst seine Richtigkeit hat. Also muß nun ein vernünff tiger Orator darinn sich fleißig exerciren, daß er lerne von allen Sachen Vernunfftschlüße machen, solches aber hernach mit einer guten Manier zu proponiren (S. 63f.).
Ohne diese Ansichten an dieser Stelle im einzelnen auf die Logik eines bestimm ten Philosophen zurückführen zu wollen (am ehesten mag man hier vielleicht noch an Buddeus, der bei den halleschen Theologen Anerkennung genoss, denken),29 formuliert der pietistische Theologieprofessor damit nachdrücklich die homiletische Notwendigkeit eines ›vernünftigen‹ Denkens. Zur Frage von dessen Erwerb bemerkt er wenig später :
29 Obschon im Vorlesungsmanuskript – wenn ich richtig sehe – Buddeus’ Name an keiner Stelle explizit genannt wird, so lässt sich doch Herrnschmidts Kenntnis von und sein Rekurs auf dessen philosophische und theologischen Positionen in einem anderem Zusammenhang nachweisen : Im Einblattdruck des Vorlesungsverzeichnisses der Universität Halle für das Sommersemester 1719 kündigt Herrnschmidt eine Vorlesung zur theologischen Moral nach Buddeus an. – Johann Franz Buddeus (1667–1729 ; zu ihm siehe Ernst Koch in : RGG (Anm. 12), Bd. 1, 1998, Sp. 1826) lehrte von 1693 bis 1705 als Professor für Ethik an der neugegründeten halleschen Universität, bevor er auf einen theologischen Lehrstuhl nach Jena wechselte.
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Ja, möchte man sagen : Wie komme ich darzu ? R[esponsum.] Die fundamenta zeiget abermal die Logique oder die Vernunft-Lehre, doch thut die Ubung auch gar viel darzu, man muß aber auch Exempel geben, u. das ist es, was ich ins künftige durch Exempel gantz deutlich zeigen will, da will ich sonderlich die Lehre de Meditatione30 ihnen aufs deutlichste proponiren, und mit vielen Exemplis neml. Exemplis homileticis weisen ; wie man sich soll angewöhnen recht zu gedencken ; […] (S. 65).
4. Mit seinem Plädoyer für einen ›vernünftig‹ denkenden und überzeugend argumentierenden Redner resp. Prediger bekennt sich der hallesche Theologieprofessor nicht nur zur funktionalen Unentbehrlichkeit einer ›vernünftigen‹ Philosophie, insbesondere Logik, in homiletischer Absicht, sondern er erweist sich in rhetorikgeschichtlicher Perspektive auch als ein Vertreter jener zeitgenössischen Strömung, die in der Forschung unter dem Etikett einer ›Rhetorik der Frühaufklärung‹ firmiert. Als deren Protagonisten gelten u. a. Johann Andreas Fabricius (1696–1769), Friedrich Andreas Hallbauer (1692–1750) und Johann Christoph Gottsched (1700–1766).31 Die Kenntnis der damit zusammenhängenden 30 Davon handelt insbes. Herrnschmidt : Collegium homileticum (Anm. 5), Bd. 1, S. 447–854 (= Cap. II.) »de Fonte rerum Sacrarum quae in concionibus proponenda sunt, sive de Scriptura Sacra, ejusque interpretatione legitima«. Im Rahmen der rhetorischen Produktionsstufen handelt dieser Abschnitt von der homiletischen inventio. Vgl. zum Verständnishintergrund den erwähnten Zedlerartikel : Universal-Lexicon (Anm. 3), Sp. 1298–1301. 31 Vgl. dazu insbes. Gunter E. Grimm : Von der ›politischen‹ Oratorie zur ›philosophischen‹ Redekunst : Wandlungen der deutschen Rhetorik in der Frühaufklärung. In : Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 3, 1983, S. 65–96 ; Hermann Stauffer : Erfindung und Kritik. Rhetorik im Zeichen der Frühaufklärung bei Gottsched und seinen Zeitgenossen. Frankfurt/Main 1997 ; Anna Echterhölter : Die Dinge im Vordergrund. Strategien der Sachlichkeit in akademischen Totenreden. In : Frauke Berndt, Daniel Fulda (Hg.) : Die Sachen der Aufklärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. S. Hamburg 2012, S. 85–96 (zu Hallbauer) ; Dietmar Till : Rhetorik der Aufklärung – Aufklärung der Rhetorik. In : Eric Achermann (Hg.) : Johann Christoph Gottsched (1700–1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft. Berlin 2014, S. 241–250. – Über Hallbauer hinausgehend wären als weitere mit Halle in Verbindung stehende Rhetoriklehrer und -reformer zu nennen der Bischof der Mährischen Brüder Gottfried Polycarp Müller (1684–1747) und Hieronymus Freyer (1675–1747 ; ab 1705 Inspektor des Halleschen Pädagogiums, ab 1707 Leiter des Lehrerseminars). Zu Müllers Rhetorik siehe Reinhard Breymayer : Pietistische Rhetorik als Eloquentia nov-antiqua, mit besonderer Berücksichtigung Gottfried Polykarp Müllers. In : Traditio, Krisis, Renovatio. Festschrift Winfried Zeller. Hg. von Bernd Jaspert u. Rudolf Mohr. Marburg 1976, S. 258–272 (Auszug in : Josef Kopperschmidt [Hg.] : Rhetorik. Bd. 2 : Wirkungsgeschichte
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umfassenden philosophisch-rhetorischen Entwicklungsprozesse vorausgesetzt, kann es vom Grundsatz her eigentlich nicht verwundern, wenn neben den drei Genannten32 mit Herrnschmidt nun ein weiterer Homiletiker zu identifizieren ist, der sich den zeitgenössischen Tendenzen einer frühaufklärerischen Rhetorik verbunden zeigt und diese in predigttheoretische Zusammenhänge integriert. Obwohl die Forschung der letzten Jahrzehnte verschiedentlich gezeigt hat, dass der hallische Pietismus per se keineswegs rhetorikfeindlich war,33 irritiert der Gedanke dennoch nicht unerheblich, dass ausgerechnet ein hallescher Pietist ›vernünftige‹ Logik und antike Rhetorik auf derart programmatische Weise zur Lösung der homiletischen Aufgabe bemüht. Er scheint so gar nicht mit dem Narrativ des weltabgewandten, bibelfixierten Frommen zu konvergieren. Das noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem von theologischer, aber auch von literaturwissenschaftlicher Seite beförderte und breitflächig vermittelte Bild einer angeblichen Feindschaft des Pietismus gegen die ›Weltweisheit‹ und der Rhetorik. Darmstadt 1991, S. 127–137) ; zu Freyers Rhetorik siehe Wolfgang Martens : Hallescher Pietismus und Rhetorik. Zu Hieronymus Freyers Oratoria. In : ders : Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989, S. 1–23. 32 Fabricius, Hallbauer und Gottsched sind nicht nur als Rhetoriker, sondern auch als Homiletiker und Predigtreformer in Erscheinung getreten, Hallbauer als Theologieprofessor sogar ›hauptberuflich‹. Von ihm stammt das verbreitetste Predigtlehrbuch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Nöthiger Unterricht zur Klugheit erbaulich zu Predigen, zu Catechisiren und andere geistliche Reden zu halten. Nebst einer Vorrede von der Homiletischen Pedanterey. Jena 1723, 51747). Zu Gottsched als Predigtreformer siehe Straßberger : Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt (Anm. 26). 33 Vgl. die zahlreichen Plädoyers Breymayers für die Wahrnehmung der Wechselbeziehungen von Pietismus und Rhetorik ; zusammenfassend und mit weiterer Literatur siehe ders : Pietismus. In : Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 1191–1214. Bahnbrechend im Wandel der Wahrnehmung war in dieser Hinsicht auch der erwähnte Aufsatz von Martens : Hallescher Pietismus und Rhetorik (Anm. 31), S. 1–23 ; wie wenig Berührungsängste im Umgang mit antiken (rhetorischen) Texten in den Schulgründungen Franckes bestanden, zeigt zuletzt eindrücklich die Arbeit von Klaus-Dieter Beims : Antike Texte an christlichen Schulen. Die römischen Autoren im Lateinunterricht des halleschen Pietismus. Halle 2015, bes. S. 95f., 146–148, 156–158, 175–177, 179–183. Beims arbeitet nicht nur die intensive rhetorische Schulung im halleschen Unterricht heraus, sondern er zeigt auch, dass diese dem alten rhetorischen Dreischritt (praecepta, exercitatio und imitatio) bzw. den klassischen Bearbeitungsschritten der Rede (vor allem inventio, dispositio und elocutio) folgte (ebd., S. 175) ; zu Freyer als vielleicht einflussreichstem pietistischen Rhetoriklehrer ebd., S. 192–201. Zur Rezeption rhetorischer Traditionen in pietistischen Homiletiken des 18. Jahrhunderts, insbes. bei Rambach und dem pietistisch beeinflussten Friedrich Andreas Hallbauer, siehe die ungedruckte Arbeit von Claudia Langosch : Die officia oratoris unter besonderer Berücksichtigung des movere in christlichen Homiletiken des 18. Jahrhunderts. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie vorgelegt der Philosophischen Fakultät II der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2010, bes. S. 110–150.
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die Künste, insbesondere die Rhetorik,34 behindert nach wie vor die Wahrnehmung der ›weltzugewandten‹ Seiten pietistischen Denkens. Nicht zuletzt dürfte aber auch die ›causa Wolffiana‹35 und die auf sie bezogene Historiographie zur Schablonisierung von ›vernunftfeindlichen‹ Pietisten und ›progressiven‹ Aufklärern beigetragen haben. Nicht selten wird daher das seitdem Pietismus und Aufklärung Trennende in die Zeit vor dem Bruch pauschal rückprojiziert und behindert so die Wahrnehmung widersprechender Befunde.36 34 Die These einer angeblichen Kunstfeindlichkeit der Pietisten vertraten in dieser Hinsicht besonders wirkmächtig Wolfgang Schmitt : Die pietistische Kritik der »Künste«. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert. Köln 1958, sowie Manfred Windfuhr : Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966. Gegen deren Ansichten wendet sich unter Hinweis auf die neueren Forschungen entschieden Björn Hambsch : ›… ganz andre Beredsamkeit‹. Transformationen antiker und moderner Rhetorik bei Johann Gottfried Herder. Tübingen 2007, S. 18–20. 35 Albrecht Beutel : Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie. In : ders : Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus. Tübingen 2007, S. 125–169 ; Andreas Pečar, Holger Zaunstöck u. Thomas Müller-Bahlke (Hg.) : Die Causa Christian Wolff. Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe. Halle 2015. 36 Eine solche Tendenz begegnet beispielsweise im ansonsten äußerst lesenswerten, hervorragend recherchierten Beitrag von Stefan Borchers zu Johann Faccius, in welchem dessen spätere publizistische Fürsprache für den verfemten Philosophen eine pietistische Profilierung des früheren halleschen Theologiestudenten (1720–1724) von vornherein auszuschließen scheint ; Stefan Borchers : Johann Faccius (1698–1775). Christian Wolffs anonymer Verteidiger von 1736. In : Das Achtzehnte Jahrhundert 41/1, 2017, S. 46–69. So wird ohne erkennbaren Hinweis in den Quellen Faccius unterstellt, er habe sich mit seiner Zulassung zu einem halleschen Freitisch »nolens volens dem Studienprogramm des halleschen Pietismus verschrieben« (ebd., S. 56 [Hervorhebung A. S.]). In eine ähnliche Richtung weisen die Ausführungen ebd., S. 58, wo von Faccius behauptet wird, er habe sich »während seiner Zeit in Halle der innerlichen und äußerlichen Formung durch den Pietismus unterwerfen müssen«, was im zitierten Zusammenhang dem Leser suggeriert, diese ›Unterwerfung‹ sei gegen die ›eigentlichen‹, d. h. ›aufklärerischen‹ Ansichten Faccius’ erfolgt. Vielleicht war es ja pietistische Überzeugung oder zumindest Sympathie für den Pietismus, die ihn in Halle Theologie studieren ließ ? Was spricht dagegen, Faccius als einen pietistischen Studenten zu sehen, der erst im Verlauf der ›causa Wolffiana‹ zu der Ansicht gelangte, dass die Anschuldigungen seiner theologischen Lehrer unzutreffend seien ? Zu Faccius äußert sich auch Simon Grote : When Innovation Goes out of Fashion : Joachim Lange’s (1670–1744) Lectures to Empty Benches (Manuskript, Juni 2017). Als Beispiel für einen solchen Meinungswechsel, der die pietistische Frömmigkeit des Betreffenden damit keineswegs obsolet machte, kann vor allem Johann Gustav Reinbeck stehen, der ein langjähriger Schüler und Vertrauter Franckes war, bis er durch die ›causa Wolffiana‹ zum bedeutendsten öffentlichen Fürsprecher Wolffs am Berliner Hof avancierte ; vgl. dazu ausführlich bei Andres Straßberger : Johann Gustav Reinbeck (1683–1741). Pietismus und Aufklärung. In : Albrecht Beutel (Hg.) : Protestantismus in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte. Bd. 1 : Vom 17. Jahrhundert bis zum Unionsaufruf 1817. Frankfurt/Main
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Doch verlaufen die Linien zwischen Pietismus und Aufklärung keineswegs trennscharf, weder nach 1723 und noch viel weniger davor.37 Für die Zeit von Herrnschmidts Homiletikvorlesung zeichnet sich eine Eskalation in Richtung der ›causa Wolffiana‹ noch nicht ab, die im Ergebnis für den hallischen Pietis mus nicht weniger gravierend war als für Wolff selbst.38 Daher erscheint die Rezeption vernunftaufklärerischer und aufklärungsrhetorischer Wissensbestände innerhalb der halleschen Theologie (Homiletik) im Jahr 1718 ebenso zeit- wie sachgemäß, vor allem unter der Voraussetzung, dass die Rezeption einer ›vernünftigen‹ Philosophie nach wie vor rein funktional erfolgte. Denn an der Stellung der Philosophie als ›ancilla theologiae‹ wird bei Herrnschmidt selbstverständlich nicht im geringsten gerüttelt.39 Was aber bedeutet dieser Befund für die Predigtgeschichtsschreibung ? Diese steht, soweit es den den hallischen Pietismus betreffenden Erzählstrang betrifft, mit Herrnschmidts Homiletik vor der Aufgabe einer Revision ihrer Makroerzählung. Ein Blick in die bislang einzige, allerdings über einhundert Jahre alte Darstellung, die dessen Beitrag als pietistischer Predigtreformer zu würdigen versucht, verdeutlicht dies handgreiflich.40 Aus der Sicht eines praktischen 2009, S. 163–183. Ein anderer Pietist hallescher Prägung, der als Theologe Positionen des Wolffianismus rezipierte, war Franz Albert Schultz (1692–1763) ; zu ihm siehe die instruktive Studie von James Jakob Fehr : »Ein wunderlicher nexus rerum«. Aufklärung und Pietismus in Königsberg unter Franz Albert Schultz. Hildesheim, Zürich, New York 2005. 37 Siehe bei Albrecht Beutel : Spener und die Aufklärung. In : ders : Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus. Tübingen 2007, S. 101–124. 38 Das weitere Schicksal Wolffs ist bekannt. Und soweit es ›den Pietismus‹ betrifft, vermittelt das Beispiel von Rambachs Homiletik einen Eindruck von der Situation im pietistischen Lager. Denn obwohl der Gießener Theologe in anderen Werken den Wert der Philosophie in der Theologie deutlich herausstrich, formulierte er den ›frühaufklärerischen‹ Zuschnitt seiner homiletischen Lehre deutlich zurückhaltender als Herrnschmidt, dessen homiletische Konzeption er aller Wahrscheinlichkeit nach kannte und partiell rezipierte. Es wird berichtet, dass selbst Rambach, der als hallischer Pietist der zweiten Generation par excellence gelten kann und als Schwiegersohn Joachim Langes in engster familiärer Bindung zu Halle stand, sich schweren Vorwürfen ausgesetzt sah, dass er der Vernunft in seinen Predigten viel zu viel Raum einräume ; vgl. dazu Straßberger : Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt (Anm. 26), S. 450 mit Anm. 358 u. 360. Die Rückwirkung der ›causa Wolffiana‹ im pietistischen Lager beförderte im homiletischen Kontext eine Polarisierung der homiletischen Positionen von ›Pietisten‹ und ›Aufklärern‹ in Richtung der Rezeption von Vernunftaspekten, was eine Diskurssituation schuf, in der differenzierte Mittelpositionen sich Angriffen aus beiden Lagern ausgesetzt sahen ; vgl. dazu ausführlich Straßberger, ebd., S. 430–451. 39 Walter Sparn : Philosophie. In : Hartmut Lehmann (Hg.) : Geschichte des Pietismus. Bd. 4 : Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004, S. 227–263. 40 Martin Schian : Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt : ein Beitrag zur Geschichte des endenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts. Gießen 1912, S. 46–48.
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Theologen um 190041 sah Martin Schian die Erwartungen, die der Titel von Herrnschmidts einzigem gedruckten homiletikrelevanten Text, seinem theologischen Programm von 1716, bei ihm geweckt hatte, nach der Lektüre zwar »nicht gänzlich, aber doch zum großen Teile enttäuscht«.42 Das Resümee seiner von praktisch-theologischen, insbesondere rhetorikkritischen Interessen enggeführten und zudem einem zeitgenössischen Pietismusverständnis verhafteten Sichtweise fällt ernüchternd aus :43 Neues kann er in Herrnschmidts Homiletik kaum ausmachen ; einen innovativen Beitrag zur Entwicklung der Predigttheorie vermag er nicht wirklich zu erkennen. Während im Gefolge Schians44 in den älteren predigtgeschichtlichen Gesamtdarstellungen der Beitrag der pietistischen Predigtreformer daher insgesamt gering geschätzt wird,45 zeigen neuere Forschungen am Beispiel Franckes – und eine 41 Schian arbeitet mit der damals üblichen wissenschaftssystematischen Unterscheidung von Rhetorik und Homiletik, wie er sie für die eigene wissenschaftlich-homiletische Arbeit zur Grundlage machte und trägt dieses Kriterium an die von ihm untersuchten Quellen heran. Dieses Vorgehen beeinflusst seine Analyseergebnisse maßgeblich. – Zu Schians praktisch-theologischer Programmatik siehe Jan Hermelink : Organisation der volkskirchlichen Gemeinde. Martin Schian (1869–1944). In : Christian Grethlein, Michael Meyer-Blanck (Hg.) : Geschichte der praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker. Leipzig 2000, S. 279–330. 42 Schian : Orthodoxie und Pietismus (Anm. 40), S. 46. 43 Ebd., S. 47 : »Das ist natürlich keine prinzipielle Lösung der Frage [sc. des Verhältnisses von Rhetorik und Homiletik ; A. S.]. Die klassische Rhetorik ist damit verworfen, mehr nicht. Zwischen einer geläuterten allgemeinen Redekunst und der Homiletik ist damit keine Grenze gezogen. Kaum irgendwelche prinzipiell eindringende, für eine Scheidung von Rhetorik und Homiletik überhaupt fruchtbare Gesichtspunkte sind gegeben ; lediglich der skrupellosen Advokatenkunst ist die Predigt gegenübergestellt. […] irgendwelche neuen Ansätze zur Bildung einer selbständigen homiletischen Theorie hat er nicht versucht. Vielmehr lenkt er, wenn es sich nun um eine eigene Theorie handelt, stark in die Bahnen der bisherigen, also der orthodoxen Homiletik zurück.« 44 An anderer Stelle urteilt Schian auf der Grundlage seiner zeitgebundenen praktisch-theologischen Prämissen (Schian : Orthodoxie und Pietismus, Anm. 40, S. 61) : »D e m P i e t i s m u s i s t a l lerdings keine Theorie gelungen, die die Eigentümlichkeit der Predigt in der Tiefe erfaßt, ihre ganz besondere Art zum Ausgangspunkt genomm e n u n d a u s i h r a l l e A n w e i s u n g a b g e l e i t e t h ä t t e . Dazu wäre vor allem erforderlich gewesen, daß man den Unterschied der Rede überhaupt von der Predigt im besonderen erkannt und in Konsequenz davon auch zwischen Oratorie und Homiletik scharf unterschieden hätte. Ansätze dazu finden sich, wie wir konstatierten.1) [Anm. bei Schian : Siehe besonders das oben (…) über Herrnschmidt Gesagte.] Aber es ist bei Ansätzen geblieben. Die tiefgreifenden Erkenntnisse vom Wesen und Zweck der Predigt, die der Pietismus immer wieder betont hat, sind nach dieser Seite hin nicht ausgebaut worden. Theoretisch blieb man im gewohnten Gleis.« – Dieses Urteil fällt Schian ohne die Kenntnis der Vorlesungsnachschrift zu Herrnschmidts Homiletik. Ob er allerdings bei deren Kenntnis grundsätzlich anders geurteilt hätte, darf bezweifelt werden. 45 Wichtige Überblicksdarstellungen, z. B. die von Müller : Homiletik (Anm. 20), S. 526–565, stüt-
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umfassende Analyse von Herrnschmidts Vorlesung könnte das untermauern –, dass die Homiletik im Pietismus tatsächlich neu konzipiert wird : nämlich als ›Affekthomiletik‹ im Vorzeichen der anthropologischen Wende zur Neuzeit.46 Indem pietistische Homiletik ihren Ausgangspunkt bei den Eigenschaften des Predigers und seiner Zuhörer nimmt und deren Wechselverhältnis im Lichte der gewandelten Bedingungen von Denken (Logik) und Sprache (Rhetorik) predigttheoretisch reformuliert, führt dies unter dem Strich zu einer wirklichen Neukonzeption der homiletischen Theorie, die sich auch an Form und Inhalt von Herrnschmidts Vorlesung ablesen lässt. Letzteres wird daran sichtbar, dass ›Franckes Kronprinz‹ der homiletischen Affektlehre ein signifikant hohes Gewicht beilegt.47 In diesem Zusammenhang verweist er mit Recht auf die besonderen Verdienste Franckes, die sich dieser mit seiner biblischen Affekthermeneutik erworben hatte.48 Im Verzen sich für ihre Ausführungen zu Orthodoxie und Pietismus weitgehend auf Schians Studie (zur pietistischen Homiletik ebd., S. 535f.). 46 Straßberger : »Ich glaube, darum rede ich« (Anm. 18), S. 259–270. 47 In Herrnschmidts Collegium homileticum (Anm. 5) ist ein ganzes Kapitel im Umfang von über 60 Seiten der Thematik gewidmet (Bd. 2, S. 1202–1266 : Cap. V. de argumentis commoventibus seu de Pathologia Sacra). Die sachliche Begründung dafür findet sich im Präliminarteil, wo es heißt (Bd. 1, S. 98f.) : »Will man nun haben, daß auch die Wahrheit soll angenommen werden, und zu einer kräfftigen Ausübung kommen, ist nöthig, daß der Wille flectiret werde. Dicas : wie geschieht denn das ? R[esponsum] Das geschieht nun freylich, wenn die Affecten moviret werden, und also sehen Sie nun daraus, daß zur wahren Eloquente gehöret, daß man die Affecten könne gewißer maaßen moviren, und dadurch den Willen flectiren. Nun wollen wir davon in der Haupt-Tractation ein mehrers handeln. Dieses observire ich noch, das gröste arcanum der Doctrin de movendis affectibus ist dieses, daß bey uns erst selbsten Affecten sind, rechte Affecten. Wenn nun der Mensch sein Hertz zu einem rechten Affect nicht disponiren kan, so sind alle andere Regeln vergeblich, und heist so viel als nichts. Daher sagt Quintilianus unvergleichlich wohl : Pectus est, quod disertum facit. Sehet ! das sind wenig Worte, es steckt aber das gantze fundamentum darinn, das Hertz ist es, welches einen beredt machet. Wenn das Hertz ist, wie es seyn soll, volles Göttlichen Eifers, voll Liebe und Heiligen Feuers, o so wird es an Worten nicht fehlen. Aber ist das Hertz kalt ; da mögen noch so künstliche Worte seyn, wie sie wollen, es werden die Auditores dennoch kalt bleiben, darum heist es ja wohl recht : pectus est, qvod disertum facit.« 48 Herrnschmidt : Collegium homileticum (Anm. 5), Bd. 1, S. 196f : »Doch […] von denen Scriptoribus, welche gehören ad interpretationem S[acrae] S[cripturae] muß ich sonderlich noch hinzufügen des Hn Professoris Franckii praelectiones hermeneutices, welche zu Halle gedruckt, darinnen eine herrl. und nützliche Einleitung enthalten ad interpretationem S. S. Sonderl. aber weiß ich keinen eintzigen unter allen dergleichen Scriptoribus, welche die Pathologiam Sacram, oder die doctrin de affectibus Sacris so schön und gründl. tractirt hätte, als der Herr Professor Francke p. 393 seq. Denn das ist obiter wohl zu mercken. Will man die Schrifft recht verstehen, so ist doch einer von den nöthigsten puncten, daß ich die affectus Scriptorum weiß. Wenn ich den affect desjenigen, der da redet und schreibet, weiß so kan ich seinen Sinn bald erreichen. Dahin diese doctrin de affectibus Sacris cognoscendis gehet und welche die allerherrlichste ist. Gleichwie aber dieses
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gleich mit Hülsemann49 veranschaulicht die ausführliche und homiletisch zentrale Behandlung der ›Pathologia sacra‹ beim pietistisch-aufklärerischen Predigttheoretiker eindrücklich den homiletischen Paradigmenwechsel, der Herrnschmidts Homiletik zugrunde liegt.50 Daher muss das Bild, das Schian vor über einhundert Jahren von der pietistischen Predigtreform gezeichnet hat, als revisionsbedürftig zurückgewiesen werden.51 5. Im hier untersuchten Zusammenhang wird demnach anschaulich, dass die Neukonzeption der Homiletik im Pietismus nicht nur mit einer Veränderung in der Art und Weise des Vortrags der homiletischen Wissensbestände einhergeht, einer Veränderung, auf die die Formulierung »nova methodo« in der Ankündigung von von andern meistens vorbey gelaßen wird, oder doch nur gantz kurtz und in compendio geschicht ; Also hat hingegen der H. Francke desto größern Fleiß angewendet, diese doctrin recht accurat und gründl. vorzustellen.« – Nur nebenbei weise ich darauf hin, dass mit Herrnschmidts Erwähnung von Franckes Verdiensten um eine ›Hermeneutik des Affekts‹ ein weiterer Neuheitsanspruch verbunden und klar ausgedrückt wird. 49 Hülsemann : Methodus concionandi (Anm. 21), S. 216–221 (cap. XI. De pathologiâ seu ratione movendorum affectuum). 50 Mit üblicherweise der Aufklärung zugerechneten homiletischen Konzeptionen, etwa der Gottscheds oder Johann Joachim Spaldings (1714–1804), die beide im Kern auf eine durch Vernunft initiierte (Gottsched) oder kontrollierte (Spalding) Bewegung des Willens (Affekterregung) setzten, teilt der pietistische Ansatz nicht nur den unbedingten Fokus auf die Praxis (praxis pietatis), sondern auch, wie das Beispiel Herrnschmidts zeigt, das anthropologisch motivierte Interesse am ›ganzen Menschen‹, einschließlich dessen Vernunftfähigkeit. Aspekte einer aufklärerisch konnotierten Vernunftrhetorik werden bei ihm mit der vor allem auf Francke zurückgehenden Konzeption einer biblischen Affekthermeneutik zu einer spezifisch pietistischen ›Affekthomiletik‹ zusammengeführt. Zu letzterem siehe nochmals oben in Anm. 26 sowie bei Straßberger : »Ich glaube, darum rede ich« (Anm. 18), S. 259–270 ; zu Franckes Hermeneutik, der »im Rahmen seiner Auslegungstheorie unter dem Titel ›Pathologia‹ […] eine förmliche Affektenlehre entwickelt«, siehe grundlegend Ulrich Barth : Hallesche Hermeneutik im 18. Jahrhundert. Stationen des Übergangs zwischen Pietismus und Aufklärung. In : Manfred Beetz u. Giuseppe Cacciatore (Hg.) : Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 69–98, hier S. 70–76, Zitat : S. 73 ; zur pietistischen Affektenlehre im Zusammenhang literaturwissenschaftlicher Erwägungen siehe Antje Arnold : Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2012, S. 99–104. 51 Auf Schians defizitäre Sicht der orthodoxen Predigt weist auch hin Jonathan Strom : Pietism and Revival. In : Joris van Eijnatten (Hg.) : Preaching, Sermon and Cultural Change in the Long Eighteenth Century. Leiden 2009, S. 173–218, hier S. 174 in Anm. 1.
