Tradition und Transformation: Klassizistische Tendenzen in der englischen Tragödie von Dryden bis Thomson [Reprint 2019 ed.] 9783110862287, 9783110078763


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German Pages 328 [332] Year 1979

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Table of contents :
Vorbemerkung
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
Teil 1: SPÄTBAROCKER KLASSIZISMUS (1676-1680)
Teil 2: UMWANDLUNG UND ANPASSUNG (1680-1749)
Teil 3: DIE KONSOLIDIERUNG (1698-1749)
Literaturverzeichnis
Zeitschriftenabkürzungen
Register
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Tradition und Transformation: Klassizistische Tendenzen in der englischen Tragödie von Dryden bis Thomson [Reprint 2019 ed.]
 9783110862287, 9783110078763

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Komparatistische Studien Band 10 Tradition und Transformation

Komparatistische Studien Beihefte zu „arcadia" Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft Herausgegeben von Horst Rüdiger Band 10

w DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1979

Tradition und Transformation Klassizistische Tendenzen in der englischen Tragödie von Dryden bis Thomson von Martin Brunkhorst

w DE

G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1979

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Bronkhorst, Martin: Tradition und Transformation: klassizist. Tendenzen in d. engl. Tragödie von Dryden bis Thomson / von Martin Brunkhorst. — Berlin, New York: de Gruyter, 1979. (Komparatistische Studien; Bd. 10) ISBN 3-11-007876—7

© Copyright 1979 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung— J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Ubersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und D r u c k : H . Heenemann G m b H & Co, Berlin Bindearbeiten: Wübben & Co., Berlin

Rudolf Germer zugeeignet

„ ,[. . .] vos exemplaria Graeca nocturna versate manu, versate diurna.' Yet, though their models are regular, they are too little for English tragedy, which requires to be built in a larger compass." H o r a z , Ars poetica, zitiert und kommentiert von Dryden, All for Love, „Preface". „Auch der Sinn eines Kunstwerks wird erst im Prozeß seiner fortschreitenden Rezeption erarbeitet; er ist keine mystische Ganzheit, die sich bei ihrer ersten Manifestation vollständig offenbart hätte. Vergangene Kunst interessiert uns gleichermaßen nicht nur darum, weil sie war, sondern weil sie in gewissem Sinn noch ist und zu neuer Aneignung auffordert." H . R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, F r a n k f u r t / M 2 1970, S. 227.

VORBEMERKUNG

In seiner Hinwendung zu den Vorbildern der griechischen und römischen Antike ist der englische Klassizismus des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts rückwärtsgewandt. In ihrer Leitfunktion dienen die antiken Vorbilder jedoch Reformbestrebungen und damit zukunftsorientierten Absichten. Auf dem Theater kommt eine rigorose Wiedereinführung antiker Dramenformen nicht in Frage. Der Dramatiker muß Rücksicht nehmen auf ein durch bestehende Konventionen konditioniertes Publikum, will er nicht auf mögliche Erfolgsaussichten von vornherein verzichten. Ist der Abstand zwischen tatsächlicher und immer schon erwarteter Innovation zu groß, entsteht Unverständnis. Klassizismus heißt daher in jedem Fall auch Kompromiß und Synthese. Die englischen Theatererfolge der Vergangenheit — etwa Shakespeare, Beaumont und Fletcher — und die antiken Muster — etwa Sophokles, Euripides oder Seneca — werden als oppositionelle Möglichkeiten begriffen, die letztlich jedoch nur in ihrer Vermittlung zur Basis einer Neukonzeption der englischen Tragödie werden können. Nationale oder klassische Traditionen bedürfen in jedem Fall der Transformation, um den Intentionen der Dramatiker und dem Erwartungshorizont des Publikums entgegenzukommen. Eine in dieser Hinsicht vergleichbare Situation der französischen Dramatik wird dabei als Ansporn und Bestätigung empfunden. So entstehen stoffgeschichtliche Rezeptionsketten wie Plutarch — Garnier — Shakespeare — Dryden etwa für den Kleopatra-Stoff oder andererseits Sophokles — Corneille — Dryden/Lee etwa für den Oidipus-Stoff. Als klassizistisch sind beide Dryden-Werke anzusehen, sowohl All for Love (1677) wie auch Oedipus (1678). Doch die das Shakespeare-Drama einschließende Vorlagengruppe wird benutzt für ein konsequenter den R e geln' angepaßtes Werk, als es bei der direkt auf antike Dramenmodelle zurückgreifenden Oidipus-Tragödie der Fall ist. Das mag Zufall sein. Es kann aber auch jeweils bewußte Gegenreaktion sein sowohl gegen eine zu freie, d. h. .regellose' Gestaltung bei Shakespeare wie auch gegen eine zu strenge oder ,karge' Gestaltung der attischen oder auch der französischen Tragödie. Dieses Reagieren in beide Richtungen, wie es sich bei Dryden beobachten läßt, ist als symptomatisch für die klassizistische Tragödie in England anzusehen und wird auch schon im zeitgenössischen poetologischen Schrifttum diskutiert — von Drydens Reaktion auf Rymer über Dennis' Cdio-Kritik bis zum Merope-Streit. Die vorliegende Arbeit wurde 1977 von der Philosophischen Fakultät der Albertus-Magnus-Universität Köln als Habilitationsschrift angenommen.

VIII

Vorbemerkung

Für stete ermutigende Hilfe und konstruktive Kritik bei der Abfassung danke ich H e r r n Professor Rudolf Germer. Wichtige Anregungen und Hinweise verdanke ich Frau Professor Natascha W ü r z b a c h und H e r r n Professor H e l m u t Bonheim sowie H e r r n Professor Arthur H . Scouten. H e r r n Professor H o r s t Rüdiger bin ich zu D a n k verpflichtet, daß er zum zweiten Mal eine Arbeit von mir in seine Reihe „Komparatistische Studien" aufnimmt. Wieder hat Frau Elke R. Eickhoff im de Gruyter-Verlag die Drucklegung vorbildlich betreut. Materielle Voraussetzungen f ü r den Abschluß und die Veröffentlichung dieser Arbeit schuf die Deutsche Forschungsgemeinschaft durch ein zweijähriges Habilitanden- und Reisestipendium sowie einen Druckkostenzuschuß. Hinweis: Die nach Abschluß des Manuskripts im Herbst 1976 erschienene Forschungsliteratur ist nur noch in Einzelfällen berücksichtigt worden. Bei der ersten N e n n u n g eines Werkes findet sich in den Fußnoten die vollständige bibliographische Angabe, bei allen folgenden N e n n u n g e n dieses W e r kes nur noch der Verfassername und, w o es die Eindeutigkeit erfordert, zusätzlich ein Kurztitel. Ein Verzeichnis der benutzten Zeitschriftenabkürzungen steht am Anfang des Literaturverzeichnisses. Köln, Pfingsten 1979

INHALTSVERZEICHNIS

Vorbemerkung EINLEITUNG

VII 1

0.1 0.1.1 0.1.2 0.1.3

Überlegungen zum Klassizismusbegriff Deutsche und englische Terminologie Zur Begriffsgeschichte Der französische Einfluß

4 4 9 15

0.2 0.2.1 0.2.2 0.2.3

Das klassizistische Selbstverständnis Fluktuationen der Epochenbegrenzung Der Funktionswandel des Augustus-Vergleichs Dichtung und Politik

22 22 25 30

Teil 1: SPÄTBAROCKER KLASSIZISMUS ( 1 6 7 6 - 1 6 8 0 )

37

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4

40 40 44 47 51

Das Bemühen um eine pragmatische Poetik Rymers rigoroser Rationalismus Der Angriff auf Beaumont und Fletcher Drydens Auseinandersetzung mit Rymer Drydens Kompromißbereitschaft

1.2

Der Beginn der englischen Racine-Adaption: „Titus and Berenice" 1.2.1 Racines Simplizität 1.2.2 Der Liebesverzicht des Antiochus 1.2.3 Otways Steigerungen

55 56 61 64

1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5

Das neue Tragödienideal: „All for Love" Die ägyptische Kulisse Traurigkeit und tragische Notwendigkeit Poetische Gerechtigkeit und Moral Der menschliche Held Drydens Zurückhaltung

69 69 75 78 82 88

1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4

Das Interesse an Shakespeare: „Caius Marius" 92 Otways Quellenbenutzung 92 Shakespeare-Verehrung und Bürgerkriegsangst 96 Die Handhabung von Prolog, Exposition und Szenenauswahl . . 99 Die Verzahnung der Handlungsstationen 102

X

Inhaltsverzeichnis

1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3

Tugendrigorismus und Freiheitsidee: „Lucius Junius Brutus" . . . 107 Der Selbstmord der Lucrece 107 Grausamkeit und Tragik 110 Der Republikanismus des Brutus 116

1.6

Zusammenfassung

123

Teil 2: U M W A N D L U N G U N D A N P A S S U N G ( 1 6 8 0 - 1 7 4 9 ) . . . . 125 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4

Die Flexibilität der Regeln Die Konstanz des Ansatzes Exklusivität und Sendungsbewußtsein Das nationale Unabhängigkeitsstreben Die Hochschätzung Otways

127 128 131 135 138

2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6

Das Ende der Seneca-Verehrung Das ästhetische Problem der cena Thyestea Crownes polarisierende Figurenzeichnung Die Handlungsmultiplizierung Seneca versus Euripides Gildons Publikumsgewandtheit Die Verbindung von Euripides und Quinault

143 144 147 151 155 158 161

2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6

Das Bemühen um Euripides Dennis' Hippolytus-Plan Rationalität und Wunderglaube in Iphigenia Phaedra als Gelehrtendrama Euripides via Racine Die unterdrückte Geistererscheinung in Hecuba Seneca-Spuren

2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6 2.4.7

Adaptionsmöglichkeiten französischer Tragödien Die Glorifizierung Roms in Regulus Crownes vernünftiger Held Philips' Version der Andromaque Der neue Dramenschluß in The Distrest Mother Der Merope-Streit Hills softerpassions Romantische Elemente

186 186 189 193 196 199 204 207

2.5

Zusammenfassung

211

164 165 168 173 . 176 179 183

Teil 3: DIE K O N S O L I D I E R U N G ( 1 6 9 8 - 1 7 4 9 )

213

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4

215 215 219 222 226

Dennis'Stellung als Kritiker Die negativen Konnotationen der Literaturkritik Das Ethos des Kritikers Die Frage des Chores im modernen Drama Die Collier-Kontroverse

Inhaltsverzeichnis

XI

3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6

Die Römertragödie um 1700 Das Problem des negativen Helden: Crownes Caligula Schwierigkeiten der Handlungsdisposition Southernes Abwendung von der Tragikomödie The Fate of Capua Dennis' Patriotismus Handlungsgliederung und Sprachstil in Appius and Virginia

230 230 232 235 238 243 . . . 246

3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6

Der Erfolg des Cato Addisons politische Erfolgsprogrammierung Die Ökonomie der Disposition Der starre Held Catos Stoizismus Christliche und ,romantische' Elemente Die klassizistische Kritik

251 252 255 258 262 265 268

3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4

Thomsons antike Stoffe Stoffwahl und Bearbeitungsansatz Phoenissas Plan und Massinissas Leidenschaft Naturbeschreibung und Dramenkulisse Nature und Fate im römischen Kontext

274 275 278 283 286

3.5

Zusammenfassung

290

Literaturverzeichnis

293

Zeitschriftenabkürzungen 1. Dramentexte 2. Poetologische und andere Texte 3. Forschungsliteratur

293 293 296 299

Register

309

EINLEITUNG

Die Entwicklung der klassizistischen Tragödie in England am Ende des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird in der Literaturgeschichtsschreibung in den meisten Fällen negativ als Absinken und Sterben einer Gattung verstanden. Bonamy Dobree bemerkt kategorisch zur angeblichen Uniformität der Werke Rowes, Youngs und Thomsons: „The thing was dead" 1 . Eugene H n a t k o führt dieses im Verlauf des 18. Jahrhunderts zusehends offenbarer werdende Versagen der Tragödie vor allem auf ihren „extreme but simplified didacticism" zurück, der dem Prinzip und der N a tur der Tragödie widerspreche 2 . Obwohl die hier sichtbar werdenden Hauptvorwürfe, die Tendenz zur sterilen Uniformität und die übertriebene Didaktik, nicht ohne Berechtigung sind, leidet doch das literarhistorische Bild gerade der klassizistischen Tragödie besonders stark unter der Simplifizierung und der daraus resultierenden Schwarz-weiß-Malerei raffender Überblicke. Unter dem ungünstigen Vergleich mit der historisch früheren Shakespeare-Epoche oder der historisch anschließenden Romantik läuft der Klassizismus — und besonders seine Tragödienproduktion — stets Gefahr, aus Gründen historiographischer Profilierung zu stark abgewertet zu werden. Eine nähere Betrachtung sowie das Bemühen um ein Verständnis seiner historischen Bedingtheit lassen ihn in seinem eigenen Recht sehr viel bedeutsamer erscheinen und sollten ihm schon wegen seiner langen epochalen Ausdehnung auch in der Dramengeschichte eine prominentere wie angesehenere Position sichern. Obwohl auch Endstadien einer Entwicklung und Verfallserscheinungen einer Gattung als literaturgeschichtliche Phänomene das Interesse der Forschung verdienen, entbehrt die Abwertung des Klassizismus nicht der wissenschaftsgeschichtlich bedingten und permanent tradierten Vorurteile. In der Kontrastierung mit anderen, höher bewerteten, d. h. den ästhetischen Normen eines späteren Betrachters adäquateren Dramenepochen ist die Gültigkeit des klassizistischen Tragödienkonzepts durch den Hinweis 1

2

Bonamy Dobree, English Literature in the Early Eighteenth Century 1700—1740, Oxford 1959, S. 224. Vgl. aber auch den folgenden Satz: „However, it made quite an attractive corpse w h e n laid out, with all the floral wreaths given it from R o w e onwards." Eugene H n a t k o , „The Failure of Eighteenth-Century Tragedy", Studies in English Literature 1500-1900, 11, 1971, S. 4 5 9 - 4 6 8 ; S. 463. Vgl. S. 468: „Eighteenth-century tragedy failed, then, not because mechanical rules for its writing ,choked' it, but because of all types of literature it seemed so admirably suited to what the age saw as the purpose of all writing — moral instruction — and the fulfilling of that purpose was inimical to the very nature of tragedy."

2

Einleitung

auf seine mangelhafte Verwirklichung in England zu pauschal bestritten worden. Dabei sollte das Selbstverständnis der Epoche, das die fehlende literarische Qualität der zeitgenössischen Tragödiendichtung selbstkritisch hervorhebt, nicht überbewertet werden; denn dieses Verfahren wird von Rymer über Dennis und Gildon bis Johnson als Mittel benutzt, um die klassizistischen Ideale zur Erneuerung der englischen Tragödie um so nachdrücklicher zu verfechten. Diese Defiziterklärung findet sich als apologetischer Topos genauso in Frankreich schon bei Aubignac'wie in Deutschland noch bei Gottsched 4 . Doch läßt sich diese Klage in Frankreich als Beginn eines neuen Abschnitts der klassizistischen Tragödie, der in Racine seinen Höhepunkt und seine Erfüllung findet, verstehen. Auch für Deutschland ist eine ähnliche Deutung zu konstruieren, die von Gottsched über Lessing zur klassizistischen Dramatik Goethes und Schillers reicht. Allein in England scheint Erfüllung, Gipfel oder Blütezeit — welches evolutionistische oder organistische Modell man auch immer diesem historischen Prozeß unterlegt — nur in einem sehr begrenzten Maße stattgefunden zu haben. Im Gegensatz zur diachron-epochalen Kontrastierung innerhalb der englischen Nationalliteratur führt der letztgenannte komparatistische Ansatz dennoch in seinem synchronen und supranationalen Aspekt zur Uberwindung einer Position, die das klassizistische Tragödienkonzept für die englische Literaturgeschichte in seiner Verbindlichkeit bestreitet. Das in diesem Kontext verstandene Phänomen der Herausbildung der klassizistischen Tragödie in England im Ubergang vom 17. ins 18. Jahrhundert soll in den anschließenden Ausführungen thematisiert werden. Da durch die Komplexität der literarhistorischen Situation und die Vielfalt der im Einzelwerk zur Geltung gelangenden motiv-, Stoff-, struktur- und ideengeschichtlichen Elemente immer nur ein begrenzter Abschnitt ins Gesichtsfeld gerückt werden kann, versteht sich diese Arbeit als Skizze zu einer Problemgeschichte, die der weiteren Vervollständigung und Korrektur offensteht 5 . 3

[François Hédelin,] l'Abbé d'Aubignac, La Pratique du Theatre, Paris 1657, Amsterdam 1715, 2 Bde., Bd. 1, S. 3 4 7 — 3 5 7 : „Projet Pour le Rétablissement du Theatre François". Vgl. auch S. 12: „II faut pourtant confesser que le theatre étoit tombé d'un si haut point de gloire, dans un si profond mépris, qu'il étoit bien difficile de le rétablir entièrement, & que dans sa chute il a reçu de si grandes plaies, qu'elles ne pouvoient être gueries qu'avec beaucoup de tems & de peines." 2

4

Johann Christoph Gottsched, Die Deutsche Schaubühne, 6 Bde., Leipzig 1741 — 1745, Bd. 2, 1741, S. 7: „Allein es ist den Liebhabern und Kennern guter Schauspiele schon aus andern Nachrichten, Regeln, Beurteilungen und critischen Anmerkungen bekannt: daß alle diese unsre Schauspiele [d. i. von Opitz, Gryphius, Lohenstein usw.] eben nicht für solche unverbesserliche Meisterstücke zu halten sind, daß man nichts besseres zu wünschen Ursache hätte."

5

Vgl. Karl R. Popper, Objective Knowledge, An Evolutionary Approach, O x f o r d 1972, S. 195: „There can be no explanation which is not in need of a further explanation." Poppers wissenschaftstheoretischer Ansatz, der sich wesentlich auf die Naturwissenschaften bezieht, ist in dieser Hinsicht auch für die Literaturwissenschaft anwendbar: vgl. Jürgen Landwehr, Text und Fiktion, München 1975, S. 13—27; H a n s Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 2 1970, S. 201 f.

Einleitung

3

Das Selektionsprinzip für die behandelten Gesichtspunkte geht von einer vorläufigen und absichtlich weitgefaßten Minimaldefinition des Klassizismus aus, wobei dieser wesentlich als Rückwendung zur griechisch-römischen Antike und deren aktualisierender Adaption für das zeitgenössische englische Theater verstanden wird. Die konkrete Füllung und Strukturierung dieses Klassizismusbegriffs ergibt sich dann — nach einleitenden Vorüberlegungen — aus der Summe der Einzelanalysen im Verlauf der Untersuchung. Durch die Betonung von Gemeinsamkeiten und Differenzen in ihrer exemplarischen Bedeutung sollen die Entwicklungsstufen des Klassizismus und deren konsequente Abfolge im Geflecht andersgearteter, unterstützender oder gegenläufiger Elemente herausgestellt werden; denn nur im Kontext läßt sich die Bedeutung der klassizistischen Tendenzen darstellen und abschätzen. Dabei ist zu beachten, daß der Klassizismus, indem er von der durchgängigen Gültigkeit antiker Musterhaftigkeit ausgeht, seiner eigenen Uberzeugung nach im wesentlichen unhistorisch denkt. Historische Entwicklungen lassen sich nur in den jeweiligen Annäherungsgraden an die zur Idee erhobene Gültigkeit antiker Vorbilder erkennen. Doch wird hier von der Uberzeugung ausgegangen, daß gerade die als Akzidenz verstandenen Phänomene als historische Konkretisationen und zugleich Modifikationen der Vorstellung überzeitlicher Gültigkeit diese einer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung zugänglich machen. Der weitgehend realisierte Klassizismus der im Einzelnen analysierten Tragödie ist daher nur e i n Ziel der Untersuchung. Der für bedeutender gehaltene Darstellungsgegenstand ist die Geschichte des Bemühens um die Verwirklichung — mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen und Erfolgen — eines idealen Tragödienkonzepts, das schon per definitionem nie völlig zu verwirklichen ist. Ein solcher Prozeß der steten Bemühungen der Dramatiker, der sich auch als Dilemma zwischen dem unbezweifelten Gültigkeitsanspruch einer klassizistischen Theorie und ihrer jeweils nur approximativen und daher defizitären Realisation begreifen läßt, wird in seiner Darstellung durch ein metaliterarisches Phänomen der Literaturgeschichtsschreibung, ihrer Methoden und Entwicklung erschwert. Es besteht darin, daß die Abwertung des Klassizismus in der Romantik, soweit sie sich als Gegenbewegung zur vorangehenden Epoche versteht, zusammenfällt mit dem Aufschwung der Literaturbetrachtung und sich so die Klassizismusanimosität als vorbelastendes Erbe der Literaturwissenschaft in vielen Fällen bis zur Gegenwart tradiert.

0.1 Überlegungen zum Klassizismusbegriff Da diese Arbeit selber in deutscher Sprache abgefaßt ist, gerät sie mit ihrer Terminologie — gewollt oder ungewollt — in den Kontext eines vor allem von der deutschsprachigen Germanistik ausgebildeten literaturwissenschaftlichen Begriffsfeldes. Weil aber auch die englische Literaturgeschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts oft durch deutsche Untersuchungen angeregt oder herausgefordert wurde und einige der damals entstandenen Konnotationen bis heute subsistieren bzw. die heutige Situation am besten historisch verstehbar ist, erscheint es legitim, in die Vorüberlegungen der Einleitung auch die Reflexion auf die deutsche Problematik und Geschichte des Klassizismusbegriffs einzubeziehen. 0.1.1 Deutsche und englische Terminologie Klassik, Klassizismus, Klassizität: Der historische Befund ergibt eine der hier aufgestellten Reihenfolge entgegengesetzte Abfolge des ersten Auftretens dieser drei Begriffe. Classicität ist die Nominalbildung des 18. Jahrhunderts zum Adjektiv classisch und wird von Schiller zur Bezeichnung dessen, was er in Anlehnung an die Vorbildlichkeit griechischer Meisterwerke für seine eigene Dichtung erstrebt, benutzt: die überzeitliche Gültigkeit, den „dauernden Gehalt" des Kunstwerks 6 . In diesem Sinne schreibt er an Körner: „Du wirst finden, daß mir ein vertrauter Umgang mit den Alten äuserst wohlthun, — vielleicht Classicität geben wird 7 ." Dieses Streben, durch die Hinwendung zum antiken Muster Klassizität der eigenen Werke zu erlangen, wurde von den folgenden Generationen als Merkmal einer literarischen Richtung erkannt, so daß das W o r t Klassizität zur Epochenbezeichnung erhoben werden konnte. René Wellek weist in seinem Aufsatz zum classicism-BegnH auf Belege vor allem am Ende des 19. Jahrhunderts hin8. Zu dieser Zeit behält das W o r t neben seiner literaturgeschichtlichen Klassifizierungsfunktion aber auch noch die umgangssprachliche Bedeutung von Gelehrsamkeit in griechisch-römischer Kunst, Literatur und Ge6

7

8

Schillers Briefe, Kritische Gesamtausgahe, hrsg. v. F. Jonas, 7 Bde., Stuttgart [1892—1896], Bd. 1, S. 320, An Schröder vom 18. Dez. 1786. Max L. Baeumer, „Der Begriff ,klassisch' bei Goethe und Schiller", Die Klassik-Legende, Second Wisconsin Workshop, hrsg. v. R. Grimm und J. Hermand, Frankfurt/M. 1971, S. 17—49, gibt S. 21 die Nominalbildung Claßizität schon für Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Leipzig 1771 —1774, an, was jedoch ein Versehen zu sein scheint. Schillers Briefe, Bd. 2, S. 106, An Körner vom 20. Aug. 1788; vgl. auch Bd. 2, S. 252, An Körner vom 10. März 1789. René Wellek, „The Term and Concept of ,Classicism' in Literary History", Aspects of the Eighteenth Century, hrsg. von E. R. Wassermann, Baltimore 1965, S. 105 — 128; repr. in: Wellek, Discriminations: Further Concepts of Criticism, N e w Häven—London 1970, S. 5 5 - 8 9 ; S. 85.

Überlegungen zum

Klassizismusbegriff

5

schichte bei. So bemüht sich etwa T h e o d o r Fontanes Romanfigur Willibald Schmidt als Gymnasialprofessor „aller Klassizität unbeschadet" auch um „modern literarisches Ansehen" 9 . D o c h das Substantiv wird in den Lexika als „garstig genug"'°und als „geschraubte Neubildung""bezeichnet. Trübners Deutsches Wörterbuch stellt noch 1943 mit Befriedigung fest, daß es „zum Glück f ü r unsere Sprache außer Gebrauch" komme 12. W e n n Brecht sich 1953 dennoch f ü r die Überwindung einer „Einschüchterung durch die Klassizität" engagiert 13 , so hat dieser Begriff — nicht nur durch seine jetzt negative Konnotation — eine deutliche Bedeutungsverschiebung erfahren. Brechts Aufruf zum Abbau „einer Tradition der [Klassiker-] A u f f ü h r u n g , die gedankenlos zum kulturellen Erbe gezählt wird, obwohl sie das W e r k , das eigentliche Erbe, nur schädigt" H , dokumentiert eine semantische N e u besetzung des Wortes. Klassizität wird jetzt vor allem als Kennzeichen einer sterilen und erstarrten Aufführungskonvention verstanden und als Verleitung zur falschen Traditionspflege, die die freie Bearbeitung und Aktualisierung großer Dramatik verhindert. Für die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Klassizität bietet sich schon im frühen 19. J a h r h u n d e r t Klassizismus als konkurrierender Terminus an. D e m alten Goethe war das W o r t als solches zwar noch nicht 1820 — wie Wellek meint 15 — wohl aber einige Jahre später als Gegensatz zu Romantizismus geläufig 16 . Klassizismus als Epochenbezeichnung f ü r eine klassische Periode deutscher Dichtung und Geistesgeschichte von Lessing bis Hegel oder im engeren Sinne auch nur f ü r Goethe und Schiller wird ab Ende des 19. Jahrhunderts allmählich vom Terminus Klassik abgelöst. Zuerst wird dieses W o r t von Friedrich Schlegel in unveröffentlichten Notizen verwendet. Auf seine Einführung in den literaturwissenschaftlichen Begriffsapparat durch Heinrich Laube (1839), Joseph Hillebrand (1852) und Wilhelm Buchner (1852) weist Eva D. Becker hin 17 . 9

T h e o d o r Fontane, Sämtliche Werke, hrsg. v. W . Keitel, 12 Bde., München 1 9 6 2 - 1 9 7 3 , Bd. 4, 1963, S. 359. 10 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, bearbeitet v. R. Hildebrand, Leipzig 1873, Sp. 1007. " Trübners Deutsches Wörterbuch, hrsg. v. A. Goetze, 8 Bde., Berlin—Leipzig 1936—1957, Bd. 4, Berlin 1943, S. 163. 12 Ebd., S. 163. 13 Bertolt Brecht, Stücke, Bd. 11, F r a n k f u r t / M . 1964, S. 5 — 8. 14 Ebd., S. 5. 15 Vgl. Wellek, S. 69 und S. 86: Da Wellek das wörtliche Auftreten der Begriffe sehr genau nimmt, kann der von ihm f ü r 1820 als erster Beleg angegebene Kritizismus, den Goethe durchaus in ähnlicher Bedeutung wie Klassizismus gebraucht, nicht gelten. 16 Vgl. „Maximen und Reflexionen", Kunst und Altertum 5, 1826, S. 14 ff.; repr. in : Johann Wolfgang v. Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. E. Beutler, 24 u. 3 Bde., Z ü r i c h - S t u t t g a r t 1 9 4 8 - 1 9 7 1 ; Bd. 9, 2 1962, S. 536, Nr. 346. 17 Eva D. Becker, .„Klassiker' in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1780 und 1860",Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815 —1848, hrsg. v. J. H e r m a n d und M. Windfuhr, Stuttgart 1970, S. 349—370. Z u r heutigen Bedeutungsbreite des Wortes Klassiker vgl. Wolfgang Brandt, Das Wort „Klassiker", Eine lexikologische und lexikographische Untersuchung, Wiesbaden 1976.

6

Einleitung

Seit der Jahrhundertmitte wird der Klassizismusbegriff — vor allem von Hermann Hettner 18 — auf die französische Literatur im Zeitalter Louis' XIV. und auf eine in ganz Europa epigonal an die französische Blütezeit anknüpfende literarische Entwicklung eingeengt. Diese Bedeutungsverschiebungen und Differenzierungen werden für die Periodisierungsschemata der Literaturgeschichtsschreibung in konsequenter Form jedoch erst in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts durchgeführt. Obwohl bedeutende Forscher wie Oskar Walzel oder Paul Merker Klassizismus als Denomination der Goethe-Schiller-Zeit noch hartnäckig weitergebraucht haben, setzt sich die semantische Verschiebung auf eine zeitlich frühere Literaturepoche und die von Friedrich Gundolf, Fritz Strich u. a. propagierte Kontrastierung mit dem jüngeren Klassikbegriff schließlich durch. Klassizismus bezeichnet in der heutigen Germanistik die Gottsched-Zeit, Klassik dagegen die Goethe-Zeit. Das an der Literaturgeschichte aufgezeigte qualitative Gefälle zwischen den beiden Epochen haftet damit auch den Begriffen an. Gero von Wilpert definiert daher Klassizismus — obwohl noch in einer weitergefaßten Bedeutung — als pejorativ gegenüber der Klassik: Klassizismus ist „jeder antikisierende Kunststil [. . .], der durch Uberwiegen der rezeptiven Einstellung über die produktive von der Klassik selbst geschieden wird"". Hier schreibt sich der Gegensatz eines am a u s ländischen' Vorbild ausgerichteten Klassizismus einerseits und einer am Originalitätsbegriff des Sturm und Drang und der Romantik andererseits gewonnenen Klassikvorstellung bis in die Gegenwart fort. Obwohl sich in der englischen Terminologie die forcierte Opposition zwischen Klassik und Klassizismus nicht finden läßt, kann man doch eine ähnliche terminologische Vielfalt in den Frühstadien der Begriffsgeschichte beobachten. „An affectation of Classicality" sagt die Monthly Review von 1819 der Literatur des vorangehenden Jahrhunderts nach 20 . Die Neologismen classicality und classicalism erscheinen ohne offensichtliche Bedeutungsdifferenz nebeneinander 21 . Eine negative Konnotation ist bei beiden Begriffen nicht zu übersehen. John Ruskin spricht — allerdings auf dem Gebiet der Malerei — vom „hybrid classicalism" Richard Wilsons, aber genauso von „vile classicality of Canova" im selben Werk von 184622. James W. Johnson schließt aus seiner bis 1856 reichenden terminologischen Belegsammlung: „Unhappily, ,classicality' became a term of approbrious laughter toward those who professed admiration for the writers of the andern past 23 ." Doch in anscheinend entgegengesetzt verlaufender Entwicklung zum deutschen W o r t Klassizität zeigt das englische W o r t classicality 18 19 20 21 22

23

Vgl. Wellek, S. 85. Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 5 1969, S. 392. The Monthly Review, or Literary Journal 89, 1819, S. 336. Vgl. Wellek, S. 56 f., vgl. aber auch OED unter classicalism und classicality. John Ruskin, Modem Painters, Bd. 1, The Works of John Ruskin, 39 Bde., hrsg. v. E. T. Cook und A. Wedderburn, London 1903—1912, Bd. 3, 1903, S. 230. James W. Johnson, The Formation of English Neo-Classical Thought, Princeton 1967, S. 11.

Überlegungen

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Klassizismusbegriff

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im modernen Sprachgebrauch durchaus auch positive Bedeutung — etwa als Übersetzung für Thomas Manns Begriff des Klassischen24. Der Terminus classicism wird zum ersten Mal von Carlyle in seiner Beschreibung deutscher literarischer Zustände benutzt und bezieht sich direkt auf den Streit um den im goetheschen Sprachgebrauch als Klassizismus und Romantizismus bezeichneten Gegensatz. Sehr viel jüngeren Datums sind die Präfixbildungen pseudoclassicism und pseudoclassicalism, und noch später erscheint der Begriff neoclassicism2i, der sich um 1920 durchsetzt 26 . Obwohl es in der englischen Literaturgeschichte der Sache nach — wie schon bemerkt wurde — keine Opposition von Klassik und Klassizismus gibt, ja diese Epochendifferenzierung als Spezifikum der deutschen Literatur oft noch nicht einmal von der außerdeutschen Germanistik nachvollzogen wird 27 , findet in der Anglistik doch ein Streit um den Grad der Klassizität ein und derselben Epoche statt, der sich bis in die Wortwahl erstreckt. Selbst wer das Vorhandensein einer klassischen Epoche der englischen Literatur im strengen Sinne überhaupt leugnet, wie etwa T. S. Eliot oder Ernst Robert Curtius es ähnlich wie Sainte-Beuve 28 tun, sieht sich doch gezwungen, für die Zeit von Dryden bis Pope und Johnson zur Hilfskonstruktion einer ,eingeschränkten' oder ,begrenzten' Klassik zu greifen, die gegenüber einem Klassizismus abzugrenzen sehr schwerfallen dürfte: „We need not consider it as a defect of any literature, if no one author, or no one period, is completely classical; or if, as is true of English literature, the period which most nearly fills the classical definition is not the greatest 29 ." „Most nearly classical" als minderer Grad der Klassik bezeichnet hier zwar nicht ausdrücklich einen Klassizismus, doch ragt zweifellos in das Bedeutungsfeld dieses Begriffs hinein. Curtius versucht, die Schwierigkeit einer Beinahe-Klassik zu beheben, indem er den Klassikbegriff aufspaltet und — obwohl er durchaus an anderer Stelle auch von Klassizismus spricht 30 — ihn in eine Idealklassik und eine Normalklassik unterteilt". Die-

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Vgl. Georg Luck, „Scriptor Classicus", CL 10, 1958, S. 1 5 0 - 1 5 8 ; S. 157, A. 16. Vgl. Wellek, S. 57 f. Vgl. zur Begriffsbildung dieser Zeit Jost Hermand, Synthetisches Interpretieren, Zur Methodik der Literaturwissenschaft, München 1968, 2 1973, S. 206. Vgl. Peter Boerner, „Die deutsche Klassik im Urteil des Auslands", Die Klassik-Legende, S. 7 9 — 1 0 7 ; bes. S. 99: „So ordnen fast alle seit den dreißiger Jahren außerhalb Deutschlands erschienenen Synopsen und Anthologien der Weltliteratur Goethe und Schiller, unter der einen oder anderen Bezeichnung, den vorromantischen Strömungen der europäischen Literatur zu." Vgl. hierzu Frank Kermode, The Classic, The T. S. Eliot Memorial Lectures 1973, London 1975, S. 1 6 - 1 8 . T h o m a s Stearns Eliot, What is a Classic? An Address Delivered before the Virgil Society on the 16th of October 1944, London 3 1946, S. 9. S. 17 schreibt Eliot: „My o w n opinion is, that w e have no classic age, and no classic poet, in English." Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern—München 5 1965, S. 76 und S. 355. Ebd., S. 278.

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Einleitung

ses sehr anfechtbare Verfahren 32 ist absurd, wenn man sieht, daß Pope der Unterkategorie der Normalklassik zugeordnet werden soll, die angeblich „nachahmbar und lehrbar" ist33. Den Zweifel Eliots an einer englischen Klassik und deren schließliche Leugnung weitet Bertrand H . Bronson ins Grundsätzliche aus, um schließlich zu einem terminologischen Vereinfachungsvorschlag zu gelangen. Er versucht die Begriffsverwirrung der englischen Terminologie aufzulösen, indem er nachweist, daß jeder classicism rückwärtsgewandt und traditionsbewußt sei, folglich immer schon als neoclassicism auftrete 34 : „The Solution of this apparent contradiction is that for practical purposes the troublesome term Neoclassicism is otiose and expendable. It pretends to a distinction without a difference, for the difference is only in degree, not in kind 35 ." Unter Verzicht auf ein seiner Meinung nach tautologisches neo-Präfix tritt Bronson für den Begriff classicism ein als ausreichend weite Bezeichnung für alle klassischen wie klassizistischen Epochen. Obwohl Curtius wie auch Bronson von einem übernationalen Klassizismusbegriff ausgehen, machen doch sowohl der terminologische Komplizierungsversuch von Curtius wie der Simplifizierungsversuch Bronsons die Schwierigkeiten exakter Begriffsbildung deutlich, die sich zudem durch die Einbeziehung verschiedener Sprachen noch verstärken. Schon die Dekkungsungleichheit zwischen englischem und deutschem Wortgebrauch — classicism und neoclassicism einerseits und Klassik und Klassizismus andererseits — ist durch die oft getrennt verlaufende Begriffsgeschichte nie restfrei aufzulösen 36. Für die deutschsprachige Anglistik entsteht eine terminologi-

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Horst Rüdiger, „Klassik und Kanonbildung, Zur Frage der Wertung in der Komparatistik", Komparatistik, Aufgaben und Methoden, hrsg. v. H . Rüdiger, Stuttgart 1973, S. 127—144; repr. aus Wort und Wahrheit 14, 1959, S. 771—784, übt S. 137 berechtigte Kritik an Curtius: „Die Unterscheidung böte in der Tat manchen Vorteil; aber ,Idealklassik' ist eine Tautologie und ,Normalklassik' eine contradictio in adiecto. Wenn wir überhaupt an dem Begriff festhalten wollen, können wir nur eine Klassik erkennen, und die ist das Optimum des Möglichen." Curtius, S. 278. Schon in seinem Buch Die französische Kultur, Eine Einführung, Stuttgart—Berlin—Leipzig 1930, bietet Curtius, S. 90, ein analoges graduelles Einteilungsprinzip für die französische Literatur an: „Freilich ist diese Klassik des achtzehnten Jahrhunderts etwas ganz anderes als die des siebzehnten." Die Klassik des 17. Jahrhunderts in Frankreich nennt er S. 90 auch Hochklassik, die des 18. Jahrhunderts dagegen abwertend Pseudoklassizismus. Bertrand Harris Bronson, „When Was Neoclassicism?", Studies in Criticism and Aesthetics 1660—1800: Essays in Honor of Samuel Holt Monk, hrsg. v. H . Anderson und J. S. Shea, Minesota 1967; repr. in: Bronson, Facets of the Enlightenment, Studies in English Literature and Its Contexts, Beverly—Los Angeles 1968, S. 1—25; S. 5: „Classicism, wherever it achieves self-consciousness, in works of art or in underlying doctrine, is always retrospective and therefore essentially neoclassical." Ebd., S. 5. Vgl. die Übersetzungsprobleme schon f ü r den gegenüber den Nominalbildungen leichteren Fall des Adjektivs classic bei Helmut Viebrock, „Die englische Romantik", Die europäische Romantik, hrsg. v. E. Behler, H . Fautek u . a . , F r a n k f u r t / M . 1972, S. 333—405;

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Klassizismusbegriff

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sehe Aporie, die sich nur durch die Bedeutung des Begriffs im Kontext der individuellen Darstellung umgehen läßt. Ein Aufsatz wie der René Welleks, der sich bemüht, diachrone und synchrone Bedeutungsvariable der classicism-Vorstellung mehrerer Literaturen in den Griff zu bekommen, bleibt nach Lösung der eigenen Schwierigkeiten ohne zusätzliche Erläuterungen unübersetzbar 3 7 . Eine andere Art des Auswegs wird gelegentlich durch die Auflösung der Klassik-Klassizismus-Kontamination f ü r die englische Literatur von Dryden bis Pope versucht, indem gattungsmäßige Differenzierungen vorgenommen und unter einem neutralen Epochentitel dann klassische Prosa und klassizistische Dichtung abgehandelt werden 3 8 . In dieser Sichtweise des historischen Nebeneinander beider P h ä n o m e n e ist den Begriffen das f ü r die englische Situation ohnehin schwer vertretbare gegenseitige Ausgrenzungsmoment bei der Epochenbildung genommen. Solche terminologischen Schwierigkeiten werden jedoch erst vor dem H i n t e r g r u n d größerer literarhistorischer Zusammenhänge verständlich. 0.1.2 Zur Begriffsgeschichte Seit der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts bemüht man sich in zunehmendem Maße, die literarische Entwicklung aus der kulturellen Gesamtsituation auszugliedern und als autonomen P r o z e ß zu verstehen. Die einzelnen Entwicklungsabschnitte werden zudem nicht mehr nach Staatsoberhäuptern oder Dichterfürsten benannt, sondern nach vorherrschenden kontrastierenden Stilrichtungen geschieden. Die Klassifizierung fordert zusätzlich die Substantivbildung zur verknappenden Titelgebung oder Kapitelüberschrift: „Wohl ihren H ö h e p u n k t erlebte diese Richtung in der Weltkriegsära, der Zeit des Kubismus, Futurismus und Expressionismus, die erkenntnistheoretisch zu einer weitgehend phänomenologischen Betrach-

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S. 335, A. 8. Die Deckungsungleichheit der literaturwissenschaftlichen Termini im Englischen und Deutschen erörtert beispielhaft Ewald Standop, „Die Bezeichnung der poetischen Gattungen im Englischen und Deutschen", GRM37, N . F. 6, 1956, S. 382—394. Auch die seltenen zwei- oder mehrsprachigen literaturwissenschaftlichen Speziallexika geben weniger Ubersetzungshilfen als Hinweise auf die Schwierigkeit der Ubersetzung: vgl. Wolfgang V. Ruttkowski und R. E. Blake, Literaturwörterbuch in Deutsch, Englisch und Französisch mit griechischen und lateinischen Ableitungen [. . .], Bern —München 1969, S. 7, A. 2: „Es sei hier aber als W a r n u n g wiederholt: Als Übersetzungshilfe kann unser dreisprachiges Glossar, wie jedes Wörterbuch ohne Begriffserläuterungen, nur mit Hilfe eines erläuternden Lexikons benutzt werden." (Kursiv nach Ruttkowski). Der Klassik (Nr. 734) — Klassizismus (Nr. 735) — Eintrag S. 46 bestätigt die Warnung. Vgl. die deutsche Übersetzung von M. Lohner in: René Wellek, Grenzziehungen, Beiträge zur Literaturkritik, Stuttgart 2 1972, S. 44—63, zuerst in Schweizer Monatshefte 45, 1965/66, S. 154—173: „Das W o r t und der Begriff .Klassizismus' in der Literaturgeschichte". Diese Ubersetzung ist stellenweise unverständlich bzw. irreführend. Vgl. Ewald Standop und Edgar Mertner, Englische Literaturgeschichte, Heidelberg 1967, 2 1971, S. 330 und S. 339.

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tungsweise neigte, die selbst die komplizierteren Gebilde in einen visionär oder intuitiv erschauten Begriff zusammenzudrängen suchte 39 ." In dieser Zeit der übersteigerten Begriffsbildung setzt sich in Deutschland die endgültige Trennung der Begriffe Klassik und Klassizismus durch, der in England und Amerika der gleichzeitig verstärkt auftretende Ansatz zur Scheidung von classicism und neoclassicism entspricht. Die solchen Periodisierungsbestrebungen zugrunde liegenden Gedanken reichen weit zurück und sind im Ansatz schon in der Oppositionsbildung klassisch-romantisch der Brüder Schlegel zu finden 40 . In seinen 1808 in Wien gehaltenen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, die auf ähnliche Vorlesungen in Berlin zurückgehen und auch die von seinem Bruder Friedrich entwickelten Gedanken und Vorstellungen einbeziehen, vertritt August Wilhelm Schlegel die Aufteilung der europäischen Literatur in zwei große Epochen der antiken und der modernen Dichtung von gleichberechtigter Geltung 41 . Sie werden charakterisiert durch zwei einander entgegengesetzte dichterische Grundhaltungen: „Das ganze Spiel lebendiger Bewegung beruht auf Einstimmung und Gegensatz. Warum sollte sich diese Erscheinung nicht auch in der Geschichte der Menschheit im Großen wiederholen? Vielleicht wäre mit diesem Gedanken der wahre Schlüssel zur alten und neuen Geschichte der Poesie und der schönen Künste gefunden 42 ." Die konzeptualistische Literaturbetrachtung steht hier, noch lange ehe sie sich in die national-vereinzelnde Blickrichtung verengt, vor dem Hintergrund einer universalen Geistesgeschichte. Literatur wird noch begriffen als integrierender Faktor der Menschheitsgeschichte. Unter den Dramatikern der Neuzeit verkörpern Calderón und Shakespeare das Prinzip des Romantischen am reinsten, unter denen der Antike geben die attischen Tragiker die eindrucksvollste Vorstellung vom Klassischen. Ausgehend von der genaueren Erläuterung einer klassischen Harmonie und einer romantischen Zerrissenheit legt Schlegel die Gegensätzlichkeit der Epochen dar, aber auch die Opposition zweier geistig-stilistischer, künstlerisch-weltanschaulicher Einstellungen, die von der zeitgenössischen Literaturbetrachtung aufgegriffen und in ganz Europa propagiert werden 43 .

•"Jost Hermand, „Das ,Epochale' als neuer Sammelbegriff", Synthetisches Interpretieren, S. 1 9 9 — 2 2 9 ; S. 205; Neufassung von: „Über N u t z e n und Nachteil literarischer Epochenbegriffe", Monatshefte 58, 1966, S. 2 8 9 — 3 0 9 . 40 Vgl. Wellek, S. 66. 41 Vgl. A. W. Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hrsg. v. E. Lohner, Bd. 5, Stuttgart 1966, S. 21: „[. . . ] die Alten nach Gebühr zu ehren und dennoch die davon gänzlich abweichenden Eigentümlichkeiten der Neueren anzuerkennen". 42 Ebd., Bd. 5, S. 21. Vgl. zur Genese der Wiener Vorlesungen auch Ernst Behler, „Kritische Gedanken zum Begriff der europäischen Romantik", Die europäische Romantik, S. 7 —43; S. 13 f. 43 Über dramatische Kunst und Literatur erschien dreibändig in Heidelberg 1809—1811, die französische Übersetzung 1813, die englische 1815, die italienische 1817. Vgl. auch Hans

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Damit bahnt sich der Bedeutungswandel und die semantische Ausdehnung des Wortes klassisch an44. Das im zweiten nachchristlichen Jahrhundert aus der Steuergesetzgebung in die Literaturbewertung überführte lateinische Adjektiv classicus45 erscheint in Frankreich im 16., in England an der Wende zum 17. und in Deutschland erst im 18. Jahrhundert in nationalsprachlicher Form 46 . Das Oxford English Dictionary führt einen Beleg für die Bedeutung „Of first rank or authority" von 1599 an und für die Bedeutung „Of the Standard Greek und Latin writers" einen Beleg von 1607. Ab 1613 ist außer classical auch die Nebenform classick bekannt, die in Addisons Letter from Italy in metonymischem Gebrauch seiner Antikenverehrung begeisterten Ausdruck gibt: „I seem to tread on classic ground 47 ." Die Bedeutungen vorbildlich und antik sind im 18. Jahrhundert noch nicht klar getrennt. O b von griechischen und lateinischen Autoren oder von überragenden Dichtern der jüngeren Nationalliteraturen die Rede ist, die bewunderte Vorbildlichkeit und Meisterschaft der Vorfahren schwingt in diesem W o r t stets mit. Erst Schlegel macht aus dem wertenden Epitheton eine Stil- oder Gattungsbezeichnung, worauf unter anderem schon das Vorwort der französischen Ubersetzung der Wiener Vorlesungen hinweist: „ [ . . . ] l'épithète de classique est une simple désignation de genre, indépendante du degré de perfection avec laquelle le genre est traité 48 ." Damit hat der von Aulus Gellius analog zur Spitzenposition in der römischen Einkommenshierarchie gebildete Begriff des scriptor classicus eine entscheidende Modifikation erfahren. Aus dem Gegensatz zwischen dem erstrangigen, vollgültigen und dem gewöhnlichen, niedrigen Schriftsteller, dem scriptor proletarius, ist jetzt der eine Pol herausgelöst worden zur neuen Gegensatzbildung zwischen zwei

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Eichner, „Germany: Romantisch — Romantik — Romantiker", ,Romantic' and Its Cognates, The European History of a Word, hrsg. v. H . Eichner, T o r o n t o — B u f f a l o — M a n c h e s ter 1972, S. 9 8 - 1 5 6 ; bes. S. 1 3 7 - 1 4 0 . Harry Levin, „Contexts of Classical", in: H . Levin, Contexts of Criticism, Cambridge/ Mass. 1957, S. 38 — 54, weist S. 40 auf das Bewußtwerden der Relativität des Klassischen hin: „[. . .] only when confronted by a dialectical alternative could the classical be seen as a rival movement, and not an eternal order." Vgl. The Attic Nights of Aulus Gellius, With an English Translation by J. C. Rolfe, 3 Bde., L o n d o n - N e w York 1 9 2 7 - 1 9 2 8 , Bd. 3, S. 376, 19, 8, 15. D e r fiktive Dialog dreht sich um grammatische Fragen von Plural- und Singularverwendung. Unter Hinweis auf m ö g lichst eindrucksvolle Belege und Autoritäten sagt Fronto u. a. : „Ite ergo nunc et, quando forte erit otium, quaerite an .quadrigam' et ,harenas' dixerit e cohorte ilia dumtaxat antiquiore vel oratorum aliquis vel poetarum, id est classicus adsiduusque aliquis scriptor, non proletarius." Vgl. Baeumer, S. 19, A. 6. The Works of Joseph Addison, hrsg. v. G. W. Greene, 6 Bde., N e w York 1856, Bd. 1, S. 161. Der Hrsg. weist auf die Anspielung auf einen Ausspruch Ciceros in dieser Zeile hin. A. W . Schlegel, Cours de littérature dramatique, 3 Bde., Paris—Genf 1814, übers, v. A. A. N e c k e r de Saussure, „Préface", S. V i l i , A.

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qualitativ gleichrangigen Arten von Dichtern. Die ursprüngliche Wertdifferenz von classicus-proletarius weicht einem Gegensatz der Prinzipien im Begriffspaar klassisch-romantisch. Aus der ahistorischen Graduierung wird bei Schlegel über den Umweg der Abgrenzung zweier Epochen der Ansatz für eine historische Klassifizierung gewonnen, ohne jedoch — indem das Prinzipielle betont wird — die synchrone Verwendungsmöglichkeit gänzlich auszuschalten. Madame de Staël ist von diesem Vorschlag sehr beeindruckt und widmet in ihrem Deutschlandbuch den von Schlegel entwickelten Vorstellungen ein ganzes Kapitel: „De la poésie classique et de la poésie romantique 4 9 ." Goethe dagegen bemerkt zu Eckermann, daß Schiller in seinem Aufsatz „Uber naive und sentimentalische Dichtung" schon dieselbe Idee einer Zweiteilung der Dichtungsgeschichte hatte: „Der Begriff von klassischer und romantischer Poesie, der jetzt über die ganze Welt geht und so viel Streit und Spaltungen verursacht, [ . . . ] ist ursprünglich von mir und Schiller ausgegangen. [ . . . ] Die Schlegel ergriffen die Idee und trieben sie weiter, so daß sie sich denn jetzt über die ganze Welt ausgedehnt hat und nun jedermann von Klassizismus und Romantizismus redet, woran vor fünfzig Jahren niemand dachte 50 ." Lediglich in England schreibt Carlyle noch 1831: „ [ - . - ] we are troubled with no controversies on Romanticism and Classicism 51 ." Er bestätigt damit, was Byron auch schon vorher anläßlich seiner Pläne für eine Widmung des Marino Faliero an Goethe festgestellt hatte: „I perceive that in Germany, as well as in Italy, there is a great struggle about what they call Classical and Romantic, — terms which were not subjects of classification in England, at least when I left it four or five years 52

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ago5. Diese hier dokumentierte englische Abneigung gegenüber konzeptualistischen Klassifizierungsbestrebungen konnte weder durch die englische

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Vgl. De l'Allemagne, hrsg. v. J. de Pange, 5 Bde., Paris 1 9 5 8 - 1 9 6 0 , Bd. 2, S. 1 2 7 - 1 4 0 ; S. 129: „On prend quelquefois le mot classique comme synonyme de perfection. Je m'en sers ici dans une autre acception, en considérant la poésie classique comme celle des anciens, et la poésie romantique comme celle qui tient de quelque manière aux traditions chevaleresque." Zu Eckermann am 21. März 1830, zit. nach: Goethe, Bd. 24, 1948, S. 405 f. Zur Verbindung von Schillers Aufsatz und Friedrich Schlegels "Uber das Studium der griechischen Poesie" vgl. Eichner, S. 106: „The parallels between Schiller's and Schlegel's treatises are so striking, that scholars have attempted to account for them in terms of direct influence, but this hypothesis is unwarranted." The Works of Thomas Carlyle, Centenary Edition, 30 Bde., London 1896—1899, Bd. 27, 1899, S. 172. The Works of Lord Byron, 13 Bde., London 1898 — 1904, Letters and Journals, 6 Bde., hrsg. v. R. E. Prothero, 1898—1901, Bd. 5, S. 100—104, Brief an John Murray vom 17. [14.?] Okt. 1820, S. 104. Byron verließ England erst nach dem Erscheinen der engl. Übersetzung der Vorlesungen Schlegels.

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Übersetzung von Schlegels Vorlesungen 5 3 , noch durch das schon vorher, nachdem die Veröffentlichung in Paris verboten worden war, in London erscheinende W e r k der Madame de Staël und selbst nicht durch Coleridges Vorlesungen, die diese Ideen Schlegels zu propagieren versuchten 54 , wesentlich beeinflußt werden. D a ß zudem der Bruch mit der vorangehenden Periode des Klassizismus von der englischen Romantik nie überbetont w o r den ist, läßt sich beispielhaft an Byrons Einbeziehung und Behandlung der Autoritäten einer vorangehenden Epoche in die Exposition seines Don Juan beobachten. Mag das Bekenntnis zum Nachahmungsbestreben antiker Muster nach klassizistischer Manier noch als Spott aufgefaßt werden 5 5 , so gelangen Milton, Dryden und Pope in der Kontrastierung mit romantischen Zeitgenossen Byrons doch bei aller Ironie zu vergleichsweise positivem Ansehen: „Thou shalt believe in Milton, Dryden, P o p e ; T h o u shalt not set up W o r d s w o r t h , Coleridge, Southey; Because the first is crazed beyond all hope, T h e second drunk, the third so quaint and mouthey 5 6 ." H a t t e n die Brüder Schlegel den Begriff des Klassischen durch seine K o n frontation mit dem des Romantischen ausgegrenzt und definiert, so differenziert Heinrich Heine als einer der ersten die unterschiedlichen Ausprägungen des Klassischen selber in diachroner Perspektive. In seiner Romantischen Schuley verstanden als Fortsetzung von Madame de Staëls Deutschlandbuch und zuerst als französische Artikelserie 1832/33 erschienen, versucht er, die historische Dimension im Klassizismusbegriff aufrechtzuerhalten. Entsprechend scheidet er daher zwischen klassischer und neu-klassischer Poesie 57 , ein Unterschied, der sich im selben Sinn später auch in England findet: „When we speak of the classical school in English Literature we refer to those writers w h o have formed their style upon the ancient models, and, f o r the sake of distinction, we might call them the Revived

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John Black, der Ubersetzer, stellt 1815 durch ein langes Zitat aus Madame de Staëls Deutschlandbuch von 1813 ausdrücklich die enge Beziehung beider Werke heraus: A. W. Schlegel, A Course of Lectures on Dramatic Art and Literature, 3 Bde., Bd. 1, S. I V — V I . Vgl. G e o r g e Whalley, „England: Romantic-Romanticism", ,Romantic' and Its Cognates, S. 157 — 262; bes. S. 200. D i e Vorlesungen wurden allerdings erst viel später auch im Druck veröffentlicht. Vgl. Don Juan, hrsg. v. T. G. Steffan, E. Steffan und W. W . Pratt, H a r m o n d s w o r t h / M d d x . 1973, Canto 1, Str. 200 und 201, S. 96: „My poem's epic and is meant to be [. . . ] After the style of Virgil and of H o m e r , [ . . .]. All these things will be specified in time With strict regard to Aristotle's rules." Ebd., Canto 1, Str. 205, S. 97. Heinrich H e i n e , Lyrik und Prosa, hrsg. v. M. Greiner, 2 Bde., Frankfurt/M. 1962, Bd. 2, S. 221. D i e französische Erstausgabe in L'Europe littéraire war mir nicht zugänglich. Im Nachdruck in Œuvres de Henry Heine, Bd. 5 und 6, Paris 1835, Bd. 5, S. 265, wird von N e o l o g i s m e n wie in der deutschen Fassung abgesehen: „la nouvelle poésie classique."

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Classical or the Neo-Classical school 58 ." Meinte Heine vor allem die Literatur im Zeitalter Louis' XIV., so bezieht sich William Rushton auf Dryden und Pope. Gleichzeitig möchte Heine „die Periode der neu-klassischen Poesie" aber auch schon in der italienischen Renaissance beginnen lassen. Diese Verbindung der Vorstellungen vom Epochenspezifikum und vom durchgehenden Prinzip setzt sich gerade in England bis zum Ende des 18. Jahrhunderts durch als Vorstellung vom zyklischen Hervortreten oder Zurückweichen stets latent vorhandener Tendenzen. T r o t z der offensichtlichen Blickverengung durch die Beschränkung auf die englische Literaturentwicklung läßt sich Felix Schellings Jonson-Aufsatz von 1898 als Beispiel heranziehen für diese komplementäre Verbindung des epochalen und des prinzipiellen Aspekts im Klassizismusbegriff: „Classicism and Romanticism are tendencies rather than opposed methods in art. Literature has always partaken of both, although one may dominate in one age, the other in another. It may be surmised that in the ebb and flow of these elements consists the life of literature 59 ." Dieser hier als dialektischer Prozeß verstandene Vorgang einer klassisch-romantischen Schaukelbewegung läßt je nach dem Entwicklungsstadium der einzelnen Phasen mehr oder weniger deutlich trennbare Epochen entstehen. Kulminationspunkte klassizistischer Tendenzen finden sich nach Schelling für den beobachteten Zeitraum nicht nur bei Sidney, Jonson oder Pope und deren jeweiligen Anhängern, sondern kündigen sich auch für die Zukunft durch Vorläufer wie Matthew Arnold oder William Morris an: „The history of English Literature since the Renaissance exhibits three periods of unusual interest in the models of the past, three notable returns to the classics as they were understood in each age, with a possible fourth period of interest yet to come 60 ." Ein solches periodisches Hervortreten der Rückbesinnung auf die Antike und der englischen Klassizismustradition ist in der folgenden Zeit von vielen Forschern beobachtet und bestätigt worden 61 . Hinsichtlich des englischen Dramas läßt sich die Theorie einer latent stets vorhandenen Möglichkeit zum Klassizismus und eines zyklisch akuten Hervortretens solcher klassizistischen Tendenzen durch zahlreiche Beispiele belegen. Von Gorboduc und der Seneca-Tradition des elisabethanischen Theaters bis zu Eliots auf griechische Tragödienfabeln zurückleitbaren Gesellschaftsdramen reicht die Reihe solcher Belege. Selbst bei Shake58

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William Rushton, „The Classical and Romantic Schools of English Literature, As Represented by Spenser, Dryden, Pope, Scott, and Wordsworth", The Afternoon Lectures on English Literature, London 1863, S. 44. Ben Jonson and the Classical School", PMLA 13, 1898, S. 2 2 1 - 2 4 9 ; S. 221. Ebd., S. 222. Vgl. Curtius, Europäische Literatur, S. 45 und S. 271; aber auch Sherard Vines, The Course of English Classicism from the Tudor to the Victorian Age, unterscheidet drei prononcierte neo-classicphases, London 1930, S. 78. Ähnliche Aufteilungen unternimmt auch Dominique Secretan, Classicism (The Critical Idiom, Bd. 27), London 1973, S. 20 und S. 47.

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Klassizismusbegriff

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speare ließen sich klassizistische Elemente nicht nur stofflicher oder thematischer Art, sondern auch etwa in dem ohne Nebenhandlung verlaufenden Aufbau des Coriolanus nachweisen oder in der weitgehenden W a h r u n g der ,mechanischen' Einheiten von O r t und Zeit im Tempest. In dieser Hinsicht zitiert Sherard Vines aber auch den classic scepticism in Marlowes FaustusFigur oder schon vorher Euripides als Ursprung f ü r die in Gascoignes Jocasta dargestellten Ereignisse 62 . Als Epochenbezeichnung ist classicism oder neoclassicism unter diesem Aspekt — wie o f t bemerkt wird — unbrauchbar: „ [ . . . ] returning to N e o classicism, let us acknowledge that, if regarded as a distinct phase of Art, separate in time and visible effects, in England it never really existed 63 ." U m g e k e h r t ist aber in der Dramengeschichte dennoch ein besonders akutes Auftreten klassizistischer T e n d e n z e n in der Zeit von 1675 bis 1750 allgemein anerkannt worden. U n t e r anderen Bestrebungen und Richtungen der Dramatik dieser Zeit nimmt der Klassizismus eine dominierende Stellung ein. Notiert Allardyce Nicoll schon f ü r die Tragödie der Restaurationszeit „a strong inclination towards the classic concepts", so stellt er vollends f ü r das frühe 18. J a h r h u n d e r t fest: , , [ • • • ] probably the most important movement of the time was that to which has been given the name of pseudo-classical 64 ." Die Darstellung einer konsequenten Entwicklung der ersten Phase in die zweite ist bei ihm jedoch durch die in diesem Fall unglückliche Einteilung seines Werkes, das die Zäsur der Jahrhundertwende überbetont, verstellt. 0.1.3 D e r französische Einfluß Postuliert die am Beispiel Felix Schellings entwickelte Klassizismusvorstellung die jeweilige Rückwendung zur griechischen oder römischen Antike bzw. eine in England selbst tradierte Vorliebe f ü r antike Mustergültigkeit, so ergibt die Vorstellung von der Beeinflussung der englischen Literatur durch die französische Klassik unter Louis X I V . einen weiteren Einzelaspekt der facettenreichen Begriffsgeschichte von classicism, wie er ähnlich auch f ü r andere Nationalliteraturen vertreten wird. Anders als bei der Zyklen- oder Tendenztheorie findet sich hier von vornherein die Begrenzung der Vorstellung auf eine bestimmte historische Periode, wenn auch mit gewissen Schwankungen in der zeitlichen Abgrenzung. Der Hinweis auf eine am französischen Vorbild sich ausrichtende Dichtung gehört schon zum künstlerischen Selbstverständnis der hier betrachte-

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Vines, S. 9 und S. 23,. Bronson, S. 4. Allardyce Nicoll, A History of English Drama 1660—1900, Bd. 1: Restoration Drama 1660-1700, Cambridge 4 1952 (Zuerst als Monographie 1923), S. 94, und Bd. 2: Early Eighteenth Century Drama, Cambridge 1925, 3 1952, S. 51. Vgl. auch Bd. 1, S. 142: „First point of importance [ . . . ] is the pseudo-classic movement."

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Einleitung

ten Epoche. Das seit der Niederlage Frankreichs von 1704 in England verstärkt einsetzende nationale Hochgefühl erfährt in Addisons Siegeshymne auf John Churchill, Duke of Marlborough, seinen selbstbewußten Ausdruck. In Antithese zu diesem militärischen Erfolg hebt Pope die epigonale Stellung der englischen Kultur hervor: „We conquer'd France, but felt our captive's charms: H e r Arts victorious triumph'd o'er our Arms 65 ." Die gleichzeitige Imitation von H o r a z in diesen Zeilen wahrt jedoch die unmittelbare Verbindung zur römischen Antike 66 . Pope bezieht sich auf keinen völlig neuen Sieg französischer Literatur, sondern konstatiert lediglich das Fortbestehen einer älteren Entwicklung. So findet sich eine ähnliche Anerkennung französischer Überlegenheit auch schon bei Dryden. Doch im Essay of Dramatic Poesy (1668) wird Lisideius, der die pro-französische Position vertritt und damit die Möglichkeit und Bedeutung eines solchen Vorgehens zu dieser Zeit in England dokumentiert, aufs heftigste von seinem Gesprächspartner Neander angegriffen, der den Blick auf die Vorbildlichkeit der eigenen nationalen Dramenproduktion der Vergangenheit lenkt und deren Höherbewertung gegenüber der französischen Dramatik vertritt. Von Anfang an wird mit der Erkenntnis des französischen Einflusses und der Empfehlung einer Imitation französischer Literatur eine Gegenreaktion ausgelöst, die sich in nationalem Stolz lieber auf die Errungenschaften der eigenen Literatur beruft. Die Forschung setzt allgemein den Beginn des französischen Einflusses auf die englische Literatur mit der Restauration der Stuart-Monarchie an, als Charles II. bei seiner Rückkehr aus dem Exil in St. Germain französischen Geschmack und einen an französische Kultur gewöhnten und an ihr geschulten Hofstaat mit nach England bringt 67 . Entsprechend wird der Klassizismus der Restaurationszeit und des 18. Jahrhunderts nicht als eigenständige nationale Literaturentwicklung gesehen, sondern als von Frankreichs Vorbild nicht nur veranlaßt, sondern auch wesentlich geformt und geleitet. Dieses Phänomen der Anerkennung französischer Vorbildlichkeit in literarischen Fragen läßt sich selbst noch in einer Zeit des Frankreichhasses beobachten, als mit den innenpolitischen Unruhen in der letzten Regierungsphase Charles' II. und während der Zeit der Glorious Revolution von 1688 auch die Dichter in verstärktem Maße Partei gegen Frankreich ergreifen. Ein modifiziertes literarhistorisches Erklärungsmodell findet sich bei Coleridge. Anläßlich einer Reflexion ihrer Auswirkungen beschreibt er die 65

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The Twickenham Edition of the Poems of Alexander Pope, 11 Bde., L o n d o n — N e w Haven 1 9 3 9 - 1 9 6 9 , Bd. 4: Imitations of Horace, 2 1953, S. 217: 2.1. 263 f. Vgl. ebd., S. 216: 2.1. 156—159: „Graecia capta, ferum victorem cepit & Artes/Intulit agresti Latio." Vgl. Wellek, S. 61: „English classicism was assumed to be an importation from France — the direct result of the Restoration of 1660 when the Stuarts returned from exile."

Überlegungen zum

Klassizismusbegriff

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klassizistische Epoche nicht nur als unter dem Einfluß Frankreichs stehend, sondern als ganz und gar französisch in ihrer Dichtung, die lediglich durch einen heilsamen englischen Einfluß positiv affiziert wurde: „ [ • • • ] that school of French poetry Condensed and invigorated by English understanding which had predominated from the last Century 68 ." Die Ablehnung bezieht sich hier in differenzierender Argumentation nicht auf die nationalen Dichter des Klassizismus und ihre literarischen Fähigkeiten, sondern auf die ausländische ,Überfremdung' ihrer Dichtung, die sie nicht wirksam genug verhinderten. Die konsequenteste Ausformung eines Mythos von der Negativität des französischen Einflusses findet sich jedoch in Deutschland. In großartiger Vision entwirft schon Heine den europäischen Siegeszug eines spezifisch französischen Klassizismus, den er trotz aller Anerkennung der originären französischen Leistung in seinen Auswirkungen als negativ empfindet: „Durch den politischen Einfluß des großen Königs [Louis XIV.] verbreitete sich diese neu-klassische Poesie im übrigen Europa; in Italien, wo sie schon [in der Renaissance] einheimisch geworden war, erhielt sie ein französisches Kolorit; mit den Anjous kamen auch die Helden der französischen Tragödie nach Spanien; sie gingen nach England mit Madame Henriette [verheiratet mit Charles I.]; und wir Deutschen, wie sich von selbst versteht, wir bauten dem gepuderten Olymp von Versailles unsere tölpischen Tempel 69 ." Lessing ist für Heine der Befreier Deutschlands von der „Abgeschmacktheit jener Nachahmung des französischen Theaters, das selbst wieder dem griechischen nachgeahmt schien". Als Stifter der neueren deutschen Nationalliteratur und als Überwinder eines „französierenden" Theaters 70 , wie Gottsched es propagierte, wird Lessing auch in Theodor Wilhelm Danzels Monographie gefeiert 71 . In der 1850 erscheinenden Rezension dieses Buches spricht Hermann Hettner zum ersten Mal von „der Unnatur des französischen Klassizismus" 72 . Der Klassizismus in der Einengung des Begriffs auf eine unter französischem Einfluß stehende Literatur ist für ihn die wesentliche Gegenkraft und das Haupthindernis bei der Ausbreitung einer allgemein-europäischen Aufklärungsbewegung. So definiert wird der Klassizismus im programmatischen Vorwort von Hettners Literaturgeschichte des 68

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Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria or Biographical Sketches of my Literary Life and Opinions, hrsg. v. G. Watson, 2 Bde., London—New York 1906, repr. 1962, Bd. 1, S. 9. Ebd., S. 12 richtet sich Coleridge speziell gegen die French tragedies, bekennt aber auch schon vorher (S. 9) gegenüber der klassizistischen Epoche Popes: „I was not blind to the merits of this school." Vgl. hierzu auch Upali Amarasinghe, Dryden and Pope in the Early Nineteenth Century, A Study of Changing Literary Taste, 1800—1830, Cambridge 1962, bes. S. 140 f. Heine, S. 221. Ebd., S. 221 f. Gotthold Ephraim Lessing, Sein Leben und seine Werke, Bd. 1, Leipzig 1849. Hermann Hettner, Schriften zur Literatur und Philosophie, hrsg. v. D. Schaefer, Frankfurt/M. 1967, S. 100—117; S. 106.

