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German, French Pages 524 [521] Year 2008
Armin Heinen Dietmar Hüser (Hg.)
Tour de France Eine historische Rundreise Festschrift für Rainer Hudemann
4 Geschichte Franz Steiner Verlag
Schriftenreihe des Deutsch-franz. Historikerkomitees
Tour de France. Eine historische Rundreise Festschrift für Rainer Hudemann
Schriftenreihe des Deutsch-französischen Historikerkomitees Herausgegeben vom Deutschfranzösischen Komitee für die Erforschung der deutschen und französischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Hartmut Kaelble / Jean-Paul Cahn Band 4
Armin Heinen / Dietmar Hüser (Hg.)
Tour de France Eine historische Rundreise Festschrift für Rainer Hudemann in Zusammenarbeit mit Anne Günther
Franz Steiner Verlag 2008
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN: 978-3-515-09234-0 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany
VORWORT Seit den Anfängen war die Tour de France mehr als ein bloßes Sportereignis. Die grandiose Radrundfahrt, 1903 erstmals ausgetragen, war ein Massenspektakel und Medienereignis, ein Produkt der modernen Industriegesellschaft und der zunehmenden Nachfrage nach populären Unterhaltungsangeboten. Mehr noch: die Tour de France diente als „Vehikel“ kultureller Nationsbildung und republikanischer Selbstvergewisserung. Jede Französin, jeder Franzose konnte die Tour de France mit den Nations- und Geschichtsbildern verbinden, die die französischen Volksschulen damals verbreiteten. Eine Geschichte der Helden und Schlachten, der Mythen und Legenden war das, eine Geschichte der Größe Frankreichs und des erfolgreichen Kampfes um die Republik. Nicht zuletzt eine Geschichte des nationalen Raumes, des einen und unteilbaren Frankreichs und der Heimatwelten, der „petites patries“, als Keimzellen der Nation im Kleinen! Die Tour de France half, ein lebendiges, ein greifbares Bild der abstrakten Nation entstehen zu lassen, eine Nation zum Anfassen mit den ursprünglich sechs Ecken des Hexagons als Etappenzielen. Auch die hier vorliegende „Tour de France“ bietet ein Frankreich zum Anfassen. Ein Frankreich zum Entdecken und Bereisen. Die papiergewordene „Tour de France“, das sind Geschichten über Gebäude und Städte, über Autos und Straßen, über Grenzen und Grenzräume, über Erinnerungsorte und Sehenswürdigkeiten, über Musik und Literatur, über Essen und Trinken, über Alltägliches und Ungewöhnliches: Historische Miniaturen, die zugleich Einblicke in größere Zusammenhänge erlauben. Wie bei der eigentlichen Tour de France, die längst mehr als nur das Hexagon beradelt, liegen manche Etappenziele außerhalb Frankreichs. Besonders zahlreich sind Abstecher in angrenzende Länder: in die Schweiz, nach Deutschland, Belgien, Italien oder Spanien. Die „Tour de France“ erkundet Frankreich und seine benachbarten Landstriche in Westeuropa, das Gravitationszentrum liegt im Raum zwischen Paris und Saarbrücken. „Tour de France“, die Idee einer Er-Fahrung des französischen Kulturraumes, wie sie die Vielfalt der Landschaft widerspiegelt, kennzeichnet vielleicht am besten das wissenschaftliche Oeuvre und kulturelle und zivilgesellschaftliche Engagement von Rainer Hudemann. Europäische Geschichte konzipiert er aus dem Bewusstsein einer Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich, die in seiner Sicht am Beginn des europäischen Neuanfangs nach 1945 steht. Nüchtern denkende Politiker und rational argumentierende Verwaltungsfachleute haben, so Rainer Hudemann, bereits während des Krieges gefragt, was eine neuerliche Katastrophe wie 1939/40 verhindern könne. Ihre Antwort lautete: Modernisierung Frankreichs, Demokratisierung Deutschlands, wirtschaftliche Verflechtung der Staaten untereinander, soziale Gerechtigkeit und kulturelle Offenheit. Nicht Philanthropie mache die Nachkriegszeit 1945 zu einer so gänzlich anderen Epoche als
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Armin Heinen – Dietmar Hüser
1918, sondern „radikale Vernunft“! Freilich müsse Politik viele Faktoren bedenken, kurzfristige, mittelfristige, langfristige Gesichtspunkte ansprechen. Eingebunden in komplexe Interessengeflechte und komplizierte Machtgefüge, gälte es, Erwartungshaltungen zu befriedigen und sprachliche Entsprechungen zu finden, die zwischen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermittelten. Deshalb lasse sich nichts unmittelbar aus den Texten verstehen, aus der puren Anschauung der Gegenwart heraus. Vielmehr bedürften die Quellen für eine angemessene Bewertung der historischen Interpretation und Einordnung in größere Zusammenhänge. Rainer Hudemanns sechzigster Geburtstag erinnert daran, dass Geschichtswissenschaft Fleiß, Genauigkeit und Akribie voraussetzt, methodische Raffinesse, schließlich die Fähigkeit zur Synthese aus dem, was all die Aktenmeter für Historiker bereithalten. Aber mehr noch, Quellen, das sind für Rainer Hudemann neben Schriftdokumenten alle Formen von Artefakten. Eine erste Exkursion nach seiner Berufung an die Universität des Saarlandes führte nach Metz, um die Stadt, den Grundriss, die Denkmäler und die Gebäude lesen zu lernen: steingewordene Geschichte deutscher und französischer Kultur, deutscher und französischer Machtansprüche, auch deutsch-französischer Transferprozesse. Später veröffentlichte Rainer Hudemann im Internet eine Analyse von „Stätten grenzüberschreitender Erinnerung“. „Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert“, hieß es im Untertitel. Den „symbolic turn“, den „spatial turn“, die „european and global history“, die Sicht auf das Lokale als Realisierung des Globalen lernte man bei Rainer Hudemann kennen, bevor es die Begriffe überhaupt gab. Für sich selbst hofft er, einmal Zeit zu finden, um eine ausgiebige Reise zu unternehmen, die es ihm erlaubt, Frankreich samt seiner Grenzgebiete und Nachbarländer als Raum kultureller Transfers zu durchstreifen und das Hexagon selbst in seiner ganzen Vielfalt zu entdecken. Dafür bedarf es eines Reiseführers neuen Typs, der geografisch weit ausholt, der verschiedene Blickwinkel zusammenführt und der neben klassischen „lieux de mémoire“ auch jene aufnimmt, die quer dazu liegen, die den „Makel“ des Uneindeutigen tragen. Deshalb haben wir versucht, kleine prägnante Aufsätze zu Etappenzielen einer historisch-kulturellen „Tour de France“ in deutsch-französischer und westeuropäischer Perspektive zu sammeln und hier abzudrucken. Hoffen wir, dass Rainer Hudemann auf den folgenden Seiten jenes Material findet, das er für seine Exkursionen braucht. Viele Wegbegleiter Rainer Hudemanns sind diese „Tour de France“ mitgeradelt: ein ehemaliger Teamchef, bei dem Rainer Hudemann die ersten historischen Königsetappen gewann; zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus dem Team „Geschichte als Wissenschaft“, die gemeinsam mit Rainer Hudemann auf unterschiedlichsten Streckenprofilen ein ums andere Mal den Sieg davongetragen und das Publikum begeistert haben; schließlich viele „Wasserträgerinnen“ und „Wasserträger“ aus dem universitären „Team Hudemann“ im engeren Sinne, ehemalige wie aktuelle, die sich gern für gemeinsame Projekte abgestrampelt haben im Bewusstsein, für die eigenen Etappenziele volle Unterstützung zu erhalten. Allen sei für den engagierten und selbstlosen Einsatz ganz herzlich gedankt. Ein weiteres
Vorwort
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Dankeschön gilt den „Tour-Sponsoren“: der Villeroy & Boch AG, den Dillinger Hüttenwerken, der Saarländischen Staatskanzlei, der LBS Saar und dem französischen Generalkonsul Jean-Georges Mandon, ohne deren großzügigen finanziellen Anschub die „Tour de France“ schon vorab ins Wasser gefallen wäre. Dank gilt auch der Vereinigung der Freunde der Universität des Saarlandes, die sich generös an den Kosten für den „Prolog“ beteiligt haben: ein kleines Symposium, in dessen Rahmen die „Tour de France“ vorgestellt und dem Träger des Gelben Trikots überreicht werden konnte. Mai 2008, Armin Heinen und Dietmar Hüser
INHALTSVERZEICHNIS START IM SAARLÄNDISCH-LOTHRINGISCHLUXEMBURGISCHEN RAUM Die Gedenkstätte Gestapo-Lager Neue Bremm (Elisabeth Thalhofer) ............. 11 Zwischen Saarbrücken und Frankreich Eine biografische Spurensuche zu Eric-Jean Teich und der Universität des Saarlandes (Wolfgang Müller) ........................................... 23 Konkurrenz oder Koexistenz? Arbeitsteiliges Beziehungsgeflecht von Groß- und mittelständischer Industrie an der Saar um 1900 (Margrit Grabas) .............................................. 33 Der Saarkohlenkanal zwischen Frankreich und Preußen (Michael Sander) ..... 41 Die Französischen Filmtage in St. Ingbert (Adolf Kimmel) ............................. 53 „Was geht vor in den Köpfen dieser Richter?“ Die Beurteilung der „Francophilie“ im Landesentschädigungsamt Saarbrücken (Wilfried Busemann) .................................................................... 57 Vom imperialen Monument zum Denkmal der Freundschaft Der Schaumbergturm zu Tholey (Ludwig Linsmayer) ..................................... 65 Chemins de la mémoire en Alsace-Moselle (Alfred Wahl) .............................. 77 „Der erste Schritt“ Deutsch-französische Aussöhnung im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses (Gabriele Clemens) ................................. 81 Reminiszensen im Argonnerwald (Hans-Walter Herrmann) ............................ 89 Informationssammlung oder Modellsuche? Ein Geheimbericht über die deutsche Schulpolitik in Elsass-Lothringen an das japanische Generalgouvernement in Korea von 1913 (Akiyoshi Nishiyama) ....................................................................................... 99 Des lieux d’une mémoire frontière d’un micro-pays Le pays de Bitche (Sylvain Schirmann) .......................................................... 109 Luxemburg–Belval hin und zurück? Zur Gründung und zum Standort der Universität Luxemburg (Jean-Paul Lehners und Magali Lehners) ....................................................... 115 Von Phalsbourg nach Marseille und Dakar Zum „Tour de la France par deux enfants“ (1877) und seinen kolonialen Adaptationen (Hans-Jürgen Lüsebrink) ...................... 127 Un jumelage réussi: Nancy-Karlsruhe (Chantal Metzger) .............................. 137
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Inhaltsverzeichnis
Die Marseillaise: Mehr als ein Kriegslied, mehr als eine Nationalhymne (Beatrix Bouvier) ..... 145 Litteris et Patriae Zweimal deutsche Universität Straßburg zwischen Wissenschaft und Germanisierung (1872–1918 und 1941–1944) (Rainer Möhler) .................... 157 Fritz Kieners Geschichte der Stadt Straßburg als internationales Kooperationsprojekt Ein Beispiel für französisch-deutsche Wissenschaftsbeziehungen in den 1930-er Jahren (Wolfgang Freund) ...................................................... 171 ÜBER DEUTSCHLAND NACH FRANKREICH Trier in französischer Zeit Zwischen Annexion und Akkulturation (Gabriele B. Clemens) ..................... 183 Die Saarkundgebung am Niederwalddenkmal in Rüdesheim (Frank G. Becker) ............................................................................................ 191 Hamburgs „Französische“ Katholiken (Klaus-Jürgen Müller) ....................... 201 Der „Train militaire français de Berlin“ (1945–1994) Seismograf auf Schienen (Uta Birkemeyer und Helmut Trotnow) ................. 209 Mit Zepter, Krone und Bündel geschwind davon König Jérômes Flucht aus Kassel im Jahre 1813 (Claudie Paye) ................... 217 Champagne! Oder deutscher Sekt? (Bärbel Kuhn) ......................................... 231 Jumelage Reims–Aachen Eine Bildgeschichte deutsch-französischer Beziehungen über Interessen, gesellschaftliche Verflechtungen und die Bedeutung von Symbolen (Armin Heinen) ....................................................................... 239 Das währungspolitische Dreiländereck Paris, Frankfurt, Maastricht (Guido Thiemeyer) ............................................. 253 Roubaix Une étape pour un périple franco-allemand (Jean-François Eck) ................... 263 Construire pour juger Un Tour de France des palais de justice (Christine Mengin) .......................... 271 SÜDFRANKREICH UND SPANIEN Latche (Hélène Miard-Delacroix) ................................................................... 283 Die Villa Marie in Fréjus Ein (fast) vergessener Mosaikstein saarländischer Geschichte (Rolf Wittenbrock) .......................................................................................... 293
Inhaltsverzeichnis
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Lescun Ein deutsch-französischer Erinnerungsort der Literatur in den Pyrenäen (Hans Manfred Bock) ...................................... 305 Nizza – mon amour! Reiseeindrücke vom ausgehenden Ancien Régime bis zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts (Christoph Cornelißen) ................ 313 Auf dem Jakobsweg Das Centre Européen de Documentation et d’Information (CEDI) als Mittler zwischen Spanien, Deutschland und Frankreich (Johannes Großmann) ..................................................................................... 321 L’art de vivre en Aquitaine Une identité régionale? (Sylvie Guillaume) ................................................... 331 Nach Lourdes pilgern im Mai 1947 Saarkatholiken in supranationaler Mission (Judith Hüser) ............................. 339 Mit Petrarca und Jürgen auf den Mont Ventoux (Burkhard Jellonnek) .......... 349 Notre-Dame de Lumières (Heinrich Küppers) ............................................... 355 ABSTECHER IN DEN MITTELMEERRAUM Mailand: I vestiti nuovi dell’imperatore Die Geschichte zweier gescheiterter Denkmäler für Napoleon (Christof Dipper) .................................................... 367 Tod in Bagnoles-de-l’Orne Die Ermordung der italienischen Antifaschisten Carlo und Nello Rosselli am 9.6.1937 (Wolfgang Schieder) .......................... 377 Un fonctionnaire international en France occupée: 1940–1944 (Cédric Guinand) .......................................... 391 Linea gotica – lieu de mémoire Deutsche Besatzung in Italien, 1943–1945 (Fabian Lemmes) ........................ 401 Relations franco-allemandes et Lieux saints de Jérusalem Une confrontation au tournant des XIXème et XXème siècles (Dominique Trimbur) ...................................................................................... 413 La Suisse comme île (François Walter) .......................................................... 419 ZURÜCK IN FRANKREICH – NACH PARIS Brennpunkte der Peripherie Ortsbesichtigungen in Lyon (Clemens Zimmermann) .................................... 431
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Inhaltsverzeichnis
Von Villacoublay nach Molsheim Bon Voyage im Citroën Ami 6 Ein Essay zur Geschichte der französischen Automobilindustrie (Hans-Christian Herrmann) ............................................................................. 443 Illiers-Combray (Etienne François) ................................................................. 457 Bruère-sur-cher – Centre de la France Un témoin de la géopoétique française (Jean-Claude Allain) ......................... 463 Le cri, l’écrit Das Denkmal an Sklavenhandel, Sklaverei und Abolition im Luxembourg-Garten als Ergebnis von Erinnerungsforderungen der „descendants de l’esclavage“ (Sven Korzilius) ............................................... 469 Quai Branly, Paris, 7ème Ein Algerienkriegsdenkmal und (k)ein Ende des Gedenkstreits? (Dietmar Hüser) .............................................................................................. 479 Die Erfindung des monarchischen Prinzips Jacques-Claude Beugnots Präambel zur charte constitutionnelle (Volker Sellin) .................................................... 489 Der Élysée-Vertrag (Edgar Wolfrum) ............................................................. 499 Ein politischer Häftling im republikanischen Frankreich Der Achtundvierziger Carl Schurz in Paris (Winfried Becker) ...................... 505 Maison Suger in Paris, 16–18 rue Suger, 75006 Paris (Hartmut Kaelble) ..... 515 TABULA GRATULATORIA
START IM SAARLÄNDISCH-LOTHRINGISCHLUXEMBURGISCHEN RAUM
DIE GEDENKSTÄTTE GESTAPO-LAGER NEUE BREMM
(ELISABETH THALHOFER)
Auf dem Weg von Saarbrücken nach Frankreich, kurz vor dem Grenzübertritt, lenkt eine Betonwand mit großen blauen Leuchtlettern die Aufmerksamkeit der Vorbeikommenden auf sich. Schräg dahinter ragt ein Hotel hervor, auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich eine 30 Meter hohe nadelförmige Betonstele. Spuren von über sechzig Jahren Zeitgeschichte: Die Wand mit den Leuchtlettern ist Teil der im Jahre 2004 eingeweihten Neukonzeption der Gedenkstätte Gestapo-Lager Neue Bremm, das Hotel wurde im Jahre 1975 auf Areal des ehemaligen Lagers erbaut, das schmale Monument ist ein Überrest der ursprünglichen Gedenkstättenkonzeption von 1947. Wir wollen hier an der Neuen Bremm unsere „Tour de France“ anhalten und einen Moment verweilen, um die Zeitschichten jenes Ortes zu entdecken. Können uns seine Fragmente etwas über die Geschichte dieses Erinnerungsortes erzählen?1 DER ORT: ERWEITERTES POLIZEIGEFÄNGNIS NEUE BREMM (1943–1944) Das Lager Neue Bremm war ein ‚Erweitertes Polizeigefängnis‘. Es gehörte zu dem besonderen Typ von Polizeihaftstätten, der sich in den besetzen Gebieten entwickelt hatte – dort, wo die Machtfülle der lokalen und regionalen nationalsozialistischen Führungselite immer schon besonders groß gewesen war und sich der Vernichtungswille des Regimes stetig radikalisiert hatte. Seit der Kriegswende im Winter 1942/43–dem ‚Stalingradschock‘ – hatte sich die Stoßrichtung des Terrors geändert – er kehrte aufgeladen mit den Erfahrungen und Praktiken des Vernichtungskrieges ins Reichsinnere zurück. Auch auf dem Gebiet des ‚Altreiches‘ etablierten sich Erweiterte Polizeigefängnisse – sie waren der terroristische Reimport des Regimes. Bis Kriegsende war das gesamte Reichsgebiet von diesen kleinräumigen und unbürokratisch organisierten Haftstätten überzogen – jede Dienststelle der Geheimen Staatspolizei betrieb seit 1943 mindestens eine solche Haftstätte.2 Mit dem Erweiterten Polizeigefängnis Neue Bremm hatte die Saarbrücker Stapostelle nachgezogen. Denn obwohl im Gau Westmark das Dienststellennetz der Sicherheitspolizei durchaus dicht gewebt und zudem die Personaldecke ungewöhnlich stark war, existierte keine ausgeprägte Lager- und Haftstätten-Infra1
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Vgl. auch die Aufnahme des Ortes Neue Bremm in das von Rainer Hudemann geleitete Projekt „Stätten grenzüberschreitender Erinnerung. Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-LuxRaumes im 19. und 20. Jahrhundert. URL: http://www.memotransfront.uni-saarland.de/nav/ framset1.htm (30.11.2007). Vgl. mein Promotionsprojekt über „Entgrenzung der Gewalt – die Erweiterten Polizeigefängnisse der Geheimen Staatspolizei 1943–1945“ (betreut von Rainer Hudemann).
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Elisabeth Thalhofer
struktur. Im Jahr 1943 gab es weder ein dichtes Gefüge an Gestapo-Lagern – wie etwa im Ruhrgebiet, in dem zu diesem Zeitpunkt schon ein regelrechtes Cluster von Erweiterten Polizeigefängnissen, Arbeitserziehungslagern oder betrieblichen Erziehungslagern vorhanden war –, noch hatten sich Außenkommandos oder Außenlager von Konzentrationslagern in der wirtschaftlich wichtigen und starken Saarregion angesiedelt. Im Frühjahr war im Köllerbacher Ortsteil Etzenhofen zwar ein Arbeitserziehungslager als betriebseigenes Straflager der Röchlingschen Eisen- und Stahlwerke eingerichtet worden. Angesichts dessen, dass im Saarland während des Krieges annähernd 70.000 ausländische Arbeitskräfte – Zivilarbeiter und Kriegsgefangene – zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden, erstaunt die fehlende repressive Infrastruktur allerdings.3 Das Ruhrgebiet war von einem Netz von Gestapo-Lagern überzogen, während das genauso von Bergbau, Stahl erzeugender und -verarbeitender Industrie und damit verbundenem massenweisen Zwangsarbeitereinsatz geprägte Saarland einen weißen Fleck auf der Haftstättenkarte der Sicherheitspolizei darstellte. Die Saarbrücker Gestapo schloss mit der Gründung des Erweiterten Polizeigefängnisses Neue Bremm also eine Lücke im Verfolgungssystem. Und dies erklärt zugleich, die ungewöhnliche Expansion und den raschen Bedeutungszuwachs jener regionalen Haftstätte.4 Im Frühjahr 1943 hatte die Geheime Staatspolizei von Saarbrücken vor den Toren der Stadt das Lager eingerichtet. Waren zunächst ausschließlich Männer inhaftiert, wurde ab Januar ein zweiter Barackenkomplex für Frauen eröffnet. Bis in den Spätherbst des Jahres 1944 erweiterte die Saarbrücker Gestapo das Lager Neue Bremm stetig. Im Anschluss an das Frauenlager wurden Baracken mit Vernehmungsräumen, neben dem Männerlager ein Leichenhaus errichtet, hatte sich doch die Zahl der ermordeten Gefangenen im Verlauf des Jahres 1944 verachtfacht.5 Für die Entwicklung des Erweiterten Polizeigefängnisses Neue Bremm war seine Lage unmittelbar an der ehemaligen deutsch-französischen Grenze entscheidend: Das Saarbrücker Lager wurde zur zentralen Durchgangsstation für Häftlinge, die mit Deportationstransporten aus Frankreich in Lager im Reichsinnern verschleppt wurden. Gleichzeitig wurde es zum zentralen Instrument der nationalso3
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Vgl. Lemmes, Fabian Zwangsarbeit bei Röchling. Das Arbeitserziehungslager Etzenhofen, in: Saarbrücker Hefte (2001), Nr. 86, S. 24–31. Zur Zwangsarbeit im Saarland vgl. Lemmes, Fabian, Zwangsarbeit in Saarbrücken. Ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene 1940– 1945, St. Ingbert 2004; Krämer, Hans-Henning u. Plettenberg, Inge, Feind schafft mit… Ausländische Arbeitskräfte im Saarland während des Zweiten Weltkrieges, Ottweiler 1992. Zur Haftstättensituation im Saarland vgl. u.a. Möhler, Rainer, Strafvollzug im „Dritten Reich“. Nationale Politik und regionale Ausprägung am Beispiel des Saarlandes, in: Heike Jung u. Heinz Müller-Dietz (Hrsg.), Strafvollzug im „Dritten Reich“. Am Beispiel des Saarlandes, Baden-Baden 1996, S. 9–301 sowie Erdem, Deniz, Das „Weiberhaus“ auf der Lerchesflur. Frauenstrafvollzug im Nationalsozialismus (1935–1945), in: Annette Keinhorst u. Petra Messinger (Hrsg.), Die Saarbrückerinnen. Beiträge zur Stadtgeschichte, St. Ingbert 1998, S. 325–346. 82 Männer, die im Lager Neue Bremm ums Leben gebracht wurden, sind namentlich bekannt. Die Gesamtzahl der Todesopfer lag Zeugenaussagen zufolge beträchtlich höher. Vgl. Dossier „Indications concernant les décès et les cadavres“, Archives de l’Occupation Française en Allemagne et en Autriche, Colmar, AJ/4028, 2B.
Die Gedenkstätte Gestapo-Lager Neue Bremm
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zialistischen Repression in Lothringen. Sowohl das Elsaß als auch Lothringen waren als „alte deutsche, abgetrennte oder vorenthaltene Kulturgebiete“6 dem Reich angegliedert und einer besonderen ‚Eindeutschungspolitik‘ unterworfen worden. Im Elsaß versuchten die nationalsozialistischen Besatzer diese mithilfe des „Sicherungslagers Schirmeck-Vorbruck“ am Fuße der Vogesen und des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof – dem einzigen KZ auf französischem Territorium – durchzusetzen.7 Für Lothringen existierte lange Zeit keine vergleichbare sicherheitspolizeiliche Einrichtung. Im September 1943 war das SS-Sonderlager Feste Göben in der ehemaligen Militärfestung Fort Queuleu in Metz eingerichtet worden.8 Allerdings behielt es bis zu seiner Auflösung im August 1944 einen besonderen Status als SS-Sonderlager und war eng an das KZ Natzweiler angebunden. Die Häftlinge wurden zwischen beiden Lagern ausgetauscht, sodass Queuleu vielfach auch als Außenkommando von Natzweiler eingestuft wurde.9 Die Sicherheitspolizei strebte nach eigenen Gefängniskapazitäten, um die wachsende Resistenz der lothringischen Männer und Frauen zu brechen. Am 19. August 1942 hatte der Chef der Zivilverwaltung in Lothringen Josef Bürckel nämlich die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für junge Männer zwischen 20 und 24 Jahren für die Moselle verfügt.10 Viele Lothringerinnen und Lothringer aber verweigerten sich der Anordnung. Dies steigerte wiederum die Repression, denn die Gestapo verfolgte mit ungeahnter Wucht die neuen Straftatbestände ‚Fahnenflucht‘ und ,Beihilfe zur Fahnenflucht‘. Das Erweiterte Polizeigefängnis Neue Bremm wurde schnell zur zentralen Haftstätte für Lothringerinnen und Lothringer.11 Alle Gefangenen, die Inhaftierung und Krieg überlebt hatten, erinnerten sich später an einen besonderen Ort innerhalb des Lagers: den Löschteich im Zentrum des Männerlagers. In der Mitte des Barackenkarrees war bei der Einrichtung nämlich ein großes Bassin aus Beton angelegt worden, um Wasser vorzuhalten. Die Anlage eines solchen Löschteiches entsprach einer Bauvorschrift, nach der bei einer größeren Ansammlung von Holzbaracken Löschwasser für einen etwaigen
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Karte „Der Deutsche Raum“, abgedr. in: Werner Hilgemann, Atlas zur deutschen Zeitgeschichte 1918–1968, Kartografie von Jürgen Taufmann, München u. Zürich 1984, S. 97. 7 Zum Lager Schirmeck und seinen vielfältigen Funktionen vgl. Neveu, Cédric, Das Sicherungslager Schirmeck. Ein Lager im Zentrum der Germanisierungspolitik, in: Janine Doerry, Alexandra Klei, Elisabeth Thalhofer u. Karsten Wilke (Hrsg.), NS-Zwangslager in Westdeutschland, Frankreich und den Niederlanden. Geschichte und Erinnerung, Paderborn u.a. 2008, S. 61–76. 8 Vgl. Neveu, Cédric, Le Fort de Queuleu. Un SS-Sonderlager en Moselle annexée, in: Cahier du Pays Naborien (2006), Nr. 20, S. 115–134. 9 Vgl. Schwarz, Gudrun, Die nationalsozialistischen Lager, Frankfurt a.M. 1990, S. 214. 10 Vgl. Nagyos, Christophe, Guerres et Paix en Alsace-Moselle. De l’annexion à la fin du nazisme histoire de trois départements de l’Est 1870–1945, Strasbourg 2005, S. 33 sowie die Erinnerungsberichte in Hugel, André, Jeunesse d’Alsace et Wehrmacht. Parlon-en, même si cela dérange… Témoignages, o.O. 2004. 11 Vgl. Überstellungsscheine und Aufnahmebefehle Sicherheitspolizei Metz an das Polizeigefängnis in Saarbrücken, Neue Bremm, Bundesarchiv Berlin, R 70 Lothringen, Nr. 27, passim.
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Elisabeth Thalhofer
Brand in ausreichender Menge zur Verfügung stehen musste.12 Die Aufseher des Männerlagers entfremdeten den Löschteich zum Folterinstrument: Die als ‚politische Häftlinge‘ eingestuften Gefangenen wurden gezwungen, von morgens bis abends, Stunde um Stunde bis zur totalen körperlichen Erschöpfung um den Löschteich herumzulaufen. Unter den Schlägen und Tritten der Aufseher mussten die Gefangenen das Bassin umrunden, sich auf Kommando zu Boden fallen lassen, vorwärts kriechen, wieder aufspringen, beschwert mit einem Eisenstück in der Hocke vorwärts hüpfen. Die Aufseher bezeichneten dies als ‚Sport‘ oder ‚Ertüchtigungsübungen‘, bei den Häftlingen blieben diese Misshandlungen jedoch als das in Erinnerung, was sie waren, nämlich als „marche en killing“ und „marche de la mort autour du bassin.“13 Das Lager bestand eineinhalb Jahre. Im Dezember 1944 floh die Gestapo vor den näher rückenden US-Truppen General Pattons, das Lager Neue Bremm wurde aufgelöst. Viele Gefangenen wurden in Konzentrationslager im Reichsinnern transportiert, manche freigelassen, einige von der Saarbrücker Gestapo in das Ausweichquartier nach Heiligenwald verschleppt. Ihre Spur verliert sich dort. DIE STELE: GEDENKSTÄTTE NEUE BREMM VON ANDRÉ SIVE (1947) Am 25. Februar 1945 überquerte ein amerikanisches Flugzeug die Grenzflur der Goldenen Bremm. Es hatte keine Bomben oder Geschütze mehr an Bord, sondern Kameras. Die Luftaufnahmen belegen, wie das verlassene Gestapo-Lager dem Erdboden gleich gemacht wurde. Alles, was auf irgendeine Weise verwertet werden konnte, wurde von der Saarbrücker Bevölkerung nach und nach abgebaut. Das Holz der Häftlingsbaracken wurde verfeuert oder zum Reparieren von Bombenschäden genutzt. Sukzessive verschwand nahezu alles, was an die Existenz eines Lagers im deutsch-französischen Grenzgebiet erinnerte.14 Nur die beiden Löschteiche blieben wie klaffende Wunden inmitten des eingeebneten Geländes. Das Verschwinden von Relikten aus der NS-Zeit und das Bedürfnis „einzuebnen“ versinnbildlichen den Umgang vieler Deutscher mit ihrer Vergangenheit in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Zusammenbruch des Dritten Reiches hatte eine „Gesellschaft in der Katastrophe“15 zurückgelassen, das Kriegsende wurde von den meisten als tiefe Zäsur empfunden, die den Verlust jeglicher Traditionen und Identifikationsmomente bedeutete. 12 Vgl. Stadt Saarbrücken, Baupolizeiverwaltung, Hausakten betreffend Jos. Bürckel-Straße, Gefangenenlager, Reichsbauamt Saarland Ost. Für den Hinweis auf die Akte und die Möglichkeit zur Einsichtnahme danke ich Dieter Lenard. 13 Vgl. Willen, Charles, Rapport sur le camp de représailles nazi de Neu-Bremm, o.D., Aussage Louis Challier, 3. April 1946 sowie Aussage Marcel Mazat, 11. April 1946, MAE Colmar, AJ/4028, 2B. 14 Vgl. Luftaufnahme vom 25. Februar 1945, Ministerium für Inneres und Sport, Referat B4 (Kampfmittelbeseitigungsdienst), Hängeregistratur, Bild 4179. 15 Vgl. Rusinek, Bernd-A., Gesellschaft in der Katastrophe. Terror, Illegalität, Widerstand – Köln 1944/45 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens; 24), Essen 1989; Kleßmann, Christoph, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Bonn 1991, S. 37–65.
Die Gedenkstätte Gestapo-Lager Neue Bremm
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Die Alliierten bemühten sich um eine Demokratisierung der politischen Strukturen wie auch der politischen Kultur, setzten sich für eine Wiedergutmachung für die Opfer sowie die Verfolgung und Bestrafung der Täter ein. In der französisch besetzten Zone wurden in zwanzig großen Strafverfahren vor dem Militärtribunal in Rastatt 2000 Kriegsverbrecher vor Gericht gebracht – unter ihnen auch das Personal des Gestapo-Lagers Neue Bremm. In zwei Verfahren in den Jahren 1946 und 1947 wurden insgesamt 47 Männer und Frauen vor Gericht gestellt, die zum Lagerpersonal des Erweiterten Polizeigefängnisses gehört hatten. Bereits im Mai 1945 hatten die amerikanischen War-Crimes-Delegationen erste Nachforschungen über die Haftstätte angestrengt, sie wurden von den französischen Ermittlungsbehörden intensiviert. Das Material jener Ermittlungen, der Befragung von Zeugen und Vernehmung von Angeklagten sowie die Mitschriften der einzelnen Verhandlungstage, Akten der Revisionsverfahren und Gnadengesuche, die sich bis in die 1950er Jahre erstreckten, werden in den Archives de l’Occupation Française en Allemagne et en Autriche in Colmar aufbewahrt.16 Rainer Hudemann erwirkte im Jahr 1999 beim französischen Außenministerium eine Sondergenehmigung, um dieses Material einzusehen. Ihm gelang damit als erstem Historiker, Zugang zu im Rahmen der Rastatter Prozesse entstandenem Archivgut, das einer 100-jährigen Sperrfrist unterliegt, zu erhalten. Dadurch wurde es möglich, die Geschichte der Saarbrücker Haftstätte aufzuarbeiten wie auch erste Einblicke in die Praxis der Kriegsverbrecherprozesse vor dem Tribunal Général in der französisch besetzen Zone zu erlangen.17 Die französische Besatzungsverwaltung hatte sich nicht nur um die Aburteilung des Lagerpersonals der Saarbrücker Haftstätte bemüht, sondern befürwortete auch die Initiative eines französischen Lagerkomitees, eine Gedenkstätte an der Neuen Bremm einzurichten. So unterstützte die Militärregierung das „Comité du camp de la Nouvelle Brême“ – der Entwurf für die Gedenkstätte stammte von dem französischen Architekten André Sive, der in der Abteilung „Wiederaufbau und Stadtplanung“ der Militärregierung von Saarbrücken eingesetzt war.18 André Sive konzipierte zwei voneinander getrennte Areale: Das Gelände des ehemaligen Männerlagers sollte unangetastet bleiben und ein zusätzliches architektonisch gestaltetes Gelände für Gedenkfeiern an der Straßenseite neu geschaffen werden. Der Ort, dessen gedacht wurde, war damit abgegrenzt von dem Ort, an dem ge16 Thalhofer, Elisabeth, Dachau in Rastatt. Der Prozeß gegen das Personal des Erweiterten Polizeigefängnisses Neue Bremm vor dem Tribunal Général de la Zone Française, in: Ludwig Eiber u. Robert Sigel (Hrsg.), Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945–1948. Verfahren, Ergebnisse, Nachwirkungen (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte; 7), Göttingen 2007, S. 192–209. 17 An dieser Stelle möchte ich Rainer Hudemann sehr herzlich dafür danken, dass er die Sondergenehmigung, die die Einsicht in die Rastatter Prozessakten ermöglichte, auf mich ausweiten ließ und so den Stein für meine Forschung über die Erweiterten Polizeigefängnisse ins Rollen brachte. Vgl. Hudemann, Rainer, Ein Gestapo-Lager im Alltag des Dritten Reiches, in: Elisabeth Thalhofer, Neue Bremm – Terrorstätte der Gestapo. Ein Erweitertes Polizeigefängnis und seine Täter 1943–1945, 3. Aufl., St. Ingbert 2004, S. 9–16. 18 Vgl. Flender, Armin, Öffentliche Erinnerungskultur im Saarland nach dem Zweiten Weltkrieg. Untersuchungen über den Zusammenhang von Geschichte und Identität (Schriftenreihe des Instituts für Europäische Regionalforschungen; 2), Baden-Baden 1998, S. 112.
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dacht wurde. Die „Gedenkstätte Neue Bremm“ war insgesamt aus drei Elementen gestaltet: Der Löschteich als zentraler Ort des Lagergeländes, der Gedenkplatz und ein Mahnmal bildeten eine Achse. Das Mahnmal – eine hohe Betonstele mit der Inschrift „in memoriam 1943–1945“ – befand sich inmitten der von Saarbrücken nach Forbach führenden Straße, als weithin sichtbares Zeichen, auf das sich der Straßenverkehr gleichsam zubewegte. Der Gedenkplatz wurde zwischen Straße und Lagergelände neu angelegt und diente als Ort für Zeremonien. Eine Gedenkplatte erinnerte in französischer Sprache an die Opfer. Die Dimensionen des Lagers blieben deutlich, indem die Stacheldrahtumzäunung erhalten und die Barackenfundamente von der Grasnarbe befreit wurden. Das Gedenken wurde mithilfe dieser architektonischen Gestaltung ganz auf den eigentlichen Ort des Verbrechens – Lagerareal und Löschteich – ausgerichtet. Der Besucher, der an der auf dem Zeremonialplatz angebrachten Gedenkplatte Blumen niederlegen oder die Inschrift lesen wollte, musste dem Lagergelände sein Angesicht zuwenden und so dem Leiden und Sterben der Opfer Respekt erweisen.19 Allerdings verfestigte diese Gedenkstättenkonzeption von Anfang an ein „selektives Gedenken“. Die Gedenkstätte war ganz auf die Erinnerung an die Geschehnisse im Männerlager ausgerichtet. Die Inschrift der Gedenkplatte beschränkte das Andenken wiederum auf die Opfergruppe der Widerstandskämpfer – die aus Frankreich Deportierten wurden insgesamt als Angehörige der Résistance erinnert. Das Areal des Frauenlagers war nicht in die symmetrische Konzeption Mahnmal – Gedenktafel – Löschteich einbezogen worden.20 Die Einweihung der Gedenkstätte fand am 11. November 1947 statt, einem symbolträchtigen Datum, das mit Bedacht gewählt worden war. Der 11. November als Gedenktag des Waffenstillstandes nach dem Ersten Weltkrieg sollte verdeutlichen, dass die aggressive Expansionspolitik, die Deutschland seit 1914 verfolgt hatte, in den totalen Zusammenbruch gemündet war.21 An den Fahnenmasten, die den Zeremonialplatz säumten, waren die Flaggen der Alliierten gehisst worden, der Gedenkstein war vor seiner feierlichen Enthüllung mit der französischen Trikolore bedeckt. Für die ehemaligen Häftlinge des Lagers sprach Jacques Dumoulin aus Bordeaux. Er war als Widerstandskämpfer im September 1943 im Lager Neue Bremm inhaftiert worden und hatte 115 Tage dort aushalten müssen, bevor er nach Sachsenhausen und Buchenwald kam. Schwer gezeichnet von der Haft in nationalsozialistischen Lagern, erinnerte er an das Leid der Opfer der Saarbrücker Gestapo-Haftstätte.22
19 Vgl. Dimmig, Oranna, Das „Denkmal zur Erinnerung an das Konzentrationslager Neue Bremm in Saarbrücken“ von André Sive 1947, in: Mitteilungen des Instituts für aktuelle Kunst (2001), S. 13–23. 20 Vgl. Thalhofer, Elisabeth, Vergessenes Leid – Die Frauenabteilung des Gestapo-Lagers Neue Bremm, in: Eckstein (2003), Nr. 10, S. 30–43. 21 Vgl. Flender, Armin, Gedenktage im Saarland nach dem Zweiten Weltkrieg. Politische Symbole zwischen Autonomie und ‚kleiner Wiedervereinigung‘, in: Rainer Hudemann, Burkhard Jellonnek u. Bernd Rauls (Hrsg.), Grenz-Fall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1945–1960 (Geschichte, Politik & Gesellschaft, Schriftenreihe der Stiftung Demokratie Saarland; 1), St. Ingbert 1997, S. 293–312. 22 Vgl. Fotoaufnahmen von Jean Guillocheau vom 11. November 1947. Herrn Guillocheau sei sehr herzlich für die Überlassung der Aufnahmen gedankt.