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Herrnschmidts Vorlesung zutreffend verweist, sondern auch und vielmehr noch auf inhaltlicher Ebene Wirkung zeigt. Letzteres wird aus diskursstrategischen Gründen demgegenüber nicht öffentlich deklariert, steuert doch die Auseinandersetzung zwischen lutherischer Orthodoxie und hallischem Pietismus zur Zeit von Herrnschmidts Homiletikkolleg auf ihren Höhepunkt, das Merseburger Religionsgespräch von 1719, zu.52 Die ›aufklärerische‹ Wertschätzung ›vernünftiger‹ Logik und ihre Anwendung auf die homiletische Problematik führt dem halleschen Theologieprofessor jedoch nicht nur im ersten, rhetoriktheoretischen Teil der »Tractatio praeliminaris«, sondern insgesamt die Feder. So betont er an verschiedenen Stellen, dass er die behandelten Sachen »deutlich«53, »gründlich«54 und »ordentlich«55 sowie in ihrem »natürlichen« Zusammenhang56 bzw. auf »natürliche« Weise57 darle-
52 Martin Greschat : Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie. Witten 1971, S. 308–317. 53 Herrnschmidt : Collegium Homileticum (Anm. 5), Bd. 1, S. 67, notiert zum apte eloquendum : »Vier Stücke : 1.) daß die Wörter und phrases mit unsern Gedancken accurat überein kommen. 2.) daß unsere Gedancken deutlich und perspicue exprimiret werden […].« Und ebd., S. 96 : »[…] wenn man die Wahrheit deutlich vorträget, so wird ein Mensch dadurch überzeuget, daß daßselbe wahr sey […].« – Vgl. zu Herrnschmidts Anliegen, die homiletischen Wissensbestände »aufs deutlichste [zu] proponiren«, auch das oben bei Anm. 30 gegebene Zitat. 54 Ebd., S. 102 : »Nun ich hoffe auf solche Art werden sie einen recht deutl. und gründlichen Begriff von der wahren Eloquenz haben.« – Ebd., S. 207 : »[…] wollen wir in diesem andern capitel zeigen wie ein künfftiger Prediger erstl. die materialien bekomme, nemlich wie er zu einer gründlichen soliden Erkäntniß der S[cripturae] Sacrae und Theologiae gelangen soll […].« 55 Ebd., S. 103 : »Damit wir aber ordentlich verfahren, wollen wir mutandis mutatis eine definition von der geistlichen Beredsamkeit geben und die selbe gleichfals ordentlich erklären […].« – Ebd., S. 209 : »[…] daß man Gottes Wort deutlich ordentlich und solide vorträgt […].« 56 Ebd., S. 206 im Zusammenhang des Abschnitts ›de Methodo tractandi‹ : »Wir wollen einer gantz natürlichen Ordnung folgen, welche ungezwungen ist und die die Sache sonst erfordert ; wollen also die gantze tractation in 7 capitibus einschließen.« 57 Ebd., S. 114f : »5) sagt man, es würden die gekünstelten Predigten verworffen von rechtschaffenen Th[eolo]gis, und man sähe sie an als Hinderniße des wahren Christenthums. R[esponsum :] das ist recht, wenn man es recht verstehet, allein es kommt nur darauf an, daß man fraget, was heißen den künstl. Predigten. R[esponsum :] in einer Kunst oder Wißenschafft kan m[an] betrachten, an einer Seite die Soliditat, an anderer Seite die vanität, an einer Seite was natürl. an anderer Seite was gezwungenes : an einer Seite was mit dem Scopo uberein kommt, an der anderen Seite, was demselben zuwieder. Die rechte wahre Kunst nun v[el] wahre Wißenschafft der Beredsamkeit bestehet darin 1) daß nichts dabey vor komt, das nach einer vanität schmecket, sondern daß sich alles auf eine soliditat gründet. 2) daß m[an] betrachtet, was natürl. v[el] affectirt ist. Die rechte Kunst führet uns auf dem Gebrauch der Natürl. Dinge, die falsche aber zur affectation v[el] produciret ein gezwungenes wesen.«
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gen will. Damit rekurriert er einmal mehr auf Intentionen und Begrifflichkeiten der philosophischen und rhetorischen Frühaufklärer.58 Dass Herrnschmidt sich der formalen und materialen Neuheit der von ihm vorgetragenen homiletischen Wissensbestände bewusst war, daran besteht nach dem Ausgeführten kein Zweifel. Nicht nur sein wiederholter apologetischer Gestus in Richtung seiner wohl mehrheitlich pietistischen Zuhörer, denen er die theologische (biblische) Legitimität und Sachgemäßheit seines methodisch-›vernünftigen‹ Herangehens wie auch das Recht einer theoretischen Predigtlehre überhaupt wiederholt erläutern muss,59 verweist darauf, sondern auch 58 Vgl. mit Blick auf Gottsched dazu bei Straßberger : Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt (Anm. 26), S. 135f ; Davide Giuriato : »klar und deutlich« : Ästhetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert. Freiburg/Breisgau, Berlin, Wien 2015. 59 Im Anschluss an die Definition der geistlichen Beredsamkeit (siehe dazu oben in Anm. 24) geht Herrnschmidt : Collegium homileticum (Anm. 5), Bd. 1, S. 103–116, im übrigen ausführlich auf die seit der Leipziger pietistischen Bewegung (1689/90) für die pietistische Identität zentrale Frage ein, ob man sich als ein dem Geiste Gottes verpflichteter Prediger überhaupt auf die Homiletik als eine Kunstlehre legen dürfe. Er zergliedert diese Hauptfrage in vier Unterfragen, die er dann jeweils einzeln beantwortet. Die Fragen lauten : »Allein es kommt hier als bald eine Praeliminar Frage für : ob es sich den[n] auch gezieme, daß man auf die geistl. Beredsamkeit sich lege ? und, so zu sagen nach der Kunst predigen lernete, die rationes dubitandi sind folgende : 1) weil es scheinet, als ob die H[eilige] Schr[ift] die Eloquenz, die nach denen Regeln der menschl. Weißheit eingerichtet, gantz und gar verwürffe und verdamme : also sagt Paulus 1 Cor. 1. 17. er habe das Evangelium geprediget nicht mit klugen Worten, auf daß nicht das Creutz [Chris]ti vernichtet werde […]« (ebd. S. 104). – »2) Könte auch iemand deßfals ein dubium machen, weil die Beredsamkeit und der Fleiß den man darauf wendet, scheinet zu streiten cum simplicitate Christiana, die doch sosehr in H[eiliger] Schrifft uns recommendiret wird, so gar daß auch unser Heyland selbsten saget, daß nur die Einfältigen und Unmündigen die Geheimnisse Gottes erkenneten. Den so saget er Matth. XI. 25. zu derselben Zeit p[erge] er nennet unmündige einfältige Leute, die erkenneten das Geheimnis des Reichs Christi, das scheinet sich doch nicht zusammen zureimen mit einer künstlichen Eloquenz« (ebd. S. 105f.). – »3) möchte man sich hierbei erinnern des Spruches Philippi Melanchthonis, welcher sonsten ein gelehrter Mann war, der zu sagen pflegte : Wenn predigen eine Kunst wäre, so wollte ich es lernen, so aber da es eine Gabe Gottes ist, so stehet es in meinem Vermögen nicht, so lange es mir Gott nicht giebet. Wen nun das predigen keine Kunst ist, sondern eine Gabe Gottes, so scheinet es vergeblich zu seyn, daß man dan[n] praecepta davon giebet, sondern es wird nur bloß darauf ankommen, wem Gott die Gabe giebt und nicht giebt« (ebd., S. 106f.). – »4) möchte iemand sagen, daß die künstlichen Predigten verworffen würden von vielen rechtschaffenen Theologis, ia, daß treue Lehrer offt geklaget, daß die gar zu künstliche Predigten, die per consequens ohne Krafft v. Safft, wären nur unter die impedimenta des Christenthums zu referiren« (ebd., S. 107). »Diese 4 rationes möchten uns einen Scrupel machen, und auf die Gedancken bringen, ob es den mit all recht sey, auf die geistliche Beredsamkeit sich zulegen. Allein wenn wir nur die Sache recht verstehen, so werden wir uns aus diesen dubiis gar bald helffen können und alles beantworten« (ebd., S. 107f.). – Bei der vierten Unterfrage liegt eine deutliche Bezugnahme auf die für das hallesche Theologiestudium maßgebliche studienreformerische Schrift Speners De
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der im Vorlesungsmanuskript überlieferte letzte Satz des Präliminarteils. Mit diesem unterstreicht er den innovativen Anspruch seiner Homiletik unter dem Gesichtspunkt methodischer Neuerung (›nova methodo‹) noch einmal wie folgt : Ich hoffe daß also diese tractation [sc. die Entfaltung der Homiletik in den sieben nachfolgenden Kapiteln des Hauptteils der Vorlesung ; A. S.] vor 1.) ordentl. 2.) deutl. 3.) complet seyn solle. Denn das sind die requisita einer guten Methode (S. 210).
Indem Herrnschmidt die in frühaufklärerischer Logik und Rhetorik formulierten Kriterien für richtiges Denken und Sprechen auf die Darlegung der homiletischen Wissensbestände anwendet, wirkt er freilich nicht nur im Blick auf die homiletische Tradition lutherisch-orthodoxer Prägung, sondern auch im Blick auf die bisherige homiletische Lehre in Halle innovativ. Hätte er den Text seiner Vorlesung im Kern so, wie er sich in der Nachschrift bietet, in die Form eines homiletischen Lehrbuchs gebracht,60 würden wir heute eine Publikation in der Hand halten, die als Synthese von frühaufklärerischer Rhetorik und pietistischer Bibelhermeneutik zweifelsohne zu großer homiletikgeschichtlicher Wirkung gelangt wäre. So aber blieb seine Collegium homileticum eine in Vergessenheit geratene Episode in der Geschichte des akademischen Unterrichts an der halleschen theologischen Fakultät. Unbeschadet davon lässt sich unter dem Fokus der leitenden Fragestellungen abschließend resümieren, dass die von Aufklärungsphilosophen und pietistischen Theologen gleichermaßen vollzogene Abkehr von der aristotelisch-scholastischen Methode eben auf beiden Seiten eine ›Revolution des Denkens‹ markierte, die auch in der homiletischen Lehre der halleschen Fridericiana von Anfang an sehr umfassende Spuren hinterließ.61 Bei Herrnschmidt tritt dies im Zusammenhang einer antischolastisch62 orientierten und konzipierten Predigtlehre auf impedimentis studii theologici (1690) vor ; dazu Dietrich Blaufuß : »Scibile et pie«. Adam Rechenbergs und Philipp Jacob Speners theologische Studienanleitungen – Wegweiser zur Aufklärung ? In : Hanspeter Marti, Detlef Döring (Hg.) : Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Basel 2004, S. 329–358, hier S. 342–349. 60 Ein solches Vorgehen ist für etliche Vorlesungsnachschriften Franckes bezeugt, weswegen man vermuten kann, dass die Vorlesung Herrnschmidts zu eben diesem Zweck nachgeschrieben wurde. 61 Vgl. dazu ausführlich Andres Straßberger : »… reden und predigen nach dem, was der Geist Gottes eingibt« (Anm. 18). 62 Die umfassende, grundsätzliche Ablehnung der aristotelisch-scholastischen Methode im homiletischen Fach seitens pietistischer Vertreter mag eine Bemerkung von Johann Wilhelm Zierold : Einleitung zur gründlichen Kirchen=Historie / Mit der Historia Philosophica verknüpfft […] Leipzig, Stargard 1700, S. 397, illustrieren : »Anno 1632. gab D. Hülseman seine Prediger=Kunst
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Abb. 2 : Bisher noch nie publiziertes Ölporträt Johann Daniel Herrnschmidts mit der rückseitigen Aufschrift »D : Joh : Daniel Herrnschmidt. / Theol : P : P : O : Hallensis. / aet : 47.« (Herr Johann Daniel Herrnschmidt, ordentlicher Professor der Theologie von Halle, im Alter von 47 Jahren). Das Recht an dem Original und das Urheberrecht an der Fotografie liegen bei Martin Müller, Gifhorn-Kästorf.
ganz eigene, spezifische Weise zu Tage. In auffälligem Maße fließen hier, wie gezeigt, Aspekte der historiographischen Kategorien ›Pietismus‹ und ›Aufklärung‹ zusammen.63 Für die Predigtgeschichtsschreibung, und vielleicht nicht nur für sie, eröffnen sich damit neue, interessante Perspektiven. ans Licht / aus welcher hernach unzählich viele Prediger=Künste gebohren sind. Die Ursache setzt er in der Vorrede : Weil nemlich die Aristotelisch=Scholastischen Papisten / sonderbahre Wissenschafft darinnen hätten / so wär es intolerabilis jactantia, wenn sie vorgeben / daß wirs nicht so gut könten. Sie nennen Lutherum einen Schwätzer / und nicht einen gelährten Mann / darum müsse man nicht mehr Luthero nachfolgen / sondern auch eine solche menschliche Redner=Kunst einführen / damit die kahlen Papisten nicht allein den Ruhm haben möchten. Also lehret er / wie man nicht mehr so einfältig mit der Bibel umbgehen sol wie Luther / sondern fein künstlich / nach der Aristotelisch=Scholastischen Methode.« – Zu Hülsemann : Methodus concionandi (Anm. 21), als Musterstück einer aristotelisch-scholastischen Homiletik vgl. nochmals Straßberger : Die ›Leipziger Predigerkunst‹ (Anm. 21), S. 204–218. 63 Simon Grote (Wellesley/MA) verdanke ich den Hinweis, dass Ian Hunter : Multiple Enlightenments : Rival Aufklärer at the University of Halle, 1690–1730. In : The Enlightenment World. Hg. von Martin Fitzpatrick, Peter Jones, Christa Knellwolf u. Iain McCalman. London 2004, S. 576– 595, die Auffassung von ›mehreren Aufklärungen‹ vertritt. In dessen Sicht repräsentiert August
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Hermann Francke den Typus einer ›anti-scholastic theological Enlightenment‹ (Hunter : Multiple Enlightenments, S. 577). Herrnschmidt steht in dieser Sicht für denselben Typus theologischer Aufklärung, und zwar in homiletikgeschichtlicher Perspektive. – Ich danke Simon Grote sehr herzlich für seine freundlichen Hinweise sowie die Überlassung eines Beitragsmanuskripts, in dem er sich auf Hunters These bezieht (Simon Grote : When Innovation Goes Fashion : Joachim Lange’s [1670–1744] Lectures to Empty Benches (Manuskript, Juni 2017).
Dietrich Blaufuß
Halle – »eine neu angelegte academie« Philipp Jakob Speners Programm des Theologiestudiums und Paul Antons Elementa homiletica In memoriam Reinhard Breymayer 4.1.1944–13.8.2017 1. Innovationsuniversität – Pietismus, Spener Die Bedeutung und Qualität der Universität Halle als ›Innovationsuniversität‹ war 1694 einem ihrer entscheidenden Förderer nicht fraglich : Philipp Jakob Spener (1635–1705). Der ›Vater‹ des lutherischen Pietismus predigte in Berlin auf der Kanzel der Nikolaikirche am 1. Juli 1694 zur Eröffnung der Universität Halle als »neu angelegte[r] academie«.1 Dieses Ereignis – gleichzeitig der Geburtstag des am 1./11. Juli 1657 geborenen Kurfürsten Friedrich III. – war gewichtig genug für eine ›Dankpredigt‹.2 Zu danken war für mehreres : für die Errichtung einer »werckstätte […], darinnen der H. Geist wircke«, für die »Wohltaten« Gottes unter anderem durch die Neuaufrichtung der Lehre zur Unterrichtung der Gemeinde im Wort Gottes, aber ebenso für die Wohltaten des Kurfürsten auch für Kirche und Schule im ganzen Land. In Halle sieht Spener alle Vorausset1 Philipp Jakob Spener : Christlicher Buß-Predigten Besonderer Dritter Theil. Samt einem starcken Anhang Danck- und Gedächtnis-Predigten. Frankfurt/Main 1710, Anhang S. 86–103, hier S. 100. – Die Universität Halle sei nicht das Produkt eines Innovations- bzw. Reformstrebens, sondern ein solches der »reformiertenbegünstigende[n]« Religions- und Konfessionspolitik. So votiert entschlossen die 2014 erschienene, der ›Konfessionalisierungsforschung‹ verpflichtete Dissertation (Betreuer Andreas Pečar u. Udo Sträter) von Marianne Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), an vielen Stellen : S. 24, 135, 140, 142, 144, 178, 186, 250, 252, 263 (Zitat), 301 (»vermeintlich innovativ«), 310 (Zitat). Ob und gegebenenfalls wie lange diese Alternative gelten kann, muss geprüft werden. 2 Spener hielt öfters aus aktuellem politischem Anlass eine ›Dankpredigt‹, siehe Vollständiger Catalogus Aller dererjenigen Predigten, Welche von Hn. D. Philipp Jacob Spenern gehalten worden. Hg. u. mit einer Einleitung von Dietrich Blaufuß. Hildesheim, Zürich 1999 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1715] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther. Sonderreihe 2/ [1]), Teil 2, S. 34–40.
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zungen für eine anders, neu zu treibende Theologie gegeben – entfaltet in sieben Punkten, gipfelnd an fünfter Stelle in der gewiss zu erreichenden unlöslichen Verbindung von Glaubenslehre und Lebensgestaltung, in der Verbindung von Verstand und »gemüth«.3 Es ist ein weites Feld der Erwägungen bei Spener, uns zugänglich in einer reichen literarischen Hinterlassenschaft. Vorrede, Predigt, Gutachten und Brief sind Medien, in denen das Thema ›Reform der Kirche durch Erneuerung der Pfarrerbildung‹ immer wieder aufgegriffen wird.4 Und hierbei stand Spener nicht allein, schon gar nicht am Anfang. Für die Zeit ab der Reformation bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts sind wir über Wittenberger Studienanleitungen eingehend informiert – Katholizismus und Reformiertentum bleiben nicht ganz unberücksichtigt.5 August Hermann Franckes Wirken ist zu einem großen Teil von dieser Frage bestimmt – wir sind darüber durch die neuere Forschung gut unterrichtet.6 Der nur kurz als Kanzler der entstehenden Universität Halle wirkende Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) hatte die Frage nach einer Neuausrichtung von Pfarrerschaft und Kirche lange und vielfältig im Auge. Wie 3 Dietrich Blaufuß : »Pflantzgarten des Glaubens und dessen Früchten«. Philipp Jacob Speners Predigt anläßlich der Eröffnung der ›pietistischen‹ Universität Halle. In : ders : Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Hg. von Wolfgang Sommer u. Gerhard Philipp Wolf. Leipzig 2003, S. 53–75, hier S. 66–71 die Einzelheiten, Zitate ebd., S. 66, 67, 70 ; auch Literatur zu den Fakultätsstatuten ebd., S. 68 Anm. 49. – Gut zugänglich ist Paul von Fuchs’ Rede zur Einweihung der Universität Halle (1694). In : Labyrinth der Rhetorik. Ausgewählte Reden des frühen 18. Jahrhunderts. Mit einem Nachwort hg. von Ralf Georg Bogner. St. Ingbert 1999, Text S. 7–25 mit S. 102f. Anm. 18 (auf S. 115 Bibliographie der lateinisch gehaltenen Fassung), Kommentar S. 111f. mit Anm. 52f. (S. 118). 4 Einige weitere Äußerungen Speners zur Sache sind nachgewiesen bei Blaufuß : »Pflantzgarten« (Anm. 3), S. 63 Anm. 36, S. 61 mit Anm. 33 u. S. 70 Anm. 58. Mit Betonung von Speners Sicht einer ›mystischen Theologie‹ siehe Dietrich Blaufuß : Gelebte Frömmigkeit jenseits der Konfessionen ? In : Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision. Bd. 1 : Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. Hg. von Klaus Garber [u. a.]. München 2001, S. 301–316, hier S. 309–311. 5 Marcel Nieden : Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung. Tübingen 2006. Siehe unten mit Anm. 33. 6 Chi-Won Kang : Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Die Reform des Theologiestudiums im lutherischen Pietismus des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts. Gießen 2001, S. 330–424 zu August Hermann Francke. – Ulrich Barth : Pietismus als religiöse Kulturidee. Speners und Franckes Ethos der Bekehrung. In : ders : Aufgeklärter Protestantismus. Tübingen 2004, S. 149–165, bes. S. 162–165, sieht in den bei Spener und Francke mit Vorsicht ertasteten ›kulturprotestantischen‹ Elementen (siehe S. 163) erhebliche nach vorne weisende ›innovatorische‹ Potenziale, bei Francke präzise fokussiert : »Die Wurzel des Übels lag für Francke in der Verderbtheit des Lehrstands.«
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jüngst herausgearbeitet wurde, vermochte er in seinem schon früher herangezogenen, aber erst 2016 edierten7 einschlägigen Gutachten von 1680 in weiser Selbstbeschränkung die Strukturen einerseits und andererseits die theologischen Fragen voneinander zu unterscheiden und letztere den Theologen zu überlassen.8 Die Kommunikation von Seckendorffs, Speners und Franckes ermöglicht tiefe Einblicke in die vielfältigen Problemstellungen und auch Konfliktfelder in Leipzig und Halle. Möglicherweise wollte Spener gar mit ausgeprägtem Gespür für kommende Gefahr mit seiner Grundschrift zum Theologiestudium 1690, De impedimentis studii theologici, auch Francke ein Stück weit in Schutz zu nehmen. Manche der Francke gegenüber erhobenen Vorwürfe jedenfalls scheint Spener besser, das heißt weniger angreifbar, entkräftet zu haben als Francke.9 Die Briefe, die zwischen Spener und Francke,10 aber auch zwischen Spener und 7 Veit Ludwig von Seckendorff : Wohlmeinendes, unmaßgebliches Bedencken, welchergestalt ein nützliches sogenantes [ !] Seminarium zu Zeitz auffzurichten […]. Den 11. Febr. 1680. In : Klaus vom Orde (Hg.) : Pietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium. Leipzig 2016, S. 19–28. – Zur Kanzlerschaft von Seckendorffs siehe Ernst Lotze : Veit Ludwig von Seckendorff und sein Anteil an der pietistischen Bewegung des XVII. Jahrhunderts. Diss. phil. Erlangen 1911, S. 58–68. Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), S. 179–184. – Dietrich Blaufuß : Seckendorff, Veit Ludwig von. In : Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller [u. a.]. Bd. 30. Berlin, New York 1999, S. 719–727 (Literatur). 8 Solveig Strauch : Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692). Reformationsgeschichtsschreibung – Reformation des Lebens – Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Münster 2005, S. 71–76, hier S. 73 mit Anm. 9 (Lehrgegenstände Sache der Theologen ; Vorschläge nur zu »denen eüßerlichen [ !] hierzu gehörigen umbständen«, konkretisiert ebd., S. 74 Anm. 1). Lotze : Seckendorff (Anm. 7), S. 25, 73, 75f., 77, 78f. mit Anm. 294–296. Text : von Seckendorff : Bedencken (Anm. 7), S. 26, Z. 8–18 (Punkt 7), und S. 27f. Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), S. 179–184, speziell S. 180. Vgl. dazu abermals Lotze : Seckendorff (Anm. 7), S. 35, Spener zu Äußerungen von Seckendorffs in diesem Sinne aus dessen Christen-stat. – Vgl. von Seckendorffs Erwartungen an Geistliche aus dem Jahr 1666 : Veit Ludwig von Seckendorff : Teutsche Reden. Mit einem Nachwort hg. von Milos Vec. Tübingen 2006 [Nachdruck der Ausg. 1691]. S. 380–392 (scientia et mores ; Predigt). 9 Dies ist näher begründet in Dietrich Blaufuß : »Scibile et pie«. Adam Rechenbergs und Philipp Jacob Speners theologische Studienanleitungen. Wegweiser zur Aufklärung ? In : Hanspeter Marti, Detlef Döring (Hg.) : Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Basel 2004, S. 329–358, hier S. 345–348. Vgl. die zeitliche und personelle Nähe einschlägiger Veröffentlichungen von September 1689 bis Oktober 1690 (Christian Thomasius, August Hermann Francke, Philipp Jakob Spener, Adam Rechenberg). Ebenfalls dazu Straßberger : Memoria (Anm. 49), S. 298 Anm. 163. 10 Philipp Jakob Spener : Briefwechsel mit August Hermann Francke. Hg. von Johannes Wallmann u. Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, S. 886 sub verbo ›Studenten‹.