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Einleitung

18. Jahrhunderts, dessen erster Band die englische Entwicklung darstellt, entsprechend negativ als Verirrung und Abweg auf ethischem wie ästhetischem Gebiet gesehen 73 . Schon Madame de Staël hatte behauptet, das große Zeitalter der französischen Literatur sei durch die Staatsform der absoluten Monarchie in seiner geistigen Freiheit behindert worden 74 . Vollends für Hettner, der dem Vormärz nahesteht und auf eine freiheitlich-demokratische Entwicklung der politischen Situation hofft 75 , gerät — auch nach dem Scheitern der liberalen Bewegung — der Despotismus Louis' XIV. zur Inkarnation politischer Unfreiheit. Eine die Größe des absoluten Monarchen verherrlichende Literatur wird von ihm daher entschieden abgelehnt — auch wenn er die Prinzipien einer formstrengen und rational ausgerichteten Poetik dieser Zeit als „an und für sich ganz richtiges Kunstgefühl" anerkennen muß 76 . Mit seiner Definition legt Hettner einige der Konnotationen fest, die dem Klassizismusbegriff auch nach der Lösung aus seinem politischen Kontext in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch lange 77 anhaften: „Die französische Tragik ist wesentlich Hofkunst. Man nennt diese Kunstrichtung Klassizismus, aber es ist der Klassizismus der Unfreiheit. [ . . . ] die Etikette verbietet alles Sprunghafte und Geräuschvolle. Und daher auch vor allem jener vorwiegende H a n g nach dem Rhetorischen, ganz wie die Literatur der Alexandriner und der römischen Kaiserzeit denselben rhetorischen H a n g hat. Die Phantasie hat unter der Künstelei und Unnatur der sie umgebenden Außenwelt jene naturwüchsige Saftigkeit und Blüthenfülle eingebüßt, welche ihr in frischeren und ursprünglicheren Zuständen und Stimmungen eigen ist78." Wird Hettner nachgesagt, daß er aus seinem Studium der vergangenen Literatur „Maßstäbe zur Würdigung und Förderung der gegenwärtigen und künftigen Literatur zu gewinnen hoffte" 7 9 , so gilt für seine Würdigung Corneilles und Racines, daß er sie umgekehrt nach den Maßstäben der Spontaneität, der Ursprünglichkeit und Naturwüchsigkeit beurteilt, d. h. nach den Kriterien einer in ihren Anfängen höchstens bis zum

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6 Bde., Braunschweig 1856—1870, Bd. 1: Geschichte der englischen Literatur von der Wiederherstellung des Königthums bis in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, 1 6 6 0 - 1 7 7 0 , S. 6. De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales, hrsg. v. P. van Tieghem, 2 Bde., Genf—Paris 1959, Bd. 2, S. 271 : „La monarchie, et surtout un monarque qui comptoit l'admiration parmi les actes d'obéissance, l'intolérance religieuse et les superstitions encore dominantes, bomoient l'horizont de la pensée." Vgl. Ludwig Uhlig, „Nachwort" zu: Hettner, Schriften zur Literatur, S. 169—181. Hettner, Literaturgeschichte, Bd. 2, S. 11. Auf das Weiterwirken von Hettners Vorstellungen weist auch Herbert Dieckmann hin: „Themes and Structure of Enlightenment", Essays in Comparative Literature (Washington University Studies), St. Louis/Missouri 1961, S. 41 — 72, übers, v. S. Metz und K. Kersten in: H . Dieckmann, Diderot und die Aufklärung, Aufsätze zur europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1972, S. 1 — 28; S. 4. Hettner, Literaturgeschichte, Bd. 2, S. 11. Uhlig, S. 170.

Überlegungen zum

Klassizismusbegriff

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Sturm und Drang zurückreichenden und daher früheren Werken unangemessenen Schöpfungspoetik. Die Konnotation der politischen Unfreiheit einer französischen Klassik wird kontaminiert mit der Vorstellung von der literarischen Unfreiheit einer den ihr zugrunde liegenden Prinzipien und Uberzeugungen folgenden Literatur anderer Länder. In diesem Sinn wirft Hettner Samuel Johnson „französierenden Klassizismus" vor 80 . Wie er die französische Klassik aus seiner politischen Überzeugung heraus negativ sieht und ähnliche literarische Bestrebungen anderer Nationen nur aus der ablehnenden Reaktion der folgenden Epoche begreifen kann, so entwickelt er aus dieser Sicht die Vorstellung von der Verderblichkeit und Starre, der Zwanghaftigkeit und Unnatur des französischen Einflusses auf andere Literaturen. Dieses Argumentationsmuster erweist sich trotz seiner impliziten Abwegigkeit als äußerst wirksam und zählebig. Die Konsequenz allerdings, mit der Hettner die Negativität des französischen Einflusses brandmarkt, findet sich in England selten. Macaulay etwa, dessen History of England Hettner häufig für den englischen Teil seiner Literaturgeschichte heranzieht und der einen kurzen Absatz dem „Influence of French literature" widmet, urteilt viel vorsichtiger und differenzierter. Mit Bedauern stellt er für die Restaurationszeit das Weichen der lateinischen Gelehrsamkeit gegenüber einer französischen Affektiertheit vor allem der Höflinge fest und prangert eine französische Überfremdung der englischen Sprache an, für die ihm als „the most offensive instance" Drydens Krönungshymne gilt 8 '. Mit Genugtuung stellt er dagegen fest, daß das heroische Drama als Import aus Frankreich nur einen sehr kurzen Erfolg in England hatte 82 . Bei aller grundsätzlichen Ablehnung eines fremden Einflusses bleibt Macaulays Urteil auf diesem Gebiet jedoch auf Ausgewogenheit bedacht. Wie die negativen, so registriert er auch die positiven Folgen der zum Vorbild erklärten französischen Muster: „Our prose became less majestic, less artfully involved, less variously musical than that of an earlier age, but more lucid, more easy, and better fitted for controversy and narrative. In these changes it is impossible not to recognize the influence of French precept and of French example 83 ." Die Größe und Vorbildlichkeit der französischen Klassik wird von Macaulay uneingeschränkt anerkannt; es sind lediglich die Auswüchse und Mißgriffe einer zu eifrigen englischen Imitation und Fehlrezeption, die er angreift. Statt den Mythos von der Negativität des französischen Einflusses zu übernehmen, wie er sich für Hettner aus den Zwängen einer Theorie der li80 81

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Literaturgeschichte, Bd. 1, S. 524. Thomas Babington Macaulay, The History of England from the Accession of James II, 10 Bde., Leipzig 1849—1861, Bd. 1, S. 391, A. 2. Ebd., Bd. 1, S. 391. Ebd., Bd. 1, S. 391.

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Einleitung

terarischen Entwicklung zum Besseren, d. h. von der Unfreiheit der Frankreichimitation zur Originalität einer nationalen klassischen Epoche ergibt, wird im nachromantischen England eher der französische Einfluß überhaupt geleugnet. Saintsbury versucht die Bedeutung französischer Vorbilder zu minimieren. Die Vorliebe Charles' II. für alles Französische und die Werke der Scudéry als Anregung für das heroische Drama scheinen ihm überschätzt worden zu sein in früheren Erklärungsversuchen des englischen Klassizismus 84 . Obwohl er französischen Einfluß gerade in der Literaturtheorie nicht leugnet 85 , hält er Gallo-Classic für eine ungerechtfertigte Bezeichnung. Er diffamiert Boileaus Bedeutung in Frankreich 8 ', um sie dadurch auch in England abwerten zu können. Sein komparatistischer Ansatz in der Gegenüberstellung der defects of Boileau und der merits of Dryden zeigt die Grenzen seiner Literaturästhetik durch ihr nationalistisches Interesse87. In konsequenterer Form als bei Saintsbury führen die bereits oben entwickelten Vorstellungen Felix Schellings zur gleichen Zeit zur Ablehnung der Importationsidee und kommen zu dem kategorischen Schluß: „ [ . . . ] there is not a trait which came to prevail in the poetry of the new classical school as practised by Waller and Dryden, and later by Pope, which is not directly traceable to the influence or to the example of Ben Jonson 88 ." Eine weitere Ausformung dieser nationalbewußten Idee findet sich bei Paul Spencer W o o d . In ähnlich rigoroser Isolation der englischen Literatur leugnet er die Orientierung am französischen Vorbild und betont die native elements des englischen Klassizismus als spontane Parallelerscheinungen einer gesamteuropäischen Bewegung. Die Literatur ist für W o o d integrierender Faktor einer nach der Restauration von 1660 einsetzenden kulturellen Rückbesinnung auf restriction und reform: „Literature [ . . . ] needed order, decorum, measure, respect for the general sense, precisely as England everywhere needed these same qualities. In the effort to attain them, it appealed to authority and tradition on the 84

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George Saintsbury, A Short History of English Literature, London 1898, repr. 1903, S. 484; bes. zu Dryden auch S. 651. Vgl. George Saintsbury, A History of Criticism and Literary Taste in Europe from the Earliest Texts to the Present Day, 3 Bde., Edinburgh—London 1900—1904, Bd. 2, S. 412: „But there was French influence." Ebd., Bd. 2, S. 2 8 0 — 3 0 0 , aber auch S. 567 werden Boileaus „small critical gifts" herausgestellt. Vgl. S. 418 gegen Perrault. Ebd., Bd. 2, S. 389. Schelling, S. 249. Diese Vorstellung geht in ihren Anfängen bereits auf Drydens Essay of Dramatic Poesy zurück und findet sich u. a. bei John Oldmixon und besonders ausgeprägt und übertrieben bei William Guthrie, An Essay upon English Tragedy, With Remarks upon the Abbe de Blanc's Observations on the English Stage, London [1757], S. 6: „Johnson, at a time w h e n critical learning was as strange in France as in Barbary, did what n o Frenchman ever was able to do. H e produced regular plays of five acts, complete in the unities of place and characters, and so complete in the unity of time, that they are acted upon the stage in the same time which the same story would have taken up in real life."

Überlegungen zum

Klassizismusbegriff

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one hand and to reason and expediency on the other, precisely as the same appeals were made elsewhere89." Wenige Jahre vorher hatte auch Eliot aufgerufen zur Wahrung der nationalen Identität besonders auf dem Gebiet eines klassischen Kulturanspruchs: „England is a Latin country, and we ought not to have to go to France for our Latinity, any more than we ought to be obliged to go there for our cooking90." Ein solches Unabhängigkeitsstreben bei der historiographischen Aufarbeitung des kulturellen Erbes und damit auch der Literatur ist letztlich unhaltbar angesichts der grundsätzlich engen Verflechtung der europäischen Literaturen untereinander. Obwohl die Selbständigkeit einer spezifisch englischen Ausprägung und Tradition der europäischen Latinität nicht bestritten werden soll und Klassizismus weit hineinragt in dieses Gebiet, läßt sich doch gerade am Beispiel der englischen Tragödie am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Beziehung zu Frankreich nicht übersehen. Eigenständigkeits- wie Einflußvorstellung, die in ihrer rigorosen Überspitzung gleichermaßen unhaltbar sind, erweisen sich zudem bei der differenzierenden Betrachtung der einzelnen Texte als in ihrem Erkenntniswert stark begrenzt.

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Paul Spencer Wood, „Native Elements in English Neo-Classicism," MP 24, 1926/27, S. 2 0 1 - 2 0 8 ; S. 207. The Criterion, hrsg. v. T. S. Eliot, 18 Bde., London 1922 — 1939, Collected Ed., London 1967, Bd. 2, S. 104.

0.2 Das klassizistische Selbstverständnis Das Problem eines französischen Einflusses hat schon im Selbstverständnis des Klassizismus seinen Ursprung. In stärkerem Maße als Epochenspezifikum erweisen sich im 17. und 18. Jahrhundert jedoch das Bekenntnis zum römischen Vorbild und der angestrebte Vergleich der eigenen Zeit mit den historischen Zuständen während der Herrschaft des Augustus. 0.2.1 Fluktuationen der Epochenbegrenzung Als kennzeichnendes Epitheton bezeichnet Augustan — wie classical bzw. neoclassical — eine allgemeine Haltung genauso wie eine Epoche der englischen Literatur, in der das Bemühen um eine solche Haltung dominant war 91 . Ist die Diskussion über Grad und Ursprung des englischen Klassizismus eher ein Phänomen der Folgezeit und der Forschung, nicht aber ein Streitpunkt der Epoche selber, so verhält es sich mit dem in der Forschung lediglich in seiner zeitlichen Ausdehnung, nicht aber in seiner grundsätzlichen Angemessenheit diskutierten Begriff Augustan age oder Augustan period umgekehrt. Der Vergleich der eigenen Zeit mit der römischen Geschichte und die Inbezugsetzung der englischen Gegenwart zu einer Blütezeit der lateinischen Literatur unter Augustus Caesar stellt für die Dichter und Schriftsteller von Dryden bis Goldsmith ein offensichtliches Problem dar. Die wechselseitige Integration der Interessen von Herrscher, Adel und Dichtern, wie sie das augusteische Rom kennzeichnet 92 , ist unter den Stuarts, William III., Queen Anne oder schließlich den Hannoveranern bestenfalls partiell realisiert und erreicht in England nie den Identifikationsgrad des römischen Vorbilds. Das Faktum und die Art jedoch der Verwendung des Vergleichs englischer mit römischen literarischen, politischen und sozialen Zuständen läßt sich als Dokumentation der Bemühung um ein klassizistisches Selbstverständnis der Epoche durchgängig verfolgen. Im zweiten Teil der Gedichte Edmund Wallers (1690) schreibt der anonyme Herausgeber: „I question wether in Charles the Second's Reign, English did not come to its full perfection; and wether it has had its Augustean Age, as well as the Latin9i." Thomas Pope Blount zitiert die hier aufgestellte Hypothese eines augusteischen Zeitalters der englischen Sprache und 91

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Vgl. Ian Watt, „Two Historical Aspects of the Augustan Tradition", Studies in the Eighteenth Century; Papers Presented at the D. N. Smith Memorial Seminar Canberra 1966, hrsg. v. R. F. Brissenden, Canberra 1968, S. 67 — 88; S. 87: „Today the word ,Augustan', it may be surmised, is often used to denote not a chronological period of literature, but a general cultural attitude." Vgl. Manfred Fuhrmann, „Die römische Literatur", Römische Literatur, Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 3, F r a n k f u r t / M . 1974, S. 14, 19, 24. The Second Part of Mr. Waller's Poems, London 1690, „Preface".

Das klassizistische

Selbstverständnis

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Literatur und verbreitet sie mit seiner poetologischen und literarhistorischen Kompilation De re poetica (1694) 94 . John Oldmixon erhärtet 1712 diese Vorstellung in seiner Auseinandersetzung mit Swift über Endsilbenelisionen: „King Charles the Second's Reign [ . . . ] probably may be the Augustan Age of English Poetry 95 ." Mit der Herausgabe der Werke Addisons durch Thomas Tickeil (1721) bahnt sich jedoch eine zeitliche Verschiebung der als Augustan bezeichneten Epoche an, wenn Tickeil im Vorwort über Addison berichtet: „He [ . . . ] was admired as one of the best authors since the Augustan age 96 ." Diese hohe Bewertung, die zunächst nur den lateinischen Studentengedichten Addisons gilt, wird dann durch den Hinweis auf Boileaus Anerkennung Addisons und zugleich der englischen Dichtung allgemein, „that possessed the Roman genius in so eminent a degree", ausgeweitet 97 . Diese Bestrebungen, die unmittelbar abgeschlossene Periode in direkte Beziehung zur bewunderten römischen Literaturblüte zu setzen und durch einen positiven Vergleich Qualität und Leistung des besprochenen Werkes hervorzuheben, fungieren, wie die prefaces zu den Werken Wallers und Addisons belegen, ursprünglich als Bestandteil der Apologie der Herausgeber für das Unternehmen der Werkedition. Hier findet sich zum ersten Mal die Bereitschaft, aus dem Inferioritätsgefühl des Nachgeborenen heraus oder aus dem Wohlwollen des Freundes die Bemühungen der Verstorbenen als erfolgreich anzuerkennen und dadurch den Prozeß der Ergänzung der translatio studii durch die translatio nominis einzuleiten. Das Streben nach dem augusteischen Ideal verschafft in diesem Fall eigenen Idealcharakter, der sich im Transfer der Bezeichnungen niederschlägt. Im ersten literarhistorisch überschauenden und resümierenden Bericht über eine englische augusteische Epoche, „when language and learning arrived at its highest perfection", stellt Goldsmith aber auch schon als Spezifikum der englischen Situation die Unentschiedenheit in der zeitlichen Abgrenzung heraus: „The age of Leo X. in Italy, is confessed to be the Augustan age with them. The French writers seem agreed to give the same appellation to that of Lewis XIV., but the English are yet undetermined with respect to themselves 98 ." Für seine eigene Position ist Goldsmith durchaus bereit, den Wechsel von den Stuarts und Waller zu Anne und Addison zu vollziehen: „I should readily give my vote for the reign of Queen Anne, or some years before that period. It was then that taste was united to genius, 94

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De Re Poetica: or, Remarks upon Poetry, With Characters and Censures of the Most Considerable Poets, Wether Ancient or Modem, Extracted out of the Best and Choicest Criticks, London 1694, repr. Menston/Yorkshire 1972, S. 244. Reflections on Dr. Swift's Letter to Harley (1712); Arthur Mainwaring, The British Academy (1712) (The Augustan Reprint Society, Series 6, No. 1), Ann Arbor 1948, S. 19. The Works of [.. .] Joseph Addison, 4 Bde., London 1721, Bd. 1, S. VI. Ebd., Bd. 1, S.VII. „An Account of the Augustan Age of England", The Bee, N o . 8, 24. Nov. 1759, Collected Works of Oliver Goldsmith, 5 Bde., Oxford 1966, Bd. 1, S. 4 9 8 - 5 0 5 ; S. 498.

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Einleitung

and, as before, our writers charmed with their strength of thinking, so then they pleased with strength and grace united 99 ." Obwohl Goldsmiths Festlegungsversuch für die Zeit von William und Anne nicht unwidersprochen bleibt, hebt er nicht nur die auch weiterhin anerkannten Kennzeichen dieser Epoche, refinement, polish und elegance, hervor, sondern betont auch die allgemeine kulturelle Perfektion, wobei die einzelne Individualleistung zurücktritt 100 . Er betont die Staatsverbundenheit der Dichter und weist nostalgisch auf die Vorteile eines intakten Patronatssystems unter aristokratischer Ägide zurück 101 . Zugleich mit der Feststellung einer Gipfelzeit englischer Literatur erinnert Goldsmith aber auch an den — parallel zum Verlauf römischer Geschichte zu erwartenden — Abstieg einer nachaugusteischen Epoche. Die Anzeichen für diesen Verlauf sieht er in seiner eigenen Zeit, vor allem aber in der Zwischenzeit der Walpole-Ara realisiert. Die Uneinigkeit über die Festlegung der Epoche zieht sich bis in die gegenwärtige Forschung. Abgesichert durch zahlreiche Belege für die semantischen Verschiebungen im Adjektiv Augustan plädiert James William Johnson für eine möglichst enge Definition, um die Operationalität des Begriffs durch präzisere Fassung zu erhöhen: „It is the first four decades of the eighteenth century which are properly called ,Augustan" 02 ." Diese Epoche untergliedert sich dann in einen ersten Teil der positiven Konnotationen einer Rom-England-Parallelsetzung und einen zweiten der für England negativen Implikationen des Rom-Vergleichs 103 . Heute zeichnet sich jedoch wieder eine sehr viel weitere Fassung dieser Periode, die Saintsbury schon nach rückwärts bis Dryden ausdehnte 104 , auch nach vorwärts bis Gibbon und Sheridan ab105. Von Ian Watts dreige95

Ebd., Bd.l, S. 498. Vgl. auch ebd., Bd. 1, S. 291, die Gleichsetzung der Zeitalter Louis' XIV. und Annes, deren Schriftsteller alles an Perfektion überstrahlen. 101 Ebd., Bd. 1, S. 310 f.: „When the link between patronage and learning was entire, then all who deserved fame were in a position to attain it. When the great Somers was at the helm [Chancelor of England ab 1697], patronage was fashionable among our nobility." Vgl. auch Michael Voss, The Age of Patronage: The Arts in England 1660—1750, Ithaca/N.Y. 1972 und die Rezension von Paul J. Korshin in ECS 7, 1973/74, S. 101 — 105. 102 „The Meaning of Augustan", JHI 19, 1958, S. 5 0 7 - 5 2 2 ; S. 521. Vgl. ebd. auch: „In its fullest and most popular sense, ,Augustan' was a term given to the years between 1697 (the ministry of Somers) and 1742 (the end of Walpole's ministry)." Johnson verwahrt sich gegen eine ungenaue Gleichsetzung von Augustan und 18. Jahrhundert, die er bei A. R. Humphreys, The Augustan World, Life and Letters in Eighteenth-Century England, London 1954, findet. 103 Vgl. ebd., S. 522: „ [ . . . ] the comparison between Rome and England [was metamorphosed] from an honorific literary one to a derogatory political one." 104 A Short History of Englisch Literature, S. 471: „Augustan age [is] sometimes applied to the whole period during which Pope wrote, sometimes limited to the reign of Queen Anne, and sometimes extended backwards so as to include Dryden. This last seems the best use." 105 Bronson, S. 22, nennt Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire „a supreme embodiment of the Augustan spirit."

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Das klassizistische

Selbstverständnis

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teilter Gliederung 106 entspricht etwa der Mittelteil der von Johnson empfohlenen Engfassung. Innerhalb des weiteren Rahmens sollen einige der Augustus-Vergleiche in ihren Funktionsmöglichkeiten als zentrale Vorstellung der Zeit näher betrachtet werden. 0.2.2 Der Funktionswandel des Augustus-Vergleichs Das Prinzipat des Augustus markiert in der Pax Augusta nach den Schrekken des Bürgerkriegs den politischen und kulturellen Höhepunkt der römischen Geschichte. Das Imperium Romanum erreicht seine größte Ausdehnung, die Dichtung ihren höchsten Entwicklungsstand. Vergil baut in die Geschichte vom Ursprung des römischen Reichs ebenso die Zukunftsvision von der Erfüllung und vom Anbruch des goldenen Zeitalters unter der Herrschaft des Augustus mit ein: „[. . .] hic vir hic est, tibi quem promitti saepius audis, Augustus Caesar, Divi genus, aurea condet saecula qui rursus Latio regnata per arva Saturno quondam, super et Garamantas et Indos proferet imperium 107 ." Die ins Uberirdische reichende Größe und der Ruhm des Augustus an der Spitze des antiken Weltreichs machen ihn in höchstem Maße geeignet, Vorbild und Muster in der Fürstenspiegelliteratur späterer Zeiten zu werden und als Vergleichsfigur für den höchsten Auftraggeber und Patron in den galanten Komplimenten aller folgenden Hofdichter zu fungieren. Trotz der höflichen Übertreibungen in Widmungen und literarischen Huldigungen ist die Exklusivität des Augustus-Vergleichs in einer an der Modellhaftigkeit der antiken Literatur ausgerichteten Zeit offensichtlich. Obwohl sich mit dem Namen des Imperators eher monarchische als republikanische Konnotationen vereinbaren lassen, sieht Edmund Waller Augustus in seiner Eigenschaft als Friedensbringer des römischen Reiches durchaus geeignet als Vergleichsfolie für Cromwells schließliche Vormachterringung im englischen Bürgerkrieg: „As the vexed world, to find repose, at last Itself into Augustus' arms did cast; So England now does, with like toil oppressed, H e r weary head upon your bosom rest108." Wie sich hier der Fürstenvergleich für den puritanischen Protektor verwenden läßt, so findet er ebenso Anwendung für den nachfolgenden 106

Ian Watt nennt drei Phasen der römischen Parallelsetzung, S. 67, 70 und 78: 1655—1700, 1700—1744 und 1744—1798 und zählt zur mittleren Phase „Addison, Swift, Pope, and their friends." 107 Virgil, With an English Translation by H. R. Fairclough, 2 Bde., London—New York 1 9 1 6 - 1 9 1 8 , Bd. 1, S. 5 6 0 - 5 6 2 , Aneis 6, 7 9 1 - 7 9 5 . 108 -phe Poems of Edmund Waller, hrsg. v. G. Thorn Drury, 2 Bde., London—New York [1893, repr. 1905], Bd. 2, S. 17, Z. 169—172.

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Einleitung

Monarchen. Doch während Waller Cromwell für bereits Geleistetes feiert, spricht Dryden dagegen bei der Restauration Charles' II. lediglich die H o f f n u n g für den Anbruch besserer Zeiten und für den Beginn einer augusteischen Epoche aus: „Oh Happy Age! O h times like those alone By Fate reserv'd for Great Augustus Throne! When the joint growth of Armes and Arts foreshew The World a Monarch, and that Monarch Tow109." Obwohl diese messianische Wunschvorstellung schon beim Regierungsantritt ausgesprochen wird, kommt Dryden dem visionären Charakter von Vergils Fürstenlob doch sehr nahe. Wie Äneas der Prototyp des Augustus war, so wird Augustus — bei aller Ungleichheit einzelner Charakterzüge oder Regierungsformen — der des englischen Staatsoberhauptes. So viele andere Vergleichsfiguren für Charles II. in Drydens Gedicht auch angeführt werden, dem Augustus-Vergleich kommt durch seine Endstellung — ähnlich wie schon bei Waller — besondere Bedeutung zu. Eine Ausweitung des für Commonwealth wie Monarchie gleichermaßen tauglichen Augustus-Vergleichs zur komplexen Analogievorstellung zwischen römischen und englischen Verhältnissen nimmt Dryden später vor, indem er seine eigene Stellung als Poeta laureatus einbezieht. Im Zusammenhang seiner ehrgeizigen, aber nie ausgeführten Epos-Pläne bittet er John Sheffield, eine Vermittlerfunktion für ihn einzunehmen und in der Rolle des Maecenas beim König zu intervenieren. Für sein offizielles Amt als Hofdichter beruft sich Dryden auf die Zustände am Hof des Augustus; denn ähnlich wie die Äneis soll das geplante W e r k der Verherrlichung des Königshauses dienen. Zugleich wird ausdrücklich die Wahlverwandtschaft des Dichters hinsichtlich seiner sozialen Stellung zur römischen, nicht zur griechischen Literatur herausgestellt: „As I am no successor to H o m e r in his wit, so neither do I desire to be in his poverty. [. . .] The times of Virgil please me better, because he had an Augustus for his patron. And to draw the allegory nearer you, I am sure I shall not want a Maecenas with him110." In der Form der Widmung zu Aureng-Zebe enthält dieser öffentliche Brief an Sheffield, den Earl of Mulgrave, die Aufforderung zum Mäzenatentum analog einer als nachahmenswert in ihren ästhetischen Normen wie in ihrem sozialen und höfischen Gefüge empfundenen Zeit. Die englische Dichtung bemüht sich ihrem an antiken Mustern orientierten Selbstverständnis zufolge, den ihr zustehenden Platz in der Aufmerksamkeit des Herrschers zu reklamieren. Der Widmungstext exponiert die soziale Standortbestimmung des Dichters in idealer Form und offenbart zugleich 109

The Works of John Dryden, Bd. 1: Poems 1649—1680, hrsg. v. E. N. H o o k e r und H. T. Swedenberg, Berkeley—Los Angeles 1956, S. 31. Vgl. zu Astraea Redux auch Richard Wendorf, „Dryden, Charles II, and the Interpretation of Historical Character", PQ 56, 1977, S. 8 2 - 1 0 3 ; S. 93 f. 110 John Dryden, Of Dramatic Poesy and Other Critical Essays, 2 Bde., hrsg. v. G. Watson, L o n d o n - N e w York 1962, repr. 1967, Bd. 1, S. 191.

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die finanzielle Bedrängnis der persönlichen Wirklichkeit. Mit Neid sieht Dryden in dieser Hinsicht auf die bounty gegenüber Dichtung und Gelehrsamkeit eines Louis XIV.: „[. ..] though he is our enemy, the stamp of a Louis, the patron of all arts, is not much inferior to the medal of an Augustus Caesar'"." Im Vergleich mit seinen Nachfolgern James II. und William III. bleibt die Regierungszeit Charles' II. dennoch für Dryden im Rückblick die größte Approximation an das Zeitalter des Augustus" 2 . Notgedrungen scheint Thomas Rymer daher nach dem Tode Charles' II. Charles Sackville, den Earl of Dorset and Middlesex, als prominentesten unter den verbliebenen adligen Gönnern anzusehen und ihn mit Augustus Caesar in Beziehung zu setzen" 3 . Doch der Vergleich verliert hier seine Exklusivität: zum einen wird er nur negativ durchgeführt, zum anderen ist aber auch Domitian gemeint. Der zu dieser Zeit regierende Monarch, William III., wird zwar vom Studenten Addison mit Caesar verglichen, offenbar jedoch von niemandem mit Augustus" 4 . Die Regierungszeit James' II. war zu kurz, als daß er sich als Patron der Literatur, Gelehrsamkeit und Künste hätte profilieren können. Das Desinteresse seiner Nachfolger an einer glanzvollen Hofhaltung und folglich auch an der literarischen Apotheose des Herrscherbildes war durch andere Interessen, aber auch durch äußere Umstände bedingt: „Metaphorically as well as literally, the Whitehall of the Merry Monarch lay in ruins, never to rise again. [. . .] What asthma was to William, gout or dropsy was to Anne. [. . .] Queen Anne therefore kept Court as little as William" 5 ." Der Augustus-Vergleich, als implizite Mahnung an den Herrscher zur Förderung der Dichter verstanden, wird bei mangelnder Analogie der äußeren Umstände, bei fehlender Eignung oder königlichem Unwillen weitgehend unangebracht. Im zunehmenden Auseinandertreten der Interessen von Herrscher und Dichtern, im Abnehmen der regierungskonsolidierenden Funktion von Literatur wird der Augustus-Vergleich anachronistisch. Sein Fehlen markiert aber auch den Beginn einer Entwicklung, die schließlich im Wechsel vom Patronatssystem zum Subskriptionswesen resultiert und die finanzielle Abhängigkeit der Literatur vom individuellen Gönner auf die Kaufkraft der breiteren Öffentlichkeit verlagert" 6 . 111

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Ebd., Bd. 2, S. 81. D i e Differenz zu Frankreich wird betont von J. H . Plumb, The Growth of Political Stability in England 1675—1725, London 1967, repr. 1977, S. 16 f. Vgl. Of Dramatic Poesy, Bd. 2, S. 217. The Critical Works of Thomas Rymer, hrsg. v. C. A. Zimansky, N e w H a v e n 1956, S. 82 und S. 234. Vgl. J. W. Johnson, „The Meaning of Augustan", S. 513. George Macaulay Trevelyan, English Social History, Bd. 3,Harmondsworth 1968, S. 80 f. Vgl. ebd., Bd. 3, S. 83 zum Versagen des Monarchen als Patron der Literatur und Künste: „Patronage was sought elsewhere, in the lobbies of Parliament, in the antechambers of ministers, in the country houses of the pleasantest aristocracy in the world — finally in an appeal to the educated public." Vgl. auch Levin Ludwig Schücking, Soziologie der literarischen Geschmacksbildung, 1923, Bern—München 3 1961, S. 22.

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Die Funktion des Augustus-Vergleichs zur Verdeutlichung sozialer Wünsche und Ansprüche der Dichter erhält vorübergehend einen neuen Impetus durch die Thronbesteigung Georges I. Zunächst als neuer Augustus gefeiert — wie vor ihm Cromwell und Charles II. —, werden die H o f f nungen auf das Haus "Hannover jedoch enttäuscht; als der König 1727 stirbt, hat sich der unvorteilhafte Vergleich mit Julius Caesar durchgesetzt" 7 . Sein Nachfolger war zwar schon Augustus getauft worden, doch diese Namensgleichheit mit dem zum Idealtyp stilisierten römischen princeps gerät ihm lediglich zum Spott. Im Parteikampf der Whigs und Tories ist Popes Epistle to Augustus das berühmteste Beispiel für Ironie und Ablehnung eines korrupten und den meisten Dichtern und Literaten unsympathischen Regierungssystems. Ein zentraler Punkt von Popes Horaz-Imitation ist die Betonung, daß sein lateinischer Ausgangstext „an Apology for the Poets, in order to render Augustus more their Patron" sei" 8 . Der ursprünglich als Kompliment positiv verstandene Augustus-Vergleich verkehrt sich so in sein Gegenteil. Bei diesem Wandel des Augustus-Vergleichs vom Kompliment zur Schelte des Herrschers, der seine Patronatsfunktion gegenüber den Dichtern vernachlässigt, bleibt die Klage über einen allgemeinen Mangel an Gönnern von vornherein konstant. In der Topik des Maecenas-Vergleichs fällt aber auch das ungebrochene dichterische Nachfolgeverständnis gegenüber der lateinischen Klassik auf. Dryden beklagt die englischen Zustände im Vorwort zu All for Love: „ [. ..] they who should be our patrons are for no such expensive ways to fame; they have much of the [sc. bad] poetry of Maecenas, but little of his liberality. They are for persecuting Horace and Virgil, in the persons of their successors (for such is every man who has any part of their soul and fire, though in a less degree)" 9 ." Doch gerade die Dramatiker erhalten neben der finanziellen Belohnung durch adlige Gönner, denen sie die gedruckte Fassung ihrer Werke widmen, und neben dem Erlös aus dem Verkauf der Druckfassungen auch noch die Theatereinnahmen der dritten und gelegentlich auch weiterer Vorstellungen 120 . In dem Maße, wie der Hof und die Aristokratie sich aus ihrer Patronatsfunktion zurückziehen, nimmt im 18. Jahrhundert die Bedeutung des großstädti-

" 7 Vgl. J. W . Johnson, „The Meaning of Augustan", S. 514. 118 The Twickenham Edition of the Poems of Alexander Pope, Bd. 4: Imitations of Horace, hrsg. v. J. Butt, S. 191. Der Hrsg. zitiert aus John Herveys Memoirs: „ N o t that there was any similitude between the two princes w h o presided in the Roman and English Augustan ages besides their names, for George Augustus neither loved learning nor encouraged men of letters, nor were there any Maecenases about him." 119 Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 228. 120 Vgl. The London Stage, Bd. 1: 1660—1700, hrsg. v. W. V a n Lennep, Carbondale/Illinois 1965, S. L X X X I : „[. . .] the practice developed of allowing the playwright the receipts (above the H o u s e Charges) on the third night, the privilege sometimes extending to the sixth and ninth performances in the initial run." Zur Konstanz dieser Einrichtung auch im 18. Jahrhundert vgl. die Einführungen der folgenden Bde. von The London Stage.

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sehen Publikumsgeschmacks für den finanziellen Erfolg der Dramatiker zu 12 '. Was Johnson 1747 zur Eröffnung des Drury Lane Theatre den Schauspieler sprechen läßt, hat zugleich Gültigkeit für das Management und die Dramatiker: „The stage but echoes back the publick voice. The drama's laws the drama's patrons give, For we that live to please, must please to live'22." Im Kontext dieses Wechsels von der höfischen Patronage zur Sammelpatronagen} eines breiteren Publikums wird der Augustus-Vergleich redundant. Diese Entwicklung kann auch auf dem Gebiet des Dramas nicht mehr aufgehalten werden durch ein allmähliches Wiederansteigen der Zahlen der Command Performances unter den Hannoveranern 124 . Diese Art der königlichen Patronage erlangt nie mehr ihre frühere Bedeutung. Die Allmählichkeit des Wandels im Patronatswesen kommt am Fall Samuel Johnsons besonders deutlich zum Ausdruck. Setzt er einerseits ein deutliches Zeichen des Endes adliger Gönnerschaft im Absagebrief an Lord Chesterfield, der sich — nach Johnsons Ansicht zu spät — um eine Widmung des Dictionary bemühte, so empfängt er andererseits durchaus eine Regierungspension. In den Bemühungen der Freunde Johnsons um diese Pension aber bezeugt der Augustus-Vergleich noch seine alte Funktion: „[. . .] may not the English, under the auspicious reign of George the Second, neglect a man, who, had he lived in the first century, would have been one of the greatest favourites of Augustusni."

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Vgl. J. Carré, „Artistes et aristocrates sous George I et George II", Etudes Anglaises 27, 1974, S. 1 3 1 - 1 4 2 , der f ü r die Zeit von 1714 bis 1760 feststellt (S. 131): „II s'agit là en effet d'étapes décisives du déclin de l'influence des grands seigneurs sur les arts et lettres." Und f ü r die Schriftsteller speziell: „A partir de 1714, l'aristocratie cessa en tout cas d'être le support financier majeur des écrivains." The Yale Edition of the Works of Samuel Johnson, Bd. 6: Poems, hrsg. v. E. L. McAdam, Jr., New H a v e n - L o n d o n 1964, S. 89, Z. 5 2 - 5 4 . Schücking, S. 22, bezieht diesen Begriff auf das Subskriptionswesen. Zum Einfluß des Publikums auf die Spielplangestaltung vgl. Leo Löwenthal, Literature, Popular Culture, and Society', Englewood Cliffs/N.J. 1961, dt. von T . Rülcker: Literatur und Gesellschaft (Soziologische Texte, Bd. 27), Neuwied—Berlin 1964, S. 112 f. Y g | j Statistik, die die Vernachlässigung dieser Praxis unter William und Mary und Anne und den Wiederbeginn unter George I. zahlenmäßig belegt, bei Louis D. Mitchell, „Command Performances during the Reign of George I", ECS 7, 1973/74, S. 343 — 349; S. 348. Obwohl George I. gegenüber Annes 6 Command Performances eine Zahl von 114 erreicht, kann er durch die Wahl der Stücke doch nicht dem Spott der Gebildeten entgehen: die einzige ausgewählte Tragödie ist Voltaires Œdipe, deren Französisch er ohne Übersetzer folgen kann: vgl. S. 346, auch S. 345: „Examination of the theatrical fare that George and his entourage enjoyed suggests, outside of his interest in Italian Opera, that the new King was a man who knew no English, and appreciated farce." Zit. nach Boswell's Life of Johnson, hrsg. v. G. B. Hill, rev. L. F. Powell, Bd. 1, Oxford 2 1964, S. 209. e

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0.2.3 Dichtung und Politik Die Verwendung des Augustus-Bildes als idealtypische Vergleichsfolie für den englischen Monarchen hindert nicht die Einsicht in durchaus vorhandene Schwächen und Fehler der historischen Augustus-Figur: „Throughout the Restoration and eighteenth century there existed a substantial and articulate voice that denied the poetic myth of the virtues of Augustus 126 ." Durch die Voraussetzung der Kenntnis solcher Nachteile kompliziert sich die klischeehafte Verwendung des Augustus-Vergleichs in der Herrscherpanegyrik von vornherein zur Möglichkeit impliziter Hofkritik. Nicht erst die offene Ironie und Schelte der Schriftsteller für George I. und George II., sondern schon die von den antiken Dichtern und Geschichtsschreibern überlieferten negativen Implikationen im Charakter des Augustus ziehen Anspielungen auf römische Verhältnisse seiner Regierungszeit von Anfang an in einen virtuellen Kontext politischer Parteienfehden. Für Francis Bacon war Julius Caesar noch gegenüber Augustus die interessantere historische Figur. Die Ermordung Caesars als Variation des in der Renaissance beliebten de casibus-Themas ist ihm Exemplum für den aus übertriebenem Ehrgeiz scheiternden Staatsmann. Augustus dagegen wird unproblematisch als großer und auf der H ö h e seiner Macht vor allem als mäßiger und gottesfürchtiger Herrscher gesehen. Die einzige Einschränkung, die Bacon macht, ist komplementär zur Frömmigkeit des Augustus seine bei Vergil schon vorgegebene begrenzte physische und geistige Stärke127. Gerade im Kontrast mit Caesar zeigt sich aber die Irrelevanz dieses Defekts. Umsicht und Klugheit, „a sedate and calm disposition", wiegen die Schwäche des Augustus nicht nur auf, sondern bestimmen ihn zum vorbildlichen Fürsten und Staatslenker: „Augustus, as a man sober and mindful of his mortal condition, seems to have had his ends likewise laid out from the first in admirable order and truly weighed 128 ." Völlig abweichend von Bacons trotz der Einschränkungen positivem und für die Tradition komplimentierender Fürstenvergleiche geeignetem Augustus-Bild ist die Darstellung, die Nathaniel Lee 1776 in Gloriana, or the Court of Augustus Caesar entwirft. Weder im französischen Vorbild dieses Dramas, in La Calprenédes Cléopátre, noch in den von Lee zusätzlich herangezogenen antiken Historiographen Plutarch und Suetonius, von denen vor allem der letztere auch die von Augustus während des Bürgerkriegs begangenen Greueltaten mit in seinen Bericht einbezieht 129 , hat Lee die

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H o w a r d D. Weinbrot, „History, Horace, and Augustus Caesar, Some Implications for Eighteenth-Century Satire," ECS 7, 1973/74, S. 391 — 414; S. 393. The Works of Francis Bacon, hrsg. v. J. Spedding, R. L. Ellis und D. D. Heath, 14 Bde., London 1857—1874, Bd. 6, S. 347: „[. . .] he was certainly in strength of mind inferior to his uncle Julius, but in beauty and health of mind superior." Ebd., Bd. 6, S. 347. Vgl. Suetonius, With an English Translation by J. C. Rolfe, 2 Bde., L o n d o n — N e w York 1914, bes. 2.11, 15 und 26: Bd. 2, S. 136, 140 und 1 5 8 - 1 6 0 .

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Grundlage für seine hier entwickelte Augustus-Figur finden können. T h o mas B. Stroup und Arthur L. Cooke, die modernen Herausgeber dieses Dramas, das Bonamy Dobree als ,Groteske von heroischer Tragödie' bezeichnet 130 , urteilen über Lee: „[.. .] he has wilfully perverted the historical character 131 ." Sie leiten den geringen Erfolg des Stückes direkt aus diesem Vorgehen ab. In seinem skrupellosen Werben um die schutzlose Waise Gloriana, deren Bruder er ermordete, schreckt Augustus entgegen dem höfischen Anstandsund Ehrenkodex nicht vor Nötigung und Erpressung zurück: „Your scorn of my age therefore cease to pursue, And think what a loving old Caesar can do" (3.2.11 f.). Im Charakterfach des schwärmerischen Alten wirkt Augustus lächerlich, durch das Einsetzen des unlauteren Mittels seiner supremen Machtposition abstoßend. Verschwörung und Aufruhr in Reich und Familie zeigen die Unfähigkeit des vor Liebe blinden Herrschers. Der Mißbrauch seiner Stellung bestätigt ihn als blutigen Tyrannen, der den T o d der schönen und tugendhaften Gloriana und des tapferen Caesario verursacht. Das mangelnde Publikumsinteresse an Gloriana läßt die Gleichsetzung von Augustus und Charles II. zu dieser Zeit als nicht unbedingt und in jedem Fall zwingend erscheinen. Parallelen mit dem damals erst 46jährigen Charles II. und seinem Hof sind zwar konstruierbar, aber nicht offensichtlich. Die konventionelle Figur des lustful tyrant, wie sie in ähnlicher Weise etwa der old Emperor in Drydens Aureng-Zebe verkörpert, lassen Augustus als einen unter vielen der semihistorischen oder fabulösen Tyrannengestalten der heroischen Tragödie erscheinen. Die Dramenkonventionen überdecken die Implikationen der Darstellung eines pervertierten Absolutismus. H o f - oder Herrscherkritik als Ausdruck einer Regierungsopposition, die in der Diffamierung des Monarchenprototyps Augustus in der Rolle des negativ überzeichneten Despoten zum Ausdruck kommt, ist dennoch gerade bei Lee nicht auszuschließen. Die Schwierigkeiten, die Lee 1680 durch die Aufführung seines Lucius Junius Brutus entstehen und die sich zwei Jahrzehnte später für Charles Gildon beim Versuch der Wiederaufführung dieses Werkes noch verschärft haben, stellen nur einen der vielen Belege für die enge Verbindung von Politik und Drama dar und spiegeln sowohl die Empfänglichkeit des Publikums wie die Empfindlichkeit der Regierung, die sich jetzt plötzlich ergeben haben und bis weit ins 18. Jahrhundert reichen: „Innuendo in Lee's early plays may or may not have been intended as criticism of Charles's personal failings, but the political audacity of his Lucius Junius Brutus is un-

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Restoration Tragedy 1660—1720, Oxford 1929, S. 114: „[. . .] it is a grotesque of heroic tragedy worth looking at, however, because it obeys laws of its own." The Works of Nathaniel Lee, hrsg. v. T . B. Stroup und A. L. Cooke, 2 Bde., New Brunswick/N.J. 1 9 5 4 - 1 9 5 5 , Bd. 1, S. 147.

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mistakable 132 ." Beim Vergleich zwischen Gloriana und Lucius Junius Brutus zeigt sich, daß sich das Interesse für politische Implikationen der Darstellung römischer Geschichte in der Zuschauerrezeption merklich verschärft hat. So schwankend Lees eigene politische Parteinahme in den späten Stükken und so groß andererseits die heutige Ungewißheit über die politischen Wirkintentionen der frühen Stücke auch sind, die negative Augustus-Figur in Gloriana steht in auffällig scharfem Gegensatz zu dem in der eulogistischen Literatur verwandten positiven Augustus-Bild dieser Zeit. Doch selbst für die zweite Auflage von Gloriana (1699) sind keinerlei Dokumente einer politischen Reaktion überliefert 133 . Ist Lees Augustus-Bild, das im Rahmen der Typologie des wollüstigen Tyrannen der heroischen Tragödie von den dramaturgischen Erfordernissen der Gattung mitbestimmt wird, in seiner forcierten Negativität im 17. Jahrhundert ein Einzelfall, so ist die Kenntnis von den Schwächen und Grenzen des römischen Herrschers doch weit verbreitet. Dryden ist zwar sein Leben lang von dem hohen Stand der Literatur zu Augustus' Zeiten überzeugt, und Charles II. bleibt auch nach der Vertreibung der Stuarts noch sein ,Augustus', doch mit zunehmendem Alter wird er kritischer gegenüber der historischen Kaiserfigur. Im Anschluß an St. Evremonds Kritik an Vergil rechtfertigt Dryden die Darstellung des Aneas als in wesentlichen Zügen schon durch die Beschreibung Homers festgelegt: „Since therefore he could make no more of him in valour, he resolved not to give him that virtue as his principal, but chose another, which was piety134." Die begrenzte Heldenhaftigkeit der Äneas-Figur und ihre hervorstechende Frömmigkeit machen sie aber nur um so geeigneter als Prototyp des Augustus. Drydens Lob Vergils für die Handhabung der Figurenzeichnung fällt hier zum Nachteil des historischen Herrschers aus: „As for personal courage, that of Augustus was not pushing; and the poet, who was not ignorant of that defect, for that reason durst not ascribe it in the supreme degree to him [i.e. Aeneas] who was to represent his Emperor 135 ." Gerade die Bewunderung für das dichterische Geschick Vergils, dort wo die richtige Synthese zwischen Wahrheit und Schmeichelei über die Existenz des Hofdichters entscheidet, hat eine klare Erkenntnis der fehlenden Tugenden der historischen Person zur Grundlage. Richtiges Taktieren in Fragen der eigenen sozialen Vorteile, aber auch die Uberzeugung 132

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John Loftis, The Politics of Drama in Augustan England, O x f o r d 1963, S. 15. Vgl. auch Richard Findlater, Banned!A Review of Theatrical Censorship in Britain, London 1967, S. 31. Eine Diskussion politischer Implikationen von Lees Dramatik findet sich auch bei Robert D . H u m e , „The Satiric Design of Nat. Lee's The Princess of Cleve" JEGP 75, 1976, S. 1 1 7 - 1 3 8 ; bes. S. 121 f. Vgl. The London Stage, Bd. 1, S. 503. Für die Ausgabe von 1734 nimmt Weinbrot die M ö g lichkeit politischer Implikationen an: „History, Horace, and Augustus Caesar", S. 396, A. 14: „[. . .] since it apparently was not performed, [it] may have been an attack upon George II." Of Dramatic Poesy, Bd. 2, S. 57. Ebd., Bd. 2, S. 58.

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vom politischen Sendungsbewußtsein des Dichters sind für Dryden — wie er an seinem Vorbild Vergil entwickelt — immer aufs engste mit dem dichterischen Anliegen und den poetologischen Aspekten von Literatur verbunden. Dichtung und Politik sind in Drydens Selbstverständnis nicht nur durch sein offizielles Amt als Hofdichter, sondern grundsätzlich eine untrennbare Einheit. Durch die Lektüre von Cassius Dio vor allem wird Dryden dann nachdrücklich auf die Grausamkeiten des Augustus im Bürgerkrieg aufmerksam156. Doch in der Widmung seiner yine/i-Übersetzung, die ihn zu noch eingehenderer Reflexion von Vergils Rolle am Hof des Augustus führt, hat sich die Meinung von der politischen Aufgabe des Dichters, den Herrscher zu exkulpieren und seinen Ruhm zu etablieren und zu vermehren, noch verfestigt. Deutlich bringt Dryden durch ein Zitat aus Ariosts Orlando furioso seine Meinung zum Ausdruck, daß Augustus durch die geschickte Wahl seines Hofdichters die Fama seiner früheren Verbrechen kaschiert habe137. Resultiert die politische Haltung des Royalisten aus der Loyalität zu seinem Monarchen trotz dessen eventueller Fehler, so sieht John Dennis schon in der aus Bürgerkrieg und Gewaltausübung hervorgegangenen Macht des Augustus Interpretationsschwierigkeiten für die Postulation einer literarischen und politischen Glanzzeit Roms. Die Widersprüchlichkeit, die für ihn in der Gleichzeitigkeit von Absolutismus und Literaturblüte liegt, versucht er durch die Hilfskonstruktion einer Theorie der Nachwirkung demokratischer Freiheit aus der vorangehenden Epoche Roms aufzulösen. „The Elevation that might spring from the Remains and the Appearances of Liberty" 138 , werden für ihn zu einem zentralen Faktor in der Erklärung der literarischen Leistungen des römisch-augusteischen Zeitalters. Erst als gegen Ende des 18. Jahrhunderts die erklärte Vorbildhaftigkeit nicht mehr in der Zeit des Augustus, sondern in einer früheren Periode der römischen Literatur gesucht wird, können auch die negativen Qualitäten des Herrschers problemlos zur Stützung einer Abwertung augusteischer Dichtung hervorgehoben werden. In dieser Hinsicht schreibt John Lempriere den Mythos von der Unübertrefflichkeit der Dichtung unter Augustus der Servilität der neueren Hofdichter zu und stellt die Größe des Herrschers endgültig in Frage: "His good qualities, and many virtues he perhaps never possessed, have been transmitted to posterity by the pen of adulation or gratitude, in the poems of Virgil, Horace, and Ovid 139 ." Das hier doku-

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Ebd., Bd. 2, S. 132 f. Ebd., Bd. 2, S. 239. The Critical Works of John Dennis, hrsg. v. E. N . H o o k e r , 2 Bde., Baltimore 1939—1943, Bd. 1, S, 247. John Lempriere, Bibliotheca Classica: or; A Classical Dictionary, London 3 1797, s. v. Augustus. In der 1. Auflage von 1788 war noch ein positives Augustus-Bild vertreten worden. Schon 1740 nennt der anonyme Autor von Plain Truth, or Downright Dunstahle H o r a z

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mentierte endgültige Ende eines augusteischen Zeitalters der englischen Literatur, in dem das klassizistische Nachfolgeverständnis der Dichter nicht nur das Ende der im römischen Vorbild so bewunderten Ubereinstimmung von dichterischen und monarchischen Interessen überstanden hatte, sondern auch die Demontage des historischen Ruhms der Herrscherfigur, wird zusätzlich gekennzeichnet durch ein entschiedenes Auseinandertreten von Dichtung und Politik. Innerhalb der hier am Augustus-Bild entwickelten politischen Relevanz von Dichtung hat die Dramenproduktion ihren festen Platz. Direkt durch königliches Privileg nach der Restauration der Stuarts gegründet, zeigen die Theater zunächst in ihren Aufführungen loyale royalistische Tendenzen140. Durch die verstärkte Politisierung der Literatur in den achtziger Jahren gelangen sie zur politischen Emanzipation und mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts geraten sie stärker in die Verwicklung der Parteikämpfe von Whigs und Tories. John Loftis hat die latente politische Dimension der Dramen sowie ihre direkten Anspielungen herausgestellt, wobei ihm etwa Dennis' Liberty Asserted (1704) als „the most calculated attempt to dramatize political ideology" erscheint (S.42). Neben den Dramentexten hat er auch die Möglichkeiten von Schauspielern und Management untersucht, um selbst zu einer Zeit strengster Kontrolle noch Taktiken extremer Politisierung der Theateraufführungen zu finden: „ [ . . . ] we may be sure that the theatres in this decade [1730-1740] resounded to political innuendo, conveyed by words and phrases interpolated in prepared dialogue, and by tone and inflexion of voice in the delivery of lines, which in print would seem innocent enough" (S.114). An ausgewählten Dramen Rowes, Dennis', Catherine Trotters und Addisons zeigt Heinz-Joachim Müllenbrock die Einbettung der Dramenproduktion in die politischen Kontexte der Whig- und Tory-Auseinandersetzungen 141 . Gegenüber diesen Nachweisen politischer Involvierung einzelner Stücke und Aufführungen hat Leo Hughes seine Untersuchungen auf die Rezeption der Dramen konzentriert und Mittel und Funktion der Parteibildung im Zuschauerraum sowie der Interventionsversuche einzelner Interessengruppen durch direktes Eingreifen ins Bühnengeschehen herausgestellt. In den achtziger Jahren des 17. und den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts sieht er die Hauptepochen gesteigerter politischer Aktivität des Theaterpublikums: „It was in the second decade that Dudley Ryder records the

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und Vergil „flattering, soothing Tools": zit. nach Weinbrot, „History, H o r a c e , and Augustus Caesar", S. 403. Ebd., S. 408 f. werden ähnliche Ansichten auch schon bei Pope nachgewiesen. Vgl. Loftis, S. 8. Heinz-Joachim Müllenbrock, Whigs kontra Tories, Studien zum Einfluß der Politik auf die englische Literatur des frühen IS. Jahrhunderts, Heidelberg 1974; vgl. bes. Kapitel II, S. 5 1 — 9 2 : „Das Drama als whiggistisches Propagandamedium."

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frequent response to anything remotely political in the plays he attended142." Die allgemeine Politisierung der Theater steht in enger Beziehung zur klassizistischen Tragödie. Die Dramatisierungen römischer Historienstoffe, die Adaptionen und formalen Imitationen der attischen Tragödie in dieser Zeit achten stets auf eine parteipolitische Implikation der Stoffe und bemühen sich um historische Parallelen von englischer Gegenwart und antiker Geschichte oder Mythologie, auch wo diese nur schwer herstellbar sind. Der expositorische Rahmen der Tragödien in Vorwort, Widmung, Pro- und Epilog, aber auch das dramentheoretische und kritische Schrifttum der Zeit weisen die enge Verbindung von Politik und Dramatik als originären Bestandteil des Selbstverständnisses der Epoche sowohl unter produktivem wie rezeptivem Aspekt aus. Auf politischem wie ästhetischem Sektor bedingen sich die Absicht des Dichters und die Empfänglichkeit seines Publikums, sei es im Konformitäts- oder Korrekturbestreben, durch Akklamation oder Protest wechselseitig.

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Leo Hughes, The Drama's Patrons, A Study of the Eighteenth-Century Austin—London 1971, S. 57.

London

Audience,

TEIL 1 SPÄTBAROCKER KLASSIZISMUS ( 1 6 7 6 - 1 6 8 0 )

Barocke Dichtung ist einer weitgehend klassizistischen Poetik verpflichtet 1 . Sie basiert auf der Anerkennung der Vorbildlichkeit antiker römischer wie griechischer Muster. Dieses Nachfolgeverständnis in Dichtung und Dichtungstheorie behindert jedoch nicht die Ausprägung eigener poetologischer Konzepte, die in Form- und Stoffwahl autonome Konventionen entwikkeln. Aus der originären Verpflichtung gegenüber einer am klassischen Beispiel orientierten dichterischen Willenserklärung resultiert — bei gleichzeitiger Verhaftung in nationalen Traditionen — eine den Kompromiß suchende Dramenpraxis, die, wo sie nicht der Kritik der Theoretiker verfällt, in ihnen ihre Apologeten für die Abweichungen von der antiken Norm findet. Die Leitfunktion antiker Vorbildlichkeit tritt besonders stark in epochalen Übergangszeiten hervor als Rückhalt und Absicherungsbestreben eines noch unsicheren Neuansatzes oder als noch nicht überlagerte Vorbildtreue reformerischer Intentionen. Richard Alewyn hat für die von Martin Opitz als Musterbeispiel konzipierte Sophokles-Ubersetzung am Beginn der Entwicklung eines deutschen barocken Trauerspiels den Begriff eines vorbarocken Klassizismus geprägt 2 . Analog läßt sich hier im folgenden die Abkehr der englischen Dramatiker gegen Ende der siebziger Jahre vom heroic play und ihre Hinwendung zu einer formal strengeren, inhaltlich der antiken Historiographie verbundenen und zunehmend stärker politisch-didaktisch ausgerichteten Tragödienvorstellung als spätbarocker Klassizismus begreifen 3 . An der Grenze zwischen zwei Epochen, nämlich Barock und Klassizismus, kommt einer hier zusätzlich postulierten Ubergangsepoche besondere heuristische Funktion zu. Bisher wurde lediglich einzelnen Dramatikern als 1

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S o verfolgt etwa Peter Szondi, Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert (Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 1), hrsg. v. G. Mattenklott, F r a n k f u r t / M . 1973, S. 45 f., eine „barock-klassizistische U m d e u t u n g des Aristoteles" von L a Mesnardiere ( 1 6 4 0 ) über Dryden ( 1 6 7 9 ) bis zu Gottsched ( 1 7 3 0 ) . Richard Alewyn, „ V o r b a r o c k e r Klassizismus und griechische T r a g ö d i e , Analyse der Anti£one-Übersetzung des Martin Opitz", Neue Heidelberger Jahrbücher, N . F. 3, 1926, S. 3 - 6 3 (gekürzte Diss. phil. Heidelberg 1 9 2 5 ) . Vgl. F r a n k J. W a r n k e , Versions of Baroque, European N e w H ä v e n — L o n d o n 1 9 7 2 , S. 2 1 6 : „In the works belled ,Neoclassical' and more recently designated terms of vision and a new style in which to express ben Lohenstein und Racine auf den späten Milton,

Literature in the Seventeenth Century, of some o f the writers traditionally laas ,Late Baroque', we encounter new those terms." W a r n k e bezieht sich neDryden und Otway.

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Verbindungsgliedern zwischen zwei Epochen Ausnahmestatus zuerkannt, wie etwa Hans Hochuli dies für John Banks tut, den er als „Übergang vom höfischen Spätbarock zum bürgerlichen Klassizismus" begreift 4 . Durch die Begriffsverschmelzung in der Wendung .spätbarocker Klassizismus' ist dagegen ein ausgedehnteres Phänomen des allmählichen Übergangs bezeichnet. Die konsequente Hinwendung zum Klassizismus, befreit man ihn von der Konnotation des Bürgerlichen, läßt sich schon an einzelnen Werken Otways und Lees, die noch weitgehend ein höfisches Ethos und einen aristokratischen Ehrenkodex propagieren, deutlich erkennen. Am dramatischen Werk Crownes kann man die Weiterentwicklung und Konsolidierung dieser Tendenzen zudem klarer beobachten als an den zur sentimental-larmoyanten Richtung neigenden Dramen John Banks' 5 . Auf jeden Fall ist auch hier die Annahme einer Zwischenphase des spätbarocken Klassizismus einer polaren Oppositionsbildung von Barock und Klassizismus, die in dieser scharfen Trennung nicht nachweisbar ist, vorzuziehen. Dryden leitet die Wendung zu einem stärker klassizistisch orientierten Dramenideal in Aureng-Zebe (1675) inhaltlich-formal wie expositorisch ein, Lee folgt ihm mit deutlichen Anzeichen in The Rival Queens (1676), und Dryden wiederum belegt mit All for Love (1677) die völlige Überwindung des heroic play6 und die Möglichkeit einer streng klassizistisch ausgerichteten Tragödienkonzeption. Gleichsam programmatisch erscheint in diesem Zusammenhang Otways Racine-Bearbeitung (1676). Auf der Bühne allerdings erweist sich dieses Werk nicht so erfolgreich wie Drydens All for Love oder die von ihm in Kollaboration mit Lee konzipierte Oedipus-Tragödie (1678), die gleich auf drei Dramentexten — Sophokles, Seneca und Corneille — als Vorlagen und Anregungen basiert. Doch Otways Verpflichtung dem neuen Konzept gegenüber zeigt sich bestätigt in seiner Adaption der Romeo and Juliet-Handlung, die er in eine auf römischer Historiographie fußende Dramenfabel integriert: The History and Fall of Caius Marius (1679). Mit seinen Racine- und ShakespeareBearbeitungen sucht er zwei entgegengesetzte Pole möglicher Dramenkonzeptionen jeweils im dazwischenliegenden Bereich zu vereinen und zu harmonisieren. Eine solche Position bleibt bei allem Bemühen um eine Regelbefolgung doch immer genauso der nationalen, an das elisabethanische 4

H a n s Hochuli, John Banks, Eine Studie zum Drama des späten 17. Jahrhunderts, Der Ubergang vom höfischen Spätbarock zum bürgerlichen Klassizismus (Schweizer Anglistische Arbeiten, Bd. 32), Bern 1952. 5 Vgl. ebd., S. 83: „Den eigentlichen Typus der Banks'schen pathetischen Tragödie möchte ich aber dort erkennen, w o , wie in Vertue Betray'd und The Innocent Usurper, in der Hauptrolle eine schwache Frau [. . .] ein unglückliches Schicksal erleidet." 6 Vgl. Sarup Singh, The Theory of Drama in the Restoration Period, Bombay—Calcutta 1963, 2 1968, S. 33: „From 1677 onwards, there is an almost systematic repudiation of the heroic play o n all sides." Singh hebt jedoch hauptsächlich die domestic und sentimental elements der von ihm so bezeichneten New Tragedy hervor: vgl. bes. S. 60. Vgl. zum Ende des heroic play auch Eric Rothstein, Restoration Tragedy, Form and the Process of Change, Madison— Milwaukee —London 1967, S. 24 — 47.

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Theater anknüpfenden Tradition verbunden und ist als Kompromißbasis zu begreifen. Gerade in dieser Spannung einer sowohl am französischen Vorbild wie auch an der Theaterwirksamkeit der eigenen nationalen Konventionen ausgerichteten Dramatik ergibt sich das facettenreiche Bild einer klassizistischen Tragödie in England. Von ihrem Entstehen aus der barocken Vorstellungswelt bis in ihre formale Erstarrung und stoffliche Auflösung zur Zeit einer nach 1750 sich neu herausbildenden romantischen Verstragödie erstrecken sich die unterschiedlichen Ausformungen und Entwicklungsstadien.

1.1 Das Bemühen um eine pragmatische Poetik Die dramentheoretische Neubesinnung, die bei Dryden während der Arbeit an All for Love in der Auseinandersetzung mit Rymers The Tragedies of the Last Age (August 1677) einsetzt und die im Vorspann zu Drydens Troilus and Cressida-Version (1679) greifbar wird, soll hier in den wesentlichen Punkten ihres Argumentationszusammenhangs den Dramenanalysen vorangestellt werden. Dem konsequent und rigoros vertretenen Rationalismus Rymers setzt Dryden ein an der Praxis orientiertes, die Publikumsreaktionen mitreflektierendes Tragödienkonzept entgegen, das zudem der aristotelischen Affektenlehre nähersteht. 1.1.1 Rymers rigoroser Rationalismus Rymers Rapin-Ubersetzung von 1674 brachte zum ersten Mal die französische Literaturtheorie einem breiten, nicht der Fremdsprache mächtigen Publikum näher 7 . Sie stellt zugleich für eben dieses Publikum auch die Möglichkeit dar, die aristotelische Poetik in ausführlicher Diskussion und Kommentierung sowie in ihrer französischen Rezeption kennenzulernen 8 . Mit seiner anschließenden Abhandlung The Tragedies of the Last Age Consider'd and Examin 'd by the Practice of the Ancients, and by the Common Sense ofAll Ages sucht Rymer sich als rationaler Kritiker durch die Verurteilung dreier Dramen aus dem damaligen Beaumont-und-Fletcher-Kanon, dessen Popularität auf der Restaurationsbühne größer war als die Shakespeares oder Jonsons 9 , zu profilieren. Während das Vorwort zur Rapin-Ubersetzung der englischen Dramatik noch positiv gegenüberstand, deckt Rymer jetzt die Fehler Beaumonts und Fletchers, die mangelnde Logik der Handlungsführung, die Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten in der Figurenzeichnung sowie die Unangemessenheit der Sprache schonungslos auf, um nachfolgende Dramatiker vor falschen Vorbildern zu bewahren 10 . Weil Rymer von einer postulierten

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Vgl. Curt A. Zimansky, „Introduction" zu The Critical Works of Thomas Rymer, hrsg. v. C. A. Zimansky, N e w Haven 1956, S. XIII. Vgl. Elder Olson, „Introduction" zu Aristotle's „Poetics" and English Literature, A Collection of Critical Essays, hrsg. v. E. Olson, C h i c a g o — L o n d o n 1965, S. X X : „The first noteworthy translation into English was that of H e n r y James Pye, in 1788." 1705 erschien jedoch bereits eine englische Ubersetzung mit Daciers Kommentar, und seit 1623 lag Goulstons lateinische Ubersetzung vor. Eine griechisch-lateinische Ausgabe erschien 1696 in Cambridge mit Goulstons Text und Anmerkungen von F. Sylberg und D . Heinsius. Vgl. Arthur C. Sprague, Beaumont and Fletcher on the Restoration Stage, Cambridge/Mass. 1926, repr. 1954, 1965, S. 25 u. ö. Vgl. Robert D . H u m e , Dryden's Criticism, Ithaca—London 1970, S. 106: „Rymer's basic position is that English tragedy has developed improperly and needs correction."