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Einweihung der Gedenkstätte Neue Bremm, 11. November 1947, Foto: Jean Guillocheau
Gouverneur Grandval hingegen verband seine Ansprache mit einer Aufforderung. Er übertrug dem bei der Einweihungsfeier ebenfalls anwesenden Oberbürgermeister von Saarbrücken, Franz Singer, die Verantwortung für Denkmal und Gedenkstätte: „Dieses Denkmal wird das Symbol einer dunklen Vergangenheit, aber auch das Zeichen des Glaubens an eine bessere Zukunft sein“, sagte Grandval, „daher werde ich, Herr Bürgermeister, dieses Denkmal in Ihre Obhut übergeben, denn ich weiß, mit welchem Interesse die Verwaltung Ihrer Stadt sich ihm annehmen wird.“23 Wurde die Stadt dieser Aufgabe gerecht? Die Stele, die zentraler Bestandteil von André Sives Gesamtkonzept war, gibt die Antwort auf diese Frage. Denn wenn wir uns zurück auf unseren Weg aus Saarbrücken kommend in Richtung Grenze begeben, so bewegen wir uns nicht mehr auf diese Stele zu. Wir fahren an ihr vorbei. Wie kam es dazu? Die 1950er Jahre stellten für das Saarland ein ereignisreiches Jahrzehnt dar, das 1957/59 mit der politischen und wirtschaftlichen Angliederung an die Bundesrepublik endete. An der Gedenkstätte Neue Bremm blieben bis Mitte der 1950er Jahre die Gedenkfeiern von französischer Symbolik dominiert. Noch 1954 nahm Gilbert Grandval die Parade der Ehrenformation des französischen Militärs entgegen, der Gedenkplatz war auch diesmal feierlich beflaggt. Im Unterschied zur Einweihungsfeier von 1947 schmückten den Gedenkplatz nun aber nicht mehr nur die Flaggen der Alliierten. Neben der Trikolore war die Saarfahne gehisst worden.24
23 Neue Saarbrücker Zeitung vom 13. November 1947.
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Doch, was geschah nach 1955? Bildete die Saarabstimmung, die durch den Wunsch der Saarländer, Teil der Bundesrepublik zu werden, den eindeutigen Sieg der Neinsager dokumentierte, eine Zäsur für die Gedenkstätte Neue Bremm? Die Tradition würdevoll gestalteter Feierstunden zum ehrenden Andenken an die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur wurde jedenfalls nicht in vergleichbarer Weise fortgeführt. Die Feier des Jahres 1954–knapp ein Jahr vor der Saarabstimmung – sollte die letzte große Gedenkveranstaltung – mit Aufbietung militärischer Ehren sowie unter Teilnahme offizieller Würdenträger – an der Neuen Bremm sein. Für die Repräsentanten der Regierungs- und Verwaltungsebene wie auch für den Großteil der Saarbevölkerung wurde die Gedenkstätte nahe der französischen Grenze zum ungeliebten Stiefkind. Am Ende der 50er Jahre wurden für das Saarland die Weichen neu gestellt, die Neue Bremm hingegen expedierte man auf ein Abstellgleis. Nach der Angliederung an die Bundesrepublik gab es dort kaum noch offizielle Feiern. Allein verschiedene Opferverbände veranstalteten am 8. Mai und am 11. November Gedenkstunden – Vertreter der Stadt oder des Landes nahmen nur selten daran teil. Die Pflege des zur Gedenkstätte gehörenden Lagerareals oblag zwar der Stadt, wurde jedoch – trotz ständiger Ermahnungen seitens der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) – nur in unzureichender Weise wahrgenommen.25 Es wuchs Gras über dieses Kapitel Stadtgeschichte – bald überdeckte eine dicke Erdschicht die Barackenfundamente. Überhaupt – die Gedenkstätte wurde störend. Sie passte nicht recht zum wirtschaftlichen Strukturwandel, der im Saarland seit den 1960er Jahren erfolgte. Mit der Erweiterung Saarbrückens um neue Industriezonen und der Erschließung der Peripherie griffen die Stadtplaner und Baudezernenten schließlich massiv in die ursprüngliche Gedenkstättenkonzeption ein. Das Gelände des Männerlagers wurde in seinen Ausmaßen beschnitten, Teile der Barackenfundamente liegen heute unter Parkplätzen, Straßen und einem Gewerbegebiet.26 Im Zuge des Ausbaus der Metzer Straße und des Neubaus des Autobahnzubringers zur A6 wurde der trapezförmige Gedenkplatz schließlich zerstört. Um Platz für die neue Straßenführung zu schaffen, verlegte man den Gedenkplatz auf das Lagergelände. Das Mahnmal büßte durch die veränderte Verkehrsführung seine zentrale Position inmitten der Metzer Straße ein. An den Straßenrand gedrängt, verlor es seine Wirkung als Achse für Gedenkstein und Löschteich und damit seinen gesamten Bezug zur Gedenkstätte. Gedenkstein, Fahnenstangen und Betonplatten – wichtige Elemente der Konzeption André Sives – wurden auf dem Areal des ehemaligen Männerlagers so arrangiert, dass der Besucher dem Löschteich 24 Vgl. Fotografien von der Gedenkfeier am 11. November 1954, LA Saarbrücken, Bildersammlung, Nr. D 243/26a, Nr. 244/43. 25 Vgl. Privatarchiv der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten Saar. 26 Vgl. Bestandserfassung KZ-Gedenkstätte Neue Bremm des Büros für Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung Gerhard Hegelmann und Hanne Dutt, Oktober 1994, abgedr. in: KZ und Gedenkstätte Neue Bremm in Saarbrücken. Dokumentation 1943–1999 mit ausgewählten Texten, Plänen und ausführlicher Chronologie, hrsg. v. der Landeshauptstadt Saarbrücken, Saarbrücken 1999, S. 69.
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nun den Rücken zuwandte. Eichen, die dort gepflanzt wurden, wo 1943/44 die Baracken gestanden hatten, zerstörten die Fundamentreste nachhaltig.27 Das Gelände des Frauenlagers – auf städtischen Flurplänen bereits in den 1960er Jahren als Bauland deklariert – wurde schließlich an eine französische Hotelkette verkauft. 1975 eröffnete dort das „Novotel Goldene Bremm“.28 Für die Landeshauptstadt symbolisierte der Hotelbau die deutsch-französische Partnerschaft in der Grenzregion und der damalige Oberbürgermeister Oskar Lafontaine feierte die Grundsteinlegung für die erste Filiale des französischen Accor-Konzerns auf deutschem Boden. DIE LEUCHTLETTERN: „HOTEL DER ERINNERUNG“ (2004) In den 1980er Jahren mehrten sich in Politik und Bürgerschaft die Stimmen, die eine „würdigere Gestaltung“ der Gedenkstätte forderten. Dankbar nahm man daher das Angebot des österreichischen Aktionskünstlers Gottfried Helnwein an, der sich 1993 aufgrund einer Ausstellung seiner Werke im Saarland aufhielt: Helnwein offerierte einen kostenlosen Entwurf für ein Denkmal an der Neuen Bremm. Gerüchte um die Zugehörigkeit des Künstlers zur „Scientology Church“ führten jedoch zum Eklat – Helnwein zog im Mai 1994 sein Angebot zurück. Jedoch war eine hitzige Debatte um Möglichkeiten und Wege angemessener Erinnerung im Zuge der Helnwein-Affäre entflammt.29 Der bleierne Mantel des Schweigens, der sich in den vergangenen Jahrzehnten über die Gedenkstätte gelegt hatte, schien endgültig abgestreift. Im Juni 1995 rief die Landeshauptstadt Saarbrücken den Arbeitskreis „Neugestaltung KZ-Gedenkstätte Neue Bremm“ ins Leben und beauftragte den Architekten Peter Alt und den Landschaftsplaner Gerhard Hegelmann mit dem Entwurf eines Konzeptes für die Neugestaltung. Das Projekt scheiterte allerdings an seiner Finanzierung. Die Hoffnung auf EU-Gelder erfüllte sich nicht – die Pläne für eine Neugestaltung der Gedenkstätte drohten in einer Sackgasse stecken zu bleiben.30
27 Vgl. Dimmig (Anm. 19), S. 21. 28 Im Jahr 2007 erfolgte mit der Eingliederung des Hotels in die Mercure-Kette, die Umbenennung in Hotel Mercure Saarbrücken Süd. 29 Vgl. die Berichterstattung in der Saarbrücker Zeitung 30 Vgl. den Grundsatzentwurf für die Gestaltung der Gedenkstätte Neue Bremm von Peter Alt und Gerhard Hegelmann, Oktober 1995, abgedr. in: KZ und Gedenkstätte Neue Bremm in Saarbrücken, S. 70.
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Neugestaltung der Gedenkstätte Neue Bremm, 2004, Foto: Landeszentrale
Heute ist das ehemalige Lagergelände von der Straße aus fast nicht mehr zu sehen. Eine Mauer schirmt es ab, auf der mit großen blauen Lettern, die nachts hell leuchten, die Worte „HOSTAL – HOSTILE – HOTEL – HOSTAGE – GOSTIN – OSTILE – HOSTEL – HOSTIL – HOST“31 zu lesen sind. Sie sollen auf die unterschiedliche Nutzung des Geländes verweisen – gestern Lager, heute Hotel. Über den letzten beiden Worten erhebt sich eine große Fläche, auf der ein im Jahre 1943 entstandenes Foto verfremdet wahrnehmbar ist: es zeigt schemenhaft eine Frau, ein kleines Kind und einen Hund, die an einem Sommertag lachend auf einer Wiese liegen, im Hintergrund zeichnet sich die Barackenfront des Gestapo-Lagers ab. Das Bild soll deutlich machen, wie sehr der nationalsozialistische Zivilisationsbruch in den Alltag der Bevölkerung integriert war und den normativen Referenzrahmen der Gesellschaft verschoben hatte. Auf der Fassade des Hotels ist zudem das Porträt einer Frau zu entdecken – sie scheint den Betrachter anzusehen, ihr Blick fällt in Richtung der Gedenkstätte. Es handelt sich bei der abgebildeten Frau um die Französin Yvonne Bermann, die im September 1944 im Frauenlager des Erweiterten Polizeigefängnisses inhaftiert gewesen war. Nachdem das Frauenlager jahrzehntelang ignoriert und das Vergessen durch die Gedenkstättenkonzeption von 1947 sowie deren Veränderungen verfestigt worden war, wird somit wieder der vollständige Lagerkomplex, wie er in den Jahren 1943 und 1944 existiert hatte, in das Gedenkkonzept eingebunden.32
31 Hostal = span. Gasthaus, Hotel; hostile = frz. feindlich, engl. feindlich gesinnt; Hotel = dt., engl., frz.; hostage = engl. Geisel; gostin = Stamm slawischer Worte für Gastfreundlichkeit; ostile = ital. Feindlich, feindselig; hostel = engl. Herberge; hostil = span., port. feindlich, feindselig; Host = engl. Gastgeber, Wirt, tschech. Gast.
Die Gedenkstätte Gestapo-Lager Neue Bremm
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Die neu gestaltete „Gedenkstätte Gestapo-Lager Neue Bremm“ wurde im Jahr 2004 feierlich der Öffentlichkeit übergeben und durch christliche und jüdische Geistliche geweiht. Vier Jahre zuvor hatte die Bürgerinitiative „Initiative Neue Bremm“ einen Ideenwettbewerb ausgelobt, 136 Beiträge von Architekten, Künstlern und Historikern aus dem Bundesgebiet wie auch aus den europäischen Nachbarländern Frankreich, Luxemburg, Österreich und Norwegen waren eingesandt worden. Das Historische Museum Saar machte sie in einer Ausstellung für die breite Öffentlichkeit zugänglich. Zum Siegerentwurf kürte die Jury unter dem Vorsitz des Architekturhistorikers Michael S. Cullen schließlich das Konzept „Hotel der Erinnerung“ der Berliner Architekten Nils Ballhausen und Roland Poppensieker. Sie begründete die Entscheidung damit, der Entwurf berücksichtige nicht nur die Geschichte des Männer- wie auch des Frauenlagers der GestapoHaftstätte, sondern darüber hinaus auch die der Gedenkstätte Neue Bremm.33 Das überdimensionierte Familienfoto und das Leuchtschriftband, das den wechselvollen Charakter dieses Ortes mit einem Hotel auf dem Boden eines nationalsozialistischen Lagers verdeutlichen soll, bilden die zentralen gestalterischen Elemente. Jenseits der Mauer, auf dem Gedenkstättengelände, kann man an diesem ungefähr 75 Meter langen Band entlanggehen und sich über die Geschichte des Lagers sowie die Gedenkstätte in deutscher und französischer Sprache informieren. Die Reste der Barackenfundamente wurden mit Stahlbändern kenntlich gemacht aber unter der vor weiterer Erosion schützenden Erdschicht belassen. Neben den neuen Elementen wurden frühere Veränderungen des Ortes rückgängig gemacht: Die Fahnenstangen sind beseitigt worden, die Gedenkplatte befindet sich wieder an der „richtigen“ Position: sie – und damit der vor ihr verweilende Besucher – ist nun dem Löschteich als dem zentralen Erinnerungsmoment zugewandt. Wir hingegen wollen diesem Ort nun den Rücken zukehren. Wir wollen uns aufmachen zur nächsten Station unserer „Tour de France“, an der wir die ineinander verwobenen Zeitschichten von 60 Jahren Geschichte finden. Dr. des. Elisabeth Thalhofer, Bundesarchiv, Koblenz
32 Vgl. eine ausführliche Beschreibung aller Elemente der neugestalteten Gedenkstätte: Dimmig, Oranna, „dass es so der Zukunft erhalten bleibe…“ Über das Lagergelände und die Gedenkstätte Neue Bremm in Saarbrücken, insbesondere ihre Veränderungen und die Neugestaltung nach der Idee „Hotel der Erinnerung“, in: Mitteilungen des Institus für aktuelle Kunst im Saarland (2004), S. 14–25 sowie Doerry, Janine, u. Klei, Alexandra, Gedenkstätten in der Grenzregion. Hinzert, Natzweiler, Neue Bremm, in: NS-Zwangslager, S. 225-240. 33 Das Projekt “Hotel der Erinnerung” wurde realisiert von den Berliner Architekten Nils Poppensieker und Johannes Schulze Icking. Die Kosten für die Umsetzung des Projektes betrugen rund 750.000 €. Die Summe wurde zur Hälfte aus Mitteln des Bundes aufgebracht, je ein Viertel von der Saarländischen Landesregierung und von der Landeshauptstadt Saarbrücken finanziert.
ZWISCHEN SAARBRÜCKEN UND FRANKREICH EINE BIOGRAFISCHE SPURENSUCHE ZU ERIC-JEAN TEICH UND DER UNIVERSITÄT DES SAARLANDES (WOLFGANG MÜLLER)
In seiner autobiografischen Erzählung „Die Sonne macht mich singen“ hat er sich als „Wanderer zwischen zwei Welten“ bezeichnet, sein Lebensweg führte Johann Martin Erich Teich von Schlesien über die Saar nach Frankreich, in den Annalen der Universität des Saarlandes ist Eric-Jean Teich als erster Dozent für Volkswirtschaftslehre, erster Prodekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät sowie als Gründungsdirektor des Dolmetscher-Instituts und des Berufspädagogischen Instituts verzeichnet. Daher unternimmt der folgende Beitrag den Versuch, trotz fragmentarischer Überlieferung1 seine Lebensspuren nachzuzeichnen und damit die vom Universitätsarchiv publizierten bisherigen Porträts der Dozenten der „frühen Jahre“ der Universität des Saarlandes um einen möglichst facettenreichen Mosaikstein zu erweitern.2 Als ältestes von sechs Geschwistern wurde Johann Martin Erich Teich am 10. September 1886 im schlesischen Ober-Ullersdorf (Kreis Sorau) als Sohn des Lehrers und Kantors Martin Gottschalk Teich (1862–1924) und seiner pietistisch geprägten Mutter geboren, mit großer Strenge erzogen und evangelisch getauft. Auch wenn er später keiner Kirche mehr angehörte, bewunderte er zeitlebens den Reformator Martin Luther als Sprachschöpfer und Rebell im Kampf gegen den Papst und die Tyrannei der römischen Kirche.3 Zunächst besuchte er die Volksschule in seinem Geburtsort, anschließend die Präparandenanstalten in Greiffenberg und Sagan und schließlich die Königlich-Preußischen Lehrerseminare in Sagan und Brieg, wo er die erste Lehrerprüfung im Februar 1907 in Brieg und die zweite Lehrerprüfung im Juni 1909 in Reichenbach ablegte und im Schuldienst an den Vorschulen in Rauschwalde, Kreis Görlitz, und Deutsch-Kassel, Kreis Grünberg (Februar 1907–September 1908), und der Vorschule des Realgymnasiums zu Grünberg (Oktober 1908–März 1910) tätig war. Angesichts der kargen Besoldung leistete er unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen vom 1. April 1910 bis 1
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Der Beitrag basiert vor allem auf der im Archiv der Universität des Saarlandes verwahrten Personalakte (P 742 Personalakte Teich UniA SB) und den von seinem Sohn Werner Teich übersandten Unterlagen (Sammlung Teich UniA SB) sowie Informationen von Prof. Dr. Jakob Rehof (Dortmund). Außerdem wurde die im Stadtarchiv Saarbrücken verwahrte Personalakte (PA 1968) ausgewertet. Für die rasche Bereitstellung der Akte danke ich Frau Kollegin Antje Kraus. Vgl. dazu insgesamt die stets aktualisierte Bibliografie unter:http://www.uni-saarland.de/de/ profil/geschichte/literatur/mueller/. Vgl. zur Persönlichkeit insgesamt Teich, Werner, Remarques sur les arbres généalogiques de mon père et de ma mère, Novembre 1990. Sammlung Teich. Die folgenden biografischen Daten wurden den diversen Lebensläufen in den Personalakten entnommen.
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zum 31. März 1911 seinen einjährigen Militärdienst beim Infanterie-Regiment 106 in Leipzig und studierte parallel vom 23. Mai 1910 bis November 1911 an der dortigen Universität, wo der Philosoph Wilhelm Wundt, der Historiker Karl Lamprecht und der Ökonom Franz Eulenburg zu seinen prägenden akademischen Lehrern zählten. Nach der Militärzeit wechselte er von April 1911 bis März 1912 an die Präparandenanstalt in Prenzlau und wirkte dann seit April 1912 an der Gemeindeschule in Berlin-Wilmersdorf und nebenamtlich an der Kaufmännischen Fortbildungsschule Berlin-Wilmersdorf. Am 1. Mai 1912 heiratete er die vier Jahre jüngere Anna Dorothee Mathilde Harnisch (1890–1993), die Tochter des Anstaltsgeistlichen in Sagan. Aus der Ehe gingen zwei Söhne und zwei Töchter hervor. Außerdem setzte er das in Leipzig begonnene Studium an der Berliner Handelshochschule vom Sommersemester 1912 bis zum Sommer 1914 fort und arbeitete zwischen August und Oktober 1913 und im April 1914 bei der Firma Columbiabananen GmbH Berlin. Drei Tage nach dem Kriegsausbruch, am 3. August 1914, legte er die Diplom-Handelslehrer-Prüfung mit der Note „gut“ ab, in seiner wissenschaftlichen Arbeit hatte er sich mit der „Stellung der Ponts de Nemours zu den Assignaten“ beschäftigt. Während des gesamten Ersten Weltkrieges leistete er bei den Kämpfen in Frankreich, Russland und Rumänien Kriegsdienst, vom Juni 1915 bis Februar 1916 an der Front, nach seiner Verwundung bis September 1916 bei der Ersatztruppe und vom September 1916 bis Mai 1918 wieder an der Front. „Zumeist als Führer einer MG-Kompagnie an der Kampffront“4 eingesetzt, erlangte er mehrere außergewöhnlich hohe militärische Auszeichnungen wie das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse, das Ritterkreuz des Königlich-Sächsischen Albrechtsordens mit Schwertern, das Ritterkreuz des Militär-St. Heinrichsordens und das Verwundetenabzeichen in Schwarz. Im letzten Kriegshalbjahr war er als Nationalökonom an das sächsische Kriegsministerium in Dresden abkommandiert und agierte seit dem 1. April 1919 zunächst als wissenschaftlicher Handelslehrer an der Höheren Handelsschule Bautzen, wurde dann im Januar 1920 in eine Oberlehrerstelle eingewiesen und unterrichtete in den Hauptfächern Volkswirtschaftslehre und Privatwirtschaftslehre sowie Englisch und Französisch in den Nebenfächern. 1920 besuchte er zeitweise auch statistische, volkswirtschaftliche und juristische Vorlesungen an der Universität Frankfurt am Main und wurde dort am 2. Juni 1921 mit der Studie über „Die Hausweberei in der östlichen Niederlausitz unter besonderer Berücksichtigung technischer und organisatorischer Reformversuche“ zum Doktor der Staatswissenschaften (Doctor rerum politicarum) promoviert, wobei das gewählte Thema vielleicht auch eine Hommage an seinen in diesem Beruf tätigen Ahnen Johann Christian Teich war. Im April 1922 quittierte Teich – aus welchen Gründen auch immer – den Schuldienst, betrieb bis zum Sommer 1924 eine Chemikaliengroßhandlung und handelte anschließend mit Gummiwaren. „Infolge der ungünstigen wirtschaftlichen Lage in Deutschland löste ich diese Firma im Februar 1925 wieder auf, um4
So das Zitat im Lebenslauf, Personalakte StA SB, Bl. 3.
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somehr als ich von vorneherein die Absicht hatte, wieder in das Lehramt zu gehen.“5 Auch wenn wie zu anderen Lebensabschnitten auch hier nähere Informationen über die Hintergründe seiner Bewerbung und die Wahl des damals unter Völkerbundverwaltung stehenden Saargebiets fehlen, wandte er sich vermutlich wegen seiner schwierigen ökonomischen Verhältnisse von Reichenau aus Anfang August 1925 an das städtische Schulamt Saarbrücken, ersuchte um Anstellung als „Handels-Studienrat an der öffentlichen Handelsschule zu Saarbrücken“6 und legte auch eine Empfehlung des Rektors der Leipziger Handelshochschule an den Saarbrücker Studiendirektor Schmidt vor. Am 10. September empfahl das Kuratorium der Handelsschule zwar die Anstellung, betonte aber, „daß die Entscheidung nicht endgültig bei den städtischen Körperschaften, sondern bei der Schulabteilung der Regierungskommission liegt“.7 Nach einer „sehr befriedigenden“ Probelektion hatte die Kommission keine Bedenken vor der sofortigen Einstellung. Teich konnte am 17. September seinen Dienst antreten und wurde nach einem späteren Beschluss der Stadtverordnetenversammlung mit Wirkung vom 1. September 1925 bestallt. Da er sich nicht zuletzt bei der Beförderung zum Handels-Studienprofessor übergangen fühlte und dagegen protestierte, „er genüge nicht den Prüfungsbedingungen des Saargebietes“8, betrieb er den Übergang von der öffentlichen Handelsschule zur höheren Handelsschule und legte am 16. März 1927 vor der Staatlichen Pädagogischen Prüfungskommission der Regierungskommission für das Saargebiet die „Pädagogische Prüfung für das höhere Lehramt an Handelsschulen“9 ab. Am 8. April jenes Jahres berichtete er dem Stadtschulrat von einer Reise an den Ostertagen zu einer vom Internationalen Erziehungsbüro in Genf unter der Devise „Frieden durch die Schule“ nach Prag einberufenen Tagung, die sich der „Reinigung der Schulbücher von völkerverhetzenden Tendenzen“10 widmete. Dabei wandte er sich auch gegen „die hier vorhanden(e) Neigung, Konkurrenten politisch zu verdächtigen“ und befürchtete eine „Denunziation als Vaterlandsverräter“. Außerdem kündigte er seine Teilnahme am Ferienkurs der École d’études internationales in Genf vom 8. August bis 20. September 1927 an. Ansonsten schweigen die städtischen Akten über seine schulischen und eventuellen politischen Aktivitäten. Immerhin veröffentlichte er eine 1927 in Leipzig erschienene Darstellung „Betriebswirtschaftliche Rechnungsführung“ sowie in Saarbrücken diverse „Graphische Darstellungen zur Staatsbürgerkunde“. In Ergänzung seiner als Lehrmittel verbreiteten Karte „Der Aufbau des Völkerbundes“ publizierte der Handelsstudien-Professor Teich und Doktor der Staatswissenschaften 1929 eine von der Saarbrücker Hofer AG gedruckte Broschüre „Was jeder Deutsche vom Völkerbund wissen muß“.11 Vornehmlich anhand der Völkerbund5 6 7 8 9 10 11
Ebd. (Anm. 4). Ebd. (Anm. 4), Bl.11. Ebd. (Anm. 4), Bl. 14 verso. Ebd. (Anm. 4), Bl. 32. Vgl. das in der Sammlung Teich, UniA SB verwahrte Dokument. Personalakte StA SB, Bl.36. Vgl. Teich, Erich, Was jeder Deutsche vom Völkerbunde wissen muß, Saarbrücken 1929.
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satzung skizzierte er dabei Wesen und Ziel, Mitgliedschaft, Struktur und Aufbau des Völkerbundes, die Grundzüge der Völkerbundpolitik, die Bestrebungen auf sozialem und humanitärem Gebiet sowie bis zum Kellogpakt im August 1928 die Arbeit des Völkerbundes. Dabei betonte er, „daß weder die Schaffung des Saargebietes noch die der Freien Stadt Danzig ein Werk des Völkerbundes ist, daß auch mit der Verwaltung dieser Gebiete der Völkerbund nur die Aufträge ausführen muß, die ihm durch den Frieden von Versailles zugewiesen worden sind“.12 Wegen dauernder Dienstunfähigkeit wurde er auf eigenen Antrag zum 1. September 1932 pensioniert, weil er „infolge politischer Hetze nervös erkrankt war“.13 Da gegenwärtig nähere Informationen fehlen, können diese Konflikte leider ebenso wenig detailliert rekonstruiert werden wie überhaupt seine politische Prägung, seine Aktivitäten oder seine Position zur Saarfrage. Es wird im Familienkreis lediglich kolportiert, er habe den von nationalsozialistischer Seite angebotenen Wechsel an ein Reichsministerium in Berlin abgelehnt, „weil er dem System in keiner Form dienstbar sein wollte“ und in einem Familienbrief in jener Zeit äußerte: „Hitler ist der Krieg“.14 Außerdem wird auf seine Abneigung gegenüber Religion und Patriotismus und seine Nähe zum Pazifismus und zu sozialen Ideen verwiesen.15 1948 wurde seine Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ knapp damit begründet, dass der Antragsteller „vor 1935 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war und wegen seiner antifaschistischen Einstellung im September 1933 nach Frankreich auswandern mußte“.16 Nebenamtlich hatte er an der „Verwaltungsakademie Saargebiet in Saarbrücken (Zweiganstalt der Verwaltungsakademie Frankfurt a.M.) während vier Semestern (1930–1933) Vorlesungen über Betriebswirtschaftslehre, Bilanzwesen und Handelspolitik gehalten.“ Die am 29. Mai 1933 ausgefertigte Bescheinigung begründet sein Ausscheiden aus dem Lehrkörper lapidar, „weil er seinen Wohnsitz nach auswärts verlegt“.17 Am 25. Januar 1934 ließ er sich mit der gesamten Familie in Frankreich naturalisieren und nahm die französische Staatsbürgerschaft an. Er bewunderte das Land der Großen Revolution und der wegweisenden Ideen von 1789, aber nicht den die Protestanten verfolgenden königlichen Despotismus nach 1685 und die Sozialisten, Kommunisten und Juden verfolgende Politik Vichys, wobei er auch Fluchthilfe für jüdische Freunde leistete.18 Über sein Leben als Ziegen haltender Kleinbauer in der Provence oberhalb von Aix hat er unter dem Pseudonym Erich Marée nach dem Zweiten Weltkrieg in den eingangs bereits erwähnten, im Titel 12 Ebd. (Anm. 11), S. 30. 13 So die Bemerkungen im Personalbogen, Personalakte UniA SB. 14 Vgl. den von seinem jüngeren Bruder Alfred Teich verfassten Auszug: „Dem Gedenken an meinen sehr geliebten Bruder Professor Dr. Erich Teich, zuletzt in Aubìere P.d.D. und meinen lieben Nichten und Neffen in Frankreich gewidmet (Ausschnitt aus meinen Lebenserinnerungen)“, Sammlung Teich UniA SB. 15 Hier folge ich der Darstellung seines Sohnes Werner Teich (Anm. 3). 16 So die Entscheidung vom 7. August 1948 in der Personalakte UniA SB: Eine „Wiedergutmachungsakte“ liegt nach kollegialer Auskunft von Michael Sander (Landesarchiv Saarbrücken) nicht vor. 17 Vgl. die entsprechende „Bescheinigung“ in der Sammlung Teich. 18 Hier folge ich der Darstellung seines Sohnes Werner Teich (Anm. 3).
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einen provençalischen Liedvers aufgreifenden Kurzgeschichten „Die Sonne macht mich singen“ berichtet: „Eine Familie aus dem deutschen Grenzland ist vor Jahren nach Frankreich ausgewandert und dort heimisch geworden. Als der Krieg ausbricht, sucht und findet sie einen Zufluchtsort in einem weltverlorenen Winkel der Provence.“ 19 In mehreren von seiner Tochter Brigitte illustrierten Episoden erzählt er „vom Erleben des „Sonnenlandes“ und seiner liebenswerten Menschen“,20 seinem „Robinsonleben“,21 der „Miniatur-Landwirtschaft“22 und den Naturbeobachtungen in „einer Welt der Stille und der Einsamkeit, der Pflanzen und Tiere, der Tage voll flammender Sonnenglut und der unbeschreiblichen Sternennächte“23 in seinem „Haus zu den vier Winden“.24 Die „Schatten des Krieges“ werden erkennbar beim Besuch des Nachbarn und dem gemeinsamen Warten auf die stets mit der französischen Hymne eingerahmten Nachrichten von der Front im Frühsommer 1940. Den beiden Hörern schien es, als ob die Marseillaise „schluchzte, ... klagte. ... weinte. ... So höre ich es schon seit drei Tagen. – Frankreich, o armes Frankreich. ... Eine Woche später fiel Paris. Das Volk ging wie in dumpfer Betäubung. Was nun? Welches Schicksal wird dem Land auferlegt werden? Es erhoben sich Stimmen, die zur Verständigung und Versöhnung aufriefen. Sie fanden viel Gehör. Große Hoffnungen wurden wach und viel guter Wille. Aber mit einem Schlage änderte sich alles. Eines Tages kam zu ungewohnter Stunde ein Freund zu uns ins Haus. Er war einer von denen, die nicht aufgehört hatten, mit heißem Herzen von Versöhnung und Verständigung der Völker zu sprechen. Mit zitternden Händen überreichte er ein Extrablatt. Es enthielt die amtliche Bekanntmachung der ersten Massenerschießung von Geiseln in Paris. – „Das also ist Deutschland!“ sagte er mit müder Stimme und ging. – Bald folgten neue Schreckensmeldungen. Ein Schrei des Entsetzens gellte durch das ganze Land. Das war das Ende aller Hoffnungen und Träume. Abgründe hatten sich aufgetan, und jede Gemeinsamkeit war von dieser Stunde an ausgeschlossen. – Und nun kam alles, wie es kommen mußte in den folgenden vier schicksalsschweren Jahren. ... Das Volk ertrug die lastende Zeit mit unvergleichlicher Würde. Der Druck wurde immer schwerer und schwerer. Aber im gleichen Maße wuchs die Erkenntnis, daß die Freiheit das höchste Gut und das letzte Opfer wert ist. ... So verrannen die Jahre. Wir lebten in der großen Schicksalsgemeinschaft des Volkes, das uns gastfreundlich und vertrauensvoll aufgenommen hatte ... und dessen Menschlichkeit und Herzensgüte wir oft erfuhren.“25 Auch bei den Besuchen der Kommilitonen seiner Tochter an 19 Marée, Erich, Die Sonne macht mich singen, Saarlouis 1948, S. 6. Vgl. auch die vor allem den literarisch sehr einfachen Stil erwähnenden Rezensionen: Schlicht und eindrucksvoll..., in: Das Saarland 22. Juli 1948, die Abschrift der am 15. Oktober 1948 im Saarländischen Rundfunk gesendeten Buchkritik und ferner Karlkuno L. Seckelmann: Saarländische Autoren lasen.... Und eine Anmerkung zu den Problemen der saarländischen Buchhändler und Verleger, in: Saarbrücker Zeitung 10. Februar 1949 (Sammlung Teich). 20 Ebd. (Anm. 19), S. 6. 21 Ebd. (Anm. 19), S. 27. 22 Ebd. (Anm. 19), S. 33. 23 Ebd. (Anm. 19), S. 9. 24 Vgl. den entsprechenden Abschnitt zur Namensgebung ebd. (Anm. 19), S. 23–26. 25 Ebd. (Anm. 19), S. 49–50.
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der Universität Aix und dem Austausch der „geistigen Schätze zweier Völker ... klangen noch lange die Worte nach, die Zeugnis abgelegt hatten, von den ewigen Werten, zu denen sich alle geistigen Menschen bekennen, ganz gleich welcher Nation ... und Rasse, wenn sie nur wahrhaftig und guten Willens sind.“26 1943 übersiedelte die Familie nach La Bourboule im Département Puy-deDôme. Im Juni 1945 als Officier de contrôle de 2ème classe de la Mission Militaire des Affaires Allemandes et Autrichiennes im Rang eines Lieutenant-Colonel mobilisiert, war er zunächst in Baden-Baden tätig, schied aber schon bald wieder aus dem Militärdienst aus. Möglicherweise „mochte er wohl zu sehr gerecht deutsch denken und handeln, um nicht französischer Vergeltungssucht unbequem zu werden“, wie sein ihm persönlich eng verbundener jüngerer Bruder Alfred 27 vermutet oder sein Sohn Werner äußert: „Mais ne l´a pas longtemps retenu, car sa conception de cette nouvelle forme de „collaboration“ franco-allemande ne coïncidait, bien entendu, pas avec celle du Haut-Commissaire Gilbert Grandval.“28 Im Januar 1946 in Saarbrücken wieder demobilisiert, ließ er sich bald endgültig im Saarland nieder, erwarb zur französischen auch die saarländische Staatsbürgerschaft, veröffentlichte unter seinem bekannten Pseudonym Erich Marée diverse Kurzgeschichten in der zeitgenössischen Presse29 und erhielt Stellenangebote in der höheren Verwaltung des Saarlandes. Die sich in mehreren Etappen vollziehende Gründung der Universität des Saarlandes bot Eric-Jean Teich dann endlich die erwünschten neuen beruflichen Perspektiven. Nachdem das am 8. März 1947 unter der Ägide der Universität Nancy eröffnete „Centre Universitaire d’Études Supérieures de Hombourg“ für Mediziner im November 1947 in ein Hochschulinstitut umgewandelt worden war und seit Februar 1948 auch propädeutische Lehrveranstaltungen in anderen Fächern anbot, trat Teich als „Maître de conférence 2e classe“ für „Économie politique“ Mitte Februar 1948 seinen Dienst in Homburg an. Nach den Pariser Weichenstellungen am 9. April 1948 zur Gründung einer Universität des Saarlandes bewarb er sich erstmals am 24. Juli 1948 beim Direktor des Homburger Hochschulinstituts um seine offizielle Ernennung entweder als ordentlicher Professor oder als beamteter außerordentlicher Professor: „J’ai abandonné ma place en Sarre en 1933 pour des raisons idéologiques. J’ai refusé catégoriquement un professorat à l’Université de Berlin et une Direction ministerielle offerts par le gouvernement nationalsocialiste. Je suis parmi tous les Sarrois revenus de l’émigration le seul
26 Ebd. (Anm. 19), S. 58 und 59. 27 Vgl. den von seinem jüngeren Bruder Alfred Teich verfassten Auszug: „Dem Gedenken an meinen sehr geliebten Bruder Professor Dr. Erich Teich, zuletzt in Aubìere P.d.D. und meinen lieben Nichten und Neffen in Frankreich gewidmet (Ausschnitt aus meinen Lebenserinnerungen)“, Sammlung Teich UniA SB. (Anm. 14). 28 Vgl. Teich (Anm. 3). 29 Vgl. Marée, Erich, Die Brüder – eine altmodische Geschichte, in: Saarbrücker Zeitung 7. August 1948, in mehreren Fortsetzungen; Marée, Erich, Der ungebetene Gast. Eine Banditengeschichte, in: Das Saarland 6. November 1948; Marée, Erich, Am dunklen Tor, in: Saarbrücker Zeitung 10. November 1948; Marée, Erich, Peter Eigen sucht eine Frau, in: Das Saarland 16. Dezember 1948.