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von Seckendorff gewechselt wurden,11 zeigen jedenfalls ein reges Gespräch über Fragen der theologischen Studienreform, die mit der Gründung einer neuen Universität Halle aktuell werden. Dies sei hier nur angedeutet angesichts eines in den Blick zu nehmenden Teil aspekts im Zusammenhang mit dem Thema ›Innovationsuniversität Halle‹. An die höchst lebendige Gesprächslage im Rahmen des variantenreich wahrgenommenen Feldes ›Orthodoxie – Pietismus – Aufklärung‹ kann nur erinnert werden. So werden pietistische Leitfiguren nicht erst neuerdings stark in ihrer Bedeutung für die Aufklärung reklamiert. Andreas Pečar weist, ohne Franckes »providenzielle(s) Weltbild« zu ignorieren, auf die verschiedentlich gestellte Frage nach dessen Nähe zur Aufklärung hin : »Weltveränderung durch Menschenveränderung« sei auch eine Zielsetzung der Aufklärung. Lehren und Lernen ebenso wie das Zusammengehen von ›Brüdern im Geiste‹ in der respublica pietatis und in der respublica litteraria lassen keine Gegnerschaft zwischen Pietismus und Aufklärung erkennen, ohne dass man deshalb Francke undiskutiert »der Aufklärung zurechnen« wolle.12 Und die schon 1982 gestellte Frage »Ist er [nämlich Spener, der Begünder des Pietismus, D.B.] nicht zugleich der Vater der deutschen theologischen Aufklärung gewesen ?«13 wurde vielfach behandelt. Begriffliche 11 Gut greifbar sind die drei Dokumente des Austauschs 1680/81 von Seckendorff – Spener zur Sache : [1] 11.2.1680 : von Seckendorff : Bedencken Seminarium (Anm. 7) ; [–] (vor [2]) von Seckendorff an Spener (nicht vorhanden), mit Beilage [1] ; [2] Philipp Jakob Spener an Veit Ludwig von Seckendorff, Frankfurt a.M., 26. August 1681. In : Spener : Briefe Frankfurter Zeit 5 (Anm. 26), S. 405–410, Nr. 93, Antwort auf [–], mit [3] Beilage : Speners Bemerkungen zu dem Vorschlag eines Predigerseminars (ebd., S. 410–423). Darstellung von [1] und [3] bei Strauch : Seckendorff (Anm. 8), S. 71–74, 74–76. Zum Austausch Juli 1681 u. 1684 siehe Spener : Briefe Frankfurter Zeit 5 (Anm. 26), Nr. 80, S. 340–345 (22.7.1681), und Philipp Jacob Spener : Letzte Theologische Bedencken. Erster bis Dritter Theil. Eingeleitet von Dietrich Blaufuß, Peter Schicketanz. Hildesheim 1987 [Nachdruck der Ausg. Halle 1711] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther Bd. 15.1–2. Korrespondenz), Teilbd. 1, Einleitung (Dietrich Blaufuß), S. 29* mit Anm. 21 (Nachweis für 29.5.1684). Vgl. ebd., S. 67* sub 24.7.1696 (erinnert an [2]). 12 Andreas Pečar : Unsicherheit und neue Horizonte – Francke und die Welt um 1700. In : Die Welt verändern. August Hermann Francke – Ein Lebenswerk um 1700. Katalog zur Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 24. März bis 21. Juli 2013. Hg. von Holger Zaunstöck, Thomas Müller-Bahlke u. Claus Veltmann. Halle 2013, S. 19–27, hier S. 22f., 25–27 (Zitate und Literaturangaben auch aus diesem Band). 13 Johannes Wallmann : Philipp Jakob Spener. In : Martin Greschat (Hg.) : Orthodoxie und Pietismus. Stuttgart [u. a.] 1982 [= 1993], S. 205–223, hier S. 221. – Zu Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung siehe Andreas Gößner : Der terministische Streit. Vorgeschichte, Verlauf und Bedeutung eines theologischen Konflikts an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 2011, S. 2–12, bes. S. 9.
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Festlegungen, die eingeführte zeitliche und sachliche Abgrenzungen andeuten, werden unter universitäts-, theologie- und (konfessions-)politikgeschichtlichen Aspekten lieber geöffnet hin auf konfessionelle Charakteristik, handelnde Personen und tragende Gehalte.14 Verständnisschwierigkeiten wird seit längerem mit Verständnisangeboten begegnet. Zum Beispiel wurde die Rede von einer ›Reformorthodoxie‹ problematisiert, weil in der lutherischen Orthodoxie das Eintreten für Reformen viel verbreiteter ist, als jener Begriff vermuten lässt.15 Oder es wird vorgeschlagen, der Frage nach dem Umfang und der Vielgestaltigkeit von ›Pietismus‹ zu begegnen durch die Rede von »Erweckung(sbewegung)en«.16 Des Weiteren erwartete man für die lutherische Orthodoxie des 17. Jahrhunderts nicht ohne weiteres den »Begriff ›pietas‹ [als] […] ein[en] Zentralbegriff«.17 Auch der schließlich vorgeschlagene Ausdruck »frühneuzeitlicher Reformprotestantismus« für die »kirchlichen Erneuerungsbewegungen im Luthertum des 17. und 18. Jahrhunderts« zieht diverse Deutungs- und Darstellungsprobleme nach sich. Man umgeht den negativ empfundenen Begriff ›Pietismus‹. Die Zusammenschau verschiedener Wege einer Erneuerung von Kirche und Gesellschaft wird möglich. Diese Erneuerung konkretisiert sich entweder »via Erziehung und Kontrolle« oder durch Intensivierung des »cultus privatus«. Sowohl in »Konformisierung« als auch in »nonkonformen Tendenzen« suchte sich demnach »Erneuerung« ihren Weg.18 Entsprechende begriffliche Überlegungen dienen der präziseren Rekonstruktion
14 Marianne Taatz-Jacobi : Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680– 1713). Berlin 2014, S. 34–41, ›Lutherische Orthodoxie‹, ›pietistische Akteure‹ und ›Naturrecht‹. Gut informierend die Rezension von Kirsten Anna van Elten in H-Soz-Kult, 27.02.2017 (rezbuecher 26264). 15 Johannes Wallmann : Pietismus und Orthodoxie. Überlegungen und Fragen zur Pietismusforschung [1966]. In : ders : Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II. Tübingen 2008, S. 1–21, hier S. 7–12. 16 Hartmut Lehmann : Zur Charakterisierung der entschiedenen Christen im Zeitalter der Säkularisierung. In : Pietismus und Neuzeit 30, 2004, S. 13–29, vor allem S. 22–26. – Einschlägige Beiträge in demselben Band. – In zwei Rezensionen hat Hartmut Lehmann nochmals auf wichtige Annäherungen in Sachen Pietismusverständnis in Wissenschaft und Praxis hingewiesen, siehe Pietismus und Neuzeit 42, 2016 (erschienen 2017), S. 205–207 u. S. 211–213, hier S. 213. 17 Johannes Wallmann : Die Nadere Reformatie und der deutsche Pietismus [2005, niederländisch]. In : ders : Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III. Tübingen 2010, S. 406–426, hier S. 421f. mit Anm. 46 u. 48 (Literatur). 18 Veronika Albrecht-Birkner : »Reformation des Lebens« und »Pietismus« – ein historiografischer Problemaufriss. In : Pietismus und Neuzeit 41, 2015, S. 126–153, hier S. 152.
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einer als zu schnell empfundenen Generalisierung von Reformbewegungen als ›Pietismus‹. Eine Diskussion freilich ist aus der Debatte um den Pietismus verschwunden : die über seine Unfähigkeit zu kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen. Die Behauptung diesbezüglicher Unfruchtbarkeit des Pietismus fand sich innerhalb eines breiten Spektrums. In der liberalen Theologie formulierte man 1878, dass »Conventikelleute […] nie Träger der Cultur (sind), weil sie keinen Gemeinsinn haben«.19 Aus ›neupietistischer‹ Perspektive meinte man 1961 etwa feststellen zu können : »[…] wissenschaftliche Ergebnisse hat der hallesche Pietismus nicht gezeitigt.«20 Dass solche Urteile obsolet wurden, ist auch einer in außertheologischen Disziplinen gewaltig fortschreitenden Pietismusforschung zu verdanken. Von der Bewertung des Pietismus als kulturunfähiger, ja kulturfeindlicher Strömung verabschiedet sich mit Recht ein wichtiger Sammelband über Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Die noch moderne Rede vom »Dekreszendo in allen Stockwerken des kulturellen Lebens, wo und wann der Pietismus vorwaltet«, entmutigte nicht, beachtenswerte »Wirkungsebenen« des Pietismus bei »Architektur und Gartenkultur, Möbelbau und Musik, Dichtung und Malerei, Papiergestaltung und Mode wie schließlich de(m) ›Export‹ pietistischen Denkens nach Ost und West« zu untersuchen.21 1977 hatte man darauf noch ausdrücklich hinweisen bzw. daran gezielt erinnern müssen. Inzwischen informiert hier ein Blick in die vielen seit 1974 erschienenen Jahresbibliographien zum Pietismus – nach dem Urteil eines Patristikers der »bedeutendsten protestantischen Frömmigkeitsbewegung diesseits von Luther überhaupt«.22 Es gilt 19 Albrecht Ritschl an Adolf Harnack, 17.12.1878. Nachweis und weiteres siehe Dietrich Blaufuß : Frömmigkeit für die Stadt. Philipp Jacob Speners Verpflichtung des Pietismus auf seine Weltverantwortung [1989]. Erweitert in : ders : Korrespondierender Pietismus (Anm. 3), S. 39–51, hier S. 39f. (Zitat S. 39). 20 So Günther S. Wegener ; zitiert in Walter Eberhardt : Aufklärung und Pietismus 1648 bis 1800. Berlin[-Ost] 1979, S. 467 Anm. 35. 21 Rainer Lächele (Hg.) : Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Tübingen 2013, S. 7–9. Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde ein Klischee vom weltabgewandten Pietismus gefördert. Siehe Straßberger : Homiletikvorlesung Herrnschmidts (Anm. 90), S. 101 mit Anm. 34. 22 So Karlmann Beyschlag : Rezension zu : Handbuch der Kirchengeschichte, hg. von Hubert Jedin. Bd. 5. 1970. In : Theologische Literaturzeitung 101, 1976, Sp. 451. Bibliographie. In : Martin Greschat (Hg.) : Zur neueren Pietismusforschung. Darmstadt 1977, S. 435–448, 188 Einträge zu 15 Themenfeldern ; berücksichtigt Pietismus-Schrifttum »aus den verschiedensten Bereichen der politischen und geistigen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands« (ebd., S. 435). Christian Soboth u. Oliver Seide (unter Mitarbeit von Brigitte Klosterberg u. Claudia Mai) : Pietismus[- Jahres]-Bibliographie. In : Pietismus und Neuzeit 42, 2016 (erschienen 2017),
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Hans-Jürgen Schraders Feststellung : »[…] der interdisziplinäre Ausgriff (ist) Standard der Forschung.«23 Die Rolle Philipp Jakob Speners in den lutherischen Reformbewegungen des 17. Jahrhunderts wird stark hervorgehoben.24 Seine kirchliche Integration von Collegia pietatis mochte für die »Förderung der religiösen Mündigkeit der Laien […] einzigartige und nachhaltige Impulse« bedeutet haben.25 Doch wusste Spener schon 1681 in seiner Stellungnahme zu dem oben genannten ›Prediger-Seminar‹-Vorschlag Veit Ludwig von Seckendorffs, was Förderer vergleichbarer Unternehmungen im akademisch-universitären Raum zu fürchten haben : invidiam novitatis.26 Solch ein Unternehmen galt mithin für Spener als ungewollte Neuerung an einer Universität. Im Jahr 1694 aber muss Spener dies kaum fürchten, denn die Universität Halle ist Gottes »neu angelegte(r) Weinberg«, es geht hier um die »aufrichtung einer neuen, (s)einer [Gottes, D.B.] wahrheit gewidmeten schul«, »die neue hohe schul zu Halle«, »diese(.) neue(.) stifftung«, »diese schul eine wohnung der himmlischen wahrheit«. Denn hier war »denen bereits an andern [»alte(n)« Universitäten, D.B.] wahrgenommenen fehlern vorzubeugen«.27 Der Blick auf Speners Forderungen an ein Studium der Theologie S. 225–245, hier S. 226, 241–245, greift als neueste Folge inzwischen auf 20 benannte nicht-theologische Themenfelder aus (56 Titel ; 2015 : 53 ; 2014 : 65 ; 2013 : 122 Titel). 23 Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. In memoriam Christa Habrich. Hg. von Irmtraud Sahmland u. Hans-Jürgen Schrader. Göttingen 2016, S. 9–13 (Hans-Jürgen Schrader : Zur Einführung), hier S. 9. – Für die Frage der Kulturleistung der lutherischen Orthodoxie, auch ihres Anteils am kirchlichen Reformprozess vgl. die viel zu wenig beachtete, erheblich aus Handschriften (Nachlass, Korrespondenzen) schöpfende Arbeit von Dieter Wölfel : Salomon Lenz 1584–1647. Ein Beitrag zur Geschichte des orthodoxen Luthertums im Dreißigjährigen Krieg. Gunzenhausen 1991, etwa Teil 3/II : Gelehrte Bildung und öffentliches Leben, S. VII (Übersicht), S. 175–277, 372–381, hier z. B. S. 189–211 (208–211 Briefwechsel !), 375–380. Vgl. auch oben mit Anm. 13 bis 15 u. 17. 24 Albrecht-Birkner : »Reformation« (Anm. 18), S. 152f. Anm. 108 ( Johannes Wallmann, Fred van Lieburg). 25 Ebd., S. 152. 26 Speners Bemerkungen zu dem Vorschlag eines Predigerseminars. In : Philipp Jakob Spener : Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686. Band 5 : 1681. Hg. von Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Tübingen 2011, S. 410–423, Nr. [93], hier S. 416, Z. 133 ; ab Z. 123 geht es um das »collegium pietatis von einem Christlichen Professor auf einer universitet«. – Zur novitas-Frage siehe Reimund Sdzuj : Die Figur des Neuerers und die Funktion von Neuheit in den gelehrten Disziplinen des 17. und 18. Jahrhunderts. In : Ulrich Johannes Schneider (Hg.) : Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005, S. 155–182 (unter Verwendung vieler auch lutherischer Texte der Zeit). 27 Spener : Buß-Predigten III, Anhang (Anm. 1), S. 100, 102f. alle Zitate. Schon früher hat Spener aus Halle Kandidaten des Predigtamts hervorgehen sehen, die »die rechte gründe der Theolo-
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bzw. an die sich diesem Studium Widmenden sowie auf ein Beispiel aus dem Wirken eines langjährigen Lehrers der Theologie in Halle, Paul Anton (1661– 1730), soll jenes ›Vorbeugen‹, Vermeiden von »fehlern« an »alten« Universitäten konkretisieren und illustrieren. 2. Speners Programm des Theologiestudiums : Mittel, Adressaten Es ist die größte Schande, ja vor GOtt und der Christenheit unverantwortlich, wo Theologi sich verlauten lassen, es wäre ihres amts nicht[,] die studiosos Theologiae auch fromm zu machen, sondern wäre ihres Amtes genug, wo sie sie nur gelährt machten.
Es war Spener ernst mit der Reform des Theologiestudiums. Und sein Votum scheint zu erinnern an die 1692/94 geführte Auseinandersetzung um den Johann Benedikt II Carpzov zu Recht oder zu Unrecht zugeschriebenen, von Spener pointiert wiedergegebenen Vorwurf, durch die Leipziger Collegia pietatis werde man »Studiosos satis pios, sed satis indoctos (kriege[n])«.28 Mit dem Dringen auf eine Verbesserung der Ausbildung von zukünftigen Geistlichen nimmt Spener im Pietismus nicht im geringsten eine Sonderstellung ein. Schon in dieser Hinsicht ist es müßig zu streiten, ob der Pietismus eine Erneuerungsbewegung, eine Reformbewegung, eine Frömmigkeitsbewegung gewesen sei. An solchen einengenden Rubrizierungen liegt es nicht. Und der Begriff ›Bewegung‹ signalisiert eine gewisse Unsicherheit, Verlegenheit gegenüber möglicherweise ja giae beßer [ !] als die meisten [Candidati Ministerii, D.B.] auff anderen Universitäten pflegen.« Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), S. 203 mit Anm. (447 bis) 450. – Vgl. den Hinweis auf die Möglichkeiten »eine[r] freiere[n] Bewegung« an der Universität, an der man »keine Tradition vorfand«, bei Gustav Kramer : August Hermann Francke. Ein Lebensbild. Erster Teil. Mit einem Vorwort von Thomas Müller-Bahlke, einer Einleitung von Udo Sträter, einer Bibliographie und einem Register. Hildesheim [u. a.] ²2004 (ergänzter Neudruck der Ausgabe 1880), S. 105. Siehe auch unten Anm. 44. Man ziehe mit heran das zum Teil wohl ironisch gemeinte Votum Christian Thomasius’ aus seiner Vorlesungsankündigung Fünff neue Collegia (Halle 1691), Bl. A3r, nach Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), S. 169 Anm. 238 u. S. 320. Siehe unten S. 125. 28 1. Juli 1694. Spener : Buß-Predigten III, Anhang (Anm. 1), S. 97 (eingerücktes Zitat). Ernst Koch : Johann Benedikt Carpzov und Philipp Jakob Spener. Zur Geschichte einer erbitterten Gegnerschaft. In : Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699). Hg. von Stefan Michel u. Andres Straßberger. Leipzig 2009, S. 161–182, hier S. 168–171 (Zitat im Text S. 168 mit Anm. 35).
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begegnenden Forderungen nach Präzision im Begrifflichen. Aber von ›Bewegung‹ zu reden zollt dem Faktum Tribut, dass ›Pietismus‹ sich in vielen Facetten entfaltet, dem Versuch einer konsensfähigen zeitlichen Definierung größten Widerstand entgegensetzt und nach wie vor Gegenstand der Bemühungen um eine breit anerkannte Bestimmung seiner Wesenselemente ist. Hinsichtlich unseres Spener betreffenden Themas, des Theologiestudiums, firmiert die neue Quellenedition Pietistische Texte zum Theologiestudium – souverän 200 Jahre einschlägiger Bemühung in Blick nehmend : Sie setzt mit Johann Arndt 1603 ein, endet 1799 bei Johann Heinrich Jung-Stilling und lässt im Blick auf diese Eckpunkte natürlich Vorsicht walten.29 In dieser Publikation erhält Spener einen Platz von knapp 13 Prozent. Weggelassen sind zwei Äußerungsformen Speners : die privaten, persönlichen Erörterungen in Briefen sowie von Amtsautorität getragene Predigten. Es ist nicht ganz leicht, die Fülle von Speners Anforderungen an das Theologiestudium zu bündeln. Fragt man hier in dreifacher Richtung nach, bedeutet dies wohl eine Zuspitzung. Unter Verzicht auf eine in die Breite gehende Gesamtübersicht sollen aber Triebfeder und zwei Adressaten von Speners hartnäckigem Votieren zur Pfarrerausbildung deutlich werden. ›Pfarrerausbildung‹ ist das Grundmotiv, der Rahmen : Es geht um eine Reform der Kirche. Und das ist das Anliegen des Kirchenmanns. Die Frage des Theologiestudiums wird nicht von der akademischen Ebene hinein in die Kirche getragen, sondern umgekehrt. Speners nur sehr kurze akademische Tätigkeit endet bekanntlich für ihn mit 31 Jahren im kirchenleitenden Amt in Frankfurt am Main. Man wird sagen können, dass er die Pfarrerausbildung für zu elementar, zu grundlegend in ihrer Wirkung hielt, als dass er sie Professoren überlassen wollte. Es geht Spener an dieser Stelle entschieden darum, dass durch wirkliche Theologie-Studien-Reform »ein großes zum besten der Kirche […] aufgerichtet seyn« wird. Und die Verortung des geistlichen Amts in der Lehre vom Heiligen Geist markiert das dem Problem beigemessene Gewicht.30 Es ist dieses umfassende Grundanliegen 29 Vom Orde (Hg.) : Pietas et eruditio (Anm. 7), S. 271–275, die Texte ebd., S. 14–18, 29–59 (Nachwort S. 244–248) ; kaum Überschneidungen mit Kapitel 17 (Gotteserkenntnis und Theologie, bearb. von Markus Matthias). In : Pietismus. Eine Anthologie von Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Veronika Albrecht-Birkner [u. a.]. Leipzig 2017. S. 509, 511–539, Spener ebd., S. 518–525, 530f. 30 Philipp Jacob Spener : Die Evangelische Glaubens-Lehre […]. Hg. u. mit einer Einleitung von Dietrich Blaufuß, Erich Beyreuther. Hildesheim [u. a.] 1987 [Nachdruck der Ausg. Frankfurt/ Main 1688] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther Bd. 3.1), Teilbd. 1, S. 561–591, Predigt Cantate in Leipzig 1687 »von dem amt deß H. Geistes«, hier S. 588, Z. 24.