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strengen Logik und Rationalität ausgeht — schon der Titel weist mit der common ienie-Apostrophe auf den Anspruch allgemeiner Verbindlichkeit hin —, wird seine Abhandlung für die nachfolgende Dramentheorie zum unübersehbaren Dokument. Dryden etwa wird als einer der ersten zum Neubedenken seiner poetologischen und dramentechnischen Ansichten geführt. Auch das heroische Drama enthielt klassizistische Elemente und war in mancher Hinsicht am französischen Theater orientiert. Die deklarierte Anknüpfung an Aristoteles ist genau wie bei Rymer auch schon vorher in Drydens Essay of Dramatic Poesy zu finden. Doch die rationale Klarheit und logische Konsistenz der Fabel und aller ihrer Glieder wird jetzt mit weit größerem Nachdruck von Rymer gefordert. Die auf dieser Basis erhobenen Vorwürfe gegen Beaumont und Fletcher und damit grundsätzlich gegen alle Dramatik, die unkritisch an die VorCommonwealth-Zeit anknüpft, sind zu Rymers Zeit schwer widerlegbar. Schon vorher hatte Rymer seine Ansicht vom logischen Charakter einer normativen Regelstrenge zur extremen Position des Vergleichs mit mathematischer Präzision getrieben und dadurch die Dichter, die sich zur Gültigkeit der antiken Poetik bekannten, in Schwierigkeiten gebracht: „Nor would the modern Poets blindly resign to this practice of the Ancients, were not the Reasons convincing and clear as any demonstration in Mathematicks"." Obwohl Rymers Bezug auf die Mathematik sich hier nicht als Vergleich mit den klassizistischen Regeln darstellt, sondern sich auf die Begründung von deren Befolgung bezieht, war dieser Vergleich durchaus üblich, wie u. a. Robert Howards Widerspruch belegt 12 . Bekennt man sich zum Klassizismus, zur Richtigkeit und Schönheit der in der attischen Tragödie präsentierten Dramenkonstruktion und zur verpflichtenden Norm der aus ihr deduzierten und — wie Rymer nachweist — jederzeit wieder neu ableitbaren Regeln, so sind Beaumont und Fletcher als Vertreter primitiver und .unkorrekter' dramatischer Effekte abzulehnen. Nicht in Opposition zu der von Dryden und später auch von Dennis vertretenen Klima- oder Umwelttheorie, die die Lehre von den differierenden Nationalmentalitäten impliziert 13 , wohl aber vor diese apriorisch zurückgreifend verficht Rymer die Auffassung von der durchgängigen Konstanz und Universalität der menschlichen Affekte, auf die sich seine wirkungsästhetischen Überlegungen gründen: „Certain it is, that Nature is the same, " Rymer, „Preface" zur Rapin-Übersetzung in: Rymer, Critical Works, S. 3. Vgl. dort auch Zimansky, ebd. S. 195: „Rymer's real position, that the dramatic practice of the Elizabethans could not be reconciled to the current theory of literature, proved difficult to combat." 12 „Preface" zu The Great Favourite, or: The Duke of Lerma, London 1668. Vgl. auch H o y t Trowbridge, „The Place of Rules in Dryden's Criticism", MP 44, 1946, S. 8 4 - 9 6 ; S. 86. 13 Vgl. Zimansky, S. X X I . Vgl. auch Waldemar Zacharasiewicz, Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik von der Mitte des 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert (Wiener Beiträge zur englischen Philologie, Bd. 77), Wien 1977, S. 4 4 6 — 4 5 8 ; bes. S. 452 f. und S. 458.

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and Man is the same, he loves, grieves, hates, envies, has the same affections and passions in both places [i. e. Athens and London], and the same springs that give them motion. What mov'd pity there, will here also produce the same effect 14 ." Einbildungskraft und Vernunft wirken zusammen im dichterischen Schaffensprozeß, doch die Vernunft als das organisierende und ordnende Prinzip ist vordringlich für Anlage und Aufbau des Werkes verantwortlich. Daher sind auch diese den Stoff und das Geschehen strukturierenden Größen der rationalen Analyse am ehesten zugänglich: „ [ . . . ] in the contrivance and ceconomy of a Play, reason is always principally to be consulted" (S. 20). Unter diesem Gesichtspunkt wird das aristotelische Primat der Handlung von einer rationalen Dichtungstheorie gestützt. Die nach den Regeln der Vernunft eingeschränkte Entfaltung von plot und argument stellt erhöhte Ansprüche an Talent und Erfindungsgabe der Dichter, um einer Einförmigkeit ihrer Handlungskonstruktionen zu entgehen. Da die Anzahl menschlicher Tugenden und Laster — wenn sie nicht in den Bereich des Phantastischen führen sollen, sondern als typisch und allgemein verstanden werden — begrenzt ist, kann sie nur durch Situationen, in denen diese Tugenden und Laster gezeigt werden, durch deren Kombination und graduelle Abschattierung variiert und multipliziert werden, so daß auch den vernünftigen' Dichtern noch reiches Material bleibt15. Die didaktisch-moralische Funktion der Tragödie wird aus ihrem griechischen Ursprung entwickelt. Dieser funktionale Aspekt der Dramenwirkung, ohne den der erzieherische und bildende Anspruch des Theaters als sozialer Institution nicht aufrechterhalten werden kann, führt zu der produktionsästhetischen Forderung der poetic justice als Prinzip der Handlungsterminierung. Ohne gerechte Verteilung von Lohn und Strafe am Ende des Bühnengeschehens entsteht für den Zuschauer sowohl Verwirrung in bezug auf das ihm empfohlene moralische Verhalten als auch Verunsicherung hinsichtlich seiner Überzeugung von der göttlichen Allmacht und Ordnungskraft: „ [ . . . ] a Poet must of necessity see justice exactly administred, if he intended to please" (S. 22). Dieses nicht nur jurisdiktionelle, sondern auch auf Exekution beharrende Prinzip, das Rymer schon im griechischen Drama nachzuweisen bemüht ist16, beschränkt sich nicht auf die Forderung nach positiver Darstellung der guten Kräfte und Figuren und negativer Darstellung der verwerflichen Figuren, wie die von Dryden gelegentlich bezogene Position der po14 15

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Zimansky, S. 19. Alle weiteren Rymer-Zitate folgen dieser Ausgabe. Vgl. ebd., S. 20: „And has not a Poet more vertues and vices within his circle, cannot he observe them and their influences in their several situations, in their oppositions and conjunctions, in their altitudes and depressions." Vgl. Clarence C. Green, The Neo-Classic Theory of Tragedy in England during the Eighteenth Century, 1934, repr. N e w York 1966, S. 27: „The neo-classicist, though he may have thought that he. had the support of Aristotle for his doctrine of poetic justice, really deduced it, logically enough, from his belief in the ethical function of poetry."

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etic /Kiftce-Interpretation es darstellt 17 . Vielmehr wird die tatsächliche und eindeutige Belohnung und Bestrafung der Figuren innerhalb des fiktiven Dramengeschehens verlangt' 8 . Dadurch wird jedoch, wie sich am praktischen Beispiel von Rymers einzigem Drama beobachten läßt, der Aspekt des Tragischen grundsätzlich in Frage gestellt19. Dichtung hat nach Rymer bestätigende und stabilisierende, nicht jedoch kritische Funktion. Die ethische Erziehung des Zuschauers soll nur einsetzen hinsichtlich einer Reform, die im Einklang mit dem akzeptierten Moralkodex steht. Die pädagogische Wirkintention zielt auf Anpassung im Sinne einer Bestätigung der allgemein verpflichtenden und als überzeitlich gültig begriffenen Werte 20 . Dichtung hat die Aufgabe der Ermahnung zu dem als rechtmäßig erkannten Verhalten. Entsprechend dieser didaktischen Grundintention muß die ,Moral' deutlich hervorgehoben werden, und es darf kein Zweifel über die Stellungnahme des Dichters entstehen. Über Furcht und Mitleid hinausgehend soll das Gefühl von Ordnung und Sicherheit vermittelt werden in der Gewißheit einer letzten richterlichen Instanz für alles menschliche Tun 21 . Das Bühnengeschehen muß daher im dargestellten Ausschnitt zugleich die Totalität des Weltbildes und des Wirklichkeitsverständnisses sichtbar machen. Das auf der Bühne vorgeführte Geschehen wird somit als Idealbild verstanden. In seinem Lob der Griechen macht Rymer klar, daß eine ,gute' Naturimitation keine genaue, sondern eine selektiv-verbessernde und idealisierende Nachahmung bedeutet: „They knew indeed, that many things naturally unpleasant to the World in themselves, yet gave delight when well imitated12." Bei einer solchen Propagation der umformenden Geschichtsbearbeitung wird nicht die historische Wahrheit, sondern die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft einer den Fakten durchaus widersprechenden Wahr17

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Vgl. John Dryden, Of Dramatic Poesy and Other Critical Essays, 2 Bde., hrsg. v. G. Watson, L o n d o n — N e w York 1962, repr. 1967, Bd. 1, S. 213: „[. . . ] not only pity and terror are to be moved [. . .], but generally love to virtue and hatred to vice; by shewing the rewards of one, and punishments of the other; at least by rendering virtue always amiable, though it be shown unfortunate; and vice detestablè, tho' it be shown triumphant." H u m e , Dryden's Criticism, S. I l l , übersieht die in diesem Zitat Drydens deutliche Absetzung von Rymer, die H u m e auch S. 105 u. ö. zu minimieren bestrebt ist. Vgl. eine andere Deutung dieses Zitats bei Max Nänni, John Drydens rhetorische Poetik, Versuch eines Aufhaus aus seinem kritischen Schaffen, Bern 1959, S. 62. Vgl. auch Rothstein, S. 15. Vgl. John D . Ebbs, The Principle of Poetic Justice Illustrated in Restoration Tragedy (Salzburg Studies in English Literature, Poetic Drama, Bd. 4), Salzburg 1973. Durch mangelnde Präzision der Erörterung bedeutet Ebbs' Untersuchung gegenüber Zimanskys Erläuterungen in seiner Rymer-Ausgabe (S. 201 f. u. ö.) keinen Fortschritt. Edgar, or The English Monarch, An Heroick Tragedy, London 1678. René Wellek, The Rise of English Literary History, 1941, repr. N e w York 1966, S. 28, scheint Rymers wirkungsästhetischen Ansatz zu leugnen. Vgl. Rymer, Critical Works, S. 75, zur Erweiterung der aristotelischen Katharsis um den Aspekt der ermahnenden Funktion der Tragödie. Die von Rothstein, S. 3 —18, vorgenommene scharfe T e n n u n g von ,affektiven' und ,fabulistischen' Dichtungstheorien und Rymers Zurechnung zu den Vertretern der letzteren ist problematisch. Rymer, Critical Works, S. 23. Der Bezug geht direkt auf Aristoteles.

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scheinlichkeit des Geschehens zum Maßstab des Kritikers: „History was to describe the truth, but Tragedy was to invent things better then the truth" (S. 31 f.). Die Forderung nach dem historischen Kostüm und der historiographischen Quelle für die dramatische Fabel wird unter Berufung auf Aristoteles jedoch aufrechterhalten. Die Notwendigkeit der Idealisierung gegenüber der Geschichte wird durch den Hinweis auf den horazischen Malereivergleich abgesichert: „Like good Painters they must design their Images like the Life, but yet better and more beautiful then the Life" (S. 32). Das Verdikt gegen die Handlungsentwicklung von Beaumonts und Fletchers A King and No King ist folglich mangelnde Idealisierung und Stilisierung der Geschichte und der weitgehende Verzicht auf den korrigierenden Eingriff bei der Realitätsimitation: „In this Fable appears some proportion, shape, and (at the first sight) an outside fair enough, yet at the bottom we hardly find what is more choice, or more exquisite and more perfect than History" (S. 41). Ohne die konzentrierende Umformung durch den Dramatiker offenbart die geschichtliche Wirklichkeit nicht von sich aus schon die moralische Lektion, die der Zuschauer erhalten soll. 1.1.2 Der Angriff auf Beaumont und Fletcher Viele der kritischen Grundsätze Rymers werden von seinen Zeitgenossen geteilt, auch wenn die daraus für die Verurteilung Beaumonts und Fletchers gezogenen Folgerungen in ihrer Strenge nicht gerne mitvollzogen werden. Die verurteilten Stücke bleiben noch lange, nachdem Rymers Abhandlung erschienen ist, im Repertoire der Theater. Bewunderung für die Konsequenz in der Anwendung rationaler Maßstäbe und zugleich Besorgnis für die Beurteilung des eigenen Werks, die durch das Eintreten für diese Maßstäbe folgerichtig in mancher Hinsicht negativ ausfallen müßte, sprechen aus Drydens Mitteilung über die Lektüre von Rymers Abhandlung in einem Brief, der wahrscheinlich an den Earl of Dorset gerichtet ist: „If I am not altogether of his opinion, I am so in most of what he says: and think myself happy that he has not fallen upon me as severely and as wittily as he has upon Shakespeare and Fletcher 23 ." Obwohl Rymers Schrift Dryden nirgends direkt angreift, findet sich doch in ihr eine Verurteilung vieler von Dryden früher geäußerter Ansichten. Um Rymers Kritik und Theorie in die richtige Perspektive zu rücken, muß auf Drydens Essay of Dramatic Poesy von 1668 zurückgegangen werden. Hier führt Lisideius als Begründung seiner Bevorzugung des französischen gegenüber dem englischen Theater die stärkere Beachtung der aristotelischen Poetik in Frankreich an. Die drei Einheiten werden streng befolgt, während in England Stücke mit under-plots und die Mischgattung der tragi-comedy vorherrschen. Das französische Drama richtet sich, so argumentiert Lisideius, sowohl nach der aristotelischen Affektenlehre als auch 23

Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 209.

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nach der horazischen Forderung historischer Stoffe und hat in diesem zweiten Punkt sogar die antike Tragödie noch übertroffen (S. 44—46). Außerdem zeichnet sich das französische Drama durch Sparsamkeit der Handlung aus, während das englische durch Uberfülle und Unordnung der Handlungsentwicklung gekennzeichnet ist (S. 48). Als ,Ärmlichkeit' der Handlung ist dieser letzte Zug des französischen Dramas oft als Vorwurf und Mangel herausgestellt worden. Thomas Sprat schrieb schon 1665: „The French for the most part take only O n e or T w o Great Men, and chiefly insist on some one Remarkable Accident of their Story 24 ." Dryden greift diesen Gesichtspunkt in abgewandelter Form später als narrowness

of plot u n d fewness

of persons w i e d e r auf u n d v e r w e n d e t ihn

als mögliche Erwiderung auf Rymers Bevorzugung der griechischen Tragödie (S. 212). Doch auch Lisideius weist diesen Vorwurf schon zurück und verteidigt das französische Theater mit dem Argument, daß wie in der Antike, so auch in den besten englischen Dramen eine Einzelfigur im Mittelpunkt der Handlung stehe, während alle anderen Figuren ihr zu- oder untergeordnet sind. Neander nimmt in Drydens Essay die Gegenposition zu Lisideius ein und vertritt die Auffassung von den überragenden Qualitäten des englischen Dramas. Die Argumentation 25 verläuft so, daß er unmittelbar an Lisideius' Version der Handlungseinheit anknüpft und ihm scheinbar zustimmt: „ [ . . . ] the unity of action is sufficiently preserved if all the imperfect actions of the play are conducing to the main design" (S. 59). Hier findet eine Ausweitung des Begriffs der Handlungseinheit auf den der Einheitlichkeit der Handlungsteile und ihrer Hinordnung auf ein Zentralgeschehen statt. Die Sparsamkeit der Handlung kann so — ohne eindeutig erkennbaren Widerspruch zur aristotelischen Lehre — auf eine Vielfalt der Motive und Handlungsstränge ausgeweitet werden, solange sich diese e i n e m Grundplan einfügen lassen. Doch Neander geht noch weiter. Wie die Handlungserweiterung propagiert er auch eine Erweiterung der Figurenzahl: „But this hinders not that there may be more shining characters in the play: many persons of a second magnitude" (S. 59). Durch diese subtile Argumentation und sukzessive Ausweitung des ursprünglichen Ansatzes gelingt es Neander schließlich, für die englische Dramatik eine pseudoaristotelische Regelhaftigkeit nachzuweisen und die Behauptung aufzustellen, daß die von Lisideius bewunderte französische Tragödie auf ihrer eigenen poetologischen Basis durch das englische Theater übertroffen werde.

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Thomas Sprat, Observations on Möns, de Sorbiere's Voyage into England, London 1708, zit. nach einem Ausschnitt in The Restoration Stage, hrsg. v. J. I. McCollum, Jr., Westport/ Conn. 1961, repr. 1973, 1976, S. 2 1 0 - 2 1 2 ; S. 211. Dasselbe Zitat findet sich bei G. Watson in: Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 49, A. 4, nach der ersten Ausgabe von 1665 zitiert. Zur argumentativen Verzahnung von Lisideius' und Neanders Ansichten vgl. Edward Pechter, Dryden's Classical Theory of Literature, Cambridge 1975, S. 49—51.

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Eine großzügige Auslegung der Begriffe erlaubt die Subsumtion einer beachtlichen Anzahl englischer Stücke unter den Titel eines Regelmäßigen' Theaters: „And that all this is practicable, I can produce for examples many of our English plays: as The Maid's Tragedy, The Alchemist, The Silent Woman" (S. 61). An Werken Jonsons sowie Beaumonts und Fletchers will Neander demonstrieren, daß die englische Dramatik genauso, wenn nicht sogar in korrekterer Entsprechung zum Vorbild der Antike, vor allem aber mit größerem Theatererfolg, einer klassizistischen Regelstrenge entspricht. W o die englische Dramatik ganz offensichtlich den Anforderungen nicht genügt, weiß Neander die Ausnahmen und die Lockerung der Vorschriften als Vorzug gegenüber einer zu sklavisch-engen Befolgung des Regelkanons durch die Franzosen darzustellen. Die abschließende Zusammenfassung zielt auf Emanzipation von der Behauptung eines französischen Einflusses. Zugleich postuliert Neander aber auch neben der Eigenständigkeit des englischen Dramas nochmals die Konformität eines Teils dieser Dramatik mit den klassizistischen Maßstäben der normativ verstandenen Aristoteles-Poetik: „I dare boldly affirm [ . . . ] that we have many plays of ours as regular as any of theirs, and which, besides, have more variety of plot and characters" (S. 66). Diese ,kühne' Behauptung Neanders kann nach dem Erscheinen von Rymers Abhandlung nicht mehr aufrechterhalten werden. Neander hatte eine große Zahl englischer Dramen als regelmäßig' deklariert. Lisideius dagegen, der für die Vorzüge französischer Dramatik argumentierte, hatte in England nur ein einziges gelten lassen: das damals unter Fletchers und Beaumonts Namen bekannte 26 Rollo, or The Bloody Brother: „ [ . . . ] there indeed the plot is neither large nor intricate, but just enough to fill the minds of the audience, not to cloy them. Besides, you see it founded upon the truth of history" (S. 48). Verglichen mit den Behauptungen Neanders erscheinen die Zugeständnisse Lisideius' hier als zu vernachlässigende Randgrößen: „ [ . . . ] only the time of the action is not reduceable to the strictness of the rules; and you see in some places a little farce mingled, which is below the dignity of the other parts." Die letzte der beiden Einschränkungen wird für Rymer zum coup de grace seiner vernichtenden Kritik gerade über dieses Stück. Das Drama, das in Drydens Essay noch die am besten gesicherte Stellung innerhalb des Kanons einer postulierten klassizistischen englischen Tragödie einnimmt, wird in Rymers Ausführungen als erstes schonungslos zerpflückt. Dabei geht es Rymer allerdings nicht mehr um einen Wettstreit zwischen englischem und französischem Theater. Der Bezugspunkt wird vielmehr jeweils direkt in der antiken Tragödie gesucht. Der Aspekt, unter dem geurteilt wird, ist der einer rationalen Poetik mit universalem Anspruch — obwohl gerade dieser An26

Dieses Werk wird heute als Gemeinschaftsarbeit von Fletcher, Chapman, Jonson und Massinger angesehen: vgl. John D. Jump, „Introduction" zu Rollo, Duke of Normandy, or the Bloody Brother, hrsg. v. J. D. Jump, Liverpool 1969, S. X X V - X X I X .

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spruch, wie J. E. Spingarn bemerkt, mit fast identischem Wortlaut auch von Racine im V o r w o r t zu Iphigénie (1675) vertreten wird 27 . O b w o h l Rymer die französische Dramentheorie weitgehend von der Diskussion in seiner Abhandlung ausspart 28 und auch keine französischen D r a m e n zum Vergleich heranzieht, ist doch seine Kenntnis der dort erörterten Probleme durchgehend offensichtlich. Wie in Frankreich durch Rapin sowie — vornehmlich f ü r das Epos — durch Le Bossu und Boileau, vor allem aber durch das praktische Beispiel von Racines D r a m e n eine Bewegung einsetzt, die auf größere formale Exaktheit bedacht ist, so wird es durch Rymer auch in England unmöglich, die klassizistischen .Regeln' zu frei auszulegen. In Rollo kritisiert Rymer unzureichend motiviertes und zu abruptes H a n d e l n der Figuren (S. 28), Mißachtung des sozialen Status der Charaktere und Verstöße gegen die W ü r d e der ,hohen' Tragödie (S. 29) 29 . An der Sprache tadelt er Überladenheit und Leerlauf. Die strenge Funktionalität der Teile, so notwendig f ü r die kohärente V e r z a h n u n g des Geschehens zum geschlossenen und zielgerichteten Handlungsablauf, wird an der Figurenzeichnung und am Aufbau gleichermaßen vermißt 30 . Nicht nur bietet das W e r k keine Verbesserung oder Idealisierung der historiographischen Quelle, sondern stellt im Gegenteil ihre Verschlechterung dar: „In this the History is the better T r a g e d y " (S. 34). Unwahrscheinlichkeiten, die als partikularer Zufall der Geschichte möglich sind, sollten nicht in ihrem Ausnahmecharakter verstärkt, sondern umgekehrt durch den Dichter im dramatischen Zusammenhang als wahrscheinliche Ereignisse dargestellt werden. 1.1.3 Drydens Auseinandersetzung mit Rymer Wie Rollo und A King and No King verfällt auch The Maid's Tragedy — in Drydens Essay von N e a n d e r noch unter die regelmäßigen Stücke gezählt — als letztes Beispiel der drei von Rymer analysierten D r a m e n der Kritik der Inkonsequenz, Unwahrscheinlichkeit und Übertreibung, vor allem aber 27

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Critical Essays of the Seventeenth Century, hrsg. v. J. E. Spingarn, 3 Bde., Oxford 1908, repr. 1957, Bd. 2, S. 345; auch zit. in: Rymer, Critical Works, S. 199: „J'ai reconnu avec plaisir, par l'effet qu'a produit sur notre théâtre tout ce que j'ai imité ou d'Homère ou d'Euripide, que le bon sens et la raison étoient les mêmes dans tous les siècles. Le goût de Paris s'est trouvé conforme à celui d'Athènes. Mes spectateurs ont été émus des mêmes choses qui ont mis autrefois en larmes le plus savant peuple de la Grèce." Die entsprechende Passage bei Rymer wurde oben in Abschnitt 1.1.1 zitiert. Rapin wird nur ein einziges Mal, S. 21, erwähnt. Vgl. besonders Rymers Gegenüberstellung der Königsfiguren in der attischen und der englischen Tragödie: „[.. .] they appear all Heroes, and ours but Dogs, in comparison of them." Vgl. die aus der antiken Rhetorik hergeleitete Bedeutung des Dekorums auch in dieser Hinsicht bei Nänni, S. 79: „[. . .] alle Strukturteile eines mimetischen Dichtwerkes müssen dem Dekorum der Idealnatur genügen."

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auch der dysfunktionalen und daher störenden komischen Einschübe. Den größten Anstoß nimmt Rymer jedoch an dem unangebrachten Verhalten der Figuren Amintor und Melantius in der Enthüllungsszene des dritten Akts (3.2). Durch mehrmaligen Entschlußwechsel wird der wiederholt angekündigte Zweikampf jedesmal verschoben, so daß — nach Rymer — der Eindruck der Unentschlossenheit der Antagonisten entsteht. Auch das substituierte Rededuell täuscht darüber nicht hinweg. Solches Verhalten ist der Komödie angemessen, nicht aber der ernsten Tragödie, die keine Feiglinge oder Prahler als Helden duldet. Nach Aristoteles muß Gesinnungswechsel stichhaltig begründet werden und darf nicht durch spontane Entschlüsse eintreten. Paradigmatisch für den wohlfundierten Gesinnungswechsel erscheint Rymer Euripides' Iphigenie, die als Priesterin in Tauris Abstand nimmt von der beabsichtigten Opferung des Fremdlings, weil sie ihn als ihren Bruder erkennt (S. 73). Als weiteres Beispiel für jetzt zweifachen Gesinnungswechsel, „turn and counterturn", weist Rymer auf Agamemnons Verhalten bei der Opferung seiner Tochter hin: „Here all the motions arise from occasions great and just; and this is matter for a Scene truly passionate and Tragical" (S. 74). Der offensichtlich berechtigten Kritik an Beaumont und Fletcher, wie sie durch den Vergleich mit Euripides deutlich wird, kann innerhalb des klassizistischen Ansatzes nicht widersprochen werden. Auch wenn es den Schauspielern gelingen sollte, aus der Darstellung des verhinderten Duells noch das Beste herauszuholen und die Szene effektvoll und publikumswirksam zu gestalten, was — wie Rymer zugibt — durchaus möglich ist, behalten seine Einwände der fehlenden Gewichtigkeit und Stringenz des Begründungszusammenhangs doch ihre Gültigkeit. Rymers Verurteilung scheint bis heute noch nachzuwirken, wenn selbst moderne Herausgeber trotz aller Bewunderung für Beaumont und Fletcher den tragödientheoretischen Sonderstatus des Stücks hervorheben und fast apologetisch eingestehen: „It is not a tragedy in the usual sense; it has no single great figure brought low by Fortune's wheel or Aristotle's peripeteia 31 ." Die Legitimität eines als normativ angesehenen gewöhnlichen Sinnes' wird dann jedoch nicht mehr reflektiert. Die Wirkung Rymers auf seine Zeitgenossen läßt sich an Drydens Reaktion ablesen. Für seine Troilus and Crewi^-Bearbeitung von 1679 führt dieser nicht mehr Beaumont und Fletcher als Muster und Vorlage seiner neueingeführten Streitszene zwischen Troilus und Hector (3.3) an, sondern beruft sich statt dessen lieber auf die von Rymer empfohlene Euripides-Szene. Gleichzeitig sichert sich Dryden bei der Wahl seines Vorbildes ab, indem er auch auf ein mögliches Vorbild seiner Szene bei Shakespeare

31

Andrew Gurr, „Introduction" zu: Francis Beaumont and John Fletcher, The Maid's Tragedy, hrsg. v. A. Gurr (The Fountainwell Drama Series), Edinburgh 1969, S. 4.

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in Julius Caesar hinweist32. Zu Beaumont und Fletcher mag sich Dryden hier nicht mehr bekennen. Die Erklärung ihrer Vorbildlichkeit, im Essay noch von Lisideius wie Neander vertreten, ist für einen sich auf die Grundsätze der Vernunft und Logik stellenden Dramatiker wie Kritiker nach Rymers Abhandlung nicht mehr ohne weiteres plausibel. Die Szene der Auseinandersetzung zweier Freunde in The Maid's Tragedy wird daher von Dryden jetzt als „the faulty copy of Shakespeare's scene" angesehen. Gleichzeitig entzieht sich Dryden jedoch einer einseitigen Antikenverehrung, wenn er letztlich nicht Euripides', sondern Shakespeares Gestaltung dieser Szene zur bestmöglichen erklärt. Seine Begründung dieser Wertung erfolgt jedoch dadurch, daß er vom eher dramentechnischen Aspekt der überzeugenden Motivierung der Dramenfiguren für einen doppelten Gesinnungsumschwung weglenkt und Shakespeares Einführung übergeordneter nationalethischer Gesichtspunkte in das Streitgespräch hervorhebt (S. 214). Gerade aus dem begrenzten Fall der Beurteilung einer dramatischen Einzelszene läßt sich Drydens Bemühen um eine zwischen den Gegensätzen vermittelnde Stellung gut beobachten. Er hält Shakespeares Szenenaufbau für „incomparably the best", wählt aber Euripides' Handhabung dieser Szene für seine Imitation aus. Rymer verurteilt später in polemischerer Form als Beaumont und Fletcher auch Shakespeares Othello und im Julius Caesar gerade wiederum die von Dryden gelobte Szene (S. 168 f.). Diese rigorose Shakespeare-Kritik, die aus der Ubersteigerung seines rationalen Ansatzes folgt, führt schließlich zur Diskreditierung der rationalen Ästhetik, als deren radikalster Exponent Rymer gilt, überhaupt. In den siebziger Jahren ist Rymers Ansehen jedoch noch weitgehend unbestritten. Wie Dryden im Vorwort zu Troilus und Cressida versucht, nicht in Widerspruch zu Rymer zu geraten, und doch einen Ausweg aus zu genauer Regelhaftigkeit zu finden, indem er Shakespeare und Euripides gleicherweise bewundert, so zielt er auch schon im „Preface" zu All for Love auf die Vermittlung der Gegensätze. Der Anspruch der Shakespeare-Imitation wird zugleich mit der Verehrung der Antike aufrechterhalten. Die dadurch entstehende Problematik sucht Dryden aufzulösen, indem er sich für eine der historischen Situation der englischen Tragödie am ehesten angemessene Kompromißbereitschaft einsetzt: „I have endeavoured in this play to follow the practice of the Ancients, who, as Mr. Rymer has judiciously observed, are and ought to be our masters [ • • • ] . Yet, though their models are regular, they are too little for English tragedy, which requires to be built in a larger compass" (S. 230 f.). Diese Absichtserklärung hat programmatischen Charakter. Sie läßt sich in ihrer Umsetzung in die dramatische 32

Zur Abhängigkeit der Beaumont-und-Fletcher-Szene von Shakespeare schreibt Howard B. Norland, „Introduction" zu: Beaumont and Fletcher, The Maid's Tragedy, hrsg. v. H. B. Norland (Regents Renaissance Drama Series), London 1968, S. X I V , A. 14: „This is a common suggestion, but the similarity is superficial at best." Vgl. Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 241.

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Praxis an Drydens nächster Tragödie, dem zusammen mit Lee verfaßten Oedipus beobachten, wenn das Sophokles-Werk für die englische Bühne adaptiert wird. Die unmittelbare Reaktion auf Rymers Tragedies of the Last Age sind Drydens auf die freien Seiten seines Exemplars dieser Abhandlung notierten Gesichtspunkte für eine Entgegnung, die Heads of an Answer to Rymer. Ebenfalls von Aristoteles ausgehend, will er die Fabel als Fundament der Tragödie zwar gelten lassen, fordert jedoch eine stärkere Beachtung der Charaktere, Sitten, Gedanken und der Sprache bei der Beurteilung englischer Dramen. Die Möglichkeit einer abweichend von der griechischen konstituierten Tragödienform ist immerhin denkbar. Unter dieser Voraussetzung ist die aristotelische Poetik selber einer Uberprüfung hinsichtlich des ihr zugesprochenen universalen Gültigkeitsbereichs zu unterziehen 33 . Die von Rymer angeführte common sense-Argumentation ist, wie Dryden meint, an vielen Stellen leicht gegen ihn verwendbar (S. 214). Die Erfahrung zeigt, daß auch das unregelmäßige Drama erfolgreich war, weil es dem Zeitgeschmack entgegenkam; denn obwohl Natur und Vernunft universal und überzeitlich sind, ist doch die jeweilige Ausprägung des Publikums und seiner Ansprüche an das Theater unterschiedlich und zeitspezifisch: » [ . . . ] what pleased the Greeks would not satisfy an English audience" (S. 214). Eine solche publikumsorientierte Argumentation würde Shakespeare sowie Beaumont und Fletcher rehabilitieren, deren ,Fehler' nicht unbedingt als so gravierend angesehen werden müssen, wie Rymer sie darstellt: „The faults which he has found in their designs are rather wittily aggravated in many places than reasonably urged" (S. 215). Die überspitzte Durchführung, nicht die grundsätzliche Berechtigung von Rymers Ansatz wird von Dryden in Frage gestellt. Aus der Wirkungskraft des englischen Dramas schließt Dryden auf das Vorhandensein eines nationalen Talents für tragische Dichtung. Trotz der offensichtlichen ,imperfections' in der Ausführung besteht Dryden auf einer Höherbewertung der englischen Tragödie gegenüber der besser, da rational fundierten attischen: „ [ . . . ] if the plays of the Ancients are more correctly plotted, ours are more beautifully written; and if we can raise passions as high on worse foundations, it shows our genius in tragedy is greater, for in all other parts of it the English have manifestly excelled them" (S. 215). Eine gewisse Forcierung der Argumentation erklärt sich als spontane Gegenreaktion gegen Rymers Kritik und zeigt Dryden als Apologeten des englischen Dramas, der sich durch die Herausforderung Rymers dazu gedrängt sieht, einen extremen Standpunkt der Verteidigung einzunehmen. Diese Gedanken, unmittelbar während oder nach der Lektüre von The 33

Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 212: „ [ . . .] consider wether Aristotle [ . . .], having not seen any others but those of Sophocles, Euripides, etc., had or truly could determine what all the excellencies of tragedy are, and wherein they consist."

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Tragedies of the Last Age niedergeschrieben, sind daher von Dryden in diesem auf direkte Widerlegung zielenden Aspekt nicht ausgebaut oder veröffentlicht worden 34 . Sie stellen jedoch das Vorstadium und den Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Erörterung zur Poetik der Tragödie dar, die in wesentlichen Punkten gegenüber Drydens vorangehenden theoretischen Äußerungen neu bedacht und konkreter formuliert ist. V o r allem belegen die „Grounds of Criticism in Tragedy" aber auch die auf Anregung Rymers erfolgte Lektüre und Auseinandersetzung mit der jüngsten französischen formalistischen Ästhetik bei Rapin und Le Bossu35. 1.1.4 Drydens Kompromißbereitschaft Rymers Kritik erfolgt aus der Überzeugung von der Notwendigkeit einer Reform des englischen Dramas. Sie ist also vom Ansatz her nicht destruktiv, sondern verfolgt grundsätzlich bereits didaktische Intentionen. Dryden widerspricht der Radikalität dieses Reformbestrebens, nicht aber der grundsätzlichen Empfehlung zur stärkeren Hinwendung zum klassischen Vorbild: „ [ . . . ] it still remains to prove that our theatre needs this t o t a l reformation" (S. 215)36. Er selber setzt sich eher für eine Synthese klassischer und elisabethanischer Elemente ein. Zeigte die CWipwi-Bearbeitung Drydens Uberzeugung, daß das klassische Drama einer grundlegenden Bearbeitung bedarf, um für die Rezeption durch das englische Publikum geeignet zu sein, so zeigt umgekehrt die Troilus and CrewzWa-Bearbeitung sein Eintreten für eine nach klassizistischen Gesichtspunkten erfolgende Shakespeare-Adaption. Die Notwendigkeit der Korrektur ergibt sich nicht nur durch den Umstand der Weiterentwicklung der Sprache — „so much refined since Shakespeare" —, sondern auch durch ein gewandeltes Verständnis von den Prinzipien der Handlungsdisposition: „I new modelled the plot; threw out many unnecessary persons; [ . . . ] After this I made, with no small trouble, an order and connection of all the scenes; removing them from the places where they were inartificially set" (S. 240). Dieses von Dryden hier dargestellte Bemühen, eine liaison des scenes herzustellen, war im Essay (S. 37) noch als Kennzeichen einer zu be34

Vgl. The Works of John Dryden, Bd. 17: Prose 1668—1691, hrsg. v. S. H . Monk, Berkeley—Los Angeles—London 1971, S. 413: „There can be no doubt that Dryden, although he had serious reservations about The Tragedies of the Last Age, had little desire to enter into public controversy with so formidable a critic."

35

Vgl. G. Watson in: Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 238: „Only Rymer's provocation can explain Dryden's regressive attitude here: his critical doctrines seem less liberal and less 'English' than in his early period, out of concern for Rymer's severe neoclassicism, and the essay is more frankly prescriptive in tone than most of his criticism." Gegenüber Watson ist jedoch mit H u m e , Dryden's Criticism, S. 119 ff., an der ,Ehrlichkeit' Drydens in den Grounds of Criticism nicht zu zweifeln. Vgl. auch Pechter, S. 110, der sich gegen die in diesem Kontext besonders relevante traditionelle Auffassung der Dryden-Forschung wendet „that the French influence was a perversion."

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Sperrung von mir.

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schränkten und kurzen Handlungsentwicklung abgelehnt worden, wird jetzt aber einer ,unkünstlerischen' Szenenverbindung vorgezogen. Durch sein ordnendes und korrigierendes Bemühen an Shakespeares Werken bekundet Dryden seine Bereitschaft, an die vorhandene englische Dramentradition anzuknüpfen. Durch seine modifizierenden Adaptionen zeigt er den Willen, ein neues Dramenkonzept durchaus auf der Basis des Vorhandenen zu entwickeln. Die durch Rymers Angriff auf Fletcher aufgeworfene Grundsatzfrage: „how far we ought to imitate our own poets, Shakespeare and Fletcher, in their tragedies" (S. 243), ist schon im Kern so angelegt, daß das Nachfolgeverständnis und das Ziel einer ungebrochenen Weiterentwicklung gar nicht mehr verhandelt, sondern nur der Grad der Modifikation zur Diskussion gestellt wird. Die von Dryden aus dieser Grundsatzfrage entwickelten Prinzipien einer Ästhetik der Tragödie lassen deutlich das Bestreben erkennen, Rymers Ansatz entgegenzukommen, indem er einen gegenüber seinen früheren theoretischen Schriften formalistischeren Standpunkt einnimmt; zugleich aber versucht er, extreme Punkte abzumildern. Im folgenden werden nur Einzelaspekte von Drydens Ausführungen herausgegriffen. Weitere Punkte sowie die detaillierteren Ausführungen über die Bedeutung, die diese theoretischen Ansichten für Drydens eigene dramatische Praxis wie auch für die seiner Zeitgenossen und deren Nachfolger erhalten, werden in den anschließenden Dramenanalysen am Einzelfall zu untersuchen und zu überprüfen sein. Die Konzessionen, die Dryden einer strenger ausgerichteten Klassizismusauffassung einzuräumen bereit ist, und die Grenzen, die er dieser Bereitschaft zieht, illustriert er an Beispielen aus seinem eigenen Schaffen, die er kritisch diskutiert. So verurteilt er jetzt grundsätzlich eine doppelte Handlungsführung, wie er selbst sie in Marriage a-la-Mode noch vertrat. Konstruktion und Anlage der Nebenhandlung im Oedipus dagegen verteidigt er als sich unmittelbar auf die Haupthandlung beziehend und als mit dieser aufs engste verbunden, ja sogar zu einer neuen Einheit verwoben: „ [ . . . ] there cannot properly be said to be two actions" (S. 244). Ebenso spricht er sich gegen eine überladene und unausgewogene Handlungsentwicklung und damit für die Wahrscheinlichkeit und Plausibilität des Geschehens aus: „ [ • • • ] that which is not probable will not delight a reasonable audience" (S. 245). Die Begründung solcher Gesichtspunkte oder Regeln zur Handlungsdisposition und -entwicklung ist entweder durch Selbstevidenz oder durch leicht einsehbare Erläuterungen gegeben, die gelegentlich durch Vergleiche mit der Architektur (S. 244) oder Malerei (S. 249) erhärtet und illustriert werden. Hierher gehören etwa die auf H o r a z zurückgeführten vier Grundsätze der Sitten oder Verhaltensweisen der dramatischen Figuren: Offensichtlichkeit, Angemessenheit, Ähnlichkeit mit dem historischen Vorbild und Konsistenz des Verhaltens. Ein problematischer Punkt dagegen ist die Forderung nach absoluter

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sittlicher Integrität des Königs in der Tragödie, wenn dieser zugleich der Protagonist ist. Rymer hatte die moralische Makellosigkeit schon gleichsam ex officio und aus dem Idealcharakter der Dichtung selber abgeleitet und sich zu der Behauptung verstiegen: „I question wether in Poetry a King can be an accessary to a crime" (S. 65). Dryden ist sehr geneigt, diesem Konzept zu entsprechen. Schon im „Preface" zu Oedipus hatte er Corneille eine zu negative Gestaltung des königlichen Helden vorgeworfen (S. 233) und selber mit Lee eine überragend positive Titelfigur angestrebt 37 . Jetzt weist er — genau wie Rymer (S. 31) — auf Euripides' Hauptfiguren hin. Die absolute Schuldlosigkeit des Helden widerspricht jedoch nicht nur, wie Dryden weiß, der aristotelischen Forderung des ,gemischten' Charakters, sondern stellt auch den tragischen Aspekt des Geschehens in Frage. Rymer selber hat durchaus die heroic tragedy als eine solche ,untragische' Tragödie definiert und, worauf schon zu Anfang hingewiesen wurde, im Edgar ein Beispiel dieser Gattung gegeben. Durch subtile Argumentation weiß Dryden Rymers Forderung zu umgehen. Er geht zunächst negativ argumentierend vor, indem er statt auf dem Muster der Tugend auf einem nicht abschreckenden Helden besteht: „ [ . . . ] it is necessary that the hero of the play be not a villain" (S. 246). Als Begründung beruft er sich nicht mehr auf eine ideale, sondern auf die erfahrbare Wirklichkeit: „As for a perfect character of virtue, it never was in nature, and therefore there can be no imitation of it" (S. 246). Dryden vertritt zwar die Forderung nach einer überwiegend positiven Charakterdisposition der Hauptfigur, doch müssen auch menschliche Schwächen vorhanden sein, damit Raum entsteht für gerechte Bestrafung, zugleich jedoch das Mitleid38 des Publikums mit dem Schicksal des Helden garantiert ist. Das tragische Konzept in der Aristoteles-Nachfolge bleibt damit gewahrt sowohl von der Handlungsanlage als auch von der Publikumswirkung her. Rymers Konzeption vom tugendhaften König sowie die in diesen Zusammenhang gehörende Formel von der poetic justice sind damit nicht direkt verworfen, doch entscheidend modifiziert worden. Bei aller Vorsicht der Argumentation 39 und trotz der Abschwächung der in den Heads of an Answer sehr viel schärfer formulierten Gegenansichten zu Rymers Äußerungen ist deutlich Drydens lange und gründliche Erfahrung als Dramatiker und Theaterpraktiker ersichtlich, die seine Argumen37

38

39

Vgl. Martin Brunkhorst, „Aspekte der CW//>i«-Adaption bei Dryden und Lee", GRM 57, N.F. 26, 1976, S. 3 8 6 - 4 0 6 ; S. 391 f. D i e Bedeutung von pity für die Dramatik Drydens stellt Eugene M. Waith heraus: „Dryden and the Tradition of Serious Drama", Writers and Their Background: John Dryden, hrsg. v. E. Miner, London 1972, S. 5 8 - 8 9 ; S. 80 f. Besonders stark wird die „dialectical flexibility" und „the essentially argumentative nature of Dryden's dramatic criticism as a whole" von Lennart A. Björn betont: „The Inconsistencies of Dryden's Criticism of Shakespeare", Anglia 91, 1973, S. 2 1 9 — 2 4 0 ; S. 227, S. 225 u. ö. Bei zu starker Betonung eines solchen taktischen Verhaltens wird die Möglichkeit einer Entwicklung in Drydens theoretischen Ansichten leicht übersehen.

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tation im Vergleich zu den oft zu wirklichkeitsfernen Ausführungen Rymers fundierter und einleuchtender erscheinen läßt40. Die Ausgangsfrage nach dem zu empfehlenden Grad der Shakespeareund Fletcher-Imitation wird von Dryden schließlich diplomatisch gelöst: Eine Imitation, soweit sie dem griechischen Vorbild nicht direkt entgegensteht, wird dort empfohlen, wo das Vorbild seinerseits der veränderten Umwelt und der anderen historischen Situation nicht mehr zu entsprechen vermag. Ohne ihm unmittelbar zu widersprechen, stellt Dryden hier die Relativität von Rymers Argumentation klar heraus. Als Pragmatiker kann Dryden sich dennoch auf die verpflichtenden Normen einer präskriptiven klassizistischen Ästhetik einlassen, doch nicht ohne die Einschränkung einer freien sinngemäßen Auslegung und die Ablehnung zu wörtlicher Befolgung zuvor geltend gemacht zu haben. Durch die Berufung auf Rapins Aristoteles-Kommentar und ein daraus entnommenes wörtliches Zitat sichert sich Dryden gegen mögliche Gegenkritik von Seiten Rymers ab: „ [ . . . ] 'tis only by these [i. e. the rules] that probability in fiction is maintained, which is the soul of poetry. They are founded upon good sense, and sound reason, rather than on authority; for though Aristotle and Horace are produced, yet no man must argue that what they write is true because they writ it" (S. 260 f.). Im Bemühen um die Annäherung an eine klassizistische Theorie im strengeren Sinne beharrt Dryden auf der Elastizität nicht der Axiome, wohl aber der aus diesen abgeleiteten Regeln. Entsprechend stellt er nicht den Grundsatz der Naturimitation oder etwa den daraus unmittelbar folgenden der Wahrscheinlichkeit der Darstellung in Frage, wendet sich aber gegen die blinde Befolgung der aus diesen Prinzipien weiterhin deduzierten restriktiven Regeln für die Praxis des Dramatikers. Der extreme Standpunkt Rymers wird von Dryden nicht frontal angegriffen, da eine Ubereinstimmung in den Prinzipien besteht. Wohl aber weicht Dryden Rymers Standpunkt auf, indem er einerseits den Nachweis für die Relativität vieler der dort benutzten Argumente führt, andererseits durch scheinbar nachvollziehende Uminterpretation zu radikaler Ansichten Rymers auf einen Kompromiß mit der praktischen Erfahrung und den überlieferten Konventionen hinarbeitet. Unter Ablehnung jeder dogmatischen Engführung bekennt Dryden sich zu der logischen und vernunftgemäßen Argumentation in der Tragödientheorie, wenn er good sense und sound reason in Opposition zur blinden Autoritätsgläubigkeit setzt. Obwohl Dryden sich genau wie Rymer für die Rationalität der Poetik einsetzt, bemüht er sich zusätzlich auch um deren operationalen Aspekt. Der Dogmatismus eines präskriptiven Regelkanons findet im Pragmatismus von Drydens auf Theatererfahrung basierenden Ansichten seine Grenzen. 40

Vgl. ebd., S. 230: „He is, above all, a practical critic, alive to what is effective upon the stage. [. . .] In other words, the Rules are there to offer help, not to impose limitations."

1.2 Der Beginn der englischen Racine-Adaption: „Titus and Berenice" Katherine E. Wheatley, die die englische Racine-Rezeption in ihrer Entwicklung und an ihren einzelnen Zeugnissen von 1674 bis 1723 detailliert untersucht hat, kommt zu dem Schluß, daß Racines Eigenart und Größe in keinem Fall von seinen englischen Übersetzern erreicht wurden 41 . Doch gerade an Wheatleys zehn Einzeluntersuchungen läßt sich das stete Bemühen der Adaptoren verfolgen, nicht so sehr einen möglichst originalgetreuen Text für das englische Theater zu erstellen, als vielmehr eine an Racine orientierte englische Dramatik zu entwickeln. Wenn auch das Publikum auf diese Weise zu keiner Begegnung mit dem ,eigentlichen' Racine, wie Wheatley ihn versteht, gekommen ist, so zeigt doch gerade ihre Untersuchung — entgegen ihrer eigenen Intention — die Bedeutung, die Racine als Vorlage für die englischen Dramatiker gewonnen hat. Wenn die Bearbeiter oft eigene und von denen des französischen Textes abweichende Intentionen verfolgten, so bedeutet dies nicht, daß sie keine Anregungen von Racine empfangen und nicht überaus wichtige Aspekte seiner Dramentechnik übernommen und weitergegeben hätten. Die peculiar essence Racines braucht nicht unbedingt im heutigen Sinne verstanden worden zu sein, damit die englischen Umsetzungsversuche Elemente und Bestrebungen des racineschen Theaters auch in England propagieren können. In dieser Hinsicht stellen die englischen Racine-Bearbeitungen nicht nur eine Annäherung an das spezifisch englische Klassizismusverständnis dar, sondern bestärken es vor allem und konsolidieren es gleichzeitig. Den ersten Versuch einer Racine-Adaption für das englische Theater stellt Andromache (1674) dar, ein größtenteils in Prosa abgefaßtes Stück, an dem der Anteil John Crownes nicht mit Sicherheit festzustellen ist42. Offensichtlich während der üblichen Sommerpause der Theater aufgeführt, blieb dieses Werk aus mangelndem Publikumsinteresse ohne Bedeutung. Otways zwei Jahre später folgende Bérénice-Bearbeitung ist ebenfalls kein überragender Theatererfolg geworden. Doch anders als Crownes Zweitüberar41

42

Katherine E. Wheatley, Racine and English Classicism, Austin 1956, S. 285 f. Nicht die grundsätzlich positive Haltung gegenüber Racine — „Racinophile that I am" (S. 32 u. ö.) — kann Wheatley zum Vorwurf gemacht werden, w o h l aber ihre a priori negative Haltung gegenüber den englischen Adaptionen. Besonders gegenüber der kurz zuvor erschienenen Racine-Interpretation Lucien Goldmanns in: Le dieu caché, Etude sur la vision tragique dans les „Pensées" de Pascal et dans le théâtre de Racine, Paris 1955, wirkt Wheatleys fast ausschließlich psychologische Racine-Deutung sehr einseitig. Vgl. besonders zu Bérénice Goldmann, S. 371: „Ici, l'analyse psychologique n'a presque plus de portée." Vgl. Wheatley, S. 5—18. Ebd., S. 19—25, findet sich auch eine Analyse von Crownes Verpflichtungen gegenüber Racine für The Destruction of Jerusalem, II, 1677.

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beitung, bzw. der Dilettantismus eines theaterunerfahrenen Übersetzers 43 , zeigt Otways Drama den entschiedenen Willen zur Anpassung Racines an englische Theaterverhältnisse und an die dramatischen Konventionen, die sich im Don Carlos so erfolgreich erwiesen 44 . Im folgenden geht es nicht um eine phänomenologische Nachzeichnung der englischen Racine-Rezeption, sondern um den Hinweis auf ihr Vorhandensein und ihre Bedeutung für die Herausbildung einer strenger klassizistisch gebundenen Dramatik am Ende der siebziger Jahre. Insofern zeigt Otways Titus and Berenice schon zu Anfang dieser Entwicklung das Bemühen um größere Klarheit in der Dramenstruktur; zugleich läßt sich jedoch neben der Übernahme vieler Elemente aus Racine auch das Beharren auf einer am heroischen Drama ausgebildeten Sprachführung und Figurenzeichnung exemplarisch beobachten. 1.2.1 Racines Simplizität Dryden hatte an französischen Dramen vor allem die Handlungsarmut bemängelt und diese als entscheidenden Hinderungsgrund für ihre Wirksamkeit auf der englischen Bühne herausgestellt. Gerade die Konzentration auf die Simplizität des Themas und seine Exemplifizierung an einem stofflichen Minimalvorrat hat Racine in Bérénice zur höchsten Kunst gesteigert. In dieser Hinsicht ist Bérénice das typischste und dem in der französischen Klassik entwickelten Dramenideal am nächsten kommende Werk Racines. Es ist daher als tragédie la plus racinienne bezeichnet worden: „ [ - . . ] elle est la moins chargée de couleur locale et de matière, ou, si l'on veut, la plus simple45." D'Alembert hebt diese Simplizität und Klarheit der Anlage und Entwicklung des Geschehens anschaulich pointiert hervor: „Racine a trouvé l'art de nous intéresser pendant cinq actes avec les seuls mots: Je vous aime, vous êtes empereur, et je pars 46 ." 43

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Vgl. ebd., S. 6, Wheatleys Lob der Verspartien, die jedoch den kleineren Teil von Andromache ausmachen. Zum Problem der Ubersetzung von Racines Reimversen ins Englische vgl. Derek Attridge, „Dryden's Dilemma, or, Racine Refashioned: T h e Problem of the English Dramatic Couplet", The Yearbook of English Studies 9, 1979, S. 55 — 77. Geht man von dem Mythos der Idealität einer möglichst wörtlichen Ubersetzung ab, so kann O t w a y s Racine-Transposition durchaus hinsichtlich der theaterhistorischen Situation als gültige Ü b e r s e t z u n g aufgefaßt werden: vgl. zu diesem Problem Georges Mounin, Teoria e Storia de IIa Traduzione, Turin 1965, deutsch: Die Übersetzung, Geschichte, Theorie, Anwendung, München 1967, bes. S. 137: „Man muß die Bühnenwirksamkeit übersetzen, bevor man sich um die Wiedergabe der literarischen oder poetischen Qualitäten kümmert, und wenn dabei Konflikte entstehen, muß man der Bühnenwirksamkeit den V o r z u g geben." Maurice Rat in: Racine, Théâtre complet, hrsg. v. M. Rat, Paris 1960, revidierte Ausg. 1969, S. 297. N a c h dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. Réponse à la lettre sur les spectacles de Rousseau, zit. nach Racine, S. 298. D i e Hervorhebung der Stoffarmut in Bérénice findet sich auch schon bei Nicolas de Montfaucon de Villars, „La Critique de la Bérénice", Paris 1671, Recueil de dissertations sur plusieurs tragédies de Corneille et de Racine, 2 Bde., Paris 1740, Bd. 2, S. 1 8 8 - 2 2 2 ; S. 202: „[. . .] toute cette

Der Beginn der englischen Racine-Adaption:

„ Titus and Berenice"

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Dieser Kunst der Stoffdehnung ist Otway nicht gewachsen. Um sicher zu gehen, daß das Publikumsinteresse nicht erschlafft, verkürzt er seine englische Version der Bérénice auf drei Akte 47 . Den Rest der Vorstellung füllt er mit einer zweiten Bearbeitung aus dem Französischen, die auf Molières Farce Les Fourberies de Scapin basiert. Dieser französische' Theaterabend vereinigt so die beiden berühmtesten Dramatiker Frankreichs, doch Otway weist weder in Prolog oder Epilog noch in der Widmung zur gedruckten Fassung auf nur einen von ihnen hin. In Titus and Berenice wird dem englischen Publikum eine Tragödienform präsentiert, die neben der Simplizität der Handlung auch in der Kombination von hochtragischem Geschehen und unblutigem Ausgang neu ist. Sollen diese Grundzüge Racines auf der englischen Bühne theaterwirksam bleiben, so muß Otway mit größtem dramatischem Geschick vorgehen. Im Vorwort zu Bérénice hatte Racine seine berühmte Tragödiendefinition aufgestellt: „Ce n'est point une nécessité qu'il y ait du sang et des morts dans une tragédie; il suffit que l'action en soit grande, que les acteurs en soient héroïques, que les passions y soient excitées, et que tout s'y ressente de cette tristesse majestueuse qui fait tout le plaisir de la tragédie" (S. 299). Die elisabethanische und jakobeische Tragödie hatte im Gegensatz zu dieser Definition nicht nur im Handlungsablauf Intrige und Mord gezeigt, sondern ging auch für die Hauptfiguren in den meisten Fällen tödlich aus. Daß Titus, Berenice und Antiochus nicht am Ende sterben müssen, ist den Engländern dennoch aus dem heroischen Drama geläufig. Rymer beruft sich ausdrücklich auf den ,glücklichen' Ausgang der heroic tragedy für die Protagonisten als gattungsspezifisch. ,Blut und Tote' aber dürfen dennoch vorkommen. Dem ,heroischen' wie dem älteren englischen Dramentyp gleichermaßen verpflichtet, zeigt Otway selber in Alcibiades oder auch im Don Carlos ein Gewirr von Intrigen und eine Vielzahl von Morden und Wahnsinnsanfällen. Bérénice dagegen kommt ohne diese Attribute aus und ist dennoch im höchsten Maße tragisch 48 . Schon Racines Zeitgenossen hatten die ,heroische' Qualität des Titus angezweifelt. In den Auseinandersetzungen um die nur wenige Tage auseinanderliegenden Erstaufführungen der deux Bérénices rivales von Racine und Corneille kritisierte der Abbé Montfaucon de Villars ausdrücklich, die unabdingbare Liebe des Titus zu Bérénice sei — nach der herkömmlichen, an Corneille ausgerichteten Auffassung des Heroischen — unwürdig für

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pièce, si l'on y prend garde, n'est que la matière d'une Scène. [. . .] il est certain que toute cette affaire s'expédieroit en un quart-d'heure, & que jamais action n'a si peu duré." Vgl. Roswell Gray H a m , Otway and Lee, Biography from a Baroque Age, N e w Häven 1931, S. 89 f. : „Five acts of tears for the sorrows of two characters, without the relief of one death might reasonably pall upon an audience accustomed to a stage crowded with despairing lovers and multiplied assassinations." Vgl. Goldmann, der die Werke Racines in ,Dramen' und ,Tragödien' unterteilt und Bérénice zu „les trois tragédies proprement dites" (S. 351) zählt und als „véritable tragédie" (S. 370) bezeichnet.

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einen römischen Helden 49 . Auf jeden Fall aber ist Racines Verständnis der acteurs héroïques grundsätzlich abweichend von der englischen Auffassung dieses Begriffs. Heroismus beweist sich nicht mehr in spektakulären Taten oder in entsprechend überschwenglichen und übertriebenen Worten: „Plus dépouillée des formules ordinaires de la passion, plus directe dans sa syntaxe, d'une musicalité plus étouffée, la langue de Bérénice est, avec celle de Phèdre, le sommet de l'art racinien 50 ." Die Schlichtheit des Geschehens und die Schlichtheit der Sprache entsprechen einander. In der Ubersetzung und der Nachformung dieser in ihrer Einfachheit und Klarheit mustergültigen Sprache entwickelt Otway ein bemerkenswertes Einfühlungs- und Umsetzungsgeschick, das ihn die vom heroischen Drama gepflegte Neigung zur metaphorischen Überladenheit und rhetorisch-bombastischen Steigerung der Affektausbrüche einschränken und teilweise überwinden läßt. Durch die Übung am Racine-Text wird Otway zudem entschieden bestätigt und gefördert bei der Entwicklung eines gefühlsbetonten Sprachstils, der für seine späteren Dramen bezeichnend wird. Der Schlichtheit und Direktheit der Sprache bei Racine entspricht ihr relatives Defizit an bildhaften Wendungen. Otways Bearbeitung zeichnet sich folglich gegenüber seinen anderen Dramen durch sparsame Verwendung sprachlicher Bilder aus. Gisela Fried, die Gestalt und Funktion der Bilder in den Dramen Otways untersucht hat, stellt nicht nur die stärkere Betonung des sentimentalen Moments gegenüber Racine fest, sondern gleichzeitig eine Verengung der Leidensmetaphorik auf die Begriffe Herz und Blut, deren „auffällige Rolle" sie auch schon im Don Carlos beobachtet 51 und deren verstärkten Einsatz und bildsprachlichen Höhepunkt sie für Venice Preserv'd herausarbeitet. Obwohl bei Racine die Vokabel cœur genauso oft erscheint wie heart bei Otway, ergibt sich durch die Verkürzung der englischen Bearbeitung bereits eine Steigerung der Häufigkeit des Gebrauchs. Dieses verstärkte Auftreten wird in seiner Bedeutung durch die kontextuelle Umsetzung noch intensiviert. Sagte etwa Racines Titus : „Jamais [ . . . ] / Mon cœur de plus de feux ne se sentit brûler", so ersetzt Otway diese komplexe Herz-Feuer-Metapher in ihrem zweiten Bestandteil durch die Vorstellung der „Überfülle und des Brechens unter einer zu schweren Last" 52 : „ [ . . . ] my heart [ . . . ] / Was ne're more füll of Love or half so like to break." 49

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Montfaucon de Villars, S. 196 f.: „J'avois pourtant eu quelque espérance que le caractère de Titus seroit héroïque; je lui voyois quelquefois des retours assez Romains: mais quand je vis que tout cela n'aboutissoit qu'à se tuer par maxime d'amour, je connus bien que ce n'étoit pas un Héros Romains." André Stegmann in: Jean Racine, Théâtre complet, 2 Bde., Paris 1964, Bd. 1, S. 371. Gisela Fried, Gestalt und Funktion der Bilder im Drama Thomas Otways (Palaestra, Bd. 239), Göttingen 1963, S. 47. Ebd., S. 48. Es wird hier wie im folgenden zitiert nach The Works of Thomas Otway: Plays, Poems, and Love-Letters, hrsg. v. J. C. Ghosh, 2 Bde., Oxford 1932, Bd. 1, S. 251—292.

Der Beginn der englischen

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„ Titus and Berenice"

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Betont Fried die restriktive Funktion der klassischen Stilisierung Racines für Otways Neigung zum sentimentalen Geschehen, so ist von anderer Seite gerade die Kongenialität des französischen Dramatikers und seines englischen Bearbeiters hervorgehoben worden. Schon Voltaire hatte Bérénice „une élégie plutôt qu'une tragédie simple" genannt und die elegischpathetische Situation eines abschiednehmenden Liebespaares als im Grunde untragisch empfunden: „Un amant et une maîtresse qui se quittent ne sont pas un sujet de tragédie 53 ." Dieses elegische Moment kommt Otways eigenen Absichten entgegen und ist von ihm in seiner Bearbeitung betont und ausgebaut worden: „The moving and pathetic situation is one which he might have invented, and he made brilliant use of it in his adapted tragedy 54 ." Otway zeigt mehr Freiheit und Unabhängigkeit vom direkten Wortlaut seiner Vorlage als etwa vorangehende Corneille-Ubersetzungen, hält aber dennoch in stärkerem Maße als diese die Atmosphäre und den Grundtenor des französischen Originals durch 55 . Die verallgemeinernden Feststellungen über Otways Ubersetzungstreue bzw. die Tendenz seiner Racine-Bearbeitung sind notwendig relativ. Sie fallen unterschiedlich aus, je nachdem ob der Betrachter vom Standpunkt der dramatischen Entwicklung Otways urteilt (Fried), oder ob er die Geschichte einer englischen Rezeption französischer Dramatik verfolgt (Canfield, Wheatley). Gleichzeitig wird aber an den referierten Beispielen auch die Relevanz des Racine-Verständnisses für die Beurteilung von Otways W e r k deutlich. Der hier angemessene Standpunkt muß notwendig alle Aspekte berücksichtigen, aber dennoch Titus and Berenice auf Anzeichen und Tendenzen für einen englischen Klassizismus hin untersuchen, d. h. er muß sowohl interessiert sein an der Art der Umsetzung und Assimilation des Racine-Textes für ein englisches Publikum und dessen Erwartungen als auch an der Integration in das eigene Dramenschaffen Otways. Otways 5eréwice-Bearbeitung zeigt, wie durch Auslassungen und oft paraphrasierende Ubersetzung ein Drama seiner Aussage und Struktur nach entscheidend verändert werden kann. Die eigentlichen Neuformungen, Hinzudichtungen und Ergänzungen sind ihrem Umfang nach nicht sehr erheblich, doch das Auswahlprinzip der übernommenen Passagen und Szenen sowie die Art und Weise der tendenziellen' Ubersetzung und Interpo-

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54

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„Préface" zu Œdipe, zit. nach Œuvres complètes de Voltaire, hrsg. v. L. Moland, 52 Bde., Paris 1 8 7 7 — 1 8 8 5 , Bd. 2 (Théâtre, Bd. 1), 1877, S. 51. Derselbe Vorwurf ist schon in der zeitgenössischen Rezeption zu finden: vgl. Montfaucon de Villars, S. 200: „L'auteur a trouvé à propos, pour s'éloigner du genre d'écrire de Corneille, de faire une pièce de théâtre, qui depuis le commencement jusqu'à la fin, n'est qu'un tissu galant de Madrigaux & d'Elégies." Vgl. auch Roland Barthes, Sur Racine, Paris 1960, repr. 1976, der S. 99 „un éloignement de la tragédie" in Bérénice feststellt. Dorothea Frances Canfield, Corneille and Racine in England, A Study of the English Translations of the Two Corneilles and Racine, With Special Reference to Their Presentation on the English Stage, New York 1904, repr. 1966, S. 92. Vgl. ebd., S. 92 f.

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lation geben dem Stück einen weitgehend eigenständigen, von der Vorlage abgelösten Charakter 56 . Zur gesprächsweisen Darlegung von Stimmungen, Meinungen und Vorhaben ordnet Racine seinen drei Protagonisten drei Vertraute zu, die zugleich auch Dienerfunktion übernehmen können. Monologe sind daher in Bérénice selten57, aber auch weitere Figuren werden — bis auf einen zusätzlichen Boten (2.3 und 4.8) und das stumme Gefolge des Kaisers — zur Handlungsdurchführung nicht benötigt. Otway kürzt vor allem diese vertraulichen Gespräche zwischen Haupt- und Nebenfiguren auf ein Minimum. Dadurch wird die Feinheit der psychologischen Figurenzeichnung Racines entschieden verwischt. Das Drama selbst wird umgepolt auf eine stärker betonte Kontrastsituation in der Figurenkonstellation, die im unmittelbaren, für das Publikum oft unvorbereiteten Aufeinanderprall der Meinungen und Intentionen oppositionelle Interessen zum Ausdruck bringt. Da die Vertrautengespräche weitgehend Reflexion und Explikation des vorangegangenen Geschehens oder des beabsichtigten Verhaltens sind, kommt ihnen in ihrer einstimmenden oder abschließenden Funktion gegenüber den Handlungshöhepunkten eine beruhigend-ausgleichende Wirkung zu. Sie sind die Bindeglieder des Geschehens und vertiefen die historische wie psychologische Dimension der Handlung. Die bei Racine sorgfältig ausbalancierte Sequenz von emotional gesteigerten Szenen der Auseinandersetzung zwischen den Protagonisten selber und den gedämpfteren Szenen des Zuspruchs, der Tröstung, des Ratens und der Besinnung, aber auch der Ahnung und der Furcht und des quälenden Ringens um Entscheidung zwischen den Protagonisten und ihren Untergebenen wird bei Otway aufgehoben. Die ursprünglichen Handlungshöhepunkte folgen jetzt in schneller Sukzession, so daß sich eine hektisch beschleunigte Handlungsentwicklung ergibt. Eine im Vergleich zu Racine stärker betonte Konfrontation der Hauptfiguren und der von ihnen vertretenen Positionen bewirkt — bei verkürzter Darstellungszeit — den Eindruck der Spannungssteigerung und der Intensivierung des Dramengeschehens. Diese Tendenz der Intensivierung läßt sich bis in die Verkürzung der von den Figuren angegebenen Zeitspannen verfolgen: der Hochzeitstag wird zur Hochzeitsstunde 58 . Wird umgekehrt die Zeit der Trauer über Vespasians Tod und der Entfremdung zwischen Titus und Berenice von acht auf zehn Tage gesteigert, so wird doch diese Angabe bei Otway nur noch

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Wheatley, S. 5 6 : „Whether Otway's Titus and Berenice be called a translation or an adaptation o f Racines Bérénice, it could give an English reader or spectator only a very faint idea of the original."

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Sie finden sich nur in 1.2, 4.1, 4.4 und 5.1. Vgl. Racine, 2 . 2 : „Lorsqu'un heureux hymen, joignant nos destinées, / Peut payer en un jour les v œ u x de cinq années"; Otway, 1.2. 7 0 f.: „When in one hour a. happy Marriage may / O f all my five years vows the tribute pay."