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dont la situation n’est pas du tout assurée, le seul qui soit plus bas classé qu’avant son départ et je suis le moins payé.“30 Nahezu gleichzeitig präsentierte er dem „stellvertretenden Rektor der Universität“ eine umfangreiche Aufzeichnung zur „Organisation des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums an der Universität Homburg“ und warb für die Schaffung einer Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, in die auch das zu gründende Berufspädagogische Institut und ein Dolmetscher-Institut zu integrieren wären: „In der Organisation der französ. Universitäten ist das Studium der Wirtschaftswissenschaften als selbständiges Studiengebiet unbekannt. In den deutschen, amerikanischen, englischen, holländischen, schweizerischen Universitäten nehmen sie hingegen einen besonderen Platz ein und sind zumeist in selbständigen Fakultäten organisiert. In Homburg, entsprechend seiner nach französ. Muster gestalteten Organisation, wird Volkswirtschaftslehre in den ersten beiden Studienjahren im Rahmen der jur. Fakultät gelehrt und ist vollwertiges jurist. Prüfungsfach. Darum handelt es sich aber hier in keiner Weise“. Denn „das Studium der Wirtschaftswissenschaften deutschen, amerikanischen usw. Stils setzt sich aus folgenden Hauptgebieten zusammen: A Betriebswirtschaftslehre, die umfaßt 1. Betriebstechnik, 2. Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 3. Spezielle Betriebswirtschaftslehre, B Volkswirtschaftslehre, C Recht. Eine große Zahl saarländischer Studenten, die bisher in Deutschland studiert haben, wünschen ihre Studien in Homburg fortzusetzen. Darunter befindet sich ein hoher Prozentsatz von Studierenden der Wirtschaftswissenschaften. Unter den jungen Abiturienten sind zweifellos ebenfalls viele, welche Wirtschaftswissenschaften studieren wollen. Selbst unter den Studierenden der jur. Fakultät Homburg haben etwa 25% die Absicht, sich den Wirtschaftswissenschaften zuzuwenden. Aus dieser Lage ergibt sich die dringende Notwendigkeit, ohne Zögern die Möglichkeit eines vollen wirtschaftswissenschaftlichen Studiums in Homburg zu schaffen. Der beste Weg wäre zweifellos die Schaffung einer selbständigen Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät.“31 Am 23. August 1948 bewarb er sich erneut um die Übernahme des Lehrstuhls für „Économie politique“. Im September 1948 widmete er sich mit dem künftigen Dekan der Philosophischen Fakultät Arthur Pfeiffer dem Projekt der Gründung einer Dolmetscherschule im Ensemble der Universität. Schließlich wurde er am 9. Oktober, rund einen Monat vor Aufnahme der Mitte November einsetzenden Lehrveranstaltungen, als außerordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre und am 13. Oktober zum Gründungsdirektor des Dolmetscher-Instituts berufen, dessen Leitung er bis zur Neuorganisation 1950 innehatte.32 1949 zum Maître de Conférence I. Klasse ernannt, stellte man ihm eine Beförderung zum „Professeur honoraire“ in Aussicht, sobald es die Statuten erlaubten. Außerdem agierte er von 30 Vgl. sein Gesuch vom 24. Juli 1948 in der Personalakte UniA SB. 31 Vgl. ebd. (Anm. 30) das entsprechende Memorandum vom 29. Juli 1948. Auch die folgenden Informationen sind der universitären Personalakte entnommen. 32 Vgl. zur Geschichte des Dolmetscher-Instituts: Wilss, Wolfram, Wandlungen eines Universitätsinstituts. Vom „Dolmetscherinstitut“ zur „Fachrichtung Angewandte Sprachwissenschaft sowie Übersetzen und Dolmetschen“ der Universität des Saarlandes (Annales Universitatis Saraviensis Philosophische Fakultät Band 14), St. Ingbert 2000.
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November 1949 bis zu seiner Demission im Frühjahr 1954 nebenamtlich als Direktor des der „Ausbildung der Lehrpersonen für den Gewerbe- und Handelsschuldienst“ dienenden Berufspädagogischen Instituts.33 Im März 1950 erhielt er einen Vertrag auf fünf Jahre, der 1954 in einen Vertrag auf Lebenszeit umgewandelt wurde. Vom März 1950 bis März 1955 fungierte Teich in mehreren Wahlperioden als Prodekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und verzichtete erst im März 1955 wegen seines Alters, seines Gesundheitszustandes und der in der Amtszeit erfolgenden Pensionierung auf seine Wiederwahl. Die Fakultät unternahm ihrerseits im März 1951, im Mai 1951, im Mai 1952, im April 1953 und im Dezember 1955 insgesamt fünf vergebliche Anläufe bei den universitären Leitungsgremien, ihn wegen seiner „großen Verdienste ... beim Aufbau der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und insbesondere beim Aufbau des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts“ sowie seiner „von den Studenten sehr geschätzten Lehrtätigkeit“34 zum ordentlichen Professor zu ernennen. Diese Anträge wurden zunächst wegen der geringen Zahl seiner wissenschaftlichen Publikationen und dann wegen der fehlenden Habilitation abgelehnt.
33 Vgl. beispielsweise die allgemeinen Angaben zum Berufspädagogischen Institut in den ersten Vorlesungsverzeichnissen der Universität des Saarlandes (Zitat aus dem Vorlesungsverzeichnis zum WS 1952/53, S. 156) und die in der universitären Personalakte verwahrte Aufzeichnung „Institut de pédagogie professionelle. Rapport de M. le professeur Teich, Directeur de l’Institut“ (1951). 34 So als eins von fünf Beispielen der von seinem Kollegen Prof. Dr. Ewald Aufermann (Betriebswirtschaftslehre) formulierte Antrag vom 13. März 1951.
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Nach seiner im 70. Lebensjahr vollzogenen Emeritierung zum 31. Oktober 1956, die in eine bewegte Phase des administrativen und personellen Umbruchs35 vom französischen zum deutschen Universitätssystem fiel, hielt er im Rahmen von Lehraufträgen in den drei folgenden Semestern noch Vorlesungen zur „Geschichte der Nationalökonomie“, zu „Wirtschaftlichen Grundbegriffen“ sowie zu den „Wirtschaftsideologien des Liberalismus und des Sozialismus“. Der bei den Studierenden legendär als „Papa Teich“ verehrte „sympathische Choleriker“36 präsentierte in klassischer Weise sowohl in den Vorlesungen als auch in seiner 1950 erschienenen zweibändigen Darstellung „Grundbegriffe der Allgemeinen Wirtschaftslehre“37 die „Dogmengeschichte der Nationalökonomie“. Dem familiären Wunsch entsprechend übersiedelte er im Juni 1958 in die Nähe seiner in Clermont verheirateten Tochter nach Aubière (Département Puyde-Dôme), pflegte aber weiterhin enge Verbindung zur Universitätsverwaltung, die ihm stets bürokratische Hürden zu bewältigen half. Im März 1963 schrieb ihm der damalige Leiter der Verwaltungsabteilung Heinz Krabler: „Wann waren Sie das letzte Mal in Saarbrücken? Sie werden ggf. staunen, was aus unserem alten gemütlichen Dörfchen Universität mittlerweile geworden ist“. Nach langer Arterioskleroseerkrankung verstarb Eric-Jean Teich am 20. März 1964. In Aubière endete sein bewegter Lebensweg, der ihn durch die politischen Turbulenzen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Schlesien über die Saar nach Frankreich geführt hatte. Dr. Wolfgang Müller, Archivoberrat, Universitätsarchiv, Universität des Saarlandes
35 Vgl. dazu Müller, Wolfgang, Die Universität des Saarlandes in der politischen Umbruchsituation 1955/56, in: Rainer Hudemann/Burkhard Jellonnek/Bernd Rauls (Hrsg.), Grenz-Fall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1945–1960 (Schriftenreihe Geschichte, Politik und Gesellschaft der Stiftung Demokratie Saarland Band 1), St. Ingbert 1997, S. 413–425. Ferner Maihofer, Werner, Vom Universitätsgesetz 1957 bis zur Verfassungsreform 1969. Persönliche Erinnerungen an eine bewegte Zeit der Universität des Saarlandes, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Band 22, 1996, S. 373–403. 36 Vgl. die repräsentative Erinnerung des Präsidenten der Studentenschaft 1949/50 und späteren Honorarprofessors der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät: Prof. Dr. Rudolf Scheid: Präsident der Studentenschaft 1949–1950, in: Wolfgang Müller (Hrsg.), Studentische Impressionen aus den frühen Jahren der Universität des Saarlandes, Saarbrücken 2002, S. 25– 26. 37 Der erste Band erschien im Januar, der zweite im Dezember 1950 im Saarbrücker West-OstVerlag. Diverse Miszellen zur „Wirtschaftsgesinnung“, zum „Preissturz des Goldes“, zur „Kreditkontrolle im französischen Wirtschaftsraum“ oder zur „Wertbeständigkeit der Realkredite“ erschienen in den Mitteilungen der Saarbrücker Industrie- und Handelskammer und in der Saar-Wirtschaft.
KONKURRENZ ODER KOEXISTENZ? ARBEITSTEILIGES BEZIEHUNGSGEFLECHT VON GROSS- UND MITTELSTÄNDISCHER INDUSTRIE AN DER SAAR UM 1900 (M ARGRIT GRABAS)
„Und wenn sich die Conjunktur für unsere Producte auch etwas gebessert hat, so sind wir leider nicht in der Lage Nutzen daraus zu ziehen, indem uns trotz nachgewießener und durch Expertise festgestellter Wasserentziehung der Königliche Bergfiskus bis jetzt weder Entschädigung noch Garantie für Wasserbeschaffung geboten hat, so daß wir keine entsprechenden Einrichtungen hier treffen können. Der uns seit Dezennien rücksichtslos zugefügte Schaden, die seit zehn Jahren ohne Rückerstattung angehäuften Prozeßkosten in Verbindung mit anderen Betriebserschwerungen, mögen wohl mit der Zeit das Resultat haben, unsere hier seit über 100 Jahren bestehende Industrie, das kleine Huhn, welches die goldenen Eier zum Nutzen der Gegend legt, zu Gunsten des größeren und der auf nationalökonomischem Gebiete denn doch etwas kurzsichtigen Berufstüchtigkeit seiner Beamten zu töten und dadurch dem Bergfiskus eine einmalige billige Entschädigung oder Ausgabe zu ersparen, während die uns bereiteten Schwierigkeiten uns den Gedanken nahelegen müssen bald thunlichst ein gastlicheres Gebiet zu suchen, wo der Entfaltung unserer Industrie mehr Verständniß entgegengebracht wird, wie dies fast in unseren sämtlichen Nachbarstaaten der Fall ist. Daß dem so ist, glauben wir als älteste und bedeutendste Firma unserer Branche, auch als solche einstimmig zum Vorsitze der gleichen deutschen Fabriken, die immerhin einige Millionen Mark zum nationalen Wohlstande beitragen, erwählt beurtheilen zu können“.1
Die vorstehende Klage des Sulzbacher Berliner-Blau-Fabrikanten Carl Appolt vom August 1890 über die Geschäftsentwicklung des ablaufenden Jahres sowie über Probleme zwischen dem Chemieunternehmen und den staatlichen Kohlegruben in Bezug auf eine ausreichende Wasserversorgung ist ein bemerkenswertes Zeugnis jener ambivalenten Stimmungslage und Entwicklung des gewerblichen Mittelstandes, die an der Schwelle zum 20. Jahrhundert nicht nur den kleinen und mittelgroßen Unternehmensbereich (KMU) an der Saar, sondern im Deutschen Reich überhaupt geprägt haben: einerseits Zukunftspessimismus hinsichtlich seiner prinzipiellen Überlebensfähigkeit angesichts der Expansionsdynamik großbetrieblich organisierter kapital-, energie- und managementintensiver Industriezweige und einer damit einhergehenden – bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts – wachsenden politischen Glorifizierung von Großunternehmen; andererseits aber ein emanzipatorisches, zugleich identifikatives Selbstbewusstsein als Resultat einer keineswegs erfolglosen Performance kleiner und mittelgroßer Unternehmen.2
1 2
Landeshauptarchiv Koblenz, Best. 442, Nr. 4111, B. 177f. Vgl. Stadelmann, Rudolf; Fischer, Wolfram, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800. Studien zur Soziologie des Kleinbürgers im Zeitalters Goethes, Berlin 1955, S. 233ff. sowie Petri, Rolf, Der Maschinenbau in Halle an der Saale (1856–1914). Ein Marshallscher Distrikt?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2002/2, S. 159–190; hier S. 169ff.
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Vor dem Hintergrund dieser gegenläufigen Prozesse und Erscheinungen, die in der damaligen Öffentlichkeit heiß und kontrovers diskutiert wurden3, hat Werner Sombart nur wenige Jahre später in seiner berühmten Auseinandersetzung mit der Marxschen Konzentrationstheorie die Prognose aufgestellt, dass trotz einer empirisch belegbaren Tendenz zur „Vergrößerung der Betriebe“ es in der Zukunft nur in „ganz seltenen Ausnahmefällen“ zu einer „Zurückdrängung oder gar Beseitigung der kleinen und mittleren Betriebe“ kommen würde. Aufgrund branchenspezifischer Unterschiede im Erreichen eines „Betriebsgrößenoptimums“ würde nämlich zwischen groß-, mittel- und kleinbetrieblicher Produktionsweise kein Konkurrenz-, sondern eine Art Koexistenzcharakter bestehen.4 Eine solche Sombartsche Koexistenz zwischen Groß- und mittelständischer Industrie hatte sich – ungeachtet jener von Carl Appolt problematisierten und meist zulasten der „Kleinen“ gehenden Konflikte als Ausdruck alltäglich auszufechtender (Wasser)Ressourcen- bzw. Standortkonkurrenz – am Ende des 19. Jahrhunderts auch an der Saar herausgebildet. Zwar wissen wir bislang erst wenig über das konkret-historische Zusammenspiel von Großindustrie und dem Bereich kleiner und mittelgroßer Unternehmen5, das ganz sicher nicht nur durch kooperative Komplementarität bestimmt war. Doch konnte im Rahmen eines am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität des Saarlandes durchgeführten DFG-Projektes nachgewiesen werden, dass sich das Wirtschaftspotential der Saarregion bereits um 1900 nicht primär – wie in der einschlägigen Literatur, aber auch Öffentlichkeit oftmals behauptet6 – in der Existenz einer auf Massenproduktion ausgerichteten Montanindustrie erschöpft hat. Bevor der für die sozioökonomische Ausdifferenzierung der Saarwirtschaft ebenso wichtige, wenngleich lange Zeit „vergessene“ Mittelstand für den Zeitraum des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts etwas näher betrachtet wird, geht es zunächst um eine forschungsrelevante Begriffsbestimmung. 1. MITTELSTAND VERSUS KLEINE UND MITTELGROSSE UNTERNEHMEN (KMU) – EIN DEUTSCHES BEGRIFFSDILEMMA? Die bis heute – trotz einer im klein- und mittelbetriebsfreundlichen makrosozialen Ambiente der letzten Jahre entstandenen kaum noch überschaubaren Literatur 7 – 3
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Vgl. Kießling, Bernd, Kleinunternehmer und Politik in Deutschland. Eine Studie zur politischen Konstitution der Reproduktionsbedingungen und Erfolgschancen kleiner und mittlerer selbständiger Unternehmen in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (Volkswirtschaftliche Schriften 454), Berlin 1996, S. 59ff. sowie Mugler, Josef, Betriebswirtschaftslehre der Klein- und Mittelbetriebe, Wien, New York ³1998, S. 64. Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus, Bd. 3: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, München; Leipzig ²1916, S. 817–883; hier S. 882. Robert Heilbroner und Lester Thurow sprechen in diesem Zusammenhang sogar von „einer Art komplexer Symbiose“. Heilbroner, Robert; Thurow, Lester, Wirtschaft – Das sollte man wissen, Frankfurt a.M.; New York 2002, S. 223. Stellvertretend: Pierenkemper, Toni, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 29), München 1994, S. 29. Ein guter Überblick findet sich in Mugler, Betriebswirtschaftslehre (Anm. 3).
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Probleme bereitende Frage nach der begrifflichen Definition des Mittelstandes scheint ein eher deutsches Problem zu sein.8 Obwohl mittlerweile auch in der Bundesrepublik Deutschland keine Zweifel hinsichtlich seines volkswirtschaftlichen Stellenwertes existieren – allein im verarbeitenden Gewerbe umfasst er 95% aller Betriebe –, gibt es wohl kaum einen Begriff in der deutschen Wirtschaftsund Sozialgeschichte, der so unklar geblieben und gleichzeitig mit so hohen Erwartungen besetzt ist wie der des Mittelstandes. Bereits 1932 wurde die „babylonische Verwirrung“ des Begriffs beklagt und empfohlen, auf ihn möglichst zu verzichten.9 Das Bundeswirtschaftsministerium lehnte ihn zu Beginn der 1950er Jahre aufgrund des Konturverlustes des ehemaligen Mittelstandes durch Kriege, Inflation und Vertreibung zwar tatsächlich ab, doch tauchte er schon bald – ungeachtet aller fehlenden sozialwissenschaftlichen Präzision – in allen Regierungen in der einen oder anderen Form als fest in der Wirtschaftspolitik verankerter Begriff wieder auf. „Eine klare, eindeutige und aussagefähige Definition der Begriffe Kleinst-, Klein-, Mittel- und Großunternehmen sowie der Begriffe ,selbständiger Mittelstand‘ oder ‚mittelständische Wirtschaft‘ gibt es nicht. Die Bundesregierung hält sie“ – so 1986 die lapidare Erklärung – „auch nicht für notwendig“.10 Innerhalb der Wissenschaft konnte ein solcher „Kunterbunt-Zustand“ freilich nur schwer akzeptiert werden. Nachdem Klaus-Jürgen Gantzel 1962 knapp 200 „bemerkenswerte Definitionen oder Umschreibungen“ von Mittelstand zusammengetragen und darin ein Zeichen für die „Schwierigkeit des Begriffs“ erblickt hat, veranstaltete das Ifo-Institut München 1975 eine Tagung mit dem Zäsur setzenden Thema „Die gesamtwirtschaftliche Funktion kleiner und mittlerer Unternehmen“, wobei es darum ging, KMU als Träger des Strukturwandels zu analysieren.11 Damit trug man nicht nur den gewandelten Weltmarktverhältnissen Rechnung, sondern versuchte zugleich, mit der Begrifflichkeit von KMU bewusst von der traditionellen Betrachtung des so genannten deutschen Mittelstandsproblems Abschied zu nehmen und statt dessen eine Angleichung an internationale Begriffsstandards einzuleiten: an Begriffe des angloamerikanischen Sprachraums, wie „small firms“, „small scale business“, „small and medium-sized enterprises“ bzw. „small business“, an den in Frankreich üblichen Begriff „petites et moyennes entreprises“ oder aber – um noch ein Beispiel zu nennen – an „piccole imprese“, wie KMU in Italien heißen. Zwar besteht allgemeiner Konsens darin, durch diese terminologische Nivellierung den internationalen Kommunikationsprozess zu erleichtern, erfassen doch alle diese unterschiedlichen Begriffe – trotz durchaus im 8
Vgl. Grabas, Margrit, Selbstgewisse Identifikation mit traditionsreichen Werten. Zur Geschichte des unternehmerischen Mittelstandes in Deutschland, in: Unternehmermagazin. Zeitschrift für Familienunternehmen 2002/5, S. 12–16 sowie bereits Conze, Werner, Mittelstand, in: Otto Brunner, Ders.; Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 49–92. 9 Vgl. im Einzelnen zur Begriffsproblematik seit 1914 insbesondere Kießling, Kleinunternehmer und Politik (wie Anm. 3), S. 26–30. 10 Zitiert nach Kießling, Kleinunternehmer und Politik (Anm. 3), S. 30. 11 Siehe Karl Heinrich Oppenländer (Hrsg.), Die gesamtwirtschaftliche Funktion kleiner und mittlerer Unternehmen: Referate und Diskussionsbeiträge der Tagung vom 8. bis 10. Oktober 1975, München 1976.
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Einzelnen vorhandener Sprachnuancen – dasselbe Phänomen, nämlich rechtlich unabhängige Unternehmen mit bis zu 500 Beschäftigten, die von einem selbständigen Eigentümer-Unternehmer geführt werden. Andererseits besteht aber ebenso weitgehend Konsens darüber, dass das konstitutive Element der Organisationsstruktur des kleinen bzw. mittleren Unternehmens – die Sozialfigur des Eigentümer-Unternehmers – durch die primär auf Größenmerkmale abzielenden international üblichen Bezeichnungen unsichtbar bleibt. Insofern erstaunt es kaum, dass der eigentlich inhaltsleere Begriff „KMU“ in Deutschland – ungeachtet seiner gerade in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung üblichen Verwendung – in politischer Öffentlichkeit und gesellschaftlicher Praxis immer wieder aufs Neue von dem tief in das historische Gedächtnis der Deutschen eingelassenen und deshalb kulturell vertrauten Mittelstandsbegriff überlagert wird. Trotz seiner inhaltlichen Schwammigkeit hat er offensichtlich nichts an Integrationskraft verloren12, transportiert er doch kollektive historische Erfahrungszusammenhänge, aber auch Legenden und eignet sich insofern vorzüglich, als Schlagwort politisch instrumentalisiert zu werden. „Der Terminus Mittelstand ist einzigartig in der Welt“, kann man in der 1993 vom Institut für Mittelstandsforschung in Bonn erstellten Unternehmensgrößenstatistik lesen, denn keiner der „zur Identifizierung ähnlicher Realphänomene international gebräuchlichen Begriffe deckt all die Bedeutungskomponenten ab, die man in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Begriff des Mittelstandes bzw. seiner hier interessierenden Einengung, dem ‚wirtschaftlichen Mittelstand‘, verbindet [...] Das liegt wohl vor allem daran, dass der Begriff ‚wirtschaftlicher Mittelstand‘ sowohl quantitative als auch qualitative Merkmale umfasst, die nicht nur von rein sprachwissenschaftlichem Interesse sind, sondern die jedes für sich und in ihrer ökonomischen Verbindung für die Funktionsfähigkeit einer marktwirtschaftlichen Ordnung essentielle Bedeutung haben“.13 In der Tat haben wir mit dem Mittelstandsbegriff in Deutschland ein nirgendwo sonst existentes kategoriales Mittel zur Hand, die soziale, politische und – wie beispielhaft die Auseinandersetzung des Sulzbacher Mittelständlers Carl Appolt mit dem Bergfiskus illustriert – unter bestimmten Bedingungen auch ideologische Problematik des inhabergeführten Unternehmenssektors einer Volkswirtschaft mitzudenken. Vor allem aber, und mit Letzterem in Zusammenhang stehend, ist im Mittelstandsbegriff – bewusst oder unbewusst – letztlich immer von vornherein ein auf selektive Bewahrung tradierter Lebens- und Arbeitswelten sowie auf gesetzgeberische Sicherstellung von mittelständischer Existenz ausgerichtetes gesellschaftliches Programm intendiert, das das unternehmerische Handeln zu sozialer und ethischer, den Staat aber zu politischer Verantwortung verpflichtet. Dieser ambivalente, sowohl emanzipatorisch-offensive als auch konservativ-defensive Deutungsgehalt des deutschen Mittelstandsbegriffs erschließt sich in seiner men-
12 Vgl. Beyenburg-Weidenfeld, Ursula, Wettbewerbstheorie, Wirtschaftspolitik und Mittelstandsförderung 1948–1963. Die Mittelstandspolitik im Spannungsfeld zwischen wettbewerbstheoretischem Anspruch und wirtschaftspolitischem Pragmatismus (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte 96), Stuttgart 1992, S. 36ff. 13 Zitiert nach Kießling, Kleinunternehmer und Politik (Anm. 3), S. 26.
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talitätsprägenden und insofern kulturspezifischen Dimension14 nur aus seiner Geschichte, die wiederum untrennbar mit der von Westeuropa abweichenden, weil verspätet einsetzenden Entwicklung der Industriellen Revolution in Deutschland verkoppelt ist. Am Ende eines mehr als ein Jahrhundert umfassenden fundamentalen gesellschaftlichen Transformationsprozesses waren nicht nur alle Wesensmerkmale einer modernen industriell-marktwirtschaftlichen Gesellschaft ausgeprägt; bis 1914 hatte sich zugleich die im Allgemeinen bis heute noch mit ihm assoziierte, zwar unpräzise, jedoch stets in der einen oder anderen Weise politisch und moralisch aufgeladene Wesensbestimmung des (wirtschaftlichen) Mittelstandsbegriffs ausdifferenziert – in Wechselwirkung mit einer erstaunlich flexiblen Anpassungsfähigkeit des gewerblichen Mittelstandes an neue sozioökonomische Datenkonstellationen der um 1900 durchbrechenden Moderne. 2. DER REGIONALWIRTSCHAFTLICHE STELLENWERT VON KMU IN DER SAARREGION WÄHREND DER „GROSSEN DEPRESSION“ (1873–1895) Auch an der Saar hat sich der gewerbliche Mittelstand, der entsprechend vorstehender Begriffsdiskussion in Abhängigkeit gerade wirtschaftswissenschaftlicher Fragestellungen mithin ausreichend operational als KMU definiert werden kann, bis 1914 zu einem integralen Leistungsträger der sich modernisierenden Industrieregion entwickelt. Spielten KMU während des Take-off der Industriellen Revolution für das Wachstum der saarländischen Wirtschaft eine eher untergeordnete Rolle15, so traten sie mit Anhalten der „Großen Depression“, die sich aufgrund nachlassender Vorwärts- und Rückwärtskopplungseffekte des Eisenbahnsektors vor allem für die Montanindustrie krisenhaft gestaltete, aus dem jahrzehntelangen Schatten von Kohle und Stahl heraus.16 Durch vielfältige Marktanpassungsstrategien – insbesondere Spezialisierung der Produktpalette, aber auch organisatorische und technologische Verbesserungen des Produktionsprozesses – leisteten KMU auf diese Weise einen bislang meist unterschätzten Beitrag für die Bewältigung des damaligen volkswirtschaftlichen Strukturwandels: Die im Verlaufe der Industriellen Revolution entstandene, durch Kohle und Eisen geprägte Monostruktur der saarländischen Industrielandschaft konnte durch eine relative Expansion des vorwiegend mittelständisch organisierten verarbeitenden Gewerbes bei gleich14 Vgl. zur kulturhistorischen Dimension Berghoff, Hartmut, Historisches Relikt oder Zukunftsmodell? Kleine und mittelgroße Unternehmen in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Dieter Ziegler (Hrsg.), Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert (Bürgertum 17), Göttingen 2000, S. 249–282; hier S. 269ff. 15 Vgl. zur Industrialisierungsgeschichte der Saarregion Banken, Ralf, Die Industrialisierung der Saarregion 1815–1914, Bd. 1: Die Frühindustrialisierung 1815–1850 (Regionale Industrialisierung 1), Stuttgart 2000. 16 Siehe dazu ausführlicher Grabas, Margrit unter Mitarbeit von Frey, Paul W., Der vergessene Mittelstand. Entwicklung und Bedeutung kleiner und mittelgroßer Unternehmen an der Saar in der Zeit des krisenhaften Strukturwandels 1873 bis 1894/95, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 89 (2002), S. 41–71.
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zeitiger relativer Zurückdrängung von Bergbau und Hüttenwesen entwicklungsdynamisierend aufgebrochen werden. Absorbierte die Montanindustrie 1875 immerhin noch 52% aller Beschäftigten im sekundären Sektor, so 1895 nur noch 45,5%, wohingegen die KMU-geprägten Zweige entweder ihren Beschäftigungsanteil halten oder – wie seit den 1880er Jahren insbesondere im Baugewerbe, aber auch in der Metallverarbeitung – sogar erfolgreich ausbauen konnten. Dadurch aber wurden nicht nur langfristige, für die sozioökonomische sowie kulturelle Ausdifferenzierung der Region relevante Modernisierungseffekte freigesetzt. Auch unter mittelfristigem Aspekt war der sowohl quantitative als auch qualitative Bedeutungszuwachs von KMU folgenreich – im Geflecht mit der sich während der „Großen Depression“ ebenso modernisierenden Montanindustrie trug der mittelständische Unternehmensbereich wesentlich zum Durchbruch einer Mitte der 1890er Jahre sich überall im Deutschen Reich in der einen oder anderen Weise entfaltenden Prosperitätskonstellation bei, die wesentlich durch den Zusammenfall von Urbanisierung und Elektrifizierung bestimmt war.17 Der regionalwirtschaftliche Stellenwert von KMU soll im Folgenden anhand einiger Beispiele skizziert werden.18 Eine Reihe von KMU entstand von vornherein aufgrund der Nachfragestrukturiertheit der Montanindustrie als unentbehrlicher Zulieferbetrieb. So stellten einige Lederfabriken Treibriemen für die im Bergbau und Hüttenwesen eingesetzten Großmaschinen her. Aber auch ein Unternehmen wie die 1874 in St. Ingbert gegründete Pulverfabrik Martin fand ihren wichtigsten und zuverlässigsten Abnehmer in der Großindustrie, indem sie die im Bergbau regelmäßig benötigten Sprengstoffe herstellte. Die komplementäre Koexistenz von Groß-, Mittel- und Kleinunternehmen zeigt sich auch daran, dass sich die Mehrzahl der Betriebe in der industriellen Kernzone an der mittleren Saar in Nachbarschaft zu den Gruben und Eisenhütten ansiedelten. So ist das Gebiet der heutigen Großstadt Saarbrücken, die zum Betrachtungszeitraum noch aus den eigenständigen Städten Saarbrücken, St. Johann sowie Malstatt-Burbach bestand, überrepräsentiert, während im noch vorwiegend agrarisch geprägten St. Wendeler Raum deutlich weniger kleine und mittlere Unternehmen entstanden. Dabei muss jedoch einschränkend bemerkt werden, dass es in der geographischen Verteilung auch nach Branchen zu differenzieren gilt, da gerade auch für Unternehmen der Branche „Steine und Erden“ die Nähe zu den Rohstoffen ausschlaggebend war. KMU zeichnen sich im Allgemeinen durch ihre arbeitsplatzschaffende Innovationskraft aus, gerade in Zeiten schwerer Wirtschaftskrisen.19 Dieses Wesensmerkmal zeigte sich auch während der „Großen Depression“ an der Saar. So wur17 Vgl. Grabas, Margrit, Konjunktur und Wachstum in Deutschland von 1895 bis 1914 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 39), Berlin 1992. 18 Zum Folgenden vgl. ausführlicher Grabas, Margrit; Fuchs, Antje; Mathieu, Christian, Vielgestaltige Gewerbelandschaft an der Saar. Eine Statistik kleiner und mittlerer Unternehmen (1873–1895), Saarbrücken 2004 [http://scidok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2004/130/]. 19 Vgl. Mugler, Betriebswirtschaftslehre (Anm. 3), S. 40–44 sowie aus historischer Sicht Pohl, Hans, (Hrsg.), Mittelstand und Arbeitsmarkt. Löst der Mittelstand die Beschäftigungsprobleme der deutschen Wirtschaft? (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte – Beihefte 49), Wiesbaden 1987.
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den selbst mitten in der Gründerkrise zwischen 1873 und 1879 mehrere Unternehmen ins Leben gerufen, die sich in der Folgezeit außerordentlich erfolgreich am Markt behaupteten: 1876 gründeten z.B. der Saarbrücker Kaufmann Theodor Sehmer und der Pfälzer Ingenieur Ludwig Ehrhardt eine Maschinenfabrik, die zunächst für regionale Abnehmer wie etwa den Bergbau exakt auf deren Bedürfnisse zugeschnittene Maschinen anbot und damit eine Marktnische besetzen konnte. Auch die 1877 erfolgte Entscheidung des Zweibrücker Maschinenfabrikanten Christian Dingler, gemeinsam mit dem Saarbrücker Kommerzienrat Karl Karcher die in Konkurs befindliche St. Johanner Maschinenfabrik Kautz & Westmeyer zu übernehmen, fällt in diese krisenhaften Jahre. Schließlich waren die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Form anhaltender Deflation noch zu spüren, als sich Friedrich Bernhard Karcher 1885 als Teilhaber der Beckinger Kleineisenzeugfabrik Hetzler, Kolb & Karcher zu einem durchgreifenden Strategiewechsel und einer Neuausrichtung des Unternehmens entschloss: Hatte das Gemeinschaftsunternehmen bis zu diesem Zeitpunkt Kleineisenteile und Eisenkonstruktionen hergestellt, so spezialisierte es sich nach 1885 auf die Fertigung von Schrauben und hatte damit, wie sich schon bald herausstellen sollte, einen dynamischeren Wachstumspfad beschritten.20 Die innovative Risikofreudigkeit der genannten Unternehmerpersönlichkeiten, die zum richtigen Zeitpunkt zukunftsorientierte Weichenstellungen vorgenommen hatten, verhalfen ihren Unternehmen zu einem rasanten Aufschwung: So standen am Ende des Untersuchungszeitraumes bei Ehrhardt & Sehmer 314, in der Dinglerschen Fabrik 428 und bei Friedrich Bernhard Karcher 567 Beschäftigte in Lohn und Brot. Ein weiterer wichtiger Bestimmungsfaktor für Gründung und Entwicklung des mittelständischen Unternehmensbereichs war die Urbanisierung, in deren Verlauf sich die Städte und Industriegemeinden der Saarregion seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und hierbei vor allem seit dem letzten Drittel rasant vergrößerten. So wuchs die Bevölkerung Saarbrückens zwischen 1871 und 1900 von etwa 7.700 Einwohnern auf nahezu 19.900 Einwohner, die der Schwesterstadt St. Johann von 8.900 auf über 20.300. Die Industriegemeinde Malstatt-Burbach vergrößerte sich sogar innerhalb eines Vierteljahrhunderts von knapp 9.600 auf 31.200 Einwohner im Jahre 1900.21 Gewinner dieses Prozesses waren in erster Linie das Baugewerbe sowie die Unternehmen der Branche „Steine und Erden“. Hier wären Unternehmen wie die 1873 gegründete Kleinblittersdorfer Tonwarenfabrik von Abraham Brach oder das ein Jahr später ins Leben gerufene Falzziegelwerk im pfälzischen Bexbach ebenso wie die bereits seit 1866 in Malstatt ansässige Zementfabrik von Böcking & Dietzsch zu nennen. In zweiter Linie zogen Unternehmen der Branche „Nahrungs- und Genussmittel“ ihren Nutzen aus Bevölkerungswachstum und Verstädterung. Nicht zuletzt die zahlreichen Brauereien – von denen heute noch die seit 1878 im Besitz der Familie Weber befindliche Karlsberg-Brauerei in Homburg sowie die St. Johanner Brauerei der Familie Bruch 20 Siehe 100 Jahre Karcher Schraubenwerke GmbH Beckingen 1869–1969, Saarbrücken 1969. 21 Vgl. dazu Banken, Ralf, Die Industrialisierung der Saarregion 1815–1914, Bd. 2: Take-OffPhase und Hochindustrialisierung 1850–1914 (Regionale Industrialisierung 4), Stuttgart 2003, Tabelle A 5 (Anhang CD-Rom).
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existieren – fanden guten Absatz. Aber auch Unternehmer wie Friedrich A. Fuchs, der 1824 in Merzig eine Tabakfabrik gegründet hatte, oder Emanuel Marschall, der nur wenige Jahre später in St. Wendel mit der Tabakherstellung begann – profitierten vom starken Anwachsen der Bevölkerung während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Der in St. Arnual ansässige Fabrikant Simon wiederum stellte Palm- und Panamahüte her, die in viele Teile der Welt exportiert wurden. Schon 1868 arbeiteten für das Unternehmen 1.200 meist weibliche Arbeitskräfte, die 120.000 Palmhüte und 1.000 Panamahüte herstellten, wobei jedoch in einer Mischung aus vormoderner und moderner Fertigung ein großer Teil der Produktion in Heimarbeit und nur ein kleiner Teil in der St. Arnualer Fabrik ablief. Fanden die genannten Unternehmen ihre Abnehmer vor allem unter den Industriearbeitern oder der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung, so konnte die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründete St. Johanner Pianofortefabrik Deesz hingegen auf eine andere Klientel zurückgreifen: Sie befriedigte die im Zuge der Hochindustrialisierung wachsenden kulturellen Ansprüche sowie die Repräsentationsbedürfnisse des sich um 1900 vergrößernden Wirtschaftsbürgertums mit hochwertigen Instrumenten und machte sich einen weit über die Region hinausreichenden Namen, der nicht nur im fernen Berlin, sondern auch in Belgien und Frankreich einen guten Klang hatte. Nicht allen Unternehmen gelang es, ihre Geschichte bis ins 20. oder gar 21. Jahrhundert fortzuschreiben. Einige erlebten aufgrund veränderter Marktbedingungen einen Niedergang, der dann nicht selten dazu führte, dass mit dem Tod des Gründers oder Erbens der meist in Familienbesitz befindlichen und durch Familienmitglieder geführten Unternehmen auch das Ende des Unternehmens besiegelt war, wie 1896 im Fall der Beckinger Kleineisenzeugfabrik von Ludwig Kolb oder 1909 im Fall der bereits genannten Strohhutfabrik Simon. Einer nicht unbedeutenden Anzahl von saarländischen KMU aber gelang es, sich den wechselnden wirtschaftlichen Verhältnissen immer wieder aufs Neue flexibel, innovativ und beschäftigungsstabilisierend anzupassen – „zum Nutzen der Gegend“ (Carl Appolt). Prof. Dr. Margrit Grabas, Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Historisches Institut, Universität des Saarlandes
DER SAARKOHLENKANAL ZWISCHEN FRANKREICH UND PREUSSEN1
(MIC HAEL SANDER)
Der 1866 eröffnete Saarkohlenkanal verbindet die Saar, die im 19. Jahrhundert zuletzt nur in ihrem mittleren Lauf von Ensdorf bis Saargemünd kanalisiert war, und damit das Saarbrücker Kohlenrevier mit dem Rhein-Marne-Kanal im Weiher von Gondrexange. Es fällt auf, dass im 19. Jahrhundert nicht die vorhandenen Flüsse, also die Saar abwärts bis zur Mosel und die Mosel abwärts bis zum Rhein, zu einer modernen Wasserstraße ausgebaut wurden. Vielmehr erfolgte der Ausbau saaraufwärts und es wurde ab Saargemünd weiter den Fluss hinauf ein Seitenkanal gebaut. Dieser Kanal hat eine Vorgeschichte, die bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückreicht. Er sollte zur Zeit seiner Erbauung ein wichtiger Transportweg für den Absatz der an der Saar geförderten Steinkohlen werden. Gleichzeitig sollte er 1
Yax, Emile/Serpe, Louis, Du canal des salines lorraines au canal des houillères sarroises. Le Pays d’Albe, Nr. 35 2005, S. 33–54; Schontz, André, Les voies navigables en Lorraine. Metz 2004; Sander, Michael, Die Saarbrücker Eisenbahn zwischen Paris und Berlin. Eisenbahn und internationale Politik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Ankunft Saarbrücken Hbf… 150 Jahre Eisenbahn an der Saar. Hrsg. vom Chef der Staatskanzlei – Landesarchiv in Zusammenarbeit mit dem Historischen Museum Saar und dem Stadtarchiv Saarbrücken. Bearbeitet von Michael Sander. Saarbrücken 2002, S. 42–97; Georg, Marie-Luise, Die Kanäle in Elsaß-Lothringen. Planung, Bau und wirtschaftliche Bedeutung unter besonderer Berücksichtigung von Rhein-Marne- und Saar-Kohlen-Kanal. Grenzenlos. Historische Zeitschrift der Erwin-vonSteinbach-Stiftung 1/1999, S. 99–126; Andreas Kunz und John Armstrong (Hrsg.), Inland Navigation and Economic Development in Nineteenth-Century Europe. Mainz 1995 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 39); Fischer, Gert, Zum Handel mit Saarkohlen 1816–1850, in: Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Regionale Befunde und raumübergreifende Perspektiven. Georg Droege zum Gedenken. Köln 1994, S. 371–387; Fischer, Gert, Wirtschaftliche Strukturen am Vorabend der Industrialisierung. Der Regierungsbezirk Trier 1820–1850. Köln 1990 (= Rheinisches Archiv 125), S. 56–68; Pilger, Hugo Hermann, Die Vorgeschichte des SaarKohlenkanals. Der Staatsvertrag von 1861. Ein frühes Dokument deutsch-französischer Zusammenarbeit. Saarbrücker Bergmanns-Kalender 1971, S. 73–75; Fuchs, Konrad, Die Bemühungen der preußischen Bergbauverwaltung um den Absatz der Steinkohlenförderung des Saarreviers 1815–1900. Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 13/1963, S. 83–117; Hoppstädter, Kurt, Die Saar als Wasserstraße. Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 13/1963, S. 9–82; Körner, H., Geschichte des Saarkohlenkanals, Saarbrücker Bergmanns-Kalender 1949, S. 99–103; Tuckermann, Walther, Die verkehrsgeographische Verknüpfung der Pfalz und des Saarlandes mit dem nördlichen Elsaß und mit Lothringen. Westmärkische Abhandlungen zur Landes- und Volksforschung 4/1940, S. 48–73, hier 70–73; Le canal de la Sarre. Bulletin de la Société des Amis des Pays de la Sarre 6/1929, S. 291–298; Duvernoy, E., La Sarre navigable sous l’Ancien Régime, Bulletin de la Société des Amis des Pays de la Sarre, 5/1928; Herly, Robert, La canalisation de la Sarre, Bulletin de la Société des Amis des Pays de la Sarre 3/1926, S. 206–218; Emmelin, M., Der Saarkohlenkanal. Saarbrücker Bergmanns-Kalender 1925, S. 39–45; Jordan, B., Der Saarkanal und seine Verkehrsentwicklung. Saarbrücken 2. Aufl. 1887.