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im Blick zu behalten, hier vertreten durch den Mann der Kirche – den Inhaber der ersten Stelle, die das Luthertum seiner Zeit zu vergeben hatte : Spener war Dresdner Oberhofprediger des Kurfürsten Johann Georg III. von Sachsen. Doch was stand an Mitteln zur Verfügung ? Zum einen der große Vorteil einer frühen Begegnung mit Frömmigkeitsliteratur aus verschiedenen Bereichen. Am Hof von Rappoltsweiler im Elsass war Spener einem breiten Strom durchaus nicht nur lutherischer Erbauungsliteratur aus der ›Frömmigkeitsbewegung‹ der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts begegnet. Hinzu kommt sein Studium in Straßburg. Die dortige Kirche und theologische Fakultät waren »aufgeschlossen für die Notwendigkeit einer Reform«.31 Gestalten wie Johann Schmidt mit seiner Anklage- und Reformschrift noch im Dreißigjährigen Krieg, Johann Konrad Dannhauer, auf allen theologischen Gebieten streitbar tätig, und Sebastian Schmidt, der überragende Bibelwissenschaftler, hatten ihre Wirkung auf Spener ausgeübt. Schließlich waren Feder und Kanzel dann wirksame Mittel, Kirchenreform durch Studienreform voranzutreiben – mitunter fast ›unbeabsichtigt‹, jedenfalls publizistisch nicht lange geplant, wie die unter großem Zeitdruck entstandene, so eindrückliche Programmschrift Pia Desideria von 1675 zeigt. Neu war hierin wenig, aber – wie Martin Brecht zu Recht festhält – es war »maßvoll und […] zur rechten Zeit« formuliert.32 Die Kanzel wiederum als der zur Verfügung stehende Weg in die Öffentlichkeit bot die Möglichkeit, das Reformanliegen einem wachen kirchlichen Publikum nahezubringen. Ein letzter hier zu nennender Aspekt ist die ›Vorgeschichte‹ im Protestantismus. Unter dem sich nicht auf den ersten Blick erschließenden, aber durchaus begründeten Titel Die Erfindung des Theologen liegt eine beiläufig oben genannte Im theologischen (dogmatischen) System verortet Spener die Predigt innerhalb der Gotteslehre in der Lehre vom Heiligen Geist. Siehe ebd., Teilbd. 2, Bl. Xx2r ; ebd., Ende : SCIAGR APHIA DOCTRINAE FIDEI EVANGELICAE ; SEU Concionum Germanico idiomate Dresdae Anno 1687. habitarum […] Dispositiones Latinae tabulis exhibitae. Frankfurt/Main 1688, Bl. )(4r, »II. Spiritus S.[ancti] […] officium« und S. 61–64. Die von 1667 bis 1704 reichende Übersicht über Speners Cantate-Predigten in Catalogus Predigten von Spenern (Anm. 2), S. 128–133, zeigt auch die dreimalige Behandlung ausdrücklich des Predigtamts in den Jahren 1681, 1682 und 1688. In Predigten über das Straf-Amt des H. Geistes kann intensiv auf die Pflichten des Predigers eingegangen werden ; siehe z. B. Philipp Jakob Spener : Der Evangelische Glaubens-Trost […]. Hg. u. mit einer Einleitung von Alexander Bitzel. Hildesheim [u. a.] 2010 [Nachdruck der Ausg. Frankfurt/Main 1695] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther †, Dietrich Blaufuß Bd. 3.3), Teil 1 B, S. 928–954, Predigt Cantate (28.4. styli veteris) 1689, hier S. 945–951. 31 Martin Brecht : Philipp Jakob Spener und die Reform des Theologiestudiums [1986]. In : ders : Ausgewählte Aufsätze. Bd. 2 : Pietismus. Stuttgart 1997, S. 215–230, hier S. 217. 32 Ebd. – Vgl. auch Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), S. 160f.
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wertvolle Untersuchung zu theologischen Studienanweisungen in der Reformation und im konfessionellem Zeitalter vor – bis 1652 (Abraham Calov) reichend, fokussiert auf Wittenberg, mit einem Seitenblick auf Humanismus, Societas Jesu und Reformierte. Der Eindruck des Auseinanderstehens von Frömmigkeit und Theologie bei orthodoxen Theologen führte die Forschung dann an die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen zwischen Pietismus und Orthodoxie heran.33 An Studenten der Theologie wie an Theologieprofessoren stellt Spener die alles andere überwölbende Forderung, nämlich dass sie sich um die Heilige Schrift zu bemühen haben. Hier handelt es sich wirklich um ein ›pium desiderium‹, dessen Erfüllung zwingend zur Gottesverehrung im Heiligen Geist (pietas) gehört. Das ist im Rahmen von Speners Theologieverständnis geradezu als »théorie théologique de la connaissance« (theologische Erkenntnistheorie) grundgelegt.34 Dem ist alles unter- und eingeordnet. Darin unterscheidet sich die Theologie von den weltlichen Wissenschaften. Diesem Zusammenhang von einer dem Heiligen Geist verdankten wirklichen Schrifteinsicht und Schrifterkenntnis entspricht auch die Gewichtung der einzelnen theologischen Disziplinen. Keine Disziplin, auch nicht die Dogmatik, hat auch nur eine Chance, in der Gewichtung an die Schriftauslegung, die Exegese, heranzureichen.35 Die so starke pneumatologische Prägung der Theologie wendet Spener direkt auf die sich ihr verpflichtenden Personen an : Erst der Heilige Geist macht aus dem ›studiosus‹ einen ›studiosus theologiae‹.36 Was 33 Nieden : Erfindung des Theologen (Anm. 5), S. 123–125 u. S. 245. Vgl. auch wichtige Hinweise etwa zu dem bei Johann Arndt und Georg Calixt jeweils differierenden Verständnis von Theologie ebd., S. 212. 34 Matthäus Wassermann : La réformation du théologien d’après Philippe Jacques Spener : sa critique des études de théologie et ses propositions de réforme. In : Philippe Jacques Spener (1635–1705) : nouveaux aspects de son oeuvre et de son influence. Actes de la journée d’études du 9 mars 2005 organisée par le GRENEP (Strasbourg, Faculté de Théologie protestante). Réunis par Marc Lienhard et Matthieu Arnold. Paris 2005, S. 171–192, hier S. 172. 35 Ebd., S. 183–190 zu den einzelnen Disziplinen. Ihre jeweilige Bedeutung im Studienkonzept ist auch ablesbar am Grad der Verpflichtung einer Disziplin für Studenten verschiedener Begabung und unterschiedlicher (auch finanzieller) Studienmöglichkeiten. – Darf man hierin, im Vorgriff, Paul Anton als wirklichen Schüler Speners bezeichnen ? Siehe H[ermann] von Lips : Von den »Pastoralbriefen« zum »Corpus Pastorale«. In : Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle. Hg. von Udo Schnelle. Berlin 1994, S. 49–72, zu Paul Anton S. 54–57, hier S. 56. 36 Wassermann : Réformation du théologien (Anm. 34), S. 176 mit Anm. 22. – Das Der-Welt-Absterben ist für Theologiestudenten »nicht nur eine zierde, sondern ein ganz nothwendig werck, ohne welches sie zwar Studiosi einer so zu reden Philosophiae de rebus sacris, nicht aber Studiosi Theologiae, die da in dem Liecht deß Heiligen Geistes allein erlernet wird, seyn und [dafür, D.B.] gehalten werden«. Philipp Jakob Spener : Pia Desideria. Deutsch-Lateinische Studienausgabe. Hg. von Beate Köster. Gießen 2005. S. 146, Z. 10–13 ; lateinisch ebd., S. 147, Z. 3–7.
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das für das Verhältnis von Theologie und Glaube bedeutet, ist in Kürze gar nicht auszuloten.37 Es werden nun hier nicht Details von Speners Einzelanforderungen und Darlegungen zu den einzelnen Disziplinen erörtert. Stattdessen sollen die beiden Adressaten von Speners Forderungen zum Theologiestudium in den Blick genommen werden : Studenten und Professoren. Studenten
Ein lange Jahre im Kaufmannsberuf tätiger Mann entschließt sich, Theologie zu studieren, um Geistlicher zu werden.38 Spener geht die Frage umfassend an. Er fragt : Stand »der mensch schon wahrhafftig vorhin in einem göttlichen beruff« ? Die Praxis eines Kaufmanns weicht ja auch im besten Fall »von der wohlgefaßten Theologia« »gar weit« ab (428, Z. 3 u. 6–5 von unten). Beispiele für solchen Wechsel in den Kirchendienst gibt es freilich viele – »zu allen zeiten«. Auf das Beispiel Ambrosius’ wird verwiesen, der »von der weltl. verwaltung seiner Käyserlichen bedienung zu dem Bisthum gezogen worden« (429). Im Schluss a majore ad minus dürfe das erst recht für einen vor dem Studium schon auf das heilige Amt Vorbereiteten gelten (429). Das Beispiel eines Straßburger Kommilitonen mag näher gelegen haben : Als unverheirateter Goldschläger, in Amsterdam etabliert, war dieser über das Studium der Bibel in der Ursprache und dann das Theologiestudium »letztlich in Holland prediger worden.«39 Auch mit Verweis auf Johann Gerhard (1582–1637), den ursprünglichen Medizinstudenten, versucht Spener seinem Korrespondenten die Ängste davor zu nehmen, dass man an seinem Berufswechsel Anstoß nehmen werde (429f.). Andere Skrupel werden erörtert : Mit seinen 25 Jahren sei er nicht nur noch nicht zu alt, sondern mit noch 37 »Spener ne distingue pas entre théologie et foi.« Wassermann : Réformation du théologien (Anm. 34), S. 176. 38 Zum Folgenden wurde der ausführliche Brief Speners an NN, ohne Datum, herangezogen. Philipp Jacob Spener : Theologische Bedencken, Erster Theil. Hg. u. mit einem Vorwort von Erich Beyreuther. Hildesheim [u. a.] 1999 [Nachdruck der Ausg. Halle 1700] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther Bd. 11/1–2), Teilbd. 2, S. 427–433. Marcus Heydecke datiert den Text »deutlich nach 1679« (freundlicher Hinweis Dezember 2016). – Die Seitenangaben im Text oben beziehen sich hierauf. 39 Ebd., S. 429. Vgl. Philipp Jakob Spener an [Michael von Oppenbusch], 19.2.1679. In : Spener : Briefe Frankfurter Zeit (Anm. 26), Bd. 4 : 1679–1680. […] in Zusammenarbeit mit Martin Friedrich u. Peter Blastenbrei. Tübingen 2005, Nr. 9, S. 36–39, hier S. 36f., Z. 8–15 über einen Kommilitonen »Fischer«, »vorhin ein goldschläger gewesen« (freundlicher Hinweis von Marcus Heydecke, Halle/Saale, 8.12.2016).
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ungebrochenem Gedächtnis und – vor allem – schärferem und beständigerem Urteilsvermögen ausgestattet.40 Herausgehoben indes wird bei Spener der von der Theologie entliehene Gesichtspunkt : Sie wird nicht mit dem menschlichen Fleiß hauptsächlich ausgerichtet, sondern »das meiste muß geschehen in wirkung des H. Geistes« (430, II.3). Als zukünftiger Student der Theologie hat er die ›Jugendsünden‹ hinter sich gelassen und ist eher bereit dafür, eine Werkstätte des Heiligen Geistes zu werden. Selbst die [nicht-christlichen, D.B.] Ethici erwarten in post-jugendlichem Alter mehr Bereitschaft »zu solcher disciplin«. Für den Weg durch das Theologiestudium hält Spener ihn geeignet – schon das ›Muster‹ eines gelieferten lateinischen Textes zeige, dass er hier in kurzer Zeit mehr gelernt habe als Studenten während Jahren (431). Spener geht dann auf Einzelheiten des Studiums ein. Mit Sprachen wird der Student sich nur in elementarer Weise beschäftigen, von Philosophie vieles nicht bedürfen. Auf die Theologie ist er gut vorbereitet. Denn man darf davon ausgehen, »daß er bereits eine gute Zeit sein Christenthum werde treulich abgewartet […] haben«. Wahrscheinlich bringt er »mehr der wahren Theologia« mit als viele langjährig Ausgebildete, »ob wol nicht in forma methodica«. Schließlich muss man Wege gehen, den Widerspruch von Freunden und vor allem von Eltern »nach allem vermögen und kindlichem respect« aufzulösen. Denn hier gilt vonseiten der Freunde nicht »dero rath […] als ein(..) befehl«, und auch ein Verbot der Eltern »stünde nicht blosser dings in ihrer gewalt« (430f., III.4 ; IV.1f.). Ein Zweifaches bleibt dem anfragenden zukünftigen Geistlichen noch. Erstens die scharfe Prüfung der Gründe, Motive für diesen Berufswechsel. Schlimm wäre es, würde er im Amt des Pfarrers ein bequemes Leben suchen, »wie man in ihrer nachbarschaft in Holstein vielleicht exempel reicher und vermöglicher prediger antreffen möchte«. In seinem Alter von 25 Jahren muss und kann jene Prüfung noch viel überlegter geschehen als bei den Jungen »in der ersten jugend«. Zweitens : In dem Beruf des Theologen, der viel gefährlicher ist als schon der des Kaufmanns, soll und darf er – bei redlicher Intention – dem göttlichen Beistand vertrauen (432). Hier liegt aus der Feder Speners der konkretisierte Entwurf eines Pfarrerbildes vor. Die desideria sind klar umrissen : nüchterne Selbsteinschätzung, zutiefst ehrliche Motivation, Bereitschaft zu manchem Verzicht bzw. dazu, sich Gefahren zu stellen. Die Pluspunkte werden deutlich : fortgeschrittene Urteilsfähigkeit, Erfahrung im Christenstand – übrigens mit dem ausdrücklichen Hinweis 40 Veit Ludwig von Seckendorff wünschte gar ein höheres Studieneintrittsalter durch längeren Schulbesuch zu institutionalisieren. Lotze : Seckendorff (Anm. 7), S. 72.
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darauf, dass er »auch die Heil. Schrift mit fleiß zu lesen sich beflissen habe«,41 Entscheidung für die Theologie aus einem »trieb des gewissens« (431/4.). Solche Umsetzung eines andernorts ›theoretisch‹ entworfenen Konzepts zum Theologiestudium erfährt hier eine ad personam zugespitzte Konkretion, gewiss nicht systematisch-vollständig, aber handhabbar, nicht überfordernd und absolut nicht weltfremd – daher pastoraltheologisch wie seelsorgerlich hoch einzuordnen. Professoren
Die Eröffnung der Universität Halle (und dazu der Geburtstag des brandenburgischen Kurfürsten) war Thema der eingangs zitierten Predigt Speners, gehalten am 1. Juli 1694 in Berlin. Überliefert ist sie im Anhang des postum, im Jahre 1710, veröffentlichten dritten Bandes seiner Buß-Predigten als Danck-Predigt / auf dem [ !] geburts-tag der Chur-Fürstl. Durchl. zu Brandenburg / und einweihung der Universität zu Halle. Gehalten zu Berlin den 8. [recte : 1., D.B.] Juli [= 4. post Trinitatem] 1694.42 Der knappe Predigttext »Mag auch ein blinder einem blinden den weg weisen ?« ist dem Sonntagsevangelium entnommen.43 Hier geht Spener keine langen Umwege. Der »blinde« theologische Lehrer ist der Vertreter »unrechter lehr« (92). Der Prediger erörtert das Thema nicht unter der Frage ›wahr – falsch‹, sondern ›selig – verdammt‹. In großer Scheu vor übertriebener Prinzipientreue mutet er seiner Gottesdienstgemeinde Unterscheidungen zu, ob der Theologe durch ausdrücklich falsche Lehre versagt oder ob der ›blinde Leiter‹ nur »die wahrheit recht und gründlich vorzutragen nicht verstehet« (92). Zwei Möglichkeiten werden durchgespielt : der ›Fall in die Grube‹ als ewiges Verderben oder 41 Spener hat sich zur Lektüre der Bibel ausführlich geäußert und hermeneutische wie praktische Grundsätze dargelegt. Er fragt z. B., »warum nemlich zu dem lesen der heil schrifft so vieles, das eben in lesung anderer bücher […] nicht erfordert, nöthig seyn wollte ?« Er beantwortet u. a. dies in einer eigenen Schrift (ursprünglich Vorrede einer Bibelausgabe Leipzig 1694) : Das nötige und nützliche Lesen Der Heiligen Schrifft […] nun absonderlich getruckt. Frankfurt/Main, Leipzig 1695, S. 40. Wieder in Spener : Erste Geistliche Schriften (Anm. 67), Teil 2. Vorreden 1667–1698 (Spener : Schriften, Bd. 8.2), S. 285–323, hier S. 295. Andererseits ist aber »auch ein und anders bey dem bibel lesen in acht zu nehmen, das […] auch bey andern lesen, wann es etwas nützen solle, sich finden muß« (ebd., S. 74 bzw. S. 303, Punkt 4). 42 Spener : Bußpredigten III, Anhang (Anm. 1), S. 86–103. Die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich hierauf. – Datumskorrektur nach Catalogus Predigten von Spenern (Anm. 2), S. 184, und ebd., Anderer Theil, S. 38, jeweils sub 1694 ; der 8. Juli 1694 ist bereits mit einer weiteren Predigt ›besetzt‹. Luk 6, 36–42 ist Evangelium des 4. p. Trin. [= 1.7.1694]. 43 Luk 6, 36–42, hier aus Vers 39.
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ein solcher Sturz ›nur‹ als eine Gefahr – denn : Gottes Erhaltungswille wird an aufrichtigen Seelen nicht vergebens sein. Hören die Leute von einem ›blinden‹ Lehrer die seligmachende Botschaft, werden sie durch jenen Erhaltungswillen Gottes falsche »beysätze« (92, Z. 2 von unten) beiseiteschieben können. So übrigens kann Spener auch für Menschen »mitten im papsthum [sic]« (93, Z. 6) einen Weg zur Seligkeit für möglich halten. Und aus der weiteren Schilderung des Problems glaubensarmer Theologieprofessoren werden die unabdingbaren Anforderungen deutlich : lebendige Erkenntnis (nicht nur Wissenschaft von religiösen Dingen), lebendiger Glaube, der »wahre(.) gottseligkeit« (93) bedeutet. Beides ist mehr als »Wahrheit der Lehre«, die leicht zu einem »todten glauben« (94) führen kann. Und die Angst vor Pfarrern, die durch Theologieprofessoren ›verdorben‹ wurden, nimmt Spener seinen Hörern unter der Kanzel : Auch ein an Universitäten geförderter, gepflegter toter Glauben eines Predigers kann die Wirkung des durch ihn laut gewordenen Wortes Gottes nicht verhindern. Hier tritt die Person des Predigers völlig zurück hinter das durch Spener erwartete, menschlich unverfügbare Wirken Gottes durch den Heiligen Geist. Ja, hier ist Spener durchaus auf seine Hörer bezogen. Er schärft ihnen ein, dass die »gantze Kirche« auf die rechte Vorbereitung zukünftiger Pfarrer zu achten hat – »welche in dem amt dermahleins nicht blind / sondern sehend wären« (95, Z. 7). Hier wiederum kommt »das meiste […] endlich an auf die schulen« (95) : Das ist Gegenstand breiter Ausführungen über deren Pflichten und Möglichkeiten, wobei unter anderem natürlich Halle nun als die große Chance dargestellt wird. Ohne Gefangenschaft in einer schlechten Tradition kann hier die Universität neu anfangen. Spener malt ein positives Bild der sich in Halle etablierenden Theologie. In ihr werden sich »gelährtheit und alle Tugenden« verbinden. Ein entworfenes Siebenpunkteprogramm gipfelt abermals in der notwendigen Verbindung von Glaubenslehre und Früchten des Glaubens : eine »blosse(.) ungeheiligte(.) erudition« werde keinen Eindruck machen. – Dies ist die Sicht des Mannes, dessen Bedeutung für Franckes Weg nach Halle – und wohl für einiges darüber hinaus – jüngst pointiert formuliert wurde : »Der Erklärungsschlüssel für die Berufung Franckes liegt in der Person Philipp Jakob Speners.«44 44 Spener : Bußpredigten III, Anhang (Anm. 1), S. 100, Z. 4 von unten. Blaufuß : »Pflantzgarten« (Anm. 3), S. 69–71. – Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), S. 159 (Zitat) ; dazu S. 162, 165 ; S. 202f. Speners Hinweis auf die Gefahr, dass man den »geliebten Bruder [August Hermann Francke, D.B.] und Herrn D. Breithaupten honeste (zu) translocieren«, d.h. hinwegloben könnte, dass sie folglich für Halle nicht mehr zur Verfügung stünden. Ebd., S. 166 und öfters, wird deutlich, dass bei der Universitätsetablierung nicht die ›große‹ Freiheit herrschte, sondern in Berlin sehr wachsam darauf geachtet wurde, weder der Orthodoxie Anlass für Heterodoxievor-
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Die Sorge um ›Halle‹ begleitete den Vater des Pietismus bis in seine allerletzte Lebensphase. Schon gut ein halbes Jahr vor seinem Tod, im Juni 1704, formulierte er, unter Anleitung von Carl Hildebrand von Canstein, seinen auf ›Halle‹, aber auch auf erste Früchte der Förderung des Christentums eingehenden Abschiedsbrief an den König in Preußen, Friedrich I. Spener dankt für »ein theures kleinod, die unter deroselben aufgerichtete Universität zu Halle« und äußert Hoffnung auf weiteres Gedeihen – »daß der jetzige schöne zweig noch ein großer baum werde« – und auf den Schutz des Kurfürsten. Das ist es, womit er im Blick auf Halle »aus dieser zeit abtrete«. Dabei bat er seinen Landesherrn auch, die Aufmerksamkeit einerseits auf des »Allerhöchsten […] ehre und beförderung der ungeheuchelten gottesfurcht« zu richten und andererseits »in besetzung der geistlichen bedienungen auf die wahrhafftig würdige allein [zu] sehen«. Dass »hier und dar in städten und lande bereits sich mehrere exempel weisen treuerer prediger und in dem gehorsam göttlichen worts fleissiger zuhörer« – auch mit der Folge des Nachlassens der »bitterkeit« zwischen Reformierten und Lutheranern –, das sieht Spener gewiss auch als Frucht einer bekanntlich in seiner Berliner Zeit ›erfolgreichen‹ Personalpolitik : »viel tapfere männer, auch die anderwärts getruckt [unterdrückt, verfolgt, D.B.] gewesen[, haben] in denselben [sc. landen = Brandenburg, D.B.] ihren redlichen eiffer in aufrichtung des wahren christenthums anwenden können.« – Auf uns gekommen ist dieser schon Mitte 1704 vorbereitete (wohl der letzte uns bekannte) Brief aus der bis zum 30. Januar 1705 reichenden Korrespondenz Speners mit Friedrich I. als unter dem 25. Januar 1705, zehn Tage vor Speners Tod ausgefertigtes Schreiben, das von Canstein so überschrieb : An S. Königl. Maj in Preußen autoris [Speners, D.B.] abschieds-schreiben / kurtz vor dessen seliger abforderung aus dieser zeit.45 würfe zu geben noch zur Separation etc. neigenden Kräften gegenüber als nachgiebig zu erscheinen. Vgl. oben mit Anm. 27. 45 Philipp Jakob Spener an Friedrich I., Berlin 25.1.1705. In : Spener : Letzte Bedencken. Dritter Theil (Anm. 11), Teilbd. 2, S. 807f., hier S. 808. Blaufuß : »Pflantzgarten« (Anm. 3), S. 74f. Paul Grünberg : Philipp Jakob Spener. Bde. 1–3. Mit einer Einleitung von Erich Beyreuther. Hildesheim 1988 [Nachdruck der Ausg. 1893–1906] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther. Sonderreihe Bd. 1.1–3), Bd. 3, S. 361, nennt dieses Schreiben Speners als einziges aus dem Jahr 1705. Friedrich I. an Philipp Jakob Spener, 30.1.1705. In : Kurt Aland : Spener-Studien. Arbeiten zur Geschichte des Pietismus I. Berlin 1943, S. 198f., Nr. 68. – Spener hielt von 1701 bis 1704, jeweils am 18. Januar, eine Predigt zur (Erinnerung an die) Krönung Friedrichs zum König in Preußen in Königsberg : Spener : Buß-Predigten III, Anhang (Anm. 1), S. 177–197 (Nr. XV), S. 197–216 (Nr. XVI), S. 250–264 (Nr. XIX) u. S. 264–277 (Nr. XX), Catalogus Predigten von Spenern (Anm. 2), II, S. 36 : 1701, S. 34 : 1702, S. 35 : 1703 u. S. 35 : 1704. In der ersten Predigt rühmt Spener, wie unter dem jetzigen Herrscher »der Ubung der Gottseligkeit rühmlicher Schutz
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Spener konnte Anfang 1690 in seiner Grundschrift Von den Hindernissen der Gottesgelahrtheit bei den Ausführungen zur Homiletik leidenschaftlich gegen den Missbrauch einer »Predigt-Kunst« plädieren. Offenbar sieht er hier schwerwiegende Mängel im Studium. Diese werden ausdrücklich im Examen der Kandidaten offenbar, wenn Studenten die Frage nach ihrem Schwerpunkt mit dem Hinweis beantworteten, »sie hätten sich aufs Predigen geleget.« Spener wird dabei durchaus Johann Benedikt II Carpzovs »Drängen auf rhetorische Qualität von Predigten« im Auge gehabt haben.46 Die verhängnisvolle Übergeleistet worden […].« Philipp Jakob Spener : Getreuer Unterthanen Gebet für ihre Regenten. Berlin 1701, S. 5 ; ebd., S. 16, starker Hinweis darauf, dass neben allen Gaben (Verstand, Weisheit, Klugheit, Erfahrung) erst »ungefärbte Gottseligkeit« den Herrscher zu einem »dem gemeinen Wesen nützlichen Mann« macht. Schon am 10. Oktober 1691 hält Spener Francke gegenüber fest, dass die andernorts grassierende »verfolgende wuth« der Theologen in Brandenburg nicht so stark spürbar sei und Letzterer aus diesem Grund die Berufung nach Glaucha und Halle annehmen müsse. Spener : Briefwechsel Francke (Anm. 10), S. 50–52, hier S. 52, Z. 27f. – Vgl. Speners noch ganz anders lautende Schuldzuweisungen an die Obrigkeit hinsichtlich des verderbten Predigerstandes und der »Hohe[n] und andere[n] schulen[, die] […] gewiß nicht in dem stand (sind), wie sie sollten von den obrigkeiten erhalten werden […].« Philipp Jacob Spener : Die Evangelische Lebens-Pflichten […]. Hg. u. mit einer Einleitung von Erich Beyreuther. Hildesheim [u. a.] 1992 [Nachdruck der Ausg. Frankfurt/Main 1692] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther Bd. 3.2), Teilbd. 1, S. 600–621, Predigt in Leipzig Cantate [13.5.] 1688 »Treue deß predig-amts.«, hier S. 616f., Zitat S. 616, Z. 4f. von unten. Innerhalb solcher »Treue« ist der Dank Speners an Gott zu verstehen, »da er nun das vierdte jahr an dieser Stelle [Dresden, D.B.] antreten lassen, […] daß er meines Dienstes an seiner gemeinde länger zu brauchen beschlossen hat«. Spener : Glaubens-Trost (Anm. 30), Teil 2 A, S. 292–319, Predigt 6. post Trinitatis (7.7.) 1689 »Innerliche Gerechtigkeit«, hier S. 295. – Einer stichhaltigen Erforschung der »geistlichen bedienungen« im Territorium steht das »für die Pietismusforschung ärgerlich[e]« »Fehlen eines neueren märkischen Pfarrerbuchs« im Wege – Aufgabe von Kirche und Universitäten zugleich ; so Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), S. 311 Anm. 8. 46 Koch : Carpzov und Spener (Anm. 28), S. 165f., Zitat S. 166. Philipp Jakob Spener : Vorrede Zu denen […] aus […] D. Dannhauers Hodosophie gefertigten Tabellen, Von den Hindernissen der Gottesgelahrtheit […] übersetzet. In : ders : Kleine Geistliche Schriften. Mit Einleitungen, Vorreden, Registern, hg. von Johann Adam Steinmetz. Erster Theil. Hildesheim 2000 [Nachdruck der Ausg. Magdeburg, Leipzig 1741] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther Bd. 9.1), Teilbd. 2, S. (1009) 1012–1079 (1106), hier S. 1053, Z. 2 von unten. Grünberg : Spener Bd. 3 (Anm. 45), S. 250f., Nr. 251, Einzelheiten zur Publikation (aus) der Vorrede, die in diversen Ausg. von 1690 bis 1889 erschien. Vom Orde (Hg.) : Pietas et eruditio (Anm. 7), S. 29–59 (mit S. 246f.), bietet unter falschem – dem lateinischen – Titel ohne eine nötige Gesamtübersicht sowie ohne Nennung mancher diesen Text behandelnden Literatur (zu) knappe Auszüge (mit Erläuterungen) ohne den jeweiligen Seitennachweis aus der Vorrede Speners, nach vom Orde »neben den ›Pia Desideria‹ […] einer der grundlegendsten [sic, D.B.] Texte Speners überhaupt« (ebd., S. 247). Die hieraus von uns oben angezogenen Stellen sind ebd., S. 50, Z. 12, weggelassen. – Pietismus. Eine Anthologie (Anm. 29), S. 509–539, Kapitel 17, Quellen 1 bis 7, berührt die Frage der Theologenausbildung.