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einmal erwähnt, während Racine fünfmal darauf hinweist 59 . Racines fast penetranter Hinweis auf genaue Zeitangaben entfällt bei Otway nicht nur, weil die Wiederholungen der Vorgeschichte des Geschehens, wie sie bei Racine unter jeweils anderem Aspekt zahlreich auftreten, gestrichen sind, sondern auch, weil exakte Zeitdaten selbst bei übernommenen Passagen oft ausgelassen werden 60 . Kann Racines Tragödie gleichsam als letztes Stadium und Abschluß einer langen Vorgeschichte begriffen werden, so daß die Vorgeschichte mit ständig wechselnder Bedeutung in das Bühnengeschehen hineinragt, so verknappt Otway diese Reminiszenzen an Vergangenes zugunsten einer stärkeren Betonung des gegenwärtigen und augenblicklichen Geschehens. Intensivierung und stärkerer Gegenwartsbezug konzentrieren bei Otway das Zuschauerinteresse auf die Vorgängigkeit und spontane Handlungsentfaltung eines vorrangig immanenten Spannungsbogens im Bühnengeschehen. 1.2.2 Der Liebesverzicht des Antiochus Die einschneidendste Veränderung der Handlungsdisposition, die Otway gegenüber Racine vornimmt, ist die Verlagerung von Antiochus' Eingeständnis seiner Liebe zu Berenice gegenüber Titus. Dieses Geständnis findet bei Racine erst am Ende des Dramas statt. Bei Otway dagegen gesteht Antiochus schon zu Beginn des zweiten Akts Titus seine Liebe zu Berenice, eine Änderung, die als „unhappy innovation" und als abträglich für das Zuschauerinteresse an der Antiochus-Figur bezeichnet worden ist: „ [ . . . ] it renders him colourless throughout the rest 61 ." Doch diese Begründung geht von Racines dramatischen Absichten der Spannungssteigerung aus und übersieht Otways Neugliederung des Geschehens. Bei Racine beauftragt Titus den Antiochus als seinen Freund und Vertrauten, Bérénice von seiner Verpflichtung gegenüber Rom und seinem dadurch bedingten Liebesverzicht zu unterrichten, da er selbst sich nicht stark genug fühlt, ihr diese Mitteilung persönlich zu machen. Antiochus' eigene Liebe zu Bérénice ist Titus unbekannt. Bei Otway dagegen gesteht Antiochus ihm diese Liebe, ehe er als Nachrichtenübermittler eingesetzt wird. Selbstanklagend bezeichnet er sich als niederträchtig und als falschen Freund, weil er Titus nicht schon früher über diesen Sachverhalt aufklärte: „You took a very Serpent to your breast" (2.1.26). Doch als Titus nach einigen Mißverständnissen Antiochus' Geständnis begriffen hat, ist er von 59

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Otway, 1.2. 5: „ [ . . . ] for these ten days past I have to Berenice a stranger been"; vgl. Racine, 2.2, 2.4, 3.1, 3.4, 4.4. Vgl. z. B. Racine, 2.2 und Otway, 1.2. 96; Racine, 2.4 und Otway, 1.2. 152; Racine, 3.1 und O t w a y , 2.1. 101; Racine, 4.4 und O t w a y , 3.1. 55. Eine Analyse der Bedeutung von Racines Zeitangaben findet sich bei John C. Lapp, Aspects of Racinian Tragedy, T o ronto—London 1955, S. 36—65. Was S. 44 für Andromaque angeführt wird, gilt auch für Bérénice: „ [ . . . ] memories of the past stir constantly, and, for dramatic purposes, memories of the same event often wear différent colours." J. C. Ghosh, „Introduction" zu The Works of Thomas Otway, Bd. 1, S. 43.

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Empörung oder Racheverlangen weit entfernt. Statt dessen fühlt er sich selbst durch die Vorzüglichkeit seines Rivalen ausgezeichnet: „A braver Rival I'd not wish to find, Than him that dares be just and tell his mind" (2.1.53). Die Ideale der Tapferkeit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit werden als T u genden hervorgehoben; die Freude über einen ritterlichen Wettstreit mit einem tugendhaften Gegner im Ringen um die Gunst der umworbenen Dame tritt an die Stelle des Argers über einen unerwünschten Nebenbuhler. Zahl und Vorzüglichkeit der Bewerber erhöhen den Wert der Dame. Dies wiederum verdoppelt in konsequenter Dialektik die Anstrengung jedes einzelnen Bewerbers, bekräftigt jedoch gleichzeitig sein Selbstwertbewußtsein in der Bestätigung, daß die von ihm getroffene Wahl richtig war. Dieses Denkschema ergibt für Titus in paradoxaler Folgerung die Anerkennung seines treuesten Freundes als begehrtesten Gegners: „So far's Resentment from my heart remov'd, That Berenice is by my friend belov'd, That I, Antiochus, the thing extol, For she was made to be ador'd by all: And happy he that shall possess her" (2.1.55 — 59). Der hier verpflichtend gesetzte höfisch-ritterliche Ehrenkodex garantiert dem Sieger im gerechten Wettkampf die Zustimmung des Unterlegenen, die ohne Neid gegeben werden wird. Der im Bekenntnis zu solchen Verhaltensnormen sichtbaren magnanimitas des Titus entspricht die Reaktion des Antiochus in jeder Weise. Er muß sich dem generösen Freundschaftsbeweis, als ebenbürtiger Widersacher anerkannt und geschätzt zu werden, würdig erweisen. Er verzichtet auf alle Ansprüche auf die von ihm verehrte Dame zugunsten des Freundes, dessen überlegene Größe, „the Delight of all Mankind" (62), er kampflos eingesteht. Dieser Verzicht müßte ihm desto leichter fallen, da er während seiner fünfjährigen Werbung nicht nur keinerlei Ermutigung durch die Dame erhielt, sondern im Gegenteil — dem Gespräch mit Titus fast unmittelbar vorangehend (1.1.133—140) — auf das deutlichste von ihr abgewiesen und verschmäht wurde. Doch die Abweisung zählt nicht. Die gegenüber Titus vorgebrachte freiwillige Verzichtserklärung ist vielmehr als höchster Beweis der Freundschaft zu werten. Nicht so sehr aus Resignation oder Verzweiflung über die Abweisung als vielmehr aus dem Bemühen heraus, den Freund an Großherzigkeit und Treuebeweisen zu übertreffen, insistiert Antiochus auf dem Verzicht und auf seinen — auch schon Berenice mitgeteilten (1.1.141 — 147) — Abreiseplänen 62 . 62

Vgl. O t w a y , 2.1. 6 0 - 6 4 : „ [ . . . ] 'tis fit none should be so blest, but you, And Berenice for none should be design'd, But him that's the Delight of all Mankind. 'Tis for this cause to Syria I repair, For w h e n you're blest no envy should be near."

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Das Duell mit der W a f f e wird ersetzt durch das komplimentierende Wortgefecht, das sich letztlich nicht um den Besitz der Dame, d. h. um das Erringen des Preises dreht, sondern sich im Beweis eigener Großartigkeit erschöpft. Neben das T h e m a der Liebe tritt hier bei O t w a y das der Freundschaft als dessen gleichrangige Erweiterung. Das im ritterlichen Ehrenkodex präfigurierte Verhaltensmuster wird sublimiert in seiner Anwendung auf gesteigerte sittliche Werte. D u r c h die im Kontrast zu Racine stärker akzentuierte Freiwilligkeit des Liebesverzichts nimmt O t w a y eine U m p o lung in der Figurenzeichnung des Antiochus vor 63 , die den Vorstellungen entsagungsvoller Männerfreundschaft entspricht, wie sie später wieder bezeichnend wird f ü r die Jaffeir-Gestalt in Venice Preserv'd64. Im freiwilligen Verzicht auf die H o f f n u n g der Liebeserfüllung mit Berenice nimmt Antiochus zugleich in tragischer Ironie den Liebesverzicht der Berenice auf Titus vorweg. Der Konflikt des Antiochus zwischen der Liebe zu Berenice und der Freundschaft zu Titus, den er in so großzügiger Form zugunsten des Titus zu entscheiden bereit ist, erweist ihn als den Idealtyp eines der höfisch-ritterlichen Tugendlehre verpflichteten Prinzen und macht ihn dadurch — wiederum in paradoxaler U m k e h r u n g — vorzüglich geeignet f ü r die vertrauensvollen Botengänge zwischen den Liebenden Titus und Berenice: „My best and truest friend, you must be so, For there's none fit for't in the World but you. N o n e but a King, my Rival and my friend, Is fit to speak the torments of my mind. In my behalf you Berenice must see 65 ." Bei Racine hatte Titus am Ende des Dramas keine Gelegenheit mehr, auf die Erkenntnis des Rivalen im Freund zu reagieren, außer mit einer erstaunt-mehrdeutigen Feststellung des Faktums. „Mon rival!" (5.7) sind seine letzten W o r t e im Stück. Bei O t w a y gehen — durch das umdisponierte Geständnis des Antiochus ermöglicht — die einen Sinn f ü r das Praktische wie f ü r das Heroische verratenden Überlegungen des Titus so weit, Antiochus am Ende zu einer W i e d e r a u f n a h m e seiner W e r b u n g um Berenice zu ermutigen, weil seine eigenen H o f f n u n g e n auf eine Verbindung mit ihr endgültig zerschlagen sind: 63

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Vgl. auch Wheatley, S. 33: „The most striking result of Otway's interpolations is a transformation of the character of Antiochus." Vgl. Gisela Lord, „Otway, Venice Preserv'd"in Das englische Drama, Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2 Bde., hrsg. v. D . Mehl, Düsseldorf 1970, Bd. 1, S. 3 4 2 - 4 1 0 . O t w a y , 2.1. 69—73. Wheatley, S. 39, sieht in diesen Versen den Ausdruck von „lofty and implausible sentiments". Schon Edgar Schumacher, Thomas Otway, 1924, repr. N e w York 1970, S. 64, beurteilt diese Passage negativ: „Otway will sichtlich die Situation heroischer gestalten, daß sein Titus trotz, ja, eigentlich w e g e n dieses Bekenntnisses den Rivalen als Vertreter seiner Sache zu Berenice sendet; ob die innere Wahrheit der Tragödie dadurch g e w o n n e n hat, läßt sich bezweifeln." Beide Interpreten urteilen unter einem zu enggefaßten modernen Gesichtspunkt psychologischer Wahrscheinlichkeit der Charakterzeichnung und Verhaltensmotivation.

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„With all her charms receive her to thy brest, And be of all I ever lov'd, possest" (3.1.262 f.). Diese wechselseitige Großmütigkeit der Freunde findet erst in Berenices eigenen Plänen ihr Ende, die das Freundschaftsthema in den bei Racine vorgeprägten tragischen Ausgang zurückleiten: „Let us all three a rare example prove: Of a most tender though unhappy love" (3.1.468 f.). Das T h e m a von unglücklicher Liebe und Verzicht wird von O t w a y wesentlich erweitert durch das Motiv von Freundschaft und Ehre. Durch das Liebesgeständnis erhält die auch bei Racine bestehende Freundschaft zwischen Titus und Antiochus jetzt einen Grad der Intimität, den sie in der französischen Vorlage nicht hatte. D u r c h die ausführliche Exposition dieses Themas an zentraler Stelle — zu Beginn des mittleren Aktes — wird der Konflikt des Antiochus zwischen Liebe und Freundschaft zusätzlich betont. Die Verbindung zur Konvention des heroic play, das den höfischen Ehrenkodex propagiert, ist deutlich; dennoch wird diese Konvention durch die f ü r Otways dramatische Entwicklung spezifische Freundschaftsthematik aufgebrochen und teilweise überwunden 6 6 . Die gegenüber Racine ausgeweitete Beziehung Titus—Antiochus ergibt f ü r O t w a y darüber hinaus eine Komplizierung und mehrschichtige Uberlagerung des Geschehens. Die durch die K ü r z u n g e n des französischen Textes eingetretene Verflachung der ursprünglichen Liebesproblematik wird aufgewogen durch die zusätzlich eingefügte Freundschaftsproblematik. So wird der bereits angeführte Eindruck der Handlungsbeschleunigung unterstützt und ergänzt durch den der Handlungsfülle. K ü r z u n g und ergänzende Auffüllung sind zwei f ü r O t w a y wesentliche dramentechnische Mittel, um das Interesse des Publikums f ü r ein im Originaltext nicht sehr aktionsreiches D r a m a aufrechtzuerhalten. 1.2.3 Otways Steigerungen Fürchtet Antiochus im ersten Teil des zweiten Aktes, durch sein aufrichtiges Liebesgeständnis seine Freundschaft mit Titus zu zerstören, so endet dieser Teil entgegen den Erwartungen in einer Bestätigung und Bekräftigung dieser Freundschaft. Genau umgekehrt versucht Antiochus im zweiten Teil dieses Aktes durch die Verheimlichung der Wahrheit vor Berenice, sich aus einer prekären Situation zu ziehen: „But there are things behind I 66

Wheatley, S. 38, A. 13, weist auf die lange T r a d i t i o n des Freundschaftsthemas im englischen D r a m a hin. Ihr Problem, ob O t w a y das T h e m a aus dem heroischen D r a m a O r r e r y s oder aus ähnlichen T h e m e n Corneilles b e z o g , läßt sich schlecht lösen, da das heroische D r a m a sowohl auf ältere englische als auch auf zeitgenössische französische Vorbilder rekurriert und das T h e m a letztlich auf beide T r a d i t i o n e n z u r ü c k f ü h r b a r ist. Abgesehen davon setzt O t w a y jedoch das Freundschaftsthema gerade z u r Sublimierung und schließlichen Ü b e r w i n d u n g der heroischen Konventionen ein.

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dare not speak" (2.1.169). Die schließlich widerwillig mitgeteilte Wahrheit führt jedoch — wiederum unerwartet — zur Verstimmung und zum völligen Bruch mit Berenice. Durch die chiastische Verknüpfung der zweimalig enttäuschten Erwartung des Antiochus werden die Gefühlsumschwünge in unmittelbarer Aufeinanderfolge noch schärfer herausgearbeitet. Doch auch die einzelnen Stationen der Beziehung Antiochus —Berenice sind nicht nur durch die verkürzte Spieldauer näher aneinandergerückt, sondern zusätzlich auch gegenüber Racine betonter kontrastiert worden. Die verzichtend-abweisende Abschiedsszene im ersten Akt wird bei Otway am Ende des zweiten Aktes zur dissonanten Entzweiung nach heftiger Auseinandersetzung. War der Abschied im ersten Fall für Antiochus qualvoll, so ist er jetzt — die Überspitzung bewirkt den Umschlag — vorübergehend von seinen Liebesschmerzen geheilt. Schwor er Berenice beim ersten Mal Treue bis in den Tod, so meditiert er jetzt das Ende seiner Verehrung: „Now, my Arsaces, would my heart but break! But yet I hope in part I've freedom won. And what love would not, by her hate sh'as done. The pain I lately endur'd thou hast beheld, I left her all Enamour'd, Jealous, Wild. But now performing this Ignoble part, Perhaps, I'le ever banish her my heart" (2.1.248 — 54). Besonders der Vergleich mit der letzten Zeile dieser Passage bei Racine zeigt, daß Otway auch da, wo er die faktische Aussage übernimmt, sie doch in ihrer emotionalen Abschattierung entscheidend modifiziert: „Je partirai peut-être avec indifférence" (3.4.). Nicht so sehr der durchgehende Gebrauch der Herz-Metapher als vielmehr die aktive Formulierung der Aussage zu einer positiv ausgedrückten Tätigkeit — „I banish her" — hebt Otways Antiochus von Racines Darstellung ab, in der der Held passiv zurückweicht — „je partirai" — und sich in Negativformulierungen — in-différence — flüchtet 67 . Der Textausschnitt 68 zeigt eine deutliche Steigerung seiner Aussage gegenüber den an vergleichbarer Stelle der Handlungsentwicklung stehenden Versen Racines. Die Reflexionen und Mitteilungen des Antiochus sind pointiert auf die handlungsvorantreibenden Momente gerichtet, die Entschlüsse und Gemütsbewegungen knapper und unbedingter formuliert, die Affekte schärfer hervorgehoben. Das Thema der vergeblichen Liebe des Antiochus erhält zu Beginn des dritten Akts eine neue Wendung. Gerade von seiner Liebe geheilt, ent67

68

Bereits désespéré hatte O t w a y gerade zwei Zeilen vorher positiv mit wild übersetzt. Vgl. auch Racine, 3.4: „Evitons la cruelle, / Q u e de longtemps, Arsace, on ne nous parle d'elle", mit dem aktiveren Verhalten bei O t w a y , 2.1. 256 f.: „For ever to my eyes a stranger be, / Till I have learnt to s c o r n as well as she." Otway, 1.1. 6 0 — 1 4 7 und 2.1. 1 4 5 - 2 5 8 entspricht Racine, 1.4 und 3. 3 — 4.

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flammt Antiochus doch wieder für Berenice, als er sie in tiefer Verzweiflung weinend — allerdings nicht um seinetwillen — antrifft: „Now whither's all my resolution gone? Arsaces, who could see't and be his own? I said I'd never see her face again: But come and find my boastings all were vain; Seeing her sufferings, all her scorn forget, And lose at once my vengeance and my hate" (3.1.29—34). Ein solches Auf und Ab, der schnelle Wechsel der Gefühle, belebt die Handlung. Der abrupte Sinnesumschwung, wie er hier dargestellt wird, führt zur Zuspitzung und Pointierung der dramatischen Situation und suggeriert Bewegtheit des Geschehens. Zudem ist diese Situation des erzürnten Helden, der sich der schutzlosen und verzweifelten Frau erbarmt und dabei seine Vorsätze vergißt, in höchstem Maße rührend. Bei Racine ist Antiochus niemals zürnend dargestellt. „Evitons la cruelle" (3.4) war die äußerste Reaktion, als Bérénice ihn der Lüge verdächtigt. Die Stetigkeit seiner Verehrung für Bérénice schwankt nur geringfügig, seine Entsagungsbereitschaft nie. Entsprechend ist er es, der seine Tränen vor Titus und Bérénice verbergen muß 69 . Durch Umstellungen nicht nur von Handlungsteilen, sondern auch von Situationen und Figurencharakterisierungen erreicht Otway eine Akkumulation gefühlsbetonter Konfrontationen. Ohne die Verlaufsrichtung des Geschehens zu ändern, erweitert er Anzahl und Stellung der Affektausbrüche und betont die emotionalen H ö h e - und Tiefpunkte stärker. Wie bei Racine endet die Beziehung Antiochus—Berenice dort, wo sie begann, im Abschied. Doch die Anspielung auf sein Lebensende, die Antiochus schon in der ersten Unterredung vorbrachte, findet sich bei Otway jetzt abschließend zur Todesbeschwörung intensiviert. Spricht Antiochus als unglücklich Liebender bei Racine zu Bérénice lediglich von seinem Leben als „ces jours malheureux que je vous sacrifice" (5.7), so steigert er sich bei Otway in seiner Verzweiflung zur Lebensmüdigkeit: „Arsaces! on thy bosom let me lye, Whilst I but take one last dear look, and die" (3.1.463 f.). Der so aus verschmähter Liebe sterbende Antiochus ist mit dem Typ des mourant der preziösen Dichtung in Verbindung gebracht worden 70 . Doch 69

70

Vgl. Racine, 5.4, liaison de fuite zu 5.5: „Bérénice! Titus! / Dieux cruels! de mes pleurs vous ne vous rirez plus." Wheatley zitiert die Untersuchungen Daniel Mornets, Histoire de la littérature française classique, Paris 1947, S. 147, 133, der Racines Drama als in der Tradition preziöser Dichtung stehend begreift und Antiochus als T y p des mourant interpretiert. Aus Angst, die Originalität und Genialität Racines könnte durch ein Eingeständnis seiner Anknüpfung an literarische Motive und Traditionen verstellt werden, negiert Wheatley das Vorhandensein solcher Beziehungen, die sie jedoch für O t w a y , S. 34, gelten läßt: „Otway eliminates the qualities that make Racine's Antiochus atypical: the delicacy, the tenderness, the sympathetic imagination. H e obeys all the rules of the précieux madrigal."

Der Beginn der englischen Racine-Adaption:

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auch Racines Drama ist durch den literarhistorischen Hintergrund einer preziösen Liebesdoktrin leichter verständlich 71 . Das ,Durchspielen' einer spezifischen question d'amour, hier der Verzicht auf die Liebeserfüllung gerade um der Erhaltung der Liebe willen, läßt sich in Verbindung bringen mit einer Tradition der Liebeskasuistik, wie sie die preziöse Dichtung pflegte. Durch seine Verschiebungen gegenüber Racine verstärkt Otway wesentliche Züge seiner Antiochus-Figur gerade hinsichtlich dieser Tradition der poésie mourante noch zusätzlich. Doch ebenso wie die Ehrvorstellungen läßt sich dieser Liebeskult als integrativer Bestandteil der Tradition des heroischen Dramas erkennen. Otways Neigung zur stärkeren Anlehnung an traditionelle und daher dem Publikum vertrautere und eingängigere Formen der Figurenzeichnung, als er sie bei Racine vorfand, zählen zu den Mitteln der Adaption des französischen Stücks für englische Theaterverhältnisse und sollen die Rezeption für den Zuschauer erleichtern sowie die Publikumswirksamkeit des Stückes garantieren. Die liaison des scénes, von Racine aufs sorgfältigste innerhalb der einzelnen Akte beobachtet, wird trotz der Umstellungen und Streichungen ganzer Szenen von Otway — abgesehen von einer Ausnahme im ersten Akt — durchgehalten. Die zahlreichen Auf- und Abtritte der dramatischen Personen einer Handlung, die hauptsächlich durch vertraulichen Dialog fortschreitet, dienen Otway als zusätzliches darstellerisches Mittel einer auch visuellen Bewegtheit des Bühnengeschehens, denn mehr noch als die Quantität kürzt Otway die Länge der einzelnen Auftritte. Aus derselben Absicht sind die im Vergleich zu Racine erheblich zahlreicheren Regieanweisungen für Gestik und Bewegungen der Schauspieler zu verstehen. Gerade durch die relative Bewegungsarmut der Racine-Figuren erhalten die Einzelgesten signalhafte Funktion. So etwa wird Bérénices Sich-Hinsetzen und Aufstehen (5.5 und 5.7) zur darstellerischen Projektion ihres Erkenntnisprozesses und des Hineinwachsens in ihre tragische Größe. Obwohl Otway diese entscheidende Bewegung beibehält, wird sie in ihrer handlungstragenden Bedeutung verdeckt durch die gerade im letzten Akt gehäuften Anweisungen zum Niederknien und sogar Niederwerfen. Ohne zusätzliche Textänderungen hat Otway hier ein Mittel gefunden, die pathetisch-emotionalen Situationen gegenüber Racine zu verstärken und das Geschehen anschaulicher' zu gestalten. Den Höhepunkt erlangt dieses Verfahren des stummen Spiels, als Berenice von Hofbeamten am Eintreten gehindert werden soll und sich ihnen fast gewaltsam entreißen muß (3.1.68). Dies visuelle Element, das bei Racine schon vorgeprägt ist — wenn etwa die Unordnung von Kleidung und Frisur Bérénices seelischen Zustand unterstreicht 72 — wird von Otway intensiviert und verselbständigt. Nicht mehr

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Vgl. Hellmuth Petriconi, „Der Verzicht auf Liebe", Romanistisches Jahrbuch 16, 1965, S. 115—127, der neben Racines Bérénice vor allem Madame de La Fayettes La Princesse de Cleves auf diese Tradition hin untersucht. Racine, 4.2 und Otway, 3.1. 19—24.

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wird die Möglichkeit des Selbstmordes beschrieben, sondern Titus zückt schon direkt den Dolch 73 . Requisiten, Kostüme und Gestik unterstützen den gegenüber Racine gesteigerten Gebrauch metaphorischer Sprache und werden mit eingesetzt zur größeren Beweglichkeit und Anschaulichkeit der Handlung.

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Vgl. Racine, 5.6: „En l'état où je suis je puis tout entreprendre: / Et je ne réponds pas que ma main à vos yeux / N'ensanglante à la fin nos funestes adieux", mit Otways Regieanweisung 3.1. 426 f. : „Offers to stab himself."

1.3 Das neue Tragödienideal: „All for Love" Drydens All for Love ist die reinste Verkörperung eines klassizistischen Tragödienideals in England, die neben einer strengen Regelbefolgung zugleich auch Anspruch auf dichterische Meisterschaft erheben kann. Das heißt nicht, daß nicht auch in diesem Drama deutliche Merkmale einer heroischen Tradition zu finden wären oder auch Verbindungen zum älteren englischen Drama. Dryden selber stellt im Vorwort Shakespeare als Vorbild für den Stil seines Dramas heraus. Doch gerade der Vergleich mit Shakespeare ist gefährlich, weil er lange Zeit benutzt worden ist, um die Inferiorität des Dryden-Werkes gegenüber einer komplexeren, lebendigeren und poetischeren Bearbeitung des Stoffs zu betonen 74 . Der Vergleich mit den zahlreichen anderen Kleopatra-Dramen ist in dieser Beziehung für Dryden sehr viel vorteilhafter und angebrachter, da diese sowohl in Frankreich als auch in England einen klassizistischen Stil anstrebten und Dryden im Vergleich mit diesen Dramen eine Perfektion solcher Bestrebungen erkennen läßt. Eher als Shakespeares Werk sollten daher Mary Sidneys Bearbeitung von Garniers Marc Antoine (1592) oder Samuel Daniels The Tragedie of Cleopatra (1594) herangezogen werden. Gleichfalls interessant für Vergleiche und Beobachtungen von Ubernahmen und Änderungen in der Handlungsdisposition werden die späteren Kleopatra-Dramen von Thomas May (1626) und Charles Sedley (1677), für die H . Neville Davies umfangreiche Verbindungen zu Drydens Tragödie nachgewiesen hat 75 . Abgesehen davon jedoch sollte All for Love möglichst in seinem Eigenrecht und als Beispiel der Möglichkeit eines äußerst erfolgreichen 76 klassizistischen Dramas in England ab 1677 verstanden werden. 1.3.1 Die ägyptische Kulisse Als Schauplatz des Geschehens gibt Dryden Alexandria an; die nähere Bestimmung, The Temple of Isis, steht nur über dem ersten Akt, hat jedoch 74

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Ein Vergleich mit Shakespeare, der dennoch auch Dryden gerecht wird, findet sich bei Arthur H . Scouten, „Plays and Playwrights", in: John Loftis, Richard Southern, Marion Jones, A. H . Scouten, The ,Revels' History of Drama in English, Bd. 5: 1660—1750, London 1976, S. 2 6 4 — 2 6 7 . Vgl. H . Neville Davies, „Dryden's All for Love and T h o m a s May's Tbe Tragedie of Cleopatra Queen ofjEgypt", NQ 210, 1965, S. 139—144, und „Dryden's All for Love and Sedley's Antony and Cleopatra", NQ 212, 1967, S. 2 2 1 — 2 2 7 . D i e Verbindung zu Daniels Tragödie ist schon mehrfach betont worden. Charles E. Ward, The Life of John Dryden, Chapel Hill 1961, weist S. 121 darauf hin, daß die Uraufführung w e g e n interner Schwierigkeiten der Theatergesellschaft noch nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein scheint. Vgl. auch David M. Vieth, „Introduction" zu All for Love, hrsg. v. D . M. Vieth (Regents Restoration Drama Series), London 1972, S. X I V — XVII.

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Gültigkeit für das ganze Drama 77 . Keine der folgenden Szenen spielt im Freien, und wenn auch für manche ein Palast als königliche Residenz eher in Frage käme, so spricht doch nichts dagegen, daß sie nicht ebenso im Tempel stattfinden können. Es ist durchaus vorstellbar, daß sich hier der Thron der Cleopatra befindet (5, S. 77) oder Balkone vorhanden sind, von denen aus das Geschehen im Tempelraum beobachtet und belauscht werden kann (3, S. 46). Die Größe des Tempels erlaubt es, daß zahlreiche Begleitpersonen (3, S. 42) oder ganze Musikkapellen auftreten (3, S. 30). Die Heiligkeit des Ortes jedoch läßt ihn abgeschirmt und herausgehoben erscheinen gegenüber dem gemeinen Volk, den gewöhnlichen Soldaten und der Dienerschaft. Daher, wenn er nicht für Feste oder Staatsempfänge gebraucht wird, erscheint er geeignet auch für private Szenen und vertrauliche Gespräche, ja er kann sogar als Refugium dienen für den menschenscheuen Antony im ersten Akt. Weihe und Exklusivität des Sakralraums unterstreichen die Bedeutung der Dramenhandlung und lassen die Forderung nach Wahrung von Sitte und Anstand durch die auftretenden Figuren als durchaus natürlich und organisch erscheinen. Der Isis-Tempel erstellt den adäquaten Rahmen für das Schicksal von Königinnen, römischen Feldherren und Welteroberern; er wird dadurch zum zusätzlichen darstellerischen Mittel der Betonung einer von Dryden streng eingehaltenen Ständeklausel. Es wäre falsch, für diesen Mehrzweckraum Neutralität und lokale Indifferenz zu postulieren, denn Dryden versteht die Forderung nach der Einheit des Ortes gerade in ihrer strengsten Fom geschickt für die Atmosphäre und die dramatische Stimmung seines Werkes einzusetzen. Die Kulisse wird gleichsam in die Handlung einbezogen, indem schon der Schauplatz die Identität von religiöser und weltlicher Macht demonstriert, die auch für die Person der Cleopatra und ihren theokratisch organisierten Regierungsapparat gilt. Zugleich wird der Tempel Sinnbild für die Irrationalität und den religiösen Aberglauben als Grundzüge ägyptischer Mentalität. Der sichtbare Bühnenraum ist nur das Zentrum einer weitläufigen Tempelanlage: In unterirdischen Gewölben liegen — wie Serapion berichtet — die Grabstätten der Pharaonen, die so schon durch die unmittelbare Nähe zum Bühnengeschehen die historische Dimension der Handlung akzentuieren und ausweiten. Die Atmosphäre schaffende Eingangserzählung vervollständigt durch die Erwähnung des Nils den Schauplatz. Er wird zur komplexen Lokalität. Die Bühnendekoration wird durch die Wortkulisse ergänzt. Nil, Tempel und Pharaonengräber konstituieren ein Klischee, wie man es für Ägypten erwartet, doch weiß Dryden es von Anfang an mit lebendigem Kolorit zu füllen. Durch Berichte von Überschwemmungen, Geistererscheinungen und Erwähnung so fremdartiger Tiere wie Seehunde, 77

D a All for Love noch nicht in der C a l i f o r n i a - D r y d e n - A u s g a b e vorliegt, wird nach der Erstausgabe von 1678, repr. Menston 1969, zitiert.

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Delphine und Nilpferde werden die exotischen Vorstellungen gefüllt und überhöht 78 . Die Exotik des Ortes wird schließlich vervollständigt durch die von Alexas der Priesterschaft vorgeworfene Neigung zu üppigen Gelagen und holy luxury (S. 2). Im Kontrast zur Fruchtbarkeit des Landes — fruitful ist das charakteristische Epitheton zur Beschreibung des Nils, und von plenteous Harvests ist die Rede — steht die Eigenart der Bewohner, ihre Feigheit und ihre Servile hearts (S. 2). Doch auch die Fruchtbarkeit der Nilüberschwemmungen, die durch ungezügelte Vehemenz und unzeitiges Auftreten nicht Wohlstand der Bewohner, sondern Chaos, Zerstörung und T o d bewirken, wird fragwürdig. Die ungeordnete und daher verderbliche Überfülle der Naturerscheinung wird hier, wie Eugene M. Waith gezeigt hat, von Dryden als symbolischer Hinweis auf die in ihrer irregular greatness genauso verderbliche Liebe der Protagonisten verwandt: „Serapion's description of the flood, already suggested as an analogue for Antony's love, may be associated even more properly with Cleopatra's 79 ." Doch auch schon innerhalb des Dramas ergibt der geographisch-ethnologische Teil der Exposition den Ansatzpunkt für eine Beschreibung Cleopatras. Wie üppiger Pflanzenwuchs windet sie sich nach den Worten des Alexas um Antony und ist daher ursächlich verantwortlich für dessen Versagen: „She [ . . . ] winds her self about his mighty ruins" (S. 3). Die Verbindung des Schlingpflanzenvergleichs mit dem Ruinenbild pointiert das zerstörerische Element einer zu üppigen und daher destruktiv wirkenden Vegetation. Doch die Eigenart von Land und Klima bildet auch den Ausgangspunkt für Cleopatras Selbstverständnis: „If bounteous Nature, if indulgent Heav'n Have giv'n me charms to please the bravest Man; Should I not thank 'em?" (3, S. 43). Sie selbst betont natürlich nicht die Gefahren dieser Naturgaben. Aber auch Dryden zeichnet die verführerische Schönheit nicht als Voraussetzung eines intriganten, machthungrigen, launischen oder zwielichtigen Wesens, sondern will in seiner Heldin eher die Konstanz und unverbrüchliche Treue einer übergroßen Liebe repräsentiert sehen. Cleopatra wird niemals schwankend in ihrem Kampf um Antony und trotz ihrer eingestande78

79

Vgl. zu diesen Namen und ihren klassischen Quellen Montague Summers in: John Dryden, The Dramatic Works, hrsg. v. M. Summers, 6 Bde., London 1931 — 1932, Bd. 4, S. 516. Vgl. auch James E. Tierney, „Biblical Allusion as Character Technique in Dryden's All for Love" ES 58, 1977, S. 312—318; S. 314: „Dryden's introducing his play with prodigies, then, can be seen as calculated to create an atmosphere of the supernatural, of an otherworldliness that would implicitly associate his hero with some larger Providential role in the world's history." Eugene M. Waith, The Herculean Hero, N e w Y o r k - L o n d o n 1962, S. 193; S. 1 8 8 - 2 0 0 , repr. in Twentieth Century Interpretations of „All for Love", A Collection of Critical Essays, hrsg. v. B. King, Englewood Cliffs/N. J. 1968, S. 7 2 - 8 2 ; S. 76. Vgl. auch Derek W. Hughes, „The Significance of All for Love", ELH 37, 1970, S. 540—563; S. 542 f.

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nen extravagance of Love (2, S. 29) besteht sie doch mit Recht darauf, daß ihre Veranlagung sie eher zur treusorgenden, selbstverleugnenden Frau bestimmte : „Nature meant me A Wife, a silly harmless household Dove, Fond without art; and kind without deceit" (4, S. 47). Die historischen Umstände versagen ihr jedoch die Erfüllung dieser eigentlichen Bestimmung. Die Uberfülle und Unabdingbarkeit ihrer Liebe werden daher für sie und Antony tödlich. Gegenüber der von Dryden sorgfältig aufgebauten und bis in den Entwurf der Figuren reichenden äyptischen Kulisse wird das Römerlager des Octavius im Süden der Stadt kaum beschrieben. Anders als seine Vorgänger Daniel und Shakespeare, aber auch noch May und Sedley ist bei Dryden die Gegenpartei, Octavius und sein Heer, von der dramatischen Darstellung ausgespart 82 . Als amorphes Phantom vorgestellt, liegt die dramatische Funktion des unsichtbaren Römerlagers in seiner ständig gegenwärtigen Bedrohung des ägyptischen Staates und seiner augenblicklichen römischen Besatzer, die jedoch schon weitgehend absorbiert und in die ägyptische Kulisse eingepaßt worden sind. In genauer Opposition zu der übermäßigen Fruchtbarkeit Ägyptens wird dem römischen Volk scarceness of their Soil(S. 3) nachgesagt. Entsprechend weit ist Octavia vom Zauber und Liebreiz Cleopatras entfernt, für deren Verführungskünste sie nur Verachtung empfindet: „Far be their knowledge from a Roman Lady, Far from a modest Wife. Shame of our Sex, Dost thou not blush to own those black endearments T h a t make sin pleasing?" (3, S. 43). Die Freudlosigkeit ihrer Tugend läßt Octavias Makellosigkeit nüchtern und kühl erscheinen. Bruce King spricht von „the cold virtue of Octavia 81 ". Und als kühl und berechnend wird auch der Widersacher Antonys, Octavius Caesar, in Berichten dargestellt: „O, 'tis the coldest youth upon a Charge, The most deliberate fighter!" (2, S. 19). In der Tragödie der Liebenden ist sein Auftreten unangebracht 82 . Gerade als stete Herausforderung und Bedrohung wird seine unsichtbare Gegenwart um so wirkungsvoller und hebt sich als das ,Nichtgezeigte', als das nur 80

81 82

Vgl. besonders Davies, „Dryden's All for Love and Sedley's Antony and Cleopatra" S. 223: „Without actually setting a scene in Octavius's camp Dryden is able, by description which fits naturally into the dialogue, to make its presence much more vividly felt than Sedley does." Vgl. ebd. besonders die Gegenüberstellung der beiden Dramenanfänge. Bruce King, Dryden's Major Plays, Edinburgh —London 1966, S. 145. Vgl. O t t o Reinert, „Passion and Pity in All for Love", The Hidden Sense, hrsg. v. K. Smidt, Oslo 1963, S. 176—195; S. 193: „Reason may win the world, but we never see it take command. It is good theatre but even better literature to keep Octavius off the stage till the end. This is the lovers' play."

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in seinen Ausläufern und Vorboten Angekündigte, um so schärfer vom ägyptischen Hintergrund ab. Positiv verstanden, bedingt die kühle Rationalität des Octavius aber auch die historische Größe und die kriegerische Tapferkeit des Römers. Warlike port, fierce demeanor, erected look sind nicht nur die eulogischen Attribute des Ventidius, der als erster Römer in diesem Stück auftritt, sondern zugleich wird sein äußeres Erscheinungsbild als Ausdruck einer entsprechenden Geisteshaltung verstanden und stellvertretend für die positive Wertung Roms in Kontrast zu den in religiösem Aberglauben oder intriganter Machtgier befangenen faint Aegyptians dargestellt (S.2). Gegenüber dem demagogischen Priester und dem Politiker Alexas, der seinerseits den Priester zu beeinflussen sucht, um das Volk seinen eigenen Plänen gefügig zu machen, stellt Ventidius den Prototyp des aufrechten, unbestechlichen Römers dar: „A braver Roman never drew a Sword. Firm to his Prince; but, as a friend, not slave. H e ne'r was of his pleasures; but presides O ' r e all his cooler hours and morning counsels: In short, the plainness, fierceness, rugged virtue Of an old true-stampt Roman lives in him" (S. 4). Von ägyptischer Seite nur widerwillig eingestanden, kommt diesem Urteil Gültigkeit und Objektivität zu. Es schafft zu Beginn des Stückes das Feld für den Antagonismus zweier oppositioneller Kräfte, in deren Einflußsphäre sich Antony befindet. Dieser Kontrast zwischen Ägyptern und Römern wird durch das ganze Stück hindurch konsequent verfolgt und gesteigert. Serapion als Sprachrohr ägyptischer Mentalität verkündet auf Befehl Cleopatras trotz Antonys militärischer Niederlage bei Actium ein Fest zu Ehren seines Geburtstages.: „Set out before your doors The Images of all your sleeping Fathers, With Laurels crown'd" (S. 5). Demgegenüber verkündet Ventidius nicht auf Befehl, sondern aus eigener Erkenntnis einer angemessenen Zurückhaltung eine genau entgegengesetzte Einstellung: „Hide, for shame, You Romans, your Great grandsires Images, For fear their Souls should animate their Marbles, T o blush at their degenerate Progeny." Dieser Gegensatz der Mentalitäten und Lebensstile wird bis hin zur akustischen Differenz der respektiven Staatskapellen verfolgt. Noch ehe im dritten Akt die eindrucksvolle Demonstration erfolgt, weist Ventidius bereits auf diese Differenz hin: „Let your yEgyptian Timbrels play alone; N o r mix Effeminate Sounds with Roman Trumpets" (S. 6f.).

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Römische Tapferkeit und Stärke im Gegensatz zu ägyptischer Dekadenz spiegeln sich auch noch in den nationalen Musikinstrumenten. Ventidius, als der ideale Römer, weist das ägyptische Wesen in prononcierter Form von sich. Da Dryden jedoch im ganzen Stück keine grundsätzlich negativ konzipierten Römerfiguren auftreten läßt, bleibt als Hintergrund für die Gestalt und die Entscheidungen des Antony das gespannte Kontrastverhältnis zwischen positivem Römertum und negativem Ägyptertum bestehen. Ventidius, als der männlich-vernünftige, klare und überlegene Pol, setzt sich selber scharf ab vom Eunuchen Alexas, den er als „Antony's other Fate" bezeichnet (S. 6). Die überlegene Position des Ventidius und seine Macht über Antony verfallen erst dann, als er sich der ägyptischen' Praktiken bedient und durch Belauschen und falsche Berichterstattung zusätzliche Mittel zur Bekehrung Antonys zu römischer Härte und Initiativfreudigkeit erhofft (4, S. 46 f. und S. 53 f.). Außerhalb seiner römischen Aufrichtigkeit ist Ventidius zum Scheitern verurteilt 83 . Der Kontrast zweier Welten, Rom und Alexandrien, zunächst nur als Hintergrund angelegt, gerät, wo er nicht mehr anerkannt und aufrechterhalten wird, — zunächst bei Antony, dann bei Ventidius — in die Handlungszusammenhänge des zentralen Geschehens. Die Spannung zwischen dem sinnlich-gegenwärtigen Ägypten und der charismatischen Rom-Idee wird zum bedingenden Faktor des tragischen Verlaufs. Ventidius' im Zorn geäußerte und als Beschimpfung gedachte TempelApostrophe wird im Verlauf des Stücks schließlich zum Eingeständnis seiner Ohnmacht werden: „You dare not fight for Antony, go Pray, And keep your Cowards-Holy-day in Temples" (S. 7). Dem geschlossenen Schutzraum des Tempels wird das offene Schlachtfeld als der angemessene O r t einer Demonstration römischer Tapferkeit und Größe entgegengehalten. In Drydens Drama ist dieser Alternativ- und Kontrastschauplatz jedoch nur im Wunschdenken der Römerfiguren präsent. Rom und das römische Lager sowie alle Kampfschauplätze sind jeweils nur Erinnerung und Wortkulisse, in ihrer stärksten Form Vision, die sich effektvoll abhebt von der konkret vorhandenen visuellen Kulisse des Tempels. Dieser Tempel wird zum Musterbeispiel einer dramatischen Technik, die die Begrenztheit des klassizistischen Einortschauplatzes nicht zu neutralisieren braucht, um ihn erweitern zu können, sondern ihn durch die Integration in das Dramengeschehen lebendig und anschaulich ausgestaltet.

83

Vgl. H o w a r d D. Weinbrot, „Alexas in All for Love: His Geneology and Function", SP 64, 1967, S. 625—639; S. 635 zum 4. Akt: „The honest Ventidius is corrupted, as he, Dolabella, Octavia, — and even Cleopatra — become schemers, assume a role similar to Alexas' and bring Tragedy. Roman bluntness and virility take on the eunuch-courtier's tones and methods and, as a result, lose their positive power over Antony."

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1.3.2 Traurigkeit und tragische Notwendigkeit Drydens Entschluß, das heroic play, das er selber entscheidend mitgeformt hatte, aufzugeben, findet sich angekündigt im Widmungsschreiben zum vorangehenden Drama Aureng-Zebe. Hier entwickelt Dryden Pläne für ein heroicpoem\ „If I must be condemned to rhyme, I should find some ease in my change of punishment 84 ." Doch statt ein höfisches Heldenepos zu schreiben, bleibt Dryden bei seiner unmittelbare finanzielle Vergütung garantierenden dramatischen Arbeit, gibt jedoch das heroic play auf: „Passion's too fierce to be in fetters bound, And Nature flies him like enchanted ground 85 ." Diese im Prolog zu Aureng-Zebe angegebene Begründung einer größeren Freiheit der Sprache und Natürlichkeit der Darstellung im Blankvers führt bei Dryden in stärkerem Maße als bei seinen Zeitgenossen — die diese Abkehr von der Reimbindung übernehmen — schon in seinem ersten, vom dichterischen Anspruch her noch unsicheren Versuch 86 zu einer auch inhaltlichen Neukonzeption der Figurenzeichnung und Handlungsentfaltung: „The blank verse tones down any epic or heroic implications and makes the emotions appear more human 87 ." Die Neuheit des Unternehmens 88 erfordert die Vorbereitung des Publikums im Prolog. Die Begeisterung und der überschwengliche Tatendrang des heroischen Helden, des vertrauten Bully, weicht der Niedergeschlagenheit Antonys, die aus seinem Unvermögen, den einander jetzt entgegengesetzten Anforderungen Liebe und Ehre gleichermaßen gerecht zu werden, resultiert. Der aktive und tatendurstige Held wird durch einen tatunfähigen, passiv-kontemplativen Protagonisten ersetzt: „His Heroe, whom you Wits his Bully call, Bates of his mettle; and scarce rants at all: He's somewhat lewd; but a well-meaning mind; Weeps much; fights little; but is wond'rous kind." Es sind keine staunenswerten Wunder an Tapferkeit oder furchteinflößende Racheschwüre zu erwarten, sondern es handelt sich um eine traurige, das Mitgefühl erweckende Liebeshandlung: „ [ . . . ] a Tale [ . . . ] / As sad as Dido's." Entsprechend der im Prolog und zu Dramenbeginn gegebenen Beschreibung tritt Antony with a disturb'd Motion das erste Mal vor die 84

85 86

87 88

Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 190. Dieses Schreiben ist nach der Aufführung von Aureng-Zebe für die Druckfassung entstanden, genauso wie auch der Prolog wohl erst nach der Fertigstellung des Stücks geschrieben wurde und daher schon auf das folgende Drama hinweist. Ebd., Bd. 1, S. 192. Vgl. Prolog zu All for Love: „He [i.e. the poet] fights this day unarm'd; without his Rhyme." King, S. 134. D . h. für Dryden. Lees erster Blankversversuch, The Rival Queens, erscheint schon vor All for Love. D e m Publikum war der Blankvers ohnehin durch die häufigen Aufführungen älterer Stücke vertraut.

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Zuschauer und entwickelt die Verzweiflung seiner gegenwärtigen Situation : „Why was I rais'd the Meteor of the World, H u n g in the Skies, and blazing as I travel'd Till all my fires were spent; and then cast downward T o be trod out by Ccesar?" (1, S. 7). Das geläufige Bild des Meteors 89 , der durch sein Feuer sich selbst zerstört und so im Aufleuchten schon seinen Fall und sein Verlöschen enthält, wird hier als Sinnbild des Eroberers 90 noch verstärkt durch die Idee des doppelten Untergangs: Dem schicksalhaften Fall folgt die völlige Vernichtung durch den Gegner. Octavius vollendet nur, was in Antony schon vorher angelegt war: die tragische Notwendigkeit des Untergangs. Er ist nicht der bedingende Faktor von Antonys Ende, sondern lediglich Vollzugsorgan. Mit diesem anfänglichen Stimmungsbild, den ominösen Zeichen und Wundern wie auch der Gemütsverfassung des Helden ist der Beginn des Endes angezeigt. Antony hat bereits resigniert und mit seinem Leben abgeschlossen. Die anschließend demonstrierten Umschwünge, die von Dryden kunstvoll konstruierten turns of thoughts and actions91, sind als Möglichkeiten eines positiven Ausgangs keine Realalternativen mehr, sondern nur noch Spiegelbilder, schwächere Versionen von früheren Möglichkeiten, die vor dem Einsetzen der im Drama dargestellten Schlußphase bestanden. Das Drama behandelt die zeitliche wie logische Spanne zwischen Belagerung und Eroberung Alexandriens durch Octavius, den Moment zwischen der Niederlage und der völligen Vernichtung Antonys. Antony ist der Welteroberer, der am Ende angelangt ist, der von dem größeren Eroberer besiegt wird; seine Vernichtung erfolgt jedoch nicht durch unmittelbare Überlegenheit des neuen Eroberers, sondern durch den selbstbedingten Fall wird er zur Beute seines Nachfolgers. Als ruin bezeichnen die Opponenten Ventidius (S. 7) und Alexas (S. 3) ihn gleicherweise, und ebenfalls wird der Be89

90

91

Der Meteor oder Komet ist Bestandteil der Chaos-Imprese und erscheint unter dem Motto „Sine Iustitia, Confusio" in den Emblembüchern von Barthélémy Aneau, Picta Poesis (1552), und Geoffrey Whitney, A Choice of Emblemes (1586): vgl. Whitney's Choice of Emblèmes, hrsg. v. H . G r e e n , London 1866, S. 122 und Anhang, Tafel 33; auch: H e n r y Green, Shakespeare and the Emblem Writers, An Exposition of Their Similarities of Thought and Expression, London 1870, S. 449 f. Die Bedeutung der Emblembücher für die englische Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts untersucht Rosemary Freeman, English Emblem Books, London 1948. Speziell für das barocke Drama wird die Bedeutung der Emblematik — leider nur f ü r Deutschland — herausgestellt von Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 2 1968. Vgl. den satirischen Gebrauch dieses Bildes bei Matthew Prior, „An English Ballad, O n the Taking of N a m u r by the King of Great Britain, 1695", Strophe 12, The Literary Works of M. Prior, hrsg. v. H. B. Wright und M. K. Spears, 2 Bde., Oxford 1959, Bd. 1, S. 149, Z. 131 f., wo er auf Boileaus Vergleich Louis' XIV. mit einem Stern antwortet: „If T h o u had'st dubb'd thy Star, a Meteor / T h a t did but blaze, and rove, and die." Dieser gängige Vergleich der auf vergänglichem und wankelmütigem Schlachtenglück basierenden Größe des Eroberers mit dem Meteor findet sich auch in Schillers Wallensteins Tod. Zusammenfassend aufgezählt u. a. bei Vieth, „Introduction", S. XVIII.

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griff prey gleich zweimal auf Antony angewandt. In den Wendungen Alexas' „This hunted prey" und Serapions „And makes his heart a prey to black despair" kommt die doppelte Terminiertheit des Protagonisten klar zum Ausdruck. Er wird als Beute gejagt, aber bietet sich gleichzeitig auch schon als Beute der eigenen Verzweiflung dar. Den äußeren Umständen entspricht seine innere Bereitschaft. Antonys melancholische Reflexion wird angeregt durch die Besinnung auf die Bedeutung des Tages. In der oxymorischen Wendung vom doppelten Prunk der Traurigkeit', mit dem er seinen Geburtstag feiern will, kündigt sich zugleich der Wille zur Hinnahme seines Schicksals und zur Bejahung seines eigenen Endes an. Zugleich schafft diese tristesse majestueuse aber auch, als wichtigstes Ingredienz der Freude des Zuschauers von Racine beschrieben 92 , den Horizont der klassizistischen Tragödie wie des barocken Trauerspiels. Schon bei seinem ersten Auftritt hat Antony nicht mehr die Kraft, sich aus seiner gegenwärtigen Situation zu befreien und die militärische Niederlage, die zu einer menschlichen geworden ist, zu überwinden. Selbstmitleid und pessimistisches Schicksalsbewußtsein prägen die Untergangsstimmung des gebrochenen Helden 93 . Sein Ende wird von ihm selbst schon antizipiert und als besiegelt dargestellt. Die Handlung des folgenden Dramas entfaltet nur noch letzte Verzögerungen, Umwege, Ablenkungen und kurz aufschimmernde Hoffnungen. Damit hat Dryden die klassische Situation der Tragödie gewählt, nämlich die Endsituation. Die bedingenden Umstände des Geschehens werden in der Exposition des ersten Aktes in Dialog und Bericht referiert; in der anschließenden Handlung werden sie nur noch zum fatalen Schluß verdichtet und zusammengezogen. Schluß bedeutet jetzt sowohl Folgerung aus dem Vorangegangenen, dem vor dem dargestellten Bühnengeschehen abgelaufenen Handlungsteil, als auch Ende allen Geschehens. Die Niedergeschlagenheit Antonys zu Beginn des Dramas wird in der Unterredung mit Ventidius besiegt. Damit erscheint am Ende des ersten Aktes diese Disposition als momentane und jetzt überwundene Augenblicksstimmung: „Come on, My Soldier! O u r hearts and armes are still the same: I long Once more to meet our foes 94 ." 92 93

94

Racine, S. 299. Vgl. King, S. 134: „When he first appears on stage he is self-pitying and rehearses his fate." Vgl. aber auch eine Interpretation Drydens als Shakespeare-Imitator bei Frank J. Kearful, „'Tis Past Recovery': Tragic Consciousness in All for Love", MLQ 34, 1973, S. 2 2 7 — 2 4 6 ; S. 239: „ [ . . . ] the abundant, multifaceted energy and vitalism of Antony and Cleopatra had become in All for Love the half-life radiation of characters, images, and imagined scenes drawing all their life from an irrecoverable past." 1. S. 15. Dryden schreibt über diese Szene, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 231: „I prefer the scene betwixt Antony and Ventidius in the first act to anything which I have written in this kind." Zugleich entspricht diese Auseinandersetzung und Versöhnung von Freunden einer ähnlichen, in Troilus and Cressida eingeführten Szene, die Dryden gegen mögliche An-

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D u r c h Ventidius hat A n t o n y zu seinem ursprünglichen Kampfgeist und T a tendurst zurückgefunden. Diese f r o h e Zuversicht und forcierte Forschheit sind es j e d o c h in Wirklichkeit — genauso wie die kurze Erfolgssituation durch das Scharmützel mit dem G e g n e r zwischen dem zweiten und dritten Akt, die einzige faktische T a t Antonys im ganzen D r a m a — , die nur augenblicklich sind und nur für kurze Zeit die wahre Lage Antonys kaschieren. Resignation und Pessimismus kehren in veränderter F o r m und oftmals gewandelter Begründung immer hartnäckiger zurück. D e r Geburtstag Antonys ist zugleich sein T o d e s t a g . D e n begrifflichen Widerspruch dieser Vorstellungen nutzt D r y d e n aus, indem er durch die strenge Einhaltung der dramenästhetischen F o r d e r u n g nach Einheit der Zeit diese Einheit in dramatischer Ubersteigerung zur tragischen Ironie ausbildet und diese Opposition als zusätzlich Atmosphäre schaffendes R e quisit einsetzt: „ T h e y teil me, 'tis my Birth-day, and I'll keep it W i t h double pomp o f sadness" ( S . 7). D i e metrische Unvollständigkeit der zweiten Zeile verleiht der Willensäußerung Antonys an dieser Stelle des D r a m a s besonderes Gewicht. D i e verfremdete Einleitung der Äußerung durch They teil me bezeichnet bereits in den ersten W o r t e n des D r a m e n h e l d e n seine disengagierte H a l t u n g und seine esoterisch-weltentrückte Gemütsverfassung. U b e r die Charakterisierung einer Augenblicksstimmung hinaus gewinnt Antonys erste Aussage programmatische Funktion für den Gesamtverlauf des Stücks. 1.3.3 Poetische G e r e c h t i g k e i t und M o r a l Serapion, der Priester der Isis, hat als letzte der im Personenverzeichnis namentlich aufgeführten männlichen Figuren eine entsprechend kurze R o l l e in Drydens D r a m a . E r ist g e k e n n z e i c h n e t durch seine Animosität gegenüber Alexas, dem E u n u c h e n und V e r t r a u t e n der K ö n i g i n , genauso wie durch seine absolute Loyalität gegenüber der K ö n i g i n selber. Zusammen mit seiner expositorischen Funktion zu Beginn und seiner das D r a m a beschließenden V e r h a f t u n g des Alexas hat Serapion nur drei Auftritte. S e r a pion wie Alexas sehen zu Beginn des Stücks deutlich die prekäre Situation des ägyptischen Reiches. Alexas als Realpolitiker bezieht sich auf k o n k r e t e Fakten, nämlich die N ä h e und U b e r m a c h t des römischen H e e r e s unter O c tavius (S. 2). Serapion als Priester dagegen deutet auf die drohende G e f a h r hin durch Berichte über Geistererscheinungen und andere unheilvolle V o r zeichen. D r y d e n , in seinem klassizistischen Bestreben um eine minimale Figurenzahl, hat Exposition, V o r g e s c h i c h t e und Einführung der handelnden P e r s o n e n , sonst oft A u f g a b e von D i e n e r n oder anderen Nebenfiguren, zwei äußerst wichtigen Figuren beigelegt. D u r c h ihre konträre Einstellung griffe, wie etwa R y m e r sie gegen B e a u m o n t und Fletcher durchführte, zu immunisieren versucht durch den kombinierten Hinweis auf Euripides und S h a k e s p e a r e : Bd. 1, S. 241 f.

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werden zwei entsprechend gegensätzliche Aspekte derselben Situation mitgeteilt und kontrastiert. Alexas als Vertrauter der Königin ist zugleich die treibende Kraft, wenn es um politische Schachzüge geht, um Vortäuschungen und falsche Versprechungen. Als Intrigant trägt er zur Prezipitation der H a n d l u n g bei und löst durch seinen falschen Bericht vom T o d der Cleopatra die Katastrophe aus (5, S. 69). Er ist der eigentliche Schurke dieses Stücks und „the play's least attractive character, tarnished as he is by cowardice, envy, selfishness, and fawning hypocrisy" 95 . Die Motivation seines opportunistischen Verhaltens wird durch seine patriotische Einstellung gegeben. Sein machiavellistisch-selbstsüchtiges Vorgehen stempelt ihn jedoch als moralisch defekten Übeltäter ab. Serapion dagegen ist als Priester Mittler zwischen Königin und Volk und damit Ausdeuter des Geschehens auf höchster Ebene f ü r die breite Masse. In der übertragenen Funktion dieses Amtes wird er von Dryden als Schlußkommentator f ü r das Publikum eingesetzt und erhält schon vorher chorische und seherische Eigenschaften, die dem Zuschauer die vom Dichter intendierte Geschehensdeutung signalisieren. Er ist der erste, der den Untergang Ägyptens begreift und ihn zum Ausdruck bringt in W o r t e n , die dem von ihm anfangs berichteten Schicksalsspruch entsprechen. Die Wahrsagung der Pharaonengeister zu A n f a n g des Stücks „jEgypt is n o more" (S. 2) sieht Serapion erfüllt, wenn er im f ü n f t e n Akt von der verlorenen Seeschlacht berichtet, in der die ägyptische Flotte kampflos zum Feind überging: „ O h o r r o r , horror! Egypt has been; our latest h o u r is come: T h e Q u e e n of Nations f r o m her ancient seat, Is sunk f o r ever in the dark Abyss: Time has unrowl'd her Glories to the last, And n o w clos'd up the V o l u m e " (S. 65). Alexas, der schon den Geisterbericht zu Beginn des Dramas nicht ernst nahm und als absichtsvollen Betrug ansah (1, S. 2), mokiert sich auch jetzt über Serapions Erregung: „ H o w frightfully the holy Coward stares!" Doch Cleopatra bestätigt den visionären Aspekt der priesterlichen Ausdeutung der Niederlage: „Fate is in thy face, Which f r o m thy haggard eyes looks wildly out, And threatens ere thou speak'st" (S. 65). D u r c h sein Amt ist Serapion das Walten des Schicksals eher offensichtlich. Die W e l t o r d n u n g ist f ü r ihn schon durch die Vorzeichen und Erscheinungen gestört und durch die militärische Niederlage endgültig zerbrochen. 95

Reinert, S. 190. Zu Genealogie und Funktion der Alexas-Figur vgl. Weinbrot, „Alexas in All for Love." Vgl. auch Alan S. Fisher, „Necessity and the Winter: The Tragedy of All for Love", PQ 56, 1977, S. 1 8 3 - 2 0 3 ; S. 200 f.

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Mit furchtvoller Gewißheit erwartet er die sich ankündigenden weiteren Schreckensereignisse. Am Ende des Dramas findet Serapion die Leichen Antonys und Cleopatras. Das Schreckliche ist eingetreten, Alexandrien von den Römern erobert, die Königin und der von ihr gewählte Römer — Antony und nicht Octavius — sind tot. Die tragische Vorahnung hat sich erfüllt, und in der Erfüllung hat das Geschehen für Serapion allen Schrecken verloren, hat eher rührende Züge erhalten. Cleopatra, im Tode vereint mit dem Geliebten, scheint zu lächeln: ,,Th' impression of a smile left in her face" (S. 78). Wie der Bericht von der Geistererscheinung zu Beginn Furcht einflößt, so erzeugt der Schlußbericht Serapions nach der schauerlichen Art des Doppelselbstmordes einen mild-beruhigenden Ausklang: „[.. .] an unexpected calm, approaching serenity 96 ." Ausgeschlossen von dieser Mildheit Serapions ist Alexas. Als villain, der auslösend für die schreckliche Seite der Selbstmorde war, sieht er seiner gerechten Strafe entgegen. Er hat nicht teil an der Exkulpation und Apotheose der Liebenden, wie sie Serapions Schlußbemerkung über das im Tode ,gesegnete' Liebespaar — blest pair — zum Ausdruck bringt: „And Fame, to late Posterity, shall teil, N o Lovers liv'd so great, or dy'd so well" (S. 78). Doch wie Serapion am Schluß über seinen Widersacher Alexas triumphiert, dem er auch zwischendurch (S. 67) nichts Gutes wünscht, so ist auch in seinem abschließenden Bericht eine gewisse Genugtuung über den Ausgang des Geschehens nicht zu überhören. Es ist nicht nur die Tapferkeit der Liebenden, die er in der Durchführung des Selbstmordes bewundert, oder die Großartigkeit des Entschlusses, die derjenigen der vorangegangenen Lebensführung entspricht, sondern er meint hier auch eine gewisse Angemessenheit und Berechtigung im T o d Antonys und Cleopatras zu sehen. Die Weltordnung, die durch die Vorzeichen und Geistererscheinungen bewiesenermaßen durcheinandergeraten war, ist durch den T o d der Liebenden wiederhergestellt worden 97 . Eine Umstellung der Adverbien des Schlußsatzes „ N o Lovers liv'd so great, or dy'd so well", die seine leere Formelhaftigkeit und unverbindliche Beliebigkeit erweisen würde, ist nicht möglich, ohne Drydens Intention zu zerstören. Der Doppelselbstmord ist das gute Ende eines großen Lebens. Diese genugtuende Feststellung Serapions, der Kommentar des Moralisten und Rezeptionslenkers 98 , wird von Dryden in seinem Vorwort noch 96

97

-

98

Eugene M. Waith, „Dryden and the Tradition of Serious Drama", Writers and Their Background, hrsg. v. E. Miner, London 1972, S. 58 — 89; S. 84. Vgl. Rebecca Armstrong, „The Great Chain of Being in Dryden's All for Love", A Provision of Human Nature, Essays on Fielding and Others in Honor of M. A. Locke, hrsg. v. D . Kay, Alabama 1977, S. 1 3 3 - 1 4 3 . Vgl. hierzu Rolf Fieguth, „Zur Rezeptionslenkung bei narrativen und dramatischen W e r ken", Sprache im technischen Zeitalter 47, 1973, S. 1 8 6 — 2 0 1 ; bes. S. 193, den Begriff des „idealisierten Empfängers".

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stärker herausgehoben und im Sinne einer poetischen Gerechtigkeit, wie Rymer sie fordert, interpretiert: „I mean the excellency of the moral. For the chief persons represented were famous patterns of unlawful love; and their end accordingly was unfortunate 99 ." Doch in dieser überspitzten Formulierung eines Vergeltungsmechanismus von bewußtem Verbrechen und verdienter Strafe ist Drydens Liebeshandlung gerade nicht begreifbar. Unter dem Einfluß von Rymers Abhandlung scheint Dryden die nachträgliche Einpassung seiner Dramenhandlung in die dort erhobenen Forderungen anzustreben. Denn die übergroße Liebe der Protagonisten findet im gemeinsamen Tod gerade nicht ihre Strafe, sondern ihre Erfüllung. Cleopatra versteht ihren Tod nicht als eine ihr auferlegte Sühnetat, sondern gerade umgekehrt als ein Sich-Entziehen von aller irdischen Verantwortung und Gerechtigkeit: „O turn me to him, And lay me on his breast. — Casar, thy worst; Now part us, if thou canst" (5, S. 78). Indem sich Antonys und Cleopatras Liebe im Tod erfüllt, erreicht Dryden eine der im Vorwort getroffenen Feststellung gerade entgegengesetzte Wirkung, nämlich eine Glorifizierung der unlawful love. In diesem Punkt hat sich schon Samuel Johnson gegen den ethischen Gehalt des Stückes ausgesprochen und hier einen entschiedenen Verstoß gegen die didaktische Aufgabe des Theaters gesehen: „[. . .] it has one fault equal to many, though rather moral than critical, that by admitting the romantick omnipotence of Love, he [ i. e. Dryden ] has recommended as laudable and worthy of imitation that conduct which through all ages the good have censured as vicious, and the bad despised as foolish 100 ." Doch gerade die Omnipotenz der Liebe und ihr Sieg im Tod geben dem Stück den für eine Tragödie notwendigen Bezug zur Transzendenz. Auch wenn in den Protagonisten keine in ihrem sozialen Verhalten vorbildlichen Muster an Tugend dargestellt werden, so sind sie doch nicht als abschreckend und verdammungswürdig gezeigt. Insofern hat ihr Tod doppelten Charakter. Zum einen manifestiert er das Ausscheiden aus der nach fixierten Regeln funktionierenden menschlichen Gesellschaft, gegen die Antony und Cleopatra verstoßen haben. Ihr Tod kann, wie Dryden es im Vorwort darzustellen sucht, in einem vordergründig-immanenten Sinn als Strafe für soziales Fehlverhalten verstanden werden. Zum anderen aber ist der Tod Sublimierung und Überhöhung, Triumph einer ,unirdischen' Liebe. Antony selber stellt den Widerspruch von irdischer Immanenz gesellschaftlicher Normen und Transzendenz einer absoluten und unbedingten Liebesbindung dar und hebt den Tod als einziges Mittel der Lösung dieses Konfliktes schon zu Beginn des Stückes heraus. Seiner Witwe Octavia kommen seine irdischen Reste zu, Cleopatra aber wird ihm im Tod verbunden bleiben: 99 100

Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 222. Johnson, Lives of the English Poets, hrsg. v. G. B. Hill, 3 Bde., Oxford 1905, Bd. 1, S. 361.

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„When thou'rt contracted in thy narrow Urn, Shrunk to a few cold Ashes; then Octavia, (For Cleopatra will not live to see it) Octavia then will have thee all her own" (1, S. 7). Diese Wahrung gesellschaftlicher Konventionen in der Anerkennung des Bestattungsrechts der Witwe ist zugleich auch Aufhebung und Beendigung der Ehe. Aus dem jenseitigen Triumph einer sich über diese innerweltliche Gesetzgebung hinwegsetzenden Liebesbindung strahlt das Glück der Erfüllung auf die Hinterbliebenen zurück: „See, see how the Lovers sit in State together, As they were giving Laws to half Mankind" (5, S. 78). Die illegale Bindung, nicht die gesetzliche Ehe wird abschließend als Vorbild dargestellt, zugleich wird aber auch die Unmöglichkeit einer anderen als transzendenten Erfüllung herausgestellt. Die Liebenden sind tot. Im Lächeln der toten Cleopatra kann der Zuschauer Genugtuung empfinden über ihren rührenden Sieg über die weltlichen Zwänge, gleichzeitig aber ist es Warnung vor einer H o f f n u n g auf irdische Erfüllung ungesetzlichen Verhaltens. Serapion bringt in seiner Schlußerläuterung beide Aspekte zum Ausdruck 101 . Da jede didaktische Unterweisung eindeutig sein muß, um möglichst große Effektivität in der Vermittlung des Lehrinhalts zu erreichen, hat Rymer seine Vorstellung vom Begriff der poetischen Gerechtigkeit, die die Basis des didaktischen Auftrags der Dichtung darstellt, gradlinig und eindimensional aufgefaßt. Dryden dagegen zeigt unterschiedliche Aspekte einer unerlaubten Liebe und konstituiert gerade im Verzicht auf eine vordergründig-eindimensionale Ausdeutbarkeit seiner Dramenhandlung die Möglichkeit für die Tragik des Geschehens. 1.3.4 Der menschliche Held In den „Grounds of Criticism in Tragedy" schreibt Dryden: „Rapin, a judicious critic, has observed from Aristotle that pride and want of commisera101

J. D . Ebbs, S. 139, kommt durch zu starke Simplifizierung der Zusammenhänge zu einem falschen Ergebnis: „All for Love depicts an exact poetic justice, but in doing so it produces real and great tragedy." Die Möglichkeit zur Tragödie wird gerade umgekehrt durch die Restriktion in der Befolgung der poetic justice, wie Rymer sie postuliert, erreicht. Ein genaueres Ergebnis erreichen Everett H . Emmerson, Harold E. Davis, Ira Johnson, „Intention and Achievement in All for Love", CE 17, 1955, S. 8 4 — 8 7 , repr. in Twentieth Century Interpretations of „All for Love", S. 55 — 60; S. 60: „Dryden believed that Antony and Cleopatra should be punished since they violated o n e of the basic strictures of his age, but yet [ . . . ] he could not regard his tragic hero and heroine as illustrations of a neo-classical moral maxim — for his lovers, the world was well lost." D i e Vf. dieses Aufsatzes gehen jedoch von der wohl falschen Annahme aus, daß Dryden zuerst seine Intention im Vorwort festlegte, ehe er das Stück schrieb. Richtiger ist wohl die Annahme, daß das „Preface" erst nachträglich für den Druck des Stückes entstand und ebenfalls nachträglich eine gewisse Ubereinstimmung mit Rymers Ansichten herzustellen versuchte.