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der aufstrebenden Industrie in Frankreich die Energiekosten verringern. Dazu mussten in einer Zeit von Zollgrenzen und Handelshindernissen Regelungen über den grenzüberschreitenden Handel getroffen werden. Der Kanal hat seine absatzpolitischen Ziele nicht erreicht. Auch heute existiert er noch; er ist aber inzwischen zu einem rein touristischen Wasserweg geworden.
An der oberen Seille liegt ein Salzvorkommen, das für die Menschen schon seit der Vor- und Frühgeschichte eine wichtige Rolle spielte. Zur Gewinnung des Salzes aus dem salzhaltigen Wasser – der Sole – bedurfte es der Wärmeenergie, die durch Verbrennung von Holz gewonnen wurde. Nachdem die Wälder der Umgebung dadurch geschädigt, ja vernichtet worden waren, kam man dazu, Steinkohle zu verwenden, die sich im Revier an der Saar fand. Die Bedeutung des Wasserweges zwischen beiden Vorkommen von Bodenschätzen ist älter als die Industrialisierung des 18. und 19. Jahrhunderts. Ursprünglich galt das Interesse dem Abtransport des Salzes und der Holzvorkommen der Vogesen. Die Stämme aus den Vogesenwäldern wurden über Saar, Mosel und Rhein bis zu den Schiffswerften Hollands geflößt. Bereits am 14./24. Mai 1623 schlossen daher der Herzog von Lothringen und der Graf von Saarbrücken einen Vertrag
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über den Ausbau der Saar von Saarbrücken bis Herbitzheim.2 Die Ausführung scheiterte wegen des Dreißigjährigen Krieges. Die Energieversorgung der Lothringer Salinen führte zu Beginn der Industrialisierung zu erneuten Bemühungen um eine Wasserstraßenverbindung.3 Zur Zeit der französischen Herrschaft an der Saar zwischen 1793 und 1815 strebte man dafür den Bau eines Kanals zwischen den Gruben bei Saarbrücken und den lothringischen Salinen in Dieuze und Umgebung an. Bereits 1791 schlug ein Offizier der französischen Nationalversammlung den Bau eines Kanals auf französischer Seite zwischen der oberen Saar, der Mosel, der Maas und der Seine vor. Allerdings waren die eingeplanten Kosten dafür zu hoch. 1795 beschloss der National-Konvent die Saar bis Saarwerden, dann bis Finstingen schiffbar zu machen. Es fand sich aber keine Gesellschaft, die das notwendige Kapital aufgebracht hätte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Saarbrücker Friedrich Köllner vom Präfekten des Saardepartements wegen des Nutzens eines Saarkanals befragt worden und hatte in seinem Bericht folgendes festgestellt4: „Ohne Zweifel werden daraus große Vorteile erwachsen, aber die Klasse der Fuhrleute großen Schaden dadurch erleiden. Sie fahren bisher die Kohlen nach Dieuze, Vic, Moyenvic, und das Salz zurück; ihr Acker besteht aus schwerem Boden, und sie müssen durchaus Pferde halten. Wie können sie diese ernähren, wenn ihnen der Fuhrverkehr entzogen ist? Der Kanal würde sie auf den bloßen Landbau beschränken und ihr Gewinn dann sehr gering sein. Nur die Eigentümer der Salinen von Dieuze gewinnen durch dessen Anlagen. Die übrigen Einwohner haben keinen Vorteil davon.“
1805 wurden die Erörterungen wiederaufgenommen. Am 15. April 1806 erging ein Kaiserliches Dekret, das den Bau des „Canal des Salines“, nämlich den Ausbau der Saar bis Saaralben und den Bau eines Kanals bis zu den Salinen von Dieuze anordnete. 1808 wurde der Bau begonnen, finanziert je zur Hälfte durch den französischen Staat und eine private Gesellschaft. Dieser privaten Gesellschaft wurden auch die bisher in staatlicher Regie betriebenen Salinen und einige Kohlengruben an der Saar übertragen: Hauptanteilseigner war der kaiserliche Minister Talleyrand. Am 13. April 1812 wurden die Bauarbeiten für fünf Schleusen bei Saareinsming, Romelfing, Großblittersdorf, Bübingen und St. Arnual ausgeschrieben. Die geringe Tiefe des Ausbaus machte in jedem Falle eine Umladung in Saarbrücken notwendig. Die Niederlage Napoleons in Russland ließ die Baumaßnahmen 1813 stocken. Noch während der Hunderttageherrschaft Napoleons 1815 waren die Bauarbeiten wiederaufgenommen worden; aber das Projekt blieb dennoch unvollendet. 2
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Landesarchiv Saarbrücken, Bestand „Nassau-Saarbrücken II“, 1716: Vertrag zwischen dem Herzoge Heinrich von Lothringen und dem Grafen Ludwig von Nassau-Saarbrücken über die Regulierung und Schiffbarmachung der oberen Saar von Herbitzheim bis Saarbrücken; Unterschriften beider Fürsten. 14.–24. Mai 1623. Capot-Rey, R., Le développement économique des pays sarrois sous la Révolution et l’Empire (1792–1815), Paris 1928 (auch unter dem Titel: Quand la Sarre était française), S. 233– 241. Köllner, Friedrich, Handel und Schiffahrt zu Anfang des Jahrhunderts in Saarbrücken, in: August Krohn, Beiträge zur Geschichte der Saargegend III. (= Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend, Heft 8) Saarbrücken 1901, S. 151–153.
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Nach dem Übergang der meisten Saargruben an Preußen waren am 13. Mai 1817 und am 4. Mai 1818 Salzlieferungskontrakte mit der staatlichen Administration der östlichen Salinen geschlossen worden, die auch die Kohlenlieferung an diese Salinen regelten. Am 6. Juli 1818 fragte Berlin nach den Zusammenhängen zwischen Salz- und Kohlenlieferung und der Bedeutung des Absatzes nach Frankreich für die Saargruben.5 Hintergrund der Anfrage war die Überlegung, Frankreich durch die Belastung oder Einstellung der preußischen Kohlenlieferungen dazu zu zwingen, sein rigides Zollsystem gegenüber den ausländischen Fertigwaren zugunsten der eigenen industriellen Produktion zu mildern oder aufzuheben. Das Rheinische Oberbergamt in Bonn hielt diesen Plan nicht für aussichtsreich. In einem ausführlichen Bericht vom 8. August 1818 stellte es fest: „Aus allem diesen darf ich den Schluß ziehen, daß jede diesseitige Erschwerung der Kohlenausfuhr ganz abgesehen von den Nachtheilen, welche daraus für das Salzdebitswesen nothwendig erfolgen müssen, zweyfelhaft im Erfolge, weil Bayern schwerlich in eine solche Maasregel hinsichtlich der St. Ingberter Gruben einstimmen wird und ohne solches Einverständniß an und für sich von Preußischer Seite nichts durchgeführt werden kann – gefährlich, wenn Frankreich nicht nachgibt, sondern die Einfuhr diesseitiger metallischer Produkte standhaft verweigert und andere Quellen für das Brennmaterial auffindet und eben deshalb – nachtheilich für die erstern und künftigen Jahre für den Saarbrücker Bergbau ist, der anfangs ganz darniederliegen und in der Folge sich nicht wieder zu dem jetzigen Flor, der auf immer gehoben werden kann und wird, so lange diesseits keine veränderten Verhältnisse herbeygezogen werden, erheben würde.“
Seit den 1820er Jahren wurde in Frankreich über einen Rhein-Marne-Kanal diskutiert.6 Schon seit 1826 war diese Wasserstraße von der Marne bei Vitry-le-François über Nancy, neben der Zaberner Steige im Tal der Zorn die Vogesen durchbrechend, nach Straßburg und damit zum Rhein geplant worden. Am 3. Juli 1838 beschlossen die französischen Kammern die Finanzierung eines größeren Wasserstraßenprojektes für Frankreich, zu dem auch der Rhein-Marne-Kanal gehörte. Im Juli 1840 begann man mit dem Kanalbau im Unterelsass. Die bewilligten Mittel waren aber nicht ausreichend. Hinzu kam, dass der parallele Eisenbahnbau zu starken Widerständen gegen weitere Mittelbewilligungen führte. 1844 wurden die Bauarbeiten sogar eingestellt. Neben den geringeren Transportkosten für die Industrie wurden in der Debatte auch andere Argumente angeführt. Der Rhein-Marne-Kanal sollte Teil einer Binnenschifffahrtsverbindung vom Kanal oder vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer werden. Während Preußen an einer deutschen Zollvereinigung arbeitete, sollte der Kanal eine Verbindung Frankreichs nach Süddeutschland herstellen. Außerdem sah man in dem Kanal auch ein strategisches Mittel: Nachdem die Verträge von 1815 Frankreich die mittlere Saar genommen hatten, sollte der Kanal die Wasser der Saar in die Seille und nach Metz leiten und damit Preußen dieses 5 6
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, I. Hauptabteilung, Repositur 121 F, Titel III, Sektion 2, Nr. 131: Der Debit der Steinkohlen und Koks der Saarbrücker Steinkohlen-Gruben (1816-1826). Archives départementales de la Moselle Metz, 1 S 270 Canal de la Sarre, an 13–1870: darin: Corps Législatif, session 1859, No 313, Annexe au procès-verbal de la séance du 23. mai 1859: Projet de Loi betr. Saarkohlenkanal und Seitenkanal nach Colmar.
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Wasser nehmen. So sollte ermöglicht werden, aus der Seille eine militärische Barriere zu machen und das „Loch von Saarlouis“ zu schließen. Das Gesetz vom 5. Mai 1846 ermöglichte den Weiterbau des Kanals. Am 2. Oktober 1838 setzte sich der Generalrat des Moseldepartements M. Lallemand für den Bau eines Saarkohlenkanals zum Anschluss an den Rhein-Marne-Kanal ein. Durch den Ingenieur Juquiné wurden Untersuchungen über den Streckenverlauf vorgenommen. Am 16. November 1839 baten Eduard Koechlin, Mitglied der Industriellenfamilie Koechlin aus Mülhausen, die neben einem Textilunternehmen auch führend an der Eisenbahn Straßburg–Basel beteiligt war und später ein bedeutendes Maschinenbauunternehmen, das Dampflokomotiven herstellte, aufbaute und der leitende Ingenieur Chaperon desselben Eisenbahnunternehmens den Landrat von Saarbrücken Hesse bei einem Besuch in dessen Amtssitz um die Erlaubnis für Vermessungsarbeiten zur Erarbeitung eines Bauprojektes.7 Hesse bat um eine wohlwollende Prüfung durch den Regierungspräsidenten in Trier. Weiter bemerkte er: „Das Unternehmen überhaupt anlangend, so dürfte die Ersprießlichkeit dessen für die hiesigen Landes-Interessen kaum eines weiteren Grundes bedürfen; namentlich würde die k. Bergwerks-Verwaltung dasselbe für den Steinkohlen-Debit in hohem Maas vortheilhaft finden, und darin einen willkommenen Ersatz für das aufgegebene Project einer directen EisenbahnVerbindung zwischen hier und Straßburg sehen. Eine günstige Ansicht von der Sache an sich Seitens der diesseitigen Staats-Regierung scheint also kaum bezweifelt werden zu können.“
Am 18. Dezember 1839 erklärte die Regierung in Trier, dass man bereits ein Nivellement von Mosel und Saar plane und dieses bis zur französischen Grenze fortführen werde. Die Daten würden dann der Firma Koechlin mitgeteilt, was am 20. März 1840 geschah. Am 23. November 1840 forderte die Handelskammer in Straßburg einen Vertrag mit Preußen über den Bau des Saarkohlenkanals, in dem dieses einen festen Kohlenpreis zusage und garantiere, dass kein Ausfuhrzoll auf Kohlen erhoben werde. Am 6. September 1841 genehmigte der Generalrat der Direction des Ponts et Chaussées den Bau des Saarkohlenkanals zu einem Betrag von 10 Millionen Franken. Allerdings war Frankreichs Finanzlage wegen zahlreicher Infrastrukturprojekte schlecht. Da 1845 eine Nachforderung von 30 Millionen Franken für den Rhein-Marne-Kanal von den Kammern genehmigt werden musste, sollte der für den Saarkohlenkanal notwendige Betrag dazugerechnet werden. Trotz des Widerstandes der Ostbahngesellschaft engagierten sich zahlreiche Industrielle aus dem Elsass von Mülhausen bis Buchsweiler und aus dem Moseldepartement für den Kanalbau. Der Bau sollte schließlich durch diese Interessenten finanziert werden, wobei der Staat einen Zins von 4 % garantierte. Am 20. Mai 1843 wurde ein entsprechendes Gesetz in Paris verabschiedet. Am 6. Dezember 1843 wandte sich die französische Gesandtschaft in Berlin offiziell an Außenminister von Bülow.8 Seit 1841 gebe es ein Vorprojekt zur Verbin7 8
Landesarchiv Saarbrücken, Bestand „Landratsamt Saarbrücken“, Nr. 167. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, III. Hauptabteilung, Abteilung II, Nr. 6390: Die Verhandlungen wegen Schiffbarmachung der Saar (Aug. 1843–Juni 1861); I. Hauptabteilung, Repositur 89, Nr. 29161: Die Saar, sowie Herstellung einer schiffbaren Ver-
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dung des Rhein-Marne-Kanals mit den Kohlengruben bei Saarbrücken. Einziges Ziel dieses Kanalbaus sei es, die Saarbrücker Kohlengruben näher an die französischen Grenzdepartements heranzubringen. Daher gebe es für Frankreich gewisse notwendige Bedingungen für die Durchführung dieses Projektes, damit der Nutzen für die französische Industrie den aufzuwendenden Kosten entspreche. Preußen, das kein geringes Interesse am Absatz seiner Kohlen in Frankreich habe, werde sicherlich diese Bedingungen unterschreiben. Am 30. April 1844 baten Außenminister von Bülow und Finanzminister von Flottwell den König Friedrich Wilhelm IV. um Erlaubnis, die Verhandlungen mit Frankreich aufnehmen zu können. Nach einer Schilderung der französischen Projekte und Absichten stellten die Minister fest: „In Beziehung auf den Bergbau findet auch der Berghauptmann von Dechen zu Bonn bei der Erleichterung und Ausdehnung des Kohlen-Absatzes nach den angrenzenden französischen Departements kein Bedenken, indem die Kohlenlager der diesseitigen Saar so große Vorräthe dieses Brennstoffes haben, dass deren Erschöpfung durch zu starken Bergbau nicht braucht besorgt zu werden. Zwar ist sonst wohl geäußert, der erweiterte Bezug der Kohlen werde in den angrenzenden französischen Departements einen weiteren Aufschwung der Industrie herbeiführen, Frankreich in seinem handelsfeindlichen Isolirungs-Systeme befestigen, am Ende gar die diesseitigen Fabriken mit neuer gefährlicher Concurrenz bedrohen; indeß vermögen wir so weit gehende Besorgnisse nicht für begründet zu erachten. Auch die in der Saargegend diesseits schon angeregte Besorgniß, es möchten, bei Ausführung des Plans, die Flößerei auf dem oberen Theile der Preußischen Saar erschwert, und durch Kanalisirung und Anlegung von Schleusen die Wasserzuflüsse vermindert werden, ist dahin zu stellen, solange nicht ein Näheres darüber vorliegt. Dagegen ist andererseits die Verbesserung und Vermehrung der Communicationsmittel zwischen den Fabrikgegenden Frankreichs und den Kohlen-Bezirken von Saarbrücken so im diesseitigen Interesse, dass sich dadurch, nach unserem ehrfurchtsvollen Dafürhalten, die Verwendung der zu den diesseitigen Arbeiten erforderlichen Geldmittel wohl rechtfertigen würde, falls in der Sache ein angemessener Vertrag mit Frankreich zustande käme.“
Über die handelspolitischen Forderungen Frankreichs sollte verhandelt werden. Die Forderungen nach besonderen Kohlenmagazinen seien zu kostspielig und die französischen Abnehmer sollten nicht gegenüber anderen begünstigt werden. Eine Fixierung der Preise sei nicht möglich. Ausfuhrzölle gebe es im Deutschen Zollverein keine. Mit dem Wasser der oberen Saar solle schonend umgegangen werden. Die preußische Regierung kam in diesem Falle Frankreich wesentlich weiter entgegen als bei den Verhandlungen um die Eisenbahnverbindungen. Finanzminister von Bodelschwingh hatte am 14. Dezember 1843 im internen Briefwechsel folgende Bemerkung gemacht: „Ich kann dabei nicht unbemerkt lassen, dass es in mehrfacher Beziehung räthlich erscheinen dürfte, jenem Gouvernement in dieser Beziehung mindestens Willfährigkeit zu bezeugen, theils um nicht dessen Lüsternheit nach unseren reichen Steinkohlenlagern zu steigern, theils um solche Vorkehrungen zu verhindern, welche durch Erleichterung der Zufuhr aus dem Süden Frankreichs den Absatz des diesseitigen Products für die Französischen Grenz-Provinzen mehr und mehr entbehrlich machen könnte, indem nach deren Ausführung dem diesseitigen Absatz nach Frankreich durch Erhöhung des Einfuhr-Zolles dann leicht der Todesstoß gegeben werden könnte.“ bindung zwischen dem Rhein-Marne-Kanal und der Saar (Saar-Kohlen-Kanal) 1837–1862.
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Im Laufe des Jahres 1844 wurden die Verhandlungen eröffnet. Bereits vom 2. bis 4. Dezember 1844 fand in Saarbrücken eine Konferenz über den Bau des Saarkohlenkanals statt. Eine Gesellschaft, an der unter anderen der Sulzbacher Unternehmer Karl Vopelius und der Buchsweiler Bergwerks- und Hüttenbesitzer Schattenmann beteiligt waren, war bereit den Kanal zu bauen. Der Trierer Regierungspräsident und der Regierungsbaurat Hoff waren der Ansicht, dass auf der Saarstrecke von Saargemünd bis Saarbrücken keine Kanalisierung des Flusslaufes möglich sei, sondern dass ein Seitenkanal gebaut werden müsse. Dieser sollte auf französischer Seite gelegen sein, so dass die gemeinsam zu bauende Strecke wegfalle und der von Preußen zu bauende Teil sich verringere Am 7. März 1845 wandten sich 47 Saarbrücker und St. Johanner Bürger an den preußischen Finanzminister von Flottwell, um gegen den Kanalbau zu protestieren. Sie hielten ihn für gefährlich für den Schiffs- und Handelsverkehr auf der Saar. Die Folgen für die Wasserführung der Saar würden auch die Verteidigungsfähigkeit von Saarlouis bedrohen. Man hoffte auf die Verhinderung des Kanalbaues: „Man hält sogar dafür, daß die Vollendung des Rhein-Marne-Kanals niemals von den Kammern genehmigt werden wird, wenn dem Ministerium die Vorlage des Projekts eines Saarkanals nicht zu Hülfe kommt. Da nun die Ausführung dieses letzteren ohne Zustimmung unserer hohen Staatsregierung nicht erfolgen kann, so ist auch der Rhein-Marne-Kanal von hochderen Entscheidung indirekt abhängig.“ „Saarbrücken hat zwar allerdings eine günstige Lage; sie muß aber auch benutzt werden, wenn sie Vortheil bringen soll, was offenbar nicht der Fall ist, wenn wir, wie z. B. durch Entziehung der Posten, außer Verbindung gesetzt werden oder gar unsere wichtigste Verkehrsstraße, die untere Saar, zu Gunsten eines Nachbarlandes verkümmern soll, das in seiner Handelspolitik uns überall feindlich entgegen tritt. Noch viel umfassendere Nachtheile sind aber von den projektirten Kanalbauten für unsere Gegend zu befürchten, wenn dieselben schon jetzt von unserer hohen Regierung zugelassen werden.“
Wenn der Bau eines Verkehrsweges ins Elsass im Interesse des preußischen Bergbaues liege, so sollte dies eine Eisenbahn und kein Kanal sein, da jene mehr Vorteile durch einen ununterbrochenen Verkehr ohne Umladungen und durch den Personenverkehr biete Die Eingaben stießen auf den heftigen Widerstand der preußischen Staatsregierung und des Trierer Regierungspräsidenten. Das preußische Handelsamt stellte am 30. Mai 1845 fest. „Beide Projecte [- der Kanalbau und der Eisenbahnbau – M.S.] werden für die Stadt Saarbrücken unzweifelhaft von unberechenbarem Vortheil sein, indem dieselbe zum Mittelpunkte eines großartigen Transitverkehrs aus den nördlichen Departements Frankreichs nach dem Süden, nach dem Elsaß, Baden, Württemberg und der Schweiz erhoben und die ergiebige Ausbeute der Kohlenwerke durch einen erweiterten Debit nach Frankreich auf das Vortheilhafteste verwerthet wird.“
Ende 1846 wurden die diplomatischen Verhandlungen mit Frankreich abgebrochen, wie im folgenden Jahr auch die Verhandlungen über einen Vertrag wegen der Eisenbahnverbindung nach Metz. Die politischen Spannungen in beiden Ländern im Vorfeld der Revolutionen des Jahres 1848 ließen die handelspolitischen Gespräche in den Hintergrund treten. 1849 wurden die Verhandlungen wegen der Eisenbahnverbindung wieder aufgenommen. Im November 1852 wurde die Eisen-
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bahnstrecke Metz–Saarbrücken–Ludwigshafen in ihrem gesamten Verlauf eröffnet. Der Vertrag mit Bayern vom 30. März 18509 enthielt keine Bestimmungen über den Bezug von Kohlen durch die Pfälzische Ludwigsbahn. Aufgrund des Deutschen Zollvereins waren keine Handelsbestimmungen notwendig. Mit Frankreich wurde kein Staatsvertrag über Handelsfragen geschlossen. Die technischen Probleme wurden auf unterer Ebene geklärt. Nachdem 1853 der Verkehr auf dem Rhein-Marne-Kanal aufgenommen worden war, begann man erst 1859 wieder über den Saarkohlenkanal zu reden. Am 14. Februar 1858 sprach eine Delegation aus den östlichen Departements bei dem Minister für öffentliche Arbeiten in Paris vor. Ihre Sprecher waren der Saargemünder Baron de Geiger und der Buchsweiler Unternehmer Schattenmann. Trotz der Konzessionserteilung für eine Eisenbahn von Kocheren nach Saarburg an die Ostbahngesellschaft setzten sie sich für den Bau des Saarkohlenkanals ein. Da die Finanzmittel des Staates durch zahlreiche Infrastrukturinvestitionen stark belastet waren, boten die Vertreter der Departements an, das notwendige Kapital selbst aufzubringen. Bereits am 2. Mai konnten sie dem Minister einen Erfolg melden: 7 Mill. Franken waren gezeichnet. Monsieur Schattenmann erklärte: „La Souscription était une oeuvre d’autant plus difficile que l’industrie qui a toujours besoin de ses capitaux, même dans les temps prospères, se trouve aujourd’hui dans une situation critique par suite de plusieurs années de cherté des subsistances et de la crise financière que nous avons traversée. Cette crise a paralysé les affaires qui n’ont pas encore repris leur activité ordinaire. Mais le besoin d’obtenir de la houille à bon marché est tellement senti, il est si grand et si pressant que les industriels, malgré les embarras qu’ils éprouvent, se sont empressés de prendre part à la souscription.“
Am 14. Oktober 1859 forderte der französische Außenminister Graf Walewski den französischen Gesandten in Berlin auf, die Verhandlungen mit Preußen wieder zu beginnen. Dies solle beschleunigt geschehen, da die Regierung in der nächsten Sitzungsperiode den Kammern einen Gesetzentwurf über den Bau des Saarkohlenkanals vorlegen werde, der eine Finanzierung durch die Stadt Colmar und die wichtigsten Industriellen der östlichen Departements vorsehen sollte. Er halte eine Vereinbarung mit Preußen bis dahin für möglich, da man in der Sache sich bereits einig gewesen sei und nur der Vertrag fehle. Im Gegensatz zu den Verhandlungen über die grenzüberschreitende Eisenbahnverbindung war die preußische Staatsregierung beim Bau des Saarkohlenkanals zu handelspolitischen Konzessionen bereit. Der preußische Handelsminister von der Heydt betonte am 23. November 1859 gegenüber dem preußischen Außenminister die Wichtigkeit des Projekts und erklärte, dass er bereits Planungen angeordnet habe. Am 30. März 1860 erklärte der französische Außenminister Thouvenel, dass die technischen Kommissionen erst zusammentreten könnten, wenn die Handelsfragen geklärt seien, damit der Nutzen für die Industrie im Osten des Kaiserreichs durch die Verringerung der Transportkosten nicht durch Maßnahmen der preußischen Regierung, wie Preiserhöhungen oder eine Ausfuhrabgabe, neutralisiert würden. Der Vertrag solle neben der Zusage der Weiterführung 9
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des Kanals auf preußischem Gebiet und gleichen Bedingungen für die Schifffahrt folgende Zusagen enthalten: - die Errichtung von Kohlelagern an der Saar, die immer mit allen Kohlensorten versehen sein sollten, - die Festsetzung eines Kohlepreises für Frankreich auf 1 Franken für 100 kg auf 20 Jahre nach Eröffnung des Kanals, - keine höheren Preise für Frankreich als für alle anderen Käufer, - kein Ausfuhrzoll für Kohlen, - keine höheren Schifffahrtsgebühren auf dem preußischen Teil des Kanals, - kein Durchgangszoll für französische Kohlen aus dem Moseldepartement. Preußen war zu weitgehenden Konzessionen bereit. Am 4. April 1861 wurde der Vertrag abgeschlossen. Neben den Bestimmungen über den Bau des Kanals enthielt er für Frankreich günstige handelspolitische Bestimmungen, die Kohlenniederlagen am Ufer der Saar wurden zugestanden und eine Meistbegünstigung Frankreichs bei Preisen, Abgaben und Zöllen. Am 21. Mai 1859 wurde das französische Gesetz in den Kammern eingebracht10, am 6. April 1861 wurde es verabschiedet. Der Vertrag mit Preußen wurde zwei Tage früher, am 4. April 1861, unterzeichnet. Die Erörterung der technischen Fragen war zurückgestellt worden. Bei der Ratifizierung des Vertrages im Preußischen Abgeordnetenhaus am 1. Juni 1861 gab es deshalb Schwierigkeiten.11 Da die technischen Unterlagen fehlten, lagen keine exakten Kostenberechnungen vor. Einige Abgeordneten forderten daher eine Verschiebung der Verabschiedung, um Klarheit über die finanziellen Konsequenzen zu schaffen. Abschreckendes Beispiel war dabei die Kostensteigerung beim Bau der Rhein-Nahe-Bahn. Leopold Sello, der frühere Leiter der Saarbrücker Gruben, setzte sich dagegen für die Ratifizierung ein, „weil ich eine Verbindung der Saar mit dem Französischen Kanalsystem als ein in jeder Beziehung vortheilhaftes Unternehmen ansehen muß“. Er sprach von den Vorteilen „die der Kanal nicht nur den Kohlengruben, sondern auch der ganzen Gegend bringen wird“. Außenminister Freiherr von Schleinitz betonte die Konsequenzen, die die Ablehnung eines geschlossenen Vertrages auf die Beziehungen mit Frankreich haben werde, mit dem man gerade in Verhandlungen über einen Freihandelsvertrag stand. Er wies „auf einen gewissen, wenn auch nicht formellen, doch thatsächlichen Zusammenhang [hin ... M.S.], welcher zwischen dem vorliegenden Vertrage und den gegenwärtig im Gange befindlichen kommerziellen Verhandlungen mit Frankreich besteht, und zwar insofern besteht, als mit Grund zu besorgen ist, daß die Nichtannahme dieses Vertrages auch auf die in Rede stehenden Verhandlungen einen sehr störenden, hemmenden und erschwerenden Einfluß ausüben würde, ja möglicherweise ein wesentliches Moment für das Nichtzustandekommen dieser eben so schwierigen als wichtigen Negoziation werden könnte.“ 10 Archives départementales de la Moselle Metz, 1 S 270 Canal de la Sarre, an 13–1870: darin: Corps Législatif, session 1859, No 313, Annexe au procès-verbal de la séance du 23. mai 1859: Projet de Loi betr. Saarkohlenkanal und Seitenkanal nach Colmar. 11 Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 27. Dezember 1860 einberufenen beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten: 1. Lesung, 43. Sitzung, S. 977–978; 2. Lesung, 61. Sitzung vom 1. Juni 1861, S. 1541–1555.
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Der Vertrag wurde schließlich ratifiziert.12 Am 23. Januar 1860 waren zwischen England und Frankreich die CobdenVerträge geschlossen worden, die mit drastischen Zollsenkungen die Einführung des Freihandels in Europa einleiteten. Preußen und der Deutsche Zollverein wollten diesen Freihandelsraum auch auf Deutschland ausdehnen. Am 29. März 1862 wurde der Handelsvertrag Preußens mit Frankreich paraphiert, am 1. Januar 1866 trat er in Kraft. Damit wurde die Aufhebung der seit 1815 beklagten Handelshindernisse für den Export nach Frankreich erreicht. Erst am 17. Februar 1862 konnte das technisch ausgearbeitete Projekt vorgelegt werden. Vom Bau eines Kanals von Saargemünd aus abwärts ging man ab. Stattdessen wurde der Fluss aufgestaut und das Flussbett entsprechend ausgebaggert. Der Bauleiter L. Hagen berichtete in der Zeitschrift für Bauwesen von 1866 über die Gründe.13 Da Kanäle wegen der geringeren Fließgeschwindigkeit im Winter leichter zufrieren, sei der kanalisierte Fluss dann vorzuziehen, wenn er einen vom Kanal unabhängigen Verkehr biete, wie es auf der Strecke bis Saargemünd der Fall sei, wo bereits eine bedeutende kohlenverbrauchende Industrie liege. Wegen der Lage der Ortschaften und des Tales sei der Kanal nur mit großen Problemen zu bauen. Der kanalisierte Fluss seinerseits erfordere umfangreiche Baggerarbeiten, da jedes Hochwasser Materialien anspüle, die die Tiefe der Fahrrinne verringerten. „Ueberdies ist der obere Theil der Saar für eine Canalisirung so geeignet, wie gewiß selten ein Fluß, da das Bette der Saar von Saargemünd bis Saarlouis herab 16 bis 20 Fuß tief in das Thal eingeschnitten ist, so daß das Einbauen der Wehre auf die oberhalb liegenden Ländereien und Culturen gar keinen nachtheiligen Einfluß ausüben konnte, wie dies bei andern Flüssen, wo die Ufer flach sind, und die Thalsohle nur wenig über dem mittlern Wasserstand des Flusses liegt, meistens der Fall zu sein pflegt.“
Beim Ausbau der Saar zwischen Saargemünd und Luisenthal konnten die noch stehenden fünf alten Schleusen der napoleonischen Bauphase nicht genutzt werden, da ihre Abmessungen zu gering waren. Ihre Steine wurden zum Bau der neuen Schleusen verwandt. Die Wehre der Mühlen in Saargemünd, Wölferdingen und Großblittersdorf konnten weiterverwendet werden. Sie wurden nur verstärkt. Die Bauarbeiten auf der Strecke, wo die Saar die Grenze zwischen Frankreich und Preußen bildete, wurden von Frankreich durchgeführt. Die Hälfte der Baukosten wurde aber Frankreich durch die preußische Regierung erstattet. Die Bauarbeiten begannen im Februar 1862. Am 12. Juni 1865 konnte der Schiffsverkehr zwischen Luisenthal und Saargemünd eröffnet werden. Der Bau des Kanals auf französischem Gebiet dauerte etwas länger. Am 1. Juni 1866 wurde der Verkehr auf der gesamten Kanalstrecke aufgenommen. Am 25. Mai 1866 hatte der Preußische Botschafter in Paris dem preußischen Außenminister die französische Bitte an die Kohlengruben übermittelt, sich um Beschaffung ausreichender Kohlenvorräte zur Beladung der Schiffe zu bemü-
12 4. April 1861 Vertrag wegen Herstellung des Saarkohlen-Kanals zwischen Preußen und Frankreich. Preußische Gesetzessammlung, S. 733. 13 Hagen, L., Die Canalisation der oberen Saar, Zeitschrift für Bauwesen 16/1866, Heft I-III.
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hen.14 Auf eine feierliche Eröffnung des Kanals wurde wegen der internationalen Spannungen verzichtet. Die deutschen Einigungskriege standen vor der Tür. Am Tage der Eröffnung eskalierte der Konflikt zwischen Österreich und Preußen auf dem Bundestag in Frankfurt und führte wenige Tage später zum Krieg. Die Herstellung der Handels- und Verkehrsverbindungen brachte nicht, wie erhofft, friedliche Zeiten. Aufgrund der geringeren Kohlenvorräte Frankreichs war dieses Land seit Beginn der Industrialisierung daran interessiert, den Bezug dieser wichtigen Energiequelle auch aus dem angrenzenden Ausland zu sichern. Bereits während der französischen Herrschaft im linksrheinischen Gebiet hatte die französische Regierung durch den Bau eines Salinenkanals die Versorgung der Salinen bei Dieuze mit Saarkohle zu sichern versucht. Nach dem Ende des Napoleonischen Kaiserreiches hatten diese Salinen sofort Lieferverträge mit der preußischen Bergverwaltung abgeschlossen. Bereits seit den 1830er Jahren suchten französische Industrielle und Bankiers aus Metz und aus dem blühenden Industriezentrum des Oberelsasses um Mülhausen durch den Ausbau von Verkehrswegen – von Eisenbahnen oder Kanälen – die Energieversorgung ihrer Unternehmen mit Saarkohle zu erleichtern und die Transportkosten zu senken. Als in den 1840er Jahren die Verhandlungen zwischen den Regierungen über den Bau von Eisenbahnen und den Bau des Saaarkohlenkanals begannen, suchte die französische Regierung in den Verträgen den Bezug der Saarkohlen zu günstigen Preisen auf staatlichem Wege zu sichern. Die preußische Regierung – gleichzeitig Vertreter eines Staates und Bergbauunternehmer an der Saar – gab diesen Bestrebungen nur teilweise nach. Die Annexion Elsass-Lothringens 1871 löste die Verbindungen zwischen den Gruben an der Saar und der französisch gebliebenen Industrie zu einem Teil auf. Der Saarkohlenkanal gewann für den Absatz der Saarkohlen nicht die Bedeutung, die seine Befürworter erwartet hatten. Alexander Tille, von 1903 bis 1912 Geschäftsführer der Handelskammer Saarbrücken, stellte 1907 fest:15 „So blieb der Saarkohlenkanal lediglich ein Sicherheitsventil, durch das der staatliche Saarkohlenbergbau den Überschuß an Kohlenerzeugung abblies, den er im Inlande nicht unterzubringen vermochte. Er wurde niemals eine selbständige wirtschaftliche Verkehrsgröße.“ Alexander Tille setzte sich während seiner Amtszeit für einen Ausbau der Mosel und der unteren Saar zur Schifffahrtsstraße ein, nachdem der 1901 verstorbene Freiherr von Stumm-Halberg über lange Jahre einen solchen Ausbau abgelehnt hatte. Michael Sander, Archivar im Landesarchiv Saarbrücken
14 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, III. Hauptabteilung, Abteilung II, Nr. 6391: Die Verhandlungen wegen Schiffbarmachung der Saar. Mai 1861–Dez. 1866. 15 Tille, Alexander, Zur Geschichte der Saarflößerei und Saarschiffahrt. Saarbrücken 1907 (= Südwestdeutsche Wirtschaftsfragen, Heft 7), S. 39.