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schätzung einer Predigtrhetorik werde dem Predigtziel aber nicht gerecht, da sie nicht der Besserung, nicht dem Heil der Hörer diene. Was hier an Gutem vorgebacht werde, »schwätzen sie andern nach«.47 Indes : In dieser wichtigen Schrift (10.2.1690 lateinisch De impedimentis studii theologici) enthält sich Spener jeden Vorschlags zur Abhilfe. Dabei wollte er noch sechs Jahre später seine Ausführungen ausdrücklich nicht nur als Warnung vor falsch angelegtem Theologiestudium verstanden wissen : »[…] in dero vorrede ich denen studiosis Theologiae anleitung [ !] gab, was sie vorzunehmen, und wovon sie sich zu hüten haben.« Die Aufgabe der Professoren thematisierte er nur soweit nötig.48 Maßnahmen gegen jenen »greulichen Irrthum« auf dem Feld der Predigtlehre und -praxis, gegen einen den zukünftigen Geistlichen drohenden, von vielen schon erlittenen »Schifbruch« [ !] müssten die »Lehrer auf hohen Schulen«, die Professoren ergreifen.49 3. Paul Anton Professor Paul Anton, seit 1695 an der theologischen Fakultät Halle, legt nicht lange nach Speners eben zitiertem Werk nun seinerseits Elementa homiletica vor, 1700 das erste Mal erschienen, hier in der zweiten Ausgabe von 1707 herangezogen. Könnte er damit ein Stück weit im Sinne Speners gehandelt und einem der ›Hindernisse‹, der falschen Ausrichtungen des Studiums, entgegenzuwirken versucht haben ? Der doch recht unbestimmte Titel lässt es geraten erscheinen, nach einigen Bemerkungen zum Verfasser einen Blick auf den Text selbst zu werfen. Paul Anton (12.2.1661–20.10.1730) hat noch nicht die eingehendere Beachtung gefunden, die er wohl verdient. Dass er »einer der ausgeprägtesten Pietisten« 47 Spener : Vorrede Hindernisse (Anm. 46), S. 1053, Z. 12. – Diese Schrift Speners ist auch Ausgangspunkt der anders fokussierten Darstellung zur Sache bei Blaufuß : Gelebte Frömmigkeit (Anm. 4), S. 309–311. 48 Philipp Jakob Spener an NN, 16.4.1696. In : Spener : Letzte Bedencken. Dritter Theil (Anm. 11), Teilbd. 2, S. 565–571, hier S. 565. Fortsetzung des oben Zitierten : »Denn weil ich einiges [sagte], so zu der Professorum amt gehöret, nothwendig [ !] muste mit berühret werden.« 49 Spener : Vorrede Hindernisse (Anm. 46), S. 1053, die Zitate Z. 25–27 u. 29. Speners Kritik an der orthodoxen Predigt bzw. der von Carpzov »repräsentierte[n] Leipziger Homiletikausbildung« ist ausführlicher als in vorliegendem Abschnitt geschildert und in die Geschichte des Verhältnisses Spener – Carpzov eingeordnet bei Andres Straßberger : Memoria. Zur homiletischen Relevanz einer psychischen Kategorie in der lutherischen Orthodoxie und ihre Kritik in Pietismus und Frühaufklärung. In : Eruditio – Confessio – Pietas (Anm. 28), S. 261–314, hier S. 298–302. Die einschlägigen Textpassagen lateinisch | deutsch bei Albrecht Haizmann, zitiert ebd., S. 298f., in Anm. 163.
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war, kann einstweilen weder belegt noch bestritten werden. Die hier folgenden Hinweise bleiben fragmentarisch. Vor einer wissenschaftlichen Untersuchung zu Leben und Werk dieses in Halle 35 Jahre als Professor und von hier aus in verschiedenen Ämtern wirkenden Theologen braucht wiederum die Bemerkung in einem Handbuch nicht abzuschrecken, dass er »nicht die Zeit für wissenschaftliche Publikationen (fand)«.50 Paul Antons literarische Hinterlassenschaft ist in einer brauchbaren Bibliographie vom Beginn des 19. Jahrhunderts fürs erste zu überblicken.51 Selbstverständlich ermöglichen heutige komfortable Hilfen wie VD 17, VD 18 und diverse weitere digitale Erschließungsmittel umfangreicheren Zugriff auf Veröffentlichungen, an denen Paul Anton beteiligt war.52 Seine – auch dienstliche – Korrespondenz, von der wenig an gedruckten Schreiben bekannt zu sein scheint,53 ist soweit möglich zu rekonstruieren.54 Dafür wird man auf die unter seiner Leitung in Disputationen respondierenden Schüler ebenso achten 50 Johannes Wallmann : Wittenberger Orthodoxie gegen pietistischen Chiliasmus. Johann Georg Neumanns (1661–1709) Auseinandersetzung mit Philipp Jakob Spener [2001]. In : ders : Gesammelte Aufsätze III (Anm. 17), S. 348–368, hier S. 356. Das Thema der Studie von 2001 ist 2005 innerhalb einer Monographie weitergeführt (ebd., S. 353 Anm. 24) ; S. 359, 2. Absatz, blieb noch die Fassung von 2001 »geschehen soll« – recte : geschehen ist, erhalten. – Ders : Der Pietismus. Göttingen 1990 (Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch 4, Lieferung O 1), S. 73 ; in der »nur leicht überarbeitete(n) Form« Göttingen ²2005, S. 125. Beide Ausgaben rezensiert von Dietrich Blaufuß in : Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 59, 1990, S. 291–302 bzw. 75, 2006, S. 331–336. 51 Gottlieb Friedrich Otto : Lexikon der […] Oberlausizischen Schriftsteller. 1. Bd., 1. Abtheilung A–D. Görlitz 1800, S. 27–34 ; 1. Bd., 2. Abtheilung. Görlitz 1801, S. 604f ; 3. Bd., 2. Abtheilung. Görlitz, Leipzig 1803, S. 593–728, Nachtrag zu Bd. 1, hier S. 600f. (mit Nachweis vieler Dissertationen-Erstdrucke und Respondenten). Johann Daniel Schulze (Bearb.) : Supplementband zu J. G. Otto’s Lexikon der Oberlausitzischen Schriftsteller […], zum Theil aus dem Nachlasse des Verstorbenen. Görlitz, Leipzig 1821, S. 11. [Digitalisat Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden]. 52 OPAC Bibliothek Franckesche Stiftungen Halle/Saale bietet 141 Einträge (21.4.2017). 53 Beachte aber ›Lehrbriefe‹ Paul Antons an einige Beteiligte seiner Disserationen. Paul Anton : Syntagma dissertationum theologicarum […]. Ed[idit] Johann August Maier (Majer). Halle 1736 [VD 18, Digitalisat Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt (ULB) Halle], hier unter Nr. XIII, XIV, XVI, XX u. XXII jeweils an NN, nur Nr. XIII auch an Johann Trib(b)echov (1694–1698 in Halle/Saale). Martin Greschat : Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie. Witten 1971 ; auf den S. 301, 303, 305f. sind Briefe an Paul Anton aus dem Jahr 1719 verarbeitet. Vgl. dazu unten Anm. 61. 54 Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), z. B. S. 233f. mit Anm. 637–642, Paul Anton an Kurfürst Friedrich III. (ab 1701 Friedrich I., König in Preußen), 28.6.1698 ; ebd., S. 270 Anm. 99 Paul Anton an August Hermann Francke, 29.4.1713. In der Wallmann-Sträterschen Spener-Briefe-Edition sind inzwischen für den Zeitraum vom 7.9.1686 bis 1.4.1691 16, zum Teil gedruckte, Schreiben Speners an Paul Anton ediert.
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wie auf Hörer seiner Vorlesungen (auch Nichttheologen wie Johann Wolfgang Künstel), z. B. Johann Albrecht Bengel (1687–1752). Er hörte bei Anton über Offb 13 bis 16 und griff auf Abschriften dazu zurück.55 An autobiographischem Material, das Johann Heinrich Callenberg (1694–1760) zur Verfügung stand und aus dessen Feder eine Darstellung Paul Antons vorliegt, ist nicht vorüberzugehen.56 (Reise-)Tagebücher dürften auch Einblicke in prägende Erfahrungen der Frühzeit gewähren.57 Publikationen anlässlich seines Todes bieten durchaus nicht nur Panegyrisches.58 Zeitschriftenbeiträge Antons sind nicht zu übergehen. Verständlich, dass er, (zusammen mit August Hermann Francke) im Hause Otto Menckes als Informator verkehrend, für dessen Acta Eruditorum einige Rezensionen, mehrere über Richard Simon (1638–1712), verfasste.59 In der pietistischen Zeitschrift Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes ist 55 Wallmann : Der Pietismus (Anm. 50), 1990, S. 135 ; ²2005, S. 222. Peter Schicketanz : Der Pietismus von 1675 bis 1800. Leipzig 2001, S. 146. Siehe unten mit Anm. 103. Elisabeth Quast : Ein unbequemer Mitarbeiter. Johann Wolfgang Künstel, Chemiker und Arzt. In : Soboth [u. a.] (Hg.) : »Aus Gottes Wort« (Anm. 92), S. 735–751, hier S. 745 mit Anm. 52. »Patron(us) et Praeceptor(.)« wird Anton genannt. 56 Siehe Christoph Rymatzki : Hallischer Pietismus und Judenmission. Johann Heinrich Callenbergs Institutum Judaicum und dessen Freundeskreis (1728–1736). Halle, Tübingen 2004, S. 48 Anm. 95 u. S. 529/1741 [15]. Christian Peters : »Daraus der Lärm des Pietismi entstanden«. Die Leipziger Unruhen von 1689/1690 und ihre Deutung durch Spener und die hallischen Pietisten. In : Pietismus und Neuzeit 23, 1997, S. 103–130, hier S. 122. 57 Lächele : Repertorium (Anm. 60), S. 372, dritter Eintrag. Die hier genannten »verschiedenen Religions-Gespräche(.)« – siehe unten Anm. 80 – sind angedeutet in Anton : Selbstbiographie (Anm. 58), S. 243 »Gelegenheit zu colloquiis«. 58 Am besten greifbar Paul Antons Selbstbiographie, hg. mit Ergänzungen von Gotthilf August Francke. In : Johann Henrich Reitz : Historie Der Wiedergebohrnen […]. Hg. mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten u. Ergänzungen aus den späteren Auflagen von Hans-Jürgen Schrader [Vollständige Faksimile-Ausg. der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745)]. Tübingen 1982, 4. Bd : Teil VII. (1745), S. 232–260. 59 (Augustinus) Hub.(ertus) Laeven : The »Acta Eruditorum« under the Editorship of Otto Mencke. The History of an International Learned Journal between 1682 and 1707. Translated from the Dutch by Lynne Richards. Mit einer Zusammenfassung in deutscher Sprache. Amsterdam, Maarssen 1990, S. 373, demnach gibt es von Anton sieben Rezensionen in Acta Eruditorum 1686, je eine 1687 und 1689 aus dem Gebiet der Theologie, siehe ebd., S. 136 »the classification of the reviewed work«. Literatur über 1707 hinausgehend siehe ebd., S. 131, 273. [Die wichtige Arbeit von Laeven fand 2014 eine Fortsetzung für die Zeit bis 1732 : https://manualzz.com/doc/10299442/ laeven-acta-eroditorum (letzter Aufruf 30.1.2019)]. – August Hermann Francke : Lebensläufe. Autobiographie und Biographie. Hg., kommentiert u. mit einem Nachwort versehen von Markus Matthias. 2., überarbeitete Aufl. Leipzig 2016, S. 35, Anm. 231 (Francke. Bibliographie, Anm. 94, S. 623–626, Nr. M 1.1 bis M 6.1 »Autobiographische Aufzeichnungen«).
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er während 20 Jahren mit Abstand am häufigsten vertreten.60 ›Große‹ Periodika wie etwa die Unschuldigen Nachrichten kommen immer wieder auf Paul Anton zu sprechen.61 Umfangreiche Archivrecherchen sind erforderlich angesichts der Wirksamkeit Paul Antons auf verschiedenen Feldern. Geboren ist Paul Anton in Hirschfeld (Oberlausitz). Das Gymnasium besuchte er, zusammen mit Johann Georg Neumann, in Zittau, wo Christian Weise (1642–1708) Rektor war. Es schloss sich 1680 das Studium in Leipzig an, wo er eine Zeitlang bei Otto Mencke (1644–1707) wohnte. Schon bald erlangte Anton den Magistergrad (26.1.1682). Am 25.8.1683 wurde er magister legens, am 27.12.1683 als Kollegiat ins Große Fürstenkollegium gewählt, am 4.1.1684 bestätigt und am 17.1.1684 dort aufgenommen.62 1686 gründete er mit August Hermann Francke das Collegium philobiblicum, von 1687 bis April 1689 war er Reiseprediger des Kurprinzen Friedrich August von Sachsen, 1689 Superintendent in Rochlitz (welche Stelle er aber erst am 14.8.1689 antreten konnte).63 Dann wurde er 1690 Lizentiat der Theologie, 1692 Kirchenrat und Hofprediger
60 Reinhard Lächele : Pietistische Öffentlichkeit und religiöse Kommunikation. Die »Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes« (1730–1761). Ein Repertorium. Epfendorf 2004, S. 429f., dort das bei weitem umfangreichste Lemma ›Anton, Paul‹. Die vielen Registereinträge der historischen Fundorte müssen im systematisch angelegten Repertorium innerhalb von acht Abteilungen gesucht werden. Vgl. auch Otto : Oberlausizische Schriftsteller (Anm. 51), S. 34, Nr. 49–53, nachgewiesen fünf Titel in Auserlesene Materien. 61 Unschuldige Nachrichten 1749, S. 742–745 u. 745–755 : Valentin Ernst Löscher an Paul Anton, 18.2.1719, und Paul Anton an Valentin Ernst Löscher, März 1719, zur Frage der Verständigung zwischen Löscher und Halle. Ebd., 1737, S. 796–809 Rezension über Antons Harmonische Erklärung der heiligen vier Evangelien (Halle 1737). Demnach gehe die Publikation hervor aus 44 ›Lectionen‹ (S. 796) und enthalte eigenständige Gedanken (S. 796f.). Der Bezug auf hallesche Autoren, aber auch auf die ›Symbolischen Bücher‹ wird ausdrücklich hergestellt (S. 808f.) und auf die Bedeutung des Werkes für den Zugang zu einem angemessenen Abendmahlsverständnis hingewiesen (S. 797f.). Johann August Majer (1700–1759), Diakon an der Ulrichskirche, ist offenbar der Betreuer von Antons literarischer Hinterlassenschaft. 62 Anton : Selbstbiographie (Anm. 58), S. 239f. Francke : Lebensläufe (Anm. 59), S. 35 Anm. 231. Gößner : Der terministische Streit (Anm. 13), S. 56–71, zur Leipziger theologischen Fakultät dieser Zeit. 63 Philipp Jakob Spener ermunterte Anton, die Ernennung auf eine der »wichtigeren Superintendenzen« zum Erwerb eines akademischen Grades anzunehmen. Brief an Paul Anton, 29.6.1689. In : Philipp Jakob Spener : Briefe aus der Dresdner Zeit 1686–1691. Band 3 : 1689. Hg. von Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Tübingen 2013, S. 327–331, hier 329, Z. 46– 50 (51 : Francke !). – Dienstantrittsdatum nach Leichenpredigt ; Roth : Auswertungen (Anm. 75), S. 232 sub 1689.
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in Eisenach, 1695 Professor der Theologie in Halle und Konsistorialrat, 1698 Doktor der Theologie, 1709 Inspektor des Saalkreises.64 Paul Antons Nähe zu Spener ist ausgeprägt. Schon 1681, als ersterer wegen der Pest aus Leipzig wich, hatte er auf einer Reise (mit dem nicht weiter bekannten C. E. Leffler [Löffler]) nach Darmstadt und Umgebung, Gießen und Marburg auch eine beeindruckende persönliche Begegnung mit dem Frankfurter Senior.65 Weiterhin beriet und förderte Spener Anton, zahlte für ihn beim Eintritt in brandenburgische Dienste gar Kanzleigebühren an den Staat.66 Zwei Spenerschriften, die Anton zunächst als unakademisch weniger geschätzt hatte, spielten für ihn eine besondere Rolle. Die Ursachen der Seligkeit und Verdammnis aus dem Jahr 1680 war der Beginn einer »ersten Hochachtung« gegenüber dem ihm bis dahin unbekannten Autor.67 Die kleine, 1684 erschienene Schrift Christlicher Unterricht Von seliger Wiederkehr Zu der Evangelischen Wahrheit setzte Anton ein bei der dann geglückten Rückgewinnung eines ehedem katholisch gewordenen Protestanten. Die Auslegung des Ersten Johannesbriefes ließ Spener auch an Anton verteilen.68 Antons erste Dissertation in Halle vom 15. Mai 1696 64 Siehe das Biogramm bei Spener : Briefwechsel Francke (Anm. 10), S. 411 Anm. 64, wo auch ältere Literatur ausgewertet ist. Die Kurzvita in Spener : Briefe 1686–1687 (Anm. 70), S. 91 Anm. 1, enthält leichte Abweichungen. – Die Schritte zu den akademischen Graden nach der Leichenpredigt (Anm. 75) : 17.12.1681 Disputation Leipzig, 26.1.1682 Magistergrad, 25.8.1682 Anton habilitiert sich als Magister (11.8.1683 erste Vorlesung) ; baccalaureus theologiae Leipzig, 17./18.9.1690 Lic. theol. Leipzig (VD17 3 :003814A), 31.7.1698 Dr. theol. Halle (VD17 3 :613604Z). Zu Antons Wechsel nach Halle siehe Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), S. 222–225. 65 Anton : Selbstbiographie (Anm. 58), S. 238f. »[…] in Erinnerung der in Franckf. an denselben [Spener, D.B.] gesuchten kundschafft [Bekanntschaft, D.B.]« sandte ihm Anton seine Disputationsschrift vom 21.8.1686 zu (wie August Hermann Francke festhält). Francke : Lebensläufe (Anm. 59), S. 33, Z. 10–13. 66 Spener : Briefwechsel Francke (Anm. 10), S. 434 Anm. 18. Vgl. weiter ebd., S. 419, Z. 19–21 mit Anm. 8. 67 Philipp Jakob Spener : Die Ursachen der Seeligkeit und Der Verdammniß. In : ders : Erste Geistliche Schriften 1699. Predigten 1668–1681. Hg. u. mit einer Einleitung von Dietrich Blaufuß u. Klaus vom Orde. Hildesheim [u. a.] 2002 [Nachdruck der Ausg. Frankfurt/Main 1699] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther u. Dietrich Blaufuß Bd. 8.1/1), S. (598) 601– 630, 631–653. Die Predigten wurden am Dienstag nach dem 9. bzw. 10. Sonntag nach Trinitatis, 1. bzw. 8. August 1679 gehalten. Catalogus Predigten von Spenern (Anm. 2), II, S. 79 unter den Miscellanen-Predigten. Anton : Selbstbiographie (Anm. 58), S. 237. 68 [Philipp Jakob Spener :] Christlicher Unterricht Von seliger Wiederkehr Zu der Evangelischen Wahrheit/ Der jenigen/ welche sich von derselben zu irriger Lehr/ sonderlich dem Papstthum verführen lassen/ und Nun von Gottes Geist wiederumb zur buß gerühret werden. Samt einem Gebet in solchem Zustand. Auffgesetzt von S. M. E. F. Frankfurt/Main 1684 u. öfter, Gebet ebd., S. 67–85 ; Ergänzung zu § 16 ebd., S. 85–89 ; Inhalt ebd., S. 90–92 (siehe Grünberg : Spener Bd. 3,
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diente unter anderem der Zurückweisung des in Johann Benedikt II Carpzovs ursprünglich für den 4. Oktober 1695 vorgesehener, dann wegen Krankheit erst am 15. Januar 1696 abgehaltener Leipziger Disputation gegen Spener erhobenen Vorwurfs einer Verfälschung der Rechtfertigungslehre. Anton will ausdrücklich dem Gegner nicht zu nahe treten (»aegre facere«), aber sich in Halle gerade auch bei den Geistlichen um Vertrauen in seine (Antons) Rechtgläubigkeit (»ὀρθοδιδασκαλία«) bemühen, die auch nicht angezweifelt worden sei ; Spener selbst freilich bedürfe keiner Verteidigung.69 Anton war weiterhin erkennbar in Überlegungen Speners etwa personalpolitischer Art einbezogen,70 lieferte Material Anm. 45, S. 259f., Nr. 304). Auch in Spener : Kleine Geistliche Schriften (Anm. 46). Zweiter Theil. Hildesheim 2000 [Nachdruck der Ausg. Magdeburg, Leipzig (1742)] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther Bd. 9.2/1), Teilbd. 1, S. 89–131 ; Gebet ebd., S. 132–142 ; Ergänzung zur XVI. Abtheilung ebd., S. 142–144 ; kein Inhaltsverzeichnis ; S. M. E. F. wohl Senior Ministerii Evangelici Francofurtensis ? – Spener : Briefwechsel Francke (Anm. 10), Nr. 160, Z. 6 u. 14. 69 Paul Anton (Pr.), Wolfgang Balthasar Rauner (Resp.) : De harmonia fidei quae justificat et fidei, quatenus justificare dicitur. […] ex. A.C. ejusque apologia praecipue concepta. (16.5.1696 und o.J. [1696, digitalisiert in ULB Halle] [VD 17 zwei Mal]). Halle (Vorwort »B.[enigno] L.[ectori]« vom 11.11.1702, S. [3] – [4], dort S. [3] die Angabe des tatsächlichen Abhaltedatums der Carp zov-Disputation ; benutzte Ausg. Herzog August Bibliothek [HAB] Wolfenbüttel, WA 5973 :20 (34) ; digitales Exemplar der Ausg. Halle 1707 in Münchner Digitalisierungszentrum MDZ). – Johann Benedikt II Carpzov (Pr.), Statius Grünwald (Resp., Auctor) : De iure decidendi controversias theologicas (laut Titelblatt des Einzeldrucks Leipzig 1696 vorgesehen für 4.10.1695). In : ders : Disputationes academicae, philologicae, exegeticae, polemicae. Hg. von Samuel Benedikt Carpzov. Leipzig 1699, S. 1209–1304, hier S. 1237–1246 vor allem der Vorwurf, dass Uneinigkeit durch Streit herbeigeführt werde. Weitere Einzeldrucke Leipzig 1699, Halle 1701 (mit Anmerkungen von Christian Thomasius). – Anton hat Johann Benedikt II Carpzovs Wende vom Unterstützer spenerscher Anliegen zum »erbitterte(n) Gegner« Speners festgehalten. Francke : Lebensläufe (Anm. 59), S. 29 Anm. 190. Andres Straßberger : Eruditio – Confessio – Pietas. Aspekte im Leben und Werk Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699). In : Michel, Straßberger (Hg.) : Eruditio (Anm. 28), S. 19–60, hier S. 45f. zu Carpzov, Grünwald (siehe oben) und S. 46f. (Franckes und Thomasius’ Beitrag zum Bruch mit Carpzov). Markus Matthias : Johann Benedikt Carpzov und Christian Thomasius. Umstrittene Religions- und Gewissensfreiheit. Ebd., S. 223–247, hier S. 240–243 Referat zu Carpzov, Grünwald und weiter zu Thomasius’ Antwort ; hier S. 241 zur Verschiebung der Disputation vom 4.10.1695 auf 15.1.1696. Kurz Gößner : Der terministische Streit (Anm. 13), S. 340 Anm. 86 (mit S. 463 sub Carpzov). 70 Spener : Briefwechsel Francke (Anm. 10), Nr. 188, Z. 17–28 (1699/1700 Johann Fischer im Streit Francke – Stadtgeistlichkeit ; dazu auch ebd., Nr. 207) ; Nr. 230, Z. 33–41 (Pfarrstellenbesetzung Wolmirstedt 1700). Spener an Paul Anton, 21.11.1687. In : Philipp Jakob Spener : Briefe aus der Dresdner Zeit 1686–1691. Bd. 1 : [12.7.] 1686–1687. Hg. von Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde u. Peter Blastenbrei. Tübingen 2003, S. 692–697, hier S. 696, Z. 91–100 (Stellenbesetzungen in Wittenberg, Jena, Zwickau u. Zittau). An einer etwas komplexen Personal entscheidung war Anton ›am Rande‹ beteiligt, ebd., Nr. 201 in Anm. 36 u. Nr. 202, Z. 19–28.