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tion are the most predominant vices in mankind 102 ." Durch some terrible example of misfortune sollen nicht nur Furcht und Angst im Zuschauer erweckt werden, daß ihm dasselbe zustoßen könnte, sondern zugleich sollen auch die Angst vor der Möglichkeit des eigenen Unglücks und das Bewußtsein von der Unbeständigkeit des Glücks ohne Ansehen der Person Mitleid für das Unglück anderer hervorrufen: „But when we see that the most virtuous, as well as the greatest, are not exempt from such misfortunes, that consideration moves pity in us, and insensibly works us to be helpful to, and tender over, the distressed, which is the noblest and most god-like of moral virtues' 03 ." Mitleid ist die zentrale Kategorie in Drydens poetologischer Wirkintention, die Betonung des emotionalen Elements in den dargestellten Szenen sein hauptsächliches dramentechnisches Mittel104 zur Erlangung der Katharsis. Je tugendhafter und unschuldiger der Held ist, um so größer ist das Mitleid für sein tragisches Schicksal. Zugleich ist es aber auch für den Dichter um so schwieriger, die moralische Berechtigung seines Untergangs überzeugend darzustellen. Diese Überlegungen führen Dryden zum Postulat des ,mittleren' Charakters, ähnlich wie Aristoteles ihn beschreibt 105 . Oidipus ist für Dryden in höchstem Maße rührend, weil er seine Schuld bis zum Schluß nicht kennt. Die dramatische Gestaltung dieses Stoffs kann deswegen den Helden uneingeschränkt positiv zeichnen 106 , da die Tragik des Geschehens durch die Unwissenheit gewahrt bleibt. Ebenso kann die Antigone-Gestalt nie zu positiv dargestellt werden, denn sie steht unter notwendigem Handlungszwang, da die göttliche Forderung der Bruderbestattung eindeutig über dem königlichen Verbot dieser Ritualhandlung steht. Bei Antonius und Kleopatra ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, daß die Protagonisten schon durch die Anlage des Stoffs negativ vorbelastet sind. Sie sind sich der verderblichen Art ihrer Liebe bewußt, niemand hindert sie, sich zu trennen, und dennoch bestehen sie auf der Fortsetzung ihrer Verbindung: „That which is wanting to work up the pity to a greater height was not afforded me by the story; for the crimes of love which they both committed were not occasioned by any necessity, or fatal ignorance, but were wholly voluntary; since our passions are, or ought to be, within our power 107 ." Geht man von einer grundsätzlichen Willensfreiheit der Protagonisten aus, so läuft der Kleopatra-Stoff Gefahr, nicht das Mitleid des 102 103 104 105

106

107

Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 245. Ebd., S. 245. Vgl. Reinert. Vgl. Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 222: „All reasonable men have long since concluded that the hero of the poem ought not to be a character of perfect virtue, for then he could not, without injustice, be made unhappy; nor yet altogether wicked, because he could not then be pitied." Dryden übersetzt fast wörtlich Aristoteles, Kap. 13. Vgl. dazu Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 233, wo Dryden sich gegen eine zu negative Charakterzeichnung durch Corneille wendet. Zusammen mit Lee strebt er eine eindeutige positive Zeichnung an. Ebd., Bd. 1, S. 222.

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Publikums zu erreichen. Dryden arbeitet dieser Gefahr entgegen, indem er die beiden Hauptfiguren so positiv wie möglich zeichnet, d. h. so positiv, wie es die historischen Quellen irgend erlauben, denn die für den ,mittleren' Charakter notwendige Eigenschuld ist immer schon durch die Intentionalität eines ungesetzlichen Vorgehens gegeben. Entgegen diesen im Vorwort dargelegten Erläuterungen zur Handlungsfreiheit der Protagonisten erscheint ihre übermäßige Liebe im Stück selber jedoch eher schicksals- und zwanghaft. Gerade das Unabwendbare und die Unbedingtheit der Liebe lassen Antony in seinem hoffnungslosen Bemühen, diese Liebe zu überwinden, rührend erscheinen. Die unangezweifelte Macht der Liebe führt geradezu zur heroic simplicity als hervorstechendem Zug der Charakterzeichnung. Wie Almanzor sein H e r z mit einem crystal brook vergleicht 108 , so findet Dolabella Cleopatra in ihrer Beständigkeit zu Antony unerschütterlich und unerreichbar, doch genauso unverstellt und jederzeit durchschaubar: „I Find your breast fenc'd round from humane reach, Transparent as a Rock of solid Crystal; Seen through, but never pierc'd" (4, S. 51). Und auch Antony bekennt sich zu einem plain honest heart, in dem jedermann seine Gedanken und Gefühle verfolgen könne wie in einem shallowforded Stream, / Seen to the bottom (4, S. 58). Diese heroische Seelengröße, die Unverstellbarkeit und Aufrichtigkeit der Protagonisten 109 machen zwar ihre Liebe unangreifbar, nicht aber sie selber. Das heroische Ubermenschentum findet seine Abschattierung in durchaus menschlichen Regungen und Gefühlen des Verzagens, der Verzweiflung und der Anfechtung. Dryden zeigt Antony am Ende seiner Laufbahn. Der Glanz früherer Zeiten kontrastiert mit der Verzweiflung der Gegenwart: „I was so great, so happy, so belov'd, Fate could not ruine me; till I took pains And work'd against my Fortune, chid her from me, And turn'd her loose; yet still she came again. My careless dayes, and my luxurious nights, At length have weary'd her, and now she's gone, Gone, gone, divorc'd for ever" (1, S. 10). Dieser Rekurs auf eine ruhmvolle Vergangenheit, der durch Ventidius' Berichte vervollständigt wird, dient in der Gegenüberstellung von einst und jetzt nicht nur zur Herausarbeitung einer überragend großartigen Herrscher- und Kriegerfigur, sondern schafft auch die für die Tragödie notwendige ,Fallhöhe', denn nur der Untergang des Großen ist tragisch. Er illustriert im Fortune-Bild am eindringlichsten das vanitas-Motiv, die Nichtig108

109

Dryden, The Conquest of Granada, Teil 1 , 4 . 1 . 4 5 . Vgl. E. M. Waith, Ideas of Greatness, Heroic Drama in England, London 1971, S. 233, der All for Love in den Zusammenhang des heroischen Dramas stellt. Vgl. hierzu auch J. Douglas Canfield, „The Jewel of Great Price: Mutability and C o n stancy in Dryden's All for Love", ELH 42, 1975, S. 38—61.

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keit alles Irdischen. Das Bedenken der Schicksalsgebundenheit auch der

most virtuous und greatest bewirkt Mitleid.

Voller Leid und Verzweiflung und ausgeschlossen aus der menschlichen Gesellschaft stellt Antony sich dem Publikum bereits in seinem ersten Auftritt dar: „ O f all forsaken and forsaking all" (S. 8). Außerhalb aller Zivilisation stehend, wird Antony zum Commoner of Nature. Die unkultivierte N a tur, die die besiedelten Gebiete umgibt, wird in seiner Darstellung sein natürlicher Aufenthaltsort — oder aber die Abgeschlossenheit des Tempelinnern, wie der Zuschauer es sieht. Ausschluß oder Abgeschlossenheit als bildliche Variation einer identischen Situation bedeuten hier gleicherweise gesellschaftliche Isolation: „I hid me from the W o r l d " (S. 11). Antony nimmt die Pose des Melancholikers ein: W i e Shakespeares Jaques 110 sieht er

sich selber in a shady Forrest's Sylvan Scene leben mit Eiche, Moos, murmelndem Bach und den Tieren, die ihn nicht beachten, da er mit seinem Hintergrund verschmilzt. Ungekämmt und verwildert" 1 stellt sich Antony, der vorher als stolzer Eroberer über allen Menschen stand, jetzt in menschlicher Verzagung gleichsam unter allen Menschen auf der Stufe der T i e r e stehend dar" 2 . D e r Fall ist extrem, doch die Schuld dafür sucht Antony nur bei sich selber. E r verteidigt Cleopatra aufs entschiedenste gegen die V o r würfe des Ventidius: „ Ventidius, I allow your T o n g u e free licence On all my other faults; but, on your life,

No word of Cleopatra" (S. 12).

Die Ritterlichkeit bis zum Ende, die quälenden Selbstanklagen lassen Antony in seinem Unglück sympathisch erscheinen. Bedient sich Dryden im Falle Antonys der konventionellen Züge des menschenscheuen Melancholikers, um für die Verzweiflung seiner D r a menfigur im Kontrast zu ihrer ehemaligen G r ö ß e das Mitleid des Publikums zu erlangen, so ist die rührende Todesszene der Cleopatra unter Aufhebung des Kreuzreims aus dem der Seneca-Tradition verpflichteten W e r k Samuel Daniels entnommen. D e r emotionale Effekt dieser Szene ist jedoch nicht so sehr — wie Kenneth Muir meint 113 — der Dichtkunst Daniels zu110

111

112

1,3

Shakespeare, As You Like It, 2.1.29—40. Summers in: Dryden, The Dramatic Works, Bd. 4, S. 518, bemerkt: „These are verbal similarities too close to be accidental." Eine ähnlich versatzstückhafte melancholische Szenerie findet sich auch bei Lee, Lucius Junius Brutus, 3.3. 2 7 - 3 0 : „Thy sorrowful head hung o'er some tumbling stream T o rock thy griefs with melancholy sounds, With broken murmurs and redoubled groans T o help the gurgling of the waters fall." Vgl. 1, S. 8: „My uncomb'd Locks, matted like Misleto." Auch Berenice erschien mit zerstörter Frisur als Ausdruck ihres seelischen Zustands bei Racine und Otway. Vgl. 1, S. 8: „The Herd come jumping by me, [ . . . ] And take me for their fellow-Citizen." Vgl. Muir, „The Imagery of All for Love", Proceedings of the Leeds Philosophical and Literary Society 5, 1940, S. 140 — 147, repr. in Twentieth Century Interpretations of „All for Love", S. 3 2 - 4 2 ; S. 39.

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zuschreiben, sondern beruht auf der geschickten und gezielten Auswahl Drydens aus seiner Vorlage und auf seiner wohlbedachten Adaptionsmethode. Die gründliche Beschäftigung mit dieser Sterbeszene und die genaue Überlegung für ihre dramatische Darstellung zeigt sich, wenn Dryden schon im Vorwort zu seiner Paradise Z.o^-Bearbeitung, dem Opernlibretto The State of Innocence, H o r a z ' Darstellung des Todes der Kleopatra als Beispiel dichterischer Freiheit bei der Verwendung und Konstruktion wirkungsvoller Bilder anführt. Boileaus Longinus-Ubersetzung" 4 veranlaßt Dryden in diesem Vorwort zur Darlegung eigener poetologischer Ansichten unter Berufung auf berühmte Vorbilder der Antike. Vergil und H o r a z „have made frequent use of the hardest metaphors, and of the strongest hyperboles"" 5 . In vorsichtiger und überlegter Weise verwandt, komme übertriebenen Bildern und inadäquaten Vergleichen jedoch — so meint Dryden — eine durchaus angenehme Wirkung auf den Zuhörer oder Leser zu. Zwei Beispielen aus Vergil folgt ein Beleg aus H o r a z : „Will you arraign your master Horace for his hardness of expression when he describes the death of Cleopatra, and says she did ,asperos tractare serpentes, ut atrum corpere cambiberet venenum', because the body in that action performs what is proper to the mouth 116 ?" Nicht der Körper trinkt gewöhnlich, sondern der Mund. Dieses rhetorische Verfahren der falschen Zuordnung von Tätigkeiten oder Eigenschaften, bei dem es in den meisten Fällen um Personifikation — to give voice and thought to things inanimate — geht, konstituiert das dichterische Mittel des bildhaften Sprechens und der übertragenen Bedeutung. Dasselbe rhetorische Mittel, nicht aber ein identisches Bild verwendet Daniel im Sterbemonolog der Cleopatra: „And now I sacrifice these armes to death, That lust late dedicated to delights. [...] W h a t now false flesh what? and wilt thou conspire With Casar too, as thou wert none of ours, T o worke my shame, and hinder my desire: And bend thy rible parts against my powers? Wouldst thou retaine in closure of thy vaines T h a t enemy, base life, to let my good? N o , know there is a greater power constraines Then can be countercheckt with feareful blood: For to a minde that's great nothing seemes great" 7 ."

114 1,5 116 117

Von 1674; vgl. hierzu George Watson in: Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 195. Ebd., Bd. 1, S. 200. Ebd., Bd. 1, S. 201. Daniel, The Tragedie of Cleopatra, 5.2. 1714—1725, nach dem Druck von 1611 hrsg. v. M. Lederer, Louvain—Leipzig—London 1911, S. 63.

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Die Arme werden als selbständig handelnde Personen mit eigenem Willen dargestellt, die Cleopatra anspricht wie zwei untreue, verräterische Dienerinnen. Es ist ein letztes kurzes Zögern der sonst durchaus zum T o d bereiten Cleopatra, das sich wirkungsvoll in dieser Hyperbel darstellt. In der Anerkennung solcher dichterischen Übertreibungen folgt Dryden Longinus, der sie als angemessen empfiehlt f ü r die überzeugende Darstellung aufgeregter, leidenschaftlicher und außerordentlicher Momente emotionaler Bewegtheit, während er sie in erzählend-deskriptiven Passagen f ü r ungeeignet befindet 118 . Shakespeares Cleopatra ist viel selbstsicherer, zielstrebiger und durch Iras' vorangehendes Beispiel nie im Zweifel über die Schmerzlosigkeit ihres Todes: „Poor venomous Foole, Be angry, and dispatch 119 ." Dryden wählt die menschlichere Version, das kurze angstvolle Zögern vor dem T o d , das dann tapfer überwunden wird: „Coward Flesh — W o u ' d s t thou conspire with Casar, to betray me, As thou wert none of mine? I'll force thee to't, And not be sent by him, But bring my seif my Soul to Antony" (5, S. 77 f.). Die Darstellung folgt den von D r y d e n im Anschluß an Longinus entwickelten Überlegungen: „ [ . . . ] interrogations, exclamations, hyperbata, or a discorded connection of discourse, are graceful there because they are natural 120 ." D e r aus Daniel übernommene ungewöhnliche Gedanke des gegen den Willen seines Besitzers handelnden Arms erreicht bei Dryden — durch die neue, metrisch-unregelmäßige und syntaktisch bewegte Gestalt verstärkt — genau den so beschriebenen E f f e k t : T r o t z aller Absicht des Dichters wirkt das Bild nicht artifiziell, sondern ungekünstelt und natürlich und den Umständen des Augenblicks angemessen. Shakespeares Cleopatra befindet sich bereits in einer Ekstase freudiger Todesbereitschaft, Drydens Figur wirkt in dem bewegten Kampf gegen ihre letzte menschliche Schwäche tapfer und rührend zugleich. Die Anstrengung ihres heroischen Selbstmordentschlusses wird sichtbar gemacht und steigert Bewunderung und Mitleid gleicherweise f ü r die mutige Überwindung einer letzten Todesangst. Wie konventionelle Züge heroischer Charakterzeichnung und melancholischer Tristesse in ihrer Mischung den menschlichen Aspekt der Antony-Figur unterstreichen, so ist es eine ähnliche Kontrastverbindung von Anfechtung und tapferer Überwindung, die auch Cleopatra als letztlich menschliche, nicht gigantisch-heroische Heldin erscheinen läßt. 118 119 120

Vgl. Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 202. Shakespeare, Antony and Cleopatra, 5.2. 358 f. Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 203.

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1.3.5 Drydens Zurückhaltung All for Love wird eröffnet durch Serapions Bericht von Portents und Prodigies, von außergewöhnlichen Natur- und Geistererscheinungen. Doch alles wird nur retrospektiv mitgeteilt, auf der Bühne wird nichts davon vorgeführt. Dryden legt sich hier eine Zurückhaltung in der Darstellung des Überirdischen und Wunderbaren auf, die sich deutlich vom Vorgehen seiner Zeitgenossen abhebt. Nathaniel Lee etwa läßt in seinem Drama The Rival Queens, das nur wenige Monate vor All for Love aufgeführt wird, sowohl den Geist König Philips, des Vaters von Alexander dem Großen, auftreten (1.286) als auch die Geister der Eltern Statiras (5.1—20). Zu Beginn des zweiten Aktes wird ein ausführlicher Kampf zwischen Krähen oder Raben verlangt und ein Adler vorgeführt, der von einem Drachen besiegt wird in Vorausdeutung auf den bevorstehenden Untergang Alexanders. Dryden selber hatte in Tyrannic Love eine berühmte Geisterbeschwörung eingeführt, die oft kopiert wurde und von ihm selbst in abgewandelter Form auch wieder in die zusammen mit Lee hergestellte Oii#/>«i-Bearbeitung eingefügt wird 121 . In All for Love dagegen wird keine Theatermaschinerie für übernatürliche Erscheinungen benötigt, und Geister und Vorzeichen bleiben auf Berichte beschränkt. Die Ausschmückung und Überladung eines Stücks mit Songs, Ghosts and Idols, die in The Rehearsal122 als typisch für das heroische Drama verspottet werden, finden sich in All for Love nicht mehr. Die gleiche Zurückhaltung läßt sich in der Sprachgestalt des Stücks beobachten. Übertriebener und übersteigerter Sprachduktus vor allem in den Liebes- und Verzweiflungsbeteuerungen ist weitgehend zurückgedrängt. Zwar steht die Liebe Antonys und Cleopatras noch weit über dem Wert von Königreichen und Welten 123 , doch dies entspricht dem im Titel angegebenen Thema des Stücks. Daß der Globus mit einer Kinderrassel verglichen wird, die Antony gern Octavius überlassen möchte, wenn er selbst nur Cleopatra behalten kann, ist ein eindrucksvolles Bild, doch nirgends findet sich mehr die überschwengliche Sprache und gehäufte Metaphorik, die Lee für seinen Alexander gebraucht. Entsprechend hebt Dryden in den complimentary verses zu The Rival Queens Lees beauteous Images hervor, aber auch The too much vigour of your youthful MuseXM und zeigt damit, daß er selber sehr empfindlich gegen den Vorwurf der Leidenschaftsübersteigerung und der rants des heroischen Dramas geworden ist.

121

122 123

124

Vgl. The Works of Nathaniel Lee, Bd. 1, S. 412 f.: Oedipus, 3 . 3 0 0 - 3 7 7 . Ebenfalls in Oedipus werden als Himmelserscheinungen auf der Bühne Schriftzüge und Portraitköpfe dargestellt: 2 . 6 2 - 6 9 . [George Villiers], The Rehearsal, London 1672, 3.1, S. 23. Vgl. 2, S. 29: „ [ . . . ] w h o sets my love / Above the price of Kingdoms", und 1, S. 12: „She deserves / More Worlds than I can lose." The Works of Nathaniel Lee, Bd. 1, S. 223; der Tadel ist versteckt in einer Verteidigung Lees: S. 222, V. 41.

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In keiner Weise ist daher die Begrüßung zwischen Antony und Ventidius (1, S. 8 f.) oder Antony und Dolabella (3, S. 33 f.) mit derjenigen zwischen Alexander und Hephestion zu vergleichen: „Thou dost, thou lov'st me, Crown of all my Wars, Thou dearer to me than my Groves of Lawrel, I know thou lov'st thy Alexander more Than Clytus does the King: no Tears Hephestion, I read thy Passion in thy Manly Eyes; And glory in those Planets of my Life Above the Rival Lights that shine in Heaven" (2,108 — 114). Zwar ist auch bei Dryden Antony die Freundschaft mit Dolabella ,heilig', ist ihm der Freund die ,bessere Hälfte' seiner selbst (S. 33), vergleicht er die Wiedersehensfreude mit der eines Bräutigams am Hochzeitstag (S. 34). Doch gerade der letzte Vergleich scheint nicht so ungewöhnlich zu sein, wie er uns heute erscheint, denn er findet sich auch schon bei Shakespeares rauhem Krieger Aufidius in seiner Begegnung mit Coriolanus 125 . Auf jeden Fall aber vermeidet Antony, die Schönheiten seiner Freunde detailliert bildlich zu beschreiben, indem er etwa deren Augen an Glanz und Bedeutung über die der Sterne stellt. Mag die Differenz im Grad der Preziosität der einzelnen Vergleiche zunächst noch gering erscheinen, so bleiben sie der Zahl nach bei Dryden doch sehr vereinzelt, während sie sich bei Lee häufen. Alexander ergeht sich geradezu im Genuß der Wiedersehensfreude und der Begrüßung seiner Freunde (2.131 — 136). Angesichts der Königin steigert sich dieser Gefühlsüberschwang zur Beschwörung von Ecstasie und Rapture (2.296 f.), und als sie ihm seine Untreue verzeiht, reduziert sich der Redezusammenhang vollends auf die Aneinanderreihung von Exklamationen, gipfelt die Ekstase im Bild der Zerstörung durch die Uberfülle des Herzens: „O the killing joy! O extasie! my heart will burst my breast, T o leap into thy bosom" (3.415 — 417). Das entgegengesetzte Extrem einer emotionalen Situation stellen die Leidenschaftsausbrüche der eifersüchtigen Roxana dar, die den überwältigenden Freudenbeteuerungen Alexanders an Intensität nicht nachstehen. Solchen H ö h e n und Tiefen voll durchlebter Gefühle steht bei Dryden eine eher gedämpfte Leidenschaftlichkeit der Protagonisten gegenüber. In nur sechzehn Zeilen gibt Antony der Freude über seine wiedergefundene soldatische Zuversicht Ausdruck, und Ventidius' Zustimmung fällt noch kürzer aus. Trotz aller Zurückhaltung fehlt dieser Zustimmung jedoch nicht der 125

Vgl. Coriolanus, 4.5. 119—124: „Know thou first, I loved the maid I married; never man Sighed truer breath. But that I see thee here, T h o u noble thing, more dances my rapt heart Than w h e n I first my wedded mistress saw Bestride my threshold."

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N a c h d r u c k , und gerade die pointierte K ü r z e erzielt eine überzeugende Eindringlichkeit: „Ye Gods, ye Gods, For such another h o u r " (1, S. 15). Ahnlich k u r z fallen die momentanen Ruhepausen nach den erreichten Entscheidungen an anderen Stellen aus. W ä h r e n d bei Lees Figuren die Betonung auf der möglichst vollständigen Darstellung der erlebten Gefühlshöhepunkte — der H a ß der Verschwörer, Alexanders Liebe, Roxanas Eifersucht — liegt, ist es bei Dryden der stete Kampf der sich widerstreitenden Gefühle, das Ringen um den Entschluß, das in Antony gezeigt wird und ihn bedrückt: „Gods, 'tis too much; too much f o r Man to bear!" (2, S. 28). Apostrophe der Götter und Konstatierung der Begrenztheit menschlicher Liebesfähigkeit sind gegenüber Lees exaltierter Sprache vergleichsweise bescheidene rhetorische Mittel. Ahnlich zurückhaltend und ,simpel' verläuft selbst noch die emotionale Extremsituation der Todesszene bei Dryden im Vergleich mit Lee. Angesichts der sterbenden Statira versucht Alexander, vor Leid außer sich, sie zu retten, bemüht sich, sie auf jede Weise vom Sterben abzuhalten, nur um schließlich die O h n m a c h t auch seiner Beredsamkeit zu erfahren: „Close not thy eyes; Things of Import I have to speak before T h o u tak'st thy Journey: — tell the Gods, I'm coming to give'em an account of life and death, And many other hundred thousands policies, T h a t much concern the Government of Heav'n. — O she is gone! the talking Soul is mute!" (5.165 — 171). Die heroische Ubersteigerung reicht bis an die Grenze des Todes, und das Bewußtsein des eigenen Ubermenschentums treibt Alexander, nachdem die weltlichen Reiche erobert sind, Einfluß auf the Government of Heav'n anzustreben. Auch in der weniger aufwendigen Form des Blankverses w a h r t Lee hier die Tradition des heroic play in ungebrochener Vollständigkeit: „Lee has abandoned the couplet here but not the fury of his heroic verse 126 ." Drydens Gestaltung von Cleopatras Schmerz angesichts des sterbenden Antony verläuft weitaus ruhiger und verhaltener. Wie Alexander spricht sie von ihrer baldigen Nachfolge in den T o d , doch vermeidet sie dabei alle großartige Überheblichkeit: „I will come: D o u b t not, my life, I'll come, and quickly t o o : Ccesar shall triumph o'er no part of thee" (5, S. 75). Entsprechend friedlich und versöhnlich fällt ihr eigener Selbstmord trotz der Schrecklichkeit des Faktums selber aus. Lees verzweifelter, wortreicher 126

Waith, Ideas of Greatness, S. 240. Vgl. auch Nicoll, Bd. 1, S. 148: „ [ . . . ] he carried on the heroic tradition into his blank verse plays." Vgl. zum Erfolg der Rival Queens auch Scouten, „Plays and Playwrights", S. 270.

Das neue Tragödienideal: „All for

Love"

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und ständig mit sich selbst beschäftigter Alexander stirbt dagegen einen schmerzvollen, von Kampf und Wahnsinnsvisionen begleiteten Vergiftungstod, um selbst noch im Ende seine Exklusivität durch Fürchterlichkeit zu betonen. Die hier dargestellte Differenz des dramatischen Stils beobachtet Addison später auch an der bald nach All for Love von Dryden und Lee gemeinsam verfaßten OiWipMi-Bearbeitung. Er verurteilt hierbei an Lees Anteil und am heroischen Drama schlechthin „such Sentiment, as proceed rather from a Swelling than a Greatness of Mind" und spricht sich trotz der Beliebtheit solcher Gefühlsdarstellung beim Publikum gegen die zusätzliche darstellerische Betonung durch die Schauspieler aus. Drydens Passagen dagegen lobt er, „in which the Thought is very natural, and apt to move com« 127 passion Die Natürlichkeit und Simplizität, die Drydens Sprachführung zuerst in All for Love auszeichnet, läßt sich in einem Vergleich mit Lees The Rival Queens aber auch an der Handlungsentwicklung beobachten. Spiegelbildlich zu Lees Haupthandlung, dem Kampf der Königinnen um die Gunst Alexanders, verläuft die Werbung und der Streit Hephestions und Lysimachus' um die Schwester der Statira. In Opposition zur Perfidie der Verschwörer steht die Gestalt des aufrichtigen Clytus, der in seiner absoluten Treue zu Alexander einen eigenen Handlungsbogen von tragischer Unbedingtheit konstituiert. Diese mehrsträngige und verwickelte Handlungsentfaltung weicht in Drydens All for Love einer einlinig, klar und ausschließlich auf das Hauptthema, das Schicksal der Liebenden, konzentrierten Anordnung der dramatischen Ereignisse. Für die Entwicklung von Nebenhandlungen mit eigenem Bedeutungskern ist bei Dryden kein Platz mehr. Natürlichkeit, Simplizität und Zurückhaltung werden als Grundkategorien eines neuen Tragödienkonzepts für alle Teile und Aspekte des Werkes gleicherweise verpflichtend. Rapin hatte in seinem Aristoteles-Kommentar geschrieben: „ [ . . . ] only simplicity pleases, provided it be sustain'd with greatness and majesty: but this simplicity is not known, except by great Souls, the little Wits understand nothing of it; 'tis the Master-piece of Poesie 128 ." Gerade die Exklusivität einer klassischen oder klassizistischen Simplizität konstatiert auch noch Addison, wenn er in seiner Oidipus-Besprechung bemerkt, daß Lees Verwendung traditionell-heroischer Elemente viel größeren Beifall der Zuschauer erzielt als Drydens natürliche und angemessene Darstellung. Für eine Uberwindung der Esoterik der Simplizität und für ihre Propagierung mit dem Ziel der Anerkennung durch das Publikum setzt Addison daher als flankierende Maßnahme, die auch zu seiner Zeit noch notwendig ist, seinen Spectator ein. 127

128

Joseph Addison, Richard Steele u.a., The Spectator, hrsg. v. G. G. Smith, 4 Bde., Lond o n — N e w York 1907, repr. 1 9 5 0 - 1 9 5 1 , Nr. 40, Bd. 1, S. 122. René Rapin, Réflexions sur la poétique d'Aristote, Paris 1674, übers, v. Rymer: Reflections on Aristotle's Treatise of Poesie, London 1674, S. 42 f.

1.4 Das Interesse an Shakespeare: „Caius Marius" Für The History and Fall of Caius Marius übernahm Otway einige Szenen und Szenenteile — mehr oder weniger verändert — aus Shakespeares Romeo and Juliet, um eine ähnliche Liebesgeschichte als Nebenhandlung in sein Drama einzufügen. Dieses Vorgehen erwies sich als so erfolgreich, daß Otways Werk lange Zeit die Aufnahme des Shakespeare-Stücks in die Londoner Spielpläne verhinderte. Noch 1731 bezieht sich etwa Fielding in seinen Anmerkungen zu The Tragedy of Tragedies ausdrücklich auf Otway, obwohl die persiflierte Zeile auch bei Shakespeare vorkommt 129 . Erst 1744 und 1748 versuchen Theophilus Cibber und David Garrick in ihren jeweiligen Romeo and /w/iei-Inszenierungen, eine shakespearenahe Version auf das Theater zu bringen. Das Aufwachen Juliets aus ihrem Scheintod, bevor Romeo gestorben ist, wird jedoch als hervorstechendste Übernahme aus Otway weiterhin beibehalten, um — anders als bei Shakespeare — noch eine letzte rührende Unterredung der Liebenden zu ermöglichen. 1.4.1 Otways Quellenbenutzung Die Verbindung von eigener Dramenhandlung und ergänzender, aus Shakespeare übernommener Nebenhandlung ist gegenüber der vorangegangenen Racine-Bearbeitung ein für Otway neues Adaptionsverfahren. Wurde im ersten Fall die Übersetzung aus dem Französischen zugleich mit Änderungen verbunden, so daß der Übergang von freier Übertragung, von erweiterndem oder raffendem Vorgehen zu längeren Neueinfügungen oder umfangreicheren Streichungen fließend war, so fügt Otway jetzt in Caius Marius übernommenes mit eigenem Material direkt im Englischen zusammen. Wie die verdichtende Verkürzung von fünf auf drei Akte in Titus and Berenice die durch die unterschiedlichen Intentionen des französischen Dichters und seines englischen Bearbeiters eventuell entstandenen Unebenheiten eliminierte und das Ganze neu zusammenschmolz, so muß Shakespeares Dramenhandlung auch entschieden verkürzt und zurechtgeformt werden, um sich der neuen Haupthandlung unterzuordnen und nicht den Rahmen des Dramas zu sprengen 130 . Bei diesem Integrationsverfahren ist der Aneignungsprozeß graduell abgestuft. So sind etwa Otways Änderungen beim Zusammentreffen von Ro-

129

130

Vgl. H e n r y Fielding, „ Tom Thumb"and,, The Tragedy of Tragedies", hrsg. v. L. J. Morrissey, Edinburgh 1970, S. 67, A. g und „Commentary", S. 114. Vgl. H a z e l t o n Spencer, Shakespeare Improved, The Restoration Versions in Quarto and on the Stage, Cambridge 1927, S. 293: „Otways adaptation is, in fact, less reworking of Shakespeare's material than a bold appropriation for new purposes."

Das Interesse an Shakespeare: „Caius

Marius"

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meo—Marius mit der Amme131 hauptsächlich auf Daten wie Orte, Namen und Zeitpunkte beschränkt, um das Gespräch dem neu gegliederten Zeitgerüst und dem veränderten Schauplatz des spätrepublikanischen Roms anzupassen. An anderer Stelle sind dagegen bei aus der Shakespeare-Vorlage entnommener Gedankenführung nur einzelne Zeilen oder Halbzeilen stehengeblieben, wie etwa in der Queen Mab-Rede der Mercutio nachgebildeten Sulpitius-Figur' 32 . War — entsprechend dem französischen Original — Titus and Berenice noch in Reimversen abgefaßt, so folgt Otway jetzt dem Vorbild Drydens und Lees, wenn er für Caius Marius den Blankvers wählt, aber er entspricht auch dem Vorbild Shakespeares, indem er die Blankverse durch Prosapassagen unterbricht. Schon in der Racine-Bearbeitung hatte Otway die strenge Normierung einer zurückhaltenden und der Würde der tragischen Figuren angemessenen Diktion nicht im Maße seiner Vorlage durchgehalten. Shakespeare dient ihm jetzt als Bestärkung, wenn er die Kontrastierung unterschiedlicher Sprachebenen in aller Ausführlichkeit zur Kennzeichnung sozialer Differenzen und emotionaler Situationen verwendet. Das Geschwätz der Amme steht in deutlicher Opposition zum feierlichgroßartigen T o n der Senatoren; die Naivität der römischen Bürger, der Schäfer und Bauern kontrastiert mit dem heroischen Pathos des Titelhelden oder des jugendlichen Liebhabers. Hierbei ist die Sprachdifferenz nicht nur auf Romeo and Juliet zurückführbar, sondern erinnert in den Bürgerszenen eher an Julius Caesar oder Coriolanus. Für die Hauptfiguren wird sie jedoch nicht weiter zur Individualisierung der Charaktere genutzt, die statt dessen an eine nivellierende Typik der heroischen Tradition angeschlossen werden. Wie Otway seine Shakespeare-Entlehnungen im Sinne des heroischen Dramas abwandelt, so formt er sie auch im Sinne seines eigenen Interesses am Sentimentalen um. Schon in Titus and Berenice hatte er dieses Moment selbst im Vergleich zu Racine noch verstärkt herausgearbeitet. Dieselbe Tendenz läßt sich jetzt auch am Schluß der Balkonszene beobachten. Juliets letzte Zeilen sind bei Shakespeare: „Goodnight, goodnight! Parting is such sweet sorrow, That I shall say goodnight till it be morrow" (2.2.184 f.). Auf Lavinias Good night entgegnet Marius dagegen bei Otway: „There's such sweet Pain in parting, That I could hang for ever on thy Arms, And look away my life into thy Eyes" (2.377 —379).

131

132

Shakespeare, Romeo and Juliet, hrsg. v. J. D . Wilson und G. I. Duthie, Cambridge 1955, repr. 1973, 2.4. 140—200 entspricht O t w a y , 3. 121 — 167. D i e erfolgreiche Besetzung der Ammenrolle mit James N o k e s trug entschieden zur Popularität und zur Einbürgerung von Otways W e r k auf der Bühne bei: vgl. J. C. G h o s h in The Works of Thomas Otway, Bd. 1, S. 45. Shakespeare, 1.4. 53—95 entspricht Otway, 1. 381 — 400.

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(1676—1680)

Alliteration, Auswechslung von sorrow durch das stärkere pain und der abschließende ,Sterbeblick' steigern und überzeichnen das bei Shakespeare gefundene Material im Sinne einer stilisierenden Schmerzenssprache preziös-sentimentaler Provenienz. Beide Züge, das Heroische und das Sentimentale, sind konstitutiv für das Dramenkonzept des Caius Marius; im Kontrast der veränderten Shakespeare-Passagen mit ihrem Originaltext lassen sich diese Züge besonders deutlich erkennen. Die eigentliche stoffliche Vorlage für Otways Drama sind Plutarchs Parallelbiographien, die 1676 in Thomas Norths Ubersetzung in neuer Auflage erschienen und denen Otway die Bürgerkriegssituation und die konsularischen Streitigkeiten zwischen Marius und Sulla aus der historischen Spätphase des republikanischen Roms entnahm. Eine Ähnlichkeit dieses Stoffs mit den Patrizierfehden der Capulets und Montagues im mittelalterlichen Verona ist nur andeutungsweise herstellbar. Durch diesen Rückgriff auf Plutarch als historiographische Quelle entstehen jedoch zusätzliche Anklänge an Shakespeares Römertragödien, die derselben Vorlage verpflichtet sind133. Anregungen und Motive ganz entgegengesetzter Art lassen sich in ihrer H e r k u n f t für Otways Werk oft nicht genau trennen. R. G. H a m nennt es daher „an ingenious cross-word puzzle" 134 . Es entsteht das stoffgeschichtliche Paradoxon, daß römische Geschichte nicht nur durch antike Historiographie, sondern auch durch ihre Brechung in shakespearescher Bearbeitung rezipiert wird und dennoch in ihrem klassischen Aspekt betont werden soll für ein auf die Verbindung klassizistischer und shakespearehafter Elemente bedachtes Drama. Für Otways Titus and Berenice fehlte jeder Hinweis in Vorwort und Prolog auf die französische Vorlage des Dramas. Obwohl die direkten Anleihen aus Shakespeares Romeo and Juliet sehr viel weniger bedeutungsvoll für Caius Marius sind, weist Otway doch nachdrücklich auf seine Verpflichtung gegenüber Shakespeare im Prolog hin. Der heute naheliegende Schluß, daß eine fremdsprachige Vorlage in ihrer Relevanz für die Bearbeitung durch das zeitgenössische englische Theater- und Lesepublikum nur schwer abschätzbar war, Shakespeare-Passagen dagegen leicht verifizierbar wären, so daß der Dichter daher einer .Plagiatsüberführung' durch ein offenes Bekenntnis zuvorkommen wollte, ist nicht zwingend 135 . Der Grund für das offene Eingeständnis der Shakespeare-,Plünderung' mag eher in der H o f f n u n g auf eine gewisse Reklamewirksamkeit zu suchen sein. Dryden hatte ganz ähnlich im kurz vorher entstandenen Oedipus auf seine und Lees Anlehnung an das erklärte Vorbild Sophokles' hingewiesen. Die Bedeutung der französischen Vorlage für diese Bearbeitung dagegen

133

134 135

Vgl. H a m , S. 135: „ T h e two influences of Shakespeare and Plutarch t h r o u g h o u t this play were in endless collaboration." Ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 133.

Das Interesse an Shakespeare: „Caius

Marius"

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h a u e er zu minimieren gesucht 136 . Die Mustergültigkeit französischer D r a matik, unabhängig von ihrer Rolle f ü r die Praxis des Dichters, ist in der expositorischen Literatur nicht mehr so unproblematisch wie zu Mrs. Philips' Zeiten 137 ; spätestens seit Drydens Essay war sie kontrovers geworden. In dieser Hinsicht wäre der Hinweis auf die Shakespeare-Entlehnungen verbunden mit der Inferioritätserklärung des eigenen Werks im Prolog als Bescheidenheitstopos und Petition um die Zuschauergunst zu lesen (29—33). T r o t z dieser Shakespeare gezollten A n e r k e n n u n g und Verehrung, die das Stück aus der Reihe der ihrer Intention nach verbessernden' und einen ,korrekteren' Geschmack propagierenden Shakespeare-Bearbeitungen der Restaurationsbühne ausgliedern, weiß O t w a y doch den Rahmen und die Gesichtspunkte, unter denen die Shakespeare-Entlehnungen erfolgen, in den Zusammenhang klassisch-römischer Dichtung zu stellen. Die Vorstellung eines goldenen Zeitalters, entstanden durch den Zusammenfall von staatlicher und literarischer Blütezeit während der H e r r s c h a f t des Augustus, wird elegisch beschworen: „In Ages past, (when will those Times renew?) W h e n Empires flourisht, so did Poets too. W h e n Great Augustus the World's Empire held, Horace and Ovid's happy Verse excell'd" (1—4). Das augusteische Zeitalter der englischen Literatur legt Otway, um den Bezug zur eigenen Bearbeitungsvorlage herzustellen, in die Regierungszeit Elizabeths I. und ihres Nachfolgers 1 3 8 . D e r Rückgriff auf den stereotypen Hinweis, daß die dichterische Schaffenskraft direkt von der finanziellen Unterstützung abhängig ist, soll Otways Entlehnungsvorgehen entschuldigen, doch zugleich auch die Notwendigkeit des Mäzenatenwesens f ü r eine enge Verbindung von Dichtung und Staatsgeschäft hervorheben. Die Dichtung als Instrument der Propagierung königlicher Erfolge und Interessen ist stabilisierender politischer Faktor, bedarf aber, um diese Funktion ausüben zu können, eines freigiebigen H o f e s und eines großzügigen Monarchen. Das Bild einer augusteischen Zukunftsvision, entworfen in der H o f f nung auf baldige Genesung Charles' II. von seiner Krankheit im Septemb e r / O k t o b e r 1679, betont die Regierungsloyalität der Dramatiker und des Theaters, versucht aber gleichzeitig, den Dichterstand durch die Forderung nach materieller Gegenleistung sozial abzusichern: „To such low Shifts of late are Poets w o r n , [d. h. daß sie zur Beschleunigung ihrer Produktion aus finanziellen 136

137

138

Vgl. The Works of Nathaniel Lee, Bd. 1, S. 375 f.: „The French-Man follow'd a wrong scent; [ . . .] T h e truth is, he miserably fail'd in the Character of his H e r o : [ . . . ] Sophocles indeed is admirable every where." Zu Kathrine Philips' Übersetzung 1663 von Corneilles Pompee vgl. D . F. Canfield, S. 3 4 - 4 5 . Vgl. denselben Vergleich (V. 20 — 25) von James I. mit Augustus auch noch bei N a h u m Täte in seinem Kompliment „To the Author" in: Francis Fane, The Sacrifice, A Tragedy, London 1686.

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Gründen auf Abschreiben angewiesen sind] Whilst we both Wit's and Casar's Absence mourn. O h ! when will H e and Poetry return?" (34—36). Ein solches Verständnis der Staatsfunktion von Dichtung macht wahrscheinlich, daß die Ausdeutbarkeit der folgenden Dramenhandlung in ihrem Bezug auf die Unruhen um den Popish Plot 139 und auf die Tagesereignisse der Entstehungszeit vom Dichter intendiert ist. 1.4.2 Shakespeare-Verehrung und Bürgerkriegsangst Roswell Gray H a m schreibt über Otways Caius Marius und Lees Lucius Junius Brutus: „In these two plays [ . . . ] the drama of the Restoration was upon the verge of greatness [ . . . ] . T h a t which had fitfully appeared in such plays as All for Love now became a well-defined movement 140 ." Gemeint ist hier jedoch nicht die diesen Dramen gemeinsame klassizistische Tendenz, sondern die von ihren Verfassern offen eingestandene Bewunderung für Shakespeare. In Widmung, Vorwort oder Prolog erklären Otway, Dryden und Lee gleicherweise ihre Verehrung Shakespeares und ihr Streben, der Vorbildlichkeit seiner dramatischen Technik nachzueifern. Schon im Prolog zu Aureng-Zebe erkennt Dryden, obgleich er die Korrektheit seiner eigenen Verse betont, Shakespeares Superiorität an. Die Verehrung besonders der Römertragödien erklärt sich aus Drydens eigenen Plänen für ein Antonius-und-Kleopatra-Drama 1 4 1 . Im Vorwort zu All for Love weist Dryden dann ausdrücklich auf sein Bemühen um eine Nachahmung Shakespeares hin, jedoch unter Wahrung seines eigenen Dramenstils: „In my style I have professed to imitate the divine Shakespeare 142 ." Er versichert, daß er unter Anleitung Shakespeares sein eigenes Werk zur größeren Vollkommenheit gesteigert habe. Dieses hohe Ansehen von Shakespeares Namen findet sich ähnlich bei Otway, der — wie schon Dryden — Shakespeare durchaus im Zusammenhang mit H o r a z und Ovid nennt. Aber auch Lee bekennt sich in seiner Widmung des Lucius Junius Brutus an den sechsten Earl of Dorset zur bewunderten Größe elisabethanischer Dramatik, besonders dort, wo sie sich mit antiken Stoffen befaßt: „There are some Subjects that require but half the strength of a great Poet, but when Greece or old Rome come in play, the Nature, Wit, and Vigour of foremost Shakespeare, the Judgement and Force of Johnson, with all his borrowed Mastery from the Ancients, will 139

140 141 142

Wie der angebliche Popish Plot, der im Oktober 1678 aufgedeckt wurde, von Shaftesbury rigoros für seine politischen Ziele und zur Manipulation der öffentlichen Meinung benutzt wurde, untersucht Michael Macklem, „Dashed and Brew'd with Lies: T h e Popish Plot and the Country Party", The Augustan Milieu, Essays Presented to L. A. Landa, hrsg. v. H . K. Miller, E. Rothstein und G. S. Rousseau, O x f o r d 1970, S. 32—58. H a m , S. 132. Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 192, Z. 13—18. Ebd., S. 231.

Das Interesse an Shakespeare: „Caius

Marius"

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scarce suffice for so terrible a Grapple 143 ." Shakespeare-Verehrung und Begeisterung für klassische Dichtung und antike Geschichte sind bei Otway, Dryden und Lee eng miteinander verbunden. Doch gerade auch an den zitierten Widmungsschreiben läßt sich deutlich erkennen, daß die Verwendung der Shakespeare-Elevation als typisches Versatzstück einer enkomischen Übertreibung anzusehen ist. Abschließend werden nämlich von Lee dem angesprochenen Mäzen als huldigendes Kompliment alle dichterischen Vorzüge und Tugenden Shakespeares, Jonsons, und Longinus' unterschiedslos für seine eigenen Dichtungsversuche zugeschrieben. Der expositorischen Shakespeare-Verehrung entspricht ein verstärktes Auftreten von Shakespeare-Adaptionen 144 . Im Januar 1678 wird Thomas Shadwells Bühneneinrichtung The History of Timon of Athens, The ManHater am Duke's Theatre, Dorset Garden, aufgeführt. Downes berichtet darüber: „ [ . . . ] it wonderfully pleas'd the Court and City; being an Excellent Moral 145 ." Am Theatre Royal, Drury Lane, wird in der folgenden Saison Shakespeares erste Römertragödie in der Bearbeitung von Edward Ravenscroft auf den Spielplan gesetzt: Titus Andronicus; or, The Rape of Lavinia. Dorset Garden wiederum führt in derselben Spielzeit Drydens Troilus and Cressida auf. Diese Adaptionen shakespearescher Griechen- und Römerstücke passen stofflich zu der in diesen Jahren gleichfalls beobachtbaren Vorliebe für antike Dramen — etwa Oedipus oder Thyestes. Sie sind aber auch, wie schon George C. Odell feststellt, nicht nur durch das Interesse an heroischen und sensationellen Elementen untereinander verbunden, sondern auch durch das thematische Element der abschreckenden Darstellung von Parteifehden und Bürgerkriegsunruhen: „ [ . . . ] to warn a people burnt up with partisan animosity, of the inculcable evils of civil war 146 ." John Crowne nennt schließlich seine Adaption von Shakespeares Henry VI von 1680 sogar ausdrücklich The Misery of Civil-War. Nimmt Otway hinsichtlich seiner Einstellung zur Shakespeare-Vorlage und im Hinblick auf die Art seiner ,Anleihen' eine spezifische Stellung unter den Adaptoren ein, so steht Caius Marius doch deutlich im Zusammenhang der politisch-didaktischen Richtung einer von der zeitgenössischen Bürgerkriegsangst geprägten Dramatik. Gleich die Eingangsverse machen Stellung und Anliegen des Dichters deutlich: „When will the Tut'lar Gods of Rome awake, T o fix the Order of our wayward State, That we may once more know each other; know Th'extent of Laws, Prerogatives and Dues; 143

The Works of Nathaniel Lee, Bd. 2, S. 321. S c o u t e n zählt 10 solcher Adaptionen in der Zeit von 1678 bis 1682: vgl. „Plays and Playwrights", S. 281. 145 Zit. nach The London Stage, 5 Teile, Carbondale/Illinois 1960—1968, Bd. 1, 1965, hrsg. v. W. V a n Lennep, S. 266. Vgl. auch John Edmunds, „Timon of Athens Blended with Le Misanthrope: Shadwell's Recipe for Satirical Tragedy", MLR 64, 1969, S. 500—507. 146 George C. Odell, Shakespeare — From Betterton to Irving, 2 Bde., London 1921, repr. N e w York 1963, Bd. 1, S. 44. l44

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The Bounds of Rules and Magistracy; who Ought first to govern, and who must obey?" (1.1—6). Der Wunsch nach einer stabilen und wohletablierten Obrigkeit wird für Metellus und die anderen Senatoren ausgedrückt in der Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, in denen Scipio durch politisches Geschick Volk und Adel im Staatswesen zusammenzuhalten wußte. Das Fehlen eines charismatischen, beiden Teilen gleichermaßen gewogenen Staatsmannes stiftet Intrigen, Aufruhr und Bürgerkrieg (1.7—11). Das Gleichgewicht der Kräfte im Staat ist gestört durch die Unfähigkeit der Parteien, zu einer Übereinkunft zu kommen, bzw. die Unfähigkeit der jeweiligen Parteiführer, beide Gruppen des Staates für sich zu gewinnen. Bestechung und Ämterkauf sind die Symptome eines korrumpierten Staatsapparates: „Voices are sold in Rome" Der Wankelmut und die leichte Beeinflußbarkeit der breiten Volksmenge ist ein in jedem Fall zu bedenkender Unsicherheitsfaktor, der nicht nur der Senatspartei gefährlich werden kann. Die Verachtung der Manyheaded multitude zeigte sich bei Shakespeare wie Dryden. Aber auch Otway läßt seinen Titus die Schuld für die Notwendigkeit seines Verzichts auf Berenice in der Überheblichkeit und Anmaßung eines verachteten Volks suchen' 47 . In Caius Marius drückt sich die Verachtung der Volksmenge durch die Senatoren in Fügungen wie giddy Multitude, Drunken rabble, Sordid rabble und Monster-people aus148. Doch auch Marius beklagt sich über die Treulosigkeit seiner Soldaten (4.279—281). Wie Dryden es am Demagogen Creon in Oedipus vorführte, warnt auch Otways Granius: „One discontented Villain leads a State / T o Madness" (1.1.184 f.). Auf diesem Hintergrund des Parteienhasses und der schwankenden Volksgunst entwickelt Otway Charakter und Schicksal seines Titelhelden. Auch wenn Marius die Vorwürfe der Senatoren im zweiten Teil des ersten Akts Stück für Stück widerlegt und sein Sohn der Senatspartei selbstsüchtige Motive bei ihrem Kampf gegen Marius nachweist, bleibt doch der Hauptvorwurf der Ambition, wie Antonius ihn am schärfsten formuliert, bestehen: „Ambition, raging like a Daemon in him, Distorts him to all ugly forms, sh'as need to use" (1.66 f.). Sein rücksichtsloses Karrieredenken überdeckt seine positiven Qualitäten. Sein diplomatisches Ungeschick verdirbt die ihm durch seine militärischen Erfolge zustehende Position im Senat. Marius entspricht in keiner Weise einer Wunschvorstellung vom Staatslenker, wie die Senatspartei sie etwa in unkritischer, idealisierender Form von seinem Gegenkandidaten Sylla entwirft: 147

148

The Works of Thomas Otway, Bd. 1, S. 265: 1.2. 52 f.; an vergleichbarer Stelle steht bei Racine keine Reflexion über die Überheblichkeit des ungezügelten Volkswillens, sondern lediglich Titus' Bedauern über die Aufforderung zum Verzicht: „Hélas! à quel amour o n veut que je renonce!" (2.2). 1.25, 1.31, 1.109, 1.39.

Das Interesse an Shakespeare:

„Caius

Marius"

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„There is a Roman Noble just and valiant, Sylla 's his name, sprung f r o m the ancient Stock Of the Cornelii, bred f r o m youth in W a r , Flusht with Success, and of a spirit bold" (1.112—15). Dieses Idealbild des edlen, da aristokratischen Römers wird als positive Kontrastfigur zu dem Emporkömmling Marius aufgestellt. D o c h als idealistische Leitgröße ist dieser Opponent, dem angeblich der Erfolg von allein zufällt und der nicht wie Marius der Fortuna nachjagen muß, nur eine schattenhafte Hilfskonstruktion. Bei seinem einzigen persönlichen Auftritt im dritten Akt erweist er sich als nicht annähernd so tugendhaft und untadelig, wie er zunächst dargestellt wurde, sondern nimmt aktiv an den Parteibeschimpfungen teil. Das Ergebnis dieser doppelperspektivischen Exposition des ersten Aktes ergibt f ü r Otways Titelfigur trotz aller römischen Aufrichtigkeit und soldatischen Tapferkeit die Gestalt des ehrgeizigen Abenteurers, der den individuellen Erfolg über das Staatswohl stellt und durch seine Angewiesenheit auf Zufälle des Schicksals dem äußeren Geschehen in ständig angespannter Verfolgung seines Glücks verhaftet bleibt. Als positive Identifikationsfigur f ü r den Zuschauer ist Caius Marius ungeeignet. 1.4.3 Die H a n d h a b u n g von Prolog, Exposition und Szenenauswahl Obwohl — wie in der vorangegangenen Untersuchung ausgeführt wurde — Shakespeares Romeo and Juliet nur f ü r einen Teil des O t w a y - D r a m a s als Quelle und Vorlage verwandt wurde, ist ein wiederholter Vergleich beider W e r k e sehr fruchtbar f ü r die Darstellung zweier völlig entgegengesetzter Dramenkonzepte. Gerade im Kontrast zu Shakespeares Vorgehen läßt sich Otways grundsätzlich andere Aufteilung und Z u o r d n u n g der einzelnen Handlungsglieder zugunsten einer stärker formalistisch und auf durchschaubare Klarheit des Handlungsverlaufs hin geordnete Darstellung verfolgen. Shakespeares Stück wird durch den Chorus eröffnet, der den Schauplatz festlegt und als H a n d l u n g das tragische Geschick der Titelfiguren vor einem Hintergrund „Where civil blood makes civil hands unclean" (4) angibt: „The fearful passage of their death-marked love" (9). Dieser Prolog hat von einem projektiven und übergreifenden Standpunkt her nicht nur einstimmende, sondern f ü r die anschließenden Szenen auch ordnend-zusammenhaltende Funktion, die durch das erneute Auftreten des Chorus zu Beginn des zweiten Akts noch verstärkt wird. R o m e o erscheint bei seinem ersten Auftritt nicht als in die neu aufgeflammte Bürgerfehde verwickelt, sondern präsentiert sich als melancholischer Liebhaber, der von der Geliebten nicht erhört wird und am liebsten fern jeder Gesellschaft sein Unglück meditiert. Erst im folgenden zeigt Shakespeare die Befreiung Romeos von seinem erfolglosen Liebeswerben um Rosaline und das Entstehen der neuen Liebe zu Juliet, wobei Romeos

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(1676—1680)

zuerst gezeigte unglückliche Schwärmerei die neue, am Ende tragische Liebesbindung kontrapunktisch präfiguriert. Die Bedeutung der neuentstandenen Liebe für das Dramengeschehen wird durch den zweiten Auftritt des Chorus herausgestellt, der den Handlungseinschnitt zwischen Vorgeschichte und Beginn, zwischen Voraussetzungen und Akzeleration der Handlung markiert. So funktional und bedeutungsvoll Shakespeares Dramenbeginn aufgebaut ist, so entspricht er doch in keiner Weise Otways völlig anderen Intentionen. Der Prolog, der als traditioneller Aufführungsbestandteil fest in der Theaterkonvention verankert ist, erhält jetzt einen gänzlich von Shakespeare abweichenden Stellenwert für das nachfolgende Geschehen. InCaius Marius — vom Darsteller der Hauptfigur gesprochen — ist er der O r t für die situative Erörterung von Tagesereignissen und persönlichen Anliegen des Autors. Als Vorbemerkung zur Aufführung weist der Prolog auf die besonderen Umstände bei der Entstehung des Dramas hin und hat daher keine eigentlich handlungseinleitende Funktion mehr. Der Abstand zwischen expositorisch-apologetischem Text und fiktiv-dramatischem Bereich wird besonders auffällig herausgestellt. Die Integrationsbestrebungen Shakespeares für die Eingliederung des kommentierenden Chorus in den Geschehenszusammenhang des Stücks sind einer strengen Trennung des dramatischen Kontexts von seinem durch Pro- und Epilog gesetzten epischen Rahmen gewichen. Doch auch die dramatische Exposition wird bei Otway anders gehandhabt als bei Shakespeare. Der Titelheld wird eingeführt in der Diskussion durch seine Gegner, ehe er persönlich auftritt. Otway versucht nicht die bewegungs- und kontrastreiche schnelle Sukzession der fünf kurzen Szenen des ersten Akts bei Shakespeare zu kopieren, sondern stellt Anklage und Rechtfertigungsversuch in genau paralleler Entsprechung als statische Blöcke gegenüber, die im ersten Akt die Grundlage für die folgende H a n d lungsentwicklung bilden. Die bei Shakespeare schon im ersten Akt durch häufigen Wechsel der Figurengruppierungen, Gesprächsthemen und Schauplätze erreichte Handlungsgeschwindigkeit wird bei Otway durch das Aufarbeiten einer langen Vorgeschichte im klärenden Gespräch und retrospektiven Bericht erst der einen, dann der anderen Partei vor derselben neutralen Kulisse ersetzt. Die hektisch-unheilvolle Atmosphäre des Parteienhasses wird nicht mehr durch die schlaglichthafte Darstellung der übergreifenden Feindseligkeiten von der Ebene der Dienerstreitereien auf die der Duelle zwischen Anhängern und Mitgliedern der gegnerischen Familien erreicht. Vielmehr soll das ungeordnete Hintergrundsgeschrei der aufgebrachten Volksmenge jetzt die diskursiven Ausführungen der Senatoren akustisch untermalen. Beide Teile des ersten Akts bringen bei Otway im Anschluß an Charakteristik und Lebensgeschichte des Marius die Vorgeschichte der Liebesbeziehung zwischen Marius junior und Lavinia, die zunächst füreinander bestimmt waren, jedoch durch den Umschwung der politischen Situation und

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die Gegnerschaft der Väter aufeinander verzichten sollen. W a r die Ehe aus politischen Gründen angestrebt worden, so wird sie jetzt aus politischen Gründen verhindert. Durch den gemeinsamen Ursprung im parteipolitischen Zweckdenken sind Haupt- und Nebenhandlung von vornherein aufs engste verknüpft. Für die komplexere Situation, die bei Shakespeare durch Romeos vorübergehende Liebe zu Rosaline entsteht, ist in Otways Nebenhandlung kein Raum: „ [ . . . ] the age found the puppy love of Romeo for Rosaline unacceptable. T o laugh at love in serious drama was lèse majesté; to show young Marius unfaithful to love in the first act would have been to challenge damnation from all the ladies of pit and balcony' 49 ." Diese von H a m für Otways Kürzung der Liebeshandlung angeführten Gründe entstammen den Normen eines höfisch-heroischen Verhaltenskodex, der für die Figurenzeichnung relevant wird, um dadurch die Würde der ,hohen' Tragödie zu gewährleisten. Neigungsumschwung ohne triftige Begründung ist unstatthaft 150 . Zusätzlich ist diese Verkürzung des Liebesgeschehens jedoch auch aus einer klassizistischen Handlungsökomomie zu begründen: Das eigentliche Geschehen darf erst einsetzen, wenn die Voraussetzungen für die Entfaltung eines tragischen Konflikts vollständig sind und das letzte entscheidende Stadium erreicht haben. Diese Situation ist durch das Verbot einer schon bestehenden Liebe zwischen Marius junior und Lavinia gegeben. Gleichzeitig und in unmittelbarem Begründungszusammenhang ist das letzte Stadium des Parteienzwists durch die Ankündigung der bewaffneten Auseinandersetzung am Ende des ersten Aktes erreicht. Der zweite Akt zeigt in strenger Konsequenz die Akzeleration des Geschehens und die den tragischen Schluß bedingenden Folgen einer im ersten Akt retrospektiv in ihrer Genese aufgezeigten Konfliktsituation. In der ersten Szene widersetzt sich Lavinia den neuen Heiratsplänen ihres Vaters. In der zweiten Szene bricht Marius das seinem Vater gegebene Versprechen und verabredet sich mit Lavinia für den nächsten Morgen, eine Zusammenkunft, die — wie sich später herausstellt — zu der zwischen zweitem und drittem Akt stattfindenden, von Otway nicht auf der Bühne gezeigten Eheschließung führt. Die dritte Szene schließlich führt nach den beiden Forumsreden der Widersacher Marius senior und Metellus den Übergang von der rhetorischen Auseinandersetzung zur handgreiflichen Kampfhandlung der Parteien vor. An der sorgfältig ausbalancierten Szenenabfolge der ersten beiden Akte läßt sich deutlich Otways Bestreben nach Parallelität und Folgerichtigkeit beim Aufbau einer zweisträngigen Handlungsentwicklung beobachten. Knappheit soll nicht so sehr in der inhaltlichen und sprachlichen Durchfüh149 150

Ham, S. 136. Vgl. oben Punkt 1.1.3 Rymers Argumentation für Euripides' Iphigeneia und gegen Beaumonts und Fletchers The Maid's Tragedy.

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rung als eher in der Struktur durch Konzentration auf die Auswahl von wesentlichen Szenen erreicht werden. Die Klarheit des Dramenaufbaus soll sich in der Szenenanordnung und der Stringenz ihrer Abfolge dokumentieren. Alle funktional unnötigen Szenen und Auftritte werden vermieden. Das Episodenhafte wird von der direkten Darstellung in den Bericht verdrängt. Eine auf Exaktheit bedachte Handlungsentfaltung konzentriert die bei Plutarch langausgeführte Vita des Marius wie auch die ausführlichere Liebesgeschichte Shakespeares auf wenige Stationen. Bemühte sich Shakespeare, die ,ganze' Geschichte auf der Bühne darzustellen und ein breites, vielschichtiges und entwicklungreiches Geschehen darstellerisch zu veranschaulichen, so ist Otway eher an der Endphase des Geschehens interessiert. Die raffende Synopse des ersten Akts führt den Zuschauer zu einem Zeitpunkt in die Handlung ein, zu dem das Geschehen einen weit fortgeschrittenen Entwicklungsstand erreicht hat. Obwohl Otway in Caius Marius an der alten Tradition einer auf die spätmittelalterliche de casibus-lÄltraxur zurückführbaren History and Fall-Titelgebung festhält, wird die bistory von ihm doch auf ihren Ausgang hin zusammengedrängt. Auch wenn Otway den Anforderungen einer pseudoaristotelischen Regelstrenge nicht genügt 151 , so ist gegenüber Plutarch dennoch eine deutliche Einschränkung des Erzählumfangs und der epischen Breite zu beobachten, der die Umformung von der Episodenaddition zur dramatisch-konzentrierten Entwicklung entspricht. Aber auch gegenüber Shakespeares Handlungsaufbau läßt sich, wie ausgeführt wurde, eine starke Tendenz zur Straffung und Simplifizierung der Ereignisabfolge feststellen. 1.4.4 Die Verzahnung der Handlungsstationen Die notwendige Abwertung des Otway-Werks im Vergleich mit seiner Vorlage bei Shakespeare findet sich besonders scharf herausgestellt zu einer Zeit emphatischer Shakespeare-Verehrung. So schreibt August Wilhelm Schlegel: „Wie wenig Otway die wahren Regeln der Komposition verstand, kann man schon daraus schließen, daß er in seinem Caius Marius die Hälfte der Szenen von Shakespeares Romeo und Julia wörtlich oder mit entstellenden Veränderungen übertragen hat 152 ." Dieses Argument für Kompositionsschwäche überzeugt heute nicht mehr. Warum sollte nicht eine Montage aus eigenen und übernommenen Szenen gerade besonders sorgfältig und kunstvoll in der Anordnung der einzelnen Szenen zu einem neuen Ganzen verfahren? Der eigentliche Vorwurf Schlegels besteht daher auch, wie seine folgenden Ausführungen zeigen, in dem des Plagiats. In seiner Uberzeugung von der Singularität und Unantastbarkeit des Kunst151

152

Vgl. eine übertriebene Zusammenfassung bei Spencer, S. 298: „As for the critical canons, the play violates all the unities and allows the intermingling of comic with tragic. Poetic justice is of necessity outraged. Scenes of violence abound." Kritische Schriften und Briefe, Bd. 6, Stuttgart 1967, S. 242.

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werks tadelt er an O t w a y vor allem die mangelnde Originalität. Das klassizistische Prinzip der N e u f o r m u n g bei gleichzeitiger Imitation des Bestehenden, das die Betonung gerade auf den Adaptionsprozeß f ü r eine veränderte Umwelt legt und hierin einen entscheidenden Z u g dichterischen Schaffens sieht, läuft der romantischen Ästhetik und deren Geniebegriff zuwider. Eine Transponierung von Teilen des Romeo and /w/ief-Dramas in einen anderen Zusammenhang und an einen anderen Schauplatz muß daher nach diesem Verständnis abwegig erscheinen: „Es läßt sich nichts Widersinnigeres denken, als eine solche Episode [d.h. den Romeo-und-Julia-Stoff] in römischen Sitten und in einem historischen Schauspiele. Dies unverschämte Plagiat wird keineswegs dadurch entschuldigt, daß er es eingesteht 1 "." D a ß O t w a y mit seinem V o r g e h e n nicht nur einem verstärkten Interesse seiner Zeit f ü r antike Historie und römische Heldenfiguren entgegenkommt, sondern zugleich Züge des elisabethanischen und heroischen Dramas auf einer neuen Ebene miteinander verbindet, ist f ü r Schlegel uninteressant. Die ,wahren' Regeln der Komposition sieht die romantische Ästhetik ausschließlich in Shakespeares W e r k realisiert, so daß jede Modifikation oder historisierende Auflösung eine Verfälschung darstellt. Gerade die K o m p o sition seines Dramas, die Aufeinanderfolge, Z u o r d n u n g und Verbindung der einzelnen Dramenteile jedoch ist von O t w a y mit besonderer Sorgfalt und Präzision durchgeführt worden. Am Ende des ersten Akts hatte Marius als Ziel seines Ehrgeizes formuliert: „[. . .] to be Great, unequall'd, and alone" (1.436). D e r Karriere und den Abenteuern einer so nach einsamer G r ö ß e strebenden H a u p t f i g u r ist das Schicksal der beiden Liebenden, der Kinder der Parteiführer, zugeordnet. Entsprechend verfallen Shakespeares star-crossed lovers jetzt in stärkerem Maße den Wechselfällen der Fortuna. Z w a r sprechen R o m e o und J u liet auch von fortune,5\ doch ist Otways Vorstellung dieses Begriffs eher durch N o r t h s Vermittlung von Plutarchs Tl)XT| geprägt. Shakespeares sich übereilt entwickelnde und fast nahtlos zum tragischen Ende hinstürzende Liebeshandlung wird bei O t w a y in den forensischen Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung und eines schwankenden Staatsgeschicks gestellt. Wie die V ä t e r sind auch die Kinder selbst jetzt unmittelbar betroffen von den Umschwüngen des Schlachtenglücks und der 153

154

Ebd., S. 242. Ahnliche Ansichten in der Tradition einer romantischen Ästhetik finden sich auch noch bei Odell, dem der Bühnenerfolg eines Werkes wie Caius Marius unerklärlich ist: vgl. Odell, S. 53: „Otway's is an amazing compilation, but even more extraordinary is its continued vogue." N o c h negativer drückt sich Ghosh in The Works of Thomas Otway, Bd. 1, S. 46, aus: „Very little can be said in favour of this play. O t w a y has fallen between two stools and knocked his head against a third. T h e attempt to combine Shakespeare's romance with Plutarch's history has resulted in disaster to both, and matters have been made worse by the attempt to make the feud between the rival Roman factions suggestive of the Whig and T o r y controversy of Otway's time. T h e different interests have not blended, and the play remains a clumsy patchwork with the seams staring. Vgl. 3.1. 141, 3.5. 6 0 - 6 2 , 5.2. 17 und 2.2. 147.