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DATEN ZUM SAARKOHLENKANAL Länge
Schleusen
Gefälle
Gondrexange–Saargemünd
63 km
27
73 m
Saargemünd–Güdingen (Schleusen Saargemünd, Welferdingen, Blittersdorf)
12,5 km 3
8m
Güdingen–Luisenthal (Schleusen Güdingen, Saarbrücken, Luisenthal)
14 km
3
5,4 m
Luisenthal–Ensdorf (Schleusen Wehrden, Bous, Ensdorf)
17,5 km 3
5,1 m
Gesamt
107 km 36
90 m (266–176m)
Schleusen
5,20 m Breite
34,50 m Länge
Kanalbett
10 m Sohlenbreite 1,60 m Tiefe
15 m Oberflächenbreite
Schiffe
1,40 m Tiefgang
200 t Tragfähigkeit
KOSTEN DES SAARKOHLENKANALS Gondrexange–Saargemünd
Frankreich
12 Mill. Franken = 9,6 Mill. Mark
Saargemünd–Güdingen
gemeinsam
1,3 Mill. Mark (650.000 Mark von Preußen an Frankreich gezahlt)
Güdingen–Luisenthal
Preußen
3,6 Mill. Mark
Luisenthal–Ensdorf (Ausbau 1875–1879)
Preußen
2,5 Mill. Mark
DIE FRANZÖSISCHEN FILMTAGE IN ST. INGBERT
(ADOLF KIM MEL)
Jede Tour de France beginnt mit einem Prolog. Welche Ecke Deutschlands wäre dafür geeigneter als das Saarland, das „Tor zu Frankreich“ (glücklicherweise nicht mehr das Einfallstor)? Das gilt nicht nur für die Tour der Radler, sondern auch, ja erst recht für eine historische, kulturelle Tour de France. Und die Französischen Filmtage in St. Ingbert erscheinen als ein besonders gut geeigneter Ort für einen solchen kulturell-historischen Prolog.1 Die Französischen Filmtage finden jährlich seit 1996 in St. Ingbert statt, einer Mittelstadt mit knapp 40.000 Einwohnern, etwa 15 km östlich von Saarbrücken, heute an der ICE-Strecke Paris–Frankfurt/Main und an der früheren Heerstraße Napoleons Paris–Berlin–Moskau gelegen. (Die wichtigste St. Ingberter Geschäftsstraße, die Kaiserstraße, ist nach ihm und nicht nach einem Hohenzollern benannt…) Ort dieser deutsch-französischen Begegnung ist ein kommunales Kino, die Kinowerkstatt in der ehemaligen Pfarrgassschule, einem in seinem Interieur ziemlich heruntergekommenen Gebäude. Das Kino, aus zwei ehemaligen Klassenräumen gebildet, hat etwa 100 Plätze und strahlt einen ganz eigenen Charme aus. Die etwa ein halbes Jahrhundert alte Bestuhlung, ein Geschenk des Saarbrücker Theaters, und die Vorführkabine erinnern unwillkürlich an den Film „Cinema Paradiso“, der die Geschichte des Kinos in einem sizilianischen Dorf in den 40er Jahren erzählt, und sie lassen ähnliche Nostalgiegefühle aufkommen. Nur die Graffiti an den Wänden sind jüngeren Datums … Die Filmtage gehen zurück auf eine Idee und Initiative zweier kulturell engagierter Ehepaare. Anlass war das 15jährige Bestehen der Partnerschaft zwischen St. Herblain (bei Nantes) und St. Ingbert. Das Motiv war die für einen an französischer Kultur interessierten Deutschen betrübliche Erfahrung, dass nur wenige französische Filme in ihrer Originalfassung den Sprung über die Grenze, in einen deutschen Kinosaal schaffen. Wunsch und Absicht war die Förderung der Zweisprachigkeit im Saarland (einer der Initiatoren ist pensionierter Französischlehrer), die, entgegen einem sich im „Reich“ hartnäckig haltenden Gerücht, noch nicht ganz die gesamte Saarbevölkerung erfasst hat (wenn in einem deutsch-französischem Sujet ausnahmsweise ein britisches understatement erlaubt ist). Um die interessierten Saarländer (mitunter, aber fälschlicherweise als Saarfranzosen bezeichnet) nicht zu überfordern, sollten die Filme freilich wenn möglich mit deutschen Untertiteln gezeigt werden. 1
Dem Aufsatz liegen die Tagebucheintragungen von Rechtsanwalt Heinrich Klein zugrunde. Er hat zusammen mit seiner Frau und dem Ehepaar Heinrich und Helene Schmitt die Filmtage ins Leben gerufen. Die Aufzeichnungen wurden ergänzt durch Gespräche mit Herrn Klein und Herrn Schmitt sowie mit Herrn Wolfgang Kraus, dem Betreiber der Kinowerkstatt. Schließlich fließen eigene Beobachtungen des Verfassers durch regelmäßige Teilnahme an den Filmtagen ein.
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Die Filmtage finden jeweils von Freitag bis Sonntag statt. Sie werden organisiert von den beiden schon erwähnten Ehepaaren und dem Betreiber der Kinowerkstatt, während einiger Jahre in Zusammenarbeit mit dem Institut d’Etudes Françaises in Saarbrücken. Sie stellen das Programm zusammen und wählen die Filme aus. Auf den Filmtagen werden ausschließlich französische Filme gezeigt, jeweils fünf bis sieben, im Original, mit oder auch ohne Untertitel, oder in deutscher Fassung. Die Besucher hatten im vergangenen Jahrzehnt Gelegenheit, Filme von nahezu allen bedeutenden französischen Regisseuren zu sehen: von René Clair bis Alain Resnais, von Jean Renoir bis Jean-Luc Godard, von Marcel Carné bis Louis Malle, von Luc Besson bis François Truffaut, von Jacques Tati bis Agnès Varda etc. Kaum einer der Filme, der seinen festen Platz in der französischen (und nicht nur in der französischen) Filmgeschichte hat, fehlt. Es wäre müßig, alle diese Klassiker hier noch einmal aufzuzählen. Oft wählen die Veranstalter ein Rahmenthema für die Filmtage: Individuum und Gesellschaft; Stadt und Land; Das Bild der Frau; Paris; Krieg und Frieden etc. Viele der Filme behandeln gesellschaftliche Probleme oder thematisieren Ereignisse aus der französischen Geschichte. Dabei kommen immer wieder auch die deutsch-französischen Beziehungen zur Sprache, meist in ihren konfliktbetonten Phasen. Aber es fehlen auch nicht Abenteuer- und Liebesfilme oder Künstlerporträts (z.B. Le salaire de la peur; Jules et Jim; Van Gogh, Camille Claudel), für die man keinen historisch-gesellschaftskritischen Bezug zu bemühen braucht. Auf den zweiten Filmtagen 1997 gab es Streifen aus der Zeit zu sehen, „als die Bilder laufen lernten“: Stummfilme aus den Anfangsjahren des Kinos, u.a. Kurzfilme der Brüder Lumière selbst, am schon betagten Klavier von einem Pianisten aus St. Herblain live „vertont“. Zur Konkretisierung und Veranschaulichung sei ein näherer Blick auf die ersten und die letzten Filmtage geworfen. Bereits der Eröffnungsfilm 1996 zeigt die Absicht und den Mut der Veranstalter, Filme zu zeigen, die – zumindest hierzulande – nur schwer das breite Publikum erreichen. „La haine“ von Matthieu Kassovitz schildert die Situation arbeitsloser Jugendlicher, vor allem nordafrikanischer Herkunft, in der Pariser Banlieue und die Konfrontation mit der Polizei. Geradezu prophetisch lässt der Film die Revolte vom Herbst 2005 erahnen, trägt jedenfalls zu ihrem Verständnis bei. Daneben gab es aber auch „Die Bartholomäusnacht“, einen typisch französischen Historienfilm, oder „Van Gogh“ zu sehen. Bei den Filmtagen 2007, unter der Schirmherrschaft des französischen Generalkonsuls im Saarland, ging es um Krieg und Frieden. Unvermeidlich standen dabei die wiederholten deutsch-französischen Waffengänge und ihre Folgen im Mittelpunkt. Zwar durfte Jean Renoirs Meisterwerk „La Grande Illusion“ von 1937 über den Ersten Weltkrieg und die Beziehung zwischen einem deutschen und einem französischen Offizier, beide standesbewusste Aristokraten, nicht fehlen, aber auch weniger bekannte, doch nicht weniger zum Nachdenken anregende und in das Grauen des Krieges eindringende Filme wie „La chambre des officiers“ oder „Les égarés“ waren ebenso sehenswert. „L’armée des ombres“, eine ziemlich düstere Verfilmung eines Romans von Joseph Kessel (mit Simone Signoret und Lino Ventura) bringt dem Zuschauer das schwierige und jederzeit vom Tod bedrohte Leben der ebenfalls dem erbarmungslosen Gesetz des Krieges unterworfenen Mitglieder
Die Französischen Filmtage in St. Ingbert
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einer Résistancegruppe gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg nahe. Der in Frankreich seinerzeit (1973) umstrittene Film „Lacombe Lucien“ von Louis Malle entwirft dagegen ein desillusioniertes Bild der Résistance, ist ein Beitrag zur Entmystifizierung des Mythos. Bei Fernandel bleibt natürlich kein Auge trocken (vor Lachen). Die wunderbare Komödie „La vache et le prisonnier“ über einen französischen Kriegsgefangenen in Deutschland (während des Zweiten Weltkriegs), der mithilfe einer Kuh nach Frankreich fliehen will, zeigt – schon 1959– ein durchaus differenziertes Bild der Deutschen, die nicht alle als SS-Schergen dargestellt sind. In wohl kaum einer anderen deutschen Stadt von der Größe St. Ingberts erhält der Besucher der Filmtage über die Jahre hinweg einen derart umfassenden Überblick über einen Sektor der französischen Kultur, dem große Bedeutung zukommt. Durch die Filme vermittelt, gewinnt er auch fundierte Einblicke in die unterschiedlichsten Probleme der französischen Gesellschaft sowie Informationen über wichtige Epochen und Ereignisse der französischen Geschichte und über die deutsch-französischen Beziehungen. Natürlich ist nicht zu erwarten, dass eine Veranstaltung wie die Französischen Filmtage ein Massenpublikum anlockt. Aber bei vielen Filmen ist der Saal immerhin gut bis sehr gut besetzt. Die Zuschauer kommen nicht nur aus St. Ingbert, sondern auch aus Saarbrücken, Homburg, Neunkirchen und anderen nahegelegenen Orten. Das Publikum ist deutsch und französisch gemischt, wobei die deutschen Besucher zwar in der Mehrheit sind, aber nicht allzu deutlich. Bedauerlich ist, dass – wie es bei derartigen Veranstaltungen nicht selten der Fall ist – die Jugend in nur dürftiger Zahl vertreten ist. Hollywoodspektakel mit den allerletzten „special effects“ wird allerdings auch nicht geboten. Wichtige, unverzichtbare Elemente der Filmtage sind der Umtrunk im Kino selbst nach dem Eröffnungsfilm (bei den letzten Filmtagen in Anwesenheit des französischen Generalkonsuls) und der Imbiss (nebenan im Internet-Café des Jugendzentrums) nach der Sonntagsmatinée. Hier wird, abwechselnd in deutscher oder französischer Sprache, über die Filme, aber auch über alles Mögliche Andere geplaudert. Hier gibt es eine selbst im Saarland nicht allzu häufige, spontane deutsch-französische Begegnung abseits der offiziellen Anlässe. Zwei allgemeine Aspekte dieses in einem regionalen, sehr bescheidenen Rahmen stattfindenden deutsch-französischen Kulturereignisses sollen noch hervorgehoben werden. Zum einen ist offensichtlich, dass eine derartige Veranstaltung in einem rein kommerziellen, auf finanziellen Gewinn abzielenden (und darauf angewiesenen) Kino nicht möglich wäre. Insofern hatte die französische Position bei der Uruguay-Runde im Rahmen der GATT-Verhandlungen 1993, auf der „exception culturelle“ zu bestehen, also die Kultur nicht als eine Ware wie Autos oder Parfum zu betrachten und sie nicht einfach den Marktmechanismen zu unterwerfen, durchaus ihre Berechtigung. (Dabei wird nicht übersehen, dass mit der Verteidigung der Kultur auch handfeste wirtschaftliche Interessen protektionistisch verteidigt werden.) Zum anderen muss noch einmal unterstrichen werden, dass es sich bei den St. Ingberter Französischen Filmtagen um eine rein zivilgesellschaftliche Veranstal-
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tung handelt. Die beiden St. Ingberter Ehepaare, der Betreiber der Kinowerkstatt und einige helfende Hände, erledigen alles selbst: die Auswahl der Filme und ihre Beschaffung, die Pressearbeit bis zur oft mühevollen Organisation, die den Einkauf für den Imbiss ebenso wie das Aufräumen danach einschließt. Auch die benötigten Finanzmittel werden überwiegend privat beigebracht. Während einiger Jahre war das Institut d’Etudes Françaises nicht nur bei der Beschaffung der Filme und Rechte hilfreich, sondern hat auch direkte finanzielle Unterstützung geleistet. Seit den Filmtagen 2007 ist der französische Generalkonsul nicht nur persönlich anwesend, sondern trägt auch zur Finanzierung bei. Die Kommunalpolitiker zeigten sich bisher überwiegend desinteressiert oder distanziert. Die Unterstützung der Stadt St. Ingbert beschränkt sich im Wesentlichen auf die kostenlose Nutzung des kommunalen Kinos. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten dieser Art, Begegnungen der Menschen außerhalb der offiziellen Gelegenheiten, bilden den Boden, in dem die politischen Beziehungen Wurzeln schlagen und sich dauerhaft entwickeln können. Prof. Dr. Adolf Kimmel, Professor (em.) für Politikwissenschaft, Universität Trier
„WAS GEHT VOR IN DEN KÖPFEN DIESER RICHTER?“ DIE BEURTEILUNG DER „FRANCOPHILIE“ IM LANDESENTSCHÄDIGUNGSAMT SAARBRÜCKEN (WIL FRIE D BUSEMANN)
„Im Landesarchiv endlich die Einsicht in Pauls Wiedergutmachungsakte. Die Akte ist umfangreicher, als ich dachte. Die Zeit reicht nur für einen ersten Überblick. Auch Paul erhält einen Ablehnungsbescheid. Er reicht Klage ein. Der Prozess geht durch mehrere Instanzen und dauert sechs Jahre, von 1961 bis 1966. Alte und neue Zeugen werden geladen, alle sagen zu seinen Gunsten aus. Das Landesgericht hält die Zeugen für glaubwürdig und kommt zu dem Ergebnis, daß Paul ein politischer und weltanschaulicher Gegner des Nationalsozialismus war. Allerdings sei nicht erwiesen, daß das NS-Regime ihn auch „als solchen erkannt“ habe. Er sei womöglich „nur (nur?) als Feind des Deutschen Reiches“ verfolgt worden. Daher müsse die Klage abgewiesen werden. Im Ablehnungsurteil des Oberlandesgerichts ist von „francophiler Gesinnung“ die Rede, die man bei Paul nicht ausschließen könne. Auch wenn er ein Gegner der Hitlerdiktatur gewesen sei, so habe diese ihn wohl nicht als solchen, sondern als Landesverräter bestraft. Seine „familiäre Bindung an eine Französin“ verstärke diesen Verdacht. Was geht vor in den Köpfen dieser Richter?“1
Abgelehnt! Nicht anerkannt als Opfer des Nationalsozialismus. Dabei ist der Fall eindeutig! Marie, Lothringerin aus Grossblitterstroff, verheiratet mit Paul, Saarländer aus Kleinblittersdorf, lässt sich aus tiefer Abneigung gegen die Nazis vom französischen Geheimdienst anwerben und wird als „Maulwurf“ auf einen NaziAgenten angesetzt, der von Kleinblittersdorf aus ein Spionage-Netz in ostfranzösischen Militäranlagen steuert. Marie hat wesentlichen Anteil an der Zerschlagung des Netzes, wird aber unmittelbar nach der Tat, einem nicht von ihr ausgeübten Einbruch in Kleinblittersdorf, von der Gestapo verhaftet, vor dem Volksgerichtshof wegen „Landesverrat“ zum Tode verurteilt und am 4. Oktober 1938 in Berlin hingerichtet. Paul, ihr Ehemann, wird entgegen der sonst üblichen „Logik“ des Volksgerichtshofes nicht als „Hochverräter“ hingerichtet, sondern zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt, die er bis zur Befreiung im März 1945 absitzt. Marie und Paul sind in der historischen Wirklichkeit Catherine und Albert Kneup aus Kleinblittersdorf, Großtante bzw. Großonkel der Autorin Ellen Widmaier. Ihre Spionage-Geschichte bildet den Ausgangspunkt für den eigentlichen Roman: die Wiedergewinnung der Erinnerung. Das Erinnern in der Familie, das Erinnern im Dorf seit 1945. Über die Verdrängung der Erinnerung, die Unfähigkeit und den Unwillen, sich seiner eigenen Vergangenheit in der NS-Zeit zu stellen, ist seit 1945 immer wieder geklagt und gefragt worden, wie das möglich sei. Neben den bekannten sozialpsychologischen Aspekten wurde immer auch das Verhalten der „offiziellen Stellen“ angeklagt – die Haltung von Politikern, Beamten, Richtern usw. als tragende Stützen für die in den 50er und 60er Jahren betriebene „Vergangenheitsbe1
Spatzenkirschen, Roman von Ellen Widmaier, Blieskastel 2004, S. 87–91.
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wältigung“. Zu den schändlichen und unwürdigen Kapiteln gehört in diesem Zusammenhang der Umgang mit den überlebenden Opfern des Nationalsozialismus und hier insbesondere die für die nichts ahnende, weil geflissentlich desinteressierte „Öffentlichkeit“ gepflegte Illusion, man könne bzw. wolle das den Opfern zugefügte Leid „wiedergutmachen“ und „entschädigen“. Nur wenigen Fachleuten ist die Existenz von ca. 11.000 im Landesarchiv Saarbrücken weggeschlossenen Einzelfall-Akten bekannt; ein Bestand, der bedrückend anschaulich den vom Landesentschädigungsamt des Saarlandes (LEAS) auf der Grundlage des seit 1959 im Saarland geltenden Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) geführten „Kleinkrieg gegen die Opfer“ dokumentiert. Dieses nicht nur wegen der inzwischen erfolgten Schließung völlig in Vergessenheit geratene Amt war seit 1960 der Ort des Nachfragens für viele überlebende saarländische Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschafter, Christen, Homosexuelle, Zwangssterilisierte, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma. Hier mussten sie sich im Rahmen eines extrem bürokratisierten Antrags-Verfahrens mit teils inkompetenten, teils böswilligen oder schlichtweg gleichgültigen Sachbearbeitern und Gutachtern auseinandersetzen. In einem Recherche-Gespräch am 23.2.1996 berichtete Herr Thome vom damaligen LEAS, dass Anfang der 60er Jahre bis zu 160 Mitarbeiter im Amt beschäftigt waren. Diese kamen aus allen Gemeindeverwaltungen des Landes und gingen mit großem persönlichen Interesse zum LEAS, weil hier die Laufbahn-Aussichten angesichts des größeren Stellenkegels günstiger waren. Neben der üblichen Verwaltungsausbildung gab es keine weitere Vorbereitung auf die Arbeit; spezielle historische oder psychologische Vorkenntnisse wurden nicht nachgefragt. Es genügten offensichtlich der „gesunde Menschenverstand“ und bei entsprechendem Alter die „Sachkenntnis“ aus eigener Anschauung als – unbeteiligter? – Zeitzeuge sowie die Berufung auf ein ausgeprägt selektives „kollektives Gedächtnis“. Eingebettet war diese Art der individuellen Verantwortung in eine Art „Corps-Geist“, der die Exekution des BEG und seiner Durchführungsverordnungen wesentlich erleichterte, in dem sich die Angestellten und Beamten auf gleichsam übergeordnete, zeitlose und wertfreie Weltbilder meinten berufen zu können. Die deutlichste Ausprägung dieser Einstellungen findet sich im Umgang mit der „Francophilie“. Bereits längere Zeit vor 1935 wurden francophile Neigungen als verwerflich, weil national unzuverlässig und landesverräterisch denunziert. Als francophil galten Bürgerinnen und Bürger des Saarlandes (damals: Saargebiet), die bestimmten, in der Regel unbedeutenden Gruppierungen angehörten wie der „Saarländischen Wirtschaftsvereinigung“ (SWV), der „Saarländischen Sozialistischen Partei“ (SSP) oder dem „Zentralverband der Saarbergleute“. Der Francophilie verdächtigt wurden Arbeitnehmer in französisch dirigierten Betrieben wie den Gruben, die sich nicht in den üblichen politischen Organisationen engagierten, also neutral oder politisch desinteressiert waren, ebenso wie Eltern, deren Kinder die französischen Dominialschulen (französische Zwangsschulen in den Betrieben) besuchten. Politisch anrüchig waren saarländisch-lothringische Liebes- und Ehepaare – und das auch noch in den 60er Jahren: Ernst Kunkel zitiert aus einem ihm bekannten Ab-
„Was geht vor in den Köpfen dieser Richter?“
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lehnungs-Urteil: „Für die francophile Einstellung des Klägers spricht ferner, dass er mit einer Französin verheiratet ist“. Was auch immer den „Francophilen“ von nationalen Kreisen vorgeworfen oder unterstellt wurde, der Grundton der Anfeindungen klang stets gleich: „Francophile“ machen sich, vorwiegend aus niederen materiellen Gründen, gemein mit den französischen Erbfeinden, sie erledigen die üblen Geschäfte französischer Großmachtpolitiker, Imperialisten und notorischer Feinde des Deutschtums. Sie sind darum nicht zur Volksgemeinschaft gehörende, sich selbst daraus ausschließende unwürdige, ehrlose, nichtsnutzige usw. usf. Landesverräter, Frevler an deutschem Blut und Boden. In der Zeit nach der chauvinistischen Annexions-Propaganda des Ersten Weltkrieges und dem moralischen Schock der Kriegsniederlage sowie den daraus sich ergebenden Konfrontationen mit dem französischen Sieger gehörten die angedeuteten Ausgrenzungen und der damit einhergehende Zwang zur Anpassung zum politisch korrekten Ton, selbst noch in den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der nicht oder wenig konfessionell gebundenen Arbeitnehmer. Geflissentlich wurden, im Übrigen nicht nur im Umfeld von vermeintlicher „Francophilie“ vorfindbare, Vorbehalte gegen preußischen Obrigkeitsstaat und alldeutschen Militarismus übersehen bzw. als „Demokratismus“ oder Pazifismus diskreditiert, um eine kritische Selbstwahrnehmung zu vermeiden. Die Nationalsozialisten haben die „Francophilie“ nicht erfunden, dieser Kampfbegriff wurde lange vor ihnen von den konservativ-bürgerlichen Kräften besetzt, aber er wird von der NSDAP vor und nach dem 13. Januar 1935 weidlich ausgeschlachtet zur weiteren Verunglimpfung der politischen Gegner. Nach wie vor erfolgt die bekanntlich unhaltbare Schuldzuweisung an die „Francophilen“ für die Kriegsniederlage 1918 und mehr noch für die anschließende dramatische Nachkriegskrise. Gebrandmarkt als „Innerer Feind“, birgt das abweichende Sozialverhalten der „Francophilie“ vielfache Gefahren durch die sich radikalisierende Ausgrenzung aus der inzwischen nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“; der Vorwurf der „Francophilie“ mutiert zum repressiven Instrument sozialer Normierung und Disziplinierung mit dem Ziel der zwanghaft normalisierten Gesellschaft, wie sie zum Beispiel im „Gemeinschaftsfremde“ ausgrenzenden Begriff der „deutschen Schicksalsgemeinschaft“ zum Ausdruck kommt. Anpassung und Ausgrenzung vollziehen sich nicht allein im ausformulierten Vorwurf durch Parteistellen und Behörden, die Angst sich verdächtig zu machen und sich auf diese Weise dem Vorwurf auszusetzen, bewirkt vieles im Alltagsleben. Insofern ist eine Dunkelziffer anzunehmen: Außer den tatsächlich von den Nationalsozialisten verfolgten „Francophilen“ dürfte es außerdem noch viele Menschen gegeben haben, die aus Angst vor Repressalien „in Deckung gingen“, aber lange Zeit mit der Ungewissheit lebten, dass doch noch etwas passiert. Doch nicht einmal die Zahl der beim Landesentschädigungsamt eingereichten Entschädigungs-Anträge ist – wenigstens zurzeit – konkret benennbar. Ein Anfang der Neunziger Jahre mit großem finanziellen Aufwand über mehrere Jahre im Landesarchiv Saarbrücken betriebenes Projekt zur computergestützten Erfassung aller etwa 11.000 Anträge hätte hier schließlich exakte Zahlen bereitstellen können, in-
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des wurde dieses Vorhaben aus unerfindlichen Gründen nicht zu Ende geführt. Nach der bis 1995 erfolgten Verzeichnung von knapp 40 Prozent der Akten vermutet man, dass etwa 300 bis 400 Antragsteller Entschädigungsansprüche einreichten wegen „Francophilie“. Mit Bekanntwerden der ablehnenden Praxis beim LEAS haben zahlreiche tatsächlich Geschädigte auf die Abgabe ihrer Anträge verzichtet. Der Paragraph 1 (1) des BE-Schlussgesetzes vom 14.9.1965 bestimmt den Begriff des Verfolgten: „Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat.“ Da die Verfolgten-Gruppe der „Francophilen“ im NS-Furor der „Volksfeind“Elimination bei Weitem nicht so exponiert war wie die der Juden oder Kommunisten, ist hier die Zahl der verfolgungsbedingten Todesfälle auch nicht so hoch. Unklar ist, ob Hinterbliebene in dieser Richtung „Schäden“ geltend machten, die – im Anerkennungsfall! – meist mit einer Versorgungsrente auf Lebenszeit abgegolten wurden. Fast alle auf der Basis von „Francophilie“ eingereichten Entschädigungs-Anträge beziehen sich auf Schäden im beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommen; gemeint ist damit der durch Emigration nach Frankreich oder der von den Nationalsozialisten bewirkte Abbruch der Schul- oder Berufsausbildung bzw. des Studiums sowie die erzwungene Aufgabe eines mehr oder weniger erfolgreichen Geschäftes und andere Verdienstausfälle. In der Praxis des Entschädigungsverfahrens handelt es sich hier – vergleichsweise – um mit geringfügigen Einmal-Zahlungen zu erledigende „Bagatell“-Fälle. Trotz der in den Verfolgungsberichten unabweisbar nachgewiesenen Benachteiligungen und nachhaltigen Schädigungen wurden in den 60er Jahren bis auf wenige Sonderfälle, meist per Vergleich vor Gericht ausgehandelter fauler Kompromisse, die auf „Francophilie“ beruhenden Verfolgungsfälle nicht anerkannt – weder vom LEAS noch vor den Gerichten. Begründet wurde die durchgehend ablehnende Praxis mit dem Hinweis auf die von dem Antragsteller nachgewiesene Mitgliedschaft in den angeblich „francophilen“ Vereinigungen SWV, SSP oder Saarbund. Hierzu heißt es in einem Ablehnungsbescheid vom 1.2.1960: Die SWV, „die bereits geraume Zeit vor der Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland gegründet wurde, strebte die politische und wirtschaftliche Loslösung des Saargebietes von Deutschland an. Als Mitglied dieser separatistische Ziele verfolgenden Organisation lehnte die Antragstellerin ohne Rücksicht auf die bestehende Regierungsform die deutsche Staatsgewalt schlechthin und den Nationalsozialismus lediglich als derzeitigen Träger dieser Staatsgewalt ab. Separatisten waren regelmäßig keine Gegner des Nationalsozialismus.“ In einem Ablehnungsbescheid vom 10.10.1968 findet sich der Satz: „Wer daher während der Saarabstimmung in seiner Haltung von einer derartigen Hinneigung zu Frankreich bestimmt wurde, kann nicht vorgeben, durch sein Eintreten für den Status-Quo den Nationalsozialismus als solchen bekämpft zu haben.“ Und
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selbst wenn eine den Nationalsozialismus ablehnende Haltung bewiesen und bescheinigt wird, gilt dies doch nur – so ein Saarbrücker Landgerichtsurteil vom 13.3.1966 – als „Beweggrund zweiten Grades“, denn dieser Antifaschismus dient nur der separatistischen Tarnung, wie das Urteil unterstellt. Die Wortwahl, z. B. „Separatisten“ oder „derartige [abartige?, W.B.] Hinneigung“ ist kein Zufall, sie durchzieht zu viele Ablehnungsbescheide und legt die Vermutung nahe der mangelnden ideologischen Distanz mancher Sachbearbeiter zu Versatzstücken der NS-„Weltanschauung“. Mit der unausgesprochenen Berufung auf die preußisch-idealistische, obrigkeitsverherrlichende Staatslehre führt das LEAS eine deutsche „wertfreie“ (tatsächlich positiv bewertete), klassen- und parteineutrale zeitlose Staatsgewalt ein, die den nationalsozialistischen Exekutoren dieser Staatsgewalt den Anschein von Rechtsstaatlichkeit und Normalität in Teilen ihres Tuns verleiht. Durch die Ablehnung der „Francophilen“ erklärt das LEAS die Verfolgungsmaßnahmen des NS-Systems im Nachhinein für rechtens. Die „Francophilen“ werden auf diese Weise ein zweites Mal bestraft und ausgegrenzt auf Kosten einer nicht zur Kenntnis genommenen oder zurechtgebogenen historischen Wahrheit. Nicht zuletzt dient diese Ansicht über die spezifische Natur des Nationalsozialismus und das Verhältnis von Nationalsozialismus und deutschem Staat in kaum abgeschwächter Form auch zur Begründung des Ausschluss der von Nationalsozialisten misshandelten und verfolgten „Kriminellen“ und „Asozialen“ als Opfergruppe. Gleichsam durch LEAS und Gerichte in ihrer Auffassung amtlich und hochoffiziell bestätigt und bestärkt, setzt die saarländische Öffentlichkeit, so weit sie überhaupt Kenntnis nimmt von „solchen Leuten“, die Francophilie ebenso wie die Homosexuellen, die „Kriminellen“ und „Asozialen“ auf eine Stufe und begegnet allen gemeinsam mit Misstrauen, Verachtung und unverhohlener Feindseligkeit. Im anfangs skizzierten Fall Catherine Kneup gehen die „Geschichtsvollzieher“ sogar noch einen Schritt weiter, indem sie den von den Nationalsozialisten geplanten und schließlich durchgeführten verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg billigen, sehr wohl wissend, dass die wesentlich durch Catherine Kneup herbeigeführte Zerschlagung des deutschen Agenten-Ringes die nationalsozialistische Kriegsvorbereitung behinderte, womöglich etwas verzögerte. So werden Antifaschismus, Zivilcourage und Friedensengagement der Staatsidee untergeordnet; einer mittlerweile durch die Erfahrung des Nationalsozialismus zutiefst problematisch gewordenen Staatsidee, die nunmehr auch nur noch schwer vereinbar ist mit der „vom Westen verordneten“ modernen Demokratie. Während die Wiedergutmachungsforschung bundesweit in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung genommen und beachtliche wissenschaftliche Ergebnisse vorgelegt hat, stecken saarländische Forschungsbemühungen nicht einmal in den Kinderschuhen. Bis auf wenige, völlig unbedeutende Artikelchen hat sich hier nichts getan in den letzten fünfzehn Jahren wegen der formal korrekten, vorschriftsmäßigen Beachtung der im saarländischen Archivgesetz (SarchG) vom 23.9.1992, Paragraph 11, 1–4, vorgeschriebenen Sperrfristen. Seit der Veröffentlichung des großen Werkes über Widerstand und Verfolgung im Saarland von Mallmann/Paul, die um 1990 noch Einsicht nehmen konnten in die Akten, lässt
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sich deren exzeptioneller Quellenwert in etwa erahnen, obwohl Mallmann/Paul aufgrund ihrer speziellen Forschungsinteressen die Akten nicht umfassend auswerten konnten. Anscheinend wenig bekannt ist die Bedeutung der BEG-Akten als Informationsquelle über das Leben der NS-Opfer nach der „Befreiung“ 1945. „Befreiung“ ist in Anführungsstrichen gesetzt, denn es handelt sich, wie aus den Akten allenthalben hervorgeht, um eine nicht vollständige Befreiung. Zwar wurden die Opfer befreit von der unmittelbaren Lebensgefahr und der Angst vor allen den NS-typischen Repressalien, aber viele Opfer wurden nicht befreit von den oft lebenslang anhaltenden medizinischen, psychischen und sozialen Nachwirkungen der Gewaltherrschaft. In der neuesten Wiedergutmachungsforschung rückt neben der Frage nach den besonderen Beziehungen zwischen Opfern als Antragstellern und Wiedergutmachungsämtern zunehmend die Frage in den Blickpunkt, inwieweit die Ämter Agenturen der jeweiligen Vergangenheits- bzw. Geschichtspolitik waren. Es wäre zu leicht, und auch leichtfertig, das LEAS als deutsche Behörde des organisierten Gedächtnisverlustes und seine Praxis als vergangenheitspolitischen Populismus zu diffamieren, indes – so scheint es – bewegte sich das Amt in einem ausgeprägtem vergangenheitspolitischen Konsens. Bezeichnend sind die in vielen Einzelakten enthaltenen schriftlich begründeten Weigerungen mancher als Zeugen aufgerufenen Zeitgenossen, für die Opfer auszusagen. Im Umgang mit den großen Opfergruppen, namentlich Juden und politisch Verfolgten, dürften sich die saarländischen Gepflogenheiten kaum von denen anderer Wiedergutmachungsämter unterscheiden. Als um so fragwürdigeres unrühmliches Alleinstellungs-Merkmal muss hingegen die Ablehnung der „Francophilie“ herausgestellt werden. Leider können, solange quellengestützte Gesamtanalysen im Saarland noch nicht möglich sind, nur Fragen gestellt werden. Besteht zum Beispiel ein sozialpsychologischer Zusammenhang zwischen dem Abstimmungskampf 1955, seiner virulenten Franzosenfeindlichkeit bzw. der vorübergehenden Renaissance einer diffusen „Volksgemeinschaft“ (der Neinsager) und der Ablehnungspraxis im LEAS als Nachhall der „Deutschen Wiedergeburt“ an der Saar von 1955? Bildet diese Praxis nicht einen – allerdings unbedeutenden – Nachweis der Souveränität gegenüber dem ungeliebten neuen Alliierten jenseits der Saar? Oder doch wenigstens eine Trotzreaktion angesichts der sich abzeichnenden Modernisierungsschübe wie sie in den Elysee-Verträgen, dem DeutschFranzösischen Jugendwerk zum Ausdruck kommen und insbesondere in der beginnenden, vielfach zunächst unterschätzten Europäisierung, deren erste Phase an der Saar gleichsam gipfelt in dem seit etwa 1968/69 eingeführten Begriff der „Saar-Lor-Lux-Region“ und der ihr zugrundeliegenden, kontradiktorischen, geschichtspolitischen Idee? Ist es ein Zufall, wenn gerade in diesen Jahren 1968/69 amtsintern die ersten selbstkritischen Überlegungen mit Blick auf die Bewertung der „Francophilie“ schriftlich fixiert werden? Reinhard Klimmt, unter anderem Kolumnist der „Saarbrücker Zeitung“, beklagt in der Ausgabe vom 20.6.2007 die „neuen Schleier des Vergessens“. Er erinnert damit an die „guten Absichten“, die im Rahmen der Vorstellung des Romans
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„Spatzenkirschen“ von den Bürgermeistern von Kleinblittersdorf und Grossbliederstroff geäußert wurden, den Opfern, den Eheleuten Kneup, ein würdiges Denkmal zu setzen. Im Einklang mit Bürgerinnen und Bürger der beiden Gemeinden plädiert Klimmt für ein schlichtes, nicht pathetisches Denkmal: „Eine Gedenktafel an dem Haus in Kleinblittersdorf, in dem die beiden wohnten, wäre angemessen.“ Wilfried Busemann, M.A., Historiker Saarbrücken
Brücke zwischen Großblittersdorf und Kleinblittersdorf kurz nach Ende des 2. Weltkrieges (Das Foto wurde dem Autor freundlicherweise von Ellen Widmaier zur Verfügung gestellt.)
VOM IMPERIALEN MONUMENT ZUM DENKMAL DER FREUNDSCHAFT DER SCHAUMBERGTURM ZU THOLEY (LUDWIG LINSMAYER)
Ein Wahrzeichen des Saarlandes, aber auch ein symbolischer Ort für die Wechselfälle der deutsch-französischen Geschichte ist der Schaumbergturm zu Tholey. Von seiner Aussichtsplattform sieht man bei klarer Witterung 50 bis 100 Kilometer weit in alle Himmelsrichtungen, im Norden zum Hunsrück, nach Süden über das Saartal hinweg bis zur Spicherer Höhe und den dahinter ragenden Vogesen, während im Westen die Kühltürme des Atomkraftwerkes von Cattenom meist gut erkennbar sind. Saarländisches und lothringisches Gebiet erscheinen von hier oben wie ein natürliches Ganzes, fügen sich nahtlos zu einem harmonischen Landschaftsbild zusammen. Der Turm selbst hingegen, der erst im vorigen Jahrhundert entstand, spiegelt in seiner Geschichte den schwierigen Prozess der politischen Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich wider, symbolisiert die Hindernisse und Brüche, aber auch die Hoffnungen und Fortschritte, die diese Entwicklung seit ihren Anfängen in der so genannten „Zwischenkriegszeit“ begleitet haben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich auf dem „König der Saarberge“ nur ein ganz einfacher Holzturm. Kaum etwas erinnerte mehr an die einstige Burg, die im Mittelalter an gleicher Stelle errichtet worden war und im Dreißigjährigen Krieg von schwedischen Truppen geplündert und zerstört wurde. Erst gegen Ende der Kaiserreichszeit entstand der Plan zum Bau eines „Kaiser-WilhelmTurms“, der 1915 aus Anlass der 100-jährigen Zugehörigkeit Tholeys zu Preußen feierlich eingeweiht werden sollte. Zwar erlebten die Tholeyer noch die Grundsteinlegung 1914, doch als der Turm eine Höhe von fünf Metern erreicht hatte, brachte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Bauarbeiten zum Erliegen. Vier Jahre später kapitulierte die deutsche Armee, und damit geriet auch in Tholey die bisherige Weltordnung ins Wanken. Durch die Novemberrevolution und den Sturz der Monarchie wurde die Vollendung des Kaiser-Wilhelm-Turmes endgültig obsolet, zumal Tholey nun nicht mehr zu Preußen und zum Deutschen Reich, sondern zum neu gebildeten „Saargebiet“ gehörte, das durch den Versailler Vertrag für 15 Jahre einer internationalen Regierungskommission des Völkerbundes unterstellt wurde.1 Mehr als ein Jahrzehnt lang blieb die Bauruine auf dem Schaumberg sich selbst überlassen, bis Mitte der 1920er Jahre die Initiative zu einem weiteren 1
Grundlegend zur saarländischen Völkerbundszeit: Zenner, Maria, Parteien und Politik im Saargebiet unter dem Völkerbundsregime 1920–1935, Saarbrücken 1966; Linsmayer, Ludwig, Politische Kultur im Saargebiet. Symbolische Politik, verhinderte Demokratisierung, nationalisiertes Kulturleben in einer abgetrennten Region, St. Ingbert 1992.