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für Speners Widerlegung Samuel Schelwigs (1643–1715), vermittelte Briefe Speners und predigte vor der Berufung nach Rochlitz mehrmals in Dresden.71 Für eine 1706 erschienene antisozinianische Schrift Speners schrieb Anton das Vorwort.72 Und in die Reihe von 13 Schriften gegen den Unfug der Pietisten reihte sich Anton ebenfalls schon 1694 ein.73 Über Duellverordnungen für die Universität Halle korrespondierte Anton im März 1696 mit Spener.74 Die Lehrtätigkeit Antons war breit angelegt. Gotthilf August Francke spricht von ›exegetica‹, ›antithetica‹, ›apologetica‹, ›historico-ecclesiastica‹, ›homiletica‹, ›ascetica‹ sowie von Vorlesungen über die Symbolischen Bücher (mehrmals) – ausgearbeitete Texte hierzu gelangten handschriftlich 1740 und früher an Johann Adam Steinmetz (1689–1762) – und über das Tridentinum. Die Vorlesungen waren wohl herausragend, vielleicht auch unkonventionell – ausdrücklich ist dies für seine kontroverstheologischen und polemischen Veranstaltungen bezeugt.75 Die Lehrveranstaltungen wichen ab vom Üblichen, Studenten »entzogen sich wol 71 Spener : Briefwechsel Francke (Anm. 10), Nr. 115, in Anm. 10 sowie Nr. 234, Z. 27f. (Spener für Johann Wilhelm von der Lith, ab 1697 in Halle). Peters : Leipziger Unruhen (Anm. 56), S. 124. 72 Grünberg : Spener Bd. 3 (Anm. 45), S. 260, Nr. 306. 73 Martin Gierl : Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, S. 148–152, bes. S. 150f. in Anm. 88, S. 152, auch S. 586. Susanne Schuster : Johann Benedikt Carpzov und August Hermann Francke. »Orthodoxe« und »pietistische« Grenzziehungen im Zusammenhang der »Leipziger Unruhen«. In : Michel, Straßberger (Hg.) : Eruditio (Anm. 28), S. 183–202, hier S. 195–201 Darstellung des Unfug[s] der Pietisten. Ebd., S. 411–430 Susanne Schusters Edition des Pfingstprogramms auf 1691 von Johann Benedikt II Carpzov (zweisprachig). Weiteres zur Auseinandersetzung um den Unfug der Pietisten siehe Spener : Briefwechsel Francke (Anm. 10), S. 303 Anm. 17. 74 Spener : Briefwechsel Francke (Anm. 10), S. 442 in Anm. 20. – Spener sprach mit Paul Anton schon am 26. Juli 1687 über die Abschaffung von Duell und Pennalismus. Spener : Briefe 1686– 1687 (Anm. 70), Nr. 114, Z. 44–46. 75 Anton : Selbstbiographie (Anm. 58), S. 255, aus Ferneres Zeugniß [Gotthilf August Franckes] […] an die Studiosos Theologiae (das ist : Lectio paraenetica 9.11.1730. Leichenpredigt Paul Anton. Stolberg Leichenpredigten-Sammlung, Nr. 3963 [HAB Wolfenbüttel], S. 103–124) : »Seine [P. Antons, D.B.] Methode im dociren war gantz besonder [sic], solid und gründlich […].« Gotthilf August Francke : Nachmittags-Predigt 29. Oktober 1730 (21. Sonntag nach Trinitatis). Leichenpredigt Paul Anton, ebd., S. 118, zu den Vorlesungen über Polemik. Die Hallenser Vorlesungsankündigungen, meist Einblattdrucke, der Jahre 1696–1728 geben ebenfalls recht detailliert über die von G.A. Francke genannten Themen Auskunft, die Anton behandelte. Unten mit Anm. 105 Steinmetz als Empfänger von Anton-Manuskripten, bes. zu den Bekenntnisschriften. – Zur (nicht »restlos«, sondern vor allem hinsichtlich der Vita und des Netzwerks [Gedichte] erfolgten) Auswertung der Reden anlässlich von Antons Ableben siehe Fritz Roth : Restlose Auswertungen von Leichenpredigten und Personalschriften für genealogische und kulturhistorische Zwecke. 10. Band. Boppard/Rhein 1980, S. 232–234, Nr. R 9346.
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seinen Lectionen«.76 Nach Ungarn wird berichtet von seiner auch am Sonntag stattfindenden Tätigkeit »in Collegio Pietatis, quod ex Praelectione Passionis Dominicae instituit Excellentissimus Dominus Anton«.77 Die Haltung Antons zum Judentum ist etwa aus seinen Gutachten und der Gestaltung seiner persönlichen Kontakte bis hin zur Beteiligung an Judentaufen zu klären.78 Markant ist die Bedeutung Antons für die Leipziger pietistische Bewegung, auffallend dabei, wie wenig er in Streitigkeiten verwickelt ist : Das mag in der von ihm deutlich erkennbar gemachten Nähe zum lutherischen Bekenntnis begründet gewesen sein. Die verwandtschaftliche Beziehung zur Familie Olearius durch die Heirat mit Johanna Elisabeth Olearius79 bewahrte Anton vielleicht vor mancher Auseinandersetzung. Der frühe Abschied von Leipzig am 27. April 1687 zum Antritt der von Spener vermittelten Reisepredigerstelle (über deren Verlauf und Erlebnisse einiges berichtet ist)80 in Diensten des Kurprinzen Friedrich August schloss direkte Konflikte aus. Die Zeit der ab Juni 1689 wieder aufgenommenen Vorlesungen in Leipzig verlief offenbar ruhig.81 Antons Beitrag zum Gespräch Valentin Ernst Löschers mit Halle vermag wohl weiteren Aufschluss über seine
76 G.A. Francke : Lectio paraenetica (Anm. 75), S. 114 ; nicht in der Druckfassung, Anton : Selbstbiographie (Anm. 58). 77 Matthias Bel an Martin Klement, 25.–30.10.1704 (ungar./lat.). In : Bél Mátyás : levelezése [Matthias Bel : Briefwechsel]. Hg. von N[agy] Lászlo Szelestei (und Tibor Grüll). Redaktion Tarnai Andor. Budapest 1993 (Commercia Litteraria Eruditorum Hungariae. Magyarországi tudósok levelezése 3), Nr. 3, S. 16f., hier S. 16. [Die ungarische Kommentierung dieser wichtigen Edition ist leider schwer zugänglich, gut zu verstehen sind hingegen die meist lateinischen Briefe für 1704 bis 1749. Vgl. meine Rezension in : Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 68, 1999, S. 312–315.] – Handelt es sich um eine ›Tradition‹ des »collegium Sabbathicum«, von dem August Hermann Francke schon 1692 berichtet ? Taatz-Jacobi : Friedrichs-Universität Halle (Anm. 14), S. 196 mit Anm. 400, auch S. 208, 211. 78 Rymatzky : Callenberg (Anm. 56), S. 62 mit Anm. 78 ; vgl. weiter S. 117f. mit Anm. 79, S. 121 Anm. 98. Johannes Wallmann : Das Luthertum und die Juden in der Leibnizzeit. In : ders : Gesammelte Aufsätze III (Anm. 17), S. 318–337, hier S. 334f. 79 Anton : Selbstbiographie (Anm. 58), S. 246. Hans Leube : Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig […] (1921). In : ders : Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Mit einem Geleitwort von M.[artin] Schmidt u. einer Bibliographie hg. von Dietrich Blaufuß. Bielefeld 1975, S. 12f., 153–267, hier S. 194. 80 Francke : Lebensläufe (Anm. 59), S. 35, Anm. 232. Spener : Briefe 1686–1687 (Anm. 70), Nr. 84, Z. 8–16. – Sieben Fortsetzungen aus dem in einer Samstag-Nachmittags-Veranstaltung Antons von 1723 vorgetragenen Reisebericht sind in Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes 1731 u. 1732 im Umfang von knapp 120 Seiten publiziert. Fundorte und Kurzinhalt bei Lächele : Repertorium (Anm. 60), S. 368–372. Siehe oben mit Anm. 57. 81 Anton : Selbstbiographie (Anm. 58), S. 245.
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theologische Ausrichtung zu geben.82 Aus den Resten seiner Bibliothek, die teils versteigert wurde, teils an die Witwe und an andere Verwandte ging sowie zu einem weiteren Teil – wohl auch als Bestand der Privatbibliothek Carl Hildebrand von Cansteins – der Waisenhausbibliothek einverleibt wurde,83 wird man vorsichtige Rückschlüsse auf Antons Interessen und Prägung ziehen dürfen. 3.1 Die Elementa homiletica (1700) 21707
Aus Paul Antons thematisch breit angelegter Lehrtätigkeit wird hier das Beispiel seiner Einführung in die Predigtlehre und seiner Anleitung zu homiletischem Handeln zukünftiger Geistlicher herausgegriffen. Vergleichsmaterial wäre für den Anfang des 18. Jahrhunderts reichlich heranzuziehen. Knapp 100 Titel für die Zeit bis 1710 führt die einschlägige Bibliographie von Dyck/Sandstede an, und die Idea eloquentiae sacrae (1708) von Justus Christoph Böhmer (1670–1732) lässt in Helmstedt betonte Schwerpunkte der Predigerausbildung erkennen.84 Spener wie Anton waren an diesen Fragen elementar interessiert ; sie maßen einer Rhetorik des Heiligen große Bedeutung bei.85 Antons Elementa homiletica 82 Kramer : Francke (Anm. 27). Zweiter Teil. Mit einem Namenregister. Hildesheim [u. a.] ²2004 [ergänzter Nachdruck der Ausgabe 1882], S. 275, 303–306 und weiter. Greschat : Löscher (Anm. 53), S. 169, 295f. u. öfter, siehe Register u. oben Anm. 52. – Vgl. die wichtige Beobachtung einer Wirkung auf die Homiletikausbildung (inhaltlich !) in Halle im Zusammenhang mit den Verständigungsbemühungen Löscher – Halle 1719 bei Straßberger : Homiletikvorlesung Herrnschmidts (Anm. 90), S. 105f. mit Anm. 52. 83 So der Diakon von St. Ulrich in Halle, Johann August Majer in einem längeren Prosatext unter den Epicedien, die der Leichenpredigt für Paul Anton beigegeben sind, in : Stolberg (Anm. 75), S. 157–166, hier S. 161 Anm. **. Brigitte Klosterberg, Anke Fiebiger : Die Privatbibliothek Carl Hildebrand von Cansteins. In : Soboth [u. a.] (Hg.) : »Aus Gottes Wort« (Anm. 92), S. 681–693, hier S. 682–684, 689. 84 Joachim Dyck u. Jutta Sandstede : Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Bd. 3 (Register). Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 1332–1354 Titelregister Homiletik. Dietrich Blaufuß : Böhmer, Justus Christoph (Pr.), Leonhard, Johann Christoph (Resp.). Idea eloquentiae sacrae. Helmstedt 1708. In : Rhetorik, Poetik und Ästhetik im Bildungssystem des Alten Reiches. Wissenschaftshistorische Erschließung ausgewählter Dissertationen von Universitäten und Gymnasien 1500–1800. Hg. von Hanspeter Marti, Reimund B. Sdzuj u. Robert Seidel unter Mitarbeit von Karin Marti-Weissenbach. Köln, Weimar, Wien 2017, S. 380–395. 85 Zugriff auf Briefe und Gutachten Speners ist leicht möglich. Spener und die späteren Herausgeber haben in den 10 Bänden (Teilen) der Brief- und Gutachten-Sammlungen den einschlägigen 73 Stücken zum Theologiestudium jeweils im ersten Band (Teil) im zweiten Kapitel die erste Abteilung (Artikel) zugewiesen, »von studiis academicis« : Theologische Bedencken, Erster Theil (Anm. 38), S. 395–434, 13 Stücke ; Ergänzungen ebd., Vierter Theil, S. 177–192, 6 Stücke ; Letzte
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Abb. 1 : Titelblatt der Dissertation Monita homiletica (Halle 1697) ; VD17 14 :009042N ; © HAB http://diglib.hab.de/ drucke/alv-t-146-11s/start. htm?image=00001.
sind mit einer Vorrede vom 28. August 1700 erstmals erschienen. Eine zweite Auflage legte der Verfasser 1707 vor. Sie ist im Ganzen unverändert, abgesehen Theologische Bedencken (Anm. 11), Erster Theil, S. 325–351, 11 Stücke ; Philipp Jacob Spener : Consilia et iudicia theologica Latina. Pars 1 bis 3. Eingeleitet von Dietrich Blaufuß. Hildesheim [u. a.] 1989 [Nachdruck der Ausg. Frankfurt/Main 1709] (Philipp Jakob Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther Bd. 16.1–2. Korrespondenz), Teilbd. 1, (1), S. 198–303, 43 Stücke. Die Register in den jeweiligen Schlussbänden der drei Brief- und Gutachtensammlungen bieten reichlich (weitere) Möglichkeiten unter den einschlägigen Stichworten. Von den 73 Stücken der alten Drucke bereits kritisch edierte siehe in der Synopse beider Ausgaben hierzu : https://www.edition-spenerbriefe.de/page/edition/schluessel-bed.-lbed.-cons.php (letzter Aufruf 1.2.2019). Fünf Bände der wissenschaftlichen Spener-Briefe-Ausgabe sind über ein Sachregister erschlossen : Zu Spener : Briefe aus der Dresdner Zeit (Anm. 63), Bd. 1–4, ebd., Bd. 4, 2017, S. 798–819, und Spener : Briefwechsel Francke (Anm. 10), S. 880–886. Nur pauschal sei auf die Register in den Predigtund Sammelbänden Speners hingewiesen ; gezielte Suche in Catalogus Predigten von Spenern (Anm. 2) führt zu einschlägigen Texten, siehe nur z. B. ebd., I, S. 131f., aber auch ebd., II, S. 51–74 (hier z. B. S. 53 : 1698 [3] Schade, [4], S. 62 : 1696 u. 1699, S. 65 : 1697 [2]) in Leichen-, vor allem aber in den Investiturpredigten (ebd., II, S. 102–110). Auch in Blaufuß : »Pflantzgarten« (Anm. 3), S. 72 mit Anm. 65, ist weiteres einschlägiges Material nachgewiesen ; zur Predigtgeschichte vor Spener siehe ebd., S. 55, Anm. 8.
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von verbesserten oder neu hinzugekommenen Fehlern sowie eingefügten Angaben von Referenzwerken. Indes reicht der Bestand von Elementa homiletica zum Teil zurück bis zur Dissertation Monita homiletica, die Paul Anton 1697 vom Respondenten Otto Wilhelm Schüs(s)ler (1670–1751) verteidigen ließ. Die Verflechtungen von Monita 1697 und Elementa homiletica 1700 und ²1707 sind vielfältig, eng.86 Den Hauptteil von Monita homiletica bilden Auszüge aus Franz Lambert von Avignons (1487–1530) Predigtlehre Commentarii de prophetia (Straßburg 1516 [i.e. 1526]). Diese finden sich vollständig wieder als umfangreichster Text im zweiten Teil der Elementa homiletica.87 Hier kommen weitere vier kurze Abschnitte mit Zitaten Benedikt Carpzovs d. J. (1595–1666) und Franz Lamberts von Avignon vor. Eingeschlossen sind einige Zitate aus Schüs(s)lers »Praefatio ad lectorem« von 1697, weiterhin zwei Mal Voten von Martin Luther aus den Tischreden und der Formula missae, während die Corollaria von 169788 ausdrücklich weggelassen werden.89 Das schwach bestellte Feld pietistischer Predigtgeschichte bearbeitet Andres Straßberger. Drei neue, weit ausgreifende wie quellenmäßig tiefschürfende Beiträge hat er vorgelegt bzw. wird er in absehbarer Zeit veröffentlichen. Für unseren sehr speziellen Blick auf Paul Antons Homiletikunterricht von 1700 kann damit der nötige Rahmen des »umfassende[n] reformerische[n] Zuschnitt[s] des Halleschen Homiletikunterrichts in seinen Umrissen« für die »Zeit August Hermann Franckes« markiert werden.90 Die Einordnung von Antons Beitrag in die »Entwicklungsgeschichte pietistischer Homiletik, vor allem was die Hallesche Traditionslinie betrifft«,91 wird dann in predigtgeschichtlicher Hinsicht plausibel erfolgen – ebenso wie der Versuch einer Beurteilung im großen Zusammenhang der »Homiletik im Pietismus« erfolgen kann.92 86 Siehe dazu Straßberger : Homiletische Ausbildung (Anm. 101), S. 45–51. 87 Paul Anton : Elementa homiletica, in materiam ac usum cum praelectionum, tum exercitiorum et censurarum […]. Accedunt […] monita homiletica. Halle ²1707, S. 40–80, hier S. 40–72. – [Nachweise aus Antons Ausführung werden oben im Text nach Caput (I, II, III) und Paragraph, eingangs nach Seite und Paragraph geboten]. 88 Paul Anton (Präs.) / Otto Wilhelm Schüsler (Resp.) : Monita homiletica e commentariis Francisci Lamberti Avenionensis de prophetia collecta […]. (Halle :) Christoph Andreas Zeitler (1697), S. 23f., I.–VIII. 89 Ebd., S. 73f., 74–76, 76–79 u. 79f., I.–IV. Aus Otto Wilhelm Schüs(s)lers »Praefatio ad lectorem«, Bl. A4r/v wird in Elementa S. 75f. (nicht ganz gleichlautend) zitiert. 90 Straßberger : Homiletische Ausbildung Halle (Anm. 101), S. 35 Anm. 35. Siehe ders : Homiletikvorlesung Herrnschmidts, in diesem Band, S. 85–110, hier S. 108 mit Anm. 61. 91 Ebd., S. 92 mit Anm. 18 (hier wichtiger Überblick). 92 Andres Straßberger : 5.1.7 Predigt. In : Handbuch Pietismus. Hg. von Wolfgang Breul. Tübingen
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Abb. 2 : Titelblatt der Elementa homiletica Paul Antons (Ausg. Halle 1707) ; VD18 : 10309810 ; Digitalisat Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle/ Saale (urn:nbn:de:gbv:3:1-176341).
Die Schrift Elementa homiletica – das verrät schon das Titelblatt – ist im Zusammenhang mit der Ausbildung der Theologen im Predigen entstanden. Drei Teile einer Predigt werden behandelt : Wege zur Textauslegung im umfassenden Sinn, die Vorbereitung dazu und die Anwendung für die Hörer – in dieser Reihenfolge. Unter der Voraussetzung der Gottesfurcht (S. 1, § 2) allein ist über die Heilige Schrift ebenso wie über die Predigt zu handeln. Menschliche Entfremdung von Gott, Hartherzigkeit und Weiteres indes erfordern es, Bekanntes und Klares aus der Heiligen Schrift einzubringen (Caput I, § 1). Solche vor Publikum nötige Darlegungen bedürfen zunächst der Vorbereitung : Die analysis logica kümmert sich um die Hauptaussage des Textes, aber auch um den Zusam(im Druck). – In den mir freundlicherweise zur Einsicht überlassenen Manuskripten (Anm. 90 u. hier) sind Straßbergers umfangreiche Studien zur Sache nachgewiesen. – Eine kurze Inhaltsangabe und einen Überblick zu Antons Elementa homiletica bietet Joseph S. Freedman : Central European Academic Texts on Preaching and Sermons during the Final Quarter of the Seventeenth Century : In the Service of Pietist Preaching ? In : Christian Soboth [u. a.] (Hg.) : »Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget«. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Gestalten im Pietismus. Halle, Wiesbaden 2012, S. 228–255, hier S. 234, 254.
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menhang. Im Falle mehrerer Themen müssen solche geordnet, gegeneinander abgewogen und nach ihrer Art bestimmt werden (I, § 4, vgl. § 10). Zwei der ›Analysis‹ [1] folgende Schritte umfassen die philologische Lexikon-, Konkordanz- und Kommentararbeit [2] sowie die ›rhetorische‹ Nachfrage nach der in den Begriffen und Ausdrücken steckenden Bedeutung [3] (I, §§ 5–8) – unter Einbezug verschiedener Bibelübersetzungen (»versiones«), durch die der Leser aber gerade bei bekannten Bibelstellen »aufgewekkt« wird.93 Dabei wird unterschieden zwischen den inhaltlichen Vorgaben und den sie durch die Darstellung unterstützenden Elementen (I, § 9). Von großem Gewicht ist die Erörterung der fünf Zielrichtungen des göttlichen Wortes : die Belehrung, die Anklage, das erziehende Moment, die Zurechtweisung und der Trost. Vorbild ist natürlich der locus classicus 2. Tim 3,16 (I, § 11). Freilich handelt es sich hier bei Anton eher um eine Zusammenstellung biblischer Belege für die fünf genannten Bereiche, nicht um eine systematische Darstellung ; es kommen Überschneidungen und Doppelungen vor (I, § 17). Aber der Schwerpunkt des genannten locus classicus, die ›Erziehung in der Gerechtigkeit‹ als Folge der Zurechtweisung, wird herausgearbeitet (I, §§ 10–17). Vor einer gestellten schauspielerischen Künstelei etwa in der Darstellung der fünf genannten Zielrichtungen wird ausdrücklich gewarnt – Ermahnungen dazu indes kündigt der Verfasser für die Vorlesung an (I, § 18). Der zweite Punkt der Predigtbehandlung bezieht sich auf die Praxis des Predigens. Detailliert wird auf die Beachtung und Sammlung der Themen in Text, Kontext und gegebenenfalls anderswoher hingewiesen (I, § 21). Darstellung und Bewertung müssen im richtigen Verhältnis zueinander stehen (I, § 20). Die Darstellung möge bereits die spätere Anwendung im Auge haben. Hier ist Wiederholung von schon Gesagtem hilfreich und nötig, denn des Menschen Herz ist verhärtet. Drei Forderungen gibt der Theologieprofessor seinen Studenten für das Predigen mit : (1) Aktualität ; er verweist sie hierfür auf Philipp Jakob Spener und Franz Lambert von Avignon (I, § 24). (2) Der Predigtstoff muss mit dem theologischen System oder mit dem einschlägigen Katechismusstück sowie anderen gebräuchlichen kirchlichen Texten (Lieder, Bekenntnisse) verbunden werden. Schließlich (3) ist die Ethik im Glauben zu verankern ; »mere moralia« dürfen hier nicht Platz haben (I, §§ 21–26). Möglicherweise ist dies eine Warnung vor zu schneller Ethisierung des religiösen Lebens. Die Empfehlung von 93 Letzteres aus der Vorlesung Paul Antons (Anm. 108), S. 8, am 18.8.1705 zu Caput I, § 7. – Die Kollegmitschrift Grischows (Anm. 108) zeigt hier – wie übrigens auch am Ende – keine ganz exakte Einhaltung der Paragraphenaufteilung des Drucks 1700/1707.