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Wahlergebnisse. Zufall und blindes Glück begünstigen in unvorhersehbarer Weise die Parteien abwechselnd. Eher als die Beständigkeit ist der Wechsel von Erfolg und Niederlage anzunehmen. In diesem Auf und Ab des Schicksals schafft lediglich der T o d endgültige Ergebnisse; die V e r b a n n u n g aus Rom läßt f ü r Marius immer noch die H o f f n u n g auf Rückkehr zu: „[. . .] if I've manag'd ill the time that's past, And too remiss six eider Fortunes lost, T h e youngest Darling Fate is yet to come" (3.498-500). Auch im T i e f p u n k t seines Lebens, der Vertreibung des Besiegten aus Rom, verläßt ihn nicht sein Glaube an Fortune und Fate. Entsprechend dieser Charakterisierung baut O t w a y sein D r a m a nach den alternierenden Schicksalsfügungen auf. Am Ende des ersten Akts ist die Senatspartei durch Syllas bewaffneten Einmarsch im Vorteil: „ H ' h a s drawn a Force f r o m Capua here to Rome" (1.406). Das Ende des dritten Akts zeigt Marius als Verlierer und das Ende des f ü n f t e n Akts als gebrochenen todesnahen Unterlegenen. Der Schluß des zweiten und vierten Akts stellt dagegen jeweils seine Bevorzugung durch das Glück dar. In immer weiteren Ausschwüngen bringt diese Schaukelbewegung Marius zum H ö h e p u n k t seiner Macht als siegreichen Eroberer Roms, um ihn dann jedoch um so tiefer und sicherer ins Verderben zu stürzen durch den T o d des Sohnes, erneuten Volksaufstand und die Rückkehr übermächtiger Feinde (5.470-73). Die wachsende Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge betont die tragische Konsequenz der Schicksalsschläge und deren Unabwendbarkeit. Shakespeare verwandte f ü r die Darstellung der ungeheuren Schnelligkeit des Schicksals das in der Lichtmetaphorik seines Dramas zentrale Bild des lautlosen, aber tödlichen Blitzes, das Juliet vorahnend mit der geplanten Heirat in Zusammenhang bringt 155 . O b w o h l dieses Bild auch bei O t w a y — mit geringen Abweichungen — erscheint 156 , wird f ü r die H a u p t f i g u r Marius das Bild des Reiters oder Läufers, der seinem Glück nachjagt 157 , bestimmend. D a r ü b e r hinaus wählt Marius sich nicht den lautlosen Blitz, sondern den geräuschvollen D o n n e r als das seiner erratischen Großartigkeit angemessene Herrschaftsattribut aus:

155

Shakespeare, 2.2. 117—120: „I have no joy of this contract tonight: It is t o o rash, t o o unadvised, t o o sudden, T o o like the lightning, which doth cease to be Ere o n e can say ,It lightens'." 156 O t w a y , 2. 3 2 9 - 3 3 2 : „I'm hardly satisfy'd with this night's C o n t r a c t : It seems t o o rash, too unadvis'd and sudden, T o o like the Lightning, which does cease to be E're o n e can say it is." 157 y g | pried, S. 54: „Ein N e t z von insgesamt zehn derartigen Bildern u m s p a n n t die T r a gödie."

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„Thus the Great Jove above, w h o rules alone, W h e n men forget his Godlike P o w ' r to own, Uses no common means, no common ways, But sends forth T h u n d e r , and the World obeys" (2.509 - 512). D o c h der triumphierende Jupiter-Vergleich, der den siegreichen Marius am Ende des zweiten Akts in seiner Überheblichkeit und in seiner Vorliebe f ü r den Bombast und das Getöse zeigt, weicht am Schluß des dritten Akts dem ohnmächtigen Racheschwur des Verbannten (3.500 f.). Beide Momente, Größenwahnsinn und Rachebegehren, fallen im f ü n f t e n Akt in der M o r d szene zusammen. Das Bild von dem göttergleichen, durch D o n n e r die Welt beherrschenden Eroberer steigert sich bei Marius zu einem Verständnis der Verwüstung Roms als reinigendes Unwetter. Die gegen Ende des zweiten Akts sich anbahnende, durch die Niederlage des dritten Akts verzögerte Erringung der Macht zeigt sich im f ü n f t e n Akt in ihrer Folgeerscheinung f ü r den römischen Staat: „Be't with me rather (Gods,) as Storms let loose, T h a t rive the T r u n k s of tallest Cedars down, And tear f r o m T o p s the loaded pregnant Vine, And kill the tender Flow'rs but yet half blown" (5.98 — 101). Die Stille nach dem Sturm spiegelt jedoch nicht, wie Marius meint, eine gereinigte, ihm wieder lächelnde N a t u r , sondern ist durch die Ereignisse auf dem Friedhof, durch den T o d des Sohnes und die Ankündigung neuen U n heils fürchterlich geworden. Der Sturm hat keine neu erblühende N a t u r , sondern Grabesstille und hoffnungslose Ö d e zurückgelassen. Am Akt- oder Szenenschluß stehen die einsamen Monologe des Marius, in denen er sich von seiner U m g e b u n g löst und gleichsam ohne Beachtung der Umstehenden die bereits durchlaufene Entwicklungsphase zum Abschluß bringt. Durch diese zusammenfassenden, aber auch zukunftsweisenden programmatischen Erklärungen — die am Ende des zweiten und dritten Akts schon typographisch abgehoben werden — übernimmt Marius zum Teil Funktionen des shakespeareschenChorus. Seine Schlußmonologe sind Bindeglieder der Handlungsstationen und unterstützen die logische Klarheit des Aufbaus und die konsequente Folgerichtigkeit des Handlungsverlaufs. Als Knotenpunkte des Geschehens tragen sie zu dessen Organisation und Durchschaubarkeit bei. Das Vorhandensein solcher klärenden und verbindenden Stellen wie auch ihre Integration in eine an der H a n d l u n g teilnehmende Person schalten eine die fiktive Dramenwirklichkeit durchbrechende Chor-Figur aus und lassen klassizistisches Organisations- und Konzentrationsbestreben deutlich als Prinzip erkennen. Durch die enge V e r z a h n u n g der H a n d l u n g wird eine Ablenkung der Zuschauer vom zentralen Geschehen vermieden. Bürgerkriegszufälle und Ehrgeiz der Väter halten als determinierende Größen beide Handlungsebenen zusammen, so wie Dryden es forderte und es in ausdrücklicher O p p o sition zu Shakespeares Historien entwickelte 158 . D u r c h die genaue Simul158

Of Dramatic

Poesy, Bd. 1, S. 230 und S. 231.

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taneität und Parallelentwicklung beider Handlungsstränge ergibt sich keine Erweiterung des zeitlichen oder räumlichen Umfangs. Der gegenüber Shakespeare aufgeschwollene Stoff behält dennoch dieselbe zeitliche Entwicklungsspanne bei. Durch Hinweise auf die Tageszeit wird — genau wie bei Shakespeare — der Eindruck eines in unmittelbarer Sukzession abrollenden Ereigniszusammenhangs verstärkt. In gleichsam ununterbrochener Folge führt die Entwicklung durch die Ereignisse weniger Tage hindurch. Die größere Ereignisfülle im selben Zeitraum verstärkt bei Otway noch den Eindruck der Geschlossenheit des dargestellten Geschehenshorizonts gegenüber Shakespeare. Wie Shakespeare den Anfang des fünften Akts von Verona nach Padua verlegt, so spielt sich auch bei Otway der mittlere Teil des vierten Aktes in der Nähe Saloniums ab, der Rest des Dramas jedoch bleibt auf Schauplätze in und vor Rom beschränkt.

1.5 Tugendrigorismus und Freiheitsidee: „Lucius Junius Brutus" Von Lees dreizehn Dramen behandeln neun römische oder griechische Stoffe. Lucius Junius Brutus, das die Ereignisse um die Vertreibung der Tarquinier und die Gründung der Republik darstellt und die Problematik eines spezifisch römischen Tugendrigorismus thematisiert, markiert einen deutlichen Wendepunkt in Lees Schaffen. Die Abkehr vom Ethos des konventionellen heroic play ist evident: „We are conveyed to a world that breathes of an inspiration far apart from Settle's heroes and from Howard's rants' 59 ." Betont Alardyce Nicoll den poetischen Aspekt dieses Stückes, so hebt James Sutherland Lees Hinwendung zur Entwicklung eines nachhaltig tragischen Geschehens hervor: „[. . .] although the old fury sometimes hurries him away, he shows a new power to develop a genuinely tragic argument 160 ." Sutherland stützt sich für seine Beobachtung auf Lees eigenes Bekenntnis in der Widmung des Dramas, daß er sich um „Greatness of Thought without Bombast" bemühe 161 . Der Verzicht auf spektakuläre Übertreibungen und die Zurückhaltung im Sprachstil werden ergänzt durch die Propagierung eines entsagungsvollen Tugendideals, das das Wohl des Staats und der Bürger an erste Stelle setzt. Das edle Motiv der Vaterlandsliebe muß am Ende des Dramas selbst noch das unnatürliche Verhalten der Opferung der eigenen Söhne entschuldigen. Patriotismus steht über Familienbindung genauso wie über allen anderen Interessen. Der Untertitel des Stücks, Father of His Country, wird zum Ehrentitel für den Protagonisten und die Vaterlandsvorstellung zur höchsten verpflichtenden Norm. Gegenüber der selbstsüchtigen Machtgier des Protagonisten in Otways Caius Marius stellt Lee seinen römischen Titelhelden jetzt als positives, nicht mehr als abschreckend-warnendes Beispiel unter den moralischen Aspekt eines tugendhaften Freiheitskampfes. 1.5.1 Der Selbstmord der Lucrece Zeigt der Beginn des Dramas in der Liebesgeschichte von Titus und Teraminta den privaten Aspekt und die Gründung der Ehe, so führt das Ende des Aktes die in der relativen Öffentlichkeit der römischen Familie sich vollziehenden Konsequenzen einer Verletzung der Ehe und ihr Ende durch den tapferen, aber folgerichtigen Selbstmord der Lucrece vor. Das zusam159 160

161

Nicoll, Bd. 1, Cambridge "1952, S. 147. James Sutherland, English Literature of the Late Seventeenth of English Literature, Bd. 6), O x f o r d 1969, S. 74. The Works of Nathaniel Lee, Bd. 2, S. 321, Z. 1 8 - 2 1 .

Century (The O x f o r d History

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menhaltende Bindeglied dieser Geschehnisse ist die Wandlung des Brutus vom scheinbar verrückten Hofnarren zum zielbewußten und überzeugenden Anführer der Freiheitspartei. Die aus dem T o d Lucreces resultierende Bildung der Verschwörung ist End- und Höhepunkt einer relativ selbständigen Dramenexposition. Eine solche Eigenständigkeit dieses ersten Handlungsabschnittes, wie Lee ihn in geschehnisreicher Entwicklung und unter schnell wechselnden Aspekten vorführt, ist daher auch von seinen Nachfolgern in der Dramatisierung des Stoffes, soweit sie ein strengeres Klassizismuskonzept vertreten als Lee, vermieden worden. Sowohl Charles Gildon, der 1703 eine Bearbeitung von Lees Drama unter dem Titel The Patriot veröffentlicht, als auch Voltaire, der diesen Stoff in seinem Brutus behandelt, lassen die dramatische Handlung erst nach dem Tod Lucreces und nach der Vertreibung der Tarquinier einsetzen. Gildon konstatiert ausdrücklich bei Lee einen Handlungsbruch nach dem ersten Akt und prangert ihn als Kompositionsfehler im Sinne der aristotelischen Forderung nach Einheit der Handlung an: „The old play has plainly two distinct actions, one ending with the death of Lucretia, the other with the confirmation of the liberty of Rome by the death of the sons of Brutus and the other conspirators 1 "." Trotz des markierten Einschnitts liefert der erste Akt jedoch die komplexe Grundlage für die Handlungsentwicklung des folgenden Geschehens. Lee nutzt die Lucrece-Episode nicht nur als Ansporn und tugendhaft-vorbildliches Beispiel für die Aktivitätsentfaltung des Brutus, sondern auch zur Etablierung einer eindeutigen Werthierarchie, in der die sittlichen über den materiellen Werten rangieren und die Tugend höher als das Leben eingeschätzt wird. In dieser Hinsicht ist der T o d Lucreces Vorwegnahme und Vorbereitung für Titus' Anerkennung seines Schicksals und seiner Bereitschaft zum T o d im fünften Akt wie auch für die Entscheidung des Brutus selber, der das Leben seiner Kinder dem Interesse des Staats opfert. Die sorgfältige Planung des Aufstandes und die kluge Nutzung einer günstigen Gelegenheit geben der Brutus-Figur die zusätzlich positiven Züge des rational und überlegt handelnden Vorkämpfers der Freiheitsidee. Gerade dieser letzte Zug seiner Brutus-Figur ist eine entschiedene Weiterbildung des in der historiographischen Quelle gefundenen Materials. Livius berichtet lediglich das Faktum der Metamorphose des Brutus an der Leiche der Lucrece, von Planung und Berechnung des Aufstandes ist an dieser Stelle nicht die Rede. Die Verschwörung erscheint als spontanes Ereignis: „Cultrum deinde Collatino tradit, inde Lucretio ac Valerio, stupen-

162

„Preface" zu The Patriot, or the Italian Conspiracy, London 1703. Weniger auf Lee als ausdrücklich auf Voltaire beruft sich William Duncombe in seinem Vorwort zu Junius Brutus, A Tragedy, London 1735. Eine sehr breite und ausführliche Behandlung der Vorgeschichte findet sich dagegen — jedoch schon vom Titel her gerechtfertigt — in W. H[unt], The Fall of Tarquin, A Tragedy, York 1713. Unter diesem Aspekt stellt auch William Bond, The Tuscan Treaty (1733), den Stoff dar.

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dibus miraculo rei, unde novum in Bruti pectore ingenium' 63 ." Madeleine de Scudery hebt dagegen in ihrer romanzenhaften Version des Brutus-Stoffs den emotionalen Aspekt hervor. Entgegen der Beredsamkeit und rhetorischen Begabung des Brutus bei Lee zeigt sie lediglich den unter der Ubermacht der Gefühle verstummenden Inaugurator der Verschwörung: „ [. . .] for though he was desirous to speak, yet could he not possibly do it on his first apprehension, such a storm had grief, rage, indignation, love and jealousie raised in him164." Auch im barocken Liebesroman der Scudery sind alle ,wahren' Römer auf Befreiung der Stadt vom Joch des Tyrannen bedacht, doch die entscheidende Tat des Brutus wird im Affekt ausgelöst durch den letzten Blick der sterbenden Lucretia, der ihrem heimlichen Verehrer Brutus gilt. Wie alle anderen Romanfiguren Liebe als höchsten Wert ansehen, so gibt auch bei Brutus das persönliche Rachebedürfnis des betroffenen Liebhabers den entscheidenden Ausschlag zur Rebellion: „[. ..] and so much was his mind taken up with this sad accident, that Lucretia was the only cause of his great and dangerous attempt 165 ." Lucretias T o d ist damit nicht Anlaß, sondern Ursache der Verschwörung. Ritterliche Ehre und amouröse Interessen gelten als Beweggründe aller Teilnehmer: „ [ . . . ] they being all vertuous and gallent souls, were easily drawn in to this noble attempt 166 ." Trotz der zahlreichen Anleihen bei Scudery entgeht Lee dem höfisch-heroischen T o n dieses Werkes. Bei aller Revolutionseuphorie geht seine Brutus-Figur doch stets von überlegter Argumentation aus. Gegenüber den Schwärmereien und dem jugendlichen Ungestüm seines Sohnes Titus fallen die Reden Brutus' eher streng und rational aus. Obwohl sich Lee gerade für die Gestaltung der Liebesbeziehung zwischen Titus und Teraminta auf die englische Version von Scuderys Roman stützt, hat er doch für die Charaktergestaltung der anderen Figuren auf das galante Barockelement gänzlich verzichtet und die strengere und simplere Fassung des Stoffs bei Livius vorgezogen und damit eine Rückbesinnung auf das antike Tugendideal beabsichtigt167. Ehe Brutus im zweiten Akt seine große, den Volksaufstand entzündende Rede auf dem Forum hält, die in dem Liberty-Schrei der Menge gipfelt 163

164 165 166 167

Livy, With an English Translation, 13 Bde., L o n d o n — N e w York 1 9 1 9 - 1 9 5 9 , 1.59.2, Bd. 1, übers, v. B. O. Foster, S. 204 f. Livius erwähnt das kluge und berechnende Verhalten des Brutus nicht bei der Gründung der Verschwörung, wohl aber in der Episode der Orakelbefragung in Delphi 1.56.12, S. 196 f., und vorher 1.56. 7 — 9 , S. 194 ff. Vgl. auch Mary Ann Robbins, „Livy's Brutus", SP 69, 1972, S. 1 — 20. Clelia, An excellent new Romance, 5 Bde., London 1656—1661, Teil 2, Buch 3, S. 136. Ebd., Teil 2, Buch 3, S. 136. Ebd., Teil 2, Buch 3, S. 137. John Loftis führt in seiner Einleitung zu Lucius Junius Brutus, hrsg. v. J. Loftis, London 1968 (Regents Restoration Drama Series), S. X I X , als andere antike Quellen Dionys von Halicarnassus und Plutarchs Leben des Valerius Publicola an, betont jedoch S. X X die Bekanntheit des Scudery-Romans in England und Lees Verpflichtung ihm gegenüber für die emotionalen Erweiterungen des Stoffes.

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(2.235) und damit das Schicksal der Tarquinier besiegelt, wird im ersten Akt die moralisch-einwandfreie Motivation dieser Königsvertreibung und der hohe Tugendbegriff als Basis des untadeligen Charakters des Brutus entwickelt. Lucreces Verhalten zeigt den Unbedingtheitsanspruch dieses Tugendbegriffs. Es entspricht den Erwartungen des Brutus vom Ideal einer tugendhaften Frau vollständig. Nach dem Verbrechen des Sextus bleibt Lucrece nicht passiv und im Leid erstarrt auf ihrem Landsitz, sondern eilt sofort in die Stadt. Durch diese Änderung sowohl gegenüber Livius168 als auch Scudéry 169 weiß Lee nicht nur die Einheit seines dramatischen Schauplatzes zu wahren, sondern erhöht auch die Aktivitätsentfaltung Lucreces. Sie ruft Familie und Freunde zusammen und erscheint auf der Bühne nicht als rührselig und melancholisch, sondern präsentiert sich resolut und tatentschlossen. „If there be Gods, O , will they not revenge me?" (1.352): Der Anruf der Götter um Hilfe in ihrem Rachebegehren ist keine Flucht vor der Notwendigkeit des eigenen Handelns, sondern lediglich der rhetorische Auftakt dazu. Er findet seine Entsprechung und Ergänzung in der Antwort, die zur Begründung der Eigeninitiative wird: „Alas, they are far off" (1.359). In der Veröffentlichung — „Hear then, and teil it to the wondring World" (1.361) — ihres privaten Unglücks macht sie die Familienschande zur Staatsschande und zum Symptom und Beweis des Machtmißbrauchs absoluter königlicher Gewaltausübung. Unfähig, unter dem Ubermaß ihrer Schande weiterzuleben, ersticht sich Lucrece — jedoch nicht, ohne vorher auf die Exempelhaftigkeit ihres Verhaltens hingewiesen zu haben (1.416). Ihr allgemeiner Racheappell — „revenge me all" (1.411) — wird von Brutus aufgegriffen, da er sich als Gelegenheit erweist, seine eigenen Pläne durchzuführen. Brutus erst erweitert das persönliche Interesse Lucreces an einer Rache für ihre Schmach zu einem allgemeinen Anliegen des Adels und des Volkes und erklärt es damit zur Sache des römischen Staates. 1.5.2 Grausamkeit und Tragik Der Aufstand erhält in der Figur der Lucrece ein Leitbild, das nicht nur durch die Vision des Brutus vom Geist der Verstorbenen, der die Verschwörer segnet (1.454 f.) und die Römer zur Verbannung des Königs antreibt (2.210), realisiert wird, sondern schon durch die Anwesenheit der Leiche zeichenhaften Charakter erhält. Die tote Lucrece wird nicht nur von Lee für die erste große Rede des Brutus als optische Mahnung genutzt, sondern ist auch für die Forum-Rede des zweiten Akts allen sichtbar aufgebahrt: „Thus with her Body high expos'd to view, March to the Forum with this Pomp of Death" (1.456 f.). 168 169

Vgl. 1.57.5 f , S. 202 f. Vgl. Scudéry, Teil 2, Buch 3, S. 135 f.

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Drydens double Pomp of sadness wird von Lee zu Pomp of Death gesteigert. Schon in den ersten beiden Akten werden Dolch und Leiche als emblematische Requisiten 170 eingesetzt und tragen effektvoll zur Erstellung der feierlich-grausamen Atmosphäre des — in dieser Hinsicht barocken — Trauerspiels bei. Der Aspekt des Grausamen wird auf der visuellen Ebene fortgesetzt und gesteigert durch die Menschenopferszene im vierten Akt. Die vor Verbrennung und Kreuzigung nicht zurückschreckenden Priester, die Gefäße mit menschlichem Blut tragen, geben Lee die Gelegenheit für die Demonstration der Requisiten des barocken Märtyrerdramas, wie sie ähnlich etwa in Drydens Tyrannic Love (1669) für die Hinrichtung von St. Catherine vorgeführt wurden. Doch auch die republikanische Partei hält sich in der Grausamkeit der Bestrafung von Verrätern nicht zurück. Titus erscheint unter den Schlägen der Liktoren blutend auf der Bühne (5.32) und wird von Valerius aus Mitleid erstochen (5.145), während die durch Volksterror ebenfalls schon verwundete Teraminta — „Defiled and mangled thus" (5.58) — sich selbst ersticht (5.158). Die optische Darstellung grausamer Vernichtung menschlichen Lebens wurde schon in den anderen Dramen Lees durch eine nicht weniger drastische sprachliche Beschreibung ergänzt. Berichte und Vorstellungen von qualvollen Hinrichtungen und detailliertes Aufzählen raffinierter Torturen sind bei Lee nicht selten. So ermahnt in The Rival Queens der Verschwörer Cassander seine Freunde an die Hinrichtung des Philotas durch Alexander: „Ye saw him bruis'd, torn, to the Bones made bare; His Veins wide lanc'd, and the poor quivering Flesh With Pincers from his manly Bosome ript, 'Till ye discover'd the great Heart lie panting" (1.229 — 232). Extreme Grausamkeit zur Betonung des Außerordentlichen markiert das Konzept der barocken Tragödie. In Mithridates unterstreicht selbst noch die von den Mesopotamiern für ihren römischen Gefangenen ersonnene Todesart die Exotik und Extravaganz des Stückes: Als Strafe für seine Habgier wird Manius Aquilius verurteilt, das geschmolzene Gold seiner Ketten zu trinken (1.2.56). Aber auch noch in Constantine the Great werden Ritualmord und Folter plastisch ausgesponnen: „Confess! No, as he urg'd, bring forth the Rack: Wire-draw my Limbs, Spinn all my Nerves like Hairs, And work my tortured Flesh as thin as Flame You shall not know a title more then this' 71 ." 170

171

Vgl. Schöne, S. 218, der Walter Benjamins Feststellung, daß die Leiche für das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts z u m „obersten emblematischen Requisit schlechthin" werde, bestätigt und erweitert: „Nicht auf den bloßen V o l l z u g von Hinrichtungen, Märtyrertod, Selbstmord oder Tyrannenmord drängt die dramatische Aktion, sondern auf deren augenfälliges Ergebnis: mit Blut gefüllte Gläser, K ö p f e der Enthaupteten, zerfleischte Glieder, Leiber der Gemarterten und Ermordeten. In feierlichem Zuge werden sie auf den Schauplatz getragen." 2. 3 7 9 — 3 8 2 , The Works of Nathaniel Lee, Bd. 2, S. 506. G. Wilson Knight, The Golden Labyrinth, A Study of British Drama, 1962, repr. London 1965, S. 164, nennt diese Beschrei-

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In Lucius Junius Brutus enumeriert Titus am eindrucksvollsten in detaillierter Form die Stadien einer öffentlichen Hinrichtung: „Come forth you Executioners of Justice, Nay all you Lictors, Slaves, and common Hangmen, Come, strip me bare, unrobe me in his sight, And lash me till I bleed; whip me like Furies; And when you have scourg'd me till I foam and fall, For want of Spirits groveling in the dust, Then take my head" (4.565 - 571). Indem Titus das abschreckende und schauderhafte Element der Hinrichtung hervorhebt, steigert Lee die Tapferkeit und den Heroismus dieser Figur, wenn diese sich zu einer solchen Hinrichtungsfolter bereit erklärt. Die Größe seiner Entscheidung, die Verachtung physischer Schmerzen machen ihn reif für die Partizipation an dem Gerechtigkeits- und Tugendideal seines Vaters: „I now submit to all your threatn'd vengeance" (4.564). Die Grausamkeit aber ist Bestandteil des jurisdiktionellen Aspekts eines königlichen wie eines republikanischen Majestätsbegriffs, den Brutus als Staatsoberhaupt repräsentiert. Auch in dieser Hinsicht ist ,hohe' Tragödie immer noch nur als Staatsaktion denkbar. Durch seine exemplarische T u gend wird Brutus geeignet zum Staatslenker und zum allgemeinen Vorbild Roms. Sie erhebt ihn weit über die gewöhnlichen Menschen und macht zugleich äußere Machtinsignien oder Prachtentfaltung überflüssig. Aufrichtigkeit der Gesinnung bedingt vielmehr Schlichtheit der äußeren Erscheinung. Valerius betont in seiner Dankadresse an Brutus im Namen Roms die Unnötigkeit von Pomp und Gepränge (2.235 — 240). Diese klassizistische Kargheit und Zurückhaltung, die sich schon in der äußeren Form während der feierlichen Einsetzung des Brutus zum obersten Repräsentanten und Lenker des neuen Staatswesens findet, manifestiert sich auch in Brutus' Verhalten und Auftreten immer wieder. Am offensichtlichsten tritt dieser Charakterzug in Erscheinung, als sich nicht durch Verzweiflungsausbrüche und Raserei, sondern durch stille Entschlossenheit herausstellt, daß Brutus seine im vierten Akt geäußerte Absicht: „Yes, my Valerius, both my sons shall die" (4.311), auch tatsächlich durchhält. Nicht mehr Verwünschungen und Gotteslästerungen oder Selbstzerstörung werden zum Ausdruck emotionaler Grenzsituationen, sondern Tränen und Seufzer sind Requisiten des Protagonisten, um seinen Schmerz auszudrücken. Der Furor des Herrschers in Nero, Gloriana oder auch noch Oedipus weicht hier verhalteneren und abgedämpfteren Gefühlsäußerungen: „Think that I love thee by my present passion, By these unmanly tears, these Earthquakes here, bung der Folter „poetically spiritualized". Ihm ist um so eher zuzustimmen, wenn man sieht, daß Lee in Mithridates dieselbe Vorstellung der dünn ausgezogenen Nerven und der Zerrung von Fleisch oder H a u t für die Beschreibung seelischer Qualen benutzt (1. 58-60).

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Brutus"

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These sighs that twitch the very strings of life: Think that no other cause on Earth could move me T o tremble thus, to sob, or shed a tear, Nor shake my solid Virtue from her point But Titus death" (4.548 - 554). Bei aller Verhaltenheit dieser larmoyant-rührenden Szene kommt die .erdbebengleiche' Größe der Erschütterung durch die Exzeptionalität dieses Verhaltens im Kontrast zu der sonstigen strikten Beherrschung des Brutus zum Ausdruck. Emotionalität wird nicht mehr durch Wut und Bombast, sondern durch vergleichsweise als introvertiert zu bezeichnende Rührung ausgedrückt. Das persönliche Leid über den notwendigen T o d des Sohnes hindert Brutus nicht daran, öffentlich zu demonstrieren, daß er die Hinrichtung seines Sohnes billigt und in dieser Haltung unerschütterlich ist. Die Szene der Rührung ist privat, vor dem Volk zeigt Brutus sich erbarmungslos und konsequent auf die Durchführung des Rechts und den Triumph der Tugend bedacht: Die Verzeihung des Vaters bedingt keine Rechtsbeugung durch den Richter. Brutus trennt beide Bereiche und läßt die Milde des Vaters nicht die Verurteilung durch den Richter verhindern (4.525 — 531). Er will die Demonstration seiner Gerechtigkeit und Unbestechlichkeit über alle Vorbilder hinaus steigern, um dadurch selbst zum Vorbild zu werden: „If that the Gods can hold me to my purpose, T o make my Justice quite transcend example" (4.532 f.). Schon im zweiten Akt deutet Valerius an, daß damit die Tugend des Brutus an die Genze des menschlich noch Erträglichen gerät: „Well we know Virtue like thine, so fierce, so like the Gods, That more than thou presents we could not bear" (2.238 — 240). Dieser so positiv überzeichnete Held ergibt notwendig Schwierigkeiten für die Tragik des Geschehens, wenn Lee sich an die aristotelische Beobachtung halten will, daß zwar nur gute, nicht jedoch unfehlbare Helden den Zweck der Tragödie erfüllen. John Loftis sieht entsprechend auch die Tragik der Dramenhandlung im aristotelischen Verständnis eher durch das Schicksal der Titus-Figur als durch den Titelhelden selber gewahrt 172 . Brutus dagegen ist durch den Unbedingtheitsanspruch seiner Tugend gegen alle menschliche Schwäche gefeit: „Brutus' exemplary nature precludes the human weaknesses that precipitate tragic event." Doch gerade durch die Bindung an Titus wird auch Brutus zur tragischen Figur. Durch die Liebe zu seinem Sohn ergibt sich für ihn der Konflikt zwischen öffentlicher Pflicht und privatem Glück, der ihn in seelische Erschütterung und in Zweifel an seiner Werthierarchie stürzt: 172 Yg| „Introduction" zu Lucius Junius Brutus: „Yet it is Titus who has a tragic flaw — his uncontrollable love for Teraminta — that leads him to crime and finally to death; he rather than his father undergoes the tragic agony: sin, repentence, expiation."

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„Nay, 'tis the hardest task perhaps of life T o be assur'd of what is Vice or Virtue" (4.276 f.). Die Unvereinbarkeit von öffentlichem und privatem Sektor führt zum tragischen Verlust des Sohnes und damit zum freudlosen Triumph von Recht und Tugend für Brutus. Zwanzig Jahre (1.117 und 2.370) quält Brutus sich mit der Geheimhaltung seiner Pläne und verbirgt the weighty secret of my soul selbst vor Frau und Kindern. Dieser Anstau der Gefühle entlädt sich in einem der seltenen Wutausbrüche gegen das monster Tarquinius (1.234 — 239). Doch hervorgerufen werden Angerund Fury schon hier durch Titus' Verhalten, der gerade eine Tochter des Tarquinius geheiratet hat. Von Anfang an wird die Äußerung heftiger und unkontrollierter Gefühle des Brutus auf die Beziehung zu Titus beschränkt. Brutus selber scheidet sorgsam zwischen den beiden Relationen Roman Brutus und Father und zitiert schon hier in tragischer Vorausdeutung als Zeichen der Zärtlichkeit die Träne: „If after this thou seest a tenderness, A Woman's tear come o're my resolution, Think, Titus; think, my Son, 'tis Nature's fault, N o t Roman Brutus, but a Father now" (1.240 — 243). Die Liebe des Brutus zu Titus ist seine menschliche Schwäche, die ihm Sympathie und Mitleid des Publikums sichert in eben dem Maße, wie sie für ihn in seiner unabdingbaren Tugend zum Problem gerät. Lee widmet den väterlichen Liebesbeteuerungen des Brutus breiten Raum. Die VaterSohn-Beziehung wird parallel, doch kontrastierend zur Beziehung der Liebenden Titus und Teraminta entwickelt. Kongenialität der Gesinnung und Roman form entdeckt Brutus in seinem Sohn. Was diesem noch fehlt an Tugendstrenge und Entsagungsfähigkeit, wie Brutus sie selber vertritt, möchte er ihm durch Ermahnung und Beschwörung vermitteln. Doch der von Titus schließlich gelobte Verzicht auf seine Frau Teraminta wird von ihm nicht durchgehalten. Durch seine Liebe zu Teraminta gerät er gegen seinen Willen vorübergehend in die Gruppe der Königsanhänger und wird mit ihnen als Verräter ergriffen. Der Schock für Brutus, als er auch Titus unter den Verrätern findet, beraubt ihn der Gedanken, der Schmerz zerstört seine Geistesgegenwart. Zum ersten Mal im Drama steht er vor einer unvorhergesehenen Situation. Die Wucht der Entdeckung blockiert sein Denken 173 : „I'm at a loss of thought; and must acknowledge The Councils of the Gods are fathomless" (4.274 f.). Sein Weltverständnis ist zerstört, und seine ,Philosophie' als Motivation und Rechtfertigung seines Verhaltens läßt ihn im Stich: Die logische Abfolge des natürlichen Geschehens ist für ihn zum Stillstand gekommen. Die 173

D e n n o c h beweist die sprachliche Ä u ß e r u n g , daß er über diesen .Gedankenverlust' nachdenken k a n n : Vgl. zu dieser selbstbewußten Sprechweise oder „rhetorischen Schizophrenie" als Charakteristikum des Restaurationsdramas G e o f f r e y Marshall, Restoration Serious Drama, N o r m a n / O k l a h o m a 1975, S. 166.

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Widernatürlichkeit und Unverständlichkeit des entdeckten Verbrechens wirft den in seiner Kindesliebe enttäuschten Vater aus der Bahn. Als Spielball des Schicksals fühlt er sich dem H o h n der Welt ausgesetzt (4.279—286). Diese Erkenntnis menschlicher Unzulänglichkeit angesichts des Waltens höherer Mächte hält jedoch als Konsternation nur für kurze Zeit vor. Seine eigene Betroffenheit sieht Brutus als Beweis seiner Menschlichkeit, doch in der Feststellung seiner Verwirrung überwindet er sie zugleich. Der Schmerz der väterlichen Enttäuschung hindert ihn nicht, sofort die göttliche Vernunft und Vorsehung als universale Leitgröße wieder anzuerkennen und die menschliche Anfechtbarkeit durch verschärftes T u gendbestreben zu überwinden. Die Irritation war nur momentan: „No, my Valerius, I were a beast indeed N o t to be mov'd with such Prodigious suffering; Yet after all I justifie the Gods, And will conclude Ther's Reason supernatural That guides us through the World with vast discretion, Altho we have not Souls to comprehend it" (4.291—296). Im Augenblick der Wahrheit bemüht sich Brutus, auch Titus zu ruhiger Besinnung, zu rationaler Einsicht und zur Freiheit von emotionaler Spontaneität zu führen. Entscheidungen sollen nicht mehr im Affekt getroffen werden: „I would attend awhile this mighty motion, Wait till the Tempest were quite o'erblown, That I might take thee in the Calm of Nature, With all thy gentler Virtues brooding on thee, So hush'd a stilness, as if all the Gods, Look'd down, and listn'd to what we were saying" (4.445—450). Dieser Aufruf zur Beruhigung ist nicht als Beschwichtigung gedacht, sondern zur Ergründung des ,wahren' Gefühls. Der besinnliche Moment klassischer Ruhe und des Equilibriums der Affekte zeigt Titus im Glück über die Vergebung des Vaters und über die Vereinigung mit seiner Frau, erweist ihn aber gleichzeitig durch die Schmach seines offensichtlichen Verrats von der Notwendigkeit des Todes überzeugt (4.460—465). Das entscheidende und zentrale Gespräch des Dramas findet zwischen Vater und Sohn auf Anregung und Ermahnung des Vaters hin in Ruhe und Zurückhaltung statt. In der Erörterung letztgültiger Werte und ,wahrer' Gefühle und Einstellungen würde Steigerung, Überschwang oder Exaltiertheit nur verstellende Störfunktion haben 174 . Tiefe der Gefühle und moralische 174

Vgl. Friedrich Bouterwek, Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts, 12 Bde., Göttingen 1801 — 1819; Bd. 8, 1810, S. 157: „Nur in seinem Brutus [. . . ] , der unter den rührenden Scenen zugleich mehrere voll einer seltenen pathetischen Beredsamkeit enthält, ist wahre Römergröße der Gesinnungen zu finden." Vgl. ähnlich auch David E. Baker, Isaac Reed, Stephen Jones, Biographia Dramatica, 3 Bde., London 1812, repr. N e w York 1966, Bd. 2, S. 399: „This is a very fine play; being full of manly spirit, force, and vigour, with less of the bombast than frequently runs through this author's works." Vgl. aber auch die Stilanalyse des Lucius Junius Brutus bei Marshall, S. 1 5 4 - 1 8 0 .

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Größe äußern sich in relativ schlichten, verhaltenen Worten. Klassizismus ist für Lee ein komplexes Anliegen. Das Bemühen um die Darstellung römischer Tugend ist hier kein dramentechnisch-formales Problem, sondern wird als ethischer Gehalt relevant für die Figurenzeichnung und die Etablierung der Tragik des Geschehens. Die Unmenschlichkeit des Tugendideals haben Vater und Sohn am Ende durch ihre freiwillige Unterwerfung unter das Gesetz überwunden und damit durch den Märtyrertod des Sohnes, der für beide ein Erdulden darstellt, eine fast mystische Vereinigung durch die Eingliederung in die Reihe der historischen Helden erreicht: „Therefore I give thee thus my last embrace, Print this last kiss upon thy trembling lips: And, ere thou goest, I beg thee to report me T o the great Shades of Romulus und Numa, Just with that Majesty and rugged Virtue Which they inspir'd, and which the World has seen" (5.2.173—178). Die ,kalte' Tugend der Lucrece im ersten Akt, die rührend durch eine für eine Frau unerwartete Tapferkeit wurde, erfährt am Ende des Dramas ihre Entsprechung und Vervollkommnung durch den noch gesteigerten T u gendbegriff des Brutus, der durch die rührende Liebe zu seinem Sohn tragisch überhöht wird. 1.5.3 Der Republikanismus des Brutus Die royalistische Partei wird im Drama vor allem von Brutus' Sohn Tiberius vertreten, der loyal zur vertriebenen Königsfamilie hält. Tarquinius selber oder sein Sohn Sextus treten nicht auf. Es kommt daher Tiberius zu, die Argumente, die für die Fortführung der Monarchie sprechen, vorzutragen: „A King is one T o whom you may complain when you are wrong'd; The Throne lies open in your way for Justice: [. . .] There's room for favor, and for benefit, Where Friends and Enemies may come together, Have present hearing, present composition, Without recourse to the Litigious Laws; Laws that are cruel, deaf, inexorable, That cast the Vile and Noble altogether; Where, if you should exceed the bounds of Order, There is no pardon: O , 'tis dangerous, T o have all Actions judg'd by rigorous Law" (2.9 — 21). Die Möglichkeit der höchsten Gnade spricht für die Monarchie. Die Person des Königs als der Ursprung der Gesetzgebung steht zugleich über den Gesetzen und kann diese aufheben. Als höchste Appellationsinstanz ist sie zu-

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gleich Schutz vor zu rigoroser Anwendung des Gesetzes. Lee übernimmt die Rede des Tiberius fast wörtlich aus Livius, doch wie dieser stellt er auch die royalistische Partei in ungünstigstem Kontext dar. Gleichzeitig entspricht die Argumentation des Tiberius aber auch den Ansichten der Royalisten in den zur Abfassungszeit ausgetragenen Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Verfassungsformen. Robert Filmer, als der Exponent einer absolutistischen Monarchievorstellung, schreibt in seinen Werken, die 1679 und 1680 in gleich drei Sammelausgaben erscheinen 175 , ganz ähnlich den Überzeugungen des Tiberius von der zu strengen Rigorosität des Gesetzes und von der Prärogative des Königs, jedoch in detaillierterem Begründungszusammenhang: „ [ . . . ] the positive laws are only about generals; in particular cases, they are sometimes too strict, sometimes too remiss; and so, oft wrong instead of right will be done, if we stand to strict law: also causes hard and difficult daily arise, which are comprehended in no law books, in those there is a necessity of running back to the King, the fountain of justice, and the vicegerent of God himself 176 ." Diese Gedanken in The Freeholder's Grand Inquest über Gottesgnadentum und königliche Prärogativen werden noch ausführlicher in der 1680 in Erstausgabe erscheinenden Schrift Filmers Patriarcha, or the Natural Power of Kings dargestellt 177 . Die Widerlegungen der Patriarcha gehen nicht von einer Abschaffung der Monarchie aus, sondern vertreten die Vorstellung einer stärker konstitutionell ausgerichteten Königsherrschaft, in der der Regent dem Gesetz in letzter Instanz unterstellt bleibt, nicht über ihm steht: „[. . .] there are some Laws which the King hath power to dispense with and others which he hath not 178 ." Entsprechend diesen James Tyrrell zugeschriebenen Worten läßt Lee seine Brutus-Figur in der Forum-Rede den Grundgesetzcharakter derjenigen Gesetze, gegen die Tarquinius verstieß, betonen. Die Verletzung von Fundamental R ights and Justice und der Bruch von ancient Customs, Statutes, Laws sind seine Hauptanklagepunkte (2.1.182 f.). Der Austausch altehrwürdiger Gesetzgebung gegen eigene Willkür und Machtvollkommenheit, die Überschreitung der ihm durch die Konstitution gesetzten Grenzen durch positive Pow'r and Arbitrary Lust wird zur Begründung und Legitimation der Absetzung des Königs angeführt. Brutus selbst als Hauptankläger ist folglich in besonders strengem Maße an die Befolgung der Gesetze gebunden. Hierin liegt der Grund für seine unmenschliche Härte auch 175 Y g | p e t e r Laslett, „Introduction" zu: Filmer, Patriarcha and Other Political Works, hrsg. v. P. Laslett, O x f o r d 1949, S. 47. 176 Filmer, S. 174. 177 Filmers Patriarcha entstand vor 1642, zirkulierte jedoch nur in Manuskriptform: vgl. Laslett, S. 3. The Freeholder's Grand Inquest Touching Our Soveraigne Lord the King and His Parliament, das in der Gedankenführung mit dem letzten Teil der Patriarcha übereinstimmt, erschien zuerst bereits 1647. 178

[James Tyrrell], Patriarcha non Monarcha, The Patriarch Unmonarch'd: Being Observations on a Late Treatise and Divers Other Miscellanies [...] of Sir Robert Filmer [ . . . ] , London 1681, Kap. 4, S. 138 (fehlerhafte Seitenzählung). Die Schrift erschien anonym.

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noch gegenüber seinem Lieblingssohn Titus. Das neue Staatswesen bedarf eines Musterbeispiels von Gesetzesstrenge, um sich von der auf Gnadenerlassen basierenden vorangehenden Regierungsform um so deutlicher abzusetzen. Der Konstitutionalismus sieht zudem durch jegliches Abweichen von der Wahrung der Gesetzesnorm die Stabilität des Staates gefährdet. Steht der absolute König über den Gesetzen und hängt daher allein von seinen persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten ab, so ist die konstitutionelle Staatsform gerade durch ihre ultimative Gesetzesbindung den menschlichen Schwächen des individuellen Regierungsoberhauptes entzogen und daher vom Ansatz her stabiler: „[. . .] the kingdoms in the world [.. .] may have their ebbings and flowings according to the virtues or vices of princes, of their favourites; but can never have any stability, because there is and can be none in them: or if any exception may be brought against this rule, it must be of those monarchies only which are mixed and regulated by laws, where diets, parliaments, assemblies of estates, or senates, may supply the defects of a prince, restrain him if he prove extravagant' 79 ." In einem diesen Ausführungen Algernon Sidneys ganz ähnlichen Sinn läßt Lee seinen römischen Konsul Brutus als einen mit Senat und Volk in Ubereinstimmung befindlichen Prinzen auftreten. In dieser Hinsicht ist Brutus das Oberhaupt eines auf Stabilität durch Gesetzesbefolgung bedachten Staatswesens und in dieser Absicht bringt er die Gesetze gegen jedermann ohne Ansehen der Person rigoros in Anwendung: „Thus shall we stop the mouth of loud Sedition, Thus show the difference betwixt the Sway Of partial Tyrants, and of a Free-born People, Where no man shall offend because he's great, Where there's no innovation of Religion, N o change of Laws, nor breach of Priviledge, N o desperate Factions gaping of Rebellion, N o hopes of Pardon for Assassinates. O, Conscript Fathers, 'tis on these Foundations That Rome shall build her Empire to the Stars" (5.2.42 — 61). Eine solchermaßen abgesicherte Solidität des Staates nach innen und außen beruht auf der Balance der Kräfte, auf der durch die Gesetze limitierten Regierung oder auf einem mixed Government, wie der zeitgenössische staatsrechtliche Fachterminus lautet. Mit dieser Propagation einer gemischten Regierungsform bezieht Lee Stellung in einer Debatte, die in den Entgegnungen Tyrells, Sidneys und vor allem John Lockes auf Filmers Patriarcha im letzten Teil der Regie-

179

Algernon Sidney, Discourses Concerning borough 1968, S. 109.

Government,

London 1698; 3 1751, repr. Farn-

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rungszeit Charles' II. ihren Höhepunkt erreichte. Obwohl alle diese Einwände gegen eine absolutistische Staatsform erst nach der Abfassung von Lees Drama veröffentlicht wurden oder im Manuskript zirkulierten, wird die Mehrzahl ihrer einzelnen Argumente auch schon vorher diskutiert. Gerade die Vorstellung des mixed oder limited, government beruft sich auf eine aus der Lektüre antiker Autoren gewonnene Staatsidee mit langer Tradition. Zera S. Fink hat diese Idee von ihren Anfängen und ihrer Ausformung im griechischen und römischen Schrifttum bis zu ihrer Bedeutung für die englischen Staatstheoretiker des 17. Jahrhunderts untersucht. Polybius bringt durch seine Theorie der zyklischen Wiederkehr der Trias Monarchie, Aristokratie und Demokratie sowie ihrer jeweiligen Ablösung durch Tyrannis, Oligarchie und Pöbelherrschaft die Labilität der ,reinen' Staatsformen am eingängigsten zum Ausdruck. Er erhebt die daraus folgende Forderung nach einer gemischten Regierungsform, die die Interessen des Einen, der Wenigen und der Vielen zum Besten de.s Staates gleichermaßen repräsentiert' 80 . Von Cicero, Livius und Plutarch verfolgt Fink diesen Gedanken des mixed government zu Machiavellis Livius-Kommentar, auf den sich auch Lee in der Widmung seines Dramas beruft 181 . Schon für die antiken Autoren, vor allem aber auch für die der Renaissance wird die Zeit der römischen Republik zum Idealtyp einer gemischten Staatsform, in der die Konsuln das königliche Element, Senatoren und Tribunen aber den Adel und das Volk repräsentieren. Diese Vorstellung von der Machtteilung, die die Freiheit des Staates durch die wechselseitige Kontrolle der drei Organe in der gemeinsamen Anerkennung altehrwürdiger Gesetze und Bräuche — gleichsam als Verfassung — gewährleistet, findet sich auch in Lees Drama. Brutus als römischer Konsul nimmt in mancher Hinsicht die Stellung des vertriebenen Königs ein. Da Tarquinius als entarteter Monarch, als Destróyer und Monster (2.1.160 und 1.2.37), sein Amt auszufüllen verfehlte, kommen Brutus an seiner Stelle die Führungsqualitäten, aber auch die ehrfurchtgebietende Majestät der Person zu: „That aw-ful, God-like, and Commanding Brutus" t1'247)' Hatte Filmer den König als vicegerent of God bimself bezeichnet, so bemüht sich auch Lees Brutus, das Gottesgnadentum in seiner Erleuchtung und Einsetzung zum Staatslenker zu betonen: „Had not th'inspiring Gods by wonder brought me From clouded Sence, to this füll Day of Reason" (2.1.143 f.). Entsprechend adressiert Valerius ihn: „ O Brutus, as a God, we all survey

180

181

Vgl. Fink, The Classical Republicans, An Essay in the Recovery of a Pattern of Thought in Seventeenth Century England ( N o r t h w e s t e r n University Studies in the H u m a n i t i e s , Bd. 9), E v a n s t o n 1945, S. 3 f. The Works of Nathaniel Lee, Bd. 2, S. 321.

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thee" (2.1.236). Statt den Lawless Kings kommen Brutus jetzt die Hoheitstitel des rechtsmäßigen Staatsrepräsentanten zu, doch zur Abgrenzung gegen das Königtum bringen diese alle eine deutliche Beziehung zum republikanischen Liberalismus zum Ausdruck: Father of thy Country, Deliverer of lost Rome, Shield of the Common Wealth, Sword of Justice und scourge of Tyrants ( 3 . 1 . 3 8 - 4 1 ) . Trotz durchgängiger Gottesvergleiche und gottähnlicher Verehrung ist Brutus aber auch immer noch dem Volk und Adel gleichgestellt und beiden Gruppen Rechenschaft über sein Verhalten schuldig. Valerius macht beide Aspekte sehr deutlich. Dem göttlichen Element in Brutus kommt in Verehrung und Anbetung der Kniefall der Menge zu, dem Gleichgestellten und Freund von Volk und Adel steht die Umarmung zu: „First with our Bodies thus we worship thee, Thou Guardian Genius of the Commonwealth, Thou Father and Redeemer of thy Country; Next we, as Friends, with equal Arms embrace thee, That Brutus may remember, tho his vertue Soar to the Gods, he is a Roman still" (2.1.243 — 248). Auf diese feierliche Anerkennung als Freiheitsheld und Staatslenker antwortet Brutus mit einem Gelöbnis, das seine Verantwortlichkeit gegenüber Göttern und Römern zum Ausdruck bringt und die Funktion des Verfassungseides eines Staatsoberhauptes erhält: „And when I am not so, or once in thought Conspire the Bondage of my Country-men, Strike me, you Gods; tear me, O Romans, piece-meal, And let your Brutus be more loath'd than Tarquin" (2.1.249—252). Im Zusammenhang der Staatskrise, die den Enthüllungen des Titus Oates von 1679 folgte, und der wiederholten Bemühungen des Parlaments, den Duke of York als nächsten legitimen Angehörigen des Königs von seinem Nachfolgerecht auf den englischen T h r o n auszuschließen, erhält Lees Drama mit seiner offensichtlichen Proklamation der Limitierung königlicher Macht tagespolitische Bedeutung. Das Aufführungsverbot des Stükkes durch die Regierung schon nach wenigen Vorstellungen ist verständlich. Die Begründung des Lord Chamberlaine bezieht sich ausdrücklich auf very Scandalous Expressions & Reflections upon ye Government182 und bestätigt, daß das Stück als politische Stellungnahme des Dichters verstanden worden ist. Innerhalb des weiteren Rahmens einer Absolutismus-Konstitutionalismus-Kontroverse wird die Bedeutung solcher politischen' Literatur in ihrer extremsten Konsequenz im Prozeß gegen Sidney sichtbar. Angeklagt wegen seiner Teilnahme am Rye House Plot spielen seine Discourses

182

Public Record Office, L. C. 5 / 1 4 4 , S. 28, zit. nach Loftis, „Introduction" zu Lucius Brutus, S. XII.

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eine entscheidende Rolle für seine schließliche Verurteilung und Hinrichtung" 3 . Uber seine Bedeutung im parteipolitischen Streit hinaus manifestiert Lees Drama die Möglichkeit der Politisierung klassischer Stoffe und Themen. Im Zusammenhang des Themas dieser Arbeit illustriert es deutlich die politische Rolle der Dichtung, die der Klassizismus mit zu seinen grundsätzlichen Aspekten zählt. Schon die Beschäftigung mit römischer und griechischer Literatur hat im 17. Jahrhundert über das rein literarische Interesse hinaus oft theoretisch-politische Konsequenzen. Die Illustrationen der antiken Autoren aus Mythologie und Geschichte, die zur Stützung und Belegung ihrer Thesen und Theorien eingesetzt wurden, sind durch eine lange Deutungstradition in ihrer politischen Relevanz und ihrer Ausdeutbarkeit oft schon vorgeprägt und müssen für ihre Aktualisierung im 17. Jahrhundert daher nur geringfügig variiert werden. Aber auch das unmittelbare politische Engagement der antiken Dichter selber, ihre unauflösbare Verbindung von Dichtung und Staatsinteresse, ist im 17. und 18. Jahrhundert bekannt und wird sowohl im Faktum wie auch der Art und Weise nach imitiert. Lees Kenntnis der Implikationen des Brutus-Stoffes kann schlecht ignoriert werden, und trotz der von den Interpreten immer wieder betonten dichterischen und ästhetischen Qualitäten des Dramas 184 bezieht Lee durch seine spezifische Darstellungsweise den Stoff doch direkt auf die staatstheoretischen Kontroversen seiner Zeit. Die politische Relevanz des Stoffs wird nicht abgemildert, sondern unterstrichen und verstärkt; das Drama wird dadurch beispielhaft für eine oft festzustellende Tendenz in der folgenden englischen Dramatik, die in der klassizistischen Tragödie besonders deutlich hervortritt: „ f . . .] the politicai d e ment [. . .] was, undoubtedly, of prime importance in the shaping of particular dramatic situations and characters 185 ." Weniger der mechanisch-formale Aspekt eines Bemühens um Einschränkung von dargestellter Zeitspanne und Schauplatz machen Lees Lucius Junius Brutus bedeutsam für eine klassizistische Dramatik. Auch liegt die Bedeutung des Stücks nicht struktural in der engen Verzahnung von Hauptund Nebenhandlung, die jetzt noch stärker unter einem gemeinsamen Aspekt der Verbindung von öffentlichem und privatem Interesse stehen, als es in Otways Caius Marius der Fall war. Im Gegensatz zu diesem letzten Drama findet sich bei Lee auch kein eingefügtes komisches Element mehr. Lee folgt in dieser Hinsicht wie auch in dem der Verzahnung der Handlungsstränge Drydens Forderung in „The Grounds of Criticism" aufs genaueste. Vielmehr ist es das Bestreben um die Darstellung eines als klassisch 183

184

185

Vgl. Sidney, S. X X X V I I - L I I . Eine kurze Zusammenfassung der Anklage, die sich neben Sidneys Teilnahme am Rye H o u s e Plot auch auf seine Discourses erstreckt, findet sich in der Einleitung zu Filmers Patriarchìi, S. 36 f. Vgl. die vorwiegend positive Rezeptionsgeschichte von Lucius Junius Brutus in The Works of Nathaniel Lee, Bd. 2, S. 318 f. Nicoli, Bd. 2, S. 51.

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empfundenen Tugendethos für die Charakterdisposition des Helden, das sich in Sprachstil und Gesinnung gleicherweise manifestiert. Es geht um Schlichtheit und Zurückhaltung bei zugleich überragender sittlicher Größe und Tiefe der Empfindungen, die für dieses Drama bedeutsam werden. In Verbindung mit dem von Dryden empfohlenen Tragikbegriff steht dieses neue Tugendideal im Gegensatz zur heroischen Dramenkonzeption und erhält Initialfunktion für die sich herausbildende klassizistische Tragödie.

1.6 Zusammenfassung In der Auseinandersetzung mit einem von Rymer rigoros vertretenen Rationalismus, der sich neben der common sense-Anrufung sowohl explizit auf die antike Poetik als auch implizit auf deren französische Rezeption und Weiterbildung bezieht, entwickelt Dryden ein neues Tragödienkonzept, dessen theoretische Konstitution in den Heads of an Answer to Rymer und in „The Grounds of Criticism in Tragedy" angestrebt wird. Die offene Opposition der ersten, unveröffentlichten Schrift gegen Rymer wird in der zweiten, öffentlichen Stellungnahme zur argumentativ taktierenden impliziten Opposition, die den direkten Widerspruch vermeidet, abgemildert. Bei grundsätzlicher Zustimmung zum rationalen Ansatz bringt Dryden den auf Kompromiß bedachten Standpunkt des erfahrenen Praktikers in die Diskussion ein. Obwohl die Option für eine strengere Realisation der klassizistischen Tragödientheorie gegenüber der vorangehenden englischen Dramatik beide Standpunkte kennzeichnet, setzt Dryden sich doch in der Modifikation von Rymers Vorstellungen grundsätzlich für eine pragmatische Poetik und ein operationales und funktionales Tragödienmodell ein. An den vier analysierten Dramen von Dryden, Otway und Lee läßt sich ein neues, entschiedener für klassizistische Prinzipien eintretendes Bestreben in der Praxis beobachten. Dem Bemühen um die Einhaltung der R e geln' steht in Otways früher Racine-Adaption die Verpflichtung gegenüber nationalen Konventionen des heroischen und des älteren englischen Dramas entgegen. Die größte Approximation an ein klassizistisches Tragödienideal stellt Drydens All for Love dar — u. a. durch die Wahrung der drei Einheiten, die Betonung der Mitleidskomponente im wirkungsästhetischen Katharsisbegriff, die Zurückdrängung einer übersteigerten Ausdrucksweise und den Verzicht auf spektakuläre Geistererscheinungen. Nicht nur das letztlich im Wahrscheinlichkeitspostulat verankerte Prinzip der liaison des scènes ist eingehalten worden, sondern in der Serapion-Figur findet sich auch schon die für spätere klassizistische Dramatik bezeichnende innerfiktive Gestalt des idealen Rezipienten, deren Funktion auf Vorprägung des Publikumsverständnisses hinsichtlich einer allgemeinen oder Gesamtaussage zielt. Gerade aber der didaktische Gehalt des Dramas ist bei den Zeitgenossen und auch noch bei den Klassizisten des 18. Jahrhunderts als Fehlaussage Drydens und als Versagen einer in All for Love propagierten neuen Tragödienform hingestellt worden. Otways und Lees folgende Werke zeigen nur ein sehr viel begrenzteres Interesse an der neuen Tragödie. Dennoch ist in Caius Marius neben der f ü r die klassizistische Tragödie typischen ,Endsituation' vor allem die streng , symmetrische Handlungsgliederung und die enge Verzahnung der Handlungsstränge und -Stationen als klassizistisches Bestreben auffällig. Die ,mechanischen' Einheiten werden jedoch nicht gewahrt. In Lees Lucius

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Junius Brutus geht es dagegen um eine thematische Präokkupation mit den Vorstellungen eines pseudorömischen Republikanismus und mit ethischen Idealen, wie sie sich in der dramatischen Rezeption antiker Historienstoffe als Kennzeichen der klassizistischen Tragödie entwickeln.

TEIL 2 UMWANDLUNG U N D ANPASSUNG (1680-1749)

Ein wesentlicher Aspekt klassizistischer Dramatik — quantitativ wie auch problemgeschichtlich und dramentheoretisch — ist die Adaption der Dramen der römischen und griechischen Antike. Die Aktualisierung und Umformung zunächst der Seneca-Dramen, dann der attischen Tragödien, wobei die Seneca-Verpflichtung trotz aller expositorischen Ablehnung doch stets latent bestehen bleibt, läßt sich an zahlreichen Beispielen für die ganze Epoche vom letzten Viertel des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts beobachten. Es lassen sich Bestrebungen erkennen, die eine direkte und ausschließliche Benutzung der Sophokles- und Euripides-Texte propagieren, genauso wie solche, die eine — oft stillschweigende — Weiterführung der indirekten Rezeption griechischer Mythenstoffe praktizieren, wobei Seneca und das französische Drama rein medial als Ubersetzung der griechischen Originale begriffen werden. In jedem Fall handelt es sich bei dieser produktiven Dramenrezeption um eine Anpassung in beide Richtungen, bei der zwar die Transformierung des Rezeptionsguts in Richtung auf die bestehenden englischen Dramenkonventionen stärker sein mag als die Umbiegung dieser Konventionen auf die jeweilige antike oder schon französisch-umgeformte Tragödie hin. Dennoch ist gerade dies letztgenannte Streben im Selbstverständnis eines klassizistischen Reformwillens als zentrale Forderung explizit vorhanden. Das „charakteristische Ineinander von Rezeption und Produktion" ist als dialektischer Prozeß zu begreifen 1 , dessen stete Progression die Entwicklung einer klassizistischen Tragödie in England wesentlich bedingt. Auch die klassizistische Dichtungstheorie, die durch ihre zentrale Imitationsforderung in wesentlichen Punkten immer schon Adaptionstheorie ist, erhält in den letzten zwanzig Jahren des 17. Jahrhunderts einen entscheidenden Aufschwung. Die Verbindung zur Renaissancepoetik wird zwar anerkannt, in zunehmendem Maße jedoch kritisch überprüft. Wie aus Corneilles Vorworten, den berühmten Examens, sich in Frankreich eine am Einzelwerk orientierte Dramenästhetik entwickelt, so ist ein paralleler Prozeß im Anschluß an Drydens Prefaces auch in England zu beobachten. Zugleich bleibt aber auch die Tradition der allgemeineren Poetik als ein alle 1

Wilfried Barner, Produktive Rezeption, Lessing und die Tragödien Senecas, München 1973, „Vorbemerkung". Ebd., S. 100, wird am Beispiel Lessings die Bedeutung der Seneca-Rezeption für die deutsche klassizistische Tragödie und die „integrative Dialektik seines rezeptiven und produktiven Verfahrens" betont.

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und Anpassung

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Gattungen gleichermaßen berücksichtigender Traktat in der Übersetzung 2 oder Imitation vor allem von H o r a z — etwa durch Dillon (1680) oder Oldham (1681) — bestehen und findet im 18. Jahrhundert in Popes Essay on Criticism (1711) ihren Höhepunkt. Beide Tendenzen führen gemeinsam zu einem verstärkten Auftreten poetologischen Schrifttums. Mit der Ausbreitung der theoretischen Besinnung ist vor allem jetzt eine genauere Kenntnis der antiken Vorbilder — Dichtung wie Theorie — verbunden, und mit den Höhepunkten der klassizistischen Dramentheorie bei Gildon und Dennis zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird auch der Anschluß an die französische Diskussion in durchaus kritischer Haltung reflektiert.

2

Vgl. Bernfried Nugel, A New English Horace, Die Übersetzungen der horazischen „Ars Poetica" in der Restaurationszeit (Linguistica et Litteraria, Bd. 11), F r a n k f u r t / M . 1971.

2.1 Die Flexibilität der Regeln Die Hinwendung zu einer offensichtlicher klassizistisch ausgerichteten Dramatik und Dramentheorie am Ende der siebziger Jahre bedeutet nicht ein ängstliches Befolgen der pseudoaristotelischen Regeln in allen Einzelheiten. Wie Dryden ausdrücklich im Anschluß an Rapin betont, sind die Regeln nicht zur Behinderung des Dichters, sondern zu seiner Hilfe aufgestellt worden 3 . Der jeweils einzunehmende Standpunkt einer Forderung nach strenger Regelbefolgung oder nach Befreiung von zu strenger Regelbefolgung hängt von der Absicht des Kritikers ab und von der Richtung seines Angriffs, d. h. der Standpunkt wird, wie schon zu Beginn des vorigen Teils ausgeführt wurde, durch den argumentativen Kontext modifiziert. Regelmäßigkeit ist ein dehnbarer Begriff, besonders wenn man die Unterscheidung in die grundsätzlichen und die sekundären, einem höheren Ableitungsgrad zugehörigen Regeln vornimmt. Naturimitation oder das unmittelbar daraus folgende Wahrscheinlichkeitspostulat sind für den Klassizismus unaufhebbare Anforderungen an jede Dichtung und daher erste Grundsätze jeder Theorie. Die aus Aristoteles weiterentwickelten und in der italienischen Renaissancepoetik ausgebildeten Vorstellungen der ,mechanischen' Einheiten von O r t und Zeit etwa oder die besonders in Frankreich verfochtenen /¿¿mon-Vorschriften für die Szenenverknüpfung innerhalb der einzelnen Dramenakte sind dagegen — wo sie fehlen — als weniger wichtig auch leichter entschuldbar oder werden als Überspitzung von vornherein abgelehnt: „The attacks on mechanic rules were mostly aimed at the unities and at some arbitrary requirements for style. These did not come from rebels against neo-classicism, but from men concerned to preserve its genuine humanistic basis from the cramping effect of narrow-minded critics 4 ." Der grundsätzliche Ansatzpunkt einer klassizistischen Ästhetik wird durchgängig vertreten und rückt seit den späten siebziger Jahren stärker ins Bewußtsein der Dichter und Kritiker. Die graduell variierbare Position zwischen einer sehr engen und einer sehr weiten Regelinterpretation bleibt dagegen den Erfordernissen der individuellen Situation überlassen. Wie die engere Regelinterpretation sich auf eine restriktive Weiterentwicklung des aristotelisch-horazischen Ansatzes beruft, so weist die das genialisch-freie Moment betonende Interpretation gerne auf die Longinus zu3

4

Vgl. Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 261. Dryden benutzt nicht Rymers Rapin-Ubersetzung, sondern übersetzt selber aus den Réflexions, Kap. 12, um zu belegen, daß die Regeln nicht als „magisterial prescriptions" (S. 260) aufzufassen seien. Irène Simon, „General Preface" zu Neo-Classical Criticism, 1660—1800, hrsg. v. I. Simon, London 1971, S. 19. Vgl. S. 18 den Hinweis auf Gildons variablen Standpunkt: „Gildon n o w stressed the freedom of genius, n o w the need to k n o w the rules, according as he was fighting against little critics or trying to stem the tide of enthusiasm."

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geschriebene fragmentarische Schrift Ttepi üvj/ou^ zurück 5 . Doch auch hier findet die Vermittlung der Antike über Frankreich statt, wie sich am Beispiel Drydens beobachten läßt, der sich unmittelbar vor der Kenntnis von Rymers Beaumont-und-Fletcher-Verurteilung mit Longinus auseinandersetzte. In The Author's Apology for Hernie Poetry and Poetic Licence (1677) beruft sich Dryden nicht auf die Longinus-Ubersetzung Of the Height of Eloquence von John Hall, die bereits seit 1652 vorlag, sondern auf die von Rapin 1674 angefertigte französische Übersetzung 6 . Die Option für die bedingte oder eingeschränkte Regelbefolgung, soweit sie die Bedeutung des unerlernbaren und undefinierbaren Elements dichterischer Begabung unter Hinweis auf Longinus betont, entspringt daher nicht einem spezifisch englischen H a n g zur Freiheit und Regellosigkeit — wie es gelegentlich behauptet wird —, sondern findet sich ebenso in der zeitgenössischen französischen Theorie 7 . Die Forderung der Regelbefolgung schränkt die Flexibilität in der H a n d habung der Regeln durch Dichter und Kritiker im spezifischen Einzelfall nicht ein8. In dieser Hinsicht bleibt Drydens in Erwiderung auf Rymer entwickeltes Konzept eines modifizierten Rationalismus auch für die Folgezeit gültig. Die wichtigsten Gesichtspunkte und Begleitumstände dieses Konzepts sollen an ausgewählten Passagen der Literaturtheorie nicht so sehr Drydens als eher seiner Zeitgenossen und Nachfolger beispielhaft erörtert werden. 2.1.1 Die Konstanz des Ansatzes 1721 veröffentlicht Charles Gildon eine kommentierte Sammelausgabe dreier in Versform abgefaßter Poetiken. Der Essay on Poetry von John Sheffield, Earl of Mulgrave und später u. a. auch Duke of Buckinghamshire, erschien zuerst 1682, der Essay on Translated Verse von Wentworth Dillon, Earl of Roscommon, 1684. Beide Gedichte waren, nicht zuletzt 5

6 7

8

Vgl. eine Zusammenfassung der Longinus-Problematik wie auch ihrer englischen Rezeption bei William K. Wimsatt, Jr. und Cleanth Brooks, Literary Criticism, A Short History, 4 Bde., London 1957, repr. 1970, Bd. 1, S. 9 7 - 1 1 1 und Bd. 2, S. 283 —312. Vgl. auch Alfred Rosenberg, Longinus in England, Berlin 1917; und T h e o d o r e E. B. W o o d , The Word,Sublime' and Its Context, 1650—1760, T h e H a g u e — Paris 1972. Vgl. Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 195—207; bes. S. 197, A. 3. Vgl. die Betonung des französischen Einflusses, besonders Boileaus, auf Dryden zu dieser Zeit bei Pechter, S. 15. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit wird die Flexibilität der Regeln lediglich für die Dramenentwicklung verfolgt. Ihre Bedeutung auch für die Herausbildung einer neuen Romantheorie vgl. bei Walter F. Greiner, Studien zur Entstehung der englischen Romantheorie an der Wende zum 18. Jahrhundert, Tübingen 1969, S. 268: „Die Interpretation der Theoriebildung des Romans innerhalb des Systems der neoklassizistischen Poetik [ . . . ] verweist auch auf die Flexibilität der Poetik dieses Zeitalters und widerspricht damit der überlieferten Konzeption der Forschung v o n der festgefügten Gattungspoetik des N e o klassizismus".