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Großprojekt ergriffen wurde. Erneut ging es um den Bau eines Denkmals, das anders als 1914 aber keinen imperialen Glanz mehr ausstrahlen, sondern dem Gedächtnis an die im Ersten Weltkrieg getöteten saarländischen Soldaten gewidmet sein sollte. Solche Gefallenendenkmäler waren damals durch Initiativen von Vereinen, Schulen und Kommunen bereits in großer Zahl an der Saar entstanden.2 Angesichts von über 20.000 Kriegstoten entsprachen sie einem verbreiteten gesellschaftlichen Bedürfnis, das umso stärker war, als es sich dabei um eine ganz und gar unbewältigte Vergangenheit handelte und die meisten Menschen weder mit dem für sie unfassbaren Faktum der Kriegsniederlage noch mit den als ungerecht empfundenen Friedensbedingungen zurechtkamen.3 Vielerorts mischten sich in die Trauerfeierlichkeiten für die Kriegstoten deshalb Proteste gegen „Kriegsschuldlüge“ und „Fremdherrschaft“ sowie Hoffnungen auf ein „neues deutsches Morgenrot“ und die baldige Rückkehr des Saargebietes in den Schoß der „deutschen Mutter“.4
Natürlich wurde auch das Denkmalprojekt auf dem Schaumberg von diesem Zeitgeist geprägt, doch besaß es darüber hinaus besondere Merkmale, die es aus der allgemeinen nationalen Erinnerungskultur heraushoben. Ungewöhnlich war zum einen die Idee eines Regionaldenkmals: Auf dem höchsten Punkt des Saargebietes 2 3
4
Vgl. Linsmayer (Anm. 1), Politische Kultur, S. 37ff. Zur zeitgenössischen Bewertung und Erinnerungskultur des Ersten Weltkrieges vgl.: Jost Dülffer, Gerd Krumeich (Hrsg.), Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002; Schivelbusch, Wolfgang, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865. Frankreich 1871. Deutschland 1918, Frankfurt a.M. 2003. Vgl. Linsmayer (Anm. 1), Politische Kultur, S. 60ff.
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errichtet, sollte der neuen Gedenkstätte ein landesweiter Geltungs- und Wirkungsanspruch zukommen, wohingegen die territoriale Neuordnung ansonsten immer infrage gestellt und die alten preußischen und bayerischen Identitäten in der Bevölkerung gepflegt wurden. In Person des saarländischen Regierungskommissionsmitglieds, Bartholomäus Koßmann, war das Völkerbundsregime von Anfang an in das Vorhaben involviert und hatte einen namhaften finanziellen Zuschuss in Aussicht gestellt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wäre dies noch undenkbar gewesen, doch Mitte der 1920er Jahre wurde die von Stresemann und Briand initiierte deutsch-französische Verständigungspolitik allmählich auch an der Saar spürbar und half so manche Blockade aus dem Weg zu räumen, die in den Jahren zuvor ein konstruktives Miteinander zwischen internationaler Regierung und saarländischer Gesellschaft verhindert hatte. Aus Regierungsperspektive war ein Gefallenendenkmal allerdings nur dann unterstützungswürdig, wenn es ein Zeichen für Frieden und Völkerversöhnung setzte und sich damit vom gängigen, ausschließlich national bestimmten Kriegstotenkult zumindest ein Stück weit distanzierte. Noch wichtiger als der Friedensaspekt waren indes die konfessionellen Identifikationszwecke, die mit dem beabsichtigten Regionaldenkmal verbunden wurden. Koßmann, bereits vor 1914 als Zentrumsabgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus eng mit dem Katholizismus verbunden, plädierte nämlich keineswegs für einen profanen oder religiös-neutralen Denkmalbau, sondern für die Errichtung einer monumentalen, dezidiert katholischen Kriegergedächtniskapelle.5 Der Platz auf dem Schaumberg erwies sich dafür bestens geeignet, stellte die Tholeyer Gegend doch gleichsam die Wiege des saarländischen Katholizismus dar, insofern der heilige Wendelinus einst von hier aus das umliegende Land christianisiert hatte und die Abtei St. Mauritius, deren erster Abt Wendelin der Legende nach gewesen sein soll, als ältestes Kloster auf deutschem Boden gilt.6 Auch der Umstand, dass die Kapelle auf den Grundmauern des einst geplanten Kaiser-Wilhelm-Turms ruhen sollte, war nicht ohne historischen Hintersinn: Denn gerade der Umbau dieses inzwischen überholten monarchistisch-protestantischen Herrschaftssymbols in eine katholische Kriegergedächtniskapelle, der sich als Fortführung der nationalen Tradition unter katholischer Ägide begreifen ließ, musste für den vormals an der Saar zum inneren Reichsfeind gestempelten und politisch unterdrückten Katholizismus eine besondere Genugtuung bedeuten.7 Öffentlich bekannt gemacht wurde das Kapellenprojekt durch einen am 1. März 1925 in verschiedenen katholischen Blättern abgedruckten Presseaufruf, 5 6 7
Zu Bartholomäus Koßmann vgl. Bost, Reinhold, Bartholomäus Koßmann. Christ – Gewerkschafter- Politiker 1883–1952, Blieskastel 2002. Vgl. Peter, Manfred, Der heilige Wendelin. Die Geschichte eines faszinierenden Lebens, Otzenhausen 2005. Zum politischen Katholizismus an der Saar im 19. Jahrhundert vgl. Blackbourn, David, Marpingen. Das deutsche Lourdes in der Bismarckzeit, Neuauflage, Saarbrücken 2007 (ECHOLOT 6); Mallmann, Klaus-Michael, „Aus des Tages Last machen sie ein Kreuz des Herrn…?“ Bergarbeiter, Religion und sozialer Protest im Saarrevier des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, Göttingen 1986, S. 152–184.
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dem wenig später die Gründung eines exklusiv besetzten Denkmalbauvereins folgte, dem neben Koßmann auch Landesratspräsident Peter Scheuer, die Bürgermeister der größten Saarstädte und mehrere hohe kirchliche Würdenträger beitraten. Dank jahrelanger kirchlicher Sammelaktivitäten und des Erlöses einer Lotterie konnte der Bau dann Anfang 1929 begonnen und im Spätsommer 1930 fertiggestellt werden. Von dem Saarbrücker Architekten Gombrich entworfen, bot die Kriegergedächtniskapelle in ihrem Innern zwar kaum mehr als 150 Personen Platz, doch war um sie herum eine geräumige Plattform errichtet worden, an die sich an einer Seite ein großer Vorplatz anschloss, auf dem sich viele tausend Menschen zu religiösen Großveranstaltungen unter freiem Himmel versammeln konnten. „Den Gedanken des christlichen Monuments“ versinnbildlichte „das als Mittelpunkt der gesamten Baumasse errichtete zehn Meter hohe Kreuz mit dem vier Meter hohen segnenden Heiland, das in einer gewaltigen Turmöffnung eingebaut“ war.8 Über der Pforte der Kapelle war die Inschrift angebracht: „Sie werden auferstehen!“ – eine Formel, die die Vorstellung des soldatischen „Heldentums“ in den christlichen Erlösungsglauben übersetzte. Im Kapelleninnern befand sich ein roter Marmoraltar, dessen Hauptschmuck eine Holzplastik der Gottesmutter war, die als „Königin des Friedens“ die vor den Altar tretenden Gläubigen zu Völkerversöhnung und Völkerfrieden mahnen sollte, wie sie überhaupt der „Maria Frieden“ getauften Kapelle den Namen gab.9 Ikonografisch bot die Gedächtniskapelle somit ganz verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die dem christlich-katholischen Glauben ebenso Ausdruck verliehen wie sie nationale Emotionen ansprachen und an die allgemeine Friedenssehnsucht der Menschen appellierten. Das symbolische Handlungsfeld, das sich in der Kapelle und um sie herum aufspannte, war hingegen sehr viel eindeutiger ausgerichtet und von polarisierender Schärfe. Bereits der erste Zeitungsartikel, der das Kapellenprojekt öffentlich bekannt machte, definierte das Denkmal als „Wahrzeichen deutsch-katholischer Saargesinnung“ und als „Kampfeszeichen gegen Materialismus und Aberglauben“.10 Und im selben Tenor verlief auch die am 25. August 1930 stattfindende Einweihungsfeier, an der sich fast alle katholischen Männervereine des Saargebietes beteiligten. Die anwesenden Vertreter der Völkerbundsregierung, Bartholomäus Koßmann, der Tscheche Franz Vezensky und der Franzose Jean Morize, spielten an diesem Tag nur eine Nebenrolle, während das Geschehen von den Bischöfen aus Speyer und Trier dominiert wurde. Insbesondere der Trierer Bischof Rudolf Bornewasser, der mit seinen späteren Hirtenbriefen sowohl die erste wie die zweite Saarabstimmung von 1935 und 1955 maßgeblich beeinflussen sollte, erwies sich bereits an diesem Tag als ein Mann von festen nationalen Grundsätzen.11 In seiner Festrede stilisierte er das Opfer der toten Solda8 9 10 11
Unsere Saar 1929/30, S. 43. Ebd. (Anm. 8). Saarbrücker Landeszeitung v. 1.3.1925. Zur Rolle Rudolf Bornewassers in den beiden Abstimmungskämpfen vgl. Gestier, Markus, Die christlichen Parteien an der Saar und ihr Verhältnis zum deutschen Nationalstaat in den Abstimmungskämpfen 1935 und 1955, St. Ingbert 1991.
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ten zum heldenhaften Vorbild jedweder christlichen Gehorsamspflicht. „Drei Worte sind es“ – so der identitätsstiftende Appell Bornewassers, „die sie (die Gefallenen – d. V.) durch meinen Mund euch sagen: Nimm dein Leben ernst und tu deine Pflicht! Sei gehorsam und hab’ Ehrfurcht vor der Autorität! Sei stets todesbereit durch ein reines Leben! Ohne Gehorsam hat keine Kirche Bestand und kein Volk, keine Familie und kein Staat! Ohne Gehorsam hätten die, denen wir dieses Denkmal weihen, nicht vermocht, dass keines Feindes Fuß im Kriege unser herrliches Heimatland betrat.“12 Abgesehen davon, dass Bornewasser mit diesem Appell die Legende vom deutschen Verteidigungskrieg erneut bekräftigte, zeigen seine Worte eindrücklich, wie sehr die katholische Kirche damals obrigkeitlich-autoritären Idealen anhing und wie weit sie von demokratischen Werthaltungen und Lebensformen noch entfernt war. Trotz der Namensgebung „Maria Frieden“ ging von der Kriegergedächtniskapelle auf dem Schaumberg damals keine Botschaft aus, die den Krieg in Frage gestellt oder die Gesellschaft versöhnt hätte. Vielmehr wurden die im Saargebiet lebenden französischen Arbeitnehmer und internationalen Beamten aus dem „katholischen Saarvolk“ und der „deutschen Heimat“ symbolisch ebenso ausgegrenzt, wie die ideologischen Gräben zwischen Katholiken und „gottlosen“ Sozialisten durch das Denkmal weiter vertieft wurden. Wohl niemand in Tholey konnte 1930 erahnen, welche Abgründe und katastrophalen Entwicklungen nicht nur dem Saargebiet, sondern auch dem regionalen Katholizismus in den folgenden 15 Jahren bevorstanden. Das Saargebiet erlebte 1933/34 einen die Gesellschaft auseinanderreißenden Abstimmungskampf, 1935 den triumphalen Einzug der Nationalsozialisten und den Exodus tausender von Emigranten, 1939 den Ausbruch des Weltkrieges und danach Evakuierungen, Luftangriffe und zunehmende Zerstörungen, bis das Land im März 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Der neue Saarstaat, der 1947 unter französischer Oberhoheit aus der Taufe gehoben wurde, definierte sich nicht mehr über Volk und Nation, sondern als Brücke der deutsch-französischen Verständigung und als Keimzelle eines vereinigten Europas.13 Mit der politischen Teilautonomie einher gingen auch Pläne zur Errichtung einer eigenständigen saarländischen Kirchenorganisation, für die der Tholeyer Abt Petrus Borne auf verschiedenen Vorschlagslisten bereits als möglicher Saarbischof gehandelt wurde. Den Autonomisierungsbefürwortern innerhalb der Saarregierung und des französischen Hochkommissariats gelang es freilich nicht, sich gegen den energischen kirchenpolitischen Wi12 Saarbrücker Landeszeitung v. 25.6.1930 „Einweihung der Kriegergedächtniskapelle auf dem Schaumberg. Zehntausende von Katholiken jubeln ihrem Oberhirten zu“. 13 Grundlegend zur Ära des Saarstaates: Cahn, Jean-Paul, Le second retour. Le rattachement de la Sarre à l’Allemagne, 1955–1957, Bern 1985; Heinen, Armin, Saarjahre. Politik und Wirtschaft im Saarland 1945–1955; Stuttgart 1996; Rainer Hudemann, Raymond Poidevin (Hrsg.), Die Saar 1945–1955. Ein Problem der europäischen Geschichte, München 1992; Rainer Hudemann, Burkhard Jellonnek, Bernd Rauls (Hrsg.), Grenz-Fall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1956–1960, St. Ingbert 1997; Rainer Hudemann, Armin Heinen (Hrsg.), Das Saarland zwischen Frankreich, Deutschland und Europa 1945–1957. Ein Quellen- und Arbeitsbuch (Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 41), Saarbrücken 2007.
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derstand der Trierer Amtskirche durchzusetzen.14 Der Zwist um den Erhalt der Trierer Bistumseinheit oder die Realisierung eines eigenen Saarbistums drohte das katholische Lager bereits 1947 ebenso zu spalten, wie acht Jahre später das Referendum über das europäische Saarstatut die saarländische Gesellschaft in „Ja-Sager“ und „Nein-Sager“ auseinanderdividierte. Erst die 1957 vollzogene Wiedervereinigung des Saarlandes mit der Bundesrepublik Deutschland sorgte für eine spürbare Entspannung, sowohl innerhalb der Regionalgesellschaft als auch im Verhältnis zu Frankreich. Entlastet von nationalen Identitätskonflikten, entwickelte sich das Saarland mehr und mehr zum Vorreiter der deutsch-französischen Zusammenarbeit, was sich in der Veranstaltung französischer Wirtschaftswochen ebenso niederschlug wie in der Gründung des Deutsch-Französischen Gymnasiums oder auch des Deutsch-Französischen Gartens in Saarbrücken.
Die „Kriegergedächtniskapelle“ in einer Luftaufnahme von 1954
In diesem Klima der Versöhnung reiften auch in Tholey seit den frühen 1960er Jahren Pläne heran, die bestehende Kriegergedächtniskapelle zu einem Ehrenmal für die Kriegsopfer beider Völker umzuwidmen. Aus dem einstigen „Wahrzeichen deutsch-katholischer Saargesinnung“ sollte nun eine deutsch-französische Begeg-
14 Vgl. Hüser, Judith, Quo vadis, Saarland? Die Haltung der Kirchen zum Sonderweg der Saar, in: Ludwig Linsmayer (Hrsg.), Die Geburt des Saarlandes. Zur Dramaturgie eines Sonderweges (ECHOLOT 3), Saarbrücken 2007, S. 252ff.
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nungsstätte, ein Symbol der Freundschaft zwischen den benachbarten Völkern werden. Die Initiative ging dieses Mal nicht von der Politik, sondern von den örtlichen Benediktinern unter ihrem Abt Petrus Borne aus, die sich 1960 in Tholey von Neuem angesiedelt und ihre einstigen Besitzungen auf dem Schaumberg zurückerhalten hatten. Die Benediktinerabtei Mauritius war in Tholey durch eine fast tausendjährige Geschichte verwurzelt und fast diesen gesamten Zeitraum hindurch zugleich von deutschen und französischen Einflüssen geprägt gewesen. Aufgrund einer Schenkung aus dem frühen 7. Jahrhundert gehörten Grund und Boden der Abtei zum bischöflichen Stuhl von Verdun, und diese Besitzverhältnisse blieben auch im Hochmittelalter unangetastet, als die Abtei lehensrechtlich dem Erzbistum von Trier unterstellt wurde. Bis ins späte 18. Jahrhundert hinein unterhielten die Tholeyer Benediktiner vielfältige Beziehungen zum Bliesgau und zur Westpfalz, aber ebenso zum Moselgebiet (Piesport, Dusemont) und zur Gegend östlich von Vichy.15 Nicht nur aufgrund der exponierten geografischen Lage, sondern auch wegen des grenzüberschreitenden Wirkungsraums der Tholeyer Abtei erschien der Platz auf dem Schaumberg für eine deutsch-französische Begegnungsstätte deshalb in besonderer Weise prädestiniert zu sein. Das Projekt wurde von Anfang an hoch gehandelt. Bereits bei den ersten Planungsschritten wurde Bundeskanzler Konrad Adenauer darüber informiert und erfolgreich um seine Unterstützung geworben. Angedacht wurde eine Art “ZweiNationen-Denkmal“, das, wie Adenauer es ausdrückte, „die tiefe Verwurzelung der deutsch-französischen Freundschaft im Bewusstsein beider Länder zum Ausdruck bringen soll.“16 Das Denkmal sollte verschiedene Bauteile zu einer künstlerischen Einheit verbinden: „einen Aussichtsturm mit zwei ‚Armen‘, der beide Völker symbolisiert“, eine überkonfessionelle Kapelle und eine „Tagungsstätte zur Begegnung und Besinnung“.17 Anfang 1965 wurde ein deutsch-französischer Ideenwettbewerb ausgeschrieben, zu dem 117 Architekten Entwürfe einreichten. Eine paritätisch besetzte Jury unter dem Vorsitz der Architekten Professor Bartmann (Darmstadt) und Professor Delaage (Paris) vergab Anfang Dezember 1965 drei Hauptpreise: Der dritte Preis ging an den Münchner Architekten Hans Gschwendtner, der zweite Preis an Roger Titus nach Paris, während der erste Preis in der Region verblieb und an Jean Marie Collin aus Nancy vergeben wurde. Collin kreierte eine filigran wirkende Gedenkstätte, deren 65 Meter hoher Aussichtsturm „die neue deutsch-französische Freundschaft durch zwei ‚Flammen‘“ versinnbildlichte, „die miteinander aus dem Boden emporsteigen. Die verschieden Funktionen des Projektes haben formbildende geneigte Dachflächen, die die Flammen in ihrem Aufsteigen begleiten. Diese Formen erinnern an Bergkristalle. Der Grundgedanke des Projekts ist das hervorsprühende Feuer.“18 15 Abteiarchiv Tholey, „Das sichtbare Zeichen deutsch-französischer Freundschaft auf dem Schaumberg bei Tholey“, unveröff. Manuskr., S. 9f. 16 Ebd. (Anm. 15), S. 4. 17 Ebd. (Anm. 15), S. 6f. 18 Ebd., S. 39f. „Technischer Erläuterungsbericht“ der Architektengemeinschaft.
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Das Siegermodell des Ideenwettbewerbs mit den beiden Himmel ragenden „Flammen“
Collins Entwurf überzeugte durch seine innovative Formensprache nicht nur die Preisrichter, sondern entsprach in der Feuersymbolik auch dem Aufbruchsgeist und den politischen Emotionen der Zeit. Petrus Borne, der zur Zeit des Ideenwettbewerbs als Konzilsvater in Rom weilte, wollte ein Denkmal prämiert sehen, das die Sinne und Herzen ansprach, denn die deutsch-französische Freundschaft „reiche weit über ein Politikum hinaus; sie sei ein ethisches und ein menschliches Anliegen. Eine echte Freundschaft zwischen zwei so begabten und sich ergänzenden Nationen könne nur dann verwirklicht werden, wenn sie auf der privaten Ebene, das heißt, von Mensch zu Mensch, realisiert werde. Eine solche Freundschaft erst rufe jene Harmonie hervor, die Voraussetzung und Folge eines soliden politischen Friedens sei.“19
19 Ebd. (Anm. 15), S. 23.
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Die Preisträger des Architektenwettbewerbs mit dem Sieger Jean Marie Collin in der Mitte
Die Preisverleihung am 05.04.1966 in Tholey wurde in Anwesenheit des französischen Botschafters als deutsch-französische Kundgebung und „Feierstunde der Freundschaft“ begangen. Helmut Bulle, der saarländische Minister für öffentliche Arbeiten und Wohnungsbau, hielt eine viel beachtete Festrede und schloss darin mit den Worten: „Die Konstruktion Europas … kann nicht den Staatsmännern, den Politikern überlassen bleiben. Ihre Bemühungen sind fruchtlos, wenn sie nicht gleichgehen mit einer großen geistigen Bewegung, die in die Tiefe und in die Breite geht, die die Herzen der Menschen aufschreckt und mobilisiert.“20 20 Saarbrücker Zeitung vom 6.4.1966 „Mit den Herzen gehört und verstanden“.
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Allen Beteiligten war klar, dass das ambitionierte Denkmalvorhaben nur dann realisierbar war, wenn sich neben Landkreis und Stadt auch der Bund, Frankreich und die Landesregierung an den Kosten beteiligten, die auf 15 Millionen DM beziffert wurden. Ein Förderverein wurde gegründet, die Projektbetreiber wurden Anfang 1967 sowohl von Adenauer als auch von Bundespräsident Lübcke in Bonn empfangen, Förderanträge wurden formuliert und bis Ende der 1960er Jahre schien alles in den erwarteten Bahnen zu verlaufen. Doch verschiedene Faktoren – der hohe Kostenrahmen, die Erlahmung der deutsch-französischen und europäischen Initiativen zu Beginn der 1970er Jahre, der Koalitionswechsel in Bonn 1969–trugen dazu bei, dass 1976 letztlich nur eine wesentlich kleiner dimensionierte Maßnahme auf dem Schaumberg verwirklicht wurde. Die ursprüngliche Idee der Zwillingstürme, die den Entwurf Collins geprägt hatte, kam an anderer Stelle, beim etwa gleichzeitig geplanten und 1970 öffentlich eingeweihten Denkmal für die großen Europäer in Berus zum Tragen.21 Das Gemäuer der alten, meist als Schaumbergturm bezeichneten Kriegergedächtniskapelle jedoch wurde lediglich gründlich saniert, in der Außenhülle erneuert und optisch umgestaltet, bevor sie am 17. September 1976 wieder eröffnet und ihrer neuen Bestimmung als Stätte der deutsch-französischen Begegnung übergeben wurde.22 Ein Glanzzeichen setzte der von dem Lebacher Künstler Richard Hoffmann neu gestaltete Kapellenraum, während der deutsch-französische Gedanke durch eine historische Dauerausstellung im oberen Teil des Turms zur Geltung gebracht wurde. Im Mittelpunkt der Einweihungsfeierlichkeiten stand die Botschaft der Freundschaft: Das morgendliche Pontifikalamt wurde gemeinsam vom Bischof von Verdun, Pierre Boillon, dem Abt der Benediktinerabtei, Hrabanus Heddergott, und dem Trierer Weihbischof Jacoby gestaltet, der eigentliche Festakt durch Darbietungen französischer Parforcebläser und saarländischer Chöre umrahmt. Neben zahlreichen Würdenträgern aus Politik und Kirche war auch Philipp de Gaulle, der Sohn des verstorbenen französischen Staatspräsidenten, zugegen, was jedoch nichts daran änderte, dass die Feierlichkeiten kaum über den Rahmen einer regionalen Veranstaltung hinausgingen.23
21 Den Großen Europäern, Saarbrücken 1970, limitierte Festgabe (Landesarchiv Saarbrücken). 22 Vgl. Burgard Paul, Ludwig Linsmayer, 50 Jahre Saarland. Von der Eingliederung in die Bundesrepublik bis zum Landesjubiläum (ECHOLOT 5), Saarbrücken 2007, S. 184. 23 Vgl. Saarbrücker Zeitung v. 20.9.1976 „Schaumbergturm als Stätte des Friedens und der Freundschaft“.
Vom imperialen Monument zum Denkmal der Freundschaft
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Einweihung des „neuen“ Schaumbergturms am 17.9.1976
Ein quasi-offizielles Zwei-Nationen-Denkmal, wie ursprünglich einmal intendiert, wurde die Tholeyer Begegnungsstätte nicht mehr. Sie blieb im Wesentlichen, was sie zuvor bereits war, ein Wahrzeichen des Saarlandes, das von vielen Schulklassen und gelegentlich nun auch von französischen Gruppen besucht wurde. Bereits in den 1980er Jahren wurden Schäden am Beton sichtbar, die neuen Renovierungsbedarf signalisierten, bis der Turm aus baupolizeilichen Gründen, insbesondere wegen des Fehlens eines zweiten Fluchtweges, geschlossen wurde.24 Der Turm symbolisiert in seinem Werdegang deshalb nicht nur den anfänglichen Enthusiasmus des deutsch-französischen Neubeginns, sondern auch die zeitweise Verflachung dieser Ideale in Politik und gesellschaftlichem Alltag. Bleibt zu hoffen, dass bald ein neues Kapitel in der wechselvollen Geschichte des Schaumbergdenkmals geschrieben wird, das an die Ansätze der 1960er Jahre von Neuem anknüpft: Es wäre der Abtei, den Menschen in Tholey, den Saarländern und den deutsch-französischen Beziehungen zu wünschen! Dr. Ludwig Linsmayer, Direktor des Landesarchivs Saarbrücken
24 Vgl. Saarbrücker Zeitung v. 2.8.1994 „Risse widersetzen sich jeder kosmetischen Behandlung“.
CHEMINS DE LA MÉMOIRE EN ALSACE-MOSELLE
(ALFRED WAHL)
On sait combien la population des deux départements alsaciens et celle de la Moselle ont connu de souffrances du fait des trois guerres entre la France et l’Allemagne depuis 1870 jusqu’en 1945 parce que celles-ci se sont déroulées en partie sur leur sol et ont entraîné de très nombreuses victimes civiles et militaires. Au lendemain des deux premières guerres, celle de 1870 et celle de 1914–1918, les autorités ou des associations ont tenu à ériger des lieux de commémoration et du souvenir sur les lieux mêmes des affrontements qui ont eu lieu sur place: Gravelotte et tout autour ainsi que beaucoup d’autres sites en Moselle, Wissembourg dans le Bas-Rhin pour la première, Le Vieil Armand et ailleurs au sommet des Vosges pour la seconde guerre. Or, après la seconde guerre mondiale, à l’issue de plus de quatre années d’annexion de fait par les nazis, un seul lieu de commémoration a pu voir le jour au cours des toutes premières années: celui du camp de concentration du Struthof, où avaient séjourné très peu d’Alsaciens et un peu plus de Mosellans. Il était placé sous le contrôle d’un comité international formé d’anciens détenus, lui-même sous la tutelle du gouvernement français. En revanche, le camp de rééducation situé non loin de là, à Schirmeck, a été entièrement rasé comme pour effacer les traces de l’oppression nazie. Il est vrai aussi qu’à Metz, le fort de Queuleu, le lieu de détention de nombreux résistants mosellans, est devenu un lieu de commémoration et du souvenir grâce à d’anciens détenus qui ont assuré eux-mêmes et bénévolement la préservation des lieux. Or dans le restant du territoire français s’élèvent successivement une série d’édifices voués à la commémoration de massacres commis par les nazis ou par la milice vichyste. Cette absence s’explique par le malaise qui régnait dans la région où 135.000 jeunes ont été contraints de servir dans les armées allemandes. Toute la population sentait peser sur elle un regard de méfiance ou même un regard accusateur. Comment commémorer alors que l’on sait que cet acte revêtait un caractère patriotique? Ce fut donc un très long silence qui s’est abattu sur la région. Après 1981, lorsque le gouvernement allemand eut reconnu les crimes commis à l’encontre des populations des trois départements par la signature du traité instaurant la Fondation dite Entente Franco-Allemande, une première initiative vit le jour. Au sein de cet organisme, l’idée a germé d’un Mémorial commémorant la «tragédie des Incorporés de force.“ Elle n’a finalement pas été suivie d’effet. Plus de dix ans se passent et bien des sites ont été édifiés dans les autres départements, notamment celui de Caen qui raconte le débarquement de juin 1944 en Normandie, celui de Péronne qui fait revivre les combats de la Grande Guerre ou encore celui d’Oradour-sur-Glane qui rappelle les meurtres de la division Das Reich en juin 1944 près de Limoges.
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Alfred Wahl
A l’extrême fin du siècle enfin, Le Conseil général du Bas-Rhin est intervenu auprès du Secrétariat d’Etat chargé des Anciens Combattants pour qu’il appuie un projet d’érection d’un Mémorial. Dans l’esprit des conseillers généraux, ce Mémorial devait être consacré aux seuls incorporés de force d’Alsace et de Moselle et raconter leur drame. Or, en 1984, nous avions été chargé par ce même Secrétariat d’Etat de monter une exposition itinérante à l’occasion des festivités du quarantième anniversaire de la libération de l’Alsace et de la Moselle. Le Secrétariat d’Etat avait alors décidé que l’exposition devait relater l’histoire de tous les acteurs ou victimes de cette guerre, depuis les évacués de 1940, jusqu’aux incorporés de force, en passant par les expulsés de 1940, les résistants, les déportés, les combattants de la Libération, etc. Et lorsque nous avons ensuite été chargé en 1998 de présider le Conseil scientifique chargé d’étudier la faisabilité et d’esquisser le contenu du Mémorial projeté, nous avons aussitôt proposé de reprendre les thématiques de 1984. Ce qui détournait le projet initial de son objectif premier: raconter le drame des incorporés de force. Le Conseil général du Bas-Rhin candidat pour ériger le Mémorial laissa faire ce qui a conduit les premiers promoteurs du projet à se résigner. C’est donc sur ce projet nettement élargi que le Conseil scientifique a travaillé pour mettre au point une trame historique à soumettre aux architectes et muséographes. Après d’autres péripéties, le Conseil général a décidé d’implanter le Mémorial à Schirmeck, dans la vallée de la Bruche, non loin du Struthof et à quelques encablures de l’ancien camp de rééducation rasé après 1945. Le Conseil général de Moselle s’engagea pour une participation très réduite, bien que le musée du Mémorial devait englober l’histoire de ses habitants durant la guerre. Les associations patriotiques de ce département ont boudé le projet, considérant que leurs expériences différaient sensiblement de celles des Alsaciens. Ils ont milité pour un Mémorial propre à la Moselle. Le Mémorial de l’Alsace-Moselle de Schirmeck a été inauguré en juin 2005. Ce n’est que quelques mois après, à l’occasion de l’inauguration du nouveau site du Struthof que le président de la République Jacques Chirac y a fait un passage rapide, quasi confidentiel, en l’absence des élus et autres personnalités. Ce qui a provoqué bien des polémiques. Le Mémorial n’a pas les caractéristiques d’un lieu de recueillement, mais seulement d’un lieu pédagogique caractérisé aussi par une certaine théâtralisation à la façon de celui de Caen. Sa vocation est d’attirer un maximum de visiteurs tant il est vrai qu’aujourd’hui le souci de l’Etat et des collectivités est d’intégrer ce type d’édifice dans la politique touristique qui impose des concessions à l’esprit originel d’un Mémorial. Le terme de «chemins de la mémoire» qui désigne des itinéraires reliant les sites d’une même région est explicite sur ce point. Le «Centre européen du résistant-déporté dans le système concentrationnaire nazi» a été inauguré le 3 novembre 2005 par le président de la République. Il s’agit d’une rénovation importante du camp dénommé par les nazis «Konzentrationslager Natzweiler» et connu aujourd’hui sous le nom de camp du Struthof parce qu’il avait été implanté sur le sommet du même nom, non loin de la commune de Natzwiller, au fond de la vallée de la Bruche, dans le Bas-Rhin. Ce camp
Chemins de la mémoire en Alsace-Moselle
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constituait le centre d’une nébuleuse concentrationnaire réunissant des lieux d’internement situés des deux côtés du Rhin. Géré à l’origine par un comité international formé d’anciens déportés, la «Commission exécutive du Struthof», c’est finalement le gouvernement français qui a pris l’initiative de rénover et de compléter le site. Un nouveau bâtiment a été construit qui abrite une exposition élaborée par un Conseil scientifique composé surtout d’universitaires au sein duquel nous avons également été nommé. Celle-ci retrace la montée du fascisme et du nazisme en Europe et l’histoire de la guerre. L’ancien musée installé dans une baraque du camp a bénéficié d’un réaménagement; il est consacré entièrement à l’histoire du camp. Comme pour tous les sites les plus récents, des espaces sont consacrés à des exercices pédagogiques. Des mini-chemins de la mémoire conduisent vers l’ancienne chambre à gaz et vers l’ancienne carrière. Par son architecture et son contenu, le «Centre européen» respecte le site et son histoire. Il a pour ambition de préserver la mémoire et d’appeler à la vigilance. Ce qui en fait un vrai site de commémoration et non pas un simple musée. Depuis une quinzaine d’années, les projets de musée sur les guerres se multiplient dans les petites villes. Celui de Hatten, dans le nord du Bas-Rhin revêt un caractère original et exceptionnel par son histoire. Il s’organise autour de l’Abri, un édifice sous-terrain de la ligne Maginot. Ce musée présente un ensemble d’armes de toute nature. Il doit son existence à la sanglante bataille de Hatten de mars 1945, mais n’est pas voué à la commémoration. Son caractère original provient des modalités de sa mise en œuvre récente. Erigé au départ par un groupe de bénévoles comme un musée militaire et d’armes, il a subi des transformations significatives à la suite d’un financement franco-allemand dans le cadre des projets Pamina unissant le conseil général du Bas-Rhin et le Land de Rhénanie-Palatinat. Cette coopération a impliqué la mise en place d’un comité scientifique franco-allemand que nous avons été chargé de présider, le vice-président étant un représentant des services culturels du Land allemand voisin. Sous la pression des membres allemands du Conseil scientifique, le musée a cessé d’être exclusivement militaire. Il retrace désormais davantage d’aspects sur la «culture de guerre» et la vie quotidienne. Plus récemment encore, le département de la Moselle a entrepris l’extension du vieux musée de Gravelotte qui rappelait la bataille qui s’est déroulée en 1870 autour de ce village entre les troupes de Napoléon III et celles des Etats allemands confédérés. Rappelons que toute la région est déjà parsemée de monuments, de colonnes commémoratives. Il s’agit davantage de réalisations allemandes datant de l’époque du Reichsland. Mais dès l’origine, la nébuleuse de Gravelotte avait un caractère franco-allemand. C’est dans cet esprit que le Conseil général a entrepris la réalisation du nouveau projet. Il a mis en place un conseil scientifique intégrant aussi des représentants allemands afin de donner à la trame historique du musée toutes les dimensions du conflit. La principale interrogation a porté sur l’étendue chronologique de l’histoire qui serait racontée. Il a été finalement décidé d’évoquer non seulement la guerre
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elle-même, mais aussi les débuts de l’annexion du territoire après le traité de Francfort. Le conseil scientifique a pris en compte pour ce faire, les travaux historiques les plus récents qui n’ont plus de rapports avec les écrits polémiques du passé. Le site ne sera achevé que vers 2010. Il sera alors temps de mieux tracer dans le paysage alsacien-mosellan un «chemin de la mémoire» unique reliant l’ensemble des grands sites évoqués et d’autres et pourquoi pas certains des régions allemandes voisines, comme par exemple celui de la Neue Bremm en Sarre. Prof. Dr. Alfred Wahl, Professeur émérite, Université de Metz
„DER ERSTE SCHRITT“ DEUTSCH-FRANZÖSISCHE AUSSÖHNUNG IM RAHMEN DES EUROPÄISCHEN INTEGRATIONSPROZESSES (GABRIELE CLEMENS)
Am 14. Dezember 1951 erlebten Zuschauer in einem deutschen Kino die Uraufführung eines Filmes mit dem Titel „Der erste Schritt – Die Geschichte eines Briefes“, nach einer Idee von Peter von Zahn. Was sie sahen, waren Bilder vom Krieg, von zerstörten Städten, Produktionsanlagen und Soldatenfriedhöfen in Frankreich und Deutschland, von Grenzen, Schlagbäumen, harten Arbeitsbedingungen in Stahlwerken, von kriegsversehrten, verhärmten Arbeitern – aber auch Bilder aus einer anderen, besseren Welt. Vor allem, was sie hörten, mag sie erstaunt haben: Es gibt einen Weg aus dem Elend, aus den fortwährenden kriegerischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit, aus den deutsch-französischen Rivalitäten – und der heißt: Europa. Bei diesem 16minütigen Schwarz/weiß – Film, gedreht unter der Regie Günter Schnabels, handelte es sich um eine Gemeinschaftsproduktion der Neuen Deutschen Wochenschau und der französischen Wochenschau Pathé Journal Paris.1 Laut Vorspann des Films beruhte die Idee zu diesem Kurzfilm auf einer wahren Begebenheit: Eine französische Studentin hatte einem deutschen Politiker, der zu den Schuman-Plan-Verhandlungen nach Paris gereist war (möglicherweise Walter Hallstein), einen Brief geschrieben und ihm als Zeichen der Aussöhnung zwischen den beiden Staaten das Kriegsverdienstkreuz ihres Vaters beigelegt (Bild 1). In seinen 1991 erschienenen Erinnerungen berichtet der deutsche Rundfunk- und Fernsehjournalist Peter von Zahn von einem Treffen mit Jean Monnet und Walter Hallstein im Juli 1950 und einer anschließenden Reise durch fünf spätere Montanunion-Staaten, in denen von Zahn für die Produktion des Filmes recherchierte.2 Die Entstehungszeit des Films liegt somit in der Phase zwischen den Verhandlungen über den Vorschlag Schumans, welche am 20. Juni 1950 in Paris zwischen sechs europäischen Staaten begannen und mit der Unterzeichnung des Vertrages zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) am 18. April 1951 endeten, und dem Ratifizierungsprozess in den künftigen EGKS-Staaten. Der französische Außenminister Robert Schuman hatte am 9. Mai 1950 seinen Plan verkündet, die deutsche und französische Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Obersten Aufsichtsbehörde zu unterstellen, deren Entscheidungen für Deutschland, Frankreich und alle anderen teilnehmenden Länder bindend sein sollten. Durch die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion sollte, 1 2
Der erste Schritt – Die Geschichte eines Briefes (NDW Sonderfilm 044), Archiv der Deutschen Wochenschau GmbH, Hamburg; siehe auch www.filmportal.de (Zugriff: Oktober 2007). Als Datum der Uraufführung wird der 14.12. 1951 angegeben. Von Zahn, Peter, Stimme der ersten Stunde. Erinnerungen 1913–1951, Stuttgart 1991, S. 379ff.