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Beispielen auch in Form der Erinnerung an gewissenhafte Prediger des göttlichen Wortes verdankt sich der Kurzform : »exemplis vivunt regulae« (I, § 28). Schließlich gilt aber : Primär geht es um das Belehren. Das ›Erfreuen‹ ebenso wie das In-Bewegung-Bringen des Gemütes haben hintanzustehen : Das (geschlagene, belastete) Gewissen der Hörer ist anzuleiten und zu beruhigen, zu belehren und zu verändern (»flectere«) (I, § 29). Ziemlich genau behandelt Paul Anton den für die Predigt zu erstellenden Aufriss (dispositio). ›Deutlich, vollständig, knapp‹ soll er gestaltet sein (I, § 31). In langen 14 Paragraphen werden die verschiedenen Möglichkeiten festgehalten : Analytisches Verfahren steht synthetischem gegenüber, »naturalis« und »artificialis« (auch als »extraordinaria«) werden thematisiert. Entscheidend aber bleibt : Der Text hat unbedingt das Maß und die Art der dispositio zu bestimmen. Gleichnistexte zum Beispiel werden unter dem doppelten Aspekt der Wiedergabe und der Anwendung angemessen ausgelegt (I, § 40). Zwei Hinweise fallen auf. (1) Gelegentlich mag eine sehr gekünstelte dispositio statthaft sein – abweichend von dem allgemeinen Verfahren. Aber die ›einfache‹, sich von selbst ergebende dispositio muß vorrangiges Ziel sein (I, § 35). (2) Der Behauptung einer Differenz von Inhalt und Anwendbarkeit widerspricht Anton. Es gibt genügend Texte, die implizit eine Anwendung ermöglichen, nämlich solche, die einen Vorgang schildern und sogleich auch erklären (exemplarisch : die Fußwaschung, Joh 13,1.20 »… auch ihr untereinander …«) (I, § 40). Unsichere Prediger mögen sich nicht scheuen, gelegentlich die Reihenfolge der Lehrpunkte dem biblischen Wortlaut unterzuordnen. ›Schulregeln‹ sind grundsätzlich so einzuhalten, dass man nicht vom Text abweicht, weil man sonst den Grundsatz der Erbauung der Hörer oder gar noch wichtigere Prinzipien ignorieren würde (I, § 44). Ein knapper Abschnitt (I, §§ 45–49) stellt sich dem Problem der jährlich wiederkehrenden Predigttexte. Es gilt, dem Text gerecht zu werden und die Aufmerksamkeit der Zuhörer nicht zu sehr zu strapazieren (I, § 45). Hier mag der Jurist Johannes Brunnemann (1608–1672) in seinen postum 1700 erschienenen, von August Hermann Francke bevorworteten Meditationes sacrae wegleitend sein.94 94 Johannes Brunnemann : Meditationes sacrae ad ductum evangeliorum dominicalium, quondam, pro domestico pietatis exercitio, in chartam conjectae, jam in usum studiosae juventutis pro excitanda devotione in diebus feriatis, publici juris factae. Halle 1700, Vorrede von August Hermann Francke 13./23.10.1699, Bl. )(4r–)()(2v, hier Bl. )(8r : »Doceat igitur hoc specimine Brunnemannus, qua ratione ab actis forensibus humanisque, ad acta agendaque regni dei, tanquam ex mari intranquillo ad portum aliquem tutissimum se recipere debeant JCti.« August Hermann Francke
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Nach dieser Behandlung des Hauptteils der Predigt und der Schriftauslegung wendet sich Paul Anton durchaus absichtlich erst jetzt der »praeparatio textus«, dem Exordium, zu, das er dennoch als wichtig erachtet. Hier bieten sich breite Variationsmöglichkeiten an. Vorgetragen sei es in Ruhe, gelegentlich an besonderen Tagen wie einem Bußtag auch anders, »graviore cum affectu« (II, § 4). Der Text mag verlesen, aber auch paraphrasiert werden, soweit er nicht Predigtgegenstand ist (II, § 8). Auf Parallelstellen ist hinzuweisen, Zusammenhänge nach vorn wie rückwärts sind anzudeuten (II, §§ 7–10). Weiter mag im Exordium auf die Übereinstimmung der Evangelien mit den apostolischen Briefen, auf das Verhältnis von Typos – Antitypos, auf einen aktuellen Anlass eingegangen, Bekenntnisschriften, Kirchengeschichte, Katechismus können herangezogen werden. Im Exordium mag auch ein sachlich passender leichterer, gewohnter Text einen schwierigen Predigttext flankieren (II, §§ 13–16). Die Scheu vor der Nennung mehrerer Themen eines Textes möge man ablegen – lieber der Sache, den Hörern, ihrer Erinnerung dienen als irgendetwas gekünstelt übergehen oder wer weiß wie vertuschen (II, § 16). Was von all dem zu bedenken und im Exordium mitzuteilen ist, kann erst nach der Bearbeitung des Predigttextes entschieden werden (II, § 3). Das gilt auch für die zu wählende Redeweise, die natürlich als Zurechtweisung eine andere sein muss als die tröstende oder paränetische (II, § 12). Gelingen muss schließlich der Übergang vom Exordium zur Predigt : die Wiederholung des der Predigt zugrundeliegenden Texts kann nötig sein, einschließlich der Andeutung seiner Aufteilung. Der Prediger selbst wird in zweifacher Weise angesprochen : Bei seiner privaten Bibellektüre möge er, wo immer möglich, darauf achten, ob sie auch anderen eine Hilfe auf dem Weg zum Heil (via gratiae) sein könnte. Ganz neue Einsichten können so entstehen (II, § 18). Nach der Predigt ist vor der Predigt, ein Rat, der damaligen Vielpredigern durchaus verständlich vorkommen konnte. Denn so wird die inventio gefördert und erleichtert (II, § 19). Natürlich fragt Paul Anton in seinen Elementa homiletica auch danach, ob der zuhörer-wirksame Text einer Predigt es schafft, den Hörer letztlich zu ent sprechendem Handeln anzuleiten. Anton geht es darum, durch Ordnung in der homiletischen Praxis Abschweifungen zu vermeiden, und er dringt auf die sorgsame Wahl einer dem jeweiligen Textinhalt angemessenen Redeweise, denn diese (1663–1727). Bibliographie seiner Schriften. Bearb. von Paul Raabe u. Almut Pfeiffer. Halle, Tübingen 2001, S. 613f., Nr. K 10.1 u. K 10.2. Mit Benedikt Carpzov befand sich Brunnemann (VD17 1 :014433S) im Dissens.
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muss jeweils der Anwendung entsprechen (III, § 3 Anfang). Die Grundlage aller praktischen Folgerungen bleibt der Lehrinhalt, der auch lehrend vermittelt werden muss (III, § 3). Die praktische Seite hat im Rahmen der Textanwendung Vorrang. Der Prediger möge sich bei der Anwendung des Textes, Gesetz und Evangelium wohl unterscheidend, als ersten Betroffenen sehen (III, § 4). In der Predigt selbst haben die Anwendungen keinen festen Platz. So müssen sie z. B. nicht zwingend am Ende der Predigt stehen. Gelegentlich erfordert die anwesende Hörerschaft eine auf sie zugeschnittene Anwendung, die ansonsten vielleicht unangemessen, zu speziell erscheint (III, § 5). Inhaltlich sind nicht nur Kontroversen, sondern ist die ganze Heilslehre in den Blick zu nehmen (III, § 6). Beim Gang durch die verschiedenen Anwendungen besteht Paul Anton darauf, im Fall von Kritik und Anklage auf den Wahrheitsgehalt des Vorgetragenen besonders zu achten. Wie oft widerspreche ein Protest den Fakten. Man hüte sich, etwas in Bewegung zu setzen, was man nicht mehr bewältigen könne. Daher müssen hypothetische Ermahnungen anonym bleiben. Die Reinheit der Lehre freilich wird viel besser durch die Bekräftigung ihrer Inhalte gewahrt. Ein kurzer Hinweis nur hält an der Notwendigkeit schriftgemäßer Kritik fest bei heilsnotwendigen Themen, wenn es um die Seligkeit geht, auch in der sogenannten ecclesia pressa, in der Gemeinschaft der Gläubigen, die noch auf Erden im Streite lebt. Schließlich erspare man es sich, auf längst verworfene Häresien einzugehen. Hier bricht Paul Anton, unter ausdrücklichem Verweis auf seine collegia polemica, ab (III, § 7). Ebenfalls auf seine Vorlesung verweist er dort, wo er Werke empfiehlt, die für die Ausübung des Trostamtes des Geistlichen hilfreich sind (III, § 11). Es werden genannt Philipp Jakob Spener, Salomon Glassius, Sigismund Scherertz, August Pfeiffer, Andreas Cramer, Johann Arndt, Gottfried Arnold, Johann Henrich Reitz und Christoph Brunchorst – wahrlich keine auf den Pietismus beschränkte Reihe.95 Man achte jedenfalls darauf, den Trost nicht mit moralischen 95 Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle (AFSt/H), A 99 : 3, Grischows Kollegmitschrift (Anm. 108), S. 57 | 58 : »[…] wie will ich appliciren, was ich docirt habe, ich muß empfindlich werden selbst an meiner Seele. Hierzu können folgende Bücher dienen : Speneri glaubens trost die sind ganz ordentlich, da das meiste in docendo bewährt, u. dis Buch vereint die sicht auff die studia practica. Sal. Glassii Anfecht[ungs] Schule, ist accurat gefaßt. Das ist beßer als Schererzii Fuga Melancholiae. Augusti Pfeiffer Antimelancholicus [oder Melancholey-Vertreiber] ist vor lustige gemüthe geschrieben, die von Anfechtungen nichts [ ?] gewust haben. Andreae Crameri | Ehrenstand der Kinder Gottes, Arnds wahres Christenthum lib. II. Man muß dann u. wann auch historias tentatorum mit vortragen. e. g. [Gottfried Arnold] Das leben der gläubigen. it.[em] [ Johann Henrich Reitz] historiam regenitorum, der gleichen exempel sind sehr gut, wenn sie in usu paracletico zu rechter zeit und stunde können angebracht werden. Item BruncKhorst von geistl. Anfechtungen
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Zurechtweisungen zu vermengen. Bei Luther in die Schule zu gehen heißt hier, zu wissen und zu erklären, dass Gott Anfechtung nicht zu Unrecht zulässt. Und gut vorbereitet sei der Prediger (und Seelsorger) auf die bei Angefochtenen immer wieder begegnenden Ausflüchte (III, § 11). Äußerst heikel erscheint unserem Autor die gelegentliche Pflicht des Predigers zur Zurechtweisung (III, §§ 9.10, S. 32–35). Anton fordert eine besonders bewusste, sensible Redeweise, Verzicht auf vulgäre Schilderungen, lächerliche und komische Züge. Der Prediger darf dem Hörer nicht zu nahetreten (S. 33), darf keine Zweideutigkeiten äußern.96 Wo eine nötige spezielle Zurechtweisung vom Text nicht gedeckt ist, soll man es offen erklären ; das ist wirksamer als alles gequälte Hin- und Herwälzen des Textes (S. 34). Natürlich wehrt der ›alte Mensch‹ jede Zurechtweisung gern ab, auch wenn ein Zuviel oder Zuwenig vermieden wird (S. 33). Betrifft es Personen, dann soll durch persönlichen (privaten) Tadel das Ärgernis beseitigt werden. Gelingt dies nicht, gehe man in der Predigt in Stufen vor – aber immer ohne Namensnennung (S. 34). Ganz unpassend sind hier unbestimmte und sprunghafte Einschübe von Trost und Lobhudeleien, die eher zu Leichenpredigten passen würden (S. 34). Vorsichtig sei man mit Strafandrohungen ; man übe sich in Geduld. Hinsichtlich der Mitteldinge entscheide man im Zweifel nichts. Man bedenke die menschliche Schwäche und enthalte sich aller abstrakten Rede, denn der Prediger hat konkrete Menschen in einer bestimmten Lage vor sich (S. 34f.).97 [d.i : Christoph Brunchorst : Christliche Vorstellung Der hohen geistlichen Anfechtungen].« – Sigismund Scherertz’ Fuga Melancholiae ist eines der weit verbreiteten Werke des Verfassers. Es erschien von 1630 bis 1715 und verschiedentlich dem Speculum tentationum beigefügt (vgl. VD 17, VD 18 jeweils sub verbo, Digitalisate siehe Zentrales Verzeichnis Digialisierter Drucke [ZVDD] sub verbo). Alexander Bitzel : Anfechtung und Trost bei Sigismund Scherertz. Ein lutherischer Theologe im Dreißigjährigen Krieg. Göttingen 2002, S. 35f., vor allem S. 36 mit Anm. 164. 96 Auch hierzu erreichte auf der Reise A. H. Franckes ›ins Reich‹ durch seinen Mitarbeiter Georg Heinrich Neubauer (1666–1725) in Oettingen (Bayerisch-Schwaben) eine einschlägige Erinnerung an Paul Antons homiletischen Unterricht : Der seit 1714 als Inspektor am Oettinger Waisenhaus tätige Johann Ulrich Wolfgang Reußner (Reißner) (1691–1720) habe die bei seinem (Reußners) Abgang von der Universität gefallenen Abschiedsworte P. Antons nicht vergessen : »er [Reußner, D.B.] solle 1. das evangelium amplissime verkündigen, 2. kurtz predigen, 3. terminos, darüber krickelen [Verdruss und Ähnliches, D.B.] entstehen könnte, vermeiden.« Siehe Der Hallesche Theologe und Pietist August Hermann Francke 1718. In : Reisen und Reisende in Bayerisch-Schwaben und seinen Randgebieten in Oberbayern, Franken, Württemberg, Vorarlberg und Tirol. Bearb. von Johannes Mordstein u. Barbara Rajkay. Hg. von Helmut Gier. Weißenhorn 2015, S. 328–419 [Bearb. B. Rajkay], hier S. 412 unter 8. 97 Vgl. die sehr viel reflektierteren und dem Menschen als animal rationale verpflichteten Ausführungen Herrnschmidts bei Straßberger : Homiletikvorlesung Herrnschmidts (Anm. 90), S. 97. Zur
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In der auf das Ende zulaufenden Passage warnt Anton vor sklavischem Formalismus. Die Reihenfolge der verschiedenen Anwendungen kann ebenso variieren wie auch die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen fließend sind (III, §§ 12, 15). Sehr generelle Inhalte (Tötungsverbot) können in sehr speziellem Tun ihre Erfüllung finden (Gebot der Versöhnung) (III, § 14). Schon gar nicht stopfe man etwa alle Anwendungsmöglichkeiten in eine einzige Predigt. Interessant sind drei Ratschläge zum Verhalten des Predigers unmittelbar nach der Predigt. Zum einen bemühe er sich, das Wort Gottes bei sich im innersten Gewissen bis in die Wurzeln seines Handelns ›wiederzukäuen‹ (III, § 13). Zum anderen ziehe er sich nach dem Gottesdienst von Menschengruppen ein wenig zurück, damit er nicht von Zustimmung und Lob anderer korrumpiert werde (III, § 18).98 Und schließlich gilt wohl auch hier der – schon (zu II, § 19) erwähnte – Ratschlag, sogleich an die kommende Predigt zu denken, weil einem zumindest Anknüpfungen an das eben Gepredigte einfallen können. Auch in der 1705 gehaltenen Vorlesung betont Anton die genannten Aspekte, wie eine erhaltene Mitschrift des aus Osterode im Harz stammenden, späteren Inspektors der Cansteinschen Bibelanstalt Johann Heinrich Grischow (1685–1754) beweist :
pietistischen Leichenpredigt siehe ders : Die Leichenpredigten auf die Herzöge von Sachsen-Merseburg. In : Die Merseburger Fürstengruft. Geschichte – Zeremoniell – Restaurierung. Hg. von Ulrike Wendland u. Elisabeth Rüber-Schütte. Halle, Zeitz 2013, S. 288–326, hier S. 307–310 (u. S. 323–325 Endnoten), S. 315 Anm. 2 Literatur. – Für einen Vergleich Anton – Philipp Jakob Spener wäre hier die oben Anm. 30 Ende nachgewiesene, höchst markante Predigt von Cantate 1689 heranzuziehen, dort innerhalb von »Lehrpuncten. Das straff-ampt des h. Geistes ist ein theurer schatz unsrer seligkeit.« (S. 937–952). 98 Hier (noch nicht in der Auflage 1700) erfolgt die Berufung auf Andreas Quenstedt : Ethica pastoralis et instructio cathedralis, sive monita singulis atque omnibus munus concionatorium ambientibus et obeuntibus. Wittenberg 1678, S. 240 : »caveat [Orator ecclesiasticus, D.B.] etiam sibi, tanquam a pessimo fure et nocentissima pesti, inani gloria, laudibus et applausu hominum.« Siehe Anm. 99.
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COLLEGJUM JN ELEMENTA Homiletica (scil.) Dn. D. Pauli Antonii ab ipso Auctore habitum et in calamum ex discursu rep[eti]tum a Io. Heinrico Grischouio Osterodano Halberstadensi [Strich] Halis Magdeburgicis a[nn]o CD [M] DCC V Kollegmitschrift 1705
AFSt/H, A 99 : 3 (Anm. 108), S. 61 »[Caput III, §] 18 Wenn man in krafft gepredigt hatte, so suche man in Einfalt, u. alleinheit zu kommen, damit man der leute Ruhmen nicht hören möge. Es ist darnach nicht zu fragen, ob viel motus entstanden bei dem auditorio. Wenn die leute stille nach hauße gehen (cf. p. 62) u. bewegen die worte in ihren herzen, so hat man mit Krafft gepredigt[.]«
Druck 1707
Anton : Elementa homiletica (Anm. 87), S. 39 »[Caput III,] §. XVIII. Denique finita Concione, et si sentias, te in Spiritu robore praedicasse, trade te totum humillimae gratiarum actioni, remotus paulisper a consortio hominum, tibique ipse attende, ne, quaeso, corrumpi sinas animum tuum aliorum laudibus vel approbatione. Quenstedt Eth. Past. p. 691. 240«.99
So weit zum Hauptstück dieser Einführung in Paul Antons ›Homiletische und hermeneutische Grundsätze und ihre Regeln‹ (Unterricht, »institutio«) (Bl. a3r). In einem Vorwort benennt der Verfasser indes sofort eine zweifache Gefahr : die Vernachlässigung ebenso wie die – missbräuchliche – Überschätzung von ›zweitrangigen‹ (»minora«) Dingen der formalen, äußerlichen Predigtvorbereitung und -gestaltung. Unter beidem dürfen und sollen die Hörer nicht lei99 AFSt/H, A 99 : 3, Grischows Kollegmitschrift (Anm. 108). »p. 62« bezieht sich auf die in Anton : Elementa homiletica (Anm. 87), sich anschließenden Auszüge aus Lambert von Avignon, hier § 24, wo von fleischlicher und geistlicher Bewegtheit die Rede ist. Zu Quenstedt siehe Anm. 98.
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den. Auch die eigenen natürlichen Gaben soll der Prediger richtig einschätzen (Bl. A [ !] 2v u. a5r–a6r). Zu rhetorischen Regeln zeigt Anton ein unbefangenes Verhältnis. Ihm als Lehrer zukünftiger Pfarrer ist es ein starkes Anliegen, dass von den Studenten Gnade und Salbung des Heiligen Geistes gesucht werde (Bl. A [ !] 2v). Es genügt hier, auf die schärfste Fassung der sinngemäß öfters begegnenden Aussage hinzuweisen : Das Feld der Homiletik ist für Paul Anton ganz offensichtlich (»manifestissime«) der Ursprung der durch die ganze Theologie sich hindurchziehenden Missstände (»malorum«), und zwar wegen der Gottabgewandtheit, die man meint durch menschliches Vermögen – eben auch durch rhetorisches Geschick – überwinden zu können (Bl. a5v). 3.2 Vorgeschichte und Wirkung
Unser Text hat, wie erwähnt, eine Vorgeschichte, die sich in den Nachträgen der Ausgabe von 1707 niederschlägt : eine Dissertation von 1697, Paul Anton, Otto Wilhelm Schüsler : Monita homiletica e commentariis Francisci Lamberti Avenionensis de prophetia collecta,100 und die Elementa homiletica wiederum dienten schon 1700 August Hermann Francke als Vorlesungsgrundlage.101 Aber natürlich ist Paul Antons eigene Vorlesungstätigkeit hier nochmals in Blick zu nehmen. Für polemische Vorlesungen zum Beispiel unterwarf er sich festen Regeln. Eine Ketzerei war zunächst in ihrem geschichtlichen Werden darzustellen. Inhaltlich muss sie ohne ›Zankgeist‹ entfaltet werden. Ja, der Blick nach innen ist nötig : Bei sich selbst suche man den Keim der Ketzerei. Beschimpfungen oder gar Benennung irgendeiner Person haben hierbei keinen Platz.102 Des weiteren ist zu fragen, ob ein homiletisches Werk Antons neben seiner Vorlesungstätigkeit zustande kam. Predigten Antons scheinen selten – man würde gern an ihnen das in den Elementa homiletica Beschriebene und Geforderte prüfen. Von den Vorlesungen Antons ist etwa diejenige über die Offenbarung des Johannes, 1712 gehalten, in einem Umfang von knapp 900 Seiten dokumentiert.103 Weitere 100 VD17 14 :009042N. Siehe oben mit Anm. 86–88. 101 Andres Straßberger : »… reden und predigen nach dem, was Gottes Geist eingibt« : Aspekte der Theorie und Praxis der homiletischen Ausbildung an der Universität Halle zur Zeit August Hermann Franckes. In : Pietismus und Neuzeit 43, 2017 (erschienen 2019), S. 33–70, hier S. 56 mit Anm. 101, 102. 102 Ferneres Zeugniß [G. A. Franckes] (Anm. 75), S. 118, 8. von 12 angeführten lobwürdigen Eigenschaften Paul Antons : »methodus lectionum polemicarum«. Ähnlich in Anton : Selbstbiographie (Anm. 58), S. 256–257. 103 Lächele : Repertorium (Anm. 60), S. 352–358, in 21 Folgen von 1748 bis 1756. Rainer Lä-
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(doch wohl ebenfalls für Vorlesungen erarbeitete) Bibelauslegungen sind überliefert, aus denen eine pietistische Zeitschrift zahlreiche Passagen übernommen hat, so etwa über den Römerbrief oder den ersten Timotheusbrief.104 Das sind nur wenige Beispiele aus den wahrscheinlich 1739/40 und zuvor in den Besitz Johann Adam Steinmetz’ gekommenen Anton-Materialien. Ihm ist – wie er am 11. Januar 1740 an Gotthilf August Francke schreibt – »eine große Quantität von Antonianis nach und nach zu geschicket worden und unter anderen auch ein paar sehr wohl und vollständig geschriebene Collegia über die Libros Symbolicos […].«105 Paul Anton hat in Elementa homiletica wiederholt auf ›Weiteres‹ in seinen Vorlesungen verwiesen.106 Es liegt nahe, dass das Werk als Begleitschrift für die entsprechende Vorlesung in der Hand des Studenten gedacht war. Johann Heinrich Grischows Vorlesungsmitschrift lässt an einigen Stellen jenes ›Weitere‹ noch gut erkennen. Illustriert sei es hier noch an einem Beispiel.107 Im Zusammenhang mit der zurechtweisenden Predigt waren Luthers Haustafel im Kleinen Katechismus, der Große Katechismus, die Katechismustabellen Speners und dessen Schrift Der Klagen über das verdorbene Christentum Mißbrauch und rechter Gebrauch genannt worden. 1705 in der Vorlesung ging Paul Anton durchaus erkennbar und bezeichnend – man beachte die englischen Titel – darüber hinaus : Nun werden neben dem Danziger Johann Botsack (1600–1674) auch Richard Baxter (1615–1691), Emanuel Sonthom [i.e. Thomson], Daniel Dyke (†1614) und Matthew Mead (1630–1699) genannt, von Wertung und Warnung begleitet. Der Abschnitt lautet in der Vorlesungsnachschrift Grischows : Die hauß Postille immo Lutheri catechismus [ !] Majorem lese der Prediger fleißig. Da stehen specialia ad Epanorthoticum sensum, item | Speneri tabulae Catecheticae. Daß man denkt : Jn welchen p[ar]tem catechismi gehört das ? Das gibt mir einen 3 fachen respectum p[erge] Botsacci Moralia Gedanensia ist ein großes buch, darin vieles permiscue zusammen getragen ist. Baxteri Schriften sind wohl zu gebrauchen. item Meade [Der] bey nahe ein [ !] Christ, Sonthom, Diekens Selbstbetrug. Dies muß aber vor Gottess chele : Die »Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes« zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus. Halle, Tübingen 2006, S. 123 mit Anm. 635. 104 Lächele : Repertorium (Anm. 60), S. 387–395 zum Römerbrief, S. 362–364 zum ersten Timotheusbrief. 105 Siehe weiter Lächele : »Sammlung« (Anm. 103), S. 170f. mit Anm. 878 (hier Zitat). 106 Anton : Elementa homiletica (Anm. 87), Caput I, § 18 ; III, §§ 7 u. 11. 107 Siehe schon oben mit Anm. 93, 95, 99.