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der

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durch den sozialen Rang ihrer Verfasser, erfolgreich und erschienen 1691 bzw. 1685 in zweiter Auflage 9 . Auch das dritte Gedicht, Concerning Unnatural Flights in Poetry von George Granville, Baron Lansdowne, war bereits 1701 von Gildon selber veröffentlicht worden. Trotz der zwanzig- bis fast vierzigjährigen Differenz zwischen Erstveröffentlichung und Neudruck durch Gildon haben alle drei Werke nicht an Aktualität und Gültigkeit verloren. Obwohl Gildons eigener Standpunkt, wie er sich im Kommentar äußert und im Titel, The Laws of Poetryschon angekündigt wird, strenger formalistisch ausgerichtet ist, bemüht er sich doch um den Nachweis einer grundsätzlichen Ubereinstimmung mit der Dichtungstheorie seiner Vorgänger 10 . So läßt sich bei aller Differenz in den Einzelaspekten in Gildons Sammelband doch die Konstanz des Ansatzes einer klassizistischen Poetik über einen längeren Zeitraum und vom 17. ins 18. Jahrhundert verfolgen. Im konventionellen Aufbau von Sheffields Essay folgt der propädeutischen Erörterung dichterischer Grundsatzfragen die Beschreibung der einzelnen Gattungen. Die Insistenz auf der Ballance von Fancy und Judgment entspricht einer langen dichtungstheoretischen Tradition und findet sich in ähnlicher Form bei allen hier genannten Autoren 11 . In der hierarchischen Anordnung nimmt das Epos bei Sheffield den obersten Rang ein, dem Drama wird jedoch der breiteste Raum in der Erörterung gewidmet. Die in der Zeit zwischen Sheffield und Gildon sich weiter durchsetzende Umwertung in der Relation von Epos und Drama löst Gildon auf zweifache Art. Zunächst gibt er eine allgemeine Tendenz als private Meinung aus, wodurch er dann die auf langer Tradition basierende Lehrmeinung als solche unangefochten bestehen lassen kann. Zum anderen versucht er, einen auftretenden Widerspruch durch Differenzierung zu umgehen 12 . Eine solche differenzierende Argumentation auch auf anderen Gebieten erschwert die Standortbestimmung einzelner Kritiker — wie Gildon es selber eingestehen muß anläßlich seines Versuchs einer Zuordnung der englischen Theoretiker zu den französischen Positionen der Querelle des anciens et des modernes". 9

Gildon teilt im Falle Dillons noch eine erweiterte Schlußfassung (S. 344 f.) mit, die in den ersten beiden Auflagen noch fehlt. Auch Sheffields Essay zitiert er in einem o f t den ersten beiden Auflagen nicht entsprechenden Wortlaut. 10 D e r vollständige Titel lautet: The Laws of Poetry, As Laid down by the Duke of Buckinghamshire in His Essay on Poetry, By the Earl of Roscommon in His Essay on Translated Verse, And by the Lord Lansdown on Unnatural Flights in Poetry, Explain'd and Illustrated, London 1721. D i e ersten beiden Gedichte sind zitatweise dem fortlaufenden Kommentar Gildons eingefügt, das dritte und kürzeste ist zusammenhängend abgedruckt mit anschließenden „Explanatory Annotations" von Granville, nicht Gildon. " Vgl. ebd., S. 77 f. Vgl. auch Joel E. Spingarn, „Introduction" zu Critical Essays of the Seventeenth Century, hrsg. v. J. E. Spingarn, 3 Bde., O x f o r d 1 9 0 8 - 1 9 0 9 , Bd. 1, S. XLVIII. 12 Vgl. The Laws of Poetry, S. 8 und S. 257. 13 Vgl. ebd., S. 8 —14, bes. S. 11: W o t t o n ist eigentlich zu den Gegnern der ,Alten' zu zählen, hält jedoch oratory und poetry der Antike für unübertroffen. Farquhar ist ähnlich gegen die ,Alten' eingestellt, schätzt jedoch die attische Tragödie sehr hoch ein. — In England betrifft die Querelle vor allem Philosophie und Naturwissenschaften, weniger die Dichtung:

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In der Diskussion des Dramas übergeht Sheffield die Forderung nach den drei Einheiten als hinlänglich bekannt und wendet sich in seinem korrektiven Bestreben dem Aufzeigen von nicer faulte zu, d. h. hier zugleich grundsätzlicheren Aspekten 14 . Gildon betont zwar, daß ein solches Übergehen der drei Einheiten nicht ihre Geringschätzung, sondern umgekehrt gerade ihre selbstverständliche Wichtigkeit bedeute 15 ; wendet man sich jedoch der dichterischen Praxis zu, so zeigt sich, daß Sheffield wenig Wert auf die Einhaltung etwa der Einheit des Ortes legt. In seinem Drama Marcus Brutus wird im expositorischen Vorspann die Mißachtung der mechanischen Regeln mit wenigen Worten übergangen, dagegen werden die grundsätzlicheren Fragen der Einführung einer Liebeshandlung, die im antiken Drama unbekannt war, ausführlich erörtert 16 . Das Grundsätzliche, nicht einengende und hinderliche Schauplatzregulierungen, steht für Sheffield im Vordergrund. Die griechischen Dichter, nicht allein die Dramatiker, werden als Meister des Dialogs in Sheffields Essay empfohlen, und die adaptive Haltung der römischen Autoren wird als Anreiz für die eigene englische Imitation dieser ersten Muster angesehen. Neben Piaton und Lukianos wird aber auch auf die nationalen Dramatiker der Vergangenheit, auf Shakespeare und Fletcher als Vorbild hingewiesen, deren Imitation nicht durch rationale Analyse, sondern durch aneignenden Nachvollzug in der Rezeption erreicht werden soll: „Yet to our selves we Justice must allow, Shakespeare and Fletcher are the wonders now: Consider them, and read them o're and o're, Go see them play'd, then read them as before. [•••.] Their Beauties Imitate, avoid their faults" (S. 14 f.). Die hier empfohlene Imitation ist eine selektive und wird in dieser Form von Gildon und vielen anderen zeitgenössischen Autoren ebenfalls propagiert 17 . Sheffields Begründung dieser Empfehlung ist die anhaltende Wirksamkeit des rührenden und ergreifenden Elements in Shakespeares und Fletchers Dramatik, die letztlich ihre offensichtlichen ,Fehler' entschuldigt: vgl. Richard Foster Jones, Ancients and Modems, A Study of the Background of the „Battle of the Books", St. Louis 1936, repr. 1961. Eine übersichtliche Zusammenstellung der französischen Positionen vgl. bei Hans Robert Jauß, „Einleitung" zu: Charles Perrault, Parallele des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, Paris 1688, repr. München 1964. 14 An Essay on Poetry, London 1682, S. 12. 15 Vgl. The Laws of Poetry, S. 166. 16 Vgl. Sheffield, The Works, London 1723, S. 332. Als antikes Tragödienthema wird Freundschaft, als modernes Liebe angegeben. Diese Differenz wird auch von Gildon gegen die Auswüchse einer englischen Racine-Rezeption angeführt: vgl. hierzu Wolfgang Theile, Die Racine-Kritik bis 1800, Kritikgeschichte als Funktionsgeschichte, München 1974, S. 103. 17 Gildon stellt sich in The Laws of Poetry, S. 233—235, voll hinter Sheffields Empfehlung von Shakespeare, doch hält sich zurück (S. 235) in seiner Empfehlung Fletchers.

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„For though in many things they grossly fail, Over our Passions still they so prevail, That our own grief by theirs is rockt asleep, The dull are forc'd to feel, the wise to weep" (S. 14). Mit dieser Betonung der Bedeutung von Mitleiderregung durch den Dramatiker wird eine Interpretation der aristotelischen Katharsis als Expurgation der Zuschauergefühle durch sympathetische Identifikation mit der Bühnenfigur vertreten. Es soll eine Uberlagerung des eigenen durch den fiktiven fremden Kummer erfolgen — ein Aristoteles-Verständnis, das hier in seinem produktiven, den moralisch korrekten Affekt schaffenden Moment betont wird 18 . Gildon trägt später zusätzlich zu dieser homöopathischen eine ebenfalls zu dieser Zeit verbreitete allopathische, moralisch-restriktive Katharsisdeutung vor". Im poetologischen Überblick des Essays ergänzt Sheffield seinen Katharsishinweis durch das aristotelische Konzept vom Primat der Handlung und gelangt schließlich zur Forderung des,mittleren' Charakters als Protagonist der Tragödie (S. 15). In offensichtlicher Frontstellung gegen den übermenschlichen perfect Character des heroischen Dramas — etwa Drydens Almanzor — wird hier Mitleid als zentrale Wirkkategorie und als wünschenswerter Effekt eines tragischen Geschehens entwickelt. Die einzelnen Aspekte eines solchen Tragödienkonzepts lassen sich mit nur geringfügigen Abweichungen als Allgemeingut einer klassizistischen Poetik erkennen. Spingarn hat nicht nur Sheffields Affinität zu Boileau hervorgehoben, sondern weist auch auf Johnsons spätere Parallelsetzung des faultless monster mit Scaligers sine labe monstrum hin und auf Shaftesburys identische Propagation gerade dieses Moments in der Aristoteles-Rezeption 20 . 2.1.2 Exklusivität und Sendungsbewußtsein Da Dillon sich mit den Prinzipien der Nachdichtung statt denen der selbständigen Dichtung beschäftigt, sind seine Akzente anders gesetzt; der Ansatzpunkt seiner Theorie ist jedoch derselbe wie bei Sheffield. Durch den gemeinsamen Imitationsgrundsatz sind Dichtungs- und Übersetzungstheorie nahe verwandt 21 . Auf beiden Gebieten geht es nicht um eine genaue und 18

Daß Aristoteles vorrangig durch Horaz rezipiert wird, erhellt aus einer ähnlich identifikatorischen Katharsisdeutung in Oldhams Ars />oe/ica-Adaption: vgl. The Poems of John Oldham, hrsg. v. B. Dobree, London 1960, S. 149. Sheffield selber nimmt schon zu Beginn seines Essays (S. 4) auf Horaz Bezug. 19 Vgl. „An Essay on the Art, Rise and Progress of the Stage", The Works of Mr. William Shakespear, Bd. 7, London 1710, S. X X X . Die grundsätzliche Unangebrachtheit solcher Katharsisdeutungen, die sich auch in der neueren Aristoteles-Forschung noch finden, wird herausgestellt bei Harold Skulsky, „Aristotle's Poetics Revisited", JHI 19, 1958, S. 147—160; bes. S. 157. 20 Vgl. Spingarn, Bd. 2, S. 355, A. zu S. 293. 21 Stärker als der Dichter ist der Übersetzer nach Dillon auf judgment angewiesen und auf die Einschränkung von fancy: vgl. An Essay on Translated Verse, London 1684, S. 5.

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exakte Imitation der Vorlagen, sondern um die Erfassung der Grundidee und des Geistes, die das Ganze durchdringen: „They who too formally on Names insist, Rather Create then Dissipate the Mist. And grow Unjust by being over-nice, (For Superstitious Virtue turns to Vice)" (S. 10). Eine solche Theorie der freien und adaptierenden Ubersetzung kann sich stets auf H o r a z ' Diktum berufen: „Nec verbum verbo curabis reddere, fidus / Interpres" 22 . Die Güte des Ubersetzers zeigt sich in der selbständigen Größe und Klarheit, die über die Vorlagentreue hinaus und unabhängig von ihr das neue Werk ,beseelen' müssen. Diese eigene dichterische Fähigkeit des Übersetzers ist nicht erlernbar, sondern steht wie über dem lehrund regelbaren Teil der Kunst, so noch höher über dem mechanischen Wort-für-Wort-Übersetzen 2 3 . Dem Eintreten für die grundsätzliche Wichtigkeit der harmonious Symetry of Parts (S. 10) entspricht die generelle Ablehnung der rude Notions of Pedantick Schools (S. 21). Die Herleitung der dichterischen Begabung aus göttlichem Ursprung (S. 10) und die Anerkennung von dichterischem ,Feuer' und den Raptures of Poetick Rage (S. 23) hindern Dillon jedoch nicht, für eine Abkehr vom überladenen und vehementen Stil einzutreten und eine Lehre von der notwendigen Mäßigung und Zurückhaltung im sprachlichen Ausdruck zu verkünden : „Good Sense will through a plain expression shine. [...] Affected Noise is the most wretched Thing, T h a t to Contempt can Empty Scriblers bring" (S. 15). Diese Forderung von Angemessenheit und Klarheit des Ausdrucks und von Verzicht auf Schwulst und Bombast kann zu den von Dillon so bezeichneten more useful Laws gerechnet werden, zu denen etwa die Reimbindung der Versdichtung — als in der Antike unbekannt und daher auch nicht als Kennzeichen guter Dichtung erforderlich — nicht zählt (S. 23). Wird die Bedeutsamkeit der poetologischen Vorschriften und ,Gesetze' auch bei Dillon nicht bestritten, so macht er doch einen deutlichen graduellen Unterschied in der Wichtigkeit und Nützlichkeit einzelner Vorschriften. Granvilles kurzes Gedicht Concerning Unnatural Flights in Poetry schließt sich Dillons Ausführungen gegen Übersteigerung und Unnatürlichkeit direkt thematisch an. Was Sheffield als negatives Beispiel anführt, ohne seine Kritik gegen bestimmte Dichter zu richten, wird von Granville — und später Gildon 24 — namentlich zitiert. Der Angriff richtet sich gegen den Bom22

23 24

Vgl. zur weiteren Verbreitung der Berufung auf diese Horaz-Stelle von Chapman bis ward Burnaby Greene: Howard D. Weinbrot, „Translation and Parody: Towards Genealogy of the Augustan Imitation", ELH 33, 1966, S. 434—477; S. 439. Vgl. Dillon, S. 10. Gildon zitiert Sheffields negatives Dramenbeispiel (S. 17 f.) bereits in seiner Complete of Poetry, 2 Bde., London 1718, Bd. 1, S. 221, und bezieht es auf Fletcher und Drydens roische Dramen gleicherweise.

Edthe

Art he-

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bast des heroischen Dramas, wie auch Dryden es bis 1675 vertrat. Doch entschuldigt Granville den Kritisierten durch den Hinweis auf seine Abhängigkeit vom Diktat des Publikumsgeschmacks: „Dryden himself, to please a frantick age, Was forc'd to let his judgment stoop to rage; T o a wild audience he c o n f o r m ' d his voice, Comply'd to custom, but not err'd thro' choise 25 ." Erst die Simplizität, die nach der Abkehr von den publikumswirksamen Übertreibungen des heroischen Dramas einsetzt, macht Dryden nach Granvilles Ansicht vergleichbar mit antiken Vorbildern. Die Abgrenzung der angemessenen W ü r d i g u n g von Dichtung gegenüber dem Parameter des ,gemeinen' Publikumsgeschmacks, wie Granville sie d u r c h f ü h r t und auch bei Dryden nachweist, findet sich ähnlich bei Sheffield, Dillon und Gildon. Sie stützt sich bei Sheffield auf die Überzeugung von der Heiligkeit des Dichteramts 2 6 und dokumentiert sich bei Dillon in der Auffassung, daß zumindest die finanziell abgesicherten Dichter sich einer Kontrolle ihrer Fähigkeiten unterziehen sollten: Rich III Poets are without Excuse" (S. 18). D e r sich in diesem Selektionsbestreben manifestierende Exklusivitätsanspruch ist nicht nur maßgeblich f ü r eine sich aus Adelskreisen und bevorzugten Court Poets rekrutierende G r u p p e — zu der Gildon ohnedies nicht gehört —, sondern folgt schon aus den ausschließenden T e n d e n z e n und Funktionen klassizistischer Kanonbildung. D e r vorgegebene Standard ist nur f ü r eine begrenzte Zahl erreichbar und kann so f ü r Auswahl- wie Limitierungszwecke benutzt werden. Wie der Begriff des Klassischen, soweit er den des Ideals enthält, als Leitgröße nur die Annäherung, nicht aber das Erreichen oder Übertreffen zuläßt, so ist dichterische Meisterschaft als Qualitätsbegriff stets mit dem Gedanken der Auserwähltheit verbunden und steht in strenger Opposition zu den A n f o r d e r u n g e n einer kommerziellen Massenkultur oder Vergnügungsindustrie 2 7 . Dillon betont diesen Aspekt in seiner Preisung der großen Übersetzer, denen er gottgleichen Status einräumt: „But few, oh, few Souls, prasordain'd by Fate, T h e Race of Gods, have reach'd that envy'd H e i g h t " (S. 10). Wie das Vorbild das aus der Menge der anderen Dichtungen H e r v o r g e h o bene und Herausragende ist, muß sich auch der Kritiker einer traditionsgebundenen Dichtung auf eine von der allgemeinen Meinung unterschie25 26 27

Zitiert nach Gildons Ausgabe von 1721, S. 345. Vgl. An Essay on Poetry, S. 1. Löwenthal, S. 147, glaubt irrtümlicherweise, diese Gedanken das erste Mal bei Goldsmith nachweisen zu können. Vgl. hierzu auch Dillon, S. 18: „I pity, from my Soul, Unhappy men, CompelFd by want to Prostitute their Pen; W h o must, like Lawyers, either Starve or Plead, And follow, right or wrong, where Guynny's Lead"

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dene Basis seines Urteilens berufen, auf eine ebenfalls traditionsgebundene und an Vorbilder anknüpfende Theorie, wenn er eine angemessene Wertung erreichen will. Entsprechend ist es nicht der Geschmack der breiten Menge eines beliebigen Publikums, sondern das Urteil der wissenden Wenigen, das die legitime Entscheidung über den Wert eines Werks fällen kann: „'Tis the Opinion of the few Knowing only, that I fear, and that I covet" 28 . Die Betonung der Wissens- und Bildungsprivilegien drängt den hier von Gildon verlangten Kritiker in die Rolle des Eingeweihten. Eine solche Absonderung von der Meinung der Vielen lobt auch Dryden an Sheffield, wenn er anläßlich der Zueignung (1676) von Aureng-Zebe ausdrücklich dessen retired virtue und contempt of popular applause als Grundbedingungen für die Uberzeugungskraft seiner literarischen Richterfunktion hervorhebt 29 . Sheffield wiederum bestätigt diese Verachtung der ,niederen' Menge auf spöttische Weise in seiner Publikumsadresse im Prolog zu Marcus Brutus: „Most reverend, dull Judges of the Pit, By Nature curs'd with the wrong side of Wit 30 ." Direkt gekoppelt mit dem Vorwurf des Defizits an wit ist der des Mangels an positivem Wissen, der im Angriff auf die vulgar und die multitude konstant erhoben wird: „It has been indeed of late years the vogue of the little wits, and talking pretenders of the town, to laugh at, and ridicule the ancients [ • • • ] ; but all their arguments [ . . . ] evidently show, that whatever they say proceeds from their ignorance of the Ancients 31 ." Das abgewogene Urteil als das wahre und in der Besinnung und im Vergleich mit klassischer Dichtung gefundene steht über der auf Neuheit, Ablenkung und Überraschung bedachten wankelmütigen und voreiligen Geschmacksbildung der Masse. In Verbindung mit dem Universalismus und dem Anspruch auf alleinige Wahrheit und Gültigkeit der klassizistischen Theorie 32 unterstützt das Exklusivitätsgefühl ihrer Vertreter die Herausbildung eines stark entwickelten Sendungsbewußtseins. Durch die Uberzeugung, im Besitz der einzig wahren Lehre zu sein, entsteht das aufklärerische Bemühen der Befreiung der anderen aus dem Stand der Unwissenheit und das didaktische Interesse an Belehrung und Korrektur. Rymers Kritik etwa oder Sheffields Essay gehen ausdrücklich von diesem Ansatz aus, und auch Gildon ist von der Notwen28 29

30 31 32

Gildon, „Dedication" zu Love's Victim: or, The Queen of Wales, London 1701. Vgl. zur Beziehung Dryden-Sheffield: Vivian de Sola Pinto, Restoration Carnival, Five Courtier Poets: Rochester, Dorset, Sedley, Etherege & Sheffield, London 1954, S. 219 f. The Works, S. 333. Gildon, The Laws of Poetry, S. 11. Vgl. hierzu auch Granvilles Grundsatzerklärung, ebd., S. 348: „But being however a system, universaly agreed on, all that shall be contriv'd or invented upon this foundation according to nature, shall be reputed as truth: But whatever shall diminish from, or exceed the just proportions of nature, shall be rejected as false, and pass for extravagance, as dwarfs and gyants for monsters."

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digkeit der Kenntnis der Regeln als Basis eines korrekten Geschmacks überzeugt: „The reader is here taught the n e c e s s a r y rules of poetry 33 ." Diese Regeln beschränken sich nicht auf seine eigene Vorstellung, sondern sind gerade in ihrer konstanten Gültigkeit durch Autoritäten auch früherer Epochen zu belegen und zu stützen. Der Kampf für die Durchsetzung dieser Regeln ist jedoch für Sheffield wie für Gildon eine andauernde Notwendigkeit mit dem Ziel, „to form a fine taste and a solid judgment, both which are extremely wanted in this nation among the authors and readers of poetry" 34 . Wie der Ansatzpunkt der Theoretiker stets auf denselben wenigen Grundprinzipien basiert, so ist ihre Kampfstellung auch stets dieselbe gegen den unaufgeklärten Publikumsgeschmack, der zum einen die Dichter gegen ihr besseres Wissen zwingen kann, ihm sich anzupassen, zum anderen aber gerade durch solche opportunistischen Dichter noch in seiner Unwissenheit und Unvernunft bestärkt wird. Der didaktisch-teleologische Aspekt des theoretischen Schrifttums und der missionarische Eifer seiner Autoren konstituieren die Utopie einer allgemeinen Verbreitung des klassizistischen Bildungsideals. 2.1.3 Das nationale Unabhängigkeitsstreben Im Vorwort zu All for Love wendet Dryden sich gegen eine Bewertung seines Dramas nach den Maßstäben der französischen Poetik: „I desire to be tried by the laws of my own country; for it seems unjust to me that the French should prescribe here till they have conquered 35 ." Das Verdikt gilt auch für jene englischen Kritiker, die sich zu eng an ihre französischen Vorbilder anlehnen. Eine solche Frankophobie bedeutet jedoch keine Ablehnung klassizistischer Regelmäßigkeit. Ein ähnliches Eintreten für die bewunderte Antike und die unantastbare Gültigkeit der known and uncontested rules of poetry bei gleichzeitiger Ablehnung der französischen Dichtung und Bevorzugung nationaler Vorbilder findet sich in John Oldhams Ode upon the Works of Ben Jonson (1678): „Sober and grave was still the garb thy muse put on, [...] N o French commodity which now so much does take, 33

„Preface" zu The Laws of Poetry. Sperrung von mir. Vgl. zum Wandel im Regelverständnis des 18. Jahrhunderts unter funktionalem Aspekt auch Peter U w e Hohendahl, „Literaturkritik und Öffentlichkeit", LiLi 1, 1971, S. 11 — 46; bes. S. 14: „Gattungsregeln, ästhetische N o r m e n und Leitbilder der Rezeption können inhaltlich unverändert bleiben und doch eine neue Bedeutung erhalten. Der poetologische Begriff der Regel ist ambivalent, er läßt sowohl eine autoritäre wie eine rationale Begründung zu."

34

Ebd., „Preface". Vgl. auch Löwenthal, S. 130 f.: „Der Schriftsteller hat eine gesellschaftliche Aufgabe; er muß sein Talent gebrauchen, um an der Erziehung seiner Leser mitzuwirken." Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 225.

35

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And our own better manufacture spoil; N o r was it ought of foreign soil, But staple all, and all of English growth and make 36 ." Paul Spencer W o o d , der u. a. auch die beiden hier zitierten Stellen aus Dryden u^d Oldham anführt, warnt davor, solche Zitate als Beleg für eine antiklassizistische Tendenz in England zu interpretieren 37 . Die Abkehr von Frankreich, die Proklamation nationaler Vorbilder und Theorien bzw. deren direkte Herleitung aus der Antike ohne den Umweg über Frankreich, ist ein oft wiederkehrender Zug klassizistischen Selbstverständnisses in England selbst dort noch, wo spätere Forschung durchaus einen französischen Einfluß nachweisen konnte. Dieses problematische Verhältnis zu Frankreich zeigt sich auch in Dillons Essay on Translated Verse als Vorstellung von der Konkurrenz beider Länder in dem Bestreben um die Adaption antiker Dichtung. Dillon gesteht zwar die Verdienste Frankreichs als Vorbild und Ansporn für das englische Ubersetzungswesen ein, doch betont er mit nationalem Stolz, daß England Frankreich schließlich übertroffen habe. Die Behauptung eines quantitativen wie qualitativen Vorsprungs in der Versübersetzung argumentiert mit dem Klischee der französischen Schwächlichkeit: „But who did ever in French Authors see T h e Comprehensive, English Energy? The weighty Bullion of One Sterling Line, Drawn to French Wire, would through whole Pages shine" (S. 4). Gildon bestätigt in der Kommentierung dieser Verse die Überlegenheit englischer Klassikerübersetzungen in Versform auch für die spätere Zeit 38 ; den Anspruch des quantitativen Vorsprungs muß er jedoch aufgeben. In der Vorzüglichkeit englischer Übersetzungen sieht Dillon den ersten Schritt für einen Aufschwung der englischen Dichtung. Durch den möglichen Vergleich zwischen übersetzten Klassikern und nationaler Dichtung wird die Korrektur der letzteren möglich und dadurch die Weiterentwicklung einer eigenständigen, jedoch jetzt den korrekteren Ansprüchen der Antike entsprechenden Dichtungstradition gewährleistet. In der steten Ausrichtung der englischen Dichtung an den klassischen Mustern wird schließlich durch wachsende Qualität die antike Vorbildlichkeit erreicht und er-

36 37

38

Poems of John Oldham, hrsg. v. B. Dobrée, London I960, S. 69, Str. 10. Vgl. „The Opposition to Neo-Classicism in England between 1660 and 1700", PMLA 43, 1928, S. 182—197; bes. S. 190. Der mißverständliche Titel dieses Aufsatzes, der sich gerade um den Nachweis des Fehlens einer ernstzunehmenden Opposition zur klassizistischen Poetik bemüht, mag dazu geführt haben, daß René Wellek, The Rise of English Literary History, Chapel Hill 1941, repr. N e w York 1966, S. 29, A. 23, ihn entgegen der Intention seines Verfassers zitiert. Vgl. The Laws of Poetry, S. 288; S. 293 werden jedoch Boileau und Racine als Ausnahmen zu dieser Feststellung genannt. Vgl. zu der hier vorgenommenen Differenzierung von Prosa und Versdichtung: William H . Youngren, „Generality, Science and Poetic Language in the Restoration", ELH 35, 1968, S. 1 5 8 - 1 8 7 ; bes. S. 163 f.

Die Flexibilität der Regeln

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setzt, ohne daß d a f ü r ,barbarische' — gemeint ist hier französische — Hilfestellung weiterhin in Anspruch genommen werden müßte (S. 24). Die patriotische Schlußvision des Essay entwickelt den englischen Nationalstolz aus dem Vorbild Roms. Wie römische Dichtung durch die Griechenimitation zu klassischer H ö h e gelangte, so drängt Dillon auf Römerund Griechenimitation zur Verwirklichung des Führungsanspruchs der englischen Dichtung in Europa. Was Dillon schon in naher Z u k u n f t verwirklicht sieht, wird von Gildon wieder in weitere Ferne gerückt. Die Erreichung antiker Vorbildlichkeit wird nicht mehr als unmittelbar bevorstehend begriffen: „ [ . . . ] no, there must be a greater care of arts before poetry will arrive at the Greek and Roman greatness" (S. 344). Das Imitationsbestreben muß verstärkt werden; und in diesem Sinne ist Gildon auch wieder eher als seine V o r g ä n g e r bereit, französische Bestrebungen der Antikenverehrung anzuerkennen und mitzuvollziehen". Bemüht sich Gildon, Dillons H o f f n u n g auf eigene Klassizität der englischen Dichtung abzudämpfen, so findet sich schon vor Dillons Essay in der bereits zitierten Panegyrik Oldhams auf Ben Jonson ein verstärktes Bestreben, antike Muster durch englische zu ersetzen. Oldhams Ode ist ein sehr deutliches Beispiel f ü r das Vorgehen eines solchen Substitutionsbestrebens. D e r Verweis auf die Vorbildlichkeit der W e r k e der nationalen Vergangenheit bedeutet nicht Opposition und Kampfansage an die Gültigkeit der antiken Vorbilder, sondern im Grunde lediglich Ausweitung des Imitationsradius. Die Rivalität mit der antiken Mustergültigkeit kann nur auf der Basis der durch diese aufgestellten Grundsätze erfolgen, niemals durch Gegnerschaft oder Ablehnung. Die Möglichkeit f ü r das Erreichen oder eventuell auch Übertreffen der Antike sieht Oldham nur durch Imitation, nicht durch N e gation gegeben. Er hebt an Jonson die Vortrefflichkeit durch Aneignung der Meister hervor, wobei die exaltierte V e r e h r u n g Jonsons als des Begründers der englischen Dramatik durch die G a t t u n g des Lobgedichts vorgegeben ist: „Boldly thou didst the learned world invade, Whilst all around thy powerful genius swayed, Soon vanquished Rome, and Greece were made submit, Both were thy humble tributaries made, And thou returnedst in triumph with her captive wit 40 ." Am Bild des captive wit und der tributpflichtigen Staaten kommt für den hier dargestellten Kontext metaphorisch zum Ausdruck, daß ein Erreichen antiker Vorbildlichkeit nicht durch Zerstörung und Vernichtung, sondern nur durch N a c h a h m u n g und Inkorporation in das eigene Schaffen möglich ist. Selbst in diesem Feindbilddenken auf poetologischer Ebene baut der Sieger noch auf dem Fundament des Besiegten. Die Möglichkeit der Über39 40

Vgl. bes. seine Complete Art of Poetryw on 1718. Poems of John Oldham, S. 68, Str. 9.

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windung griechischer und römischer Dichtung kann nicht durch Andersartigkeit erreicht werden, sondern nur durch Steigerung eines auf derselben Basis errichteten Konzepts. Der Versuch, die nationale Unabhängigkeit zu betonen, die in der Proklamation Jonsons zum founder of our stage deutlich wird, erfolgt immer noch im Vergleich mit der Antike und in der Ausschau nach gleichartigem, nicht abweichendem Ersatz. Jonson, als Uberwinder durch Imitation interpretiert, gab als erster der englischen Bühne government und laws, „to strengthen and establish it". Genau wie die griechischen Dramatiker es auch schon vorher taten, vertritt er jetzt für das englische Theater proportion, order und harmony41. Obwohl Gildon nicht mit Oldhams enthusiastischer Jonson-Interpretation übereinstimmen würde, ist seine Insistenz auf der Notwendigkeit einer Regelbefolgung durchaus vergleichbar. Eine Ermahnung zur stärkeren, nicht mechanischen oder wörtlichen, sondern sinngemäßen und vernünftigen Befolgung dichtungstheoretischer Grundsätze wird hier zur Basis der Ubereinstimmung 42 , auf der die Verständigung und auch das Bemühen um eine nationale englische Poetik erfolgreich zu sein versprechen. In der bewußten Anknüpfung an die Essays Sheffields und Dillons entwickelt Granville schon das historische Verständnis eines spezifisch englischen poetologischen Schrifttums 43 . Gildon als späterer Herausgeber aller drei Texte betont ihren nationalen englischen Ursprung, um die Laws of Poetry auch gegen jene Gegner vertreten zu können, die jede Normierung der englischen Dichtung als unenglisch ablehnen: » [ . . . ] to render perfectly compleat, from English Authors only, that system of poetry which I here propose to establish 44 ." Die im Kommentar zitierten ausländischen Autoren werden jetzt nur noch als Illustration und zur Bestätigung eines nationalen dichtungsästhetischen Systems herangezogen. Dieses zeichnet sich nicht durch weniger strenge Ermahnung zur Regelbefolgung aus als etwa die französische Poetik, sondern es vertritt in mancher Hinsicht mit dieser gemeinsam eine grundsätzliche Regeltreue und sinnvolle Regelstrenge. 2.1.4 Die Hochschätzung Otways Schon bald nach dem Erscheinen von The Orphan (1680) und Venice Preserv'd (1682) setzt sich die Anerkennung Otways als bester der zeitgenössischen englischen Dramatiker allgemein durch 45 . Besonders deutlich wird 41 42

43 44 45

Ebd., S. 63, Str. 1 und S. 64, Str. 2. Vgl. The Laws of Poetry, S. 338, unmittelbar zum Dillon-Zitat: „ [ . . . ] we ought to have, and by consequence observe, rules in composition, as well as in translating verse; that we ought to purge of all manner of pedantry, if we hope the favour of the muses". Vgl. ebd., S. 345. Vgl. ebd., „Preface". Zu Nicholas Rowes Otway-Verehrung vgl. The Ambitious Step-Mother, London 1700, „Preface" und „Prologue", zu Gildons Otway-Bewunderung u. a. Love's Victim, London 1701, „Preface". Vgl. auch Nicoll, Bd. 2, S. 71 und S. 98. Zu Dennis' Otway-Begeisterung vgl. Hooker, „Introduction" zu Critical Works, Bd. 2, S. CXXXVIII.

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diese Hochschätzung betont, wenn in der naturalisierten', d.h. an englische Namen und Zustände angepaßten Übersetzung der Ragguagli di Parnasso (1612) des Traiano Boccalini Otway vor allen anderen englischen Dichtern von Chaucer bis 1704, dem Erscheinungsdatum dieser Ubersetzung, der Titel des Poeta laureatus zuerkannt wird 46 . Doch gerade dieses Werk hebt auch die Problematik hervor, die bei der Hochschätzung Otways für eine klassizistische Poetik entsteht. Die beiden Otway-Episoden sollen als Beispiel herangezogen werden für die Propagation einer freieren Dichtungstheorie, die letztlich jedoch auch nicht ohne Klassikervergleich oder Regelkanon auskommt. Den zeitlosen Rahmen einer Versammlung der bedeutendsten verstorbenen Philosophen, Dichter und Politiker am Musenhof des Apollo benutzt Boccalini, um aktuelle Themen seiner Zeit zu diskutieren und zu ihnen Stellung zu beziehen durch die Rechtsprechung des Apollo 47 . Im 28. „Advertisement" ist in der englischen Fassung Tasso durch Otway ersetzt, der sich um die Aufnahme seiner Werke in die Delphische Bibliothek bewirbt, jedoch von dem Committee of Criticks zurückgewiesen wird: „[. . .] they found he had not strictly oberserv'd the Rules, which Aristotle has laid down in his Art of Poetry" (S. 74). Apollo selber hebt das Urteil auf und tadelt Aristoteles, daß er versucht habe, die Liberty of Fancy durch Regeln einzuschränken. Otway wird rehabilitiert und allein sein Erfolg als Begründung für die Einordnung seiner Werke unter die first Class of Dramatick Performances in the Delphick Library angegeben. Erfolg wird hier über alle Korrektheit und Regelbefolgung gesetzt: „And since [.. .] Otway's Works had met with general Applause from all Mankind, it was apparent he had oberserv'd all the Rules Poets are oblig'd to take Notice of" (S. 75). Doch auch Aristoteles' Verteidigung gegenüber Apollo ist interessant. Er vertritt den deskriptiven Aspekt seiner Poetik, zieht sich auf ihre Fehldeutung durch seine Nachfolger zurück und plädiert schließlich für eine Ergänzung seines Werks für die neueren Zeiten (S. 76). Diese letzte Vorstellung der Ergänzungsbedürftigkeit und Weiterentwicklung, jedoch nicht der ersatzlosen Aufhebung der in der aristotelischen Poetik dargelegten Prinzipien findet sich — mit Bezug auf die Ars poetica des H o r a z — auch schon bei Sheffield: 46

47

Advertisements from Parnassus, 3 Bde., London 1704, Bd. 1, S. 230. In der 2. Auflage von 1714 gibt der anonyme Ubersetzer seine Initialen als J. G. an. Vgl. hierzu den Katalog der 10 englischen Ubersetzungen und Bearbeitungen und ihrer verschiedenen Auflagen von 1622 bis 1887 bei Luigi Firpo, „Boccalini in Inghilterra", Amor di Libro 5, 1957, H . 1, S. 1 0 - 1 7 ; H . 2, S. 8 3 - 9 0 ; H . 3, S. 1 5 3 - 1 6 2 . Diese literarische Fiktion einer Kommunikation der toten Dichter verschiedenster Epochen sowie ihre Versammlung als letzte Appellationsinstanz in literarischen Streitfragen ist oft benutzt worden. P. S. W o o d , „The Opposition", S. 191 — 194, der auf die BoccaliniAdaption von 1704 eingeht, jedoch ihre 2. Auflage von 1714 übersieht, weist auf den Ursprung dieser Tradition bei Lukianos hin und nennt englische Beispiele dieser Idee u. a. bei Suckling, Villiers, Swift und Addison. D a s bekannteste deutsche Beispiel ist Goethes Götter, Helden und Wieland.

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„Yet modern Laws are made for later Faults, And new Absurdities inspire new thoughts" (S. 4). Der Prozeß an Apollos Musenhof geht zunächst für Otway und die unbegrenzte Freiheit der Einbildungskraft siegreich aus. William Henry Irving, der die Bedeutung Boccalinis für Frankreich und England herausgestellt hat 48 , zieht von dieser „tolerant attitude towards the rules" Verbindungen zu vergleichbaren Ansichten bei Langbaine, Temple und Swift 49 . Doch der englische Bearbeiter Boccalinis macht im 60. „Advertisement" deutlich, daß die Hochschätzung Otways nicht aus seiner Ablehnung antiker Vorbildlichkeit erfolgt, sondern gerade aus seiner meisterlichen Verbindung von Männlichkeit und Weichheit als den hervorragenden Qualitäten auch schon antiker Dichtung. Moving Otway wird zum Poeta laureatus erkoren mit dem Hinweis, er sei „the only Englishman, that to the Manliness of Homer had joined the Softness of Ovid and Catullus, who had expressed Love and Frienship equally well" (S. 230). Die einzige Möglichkeit der Evaluation von Dichtung ist auch hier der Vergleich mit der Antike. Lösen die Advertisements from Parnassus die Schwierigkeiten der klassizistischen Otway-Rezeption mit der bedachten Sorglosigkeit satirischer Ubertreibung, so fällt die wissenschaftlichere' Argumentation Gildons zwar komplizierter, aber am Ende doch nicht grundsätzlich abweichend aus. Gildons Bewunderung für Otway ist ein durchgängiger Zug seines kritischen Schrifttums. The Orphan wird als excellent play eingestuft und Venice Presero 'd sogar als incomparable play wegen Otways allgemein anerkanntem Talent, die Rührung des Publikums zu erreichen: „[. . .] a Talent, very few of our English Poets have been Master of, in moving the Passions, that are, and ought to be the Aim of all Tragick Poets, Terror and Pity; and in which none equal'd him 50 ." Terror und pity zu erregen und dadurch diese Affekte des Zuschauers zu reinigen, zu besänftigen und vom Ubermaß zu befreien, ist für Gildon Ziel der Tragödie. Mit dem Anspruch rationaler Logik folgen die weitere Auslegung der aristotelischen Poetik und die Ableitung ihrer einzelnen Regeln aus dem Imitationsprinzip als Mittel zur Erreichung dieses wirkungsästhetischen Ziels. Die Konsequenz des rationalen Ansatzes wird so streng eingehalten, daß schließlich die aristotelische Poetik schon als erweichte Form eines ursprünglicheren und strengeren ätiologischen Regelkanons angesehen wird. Durch logische Folgerungen kommt Gildon zu dem Schluß, daß die Realitätsimitation des Bühnegeschehens am überzeugendsten sei, wenn der Zuschauer nur mit einem einzigen unverän48

48 50

„Boccalini and Swift", ECS7, 1973/74, S. 143 —160.Trotz des einschränkenden Titels findet sich hier eine umfassende Aufzählung der Ubersetzungen, Adaptionen, Weiterentwicklungen und Nachwirkungen Boccalinis in Frankreich und England. Irving kennt jedoch nicht die Artikel von Firpo oder P. S. W o o d . Ebd., S. 156. Langbaine [-Gildon], The Lives and Characters of the English Dramatick Poets, London o. J. [1699], S. 108 und S. 107. Der Otway-Artikel ist in seinen wertenden Urteilen von Gildon neu abgefaßt gegenüber Langbaine, der 1691 in An Account of the English Dramatick Poets, S. 398, lediglich über The Orphan schrieb: „This is a very moving Tragedy."

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derlichen Schauplatz und mit einer dem Zeitraum der Vorstellung entsprechenden dramatischen Zeitspanne konfrontiert werde 51 . Eine solche Forderung nach exakter Einhaltung der Einheiten von Ort und Zeit im Sinne einer Identifikation von faktischer und repräsentierter Extension hat jedoch stets das Aussehen von überspitzter theoretischer Spekulation. In der Complete Art of Poetry wird diese Forderung durch die Form des Dialogs, in dem sie nur von einem Gesprächspartner in dieser strengsten Form vertreten wird, relativiert. In den Laws of Poetry, in denen sie ebenfalls entwickelt wird 52 , sieht Gildon selber ein, daß nur wenige Dramen der Neuzeit und auch längst nicht alle der Antike ihr entsprechen. Für Otway weist Gildon zunächst nach, daß er die Einheit der Handlung stets eingehalten habe53. Die Einheiten von Ort und Zeit habe er zwar nicht im strengen Sinne gewahrt, wohl aber „as far as they were then understood". Dieses Argument der zeitbedingten Mißachtung oder mangelnden Kenntnis exakter Regeln ist wenig stichhaltig, da Gildons eigene Dramen, für die die Unkenntnis der Regeln nicht als Exkulpation des Verfassers angeführt werden kann, oft nicht nur von Akt zu Akt, sondern auch innerhalb der einzelnen Akte Kulissenwechsel verlangen. Häufiger Kulissenwechsel findet sich auch in Dramen anderer Autoren, die Gildon ausdrücklich für ihre Regelstrenge und Antikenimitation gefeiert hat54. Interessanter und wichtiger ist das zweite Argument für eine Entschuldigung von Otways freierer Regelbefolgung, das in einer Differenzierung der Bedeutung einzelner Regeln besteht: „Besides, there is a great deal of difference betwixt the breach of the unities of action, and those of time and place" (S. 201). Obwohl Gildon im vorangehenden Absatz davor warnt, die Wahrung der Einheiten als meer ornamental qualities aufzufassen, und ihre essentielle Bedeutung hervorhebt, wird diese mit vollem Nachdruck jetzt nur noch für die Einheit der Handlung postuliert: „ [ . . . ] a sin against time is not so obvious, and, if nicely manag'd, not so shocking." Dasselbe gilt, allerdings nicht so leicht übersehbar, für die Einheit des Ortes: „The unity of place, like that of time is not so essential to fable in general, as by a breach of it to destroy it" (S. 202). Durch das aristotelische Primat der Handlung erhält die klassizistische Einheitentrias eine abgestufte Bedeutung. Wie schon Dillon differenzierend auf die more useful laws gegenüber den zu vernachlässigenden pedantischen Spitzfindigkeiten hinweist, zielt auch Gildon auf eine Staffe51 52 53

54

Vgl. The Complete Art of Poetry, Bd. 1, S. 231. Vgl. ebd., S. 1 6 6 - 2 0 3 . Vgl. ebd., S. 201. Schon in The Complete Art of Poetry wird betont (S. 237), daß The Orphan und Venice Preserv'dkeinen underplot enthielten, bzw. er herausgekürzt worden sei. Vgl. The Lives and Characters, S. 66, Gildons Kommentar zu George Granville, Heroick Love, London 1698, das häufige Szenenwechsel auch innerhalb der Akte im griechischen Lager von Troja enthält: „This Play is one of the best of our Modern Tragedies, and writ after the manner of the Ancients, which is much more natural and easie than that of our Modern Dramatists."

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lung. Zugleich zeigt er hier in der Otway-Bewertung die Tendenz einer pragmatischen Poetik, angesichts des speziellen Falls und des Einzelwerks von einer rationalen Extremposition abzuweichen und eine restringierte Regelmäßigkeit gelten zu lassen: „Hence it follows, that tho Otway, and perhaps some other great poets, may seem to fall under my former censure, yet since they have not broke the unity of action, but only extended those of time and place according to the receiv'd notion of them, they are by no means within the compass of my condemnation" (S.203). Der Rückzug auf das behauptete Vorhandensein einer Einheit der Handlung hat innerhalb einer solchen zweckgebundenen Argumentationstaktik zudem den Vorteil, daß diese wichtigste Einheit nicht mit gleichem Evidenzgrad wie die Einheiten von Ort und Zeit numerisch nachprüfbar ist.

2.2 Das Ende der Seneca-Verehrung Am Beispiel der Untersuchungen der Bedeutung Senecas für das elisabethanische Drama hat sich gezeigt, wie schwierig eine Abschätzung des tatsächlichen Einflusses im Einzelfall sowie für eine ganze Epoche sein kann 55 . Im folgenden soll daher keine allgemeine Beeinflussung der englischen Tragödie am Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts durch Seneca herausgestellt werden, sondern eine selektiv-beispielhafte Analyse spezieller Adaptionstechniken vorgeführt werden. Anhand der kontrastiven Untersuchung von Crownes 7^;yeiiei-Bearbeitung (1680) und Gildons Medea-¥>ea.rbeitung (Phaeton 1698) sollen solche Elemente untersucht werden, die aus der lateinischen bzw. auch aus der griechischen Vorlage jeweils übernommen, intensiviert, umfunktioniert oder auch unterdrückt wurden, um so das an Seneca und Euripides für die damalige Zeit Interessante hervorzuheben. In der Beobachtung der von Crowne und Gildon ausgewählten Aspekte der jeweiligen antiken Tragödien, ihrer Erweiterungen und Kürzungen wird nicht nur festgehalten, was sie ihrem Publikum meinten zumuten zu können, sondern auch, was sie an Seneca und Euripides meinten ändern zu müssen, um ihnen die für die Aufführung notwendige Aktualität zurückzugeben. Der rezeptionsgeschichtliche Hintergrund von Crownes Thyestes ist ein in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verstärkt auftretendes Interesse am dramatischen Werk Senecas, das der Ausweitung des Stoizismus zu Beginn des Jahrhunderts folgt 56 und das sich in den vielfältigen Ubersetzungsleistungen dieser Epoche, die durchaus nicht denen der elisabethanischen Zeit nachstehen, dokumentiert. Am meisten Beachtung erhält dabei von vornherein der Thyestes, dessen zweite Chorpartie (V. 391— 403) die am häufigsten übersetzte Seneca-Passage zu sein scheint. Unter den acht Übertragungsbeispielen, die G. K. Hunter zusammengestellt hat 57 , ragen die Versionen von Marvell (veröffentlicht 1681) und Cowley (1668) besonders hervor. 1648 übersetzt Edward Sherburne die Medea, 1679 die Troades, und 1701 erscheinen beide Werke zusammen mit der Phaedra-\Jbertragung als Sammelband. Doch vor dieser zunächst letzten englischen Seneca-Ausgabe, die zugleich das Ende der Seneca-Verehrung markiert, werden im 17. Jahrhundert noch englische Versionen von Edmund Prestwich (Phaedra 1651),

" V g l . hierzu die beiden Aufsätze von G. K. Hunter, „Seneca and the Elizabethans: A Case-Study in Influence", Shakespeare Survey 20, 1967, S. 17—26; und „Seneca and English Tragedy", Seneca, hrsg. v. C. D. N. Costa, London-Boston 1974, S. 166—204. 56 Vgl. G. M. Ross, „Seneca's Philosophical Influence", Seneca, S. 116—165; S. 148. 57 Vgl. Hunter, „Seneca and English Tragedy", S. 197—201.

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Samuel Pordage (Troades 1660), J. T. Talbot (Troades 1686) und der Thyestes von John Wright (1674) herausgegeben 58 . 2.2.1 Das ästhetische Problem der cena Thyestea Jasper Heywood erstrebt bei seiner Übertragung der lateinischen Trimeter von Senecas Thyestes in englische Septenare (1560) möglichste Genauigkeit oft bis in die Wortstellung hinein; doch fügt er einen eigenen epilogartigen letzten Akt hinzu. In diesem Anhängsel kostet Thyestes in einem langen Schlußmonolog den Ekel vor sich selber aus als Vater, der seine eigenen Kinder aß und jetzt in sich enthält: „ [.. .] foure wombes enrapt in one". Diesen speziellen Aspekt der Nachwirkung der cena Thyestea versucht Heywood gegenüber Seneca noch zu verstärken, vor allem aber auch in ein abschließendes didaktisches Schuld-Sühne-Schema einzupassen: „By seas, by lands, by woods, by rocks, in darke I wander shall: And on your wrath, for right rewarde to due deserts, will call59." An diesem spezifischen Schuld- und Sühneverständnis, aber auch an dem grausigen Mahl selber läßt sich der Unterschied zwischen Heywoods elisabethanischer Übertragung mit ihrem ausgeprägten Interesse an der sprachlichen Darstellung des Abstoßenden, wie Seneca sie inaugurierte, gegenüber der mehr als ein Jahrhundert später entstandenen Übersetzung John Wrights besonders gut herausstellen. Nicht nur hat Wright, wie er im Vorwort berichtet, seine Übersetzung noch nachträglich in die dem herrschenden Zeitgeschmack entsprechende Form des heroic couplet umgeformt, sondern auch die abstoßende Mahlzeit des seine Söhne verzehrenden Vaters, das grauenvolle Kernstück des Stoffes, wird gegenüber Senecas Drastik und Heywoods insistierender Steigerung merklich gedämpft. Wright „scheint Senecas plastische Beschreibung mildern zu wollen; mehrere Geschmacksurteile deuten auf ein gewisses Unbehagen am Stoff 6 0 ". Diesem Unbehagen am Stoff entspricht schon die im Vorwort geäußerte Unsicherheit des Übersetzers bei seinem Unternehmen insgesamt. Trotz der Absicherung durch den Hinweis auf Heinsius' Empfehlung Senecas und durch die elegante und modische Form des heroischen Reimverses — „a more Fashionable Garb" — fürchtet Wright doch um den Publikumserfolg seines Werkes: „I confess it is not now very Modish to Translate any thing of this Nature from the Latine, when there are so many French Plays

58

59

60

Zu Priors Übersetzung einer Chorpartie der Troades, von der Teile in seinen Solomon (1708) aufgenommen wurden, vgl. The Literary Works of Matthew Prior, Bd. 1, S. 304 f. und Bd. 2, S. 912. „The Fourth Scene, Added to the Tragedy by the Translatour", Seneca His Tenne Tragedies, London 1581, Bl. 39. Franz Schmitt-von Mühlenfels, „Die cena Thyestea als ästhetisches Grenzproblem", arcadia 10, 1975, S. 65—72; S. 68. Die S. 69 vorgetragene Ansicht, Wright habe Heywoods Übersetzung gekannt, ist schwer zu erhärten.

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to be had, and those so well Accepted 61 ." Das sich hier anbahnende Empfinden des Anachronismus von Seneca-Übersetzungen und die daraus resultierende Sorge um den Publikumsgeschmack bei der Wahl seiner Vorlage mögen Wright veranlaß haben, der eigentlichen Ubersetzung noch eine zweite, eine Travestie der Seneca-Tragödie, hinzuzufügen. Gleichsam als Apologie seines ersten Unternehmens zeigt Wright in der beigefügten komischen Behandlung desselben Stoffes — eine Zusammenfügung, die sein Buch zu einem literarischen Unikum macht — seine Überlegenheit gegenüber einem die Schrecken der Rachetragödie allzu übersteigert vorführenden Seneca-Standpunkt: In antiklimaktischem Verfahren macht er aus den Söhnen des Thyestes jetzt Katzen, die Atreus seinem Bruder als Mahlzeit serviert. Indem Wright zwei Versionen desselben Stoffs vorstellt, überläßt er dem Publikum die Wahl zwischen der Seneca-Verehrung bzw. der Anerkennung des Thyestes als noch immer gültiges Muster einer grauenvoll-unmenschlichen Rachetragödie oder aber der Ablehnung und verspottenden Zurückweisung einer den zeitgenössischen Tendenzen des Dramas nicht mehr entsprechenden veralteten Tragödienform. Gerade in dieser literarhistorischen Situation des Geschmacksdilemmas hat Franz Schmitt-von Mühlenfels die symptomatische Bedeutung dieser Gegenüberstellung Wrights von möglichst getreuer Seneca-Ubersetzung und anschließender burlesker Kontrafaktur herausgestellt: „Sein W e r k steht zwischen der uneingeschränkten Begeisterung des englischen Publikums für den grausamen Stoff [. . .] und der ebenso entschiedenen Ablehnung des Ekelhaften 62 ." Neben diesem inhaltlichen Problem des Ekelhaften stellt Senecas Thyestes jedoch auch ein formal-ästhetisches Problem des mangelnden Figurenreichtums und der fehlenden Handlungsvielfalt für das 17. Jahrhundert dar. Im Prolog bedauert Wright ausdrücklich Senecas Mangel an Plot, Love und Honour, doch die Verpflichtung des Ubersetzers seinem lateinischen Text gegenüber hält ihn ab, Senecas Werk auch in dieser Hinsicht und damit vollständig in eine heroische Tragödie umzuwandeln. Gerade das von Wright so bedauerte Problem der zu begrenzten H a n d lungsentfaltung — im Vorwort nennt er es „the No-Plot of these old Tragedys" — war 1633 schon in Frankreich von Monieon für den ThyestesStoff zu lösen versucht worden. Genau wie später John Crowne führt Monieon schon die Frau des Thyestes jetzt in das Bühnengeschehen ein. In stummen Rollen werden auch ihre beiden Söhne als unschuldige Kinder 61

62

„Advertisement", Thyestes, A Tragedy Translated out of Seneca, To which Is Added MockThyestes, In Burlesque, London 1674. Eine ähnliche Haltung läßt sich auch in Talbots Widmung an Charles, Earl of Shrewsbury, feststellen: L. A. Seneca, Troas, A Tragedy, Translated from the Latine by J. T., London 1686: „This Play, my Lord, being neither written by the Author, nor fitted by the Translator, to the Humour and Relish of the present Age [ . . . ]." Dennoch ist auch diese Ubersetzung im heroic couplet abgefaßt wie auch schon die von Samuel Pordage (1660) oder die von Edward Sherburne (1679). Schmitt-von Mühlenfels, S. 71.

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wirkungsvoll und rührend in die tragisch-ausweglose Schrecklichkeit der Handlung einbezogen. Ebenfalls anders als bei Seneca wird ohne den einleitenden Geisterauftritt hier in direkter Selbstexposition des Atrée der tragische Rahmen erstellt: „Et faisons quelque chose en ce dessin funeste Qui soit digne d'Atrée & digne de Thyeste 63 ." In selbstbewußter poetologischer Reflexion stellt Monléon dem Leser dieses Vorgehen dar als durch die notwendige Einpassung des Stoffs in die französischen Dramenkonventionen seiner Zeit bedingt: „Les Grecs & Les Latins ont fait à la Grecque, & à la Romaine, ce que ie fais à la Françoise 64 ." Diese bewußt angestrebte Modernität des Dramas erstreckt sich auch auf die angestrebte Wahrung des Dekorums: Seine Absicht bei der Gestaltung des Stücks sei es gewesen, „de rendre supportable aux yeux, & aux coeurs des moins cruels de la Nature, ce que la Nature mesme abhorre, & ce qu'on n'auroit iamais peu croire s'il n'estoit arrivé dans la race de Tantale". Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit des dramatischen Geschehens werden garantiert durch die Bekanntheit des mythischen Stoffs. Das darstellungsästhetische Problem eines — soweit es auf der Bühne stattfindet — möglichst dezenten Mordens und Sterbens wird für die Kinder und die Königin durch Gift gelöst 65 . Die wirkungsvolle Schlußszene mit der Entfernung des Vorhangs vor den Köpfen und Gliedmaßen der Kinder und der Leiche der Königin ergibt jedoch in ungemilderter Grausamkeit das barocke Todestableau, das sich in seiner plakativen Funktion dann auch in Bildform als Titelkupfer zur Illustration des gedruckten Textes der Tragödie eignet. Eine solche sinnfällige Betonung von Mord und Grausamkeit in der Seneca-Adaption wird in Frankreich durch die beginnende Klassik eingeschränkt. Der Thyestes-Stoff findet sich erst sehr spät wieder aufgegriffen 66 ; doch auch die Adaption anderer von Seneca behandelter Stoffe versucht das Element des Grausam-Unmenschlichen in seiner Direktheit einzuschränken: „Bereits an Medée zeigt sich, wie Corneille nur das von Seneca übernimmt, was seinem Denken und seiner Zeit angemessen war, wie er bemüht ist, die atrocitas zu dämpfen und das Konkret-Sinnfällige der Sprache durch allgemeine abstrakte Redeweise zu ersetzen 67 ." War Monléon mit seinem Thyeste noch den Traditionen der gesteigerten Grausamkeit einer vorklassischen Epoche verbunden, so geht es Crowne ebenfalls — gerade im Gegensatz zu Corneille — um die Intensivierung des „Konkret-Sinnfälligen" nicht nur in der Sprache, sondern auch in den 63 64 65

66 67

Le Thyeste, Tragédie, Paris, 1638. Ebd., „Au lecteur". Ebd., 2. 8, S. 37: die Kinder sterben auf der Bühne durch vergiftete Früchte, die Königin Mérope ebenfalls durch Gift: 3. 7, S. 62 f. Vgl. Schmitt-von Mühlenfels, S. 71 f. Christiane Wanke, Seneca, Lucan, Corneille: Studien zum Manierismus der römischen Kaiserzeit und der französischen Klassik (Studia Romanica, Bd. 6), Heidelberg 1964, S. 40.

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Bühnenereignissen. Er behält die Geistererscheinung Senecas bei, seine Figuren erstechen sich durchaus auf offener Bühne, und die cena Thyestea behält ihre zentrale Stellung in der Katastrophe. Sie wird jetzt durch die Vielzahl der anderen Greuel und Untaten schon vorbereitet und in ihrer Funktion als deren Abschluß und H ö h e p u n k t noch bestätigt. Unter dem Gesichtspunkt der Aufführbarkeit des Werks bemüht sich Crowne, den englischen Konventionen entsprechend, H a n d l u n g und Figurenzahl gegenüber Seneca zu erweitern und zu komplizieren, zugleich aber in den beibehaltenen Partien auch dem lateinischen T e x t zu folgen: Thyestes „to a certain extent is a translation, with alterations and modifications made with a view to render it more adapted f o r representation on the English stage 68 ". In Hinblick auf die Bühnenwirksamkeit dieser ersten in England aufgeführten 77ryeito-Bearbeitung kann die Biograpbia Dramatica den Erfolg von Crownes Unternehmen bestätigen: „It is the only piece on this story that has made its appearance on the English stage where it met with good success 69 ." U n t e r dem ästhetischen Gesichtspunkt des Stoffs bleibt dieser Erfolg von Crownes D r a m a seinen Herausgebern im 19. J a h r h u n d e r t ein Rätsel. In dem Dilemma, den ekelerregenden Aspekt des Stoffs zu betonen und der generellen Seneca-Verurteilung ihrer Zeit nachzugeben, oder aber dem ebenfalls zeitgenössischen Postulat der Unantastbarkeit des Originals zu entsprechen, entschließen Maidment und Logan sich f ü r das erstere. Crownes Adaptionsvorgehen wird daher ausdrücklich gelobt: „These alterations are certainly improvements 7 0 ." Zugleich bleibt das Unverständnis gegenüber dem Erfolg auch eines solchermaßen abgeänderten Seneca-Werkes jedoch bestehen. Im Thyestes ist die ästhetische Permissibilität des 19. Jahrhunderts überschritten und die Verständnisgrenze erreicht. Die W a h l gerade des Thyestes-Stoffs durch C r o w n e kann höchstens apologetisch dem verdorbenen Geschmack dieser Zeit angelastet werden: „The success of this peculiarly disagreeable tragedy upon its representation [ . . .] is a singular instance of the vitiated state of popular taste which could tolerate a drama so replete with horrors of the most disgusting character 7 1 ." Die Entwicklung, die letztlich zu dieser Auffassung führt, setzt jedoch zu Crownes Zeiten schon ein. 2.2.2 Crownes polarisierende Figurenzeichnung Wie Seneca läßt auch C r o w n e sein D r a m a mit der Geistererscheinung des Tantalus und der Furie als Vorspiel und Initialereignis f ü r das eigentliche Dramengeschehen beginnen. Doch am Ende der höllischen Erscheinung 68

69 70 71

„Introduction", Thyestes in The Dramatic Works of John Crowne, hrsg. v. Maidment und Logan, 4 Bde., Edinburgh-London 1 8 7 3 - 1 8 7 4 , Bd. 2, S. 5 - 8 0 ; S. 7. Baker u. a., Bd. 3, S. 337. The Dramatic Works of John Crowne, Bd. 2, S. 8. Ebd., S. 7.

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erwacht der vorher als schlafend gezeigte Atreus und deklariert die Geisterszene zur Traumerscheinung seiner überhitzten Phantasie. Ohne die dramatische Funktion der Erscheinung zu schwächen, gelingt es Crowne, ein wesentliches Element des Seneca-Werks von seinem numinosen Aspekt zu befreien, es rational zu begründen und gleichzeitig zur Psychologisierung seiner Dramenfigur zu verwenden. Stärker als bei Seneca steht jetzt das auf Rache bedachte Individuum am Anfang des Dramas in seinem zugleich gesteigerten want of revenge: „Till revenge crowns me, I am still depos'd" (S. 19). Die Selbstzentriertheit dieser Figur schließt die bei Seneca noch vorhandene Idee des Wettstreits mit dem Bruder, wer der größeren Greueltaten fähig sei, aus72. Rache für das Verbrechen des Ehebruchs, das Thyestes an der Königin Aerope beging, ist jetzt Atreus' einziger Handlungsantrieb. Bleibt Senecas Atreus noch bis zum Dramenende im Streit mit seinem Bruder befangen, eine Konzeption, die sich bis in die sprachlichen Parallelismen der stichomythischen Schlußverse erstreckt, so steht bei Crowne wie am Anfang des Stücks jetzt auch an seinem Ende Atreus allein auf der Bühne und bekennt im Planungsmonolog sein immer noch ungestilltes Verlangen, Böses zu begehen. Richtete sich seine Intention zu Beginn des Dramas auf die Rache an seinem Bruder, so will er am Ende seine eigenen Söhne so erziehen, daß die Tradition des Tantalidengeschlechts in fortwährenden Untaten gewahrt bleibt: „I'll breed with care these boys for mischiefs born, That men may feel new rods when th'old is worn" (5.1, S. 79). Obwohl der Gedanke der zum Bösen geborenen Kinder sich auch bei Seneca findet 73 , wird er doch von Crowne aus seinem dortigen Kontext gelöst und wirkungsvoll zur Charakterisierung einer in Bosheit und Perfidität erstarrten Tyrannengestalt verwandt, die als solche noch über die Erfüllung ihrer Rache hinaus weiter bestehen bleibt. Atrocitas,

maiestas u n d affectus als G r u n d z ü g e d e r S e n e c a - F i g u r e n 7 4 w e r -

den von Crowne so verstanden, daß Atreus jetzt gleich zu Beginn des Dramas zwei seiner Diener auf offener Bühne ermordet, lediglich um die Intensität seines Rachebegehrens zu unterstreichen. Monarchische Größe, die sich in der willkürlichen Macht über Leben und T o d dokumentiert, aber auch die Außerordentlichkeit der Gefühle, die der Exponiertheit der sozialen Stellung entspricht, werden nicht mehr wie bei Seneca allein mit rhetorischen Mitteln dargestellt, sondern gleichzeitig auch durch Handlung veranschaulicht. In der Figur des Atreus zeichnet Crowne in vielen Zügen den traditionellen Tyrannen der Restaurationsbühne, wie er im Umweg über das elisabe72

75 74

Vgl. Seneca's Tragedies, With an English Translation by F. J. Miller, 2 Bde., London—New York 1917, Bd. 2, S. 104, V. 1 9 3 - 1 9 6 . Ebd., S. 118, V. 3 1 2 - 3 1 4 . Vgl. Otto Regenbogen, „Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas", Vorträge der Bibliothek Warburg 1927/28, hrsg. v. F. Saxl, Leipzig—Berlin 1930, S. 167—218; S. 207 und S. 177.