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so erklärte Schuman, nicht nur der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht, sondern zugleich der Lebensstandard in den beteiligten Ländern gehoben und die erste Etappe zur Bildung einer europäischen Föderation eingeleitet werden. Über die Motive der französischen Regierung zur Lancierung dieses aus der Feder des französischen Planungskommissars Jean Monnet stammenden Plans ist in der Forschung viel diskutiert worden; verschiedene Arbeiten haben den Wunsch Frankreichs nach Sicherheit vor dem mächtigen Nachbarn im Osten hervorgehoben, aber ebenso das französische Interesse an dem preiswerten Bezug der Ruhrkohle, um die eigene Industrie wettbewerbsfähig zu machen und den französischen Modernisierungsplan zu retten.3 Der Film thematisiert vor allem zwei Aspekte des Schuman-Plans: die deutsch-französische Aussöhnung und die gemeinsame Zukunft Europas. Er stellt ein Plädoyer für die europäische Einigung dar und reiht sich damit in die verschiedenen Werbekampagnen dieser Zeit zur Propagierung des europäischen Integrationsprozesses ein.4 Die erste umfassende Werbekampagne zur Einigung Europas mittels Filmen hatte mit dem Marshallplan eingesetzt. Im Zuge der Öffentlichkeitsarbeit für die Ziele und Wirkungen des Marshallplans waren von der ECAMission (Economic Cooperation Administration) in Paris annähernd zweihundert Filme produziert worden, von denen ein Teil sich ausschließlich mit der Einigung Europas als Mittel zur wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung des Kontinents befasste. Auch die europäische Einigungsbewegung in Großbritannien und Deutschland hatte Ende der vierziger/Anfang der fünfziger Jahre die Produktion mehrerer Filme in Auftrag gegeben, in denen für den europäischen Einigungsprozess geworben wurde. Filme stellten aufgrund ihrer hohen Suggestivkraft und ihrer leichten Reproduzierbarkeit ein geeignetes Mittel dar, gewünschte Botschaften einer breiten Öffentlichkeit in Europa zu übermitteln. Für den Historiker stellen diese inzwischen oft in Vergessenheit geratenen Filme eine hervorragende Quelle dar, um die Europavorstellungen oder Europabilder ihrer Auftraggeber und Produzenten in der Anfangszeit des Integrationsprozesses zu erforschen. Bezogen auf den hier besprochenen Film „Der erste Schritt“ ist danach zu fragen, welche Vorstellungen die Auftraggeber/Produzenten – in diesem Falle Filmschaffende und Verantwortliche in den Wochenschauen Frankreichs und Deutschlands – mit „Europa“ verbanden und welche Erwartungen sie an den europäischen Einigungsprozess knüpften. 3
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Siehe u.a. die Aufsätze in dem Sammelband von Klaus Schwabe (Hrsg.), Die Anfänge des Schuman-Plans 1950/51, Baden-Baden 1988; Milward, Alan S., The Reconstruction of Western Europe 1945–51, London 1984; Gillingham, John, Coal, Steel, and the Rebirth of Europe, 1945–1955. The Germans and French from Ruhr Conflict to Economic Community, Cambridge 1991; Kipping, Matthias, Zwischen Kartellen und Konkurrenz. Der Schuman-Plan und die Ursprünge der europäischen Einigung 1944–1952, Berlin 1996. Siehe dazu Clemens, Gabriele, L’image de l’Europe dans le court-métrage des années 1950, in: Marie-Thérèe Bitsch/Wilfried Loth/Charles Barthel (Hrsg.), Cultures politiques, opinions publiques et intégration européenne, Brüssel 2007, S. 431–447; zur Filmwerbung für den Marshallplan siehe Hemsing, Albert, The Marshall Plan’s European Film Unit, 1948–195: a memoir and filmography, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 14/1994, S. 269–297.
„Der erste Schritt“ der „Deutsch-französischen Aussöhnung“
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In dem Film werden mehrere Handlungsstränge miteinander verknüpft: 1. die Geschichte einer jungen französischen Studentin, die einem deutschen Politiker einen Brief schreibt und ihm das Kriegsverdienstkreuz ihres Vaters überlässt (Rahmenhandlung); 2. das Kohleproblem in Europa; 3. die Behinderung der Wirtschaftsbeziehungen durch Grenzen und 4. lothringisches Stahlwerk/Lösung der europäischen Probleme. Der Film beginnt mit dem Appell der jungen Studentin, die Streitigkeiten der Vergangenheit zwischen Frankreich und Deutschland zu überwinden und eine gemeinsame Zukunft im europäischen Rahmen zu suchen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit werden in dem Film durch die Schilderung der Kriegserlebnisse der Familie der Studentin personalisiert: Der Großvater kämpfte im deutsch-französischen Krieg von 1870, der Vater im Ersten Weltkrieg und der Bruder im Zweiten Weltkrieg. Bilder vom Kriegsgeschehen, von zerstörten Städten und Soldatenfriedhöfen werden gezeigt, die dem Zuschauer die zerstörerische Vergangenheit Europas und das dadurch hervorgerufene Leid für die Bevölkerung in Erinnerung rufen (Bild 2 u. 3). Der von der Studentin gesprochene Kommentar hebt hervor, dass der Bruder – ein junger Franzose – gegen junge Deutsche habe kämpfen müssen. Eingeblendet werden Straßenschilder von Orten des Kriegsgeschehens, mit denen sowohl deutsche als auch französische Zuschauer Erinnerungen verbanden: Sedan, Verdun, Ossuaire et Fort de Douaumont (Bild 4). Der Film erinnert durch den Verweis auf diese Orte an das gemeinsame Leid der deutschen und französischen Bevölkerung, eine Schuldzuweisung für das Kriegsgeschehen findet nicht statt. Aus dem gemeinsamen Leid erwächst der Wunsch, gemeinsam für eine friedliche Zukunft zu sorgen. Der Krieg ist sozusagen die Geburtsstunde des neuen Europas, dauerhafte Friedenssicherung wird in dem Film als ein zentrales Motiv für die europäische Einigung hervorgehoben. Der zweite Handlungsstrang beginnt recht unvermittelt: ein großes Holztor wird geöffnet, und dahinter erblickt man ein verfallenes Fabrikgelände. Der aus dem Off gesprochene Kommentar (männliche Stimme) erläutert, dass dieses im Ruhrgebiet liegende Werk einst eines der größten Stahlwerke in Europa gewesen sei (Bild 5). Die Verbindung zum ersten Handlungsstrang wird dadurch hergestellt, dass die Kamera ihren Blick auf einen kriegsversehrten Arbeiter richtet, der auf dieses Werk zugeht. Dieser Arbeiter erläutert im folgenden die Situation im Kohle- und Stahlbereich. Auch er verweist auf den Krieg als eine Ursache für die desaströse Lage bei der Kohle- und Stahlproduktion: „Früher war es anders. Aber während wir in Europa unsere Städte und Fabriken kaputtschossen, ist uns die übrige Welt über den Kopf gewachsen.“ Der Sprecher (Arbeiter) betont vor allem die Gemeinsamkeit der Probleme in den europäischen Staaten, verweist mehrfach auf die Situation in Belgien und Frankreich. Auch dort könne nicht genug Kohle gefördert werden und hätten die Arbeiter unter den schlechten Lebensbedingungen zu leiden. Ohne eine ausreichende Menge an Kohle sei, so der Sprecher, keine Verbesserung des Lebensstandards zu erwarten. Bilder von hart arbeitenden Grubenarbeitern mit kohleverschmierten Gesichtern, denen die mühseligen Arbeitsbedingungen und Entbehrungen anzusehen sind, unterstreichen die Aussage des Kommentators. Am Schluss fordert er, dass nur gemeinsam in Europa das Kohle-
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problem in Angriff genommen werden könne: „Zusammen sind wir 200 Millionen.“ Der dritte Handlungsstrang thematisiert die Transportschwierigkeiten in Europa und das Problem der zahlreichen Zollgrenzen. Gezeigt wird, wie schwierig es ist, Waren von einem Land in ein anderes zu exportieren. Dem Zuschauer wird vermittelt, dass in der Behinderung des Warenaustauschs durch Zollgrenzen und der damit verbundenen Bürokratisierung (Pass-, Zoll-, Devisenkontrollen) eine der Hauptursachen für die miserable wirtschaftliche Situation in Europa liegt (Bild 6 u. 7). Eine Szene in diesem Handlungsstrang zeigt, wie Jugendliche aus Deutschland und Frankreich den Schlagbaum öffnen und die Grenze passieren. Sie tragen Transparente mit sich, auf denen geschrieben steht „Stürmt die Bastille Nationalstaat“ und „Wir fordern Europa“ (Bild 8). Hier verweist der Film auf die Rolle der Jugend, die das neue Europa schaffen kann. Nach einem kurzen Einschub der Rahmengeschichte, in der die Studentin schreibt, dass alle Menschen die Einigung Europas wollen, folgt der Handlungsstrang: lothringisches Stahlwerk. Gezeigt werden die veralteten Produktionsbedingungen in diesem Stahlwerk, die die Arbeitskräfte der Menschen aufzehren und ihre Sicherheit bedrohen. Die erste Szene zeigt einen Unfall in einem Stahlwerk, und der Sprecher (ein jüngerer Arbeiter) erläutert: „Der dritte Unfall in dieser Woche“. Kontrastiert werden die harten Arbeitsbedingungen in den europäischen Stahlwerken mit den Zuständen in den USA. Dort erleichtern nicht nur moderne Maschinen die Arbeit der Menschen, sondern die Arbeiter verfügen auch über einen höheren Lebensstandard. Die Kamera blickt in Vogelperspektive auf einen riesigen Parkplatz voller moderner Autos, und der Sprecher erläutert: „In Amerika haben die Arbeiter Sorgen, genug Parkplätze zu finden für ihre Autos.“ (Bild 9) Der Grund für die unterschiedliche Entwicklung in Amerika und in Europa wird dem Zuschauer durch einen Blick auf zwei Karten erläutert: auf der einen Seite die USA als ein zusammenhängender Wirtschaftsraum, auf der anderen Seite ein durch Abgrenzung in Nationalstaaten zersplitterter europäischer Raum. Überschrieben ist diese Karte Europas, die vermutlich einer amerikanischen Zeitschrift entstammt, mit den Worten „Must Europe Stay Split?“ (Bild 10). Der Sprecher erläutert diese Karten und vergleicht Europa mit einer Schrebergartenkolonie: „Lauter kleine Länder. Und überall hohe Zäune drum herum. Der eine hat mehr Erz und der andere hat mehr Kohle. Jeder macht seine Sache allein und keiner kann leben. Die Zäune müssen fallen“, – und er fügt mit Blick auf die USA noch hinzu: „in vier Wochen drüben habe ich begriffen, was es heißt, modern zu wirtschaften.“ Bilder von moderner Zukunftstechnologie unterstreichen eindrucksvoll, wohin Europa sich entwickeln kann, wenn es dem Vorbild USA folgt. Am Ende dieses Handlungsstrangs fasst der Sprecher das Anliegen dieses Films noch einmal pointiert zusammen: „Frankreich, Deutschland, Holland, Belgien, Luxemburg, Italien: Wir alle sind heute hilflos allein. Wenn es uns aber gelingt, unsere Kräfte wirklich zusammenzunehmen, dann wird Europa ein großes, glückliches Land sein. (…) Die Vereinigung von Kohle und Stahl ist nur der erste Schritt (…) Alles andere wird von selbst folgen. Und dann beginnt eine neue Zeit für uns.“ Die Schlussszene des Films zeigt die Studentin, die in ihrem Brief dem
„Der erste Schritt“ der „Deutsch-französischen Aussöhnung“
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deutschen Politiker dafür dankt, dass er nach Paris gekommen ist, um einen Anfang zu machen. Die Darstellung bedient sich des Kontrasts als Mittel zur Verdeutlichung ihrer Aussagen: Das veraltete, durch Krieg, Grenzstreitigkeiten, Zollgrenzen, Mühsaal und Bürokratisierung gekennzeichnete Europa steht einem neuen Europa gegenüber, das ein Hort des Friedens und Wohlstandes sein wird. Dieses neue Europa wird im Film verkörpert durch die Jugend (Studentin, ihr Bruder, Jugendliche am Grenzübergang), während die vorgeführten älteren Arbeiter sich meist skeptisch gegenüber der neuen Entwicklung äußern. Das neue, junge Europa, das der Film propagiert, lehnt sich an das Vorbild USA an. Nur an einer Stelle wird eine mögliche Konkurrenz zwischen Europa und den USA angedeutet, als der Kommentator die Überschwemmung des europäischen Marktes mit amerikanischer Importkohle anspricht. Damit greift der Film ein Motiv für die Gründung der EGKS auf, das in der Forschung, die sich vor allem auf das französische Verlangen nach deutscher Ruhrkohle konzentriert, weitgehend vernachlässigt wird: die Notwendigkeit der gemeinsamen Lösung des Energieproblems in Europa angesichts der zunehmenden Globalisierung auf dem Energiemarkt.5 Die Lösung aller im Film thematisierten Probleme: Krieg, wirtschaftlicher Niedergang, schlechte Lebensbedingungen für die Bevölkerung wird in der Überwindung der nationalstaatlichen Zersplitterung gesehen. Bildlich wird dies dadurch unterstützt, dass am Ende des 4. Handlungsstranges der Sprecher einen Kreis um die Karte Europas zieht (Bild 11). Die Einigung Europas, die Aufhebung aller Grenzen führt, so suggeriert der Film dem Zuschauer, zu dauerhaftem Wohlstand und Frieden in Europa. Das neue Europa ist in der Vorstellung der Filmemacher vor allem ein wirtschaftlich prosperierendes Europa, das den europäischen Arbeitern materiellen Wohlstand garantieren wird. Auf die politischen Implikationen des Schuman-Plans (erster Schritt zu einer Föderation) geht der Film nicht ein. Damit entspricht er der überwiegenden Mehrzahl der zur Propagierung der europäischen Einigung produzierten Filme, die sich vor allem auf die wirtschaftlichen Verheißungen eines gemeinsamen europäischen Marktes konzentrieren und sich kaum mit der politischen Einigung Europas oder mit Europa als kulturellem Raum befassen. Seine Besonderheit liegt in der Thematisierung der deutsch-französischen Beziehungen. Er betont die gemeinsamen Probleme, mit denen Frankreich und Deutschland in der Nachkriegszeit konfrontiert sind (Beispiele: Ruhrgebiet/Lothringen) und die eine gemeinsame Lösung im europäischen Rahmen erfordern. Nur durch die europäische Einigung kann, so lautet die Botschaft des Filmes, die Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland herbeigeführt werden und können die kriegerischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit endgültig überwunden werden. Europa steht in diesem Film für Zukunft und Hoffnung – Hoffnung auf ein Leben in Wohlstand und Frieden. Prof. Dr. Gabriele Clemens, Professorin für Neuere Geschichte, Historisches Seminar, Universität Hamburg 5
Siehe dazu Röndigs, Uwe, Globalisierung und europäische Integration. Der Strukturwandel des Energiesektors und die Politik der Montanunion, 1952–1962, Baden-Baden 2000.
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„Der erste Schritt“ der „Deutsch-französischen Aussöhnung“
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Bild 11 Quelle: Film: „Der erste Schritt – Die Geschichte eines Briefes“ (1951)
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REMINISZENSEN IM ARGONNERWALD
(HANS-WALTER HERRMANN)
Auf der Autobahn A 4 durchquert man bald hinter Verdun in kurzer Zeit ein dichtes Waldgebiet, den Argonnerwald,1 südlicher Ausläufer der Ardennen. Vor einigen Jahrzehnten, als die Route Nationale 3 noch die schnellste Verbindung war, brauchte man etwas länger, um die Strecke zwischen Clermont-en-Argonne auf der lothringischen Seite und Sainte-Menehould auf der champanesken zurückzulegen. Die Nennung des Namens „Argonner Wald“ löste bei älteren Mitgliedern deutscher Reisegruppen Assoziationen an ein im Ersten Weltkrieg entstandenes Soldatenlied aus,2 eine Reminiszenz an den im Ersten Weltkrieg hart umkämpften Großraum Verdun. Ein geschichtlicher Rückblick beim Durchqueren dieses Waldgebietes beschränkt sich aber nicht auf das Gedenken an eine der blutigsten und verlustreichsten Auseinandersetzungen in der deutsch-französischen Geschichte. Er greift viel weiter zurück, umfasst auch weniger betrübliche Aspekte, verquickt damit sind auch Bezüge zur Geschichte der Saargegend. Das in seiner Nord-Süd-Ausdehnung zwischen Grandpré und Triaucourt rund 40 Km lange und in seiner Ost-West-Ausdehnung etwa ca. 12 Kilometer breite, dünn besiedelte Waldgebiet ist über Jahrhunderte hinweg in seinem Kernbestand erhalten geblieben als natürlicher Grenzsaum zwischen den siedlungsoffenen Landschaften der Champagne im Westen und der zu Lothringen gehörenden Woëvre im Osten. Über mehr als zwei Jahrtausende hat es weltliche und kirchliche Herrschafts- und Verwaltungsbereiche von einander getrennt: Seit etwas mehr als zweihundert Jahre nun schon die Départements Meuse und Marne, dementsprechend seit der französischen Verwaltungsreform die Regionen Lorraine und Champagne, in der Frühneuzeit die Provinzen Lorraine-Barrois und Champagne, im Hochmittelalter Imperium und Regnum, in der Karolingerzeit das westfränkische Reich und Lotharingien, im kirchlichen Bereich die Diözese Verdun im Osten von den Diözesen Châlons und Reims im Westen, auf der nächst höheren hierarchischen Ebene die Kirchenprovinzen Trier und Reims. Da deren Abgrenzung sich an römischen Verwaltungsgrenzen orientierte, gilt die Grenze zwischen den römischen Provinzen Belgica prima mit dem Hauptort Trier und Belgica Secunda mit dem Hauptort Reims als Vorläufer, und da die römerzeitliche Verwaltungsgliederung an den Siedlungsräumen der gallischen Stämme ausgerichtet worden war, dürfte der Argonnerwald in vorrömischer Zeit die Stammesgebiete der Mediomatriker und der Remer voneinander geschieden haben. Dabei sei bemerkt, dass die römische Civitas Virdunensis als Vorläufer der späteren Diözese Verdun 1 2
Einen guten Überblick über Landschaft und Geschichte gibt immer noch das Buch von Hussenet, Jacques, Argonne 1630–1980, Reims 1982. Die erste Strophe lautet: Argonner Wald um Mitternacht/ein Pionier steht auf der Wacht /Ein Sternlein hoch am Himmel stand/das sandt den Gruß vom fernen Heimatland.
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erst zu Zeiten Diokletians aus dem westlichen Teil der älteren Civitas Mediomatricorum herausgelöst und zu einer eigenen Civitas erhoben wurde. Der Charakter als Grenzscheide im Mittelalter zwischen Regnum und Imperium war im ausgehenden 19. Jh. und in der ersten Hälfte des 20. Jhs. wiederholt Gegenstand nationalhistoriografisch ausgerichteter deutscher3 und französischer4 Darstellungen. Ein Ausgangspunkt zur Erschließung des dichten Waldgebietes war das castrum conthense. Es war durch eine an seinem westlichen Rand gelegene und in römische Zeit zurückreichende Straße aus dem Pariser Becken über Reims–Verdun– Metz an den überregionalen Verkehr angeschlossen. Der alte Ortsname wurde ersetzt durch den Namen der Lokalheiligen Menechildis, Tochter eines Grafen Sigmar, die im Geruch der Heiligkeit hier vielleicht gegen Ende des 5. Jhs., eher aber im 6. Jh. verstarb. Anstelle von castrum conthense trat Sainte-Menehould, ein ähnlicher Ortsnamenwechsel, wie wir ihn im Saarland von St. Arnual, St. Ingbert und St. Wendel kennen. Das Aussehen der Altstadt von Sainte-Menehould wird trotz schwerer Zerstörungen im Juni 1940 noch heute bestimmt durch den von dem Architekten de la Force geleiteten Wiederaufbau nach einem verheerenden Stadtbrand am 7. August 1719. In der Gastronomie ist der Ort übrigens bekannt wegen der dort vortrefflich zubereiteten Schweinsfüße, – ich habe sie allerdings trotz mehrmaliger Aufenthalte nie gekostet, kann dazu also nichts sagen. Zur Vertiefung christlichen Gedankengutes haben auch „saarländische Kleriker“ beigetragen. Darüber berichtet Richard aus dem Verduner Kloster St. Vanne in der zwischen 1020 und 1046 niedergeschriebenen Vita sancti Chraudingi. Er gehört zu den irischen Missionaren, die in der Nachfolge Columbans auf den Kontinent kamen, um die Kenntnis christlichen Gedankengutes zu verbreiten und zu vertiefen. Nach jahrelangem Wirken als Wanderprediger fand er Aufnahme in die Klerikergemeinschaft in Tholey am Fuße des Schaumberges, erlangte sogar die Abtswürde. Doch habe das mit diesem Amt verbundene Aufgabenfeld nicht seinem Lebensideal entsprochen, er habe seinen Neffen zum Abt von Tholey eingesetzt und sich, begleitet von zwei Schülern, erneut auf Wanderschaft begeben. Dank eines Hinweises des Bischofs von Verdun, der ja infolge einer Schenkung 3
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Vgl. Janssen, Johannes, Frankreichs Rheingelüste und deutsch-feindliche Politik in früheren Jahrhunderten, Freiburg 1883; Kern, Fritz, Die Anfänge der französischen Ausdehnungspolitik bis zum Jahre 1306, Tübingen 1910; Kienast, Walther, Die deutschen Fürsten im Dienste der Westmächte bis zum Tode Philipps des Schönen von Frankreich, Utrecht 1924 und 1931; Haller, Johannes, Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen, 3. Auflage Berlin 1936; Kirn, Paul, Politische Geschichte der deutschen Grenzen, 2. Auflage Leipzig 1938 , Friedrich Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, Berlin 1941; Kienast, Walther, Deutschland und Frankreich in der Kaiserzeit, 1943. Vgl. Clouet, L., Histoire de Verdun et du Pays Verdunois, 1870; Havet, J., La frontière d´empire dans l´Argonne, enquête faite par ordre de Rodolphe de Habsbourg à Verdun en mai 1288, in: Bibliothèque de l´ Ecole de Chartes 62 (1881) S.383–428; Leroux, Alfred, Recherches critiques sur les relations politiques de la France avec l´ Allemagne de 1292 à 1378, Paris 1882; Stein, Henri, – L. le Grand, La frontière d´Argonne (843–1659), 1905; Aimond, Charles, Les relations de la France et du Verdunois de 1250 à 1552, Paris 1910; Corbin, Pierre, Histoire de la politique extérieure de la France, Tome I, Paris 1912, S.219–290.
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des vornehmen Franken Grimo Adalgisel5 in temporalibus für Tholey zuständig war, habe er sich auf einer Höhe im südlichen Teil des Argonnerwaldes an dem Ort Waslogium mit seinen Schülern niedergelassen. Wunder am Ort und darauf folgende Schenkungen lösten Zustrom Gleichgesinnter aus und ließen eine klösterliche Gemeinschaft entstehen, für die Chraudingus bei der Rückkehr von einer Pilgerreise nach Rom in der weithin bekannten Abtei St. Maurice d´Agaune am Oberlauf der Rhône Mauritiusreliquien für sein Argonnenkloster erwerben konnte. Als sich aus der kleinen eremitischen Gemeinschaft in Waslogium eine später Beaulieu genannte Abtei entwickelte, habe er deren Leitung einem ihm geeignet erscheinenden Nachfolger übertragen und sich in den Wald zurückgezogen an einen locus horroris et vastae solitudinis und dort seinen Lebensabend verbracht. Nur an hohen Festtagen habe er das Kloster aufgesucht, dort wurden auch seine sterblichen Überreste beigesetzt. Unser Kollege Wolfgang Haubrichs kam bei seinen Untersuchungen über Tholey zu dem Ergebnis, dass die „historische Existenz des Chraudingus kaum bestritten werden kann.“6 Wegen des prächtigen Ausblicks über die dem Argonner Wald südlich vorgelagerte siedlungsoffene Landschaft lohnt es sich, das Dörfchen Beaulieu aufzusuchen. Die Sakralbauten des Klosters sind allerdings verschwunden, nur Reste der Wirtschaftsgebäude mit einer großen Kelter aus dem 13.Jh. blieben erhalten. Die Erinnerung an Chraudingus, später Rodin, dann Rouin genannt, blieb lebendig. Ungefähr 2 km nordwestlich von Beaulieu, durch einen von der D 2 abzweigenden Waldweg erreichbar, soll nach der Volksüberlieferung die Einsiedelei Chraudings gelegen haben. Dort entstand zunächst eine Kapelle, dann eine Pilgerherberge, somit ein Verehrungsschwerpunkt des Chraudingus-Kultes. In den späten 1950er oder frühen 1960er Jahren wurde nach Plänen des Dominikaners Rayssiguier, einem Schüler von Le Corbusier, ein Kapellenneubau in Beton aufgeführt und mit Glasfenstern eines jungen japanischen Künstlers verschönert. Bis in unsere Zeit wird dort am Todestag von St. Chraudingus/Saint Rouin (17.September) Messe gelesen. Wenige Kilometer südlich des zusammenhängenden Waldgebiets liegt ein weiterer alter Wallfahrtsort Rembercourt-les-Pots, zu erreichen auf der D 2 und D 186 über Triaucourt und Vaubécourt. Der Kult reicht nicht nur in merowingische Zeit zurück, sondern ist sogar indirekt mit der berühmt-berüchtigten Königin Brunhilde verbunden. Der fränkische Chronist Gregor von Tours7 berichtet, Lupentius, Abt (?) von St. Privat in der Stadt Javols (Diözese Mende, Dép. Lozère), 5
6 7
Es handelt sich um das bekannte Grimo-Testament von 634, die „älteste mittelalterliche Urkunde des Rheinlandes“, die von Wilhelm Levison mustergültig ediert wurde (Das Testament des Diakons Adalgisel-Grimon, in: Trier. Ztschr. 7 (1932) S.69–85, Nachdruck in: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze von Wilhelm Levison, Düsseldorf 1948 S.118–138). In den 1970er Jahre habe ich eine deutsche Übersetzung versucht ( in: 22. Bericht der Staatl. Denkmalpflege im Saarland 1975, S.67–89). Haubrichs, Wolfgang, Die Tholeyer Abtslisten des Mittelalters. Philologische, onomastische und chronologische Untersuchungen, Saarbrücken 1986, vornehmlich S.98–122. Gregor von Tours, Zehn Bücher fränkischer Geschichte, Darmstadt 1956, Bd.2, S.667–69 (=Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters – Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, hrsg. von Rudolf Buchner Bd. III, Edition und Übersetzung).
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habe „Schändliches“ über Brunhilde geäußert, wurde deshalb gefangen genommen, aber eines Majestätsverbrechens für nicht-schuldig befunden. Auf dem Rückweg vom Ort des Verfahrens, das wohl in Austrasien stattfand, wurde er nach Ponthion (Dép. Marne, Arr. Vitry-le-François) gebracht, misshandelt, dann doch wieder entlassen. Als er an der Aisne sein Zelt aufgeschlagen hatte, wurde er erneut überfallen, geköpft, Haupt und Rumpf in Säcke gesteckt und in den Fluss geworfen. Als Hirten Leichenteile einige Tage später gefunden hatten und gerade dabei waren, sie zu identifizieren, kam ein Adler angeflogen, schnappte den Kopf, flog mit ihm davon und legte ihn an der Stelle der heutigen Kirche von Rembercourt ab. Die Ortsangaben Gregors von Tours bleiben vage. Die Quelle der Aisne bei Futeau im Argonner Wald liegt rund 20 Kilometer Luftlinie nördlich von Rembercourt, Ponthion rund 35 Km Luftlinie südwestlich von Rembercourt. Die Gebeine sollen in Perthes bei St. Dizier, das nicht an der Aisne liegt, bestattet, später nach Châlons-sur-Marne überführt worden sein. Zeit, Art und Weise, wie Lupentius-Reliquien tatsächlich nach Rembercourt gelangten, werden sich nicht mehr klären lassen. Jedenfalls erlangte Rembercourt in der Volksfrömmigkeit hohen Stellenwert, es sind mindestens drei aufeinanderfolgende Kirchenbauten anzusetzen, eine wohl noch im Frühmittelalter entstandene Verehrungsstätte, ein romanischer Bau, von dem Reste am Südportal des heutigen Baues wieder verwendet wurden und dann der große erhaltene Sakralbau, der trotz rund zweihundertjähriger Bauzeit vom frühen 15. Jh. bis zum frühen 17. Jh. nicht vollendet wurde und dem Peter Volkelt fast „kathedrale Ausmaße“8 zusprach. Seine Größe spiegelt die Bedeutung des Kultes des Hl. Lupentius /Saint Louvent, dessen Patrozinium 7 Pfarrkirchen der Diözese Châlons-sur-Marne, 10 der Diözese Langres, 3 der Diözese Troyes und 5 der heutigen Diözese Verdun führen. Um Hilfe angerufen wurde Lupentius bei Rachitis, Krämpfen, Gemütskrankheiten und „teuflicher Besessenheit“. Noch im 20. Jh. wurden Wallfahrten an Pfingstmontag und am 22. Oktober unternommen nach Rembercourt und zu dem am Weg zum nördlichen Nachbarort Sommaisne gelegenen Lupentiusbrunnen. Der Neubau einer Wallfahrtskirche wurde vielleicht von Kardinal Ludwig von Bar, dem letzten männlichen Spross des Hauses Bar, der die Vermählung seines Großneffen René von Anjou mit der lothringischen Erbtochter arrangierte, angeregt, mindestens aber gefördert. Die Bautätigkeit zog sich hin, erfuhr Unterbrechungen. Chor, Querschiff und Langhaus sind noch spätgotisch, während die oberen Teile der Westfassade und vor allem ihr plastischer Schmuck deutlich Formengut der Renaissance aufweisen. Vollendet wurde der Bau nie, die beiden Westtürme erhielten zu verschiedenen Zeiten ungleiche Abschlüsse. Im Ersten Weltkrieg erlitt der Bau schwere Schäden im Dachbereich und der Gewölbezone des Mittelschiffs. Um die Wende vom 18. zum 19. Jh. konnten Ausstattungsstücke aufgehobener benachbarter Klöster, u.a. von Isle-en-Barrois und Sainte Hoïlde (Chorgestühl) hierher gerettet werden.9
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Volkelt, Peter-Horst Van Hees, Lothringen, Ardennen, Ostchampagne. Kunstdenkmäler und Museen, Stuttgart 1983 (=Reclams Kunstführer Frankreich Bd. III) S. 354f. Burnand, Marie-Claire, La Lorraine gothique, Paris 1989, S.273–278.
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Die Bedeutung des Zusatzes zum Ortsnamen „Rembercourt-aux-Pots“ hat immer wieder die Onomastiker beschäftigt. Der zunächst einleuchtend erscheinenden Erklärung, dass hier ein größeres und bekanntes keramisches Gewerbe bestanden habe, fehlen die Quellenbelege. Unter den ortsansässigen Gewerken wird die Tuchmacherei hervorgehoben. Die Bedeutung des Ortes, der im 16. Jh. ummauert war, vier Tore besaß, außer der Kirche einen Franziskanerkonvent und ein festes Haus der Herzöge von Lothringen-Bar10 und vor der großen Pestepidemie des Jahres 1635 3100 Einwohner gezählt habe, soll wegen seiner Funktion als Grenzposten und Zollstelle zwischen dem Königreich Frankreich und dem Herzogtum Lothringen-Bar den Namenszusatz Poteaux oder Postes erhalten haben: Rembercourt situés aux poteaux ou au postes des fins de France.11 Das Leben in eremo blieb über Jahrhunderte hinweg ein Ideal mönchischen Lebens, im Argonnerwald äußerte es sich durch eine Neugründung im Hochmittelalter. Robert, ein Mönch aus der Verduner Reformabtei St. Vannes, sein Bruder und zwei weitere Kleriker wählten den Talgrund der Biesme zur Verwirklichung ihrer eremitischen Ideale, eine Lage, die auch den Vorstellungen des Zisterzienserordens entsprach, der 1127 bei der Einsiedelei eine klösterliche Gemeinschaft einrichtete und diese La Chalade nannte. Unter den 13 Zisterzen, die in Lothringen gegründet wurden, ist sie diejenige, von deren Baubestand am meisten erhalten blieb, wenn auch nicht aus der Gründungsphase, sondern erst aus dem 14. Jh., nämlich Chor, Querschiff und die beiden östlichen Langhausjoche. Die drei westlich anschließenden wurden abgebrochen, der dadurch geöffnete Bau durch eine neu aufgeführte Westwand wieder geschlossen, in die eine große, aus der Klosterkirche St. Vanne ausgebaute Rose im Flamboyant-Stil eingefügt wurde. Erhalten blieben auch Teile der Grisaille-Verglasung mit floralen Motiven, Bodenfliesen sowie einige Grabplatten.12 Trotz der Beschädigungen im Ersten Weltkrieg bewahrt das Innere, wie Peter Volkelt schrieb, „den Raumcharakter reiner Zisterziensergotik“. Deutlich größer sind die Verluste an den Neubauten des 17. Jhs., übrig blieb nur das in niederländischer Manier errichtete Abtshaus. Einige Kilometer dem Tal der Biesme und der D 2 folgend, dann rechts auf die D 38 abbiegend, gelangt man in das Städtchen Varennes, dessen Namen eng mit der Endphase der Bourbonen-Monarchie verbunden ist. Mitte Juni 1791 entschloss sich König Ludwig XVI., der zwangsweise seine Residenz von Versailles nach Paris hatte verlegen müssen, die Hauptstadt mit seiner Familie heimlich zu verlassen, verkleidet und seiner Ansicht nach unauffällig, aber wie sich bald herausstellen sollte, keineswegs unauffällig genug, um unerkannt zwischen Bouillon und Montmédy die Armee des ihm ergebenen Marquis von Bouillé erreichen zu können. In einer Relaisstation in Sainte-Menehould erkannte der Sohn des Post10 Ein Maison forte in Rembercourt wird aber bei Choux, Jacques, Dictionnnaire des châteaux de France. Lorraine, Paris 1978 nicht genannt. 11 Joignon, Camille-Paul, Rembercourt-aux-Pots (Meuse) son insigne église, son œuvre de souvenir, sa chapelle champêtre de Saint Louvent, Nancy 1956. 12 Burnand (wie Anm. 9), S.129–132.
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meisters Drouet aus Varennes die kleine Gruppe und verständigte umgehend seinen Vater, sodass die königliche Familie, als sie in Varennes ankam, aufgehalten und der König am Abend des 21. Juni vom procureur-syndic Sauce unter Hausarrest gestellt wurde, bis drei Delegierte der Nationalversammlung – Barnave, Petion und Latour–Maubourg – über das weitere Verfahren entschieden hatten. Sie veranlassten den Rücktransport des Königs und seiner Familie unter strenger Bewachung nach Paris. Das Arrestlokal – das Haus des procureur-syndic – ist nicht erhalten, wie überhaupt das Städtchen empfindliche Verluste in seinem alten Baubestand im Ersten Weltkrieg erfahren hat. Auf dem linken Ufer der Aire am Hang zur Oberstadt wurde der Tour de l `Horloge wiederhergestellt, eine dort zusammengetragene kleine Sammlung von Erinnerungsstücken an die gescheiterte Flucht des Königs ging im Zweiten Weltkrieg verloren. Von Varennes aus erreicht man nach wenigen Kilometern auf der D 19 Montfaucon, einen dem Wald vorgelagerten Inselberg (328 m) mit sehr gutem Ausblick nach allen Himmelsrichtungen, was im Ersten Weltkriege den deutschen Kronprinzen bewogen haben soll, hier Stellung zu beziehen. Aber nicht nur Militärgeschichtliches und Geografisches ist über Montfaucon zu sagen. Schon im ausgehenden 6.Jh. soll sich eine Klerikergemeinschaft angesiedelt haben, die dann die Benediktinerregel annahm, später die freieren Lebensformen eines Kollegiatstifts wählte. Weder von der alten Kloster- bzw. Stiftskirche ist etwas erhalten noch vom alten Baubestand der dabei entstandenen Zivilsiedlung; statt dessen kündet, wie so oft im Umland von Verdun, ein weithin sichtbares Memorial von Kampf und Tod im Ersten Weltkrieg, im speziellen Fall der hier im letzten Kriegsjahr eingesetzten US-Truppen. Weiter im Norden nahe der Maas, wo der Wald durch Rodungen reduziert wurde, liegt ein heute unbedeutender Ort, aber mit hohem Bekanntheitsgrad in der regionalen Stadtgeschichtsforschung, nämlich Beaumont-en-Argonne. Eine seinen Bewohnern vom Erzbischof Wilhelm von Reims 1182 verliehene Charte d̉’affranchissement, auch Loy de Beaumont genannt, wurde Vorlage für zahlreiche Dorffreiungen in Lothringen, Luxemburg und der nördlichen Champagne. Manche der mit Beaumonter Recht begabten Orte entwickelten sich zu Städten. Eine vorbildhafte Wirkung für die Freiheitsbriefe saarländischer Orte hatte die Charte de Beaumont indes nicht. Reste der früheren wirtschaftlichen Bedeutung der Argonnen, auf dem Holzreichtum und auf „Steine und Erden“ basierend, sind bei der raschen Durchfahrt auf der Autobahn oder der Route Nationale nicht sichtbar. Das ausgedehnte Waldgebiet lieferte nicht nur den Rohstoff für Holzwaren aller Art, sondern auch den Brennstoff zur Herstellung von Keramik- und Glaserzeugnissen, die einen überregionalen Käuferkreis fanden. Töpfereien arbeiteten schon im 1. Jh. n. Chr. bei Lavoye und Autrecourt am östlichen Rand des zusammenhängenden Argonner Waldes, unweit von Beaulieu.Von Schäden durch Germaneneinfälle gegen Ende des 3. Jhs. konnten sie sich schneller erholen als Werkstätten in anderen Teilen des östlichen Galliens. Im 4. Jh. wurde Terra sigillata aus den Argonnen zwischen der Bretagne und den Donaulanden gehandelt und vertrieben.