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licht gebracht werden, u. müssen wir nachdenken, so wird uns Gott auch applicatricem prude[nti]am geben. Weil wir mit Noth umgehen müßen.108
Die im Druck genannten Referenzwerke sind also eine für Anton ergänzungsfähige Auswahl. Antons »wissenschaftliche Tätigkeit hielt sich in Grenzen«, urteilt Martin Brecht in der Geschichte des Pietismus von 1993. Nun, die schon genannte passable Bibliographie aus dem Jahr 1800 notiert rund 90 Titel, hier auch viele Bibelauslegungen, freilich auch eine Fülle von Programmen und rund 40 Dissertationen, welch letztere ihren sehr konkreten Ort im Wissenschaftsbetrieb der theologischen Fakultät Halle haben. Über die Publikationstätigkeit Antons wird man zu den Stationen seines Lebens geführt.109 Selbstredend gerät dann die Zeit in den Blick, in der er ab 1695 für 35 Jahre Professor für Exegese, Polemik und praktische Theologie war.110 Genaueres gilt es noch zu ermitteln über seine »vom üblichen abweichenden« Vorlesungen, denen sich Studenten »entzogen«.111 Sein Verhältnis zur Orthodoxie scheint aufschlussreich : Valentin Ernst Löscher habe ihn wegen seiner entschieden lutherischen Bekenntnisgebundenheit geschätzt – freilich 1734 die von Paul Anton betreuten Christliche[n] Gesänge (Halle 1700)112
108 AFSt/H, A 99 : 3, Paul Anton : Collegium in elementa Homiletica […]. Kollegmitschrift von Johann Heinrich Grischow ; deutsch, eigenhändig, unpaginiert, Bogenzählung nur »d« auf nachträglich S. 49 der Kopie, S. 1–61 umfassend, hier das Zitat S. 50f. Die Handschrift nennt anfangs Daten der Vorlesungen (17. August 1705 bis 14. September ; S. 3, 30) sowie durchgehend Angaben von Caput und Paragraphen, gelegentlich auch Seiten des Drucks (dies auf S. 49). Die Lektüre der Handschrift (Kollegmitschrift !) fordert paläographisch einiges an Geduld. – Andres Straßberger (Leipzig/Chemnitz) habe ich hier sehr zu danken : Er machte mich in großer Hilfsbereitschaft auf diese Quelle aufmerksam, ermöglichte mir den Zugang und gab für diesen Beitrag wertvolle Hinweise. 109 Martin Brecht : VIII. August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In : Geschichte des Pietismus. Bd. 1 : Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht. Göttingen 1993, S. 439–539, hier S. 454. Otto : Oberlausizische Schriftsteller (Anm. 51), S. 28. 110 Siehe oben bei Anm. 75 und bei Anm. 94. 111 Ferneres Zeugniß [G. A. Franckes] (Anm. 75), S. 114, unter 6 »modus docendi«. 112 VD17 547 :659991R. »Weil sie die Seelen fröhlich macht«. Protestantische Musikkultur seit Martin Luther. Katalog zur Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen […]. Hg. von Cordula Timm-Hartmann. Halle 2012, S. 97, Nr. [16]. Das Fehlen des Bogens A (S. 1–24) im Dresdner Exemplar geht nach Anzeige aus der Magdeburger Geistlichkeit auf obrigkeitliche Anordnung zurück (Unschuldige Nachrichten 1734, S. 933). – Dr. Wolfgang Miersemann danke ich für klärende Informationen in diesem Zusammenhang (November 2016).
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ausführlich, mit reichlichen Zitaten und einem ›Beleg‹ für das orthodoxie-kritische ›Halle‹ vorgestellt.113 Vielleicht aber ist es doch kein ganz falscher Weg, den Zugang zu Person und Werk Paul Antons über dessen »homiletica« zu suchen. Für Paul Anton war dies keine Teildisziplin der Theologie, sondern der integrierende Faktor in der Ausbildung des zukünftigen Pfarrers. Im Rahmen der Entwicklung der Universität Halle als einer Hochschule der Erneuerung – mögen bei ihrer Gründung ursprünglich konfessionspolitische Interessen leitend gewesen sein – spielt die pietistische theologische Fakultät eine tragende Rolle. Paul Anton als ihr prominenter Vertreter verstand nicht nur die ›neue‹ Pfarrerausbildung als zen trale Aufgabe, sondern wies innerhalb dieser der Homiletik die Schlüsselstellung zu – und nahm damit ein von Philipp Jakob Spener als dringend empfundenes Desiderat auf.
113 Unschuldige Nachrichten 1734, S. 930–933, ab S. 933 die »Betrachtung der ietzigen Zeiten, und wie man selbige anzusehen habe«.
Personenregister
Abel, Heinrich Kaspar 82 Achermann, Eric 99 Adelung, Johann Christoph 65 Agathe, Kai 29 Aland, Kurt 126 Albrecht, Michael 12, 19 Albrecht-Birkner, Veronika 113, 115, 117, 119 Ambrosius 122 Ammon, Frieder von 12 Andor, Tarnai 135 Andreae, Johann Christoph 28 Anton Ulrich, Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzog 58 Anton, Paul 7, 13, 14, 88, 89, 91, 92, 111, 118, 121, 128–150 Apuleius 30 Aratus von Soloi 40, 41 Aristoteles 56, 61, 108, 109 Arndt, Johann 119, 121, 143 Arnold, Antje 105 Arnold, Gottfried 13, 60, 143 Arnold, Matthieu 121 August, Sachsen-Weißenfels, Herzog 76 Augustinus 92 Ausonius, Decimus Magnus 27 Bach, Thomas 19 Barth, Christoph Gottfried 47 Barth, Ulrich 105, 112 Baxter, Richard 148 Beetz, Manfred 61, 105 Beiche, Georg 40, 41 Beims, Klaus-Dieter 26, 32, 35, 40, 100 Bel, Matthias 135 Bengel, Johann Albrecht 130 Berndt, Frauke 99 Bernegger, Matthias 45 Beutel, Albrecht 24, 101, 102
Beyreuther, Erich 56, 111, 114, 119, 120, 122, 126, 127, 133, 137 Beyschlag, Karlmann 116 Bierling, Friedrich Wilhelm 44 Bitzel, Alexander 120, 144 Blastenbrei, Peter 122, 133 Blauert, Georg 88 Blaufuß, Dietrich 13, 14, 48, 56, 89, 92, 108, 111, 112, 113, 114, 116, 119, 120, 125, 126, 128, 129, 132, 135, 136, 137 Bodin, Jean 44 Boeckler, Johann Heinrich 45 Bogner, Ralf Georg 112 Böhmer, Justus Christoph 136 Bohse, August 59 Boor, Friedrich de 72, 88 Borchers, Stefan 101 Bornscheuer, Lothar 51 Botsack, Johann 148 Brecht, Martin 120, 149 Breckling, Friedrich 55 Breithaupt, Joachim Justus 14, 92, 125 Brennecke, Hanns Christof 19 Breul, Wolfgang 138 Breymayer, Reinhard 12, 13, 99, 100, 111 Brode, Reinhold 66 Brunchorst, Christoph 143, 144 Bruning, Jens 19 Brunnemann, Johannes 141, 142 Büchner, Andreas Elias 8 Buddeus, Johann Franz 20, 21, 22, 98 Bünz, Enno 17, 18 Bursian, Konrad 37 Cacciatore, Giuseppe 105 Caesar 26, 75 Calixt, Georg 121 Callenberg, Johann Heinrich 130, 135 Calov, Abraham 121
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Personenregister
Canstein, Carl Hildebrand von 90, 126, 136 Carpzov, Benedikt 138, 142 Carpzov, Johann Benedikt 49, 118, 127, 128, 133, 134 Carpzov, Samuel Benedikt 133 Catull 30 Cellarius, Christoph (1599–1641) 26 Cellarius, Christoph (1638–1707) 7, 8, 9, 18, 20, 21, 22, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 46, 47, 48, 49, 61, 62, 63 Cellarius, Maria 26 Cicero 26, 31, 37, 41, 57, 58, 59, 68, 78, 97 Cocceji, Heinrich von 22 Cramer, Andreas 143 Cunaeus, Petrus 27, 37, 44, 47 Danneberg, Lutz 52 Dannhauer, Johann Konrad 120, 127 Dassov, Theodor 68, 69 Daxelmüller, Christoph 11 Dehrmann, Mark-Georg 37 Delfosse, Heinrich P. 19 Descartes, René 11, 21, 97 Deye, Detlef 29 Dionysius Longinus 89 Dionysius Periegetes 40, 41 Donnert, Erich 72 Döring, Detlef 17, 18, 19, 108, 113 Dornmeyer, Andreas Julius 9, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 54 Drese, Claudia 90, 91 Drusus 42 Dümmler, Ernst 66 Dyck, Joachim 136 Dyke, Daniel 148 Eberhardt, Walter 116 Echterhölter, Anna 99 Eggers, Hans 75 Eijnatten, Joris van 105 Eisenhart, Johannes 44 Elten, Kirsten Anna van 115 Epikur 57 Estienne, Henri 80 Eutropius 39
Fabricius, Johann Andreas 11, 99, 100 Faccius, Johann 101 Fehr, James Jakob 102 Fiebiger, Anke 136 Fischer, Johann 133 Fitzpatrick, Martin 109 Flood, John L. 66, 78 Fontius, Martin 52 Forster, Johann 93 Francke, August Hermann 7, 12, 19, 20, 26, 34, 40, 41, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 96, 100, 101, 103, 104, 105, 108, 109, 110, 111, 113, 114, 118, 125, 127, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 141, 144, 147, 149 Francke, Gotthilf August 130, 134, 135, 147, 148, 149 Freedman, Joseph S. 139 Fresenius, Johann Philipp 95 Freyer, Hieronymus 99, 100 Friedrich August, Sachsen, Kurprinz 131, 135 Friedrich I., Preußen, König 17, 37, 39, 49, 111, 124, 126, 129 Friedrich III., Brandenburg, Kurfürst s. Friedrich I., Preußen, König Friedrich Wilhelm I., Preußen, König 67, 83, 90 Friedrich, Martin 122 Fuchs, Paul von 112 Fulda, Daniel 99 Garber, Klaus 112 Geffarth, Renko 11, 18, 76 Gerhard, Johann 122 Gier, Helmut 144 Gierl, Martin 134 Gindhart, Marion 79 Giuriato, Davide 107 Glassius, Salomon 143 Goethe, Johann Wolfgang 18 Gößner, Andreas 94, 114, 131, 133 Gottsched, Johann Christoph 11, 75, 96, 99, 100, 102, 105, 107 Gratian, römischer Kaiser 27 Greschat, Martin 106, 114, 116, 129, 136 Grethlein, Christian 103 Grimm, Gunter E. 99
Personenregister
Grischow, Johann Heinrich 140, 145, 146, 148, 149 Grote, Simon 101, 109, 110 Grotius, Hugo 21, 22 Grüll, Tibor 135 Grünberg, Paul 126, 127, 132, 134 Grunert, Frank 18, 23, 24, 46, 49, 50, 52, 56, 76, 79 Grünwald, Statius 133 Gundling, Nikolaus Hieronymus 22, 25 Habrich, Christa 117 Hahn, Hans-Christoph 88 Haizmann, Albrecht 128 Hallbauer, Friedrich Andreas 11, 99, 100 Hambrock, Matthias 49, 56, 76 Hambsch, Björn 101 Hammerstein, Notker 23, 25, 54, 66 Harnack, Adolf 116 Hehl, Ulrich von 54 Hehlmann, Wilhelm 76 Heinrich I. (der Vogler), Heiliges Römisches Reich, König 79 Henckel, Christian 37, 38, 47 Herbst, Klaus-Dieter 19 Herder, Johann Gottfried 101 Hermelink, Jan 103 Herrnschmidt, Georg Adam 90 Herrnschmidt, Johann Daniel 7, 11, 12, 14, 85–110, 136, 138, 144 Hesiod 40 Heydecke, Marcus 122 Hoffmann, F.L. 68 Hoffmann, Friedrich 20, 21, 22, 24, 35, 36, 37 Hoffmann, Max 65 Homa, Bernhard 27 Homer 30, 40 Horaz 30 Hübener, Karl August 43, 44 Huber, Ulrich 50, 51, 53 Hülsemann, Johann 93, 94, 95, 96, 105, 108, 109 Hunter, Ian 109, 110 Hutter, Leonhard 93 Huttner, Markus 54
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Jacob, Joachim 12 Jaspert, Bernd 99 Jaumann, Herbert 25, 61 Jedin, Hubert 116 Jerouschek, Günter 77 Jöcher, Christian Gottlieb 65 Johann Georg III., Sachsen, Kurfürst 120 Jones, Peter 109 Julian, oströmischer Kaiser 79 Jung-Stilling, Johann Heinrich 119 Junius, Franciscus 82 Juntke, Fritz 65, 66 Justinian, römischer Kaiser 58 Kaiser, Herbert 51 Kang, Chi-Won 112 Kant, Immanuel 25 Kapitza, Peter K. 84 Kapp, Johann Erhard 34 Kathe, Heinz 68, 76 Killy, Walther 75 Klement, Martin 135 Klosterberg, Brigitte 90, 116, 136 Knellwolf, Christa 109 Koch, Ernst 98, 118, 127 Köhler, Gottfried 28 Kopperschmidt, Josef 99 Köster, Beate 121 Kramer, Gustav 87, 89, 118, 136 Krimpf, Christian 45, 46, 47 Kühlmann, Wilhelm 26, 51, 55, 65, 83 Kühnel, Martin 49, 56, 76 Kulenkampff, Jens 51 Künstel, Johann Wolfgang 130 Kurbacher, Frauke Annegret 52, 53, 55 La Fleur s. Milié, Michel Lächele, Rainer 116, 130, 131, 135, 147, 148 Laeven, Augustinus Hubertus 130 Lambertus, Franciscus 137, 138, 139, 140, 146, 147 Lange, Joachim 42, 92, 101, 102, 110 Langosch, Claudia 100 Lauterbach, Wolfgang Adam 22 Le Clerc, Jean 52, 58, 59 Leffler, C.E. 132
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Lehmann, Hartmut 102, 115 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18, 52, 83, 117 Lenz, Salomon 117 Leonhard, Johann Christoph 136 Lessing, Gotthold Ephraim 52, 83, 117 Leu, Urs B. 19 Leube, Hans 135 Lieburg, Fred van 117 Liehr, Harald S. 15 Lienhard, Marc 121 Limnaeus, Johannes 81 Lindauer-Huber, Reimar 34, 35, 48 Lips, Hermann von 121 Lith, Johann Wilhelm von der 134 Livius 26, 55, 56 Löscher, Valentin Ernst 106, 129, 131, 135, 136, 149 Lotze, Ernst 113, 123 Lück, Heiner 18, 23 Lucke, Markus 86 Ludewig, Johann Peter 7, 10, 11, 21, 22, 31, 45, 51, 65–84 Ludovici, Jakob Friedrich 45 Ludwig XIV., Frankreich, König 84 Ludwig, Walther 65, 66, 73, 78, 82 Luther, Martin 55, 75, 109, 116, 117, 138, 144, 148 Lydius, Joachim 12 Maaser, Michael 23 Maatsch, Jonas 19 Mahne, Wilhelm Leonhard 26 Mai, Claudia 116 Majer, Johann August 129, 131, 136 Malebranche, Nicolas 97 Maria Amalia, Sachsen-Zeitz, Herzogin 49 Marschke, Benjamin 90 Martens, Wolfgang 100 Marti, Hanspeter 7, 11, 12, 13, 17, 19, 40, 41, 42, 45, 52, 70, 78, 79, 83, 108, 113, 136 Martial 30 Marti-Weissenbach, Karin 12, 14, 40, 45, 70, 136 Matthias, Markus 49, 119, 130, 133 Maurer, Michael 82 McCalman, Iain 109
Mead, Matthew 148 Meisner, Balthasar 93 Melanchthon, Philipp 33, 107 Menck, Peter 87 Mencke, Otto 130, 131 Mettele, Gisela 88 Meumann, Markus 11, 18, 76 Meyer, Johann Georg 12 Meyer, Regina 25 Meyer-Blanck, Michael 103 Meyer-Krentler, Eckhardt 51 Michaelis, Johann Heinrich 22, 23 Michel, Stefan 49, 118, 133, 134 Miculci, Theophil Michael 65, 66, 67, 72 Micyllus, Jacobus 80 Miersemann, Wolfgang 149 Milde, Heinrich 90 Milié, Michel 76 Mißfeldt, Antje 13 Mitternacht, Johann Sebastian 29 Mitzschke, Paul 30 Mohr, Rudolf 99 Mordstein, Johannes 144 Morhof, Daniel Georg 59 Moritz, Sachsen-Zeitz, Herzog 29, 48, 49 Moritz Wilhelm, Sachsen-Zeitz, Herzog 28, 49 Mühlpfordt, Günter 72 Müller, Gerhard 113 Müller, Gottfried Polycarp 99 Müller, Hans Martin 93, 103 Müller, Martin 14, 109 Müller-Bahlke, Thomas 24, 101, 114, 118 Mulsow, Martin 44 Neubauer, Georg Heinrich 144 Neugebauer-Wölk, Monika 11 Neumann, Johann Georg 129, 131 Niceron, Johann Peter 68 Nieden, Marcel 112, 121 Niefanger, Dirk 19 Noack, Lothar 42 Oberschelp, Axel 40 Olearius, Familie 135 Olearius, Johanna Elisabeth 135 Oppenbusch, Michael von 122
Personenregister
Ostrow Ostrowksi, Martin von 20 Otto, Gottlieb Friedrich 129, 131, 149 Ovid 30 Patje, Gerhard 44 Paulsen, Friedrich 33, 34, 35, 36, 37 Pečar, Andreas 24, 101, 111, 114 Perels, Christoph 75 Perrault, Charles 84 Peschke, Erhard 88 Peters, Christian 130, 134 Petron 30 Pfeiffer, Almut 142 Pfeiffer, August 143 Philipp, Michael 45 Pirckheimer, Willibald 81 Plato 10, 66, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 78, 79, 80, 81, 83, 84 Plautus 30 Plinius d.J. 38, 59 Plitt, Hermann 88 Pott, Martin 56 Prinz, Michael 35, 54 Properz 30 Prudentius 21, 27 Pufendorf, Samuel 21, 22, 63, 78 Quast, Elisabeth 130 Quenstedt, Andreas 145, 146 Quintilian 20, 104 Raabe, Paul 142 Rajkay, Barbara 144 Rambach, Johann Jakob 92, 95, 100, 102 Rasche, Ulrich 19 Rauner, Wolfgang Balthasar 133 Rechenberg, Adam 21, 108, 113 Recknagel, Dominik 19, 20 Reichel, Hellmut 88 Reimmann, Jakob Friedrich 68 Reinbeck, Johann Gustav 101 Reitz, Johann Henrich 130, 143 Rémi, Cornelia 12 Reußner, Johann Ulrich Wolfgang 144 Richards, Lynne 130 Ritschl, Albrecht 116
Rittig, Roland 29 Rotermund, Heinrich Wilhelm 65 Roth, Fritz 131, 134 Rüber-Schütte, Elisabeth 145 Rudersdorf, Manfred 18 Rufus, Sextus 26 Rymatzki, Christoph 130, 135 Sahmland, Irmtraud 117 Salfeld, Christoph 67 Sallust 26, 59 Sames, Arno 77 Sandstede, Jutta 136 Scattola, Merio 61 Schade, Johann Kaspar 137 Schaller, Jakob 45 Schelwig, Samuel 134 Scherertz, Sigismund 143, 144 Scheuchzer, Johann Jakob 19 Schian, Martin 102, 103, 104, 105 Schicketanz, Peter 90, 114, 130 Schiewe, Jürgen 35, 54 Schmidt, Johann 120 Schmidt, Martin 89, 91 Schmidt, Sebastian 120 Schmitt, Wolfgang 101 Schnabel, Werner Wilhelm 19 Schneider, Johann Friedemann 22, 23 Schneider, Laurenz 88 Schneider, Ulrich Johannes 52, 83, 117 Schneiders, Werner 17, 18, 44, 46, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57 Schnelle, Udo 121 Schrader, Christoph 59 Schrader, Hans-Jürgen 117, 130 Schrader, Wilhelm 20, 23, 25, 27, 76, 77, 83 Schreiter, Friedrich 88 Schröder, Bianca-Jeanette 65 Schröder, Jens-Peter 65 Schubart-Fikentscher, Gertrud 18 Schultz, Franz Albert 102 Schulze, Johann Daniel 129 Schurtzfleisch, Konrad Samuel 10, 68, 69, 79 Schüsler, Otto Wilhelm 137, 138, 147 Schuster, Susanne 134 Schwentzel, Johann Ulrich 14
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Personenregister
Scultetus, Abraham 28 Sdzuj, Reimund B. 12, 40, 41, 42, 117, 136 Seckendorff, Veit Ludwig von 9, 26, 34, 48, 112, 113, 114, 117, 123 Seide, Oliver 116 Seidel, Robert 10, 12, 14, 31, 40, 41, 42, 45, 65, 79, 136 Seneca 31, 37, 56, 57, 61 Simon, Richard 130 Skalnik, Robert 66 Soboth, Christian 90, 92, 116, 130, 136, 139 Sokrates 52, 53, 57 Sommer, Wolfgang 112 Sonthom, Emanuel 148 Sophie Elisabeth, Schleswig-Holstein-Sonderburg-Wiesenburg, Herzogin 29, 48, 49 Spalding, Johann Joachim 105 Sparn, Walter 102 Spener, Philipp Jakob 9, 12, 13, 48, 49, 56, 60, 102, 107, 108, 111–128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 140, 143, 145, 148, 150 Sperlette, Johannes 21, 22, 23 Splett, Jürgen 42 Spoerhase, Carlos 37 Stahl, Georg Ernst 35, 60 Stauffer, Hermann 99 Steinberg, Georg 54 Steiner-Weber, Astrid 65, 66 Steinmetz, Johann Adam 127, 134, 148 Stiening, Gideon 12 Stolberg, Balthasar 68 Straßberger, Andres 11, 12, 13, 14, 49, 85, 92, 94, 96, 100, 101, 102, 104, 105, 107, 108, 109, 113, 116, 118, 128, 133, 134, 136, 138, 139, 144, 147, 149 Sträter, Udo 89, 90, 92, 111, 113, 118, 129 Strauch, Solveig 113, 114 Strom, Jonathan 105 Struve, Burkhard Gotthelf 28, 29, 30, 44 Struve, Georg Adam 29 Stryk, Samuel 45, 65, 68, 69, 79, 87 Sturm, Johannes 32 Süßmann, Joachim 12 Symmachus 21 Szelestei, Nagy Lászlo 135
Taatz-Jacobi, Marianne 24, 35, 48, 49, 57, 111, 113, 115, 118, 120, 125, 127, 129, 132, 135 Tacitus 21, 25, 26, 55, 56, 59 Talander s. Bohse, August Taubmann, Friedrich 80 Teigeler, Otto 27, 39, 55 Terenz 30 Thiele, Andrea 49, 76 Thomasius, Christian 7, 9, 10, 12, 18, 19, 23, 24, 33, 34, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 66, 70, 72, 74, 76, 82, 83, 113, 118, 133 Thomasius, Jakob 9, 50, 59, 74 Thomson s. Sonthom, Emanuel Tibull 30 Till, Dietmar 53, 99 Timm-Hartmann, Cordula 149 Trajan, römischer Kaiser 38 Trauzettel, Holger 76 Tribbechov, Johann 129 Ulbrich, Daniel 35 Uttendörfer, Otto 88 Vec, Milos 113 Velleius Paterculus 26, 39, 59 Veltmann, Claus 114 Vergil 31, 41 Vitriarius, Philipp Reinhard 21 Völkel, Markus 44, 54 Vollhardt, Friedrich 12, 44, 52, 58, 61, 79 Vom Orde, Klaus 49, 113, 117, 119, 127, 131, 132, 133 Vossius, Gerardus Joannes 44, 80, 82 Vötsch, Jochen 29 Walch, Johann Georg 37, 86 Wallmann, Johannes 49, 113, 114, 115, 117, 129, 130, 131, 133, 135 Walther, Gerrit 23 Wassermann, Matthäus 121 Weber, Christoph Andreas 41, 42 Wegener, Günther S. 116 Weigel, Erhard 19 Weise, Christian 59, 131 Wendland, Ulrike 145
Personenregister
Werenfels, Samuel 11, 12 Wiedeburg, Friedrich 68 Windfuhr, Manfred 101 Winter, Agnes 42 Wolf, Friedrich August 37 Wolf, Gerhard Philipp 112 Wölfel, Dieter 117 Wolff, Christian 7, 23, 24, 25, 34, 63, 101, 102 Wöller, Sabine 20 Wower, Johannes von 58 Wyttenbach, Daniel Albert 25, 26 Xenokrates von Chalkedon 72
Yousefi, Hamid Reza 19 Zaunstöck, Holger 11, 18, 24, 76, 90, 101, 114 Zedler, Johann Heinrich 35, 66, 86, 99 Zehner, Maria s. Cellarius, Maria Zeitler, Christoph Andreas 37, 38, 137, 138, 139 Zeller, Winfried 99 Zierold, David Gottlieb 8 Zierold, Johann Wilhelm 108 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 27, 39, 55, 88
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Autoren und Herausgeber
Dr. Dietrich Blaufuß, Schwalbenweg 21b, D-91056 Erlangen E-Mail : [email protected] Dr. Hanspeter Marti, Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Alte Post, Sernftalstraße 77, CH-8765 Engi E-Mail : [email protected] Lic. phil. Karin Marti-Weissenbach, Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Alte Post, Sernftalstraße 77, CH-8765 Engi E-Mail : [email protected] Prof. Dr. Robert Seidel, Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Norbert-Wollheim-Platz 1, D-60629 Frankfurt am Main E-Mail : [email protected] Dr. Andres Straßberger, Fichtestraße 47, D-09126 Chemnitz E-Mail : [email protected]