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thanische T h e a t e r zwar letztlich auch auf die „Gewaltmenschen" Senecas zurückgeht, wie er aber dennoch in seiner typisch barocken U m f o r m u n g durch die theokratische Herrschervorstellung des 17. Jahrhunderts bestimmt wird. Im Vergleich mit Lees N e r o - und Augustus-Figuren oder auch Drydens Maximin und selbst noch Vater und Bruder des AurengZebe fallen aber auch die Restriktion der Atreus-Figur im Gebrauch metaphorischer Sprache und die größere Klugheit und Zielstrebigkeit ihres T a k tierens auf. Ebenfalls die zentralen heroischen Liebes- und Ehrbegriffe werden durch die alle anderen Interessen verdeckende Unabdingbarkeit des Rachebegehrens dieser Figur ausgeklammert. Gegenüber der stetig das Geschehen vorantreibenden, auf Böses sinnenden Aktivität des Atreus zeichnet sich die Titelfigur Thyestes durch rein passives Verhalten aus. Sein die H a n d l u n g des Dramas bewirkendes Verbrechen liegt vor dem Einsetzen des Bühnengeschehens, er selber tritt erst — wie bei Seneca — in der Mitte des Dramas zum ersten Mal auf. Doch C r o w n e f ü h r t dem Zuschauer jetzt einen völlig gebrochenen Thyestes vor, der von Selbstvorwürfen gepeinigt wird und seine T a t in einsamer Wildnis zu büßen sucht. Seine Flucht vor der menschlichen Gesellschaft bedeutet ihm Sicherheit vor der Rache des Bruders, zugleich aber auch Strafe f ü r sein Vergehen. Sein Reuemonolog im Versteck einer einsamen H ö h l e — Cave in a desart (S. 49) — steht in genauer Opposition zum einführenden Rachemonolog des Atreus im königlichen Palast. Seine T a t wird als ein einmaliges Versagen in einem sonst vorbildlichen Leben dargestellt, ja schließlich sogar dem verderblichen Einfluß der H o f h a l t u n g seines Bruders angelastet: „Perhaps I feit no sin, because I liv'd In th'element of sin, my brother's C o u r t " (3.2, S. 50). D o c h dieser Versuch einer Selbstrechtfertigung wird sofort durch erneute Anschuldigungen gegen seine eigene Person wieder zurückgenommen. Die Ausdeutung einer solchen Rechtfertigungsmöglichkeit wird vom Dichter als Apologie des Thyestes dem Publikum suggeriert. Die Form der Selbstanklage und die bewegenden Verzweiflungsausbrüche sollen die Publikumssympathie f ü r den bußfertigen Sünder erhöhen (3.2, S. 50). In der Antithese von blutigem T y r a n n e n und reuigem Verbrecher ist die Sympathielenkung des Dichters gegenüber Senecas Vorgehen jetzt entscheidend auf die Eindeutigkeit einer polaren Figurenkonzeption gerichtet. W e n n C r o w n e daher zu Beginn des vierten Akts (S. 55 — 57) im Gespräch des Thyestes mit seinem Sohn Philestenes und seinem Vertrauten Peneus Teile wörtlich aus Seneca übernimmt (V. 404 — 490), so ist doch durch den in freier Erfindung vorgeschalteten Sündermonolog der Stellenwert ein ganz anderer. Der Freudenausbruch des aus der V e r b a n n u n g zurückkehrenden Thyestes beim Wiedererblicken der Heimat 7 5 , schon von Seneca so wirkungsvoll 75

Vgl. 4.1, S. 55:

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dargestellt 76 , aber auch das vorahnungsvolle Zögern des Heimkehrers 77 werden von Crowne aus der lateinischen Vorlage übernommen. Dadurch daß Zögern und Bedenken bei Crowne aber auch schon in der vorangegangenen Szene gezeigt werden (3.2, S. 53), wird durch die Doppelung dieses Elements gegenüber Seneca Furcht und Unsicherheit nicht nur als Vorahnung, sondern vor allem auch als Charakterzug eines ängstlichen und pessimistischen Thyestes herausgestellt. Wie auch beim Vergleich von einander entsprechenden Passagen bei Seneca und Crowne deutlich wird, daß Crowne nur mit Abweichungen der Dialogführung und dem Redeaufbau Senecas folgt, den Text oft umstellt und seine Vorlage nie wörtlich übersetzt, sondern lediglich einzelne Begriffe und Gedanken aufgreift, die er dann paraphrasiert und ausmalt, so ist auch die Reue des Thyestes bei Crowne ein völlig neues Motiv, denn Schuldbekenntnis oder Schuldbewußtsein waren bei Senecas Figur noch nicht vorhanden. Die Wendung des Thyestes bei seiner Ankunft in Argos: „nihil timendum video, sed timeo tarnen" (V. 435), ist lediglich Vorahnung künftigen Unheils und von Seneca dramentechnisch zur Spannungssteigerung eingesetzt, nicht aber Zeichen der reuigen Rückbesinnung auf begangenes Unrecht. Crownes polarisierende Verstärkung der Opposition der feindlichen Brüder Senecas erfolgt in Richtung auf eine lineare Typisierung, um deutlichere Gruppierungsmöglichkeiten in den vielfältigen Konstellationen des figurenreichen Stücks zu erreichen. Die bei Seneca auf gleicher Ebene stattfindende Gegenüberstellung zweier verbrecherischer Antagonisten 78 wird von Crowne aufgelöst zur Heraushebung des unbedingten Racheanspruchs des Atreus, unter dessen jetzt vielzähligen Opfern Thyestes zwar die Spitzenposition einnimmt, aber doch kein ebenbürtiger Widersacher mehr ist.

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78

„Oh! wondrous pleasure to a banish'd man! I feel my lov'd, long look'd for native soil; [ . . . ] O h ! sacred towers! sacred in your height, Mingling with clouds, the villas of the gods." „Optata, patriae tecta et Argolicas opes miserisque summum ac maximum exulibus bonum, tractum soli natalis et patrios deos (si sunt tarnen di) cerno, Cyclopum sacras turres, labore maius humano decus" (V. 404—408). Vgl.: „ [ . . . ] repete silvestres fugas saltusque densos potius et mistam feris similemque vitam" (V. 402 —414). — „Return with me my son, And old Friend Peneus, to the honest beasts And faithful desarts, and well seated caves" (4.1, S. 56). Vgl. Wolf Steidly, „Bemerkungen zu Senecas Tragödien", Philologus 96, 1943/44, S. 250 — 259, wieder abgedruckt als „Die Gestalt des Thyest" in Senecas Tragödien, hrsg. v. E. Lefevre (Wege der Forschung, Bd. 310), Darmstadt 1972, S. 490 — 499; S. 492: „Nicht nur durch die W o r t e des Atreus, sondern auch durch Prolog und Chor wird Thyest von vornherein auf eine Ebene mit seinem verbrecherischen Bruder gestellt."

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2.2.3 Die Handlungsmultiplizierung Am einschneidendsten f ü r den D r a m e n a u f b a u ist unter all den aus den neuen Figuren sich ergebenden Erweiterungen und zusätzlichen H a n d lungssträngen die Einführung einer Liebeshandlung zwischen dem Sohn des Thyestes und der T o c h t e r des Atreus. D e m Rachewunsch des Vaters gegenüber Thyestes entpricht in spiegelbildlicher U m k e h r u n g die Liebe der T o c h t e r zum Sohn des Verfolgten. Wie das Rachestreben des Atreus nicht in seinem Entstehen gezeigt wird, sondern eine von Anfang an beschlossene Sache ist, die durch die Traumerscheinung des Geistes und der Furie nur beschleunigt wird, so wird auch die Liebe der Antigone zu Philestenes in einem fortgeschrittenen Stadium gezeigt. Beim ersten Auftritt des Paares (2.1) findet die gemeinsame Flucht bereits statt. Lediglich um die vergessenen Juwelen als materielle Grundlage des Unternehmens aus dem Palast zu holen, kehrt Antigone noch einmal um. Aus diesem minimalen Umstand entwickelt Crowne dann eine Kette von Folgen, die schließlich zum tragischen Ende auch des unschuldigen Liebespaares f ü h r t ; denn durch das Versehen der Antigone gerät Philestenes in die Gewalt des Atreus, der damit das Mittel zur Ausführung seiner Rache an Thyestes erhält. Die Idee der Art der D u r c h f ü h r u n g der Rache kommt Atreus erst angesichts des gefangenen Philestenes, ja wird ihm von diesem selber in tragischer Ironie unwillentlich eingegeben (2.2, S. 33 f.). H a u p t - und Nebenhandlung sind so aufs Engste miteinander verknüpft und bleiben es auch bis zum Ende des Dramas, denn die Rache des Atreus vollzieht sich ja durch den Sohn des Thyestes. Anläßlich der Bearbeitung des Oidipus-Stoffs beklagte sich Corneille über die fehlende Liebeshandlung in den D r a m e n seiner V o r g ä n g e r Sophokles und Seneca: ,,[. . .] l'amour n'ayant point de part dans ce sujet, ni les femmes d'emploi, il était dénué des principaux ornements qui nous gagne d'ordinaire la voix publique 79 ." Doch die Art, wie Corneille jetzt in Opposition zur T r a g i k der H a u p t h a n d l u n g eine glücklich endende N e b e n h a n d lung einfügt, gefällt Dryden und Lee, als sie später denselben Stoff bearbeiten, durchaus nicht 80 . Sie verknüpfen in ihrem eigenen Oedipus die Nebenhandlung des jungen Liebespaares noch enger als Corneille mit der H a u p t handlung und lassen alles Geschehen in einer übergreifenden Schlußkatastrophe gemeinsam enden. Gerade an dieser Z u s a m m e n f ü g u n g von H a u p t und Nebenhandlung im Oedipus entwickelt D r y d e n dann seine Überzeugung, daß durch eine enge V e r k n ü p f u n g zweier Handlungsstränge das aristotelische Postulat der Einheit der H a n d l u n g gewahrt bleibt 81 . Nicht nur weiß C r o w n e jetzt gegenüber Drydens vorangehender Oidipwi-Bearbeitung seine eigene in Senecas D r a m e n k o n z e p t eingefügte N e 79

80 81

„Au lecteur", Théâtre complet de Corneille, hrsg. v. P. Lièvre, 2 Bde. (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1934, Bd. 2, S. 463. Vgl. Dryden, Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 233 f. Vgl. ebd., S. 244.

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benhandlung weniger heroisch zu gestalten, sondern, da die E r m o r d u n g des Philestenes f ü r das tragische Ende von H a u p t - und Nebenhandlung gleichermaßen ursächlich ist, wird so die klassizistische Vorstellung von der Einheit der H a n d l u n g noch konsequenter als bei Dryden und Lee gewahrt. Multiplicity und variety der D r a m e n h a n d l u n g widersprechen nicht einer solchen Auffassung von Einheit, solange die Zentralperspektive auf die Rache des Atreus gewahrt bleibt 82 . In gleicher Weise wie die Liebeshandlung werden daher auch die Figuren der unschuldig leidenden Königin oder des weisen Ratgebers Peneus aufs engste auf die Atreus-Thyestes-Konstellation bezogen und bleiben in jeder Phase der Handlungsentwicklung dieser K o n stellation untergeordnet. Indem der gefangene Philestenes als Sohn des Thyestes das Mittel zur Rache des Atreus darstellt, vollzieht sich an ihm auch als erstem durch die Verstellung und List des Atreus ein scheinbarer Schicksalsumschlag von ,schlecht' zu ,gut'. Dieser durch die vorgetäuschte Güte und Freundlichkeit des Atreus eintretende Umschlag von Unglück zu Glück setzt sich fort in der Reihe der anderen Figuren, deren Schicksal in jedem Fall vom Verhalten des Atreus abhängig ist: der Ratgeber Peneus, die T o c h t e r Antigone, die Königin Aerope und vor allem Thyestes selber. C r o w n e f ü h r t die Erleichterung und Freude dieser Figuren angesichts einer solchen unerhofften Gnade und Versöhnungsbereitschaft des Atreus ausführlich seinem Zuschauer vor — um dann auch den Umschlag von Glück zu Unglück am Ende des Dramas um so nachdrücklicher wieder an allen Figuren einzeln aufzeigen zu können, wenn der w a h r e Plan und die List des Atreus offenbar werden. Diese Umschwünge im Schicksal der dramatischen Figuren sind wesentlicher Bestandteil f ü r Anlage und Aufbau jeder dramatischen Handlung. N a c h Aristoteles sind sie besonders wirksam, wenn sie durch plötzliche Entdeckungen stattfinden 83 . Eine solche Verbindung von Anagnorisis und resultierender Peripetie findet sich bei Seneca im strengen Sinn nur einmal, nämlich in der Erkenntnis der Ungeheuerlichkeit der Rache, als Thyestes entdeckt, daß sein Bruder ihm seine eigenen Söhne als Mahlzeit vorgesetzt hat: „Agnosco f r a t r e m " (V. 1006). D e r vorhergehende Umschlag vom U n glück der V e r b a n n u n g zum Glück der H e i m k e h r , der durch die Verkennung der wahren Absichten des Atreus erreicht wird, wird nur in seiner zweiten H ä l f t e , der A n k u n f t des Thyestes in Argos, dargestellt (V. 404 — 490). Indem C r o w n e nicht nur diesen ersten Umschlag im Schicksal des Thyestes vollständig und eindringlich v o r f ü h r t (2.2), sondern die Peripetien entsprechend der von ihm erweiterten Figurenzahl multipliziert, erreicht er jetzt eine Vielzahl von Momenten höchster Gefühlssteigerung und dadurch den Anlaß f ü r ein ganzes Spektrum von unterschiedlichen Freudensäuße82

83

Vgl. ebd., S. 244: „Therefore, as in perspective, so in tragedy, there must be a point of sight in which all the lines terminate; otherwise the eye wonders, and the work is false." Vgl. Poetik, Kap. 2, 1452 a 29 zur Verbindung von d v a y v w p i a i i ; und ncpiTtcxcia.

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rungen, bzw. Leids- und Unglücksmitteilungen, die sich am Ende dann zu Tod und Wahnsinn steigern. Rapin hatte in seinem Aristoteles-Kommentar zum Peripetie-Begriff bemerkt: „And it is to be observed that only by this Change of Fortune the Fable pleases, and has its Effect 8 4 ." Diesen Wirkungsaspekt betont er dann als Spezifikum der dramatischen Darstellung besonders in seinem Rührungseffekt: „ [. . . ] the Theatre, where nothing can be delightful but that which moves the affections, and which makes impression on the Soul 85 ." Grade diesen rührenden Effekt aber versucht Crowne gegenüber Seneca zu erhöhen durch Summierung der Peripetien, die nicht durch neue, dem Thyestes-Stoff eingefügte Wendungen erreicht werden, sondern durch die Ausdehnung des Geschehens auf eine größere Gruppe Betroffener als bei Seneca. Zugleich aber werden nicht nur die Schlußperipetie, sondern auch schon zu Beginn der Handlung entstehende Schicksalsumschwünge breit ausgemalt und aus Senecas Berichten in bühnische Darstellung transponiert. Dieses Verfahren Crownes soll hier an ausgewählten Einzelaspekten näher untersucht werden. Während die Flucht der Liebenden zu Beginn des Dramas im letzten Moment überraschend und unerwartet scheitert, so weiß der Zuschauer bei der Hochzeitsfeier im vierten Akt schon vorher, daß hier die Liebeshandlung keinen glücklichen Abschluß finden wird. Als sichtbares Zeichen der scheinbaren Vergebung und Gnade des Atreus führt Crowne die Hochzeitsfeierlichkeiten auch sichtbar auf der Bühne vor. Diese Tendenz der sinnlichen Vergegenwärtigung der handlungskonstituierenden Geschehnisse hat Vorrang vor dem klassizistischen Postulat der Einheit des Ortes, bzw. diese Einheit wird jetzt so verstanden, daß die ganze Stadt und ihre Umgebung als Variationen desselben Ortes vorgeführt werden können und durch ihre Nachbarschaft als zusammenhängend und daher eine „Einheit" darstellend begriffen werden. Nicht mehr nur im Bericht wie bei Seneca, sondern tatsächlich szenisch dargestellt, sieht der Zuschauer den Ort der Verbannung des Thyestes, den Kerker der Königin oder auch das Ergreifen des heiligen Widders durch die Boten des Königs im stummen Spiel auf der Hinterbühne, das simultan zur Vordergrundshandlung stattfindet. Dieselbe Tendenz zur Fundierung des Geschehens und der auch sinnlich erfaßbaren Tat führt in anderer Hinsicht aber auch zu den zwei Morden im ersten Akt und den vier weiteren Morden und Selbstmorden im letzten Teil des Dramas, die gegenüber Seneca, der lediglich einen Bericht über den Ritualmord an den Söhnen des Thyestes gibt (V. 623 — 788), eine drastische Veranschaulichung und Steigerung darstellen. Durch die Hochzeit der Kinder wird jedoch auch die Arglist und Verstellungskunst des Atreus gegenüber Seneca noch anschaulich gesteigert. Die Motive der Nebenhandlung werden in engster Verzahnung mit der 84 85

Rapin, „In General", Kap. 21, S. 33. Ebd., „In Particular", S. 115.

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H a u p t h a n d l u n g jetzt benutzt, um einen rührenden und mitleiderregenden Aspekt des tragischen Geschehens parallel zur eigentlichen Rachehandlung aufzubauen. Für die Dramenfiguren gänzlich unerwartet tritt dann das Grauenvolle des unmittelbar anschließenden Beginns der eigentlichen Rache hervor. Gleich nach dem Hochzeitsfest im Tempel (S. 65 f.) wird Philestenes von der hinausgehenden Gesellschaft unauffällig getrennt und am selben O r t , an dem er gerade zuvor getraut wurde, von den Priestern gefesselt und von Atreus ermordet. Die Vorstellung der sympathetischen N a t u r , die angesichts der unter der unmenschlichen Grausamkeit des Atreus leidenden O p f e r erzittert, wird bei Seneca durch den Boten mitgeteilt (V. 696 — 698). Crowne hat jetzt Gelegenheit, diesen Gedanken einer im wörtlichen Sinne steinerweichenden R ü h r u n g seinem Publikum direkt aus dem M u n d e des Opfers mitzuteilen: „The temple columns bend to beg my life" (S. 67). Nicht nur die unmittelbare Vergegenwärtigung dieser rührenden Szene des unschuldig und tapfer 86 sterbenden Sohnes des Thyestes weiß C r o w n e im Sinne der Mitleidserweckung wirksam zu gestalten, sondern das aus Seneca übernommene Bild der Erschütterung selbst des unbelebten Teiles der N a t u r als spiegelbildliche Entsprechung einer unmenschlichen Rache wird durch den neuen K o n text der Liebeshandlung noch intensiviert. In der Tapferkeit seines Sterbens sublimiert Philestenes schließlich seine Liebe zu Antigone und wird so von C r o w n e am Beginn der eigentlichen Katastrophe in seiner doppelten Funktion als Sohn des Thyestes und Liebhaber der T o c h t e r des Atreus betont hervorgehoben. Mit der gegenüber Seneca erhöhten Figurenzahl und der daraus resultierenden Handlungsvielfalt kommt C r o w n e durchaus klassizistischen Ansichten von einer dem vorgängigen Geschehen und der anschaulichen D a r stellung verpflichteten Auffassung vom T h e a t e r entgegen. Rapin etwa verlangt ausdrücklich den Aktionsreichtum der dramatischen H a n d l u n g : „For the Theatre being essentially destined f o r action, nothing ought to be idle, but all in agitation, by the thwarting of passions that are founded on the different interests, that arise; or by the embroilment that follows f r o m the intrigue. Likewise there ought to appear no Actor, that carries not some design in his head, either to cross the designs of others, or to support his own; all ought to be in trouble, and no calm to appear, till the action be ended by the Catastrophe 8 7 ." In der Opferungsszene als dem Knotenpunkt mehrerer Handlungsstränge zeigt sich aber auch das die Interessenvielfalt am Schicksal der Philestenes-Figur zusammenhaltende und übergreifende Moment der Rache des Atreus besonders deutlich. 86

87

Vgl. C r o w n e , S. 67, Philestenes: „Yes, tyrant, I dare see and suffer too, With greater courage, all thou canst inflict, T h a n thou darst look on thy own frightful soul." Rapin, „In Particular", Kap. 21, S. 115 f. H e r v o r h e b u n g e n von Rymer in Anschluß an das französische Original.

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2.2.4 Seneca versus Euripides Zur Bearbeitung der antiken Tragödie mag Crowne durch den unmittelbar vorangehenden Erfolg von Drydens und Lees Oidipus-Bearbeitung angeregt worden sein. Indem er sich jetzt Seneca zur Vorlage wählt, folgt er ebenso einer ihrem Ende zugehenden Adaptions-Tradition des englischen Theaters: „With the fading of the Baroque the last connection between the taste of Seneca and that of any possible modern literature was broken 88 ." Das neue Ideal ist eine verstärkte Zuwendung zur auch vorher schon erklärten Exemplarität der griechischen Tragödie, die sich jetzt jedoch in Theorie und Praxis stärker bemerkbar macht und sich gegenüber Seneca nicht nur emanzipiert, sondern ihn zugleich aus seiner Vorbildstellung verdrängt. Die englischen Ubersetzer der Seneca-Tragödien berufen sich auch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur Rechtfertigung ihres Unternehmens noch auf die Seneca-Verehrung von Lipsius, Scaliger und Heinsius. Edward Sherburne verweist darauf, daß besonders die Troades durch „the joynt Suffrage of the most knowing Criticks of this latter Age" als ,göttliches' Werk gefeiert wurden 89 . Doch schon zwei Jahre vor Sherburnes Ubersetzung (1679) hatte Rymer umgekehrt behauptet: „Every one have noted Seneca for his unnatural way of writing 90 ." Gerade für die Troades kann Sherburne sich neben den Renaissancepoetiken aber auch noch auf die Empfehlung eines neueren Dramatikers berufen. Dryden hatte im Essay of Dramatic Poesy Senecas Troades als Musterbeispiel auch für rührende und mitleiderregende Szenen im antiken Drama anführen lassen, und selbst Neander lobt hier Seneca für seine poetische Diktion und die diligence in his choice of wordi\ Als noch ungestörter Kanon der antiken Dramatiker werden hier Aristophanes und Plautus als Vorbilder für die Komödie empfohlen und Euripides, Sophokles und Seneca als traditionelle Trias der klassischen Tragödie anerkannt. Fast zur selben Zeit äußert sich St. Evremond jedoch auch schon negativ über Seneca und gibt vor allem seiner Abneigung über den Pessimismus der Philosophie Senecas Ausdruck: „Enfin il parle tant de la mort & me laisse des idees si noires, que ie fais ce qui m'est possible pour ne profiter pas de sa lecture 92 ." Er fühlt sich abgestoßen von der Exzessivität der Gedanken und des Stils, in denen er eher exotische Übertreibungen als die Reinheit und Klarheit einer vorangegangenen klassischen Latinität findet. Im Kontrast zur augusteischen Epoche wird Seneca als maniriert und gekünstelt verworfen: „ [ . . . ] rien de facile, rien de naturel; toutes pointes, toutes 88 89 90 91 92

Hunter, „Seneca and English Tragedy", S. 195. " T o the Reader", Troades: or the Royal Captives. A Short View in: Rymer, Critical Works, S. 57. Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 41 und S. 90. Ivgement sur Seneque, Plutarque et Petrone, Avec l'histoire de la Matrone d'Ephese, Paris 1670, S. 9 f.

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imaginations, qui sentent plus la chaleur d'Afrique ou d'Espagne, que la lumiere de Grece ou d'Italie 93 ." Diesem Vorwurf des affektierten Stils fügt Rapin noch den des dramentechnischen Versagens in der Handlungsdisposition der Tragödien hinzu: „Seneca, who speaks always well, but never speaks naturally; his Verses are pompous, his Thoughts lofty, because he would dazzle; but the contrivance of his Fables are of no character 94 ." Rymer, der dieses negative Urteil für das englische Publikum übersetzt, führt dann auch den vernichtenden Vergleich zwischen den beiden Phaedra-Dramen des Euripides und des Seneca durch, in dem Euripides als richtig und vorbildlich für Anlage und Entwicklung des Stoffs und der Figurenzeichnung empfohlen wird, Seneca dagegen wegen seines Ungeschicks, his blind way of designing, und seiner sentenziösen Sprache abgelehnt wird: „ [ . . . ] though he takes all his thoughts from Sophocles and Euripides, yet he rarely affords us any of their good sense 95 ." Vor allem aber stellt Rymer den undramatischen Grundzug der Tragödien Senecas heraus, der wesentlich durch die Dominanz des expositorisch-philosophischen Interesses bedingt werde und sich in his dry Morals, and a tedious train of Sentences manifestiere 96 . Außerdem werde das Mitleid mit dem Schicksal der Protagonisten — besonders in Phaedra — als zentrale Wirkintention durch die negative Uberzeichnung der Figuren zerstört: » [ . . . ] few Women would be apt to fancy that they could be (in any circumstances) so wicked as this Phedra97." Die Extremität der dramatischen Charaktere übersteigt die Erfahrungsmöglichkeit und Glaubwürdigkeit und verstößt damit gegen den unabdingbar aufrechtzuerhaltenden Wahrscheinlichkeitsanspruch aller Dichtung. Gerade diese durch die Behandlung desselben Stoffs besonders geeignete Gegenüberstellung griechischer und lateinischer Dramatik bietet sich an, den Nachweis für die Vorzüge des Euripides und die Nachteile Senecas zu führen. Dieselbe Erfahrung einer durch die kontrastive Untersuchung jetzt notwendig einzugestehenden Abwertung Senecas vollzieht auch Dryden, als er mit Lee die Bearbeitung des Oidipus-Stoffs unternimmt. Sophokles erscheint hier als das große Vorbild und der unbestrittene Meister in der Gestaltung dieses Mythos, admirable everywhere, Senecas Version dagegen wird als „always running after pompous expression, pointed sentences, and philosophical notions more proper for the study than the stage", d. h. als dramatisch unbrauchbar abgelehnt 98 . Eine solche Verurteilung Senecas er-

93 94

95 96 97 98

Ebd., S. 4. Reflections, „In Particular", Kap. 22, S. 120 f. Die fehlenden Manners bei Seneca werden S. 37 angemerkt, die Darstellung der Leidenschaften lobt Rapin hingegen ebd., S. 60. A Short View, S. 57. Ebd., S. 87. Ebd., S..57. Of Dramatic Poesy, Bd. 1, S. 233 f.

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härtet Dryden später noch durch die Anerkennung der Beurteilung St. Evremonds auch für die philosophischen Schriften Senecas". Doch entgegen den Ankündigungen in Vorwort und Prolog sind Dryden und Lee in ihrem Oedipus dem Vorbild Senecas mehr verpflichtet, als sie eingestehen. Nicht nur in dieser Hinsicht, sondern auch speziell in der Art der Umformung, in den Adaptionstechniken der Konkretisierung und Veranschaulichung, der Figurenmultiplikation und Handlungserweiterung steht Crownes Tbyestes in unmittelbarer Nachfolge von Drydens und Lees Oedipus. Geistererscheinungen und die Konsequenz der alle Figuren einschließenden Katastrophe sind beiden Werken gemeinsam. In der postulierten Ablehnung Senecas und Bevorzugung der griechischen Tragödie, wie Dryden es in der poetologischen Reflexion darstellt, führt die Linie einer klassizistischen Dramenkonzeption, wie sie sich gerade auch in der Adaption der Vorbilder für die englische Bühne darstellt, jedoch unter Umgehung Crownes von Dryden direkt zu Gildons Phaeton (1698) oder später Richard Wests Hecuba (1726)100. Für die Bearbeitung des Medea-Stoffs hat Gildon sich trotz vorangehender Entscheidung für die Vorbildlichkeit des Euripides auch über Senecas Version informiert. Doch nicht nur lehnt er jetzt den ,unfrommen' Schluß dieser Tragödie ab, sondern spricht sich auch grundsätzlich gegen Seneca aus und bevorzugt die gemäßigtere Darstellung der Affekte und zugleich auch die anderen Wirkungsmöglichkeiten der griechischen Tragödie. Hinsichtlich dieser Umschichtung im Kanon der empfohlenen Vorbilder wird der Bruch mit der Tradition der Renaissancepoetik offen vollzogen: „And therefore I cannot forgive Scaliger's ill Taste, in prefering Seneca's abominable Medea (I mean in comparison of that of Euripides) to his. Seneca has nothing but a stiff, unnatural Affectation of Sententiousnes. Euripides is all free, easie, just, and natural; Seneca prepares nothing, Euripides has an admirable Preparation for every thing 101 ." Diese eindeutige Vorentscheidung für Euripides und gegen Seneca hindert Gildon jedoch nicht, gelegentlich in der Durchführung seiner Bearbeitung auch noch auf Elemente der englischen Dramentradition zurückzugreifen, die sich eher durch eine Beschäftigung mit den Tragödien Senecas als mit der attischen Tragödie erklären lassen.

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Ebd., Bd. 2, S. 11. Im V o r w o r t zur Plutarch-Übersetzung zitiert Dryden eine lange Passage aus der oben angeführten Schrift St. Evremonds und hebt anschließend (S. 12) selber Plutarchs V o r z ü g e im Kontrast zu Seneca hervor: „The style of Plutarch is easy and f l o w ing, that of Seneca precipitous and harsh." Die genaueren Implikationen dieser Stildiskussion werden bei George Williams, besonders im letzten Kapitel, entwickelt: The Senecan Amble, A Study in Prose Form from Bacon to Collier; London 1951. Zum Kontext von Wests Euripides-Bearbeitung vgl. Nicoll, Bd. 2, S. 90: „In the twenties of the century pseudo-classicism in tragedy seems to become a trifle more popular." Charles Gildon, „The Preface", Phaeton: or The Fatal Divorce, London 1698, S. 7 f. Da das nicht numerierte Preface sehr lang ist, werden hier die Seitenzahlen 1 — 11 eingeführt.

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2.2.5 Gildons Publikumsgewandtheit D e r Theatererfolg von Gildons Phaeton überstieg die Erwartungen des Autors, obwohl, wie er konzediert, er sich schon allein durch die Wahl der euripideischen Medea als Vorlage eine gewisse Publikumsattraktion erhofft hatte 102 . Das Adaptionsverfahren ist hier in jeder Hinsicht auf eine Konvergenz von griechischer Tragödie und gegenwärtigem Publikumsgeschmack ausgerichtet, wobei im Zweifelsfall dem letzteren gegenüber Euripides der V o r z u g gegeben wird: „I had Reasons sufficient to justifie my deffering f r o m him in some particulars. For my Intention being to Compose a Piece (if I could), to please our Audience" (S. 1). In der Apologie des Unternehmens werden die im unmittelbaren Theatererfolg liegenden materiellen Vorteile über die Verfechtung eines ästhetischen Programms gestellt und die Zuschauerwünsche als G r u n d - und Richtgröße der poetologischen Reflexion über das eigene Adaptionsverfahren explizit anerkannt. Die Obligation zur originalgetreuen Ubersetzung findet ihre Grenze in den Erfordernissen der Aufführbarkeit. Wirkungspoetik kann in der Rücksicht auf die Theaterwirklichkeit hier nicht nur als Anerkennung der historischen, sozialen und politischen Bedingtheit der Rezeptionsbereitschaft des Publikums verstanden werden, sondern unmittelbar als Bemühen um die den R u h m des Dichters bewirkende Akklamation der Zielgruppe. Diese Erfolgsorientierung läßt Gildon bei seiner Arbeit stets den prospektiven Zuschauer vor Augen behalten. In der Frage der Euripides-Bearbeitung konstruiert er zur eigenen Absicherung das imaginäre Urteil je eines klassisch-griechischen und eines modern-englischen Zuhörers, um durch den Kontrast der Reaktionen die Ansatzpunkte f ü r seine Änderungen zu gewinnen: „I was no farther to follow my great Master than both o u r T w o Hearers agreed; but where their Sentiments differ'd, there I was oblig'd to forsake him, and comply with those w h o had my Profit, and what is much more in my Opinion, my Reputation in their H a n d s " (S. 1). Die Publikumsgewandtheit des Dichters schließt hier nicht nur den Zuschauer als Kompositionselement in sein W e r k mit ein, sondern liefert in der Geschichte der Adaption antiker W e r k e die Grundlage f ü r einen dialektischen P r o z e ß der W a h r u n g und der V e r ä n d e r u n g der Vorlage. Die V e r e h r u n g f ü r die Mustergültigkeit der Antike — great Master — macht Gildon nicht blind gegenüber der Notwendigkeit ihrer Anpassung an die herrschenden Bühnenkonventionen seiner eigenen Zeit. Erst in der V e r ä n d e r u n g wird hier die Rezeption möglich. Adaption aber heißt Vorausberechnung des der

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Gildon betont diesen Theatererfolg im Widmungsschreiben sowie noch zwei weitere Male im Preface S. 5 und S. 8. D i e Verurteilung des Pbaeton in der anonymen Schrift A Comparison between the Two Stages (1702) hat wenig zu sagen: vgl. hierzu Staring B. Wells, „Introduction", A Comparison between the Two Stages, A Late Restoration Book of the Theatre, Princeton—London 1942, S. X I V und S. X V I I I : „[. . .] the general tenor of A Comparison is derogatory. [. . .] in his effort to paint a g l o o m y picture of the contemporary stage, the author classifies almost all plays except pronounced successes as ,damned'."

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Rezeptionsbereitschaft entsprechenden Gleichgewichts von Vertrautem und Ungewohntem. Mit historischem Einfühlungsvermögen versucht Gildon den Erfolg der Erstaufführung der euripideischen Medea nachzuvollziehen und weist auf ihre Beziehungen zur sozialen und politischen Problematik von Ausländerehe oder Götterkult hin. Gerade die Differenz der eigenen nationalen Situation in diesen spezifischen Punkten zeigt die Notwendigkeit der Selektion und Umänderung der antiken Vorlage, um dem Drama seine Aktualität zurückzugewinnen. Neben der direkten Unverständlichkeit der griechischen Bräuche und des Athener Patriotismus für ein englisches Publikum müssen aber auch die herrschenden Bühnenkonventionen hinsichtlich der Anlage und der Handlungsentwicklung bedacht werden. Gildon bezieht sich hier auf seine praktischen Erfahrungen mit dem Londoner Theater. Den Plänen für ein eigenes Drama geht eine sorgfältige Geschmacksanalyse der Publikumsreaktionen voraus, die gewonnen wird durch Beobachtungen im Zuschauerraum während der Aufführungen anderer Stücke. Nicht der Gesamteindruck der Aufführung wird bewertet, sondern genau die Stellen und dramatischen Elemente werden isoliert, die positiv aufgenommen wurden. Das Ergebnis solcher Beobachtungen führt zur Erkenntnis der Adaptabilität der antiken Tragödienkonzeption: „The little Observation I had made of our Audience, gave me reason to think that a Play after the Model of the Ancients, would be far from displeasing them, for I found that what delighted and transported them, was contain'd in a very little compass of those long Plays, that were in Possession of the Theatre, which was the chief Characters only, and the violent Emotions of their Passions" (S. 1). Aus der Erfahrung, daß das Zuschauerinteresse an Nebenhandlungen»und Nebenfiguren gering ist, drängt Gildon auf deren Streichung. Für die wenigen Szenen der Affektausbrüche und Gefühlskulminationen müßte sich dann eine Neukomposition nach dem Muster der simpleren Handlungspläne und der begrenzteren Figurenzahl der griechischen Tragödie genauso erfolgreich erweisen. Die klassizistische Ästhetik wird hier entgegen dem sonstigen Verfahren der Autoritätsberufung und des gelehrten Rückverweisverfahrens aus der erlebten Theaterwirklichkeit abgeleitet. In der theoretischen Begründung und der poetologischen Apologie des praktischen Beispiels der Euripides-Bearbeitung bemüht Gildon sich bewußt, den Realitätsbezug der Mustergültigkeit des antiken Werkes durch den Nachweis von dessen Konformität mit den Erfordernissen erfolgreicher Aufführungen herauszustellen. Die Adaptionstechnik entwickelt sich hier im Rückgriff auf einen unmittelbaren Publikumskontakt als Teilaspekt einer pragmatischen Poetik. Nachdem die Notwendigkeit der Änderung wie auch deren allgemeine Tendenz offensichtlich sind, bleiben für Gildon jedoch noch Modalität und Intensität der Umformung im einzelnen festzulegen. Im Entstehungsstadium seines Stücks konferiert er mit Freunden und sucht ihr Urteil über

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fertige Passagen als Prüfstein und Vorwegnahme einer wahrscheinlichen Reaktion des späteren Theaterpublikums. Im Falle des Rachestrebens der Althea/Medea versucht er zunächst ihr Verhalten als natürliche Reaktion verschmähter Liebe ähnlich Euripides zu gestalten, doch bei den Freunden findet diese Version keinen Beifall: „ [ . . . ] the very Revenge of Althea, tho the Natural Result of sleighted Love, lost her a great share of that pity I wish'd she might find" (S. 2). Um das Mitleid als zentrale Kategorie der Tragödie für seine Protagonistin zu erreichen, muß Gildon sie passiver darstellen, als Euripides es tut. Im Rahmen des mythischen Stoffs sieht er daher für sein Drama die vom griechischen Dichter gewählten Mittel nicht als ideal an, sondern ersetzt sie durch andere, die ihm gleichwertig erscheinen und die dazu seiner speziellen Absicht eher gerecht werden. Göttererscheinungen, wie Euripides sie in seinen anderen Dramen häufig verwendet, jedoch nicht in Medea, werden jetzt von Gildon neu eingefügt. Die Art ihrer Einfügung richtet sich dabei nicht mehr nach Euripides, sondern eher nach Philippe Quinaults Vorbild, dessen Oper Phaeton die Namen für Gildons Dramenfiguren lieferte103. Vermehrt um allegorische Figuren wie Hymen oder Nemesis tritt Juno jetzt im Rahmen musikalischer und tänzerischer Intervalle auf, um die Heldin zur Rache für ihre verschmähte Liebe aufzufordern und anzutreiben. Doch auch Geistererscheinungen, wie sie bei Euripides und auch bei Quinault nicht vorkommen, stellen für Gildon noch legitime Mittel zur Verdeutlichung des Racheanspruchs seiner Hauptfigur dar. Der Rahmen des klassischen Stoffs und die griechische Vorlage beschränken zwar die Möglichkeiten in der Wahl der Dramenelemente, verbieten jedoch nicht die Austauschbarkeit innerhalb dieser Beschränkung zur besseren und gewohnteren Motivierung des Verhaltens der dramatischen Figuren. Obwohl Gildon dem Rat der Freunde entspricht, betont er nachdrücklich, daß für ihn die Handhabung des Rachestrebens, wie Euripides es vorführt, überzeugender sei und er von sich aus auf die Maschinerie der Götter- und Geistererscheinungen verzichtet hätte104. Diese Distanzierung vom eigenen Adaptionsverfahren dient dazu, den Exklusivitätsanspruch des klassizistischen Theoretikers zu betonen, der sehr wohl die ,Korrektheit' des Euripides zu würdigen weiß, durch ,Freunde' jedoch zum Nachgeben gegenüber den Publikumswünschen bewegt wird. Ein solches Immunisierungsbestreben dient hier zur Abschreckung möglicher Kritik von klassizistischer Seite am vorgelegten Drama. Es wird auch in den der Aufführung vorangehenden Prolog in weniger gelehrter und dafür spielerisch-impliziter Form aufgenommen. Diese rezeptionslenkenden Strategien lassen die prag103

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Phaeton, Tragédie en musique, Représentée par l'Académie Royale de Musique, Devant Sa Majesté à Versailles, 7. Jan. 1683. Vgl. S. 3 f.: „And those Frailties that produce those Misfortunes being what we may all be subject to, must cause our pity for the suff'ring Object; and this I think, wou'd demand it for Althea, if I had not in compliance with my Friends' opinions, added those Machines to take off from her Guilt."

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matische Dimension des Vorspanns erkennen und zeigen in Werbung und Apologie dessen epideiktische Gattungszugehörigkeit' 0 5 . 2.2.6 Die Verbindung von Euripides und Quinault In Quinaults tragédie en musique, die von der Académie Royale de Musique als erste Oper nach seiner Thronbesteigung vor Louis XIV. in Versailles aufgeführt wurde, dominiert der Aspekt des Gesamtkunstwerks, in dem der Text nur eine untergeordnete Position neben Gesang, Ballett und Szenerie einnimmt. Die Kulissen, nach den Szenenanweisungen zu urteilen von großem Aufwand, wechseln nicht nur jeden Akt und geben idyllische wie großartige Prospekte komplexer Landschaftsdarstellung, sondern es werden auch Verwandlungen von Figuren in Tiere, Springbrunnen oder Feuer verlangt sowie das Aufbrechen der Höllentore: „Les Portes du Temple s'ouffrent, & ce lieu qui avoit parû magnifique, n'est plus qu'un gouffre effroyable qui vomit des fiâmes" (3.5, S. 37). Die Tanzeinlagen der Götter-, Geister- und Schäfertruppen betonen vollends den unrealistisch-mythologischen Aspekt eines Ausstattungswerks, das in erster Linie Staunen und Verwunderung des Zuschauers bezweckt und im abschließenden spektakulären Sturz des Phaeton aus dem Sonnenwagen seinen Höhepunkt erreicht. Ausgehend von der Absicht einer Bearbeitung dieses Werkes hat Gildon schließlich für sein eigenes Drama nur noch vereinzelte Gesangs- 106 und Tanzeinlagen beibehalten und statt dessen die Entwicklung einer tragischen Handlung in den Vordergrund gestellt. Da die Bekanntschaft mit Euripides' Medea jedoch erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Arbeit erfolgt, ist besonders der Anfang von Gildons Werk auf Motive Quinaults gegründet, die jetzt als Exposition und Vorbereitung des eigentlichen Dramengeschehens dem Medea-Mythos vorweggestellt sind. Durch den Verzicht auf die Chorpartien und die Aegeus-Episode der griechischen Tragödie hat Gildon Raum erhalten, um in den ersten beiden Akten im Liebeswerben der Althea um Phaeton und in der Trennung der Liebenden durch die Intrige der Clymene Vorstadien zu Euripides' Handlung zu konstruieren, die in ihrer undramatischen Statik doch die Sympathie der Zuschauer für die Protagonistin vorprogrammieren. Trotz dieser Ausweitung vor allem der Vorgeschichte gelingt es Gildon, seinem griechischen Vorbild in der Begrenzung der Figurenzahl und in der linearen Konsequenz der Handlungsentfaltung sehr nahe zu kommen. Gerade in diesem Bemühen um eine Imitation der Simplizität der Fabel hat Gildon die Zustimmung Genests gefunden. Genest ist zwar irritiert durch 105

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D i e pragmatische Dimension des expositorischen Dramenvorspanns steht im Kontext der rhetorischen Textsorten; vgl. hierzu Heinrich F. Plett, Textwissenschaft und Textanalyse, Heidelberg 1975, S. 84, mit Verweis auf H . Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde., München 1960. Im V o r w o r t betont Gildon (S. 9) seinen Stolz, daß die Lieder von Daniel Purcell vertont wurden.

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die Vermischung opernhafter französischer und tragischer griechischer Elemente — „he has blended the character of Phaeton in a strange manner with that of Jason, so that little remains of the story of Phaeton, as related by Ovid" —, doch versagt er diesem Werk nicht seine Anerkennung: „ [ . . . ] this play is far from a bad one 107 ." Obwohl Gildon durch die Tradition der Konkretisierung und sinnlichen Vergegenwärtigung der Handlung nicht umhin kann, so bühnenwirksame Episoden wie die Hochzeit Phaetons und Lybias und das Zusammenbrechen Lybias unter den vergifteten Kleidern — statt wie bei Euripides im Botenbericht — jetzt dem Zuschauer auch tatsächlich mit Medea/Althea in der Rolle des eingeschlichenen Beobachters szenisch vorzuführen, kommt er doch mit einer einzigen Tageseinheit und nur einem Wechsel zwischen benachbarten Schauplätzen aus. Gegenüber dieser durchaus seltenen Konsequenz in der Wahrung aller drei pseudoaristotelischen Einheiten betont Allardyce Nicoll dennoch das aus der Tradition des heroischen Dramas stammende romantische Element: „The unities are preserved, but the spirit is romantic, with typical ghosts and groves and love-scenes 108 ." Wie Nicoll gerade durch die Konfrontation des Phaeton mit Gildons vorangehendem Drama The Roman Bride's Revenge (1696) ein Abrücken von der heroischen Tradition eingestehen muß, so läßt sich diese Dämpfung Gildons von Sprache' 09 und Affekten seiner Figuren auch in der Gegenüberstellung mit Euripides deutlich feststellen. Das bereits angeführte Bemühen um eine menschliche und mitleiderregende Heldin zieht sich bis zur abschließenden Katastrophe hin. Der Kindermord wird bei Gildon jetzt von einer aufgebrachten Volksmenge durchgeführt, da das Publikum eine solche widernatürliche Grausamkeit niemals der Heldin selber verzeihen würde: „Althea runs mad for the Death of her children, Medea inhumanly Butchers hers 110 ." Eine derartige Veränderung des Schlusses löst nicht nur den tragischen Triumph der euripideischen Medea in die dem englischen Zuschauer leichter verständliche Tragik eines reziproken Rachemechanismus auf, sondern schont auch die Gefühle und entspricht in stärkerem Maße dem Gerechtigkeitssinn. In ähnlicher Weise wie Medea wird auch Jason von Gildon als zu stolz und unmenschlich empfunden. Seine Begegnung mit Medea muß daher milder, höflicher und empfindsamer ausfallen als bei Euripides: „ [ . . . ] therefore as Phaeton [i. e. Jason] is young (the Age of Compassion) as well as Ambitious, I have given him a more generous sense of his Obligations 1 "." 107

Some Account of the English Stage, Bd. 2, Bath 1832, S. 138. Nicoll, Bd. 1, S. 158. 109 Y g | hierzu besonders Genest, Bd. 2, S. 138 f.: „ [ . . .] the language in particular is more natural than that of the generality of the Tragedies written at this time." 1,0 Ebd., S. 5. " ' Vgl. die Betonung des „Menschlichen" bei Hermann Rohdick, Die Euripideische Tragödie, Untersuchungen zu ihrer Tragik, Heidelberg 1968, S. 50 f.: „Euripides wünscht seine Medea bis zur Schlußszene mit dem Helioswagen offensichtlich von jedem Eindruck übermenschlicher Außergewöhnlichkeit freizuhalten." 108

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Obwohl Gildon ursprünglich dafür plädierte, die griechischen Vorbilder zu imitieren, da sie in wenigen großen Szenen von emotionaler Unabdingbarkeit dieselbe Wirkintensität wie die durch Nebenhandlung und -figuren nur das Zuschauerinteresse ablenkenden elisabethanischen oder heroischen Dramen enthielten, bemüht er sich doch, gerade die emotionalen Höhepunkte des Euripides-Dramas abzumildern und einzuebnen zu einer weniger anstößigen, galanteren und höflicheren Unverbindlichkeit des Umgangstons der Protagonisten untereinander und zu einer generöseren und menschlicheren Motivation ihrer Handlungen. Ist einerseits die Verlagerung des Interesses von der lateinischen auf die griechische Tragödie durch ein Gewahrwerden der dramentechnischen Feinheiten von Handlungsdisposition und Geschehensaufbau bedingt, so findet sich jedoch in der Adaption — wie vorher das Element des Grausamen gegenüber Seneca noch gesteigert wurde — jetzt das Element einer bei den Griechen weniger unmittelbaren Drastik und Ubersteigerung wiederum zur Empfindsamkeit und Rührung umgedeutet.

2.3 Das Bemühen um Euripides Die Fama von den fehlenden Griechischkenntnissen der Restaurationszeit ist schon seit längerem widerlegt. Nachdem die humanistischen Textausgaben der griechischen Tragiker zu Beginn des 17. Jahrhunderts seltener geworden waren, erscheinen griechische Texte seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wieder häufiger 112 . Die steigenden Publikationszahlen belegen das Interesse an der Lektüre des griechischen Originaltextes. Auf dem Gebiet der Euripides-Edition markiert Josuah Barnes' reich kommentierte Cambridger Ausgabe von 1694, die unter Mithilfe Bentleys entsteht, den Wendepunkt nicht nur für England, sondern ganz Europa 113 . Genau wie in den folgenden Auswahlausgaben 1703 in Cambridge, 1715 in London, 1722 in Edinburgh, 1726 wieder in Cambridge und 1748 wieder in London ist der Text bei Barnes unter Rückgriff auf die humanistische Textgestaltung bei Erasmus oder auch King sowohl im griechischen Original als auch in lateinischer Ubersetzung dargeboten" 4 . Durch diese Zweisprachigkeit ist ein breiteres Publikum angesprochen, zugleich aber auch Verständnishilfe und Anreiz gegeben für eine Griechischlektüre selbst der nicht so versierten Hellenisten. Die Argumentation, daß gerade die Zweisprachigkeit auf fehlende Griechischkenntnisse sogar eines gelehrten Publikums hinweise, findet sich häufig in älterer Literatur, wird aber heute nur noch in modifizierter Form vertreten 115 . Die verstärkte Textedition liefert die philologische Voraussetzung für die Ausbreitung des durch Rymer und Dryden oder die direkte Rezeption der französischen Theorie initiierten Interesses an der attischen Tragödie, wie es durch Dennis und Gildon ins 18. Jahrhundert getragen wird und sich in einem perio112

Vgl. James William Johnson, The Formation of English Neo-Classical Thought, Princeton 1967, S. 72: „The older 15th and 16th Century editions were doubled in number by the •new editions of the period after 1660." Vgl. zu einem parallelem Ansteigen auch der englischen Übersetzungen aus dem Griechischen Finley M. K. Foster, English Translations from the Greek, A Bibliographkai Survey, N e w York 1918, repr. 1966, S. X I I und S. X I V f. 113 Jeder Tragödie geht ein griechisch-lateinisches ,Argument' voraus, und auch den einzelnen Akten dieser Dramenausgabe steht jedesmal eine lateinische Zusammenfassung voran. — Lessing etwa benutzt Barnes' Ausgabe, an der er das Fehlen des Merope-Fragments aus Plutarch moniert: Werke, 5 Bde., hrsg. v. H . G. Göpfert, Darmstadt 1970—1973, Bd. 4, 1973, S. 401. — Eine Aischylos-Ausgabe war schon 1664, eine Sophokles-Ausgabe 1665 und wieder 1669 erschienen. 114 Für Euripides verzeichnet der Katalog der British Library von 1571 bis 1802 keine einsprachig griechische und von 1558 bis 1821 auch keine einsprachig lateinische Gesamtausgabe. Die auf Barnes' Ausgabe folgende ist die ebenfalls griechisch-lateinische Ausgabe von S. Musgrave, O x f o r d 1778. Die erste englische Gesamtübersetzung ist die von R. Potter 1781 — 1783. Eine erste englische Auswahlausgabe ist für 1759 verzeichnet. Johnson, The Formation, S. 72, schreibt: „After the turn of the [18th] Century, Greek drama began appearing in translation in greater number." 115 Vgl. Johnson, The Formation, S. 71 f.

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dischen Auftreten von Griechenstücken" 6 in den f r ü h e n dreißiger Jahren und wieder um 1750" 7 beobachten läßt. D u r c h das Vorhandensein der zitierten Euripides-Ausgaben, deren Mängel von der philologischen Textkritik des 19. Jahrhunderts o f t überzeichnet wurden" 8 , ergibt sich f ü r die englischen Dramatiker des 18. Jahrhunderts stets die Möglichkeit einer Konsultation der griechischen Originale; vor allem aber müssen sie selber diese Möglichkeit in zunehmendem Maße f ü r einen Teil ihres Publikums und ihrer Kritiker voraussetzen. 2.3.1 Dennis'

Hippolytus-Plan

Dennis' Bemühungen um eine Euripides-Adaption f ü r die englische Bühne stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Interesse Rymers oder Gildons an diesem Dramatiker. Entsprechend ist auch seine Einstellung gegenüber Senecas Tragödien ablehnend: W ä h r e n d Shakespeare im Vergleich mit den Griechen durchaus negativ abschneidet, stellt Dennis ihn doch zumindest weit über Seneca" 9 . O b w o h l Dennis Drydens und Lees Sophokles-Bearbeitung tadelt 120 , zögert er doch nicht, eine Euripides-Bearbeitung zu planen, die dasselbe rigorose Anderungsbestreben erkennen läßt, jedoch von einem anderen T r a g ö d i e n k o n z e p t ausgeht. Genau wie Dryden und Lee möchte auch Dennis noch die Anachronismen und Unzulänglichkeiten, die dem griechischen W e r k f ü r die moderne Rezeption anhaften, durch grundlegende Textänderungen beseitigen. Falls es noch eines zusätzlichen Impulses zu diesem Plan der aktualisierenden N e u f o r m u n g bedurft hat, läßt er sich leicht in Dennis' vorangehender Beschäftigung mit Daciers Aristoteles-Kommentar (1692) finden 121 . In voller Kenntnis von Drydens und Daciers Kritik an Racines Phedreni wählt Dennis gerade das hier zugrunde liegende Euripides-Drama f ü r einen eigenen ersten Versuch, der jedoch genauso wie später sein Plan f ü r eine Sophokles-Ubersetzung scheitert 123 . Lediglich eine einzelne Szene der Hippo/^ioi-Bearbeitung ist neben der theoretischen Entwicklung seines intendier-

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120 121 122 123

Vgl. ebd., S. 80: „In addition to the direct imitations and translations of Greek tragedians, there were many plays loosely based on Hellenic history and legend." August Bitter, William Whitehead, Poeta Laureatus, Halle 1933, stellt S. 8 0 — 8 4 die Beziehung der Euripides-Bearbeitung Creusa (1754) zu einer von D o u g h t y so bezeichneten second Greek Renaissance her. Vgl. Kritik an Barnes und Musgrave etwa bei F. L. A. Schweiger, Handbuch der classischen Bibliographie, Teil 1, Leipzig 1830, S. 115. Critical Works, Bd. 1, S. 400; vgl. auch Bd. 2, S. 32, S. 191 zu Senecas schlechtem Stil und Bd. 1, S. 158 und S . 4 7 4 zur Rolle Senecas in Dennis' Auseinandersetzung mit J. Collier. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 21. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 1 9 - 2 2 . Vgl. ebd., Bd. 1, S. 73. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 331.

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ten Vorgehens erhalten geblieben als Illustration seiner Ansichten zur dichterischen Figurengestaltung 124 . In der detaillierten Begründung seines Vorgehens stellt Dennis Racine als verpflichtendes Vorbild dar. In Phèdre habe dieser die Schönheiten der griechischen Tragödie kopiert, aber ihre Fehler vermieden 125 . Als ,Fehler' versteht Dennis die Mißachtung des Dekorums durch eine widersprüchliche Darstellung der manners. Diese müssen nicht nur prägnant und überdeutlich gezeichnet sein, sondern bei mythischen oder historischen, d. h. dem Zuschauer bekannten Figuren auch mit der Uberlieferung zusammenstimmen, vor allem aber ,angemessen' erscheinen: „They ought to be agreeable to the Age, the Sex, the Climate, the Rank, the Condition of the Person that has them 126 ." In dieser Hinsicht entdeckt Dennis in Euripides' Phaedra eine falsche Art des Verhaltens; ihr Liebesgeständnis gegenüber Hippolytos fällt für Dennis zu unweiblich, zu intellektuell und unterkühlt aus und entbehrt damit der Uberzeugung, dem im Wahrscheinlichkeitspostulat zum Ausdruck kommenden Grundaxiom aller Dichtung: „Phcedra [ . . . ] speaks too Philosophically either for her Sex or for her present Condition. For a Spéculative or a Sententious Discourse [ . . . ] is by no means the Language of a very violent Passion 127 ." Mit dieser Uberzeugung von einer falschen Charakterzeichnung des Euripides setzt Dennis sich in Opposition zu Rymer, der gerade dieselbe Stelle als Beispiel euripideischer Vorzüglichkeit übersetzt hatte. Der ultimative Zweck von Dennis' Vorhaben der Euripides-Bearbeitung resultiert aus seiner Überzeugung von der didaktischen Aufgabe des Theaters, für deren Nachweis gerade auch Euripides gerne herangezogen wird, sowohl als Beispiel für die unmittelbare Beeinflussung politischen Verhaltens (die Alexander-Anekdote nach Dacier), als auch für die dichterischen Ambitionen großer Staatsmänner und Fürsten (die Euripides-Übersetzung durch Elisabeth I.)128. Das moralverbessernde und daher staatspolitische Sendungsbewußtsein des Dramatikers berechtigt ihn als Übersetzer zur freien Adaption, ja erfordert diese, wenn das didaktische Ziel durch Emendation des Originals vermeintlich besser erreicht werden könnte. Während Rymer sich weitgehend an den griechischen Text hält, übernimmt Dennis nur den Gesprächsverlauf als Gerüst für seine Szenengliederung, die er dann mit eigenen Gefühlsäußerungen der Phaedra und zusätzlichen Überredungsversuchen der Amme füllt. Befehle, Wünsche und Ausrufe, Hyperbeln, Ellipsen und vor allem rhetorische und echte Fragen sind gehäuft worden, um das Gespräch leidenschaftlich zu gestalten und den 124

125 126 127 128

[John] Dennis, Remarks on a Book Entituled, Prince Arthur, an Heroick Poem. With Some General Critical Observations [. . .], L o n d o n 1696, S. 60—68. Die Szene fehlt in H o o k e r s W e r k a u s g a b e , Bd. 1, S. 73. Critical Works, Bd. 1, S. 74. Ebd., Bd. 1, S. 73. Ebd., Bd. 1, S. 74. Beide Beispiele finden sich ebd., Bd. 1, S. 164.

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Eindruck der an ihrer Liebe sterbenden Frau pathetischer zu vermitteln. Die Amme ist bei Dennis jetzt langsamer im Begreifen als bei Euripides. Die heftige Reaktion Phaidras auf die zweifelnde N a m e n s n e n n u n g ö f f n e t der Amme bei Euripides die Augen (V. 352), bei Dennis nicht. Das Frageund Antwortspiel geht bei Dennis in langer Doppelung des ersten Szenenabschnitts weiter, um möglichst ausgedehnt die mitleiderweckenden Liebesqualen der Phaedra vorführen zu können' 2 9 . D e r solchermaßen verzögerten Erkenntnis der Amme folgt wieder ein langer Katalog von Verzweiflungsrufen. Zusammenhängende längere Reden werden vermieden. D e r retrospektive Diskurs der Amme 130 ist gestrichen, die Erklärung der Vorgeschichte eingeschränkt. Es wird nicht auf die diskursive Darlegung des bisherigen Verhaltens und des Bemühens um einen Ausweg aus der krankhaften Leidenschaft gezielt, sondern auf V o r f ü h r u n g solcher Leidenschaft. Die Anamnese vergeblicher Gefühlsunterdrückung weicht dem nachvollziehenden Auskosten. Das Vorwiegen des Gefühls der blinden Verzweiflung und der unbezähmbaren Passion wird von Dennis bewußt betont. Bei Euripides berichtet zuerst Aphrodite vom Beginn der Liebe Phaidras zu Hippolytos: „jtaxpôç eûyevfiç Ô â | i a p i8oüaa OaiSpa xapôiav Kaxéaxeto êpcim ôeivôj T O Î Ç èp.oîç ßouA.ei)|iaaiv" (V. 26—28). Phaidra selber erwähnt den Beginn ihrer Leidenschaft lediglich, um den gleichzeitigen Beginn ihrer Gegenmaßnahmen zu erläutern: „ènei (Tëpcoç ë t p w a e v , èaKÓnouv ÔTtcoç KctMaat' évéyKai(i.' a ù t ó v " (V. 392 f.). Bei Dennis dagegen ergeht sie sich in langen Erinnerungen an den ersten Augenblick: „I saw him and I trembled at the sight; Trembled and blush'd, turn'd pale, and burnt, and shiver'd, Whilst strange disorder seiz'd my astonish'd Soul, C o n f o u n d e d by a stroke unseen. My Eyes, my Ears, my Voice, with all my Pow'rs, But that of feeling in a m o m e n t fail'd; I felt so much, that I could only feel" (S. 67). T r o t z dieser überschwenglichen und schon bei Euripides letztlich tödlichen Leidenschaft kann Dennis die tragische Notwendigkeit des Geschehens nicht einsehen. Dieses ist der H a u p t g r u n d f ü r seine schließliche Aufgabe des Plans, Euripides' Hippolytos f ü r die englische Bühne zu bearbeiten 131 . Die zusätzlich genannten Gründe, daß Hippolytos als Gynophobe eine un-

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131

Vgl. Remarks on a Book, S. 6 3 - 6 6 . Vgl. Euripides, With an English Translation by A. S. Way, 4 Bde., London—New York 1912, Bd. 4, S. 196—200, V. 433—481 und Racine, Phèdre, 1.4, S. 553 f. Vgl. Critical Works, Bd. 1, S. 79.

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populäre Figur geworden wäre und daß der mythische Hintergrund des Dramas zu fabelhaft-unglaubwürdig sei, wiegen nicht so schwer wie die fehlende Einsicht in die Ausweglosigkeit einer tragischen Liebe. Hätte Dennis die Figur der Phaedra jedoch von vornherein in ihrer Tugend und in ihrem Willen stärker und entschlossener gezeichnet, wäre sie gar nicht erst in eine heikle Lage geraten. Das Postulat der Eindeutigkeit der Charakterzeichnung macht für Dennis die Möglichkeit einer tragischen Handlungsentfaltung problematisch, denn Konflikt und Zwiespalt der Gefühle sind bei zu moralisch-eindeutig entwickelten Handlungsprinzipien nicht mehr in tragischer Form möglich. Schon die zusammenfassende Erläuterung der Vorgeschichte der Dramenhandlung läßt die Schwierigkeit erkennen, mit der sich Dennis bei der Weiterführung seiner Bearbeitung konfrontiert gesehen hätte; „Phaedra being a Lady of a great deal of Virtue, look'd upon so criminal a Passion with H o r r o r , and resisted its violence with the last Reluctancy 132 ." Die Figur, wie Dennis sie in seiner fertigen Szene zeichnet, hätte im Verlauf der geplanten Tragödie eine Entwicklung und folglich Verhaltensveränderung durchlaufen müssen, denn ohne die Uberwindung ihrer larmoyanten und selbstbemitleidenden Verzweiflung, die zwar rührend sein mag, aber zugleich lähmend und aktionshemmend ist, läßt sich eine Fortführung der Handlung schwer denken. Gerade dieser Figur aber kam bei Euripides das entscheidende Handeln zu. An diesem frühen Versuch einer Bearbeitung der antiken Tragödie läßt sich schon die Unvereinbarkeit von Dennis' Konzept der Charakterkonstanz mit der Vorstellung von tragischer Notwendigkeit des Geschehens beobachten, die auch wieder für die folgende Iphigenia-Adaption bezeichnend wird. Das Bemühen um ein rationales Weltverständnis behindert hier ein überzeugendes Tragödienkonzept. 2.3.2 Rationalität und Wunderglaube in Iphigenia Euripides' Iphigeneia-Drama fängt mit der einfachsten Art der Drameneröffnung an: Die Hauptfigur tritt vor das Publikum und stellt sich vor. Nicht nur ihre Abstammung aus dem Tantalidengeschlecht, sondern auch die Umstände ihrer Entrückung von Aulis nach Tauris und ihre Stellung als Priesterin im Tempel der Artemis beschreibt sie in ihrer Eröffnungsrede und gibt damit Vorgeschichte und Voraussetzung für das folgende Geschehen (V. 1—41). Dennis, einer anderen dramatischen Tradition verpflichtet als Euripides, durchbricht den fiktiven Raum des Bühnengeschehens bei der Vorstellung seiner Hauptfigur zu Beginn des Dramas nicht mehr. Iphigenia enthüllt jetzt ihre Identität und ihre Stellung als Priesterin der Diana im Gebet an die Göttin. Die Vorgeschichte erfährt der Zuschauer aus dem Ge-

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Ebd., Bd. 1, S. 78.

Das Bemühen um Euripides

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spräch der Titelfigur mit ihrer Vertrauten, die hartnäckig auf einer Rekapitulation aller Einzelheiten besteht 133 . Zugleich ist diese Exposition bei Dennis aber auch schon in eine dramatische Situation der Teichoskopie eingebunden: Vom Tempelvorplatz aus beobachten die beiden Frauen den verzweifelten Kampf eines Schiffes gegen die stürmische See. Dieser Seesturm schafft die Beziehung zur eigenen Strandung an der rauhen Küste vor langer Zeit (S. 5). Gleichzeitig wird er in seiner Schrecklichkeit aber auch als göttliches Vorzeichen für nahendes Unheil aufgefaßt und stellt damit gegenüber Eurípides' vorahnungsvollem Traum (V. 42 — 60) jetzt im Aufruhr der Elemente Aktualisierung und Intensivierung der ominösen Atmosphäre dar. Die Eingangssituation bei Dennis gibt aber auch ein Beispiel für die Art der Lösung eines der Haupthindernisse für die moderne Adaption antiker Dramatik. Der griechische Götterglaube und sein Interesse an Traum- und Orakeldeutung, so geläufig er dem versierten Zuschauer ist, reicht doch in mancher Beziehung nicht mehr zur Verhaltensmotivation der dramatischen Figuren aus. Gerade die euripideische Handhabung des Götterapparates bereitet nicht nur einer auf rationale Naturdeutung bedachten Zeit Verständnisschwierigkeiten, sondern ist schon früh von Adaptoren und Interpreten als übertrieben betrachtet worden. Iphigeneias wunderbare Errettung durch Artemis, als ihr Vater sie in Aulis opfern wollte, und ihre Entrückung nach Tauris finden sich sowohl als Exposition in Eurípides' erstem Iphigeneia-Drama (V. 28 — 33) als auch noch einmal als abschließender Botenbericht im zweiten IphigeneiaDrama, das die chronologisch früheren Ereignisse in Aulis behandelt, jedoch gerade im Schlußteil nicht eindeutig Eurípides zugeschrieben werden kann. Der märchenhafte Göttereingriff in ansonsten historisch verstehbares Geschehen, wie er sich in Iphigeneias Metamorphose und Translokation offenbart und bei Eurípides als verbindendes Glied beider Dramen erscheint, gerät Racine zum Problem seines Adaptions-Unternehmens (1674), wie er ausführlich im Vorwort darlegt. Er versucht, durch die Aufzählung der unterschiedlichen Berichte über die Opferung im ArtemisTempel in Aulis die Autorität des Eurípides zu relativieren zur Rechtfertigung seiner abweichenden Fassung. Ovid sei zwar der Darstellung des Eurípides gefolgt, doch Aischylos, Sophokles, Lukrez und H o r a z berichteten von der tatsächlichen Opferung der Iphigeneia. Eine dritte Version, nämlich die Substitution der Iphigeneia durch eine andere Person, finde sich bei Pausanias und dessen mythographischen Vorlagen. Homer schließlich erwähne Iphigeneia lediglich lange — neun Jahre — nach Ankunft der Griechen vor Troja als zu Hause in Mykene verblieben 134 . 133

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Interessant ist hier die wiederholte psychologische Motivation: Durch Erinnerung an die wunderbare Errettung aus Seenot soll Iphigenia sich leichter mit ihrem gegenwärtigen schweren Los abfinden: vgl. John Dennis, Iphigenia, London 1700, S. 3 und S. 4. Vgl. Racine, S. 475.

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Umwandlung und Anpassung (1680— 1749)

Racine geht von den beiden letzten Versionen aus für seine eigene Gestaltung des Stoffs, und zwar mit folgender Begründung: Zum einen schreckt er vor dem tragischen T o d einer in jeder Beziehung tugendhaften, fehlerfreien und in ihrem Verhalten vorbildlichen Figur, wie es Iphigeneia ist135, zurück, zum andern aber würde seiner Meinung nach die Darstellung eines Wunders zwar in die Zeit des Euripides passen, nicht aber in das späte 17. Jahrhundert. Das französische Publikum würde dieses Wunder für absurd und unglaubwürdig halten. Die Wahrscheinlichkeit des Dargestellten würde einer vernünftigen Überlegung nicht standhalten. Der deus ex machina, ohnedies als Mittel zur Lösung tragischer Konflikte verpönt, würde hier in seiner reinsten Form die ganze Wirkung des modernen Stücks verderben 136 . Das Wunder wird von Racine als dem Publikum unzumutbar abgelehnt: „ [. . .] un miracle qu'il [i.e. le spectateur] n'aurait pu souffrir, parce qu'il ne le saurait jamais croire 137 ." Entsprechend Racines rationalistischer Lösung des Verschonungsproblems ist auch Dennis' Iphigenia, wie sie zu Beginn des Dramas berichtet, im letzten Augenblick durch eine Sklavin ersetzt worden, die an ihrer Stelle sterben mußte. Doch wie die Metamorphose anläßlich des geplanten Menschenopfers wegfällt, so wird auch jetzt bei Dennis die wunderbare Transportation von Aulis nach Tauris durch eine glaubwürdigere Seefahrt ersetzt. Dennoch entbehrt auch eine solche aufgeklärte Version der Substitution und des Ortswechsels nicht des göttlichen Eingriffs. Gerade als der betrügerische Kapitän, der Iphigenia nach Thrazien bringen sollte, sie aber statt dessen entführt, ihr Gewalt antun will und die Begleiterinnen schon verzweifelt schreien, schickt Jupiter einen Gewittersturm, der das intendierte Verbrechen verhindert. Zugleich werden Iphigenia und ihre Mädchen durch Schiffbruch an die skytische Küste verschlagen und dort zu Priesterinnen der Diana bestimmt. Ausgesprochene Wunder wie die Entrückung der Iphigenia bei Euripides sind für Dennis nicht mehr tragbar, Fingerzeige der Götter in Naturerscheinungen sind dagegen in seinem Werk zahlreich. Durch Sturm oder Windstille, Gewitter oder Finsternis geben die Götter ihren Willen zu verstehen und weisen auf künftige Ereignisse voraus. Durch diese indirekten Revelationen wird der antike Götterglaube an die Ansichten der modernen christlichen Theologie angeglichen: „For that which Reason utterly abhors Can ne're be acceptable to Divinity" (1, S. 6). 135 Vgl. ebd., S. 476. 136 Yg| eb