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In der Frühneuzeit lebte die Keramikproduktion in Les Islettes an der Biesme bzw. der RN 3 wieder auf. Heute sind ihre Erzeugnisse begehrte Sammlerstücke. Örtliche Sande und in den großen Wäldern leicht herzustellende Pottasche waren die Rohstoffe der seit dem Spätmittelalter belegten Glashütten. Das Gewerbe wurde dadurch begünstigt, dass die Lothringer Herzöge durch Privilegierung den Rechtsstatus der Glasmacher verbesserten. In der zweiten Hälfte des 16. Jh. wanderten einige Glasmacherfamilien ab in die östlichen Grenzgebiete des Herzogtums, u.a. in den Warndt. Einige von ihnen, darunter Mitglieder einer Familie Condé – nicht identisch mit dem bekannten französischen Adelsgeschlecht – konnte der lutherische Graf Ludwig von Nassau-Saarbrücken in den ersten Jahren des 17. Jhs. bewegen, von Creutzwald in seine Grafschaft überzusiedeln unter Zusicherung der freien Ausübung ihrer calvinistischen Konfession. Aus Reverenz gegenüber ihrem neuen Landesherrn benannten sie das von ihnen erbaute Dorf „Ludweiler“. Die Bevölkerung der Argonnen war im 2. Drittel des 17. Jhs. durch die Unbilden des Dreißigjährigen Krieges und die nach dem Westfälischen Frieden fortdauernden Kämpfe Frankreichs gegen Herzog Karl IV. von Lothringen und den König von Spanien, zu dessen Reich das ehemalige Herzogtum Luxemburg gehörte, stark geschrumpft, wie es in der Literatur heißt, auf die Hälfte des Bestandes von 1630. Das 18. Jh. und die ersten Jahrzehnte des 19. Jhs. brachten eine Erholung, dann aber konnten die ansässigen Gewerke – Töpfereien, Glashütten, Gerbereien, Holz verarbeitende Betriebe, Papiermühlen – sich gegen auswärtige Großbetriebe nicht mehr behaupten. Im Jahr 1937 schloss in Les Islettes die letzte Glashütte, die sich zuletzt auf die Herstellung von Champagnerflaschen spezialisiert hatte. Grenzlande sind oft Kampfgebiet rivalisierender Nachbarn. Es soll hier keine Statistik der Kriege, die die Menschen in den Argonnen mit Tod und Zerstörung überzogen, aufgestellt werden. Drei Beispiele, nach Ursache und Ausmaß verschieden, mögen genügen. In den Jahren 1543/44 stießen die Armeen Kaiser Karls V. bis nach St. Dizier und Vitry-en-Perthois vor.13 Konsequenzen, die König Franz I. daraus zog, waren der Bau einer neuen Festungsstadt, die nach ihm Vitry-leFrançois genannt wurde, und die Verstärkung und Verbesserung der Befestigungsanlagen einiger Grenzstädte, darunter Sainte-Menehould. Im Herbst 1792 kam ein Heer unter dem Befehl des Herzogs von Braunschweig aus dem Moseltal angerückt, um die revolutionären Kräfte der neuen Französischen Republik zu schlagen, die Herrschaft der Bourbonen und damit das Ancien Régime wiederherzustellen. Bekannt sind das Zusammentreffen westlich von Sainte-Menehould beim Dorfe Valmy, die dortige Kanonade und der eilige deutsche Rückzug. Johann Wolfgang von Goethe hat die Campagne als „Kriegsberichterstatter“ mitgemacht. In der französischen Geschichtsschreibung wurde zuweilen die Bedeutung des Argonner Waldes als natürliches Hindernis angesprochen, das den deutschen Vormarsch verzögert und damit Dumouriez, Kellermann und anderen mehr Zeit zur Organisation der Abwehr gegeben habe.
13 Rozet, Albin, Lembey, J.-F., L`Invasion de la France et le Siège de Saint Dizier par CharlesQuint en 1544, Paris 1910.
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Die Reminiszenz an den Ersten Weltkrieg ist schon angeklungen. Das eingangs erwähnte deutsche Soldatenlied spricht, wenn auch in verdeckter Form, den rund vierjährigen Stellungskrieg im Nordteil des Argonnerwaldes an. Er hat noch heute sichtbare Spuren hinterlassen: kleinere betonierte Bunker, Relikte von Schützengräben und eingestürzten Unterständen. Der Argonnerwald lag im Operationsbereich der deutschen 5. Armee unter dem Kommando des preußischen Kronprinzen. Sie hatte in der letzten Augustwoche 1914, noch bevor die beiden Grenzfestungen Longwy und Montmédy gefallen waren, die Maas nördlich des zur modernen Festung ausgebauten Verdun überschritten und bei Montfaucon und Varennes am 1. September den Zugang zu den Argonnen erkämpft. In den nächsten Tagen hatte sie trotz Störangriffen gegen ihre linke Flanke aus dem Raum Verdun den Vormarsch in südlicher Stoßrichtung auf Bar-le-Duc fortgesetzt, dabei die für die Versorgung Verduns wichtige Straße nach Châlons-sur-Marne, die im Abschnitt Clermont–Les Islettes–Sainte-Menehould den Argonner Wald durchquert, blockiert. Parallel zum Vormarsch nach Süden wurde versucht, nach Osten in Richtung Verdun Raum zu gewinnen und somit den Vorsprung der französischen Front einzuengen. Während zunächst die 5. Armee trotz des Beginns der französische Gegenoffensive an der Marne ihren Angriff auf Bar-le-Duc fortsetzte und am 6. September ihre Spitzen sich der Stadt bis auf ungefähr zehn Kilometer genähert hatten, sollte sie sich ab 9. September im Zuge der Rücknahme der gesamten deutschen Front auf eine Linie Châlons-sur-Marne– Triaucourt zurückziehen. Dem Druck zweier aus unterschiedlichen Richtungen angreifenden französischen Armeen, der 4. Armee aus dem Raum Vitry–St. Dizier, und der nun aus dem Verduner Frontvorsprung offensiv operierenden französischen 3. Armee, musste sie nachgeben, auch Sainte-Menehould und Clermont räumen. Dabei gingen Teile des Artillerieparkes und des auf dem linken Maasufer zur Belagerung von Verdun bereit gestellten Materials verloren. Erst in den Nordargonnen um Varennes und Vaucquois versteifte sich der deutsche Widerstand und erstarrte dann jahrelang im Stellungskrieg. Bewegung kam in die Front erst wieder beim deutschen Rückzug Ende September 1918, als die französischen Einheiten durch US-Truppen erheblich verstärkt worden waren. Das heißt aber nicht, dass in den dazwischen liegenden vier Jahren die Front relativ ruhig geblieben sei. Von deutscher Seite wurde immer wieder eine Ausweitung nach Süden versucht, um die Strasse Clermont–Ste-Menehould kontrollieren zu können. Die Kämpfe bei Nebel, Regen und Schnee in dem schluchtenreichen, anfangs dichten, geradezu „verfilzten“, später völlig zerschossenen Wald forderten hohe Verluste auf beiden Seiten. Die Opfer der Kämpfe im September 1914, 10.000–12.000 deutsche und französische Soldaten, wurden bei La Vaux-Marie, wenige Kilometer nordöstlich von Rembercourt, beigesetzt, dem zweitgrößten Soldatenfriedhof im Département Meuse. Die Erinnerung an die Kämpfe pflegen ein kleines Museum in Varennes und das „Deutsches Erinnerungskomitee Argonnerwald 1914–1918 e.V.“ An die deutsch-französische Gegnerschaft im ersten Drittel des 20. Jhs. erinnert auch ein Präsidentengrab, nämlich das von Raymond Poincaré in Nubécourt. Der kleine Ort ist zu erreichen von Beaulieu aus auf schmalen Strassen (D 20)
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über Waly–Fleury. Der am 20. August 1860 in Bar-le-Duc geborene, politisch interessierte Rechtsanwalt wurde schon mit 27 Jahren Abgeordneter, später (1895– 1898) Vizepräsident der Kammer, 1912–1913 Ministerpräsident und Außenminister, 1913–1920 neunter Präsident der französischen Republik, 1922–1924 und 1926–1929 wieder Ministerpräsident und Außenminister. Vor dem Ersten Weltkrieg war seine Außenpolitik geprägt durch die Sorge vor dem Erstarken des Deutschen Reiches, dem er durch die Tripelentente zu begegnen versuchte. Während des Krieges propagierte er Durchhaltekraft und Siegeswillen. Nach dem Krieg verfocht er die restlose Erfüllung der Bestimmungen des Versailler Vertrags und versuchte durch die Besetzung des Ruhrgebietes, ausstehende deutsche Reparationszahlungen zu erzwingen. In seinen letzten Amtsjahren konnte er den französischen Staatshaushalt sanieren und den Franc stabilisieren. Im Sommer 1929 trat er aus gesundheitlichen Gründen zurück. Er starb am 15.Oktober 1934 in Paris und wurde auf seinen Wunsch in der Familiengrabstätte in Nubécourt beigesetzt. Die Verbundenheit mit seiner Heimat zu Lebzeiten äußerte sich u.a. in seinem Eintreten für die Erhaltung der alten Kelter der Abtei Beaulieu. Hochrangige Baudenkmäler und beeindruckende Naturschönheiten besitzen die Argonnen nicht, aber eine reiche Geschichte, deren Facetten sich nicht beim Durchqueren, sondern erst beim Verweilen erkennen lassen. Prof. Dr. Hans-Walter Herrmann, ehemaliger Direktor des Landesarchivs Saarbrücken
INFORMATIONSSAMMLUNG ODER MODELLSUCHE? EIN GEHEIMBERICHT ÜBER DIE DEUTSCHE SCHULPOLITIK IN ELSASS-LOTHRINGEN AN DAS JAPANISCHE GENERALGOUVERNEMENT IN KOREA VON 1913 (AKIYOSHI NISHIYAMA)
ALPHONSE DAUDETS „LA DERNIÈRE CLASSE“ IN JAPAN In Japan gilt das Elsass wohl als eine der berühmtesten französischen Regionen, obwohl man es vielleicht nicht als eine der von japanischen Touristen bereistesten bezeichnen kann, wie etwa die Côte d’Azur, die Provence, die Bretagne oder die Pays de la Loire (dabei natürlich Paris und die Île de France ausgenommen). Woher kommt diese Berühmtheit? Neben dem „Pflichtwissen“ im Weltgeschichtsunterricht der japanischen Oberschule, zu dem die Annexion des Elsass durch das Frankreich Ludwigs XIV. im 17. Jahrhundert, diejenige von Elsass-Lothringen von 1871 durch das gerade entstandene Deutsche Kaiserreich sowie die Rückkehr dieses Gebiets nach Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg gehören, ist ein Grund auch darin zu suchen, dass viele Japaner in ihrer Schulzeit die Novelle von Alfonse Daudet „La dernière classe. Recit d’un petit alsacien“ (aufgenommen in seiner Novellensammlung „Contes du lundi“ von 1873) gelesen haben. Die Popularität dieser „französischen Bewältigungsliteratur“1 nach der Niederlage von 1870–71 in Japan erscheint selbst im Elsass bekannt gewesen zu sein. In einem 1991 publizierten Essay heißt es dazu: „Die 1873 erschienene Erzählung von Alphonse Daudet „La dernière leçon de français“ ist ein übles Machwerk der französischen Propaganda; trotzdem wird sie nicht nur in Frankreich, sondern bis nach Japan für wahr gehalten“.2 Allerdings muss man hinzufügen, dass diese Popularität nicht mehr jüngere Generationen betrifft, da die Novelle im Jahr 1986 aus allen japanischen Schullesebüchern entfernt wurde. Dieses plötzliche Verschwinden ist wohl auf eine viel gelesene Publikation eines japanischen Sprachwissenschaftlers mit dem Titel “Sprache und Staat” zurückzuführen. In diesem Buch weist der Verfasser Katsuhiko Tanaka das japanische Publikum darauf hin, dass die Novelle der wirklichen Sprachsituation im Elsass widerspreche, wo die Muttersprache der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung Deutsch bzw. dessen Dialekt(e) seien. Angesichts dieser Tatsache, so Tanaka, sei die Novelle höchst fiktiv und man solle sie als ein 1
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Christadler, Marieluise, „Zur nationalpädagogischen Funktion kollektiver Mythen. Die französische ‚Bewältigungsliteratur‘ nach 1871“, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hrsg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S.199– 211. Woytt, Gustav, “Kultur- und Sprachpolitik in Elsaß-Lothringen (1871–1918). Dokumente und Erinnerungen”, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 139 (1991), S.389–407, hier 399.
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Produkt des französischen Nationalismus betrachten. So könne die Rede des Lehrers Hamel in seinem letzten Französischunterricht kurz vor seiner Auswanderung nach Frankreich, „(…) quand un peuple tombe esclave, tant qu’il tient bien sa langue, c’est comme s’il tenait la clef de sa prison“, als Produkt der assimilierenden Sprachenpolitik Frankreichs, gelesen werden.3 Erstmals 1902 in einer literarischen Zeitschrift ins Japanisch übersetzt, fand die Novelle seit 1925 Eingang in die Schullesebücher. Von diesem Zeitpunkt bis zu ihrem „Verschwinden“ hatte die Novelle als Lesestück im Unterricht immer die Aufgabe, bei den Schülern die Liebe und Pflege der Muttersprache zu wecken, ohne dabei die komplizierte Geschichte und Kultur des Elsass als Grenzregion zwischen Deutschland und Frankreich zu berücksichtigen4. Um so interessanter ist die Tatsache, dass sich ein Teil des japanischen Staates für die deutsche Sprachenpolitik im Reichsland Elsass-Lothringen interessierte. Gemeint ist das japanische Generalgouvernement in Korea, das kurz nach seiner Gründung von 1910 zwei japanische Wissenschaftler, die sich zu ihrer Forschung in Deutschland und Europa aufhielten, damit beauftragte, je einen geheimen Bericht darüber zu erstatten. Die Beauftragten hießen Takashi Sakaguchi (1872–1928), Historiker, und Kôichi Hoshina (1872–1955), Sprachwissenschaftler. Beide Berichte wurden 1913, also am Vorabend des Ersten Weltkrieges, gedruckt. Sie behandeln fast die gesamte Vorkriegsepoche der deutschen Herrschaft in Elsass-Lothringen. Daneben berichteten sie, oft vergleichend, auch über die Polenpolitik im preußischen Osten. Wegen des begrenzten Raums muss darauf verzichtet werden, beide Berichte ausführlich darzustellen. Im Folgenden wird hauptsächlich der Bericht von Takashi Sakaguchi behandelt, was sich aus der Tatsache begründet, dass er die beiden Grenzgebiete in einem Bericht behandelt und sie im breiteren Zusammenhang diskutiert. Ferner wird der Schwerpunkt darauf gelegt, wie Sakaguchi als japanischer Zeitgenosse die Lage in Elsass-Lothringen wahrnahm.5 Hier handelt es sich also um den Blickwinkel eines japanischen Historikers auf Europa.6 3
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Tanaka, Katsuhiko, Kotoba to Kokka (Sprache und Staat), Tokio 1981, S.107–128. Tanaka wollte dadurch auch zum Hinterfragen des japanischen Sprachnationalismus anregen. Die Rede von Hamel stammt von dem berühmten Félibrige-Schriftsteller Frédéric Mistral: “[S]’il tient sa langue, il tient la clef qui, de ses chaînes, le délivre”, vgl. Daudet, Alphonse, Contes du Lundi, annoté et avec introduction par Colette Becker, Paris 1983, S.30. Hierzu und zur Geschichte der Didaktik dieser Novelle im japanischen Schulunterricht ausführlich: Fukawa, Genzaburô, Kieta Saigo no Jyugyô (Das Verschwinden von “La dernière classe”), Tokio 1993. Zur Schul- und Sprachenpolitik in Elsass-Lothringen siehe, neben dem neugedruckten Monumentalwerk von Lévy, Paul, Histoire linguistique d’Alsace et de Lorraine (Paris 1929/2004), neuere Forschungen: von Aretin, Felicitas, “Die Schulpolitik der obersten Schulbehörde im Reichsland Elsass-Lothringen 1871–1914”, (Diss. EHI Florenz); Rimmele, Eva, Sprachenpolitik im Deutschen Kaiserreich vor 1914. Regierungspolitik und veröffentlichte Meinung in Elsaß-Lothringen und den östlichen Provinzen Preußens, Frankfurt am Main 1996; Harp. Stephen L., Learning to Be Loyal. Primary Schooling as Nation Building in Alsace and Lorraine, 1850–1940, DeKalb 1998. Auch der Verfasser des vorliegenden Aufsatzes hat dieses Thema behandelt und zwar in seiner Dissertation, “Saigo no Jyugyô to Saisyo no Jyugyô. Doitsu Daini Teiseiki Eruzasu-Rôtoringen ni okeru Syotô Kyôiku Seisaku 1871–1918 (Zwischen la dernière classe und la pre-
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JAPANISCHE KOLONIALHERRSCHAFT UND EIN BLICK AUF ELSASS-LOTHRINGEN Bevor wir den Berichten nachgehen, soll deren Hintergrund genauer erläutert werden. Wie neuere Forschungen zum Verhältnis zwischen japanischer Sprache und japanischem Nationalismus hervorheben, war Japan durch die Inbesitznahme von Kolonien mit einem doppelten Problem konfrontiert: mit der Standardisierung des Japanischen einerseits und mit dessen Verbreitung in den Kolonien andererseits7. Zweifelsohne ist die Verflechtung von Sprachnationalismus und – imperialismus nicht nur in Japan zu beobachten, aber charakteristisch ist die Gleichzeitigkeit der Entstehung beider Ideologien und die geografische und kulturell-geschichtliche Nähe zwischen der japanischen Metropole und ihren Kolonien. Die territoriale Expansion Japans fing mit der inneren Modernisierung des japanischen Staates einhergehend an. Elf Jahre nach der Meiji-Restauration von 1868 wurde das Königreich Ryûkyû als Präfektur Okinawa von Japan annektiert; nach dem Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg von 1894–95 gewann Japan die Insel Taiwan und während des Russisch-Japanischen Kriegs von 1904–5 wurde Korea zum japanischen Protektorat erklärt, das dann 1910 mit der Errichtung eines Generalgouvernements in Seoul endgültig annektiert wurde8. Während der hartnäckige Widerstand der einheimischen Bevölkerung in Taiwan und Korea durch die japanische Armee und Polizei brutal niedergeschlagen wurde, zwang die Erwerbung dieser Gebiete Japan andererseits, Richtlinien einer Integrationspolitik zu erstellen, um so ihren Besitz langfristig zu gewähren. Gerade in diesem Zusammenhang tauchte Elsass-Lothringen als ein Referenzpunkt auf. So behauptete etwa Takashi Hara (1856–1921), der damals als Unterstaatssekretär des Außenministeriums mit der Verwaltung von Taiwan beschäftigt war und später zum ersten Premierminister aus nicht adliger Herkunft (1918–1921) wurde, in einem Memorandum von 1896, dass es für die japanische Herrschaft in Taiwan zwei Möglichkeiten gebe: Man solle entweder Taiwan als eine reine Kolonie oder als eine „Erweiterung des Inlandes“ (prolongement de la métropole) behandeln. Er trat für die zweite Option ein und nannte dabei als solche Beispiele die deutsche Herrschaft in Elsass-Lothringen und die französische in Algerien.9
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mière classe: Die Volksschulpolitik in Elsass-Lothringen zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs 1871–1918)” (Universität Tokio 2003). Zur Geschichte von Elsass und Lothringen zu dieser Zeit im allgemeinen grundlegend: Igersheim, François, L’Alsace des Notables, Strasbourg 1981; Roth, François, La Lorraine annexée, Nancy 1976; Wahl, Alfred/Richez, Jean-Claude, La vie quotidienne en Alsace entre France et Allemagne 1850–1950, Paris 1993. Vgl. Lee, Yeounsuk, “Kokugo” to iu Shisô (“Nationalsprache” als Ideologie), Tokio 1996; Yasuda, Toshirô, Teikoku Nihon no Gengo Hensei (Sprachenformation im japanischen Kaiserreich), Tokio 1999. Die Bezeichnung “Annexion” für dieses Ereignis von 1910 ist umstritten. In Korea spricht man eher von der Besatzung, die bis zur Befreiung von 1945 dauern sollte. Komagome, Takeshi, Shokuminchi Teikoku Nihon no Bunka Tôgô (Kulturelle Integration des japanischen Kolonialreichs), Tokio 1996, S.32–33; Oguma, Eiji, Nihonjin no Kyôkai (Die Grenzen des Japanischseins), Tokio 1999, S.83–88.
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Wie konkret wusste man aber von der Lage, besonders der kulturellen, in Elsass-Lothringen unter deutscher Herrschaft? Über die Annexion nach dem deutsch-französischen Krieg und ihre direkten politischen und wirtschaftlichen Folgen wurde bereits von dem Historiker Kunitake Kume (1839–1931) kurz berichtet, der die Reise der sogenannten „Iwakura-Mission“ in Europa und den USA von 1871–73 begleitete und beschrieb.10 Kumaji Yoshida (1875–1964), einer der ersten japanischen Erziehungswissenschaftler, beschrieb zwar die Verhältnisse in Elsass-Lothringen viel ausführlicher. Als „direkte Nachwirkung des DeutschFranzösischen Kriegs auf die deutsche Bildungswelt“ schilderte er die deutsche Schulpolitik in Elsass-Lothringen. Seine besondere Beachtung fand die Kaiserliche Universität in Straßburg, an der er selber während seines Forschungsaufenthalts in Europa von 1903–07 (wohl bei Theobald Ziegler) studiert hatte.11 Daneben erwähnte er auch die Volksschulen und die höheren Schulen. Aber trotz des geringen Umfanges, den er diesem Thema widmete, nahm er es einseitig aus der Sicht der deutschen Verwaltung Stellung, wobei er nur die „standfeste Germanisierungspolitik” von Bismarck hoch schätzte.12 Die Berichte von Sakaguchi und Hoshina sind als die ersten Versuche anzusehen, konkrete Informationen über die Lage im Allgemeinen und die Schulpolitik im Besonderen in Elsass-Lothringen zu liefern. Im Jahr 1911, in dem das japanische Generalgouvernement in Korea die zwei Wissenschaftler damit beauftragte, wurde gerade das kaiserliche Dekret betreffend das Unterrichtswesen in Korea erlassen. Somit wurden zwar die Grundsätze wie die Erziehung von koreanischen Schulkindern zu treuen Untertanen des japanischen Kaisers und die besondere Berücksichtigung der Erlernung von Japanisch als „Nationalsprache“ (Kokugo) bereits festgeschrieben, aber wie man sie konkret umsetzen sollte, war noch nicht klar. Auch wenn die Denkschrift eines Schulbürokraten im Generalgouvernement über die Integration von Korea, die als Grundlage für das Dekret diente, behauptete, dass die japanische Annexion und Integration von Korea eine noch viel größere Leistung darstelle als die deutsche Annexion von Elsass-Lothringen oder die preußische, österreichische oder russische von Polen,13 wollte das Generalgouvernement weitere Informationen über ähnliche Beispiele aus der Welt, besonders aus
10 Ein Teil dieses Reiseberichts wurde jetzt auch ins Deutsche übersetzt: Kume, Kunitake, Die Iwakura-Mission. Das Logbuch des Kume Kunitake über den Besuch der japanischen Sondergesandtschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Jahre 1873, München 2002. 11 Die Zahl von Japanern, die an der Universität Straßburg studierten, ist bisher unbekannt. Die Tabelle in Stéphane Jonas “La ville de Strasbourg et son université”, in: ders. u.a., Strasbourg, capitale du Reichsland Alsace-Lorraine et sa nouvelle université, Strasbourg 1995, S.28, gibt die Zahl von asiatischen bzw. japanischen Studenten in den Stichjahren 1884 (4) und 1908 (6) an. Der genaue Anteil von japanischen Studenten lässt sich an dieser Statistik nicht erkennen. Sie studierten allerdings mehrheitlich an der Medizinfakultät. 12 Yoshida, Kumaji, Doitsu no Kyôiku (Die Bildung in Deutschland), Tokio 31915, S.234–243. Das Kapitel “Die Nachwirkungen des deutsch-französischen Kriegs auf die deutsche Bildungswelt” war eigentlich sein Bericht an das japanische Kultusministerium, für das er in Deutschland recherchierte. 13 Yeounsuk (Anm. 6), S. 258.
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Europa, sammeln. Es ließ sich neben Deutschland auch über die Bildungslage der Schwarzen in den USA sowie über die der Irländer unter britischer Herrschaft berichten. „DIE BILDUNGSLAGE IN DEN GRENZGEBIETEN DES DEUTSCHEN KAISERREICHS“ Das ist der Titel des mit „geheim“ gestempelten Berichts von Takashi Sakaguchi. An der Kaiserlichen Universität Tokio als Historiker für abendländische Geschichte ausgebildet, war er Assistenzprofessor an der Kaiserlichen Universität Kyoto, als er 1908 als staatlicher Stipendiat nach Europa ging. Seine Forschungsschwerpunkte waren die griechische Antike und die Renaissance. Seine Publikationen umfassen u.a. „Die Strömungen der griechischen Zivilisation in der Welt“ (1917), „Grundriß Weltgeschichte“ (1920), „Die Geschichte der Renaissance“ (1927) und „Die Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung“ (1932, posthum). Der etwa 200 Seiten zählende Bericht, für den er, nach seinen eigenen Aussagen, wegen der Weigerung der betreffenden deutschen Behörden an jeder Kooperation, selbst einschlägige Materialien sammeln musste, besteht aus zwei Teilen mit fast gleichem Umfang. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem preußisch-polnischen Gebiet im Osten und der Zweite mit dem Reichsland Elsass-Lothringen im Westen. Zu Beginn des Berichts definierte er die zu behandelnden „Grenzgebiete“. Den Ausschluss von Schleswig-Holstein begründete er dadurch, dass die beiden anderen Gebiete Bestandteile der „weltgeschichtlichen Kulturprobleme“ seien, nämlich Deutschtum gegen Slawentum und Deutschtum gegen Franzosentum; außerdem spielte die katholische Kirche in den beiden Gebieten die Rolle des Verteidigers der Annektierten. Aber gleichzeitig wies er auf die Unterschiede zwischen Polen und Elsass-Lothringern hin: Die Ersteren besaßen früher einen selbstständigen Staat, während die Letzteren bisher keinen eigenen Staat gehabt hätten und sprachlich den beiden Nationen, Deutschen und Franzosen, zugehörig seien.14 Der Teil des Berichts für Elsass-Lothringen gliedert sich in drei Kapitel. Im ersten gibt Sakaguchi einen Umriss über die politische und kulturelle Geschichte von Elsass-Lothringen, wobei er auf die Unterschiede zwischen dem mehr deutschsprachigen, demokratischen und protestantischen Elsass und dem mehr frankofonen, monarchistischen und katholischen Lothringen aufmerksam machte. Den grundsätzlichen Wendepunkt für Elsass und Lothringen markierten die Französische Revolution und die Herrschaft von Napoléon, sodass „[n]ach dem Untergang Napoléons der Geist der Deutschen [d.h. deutschsprachigen Elsässer] nicht mehr von einem einzigen Element beherrscht wurde“. Sie besäßen, so der Autor, nun zwei unterschiedliche Elemente: „sie hielten zwar an der religiösen und sprachlichen Tradition ihrer Ahnen fest, aber im Hinblick auf ihren Patriotismus 14 Sakaguchi Takashi, Doitsu Teikoku Kyôkai Chihô no Kyôiku Jyôkyô (Die Bildungslage in den Grenzgebieten des Deutschen Kaiserreichs), o.O. 1913, S.1–2.
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wurden sie französiert“.15 Zur deutschen Herrschaft nach 1871 zeichnete Sakaguchi die politische Entwicklung von der „protestation et abstention“ in den Anfangsjahren zum Aufschwung des Autonomismus nach, der, wegen der gescheiterten Politik von Manteuffeles und seiner Nachfolger in den Vordergrund getreten sei. Das eigentliche Thema, die Schulpolitik, wird im zweiten Kapitel behandelt. Nach den Erläuterungen über die Verwaltungsstruktur und verschiedene Schulgattungen sowie deren Programme konstatiert er, dass Deutsch nicht nur das wichtigste Fach in den Volksschulen sei, sondern Hochdeutsch den ganzen Schulunterricht durchdringen müsse. Dabei ließ er aber nicht unerwähnt, dass man im Deutschunterricht auf den heimatlichen Dialekt zurückgreifen dürfe.16 Das pädagogische Prinzip vom Konkreten zum Abstrakten galt auch für andere Fächer wie Geschichte und Geografie (von der Heimat zum Vaterland). Auch dem Unterricht in den zweisprachigen Schulen schenkte er besondere Aufmerksamkeit. Auf den Schriften von Julian Lombard, Schulinspektor im Kreis Molsheim, beruhend,17 schilderte er die Entstehung der Reformen des dortigen Schulunterrichts durch den Vorgänger von Lombard, Ewald Bauch. Während er mit dem Jenaer Pädagogen Wilhelm Rein den gewissen Erfolg dieser Reformen, u.a. der Verschiebung des Anfangs des deutschen Leseunterrichts auf das dritte Jahr, anerkannte, berichtete er auch über die Gefahr der Verlernung nach dem Schulabschluss, besonders für Mädchen, die keinen Militärdienst hatten, weshalb mehr Fortbildungsschulen gefordert wurden.18 Dass Sakaguchi die „Bildungslage“ nicht im engeren Sinne verstand, zeigt das dritte Kapitel, in dem er die Faktoren für und gegen die Germanisierung erörterte. Als Hindernisse bezeichnete er die katholische Kirche und die Frauen des einheimischen Bürgertums.19 Der katholischen Kirche stand er kritisch gegenüber und eignete sich somit die protestantisch-liberale Anschauung an, dass „es dem reichsländischen katholischen Klerus, auch aus Altdeutschland, im Allgemeinen an der Erwerbung vom neuen Wissen und am Patriotismus fehlt. (…) Sein einziger Verdienst zur kulturellen Entwicklung, den er mehr als die Geistlichen anderer Konfessionen geleistet hat, besteht nur in den Vereinstätigkeiten im Bereich der Medi15 Ebd. (Anm. 13), S.108–9. Hervorhebung im Original. 16 Ebd. (Anm. 13), S.126. Der Einsatz des Dialekts für den Unterricht wurde im Lehrplan von 1910 eindeutig anerkannt. Aber diese Methode geht auf frühere Versuche und Debatten seit Beginn der 1890er Jahre zurück. Vgl. u.a. Menges, Heinrich (Lehrer in Rufach, später Schulinspektor in Saarunion und Weissenburg), Volksmundart und Volksschule im Elsass, Gebweiler 1893. 17 Im Bericht von Hoshina wurde sogar die ganze Broschüre von Lombard, Die zweisprachige Schule im Breuschtal. Vierzig Jahre deutscher Schularbeit, Strassburg 1911, ins Japanische übersetzt.Hoshina, Kôichi, Eruzasu-Rôtoringen Syû Kokugokyôiku ni kansuru Chôsahôkoku (Der Bericht über den Sprachunterricht in den Schulen der Provinz Elsass-Lothringen), o.O. 1913, S.93–125. 18 Sakaguchi (Anm. 13), S.142–4. 19 Zur Frage der „getrennten Welten“ zwischen Altdeutschen und Altelsässern vgl. die empirisch fundierte Studie über Strassburg von Uberfill, François, La société strasbourgeoise entre France et Allemagne (1871–1924), Strasbourg 2001.
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zin und der Krankenpflege“. Ebenso wurde die starke Präsenz von „weltfremden“ Schulschwestern in den Volksschulen kritisch eingeschätzt.20 Als Germanisierung fördernde Elemente wurden zunächst die Universität Straßburg und der Militärdienst genannt. Was die Universität betrifft, stimmte Sakaguchi Yoshida zu, dass die Universität Straßburg zweifelsohne eine renommierte Hochschule im Reich sei. Zugleich verwies er auf kritische Stimmen. Die einen kritisierten Forschung und Lehre, weil sie von der lokalen Gesellschaft entfremdet seien. Die anderen hielten dagegen, dass es aus der Sicht der Germanisierung besser wäre, elsass-lothringische Studenten direkt in Altdeutschland (z. B. in Berlin oder München) studieren zu lassen. Dieser Kritik gestand er eine partielle Logik zu, führte aber zugleich aus, dass die Studenten auch zu französischen Universitäten gegangen wären, wenn es in Straßburg keine Universität gegeben hätte, sodass man der Universität einen gewissen Verdienst zur Integration nicht absprechen sollte21. Diese Ambivalenz weise auch der Militärdienst auf, den die Mehrheit der einheimischen Rekruten außerhalb ihres Heimatlands ableisten mussten22. Beachtenswert ist ferner seine folgende Bemerkung: „Die öffentlichen deutschen Institutionen wie die Kriegervereine oder das Kommunikations- und Verkehrswesen als Germanisierungsfaktoren sind zwar zahlreich, aber sie sind auch im japanischen Reich nicht fremd. Demgegenüber ist die Art des großen Beitrags des Vogesenclubs und der deutschen Forstverwaltung zur Germanisierung uns ganz fremd und um so interessanter“. Die Kleidung des deutschen Wanderers, über die Hansi sich in seinen Karikaturen lustig machte, würde doch auch durch Elsässer selbst zunehmend angenommen.23 Bei der Erwägung über den Beitrag dieser „Germanisierer“, besonders der nationalen Vereine, verwies er darauf, dass man die „äußere Erscheinung“ des „Hurrapatriotismus“ nicht mit der „inneren Entwicklung“ verwechseln sollte.24 Zur Sprachenfrage, die nach der Jahrhundertwende im Zusammenhang mit der regionalen Identität intensiv diskutiert wurde, stellte er zunächst drei Strömungen des „Jungen Elsass“ vor.25 Hierbei machte er wieder seinen Vorbehalt geltend: „Die Tatsache, dass die haute Bourgeoisie im Reichsland meistens französisch 20 Sakaguchi (Anm. 13), S.160–1, 170. Kritisiert wurden hierbei nicht nur Schulschwestern, sondern auch die “feminisierte” Lehrerschaft im Reichsland überhaupt im Vergleich mit den anderen deutschen Staaten. 21 Ebd. (Anm. 13), S.169–70. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch Craig, John Elton, Nation-Building and Scholarship. The Universities of Strasbourg and Alsatian Society 1870–1939, Chicago 1984, S.337–340. 22 Sakaguchi (Anm. 13), S.175–6, mit Hinweis auf die starke Präsenz von Elsass-Lothringern in der französischen Fremdenlegion. Dagegen wird jetzt der stetige Rückgang ihrer Zahl seit der Jahrhundertwende konstatiert von Michels, Eckard, Deutsche in der Fremdenlegion 1870– 1965. Mythen und Realitäten, Paderborn 2000, S.44–46 23 Sakaguchi (Anm. 13), S.186–7. Zum Vogesenclub sowie im allgemeinen zur politischen Festkultur in Elsass-Lothringen vgl. Riederer, Günter, Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsass-Lothringen (1871–1918), Trier 2004. 24 Als einen Beweis für die noch schwache innere Verbindung mit Deutschland führte er den geringen Spendenbetrag aus Elsass-Lothringen für das Zeppelin Luftschiffunternehmen an. Sakaguchi (Anm. 13), S.193.
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spricht, heißt nicht, dass diese Bevölkerung völlig gegen die deutsche Kultur sei. In Wirklichkeit gibt es Leute, die geistig französisch sind, obwohl sie kein Französisch sprechen, ebenso wie es auch nicht wenige Leute gibt, die deutsch gesinnt sind, obwohl sie mit Freude französisch sprechen“.26 Im Vergleich mit dem preußischen Osten räumte Sakaguchi zwar ein, dass die Integration von Elsass-Lothringen ins Deutsche Reich leichter und fortgeschrittener sei. Im Osten erregten die repressiven Maßnahmen wie die Abschaffung von Polnisch im Schulunterricht oder das Enteignungsgesetz die starken Widerstände unter der polnischen Bevölkerung, wie der Schulstreik von 1906 in Posen und Westpreußen gezeigt habe. Mit der Modernisierung, so bestätigte Sakaguchi, würden die Widerstände der polnischen Bevölkerung gegen die nationale Assimilationspolitik Preußens auch breiter und konsolidierter. Dies sei nicht der Fall bei den Elsass-Lothringern, die an sich keine Objekte der Repression der deutschen Regierung seien, wie die Polen.27 Sakaguchi erkannte also das Problem des Reichslands nicht in der Politik, sondern in der Kultur. Die Verfassung von 1911, deren Diskussionen er vor Ort verfolgen konnte, sei „ein politischer Kompromiß (…). Sie bedeutet einen politischen Erfolg für Deutschland und zugleich auch einen politischen Fortschritt der reichsländischen Bevölkerung“.28 Er warnte aber davor, die Niederlage des Nationalbundes um Wetterlé, Preiss und Blumenthal als den Untergang des reichsländischen Partikularismus zu interpretieren. Vielmehr zeige sie umgekehrt dessen starke Verankerung im Land, weil der Partikularismus durch alle politische Parteien geteilt würde. Elsass-Lothringen mit seinem Partikularismus befinde sich zwar, so lautet sein Fazit, in einer Zwischenstufe zur völligen Integration. Wie lange es bis dahin dauern sollte, sei von der zukünftigen Entwicklung abhängig. Wenn er die Zabern-Affäre von 1913, die nach dem Druck seines Berichts geschah, noch vor Ort hätte erfahren können, hätte er eine erfolgreiche Integration in das Deutsche Kaiserreich sicher in eine fernere Zukunft gelegt. Auf jeden Fall war sein Bericht, im Vergleich mit den anderen japanischen Berichten wie sie Yoshida oder Hoshina vorgelegt hatten und die kein Problem in der Germanisierungspolitik in Elsass-Lothringen fanden, wesentlich ausgewogener und scharfsinniger. Die Frage, ob und wie sich der Bericht von Sakaguchi über Elsass-Lothringen (und Polen) auf die japanische Schul- bzw. Kolonialpolitik in Korea auswirkte, lässt sich schwer klären, zumal er daraus keinen Vorschlag für Korea machte (bei Hoshina war es etwas anders).. Einerseits scheint es aber naheliegend zu sein, im zweiten kaiserlichen Dekret betreffend das Unterrichtswesen in Korea von 1922, das unter dem Schock der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März 1919 entstand, einige Spuren davon zu sehen. Im Zusammenhang mit dem Kurswechsel von der „militärischen“ zur „kulturellen“ Politik unter dem Statthalter Makoto Saitô 25 Er zitierte dabei Otto Flake, René Prêvot und Joseph Fleurent. Zur Debatte um das “Elsässertum” vgl. Daniel Mollenhauer, “Die Grenzen der Germanisierung. Identitätsentwürfe im Elsass um 1900”, in: comparativ 15 (2005), S.22–44. 26 Sakaguchi (Anm. 13), S.195. 27 Ebd. (Anm. 13), S.201. 28 Ebd. (Anm. 13), S.114.
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(1858–1936) wurde das Fach „Koreanisch“ von „Chinesisch“ im Unterricht der „allgemeinen Schulen“ (Volksschulen) getrennt und verselbstständigt. Aber anders als Französisch in den Schulen im Breuschtal, blieb Koreanisch immer noch ein bloßes Hilfsmittel für den Ünterricht in Japanisch.29 Ferner bevorzugte Hoshina in seinem erst nach dem Krieg gedruckten Bericht über „die Sprachenpolitik in Polen zur Zeit preußischer Herrschaft“ (1921) die Provinz Posen dem Reichsland als Modell bzw. Spiegel der japanisch-koreanischen Verhältnisse auf der koreanischen Halbinsel, obwohl er im letzten kurzen Kapitel dieses Berichts auch die „moderate“ Sprachenpolitik in Elsass-Lothringen erwähnte. Für die Sprachenpolitik im multiethnischen Satellitenstaat Manschurei, der nach dem Mukden-Zwischenfall 1931 gegründet wurde, fand er in Österreich-Ungarn ein geschichtliches Gegenmodell, dessen Fehler Japan nicht wiederholen sollte. Tadao Yanaihara (1893–1961), der an der Universität Tokio über die Kolonialpolitik lehrte, wies in einem Aufsatz von 1936 auf Gemeinsamkeiten zwischen der japanischen Kolonialpolitik in Ostasien und der Französischen in Nordafrika hin.30 Die Antwort auf die obige Frage fällt also eher negativ aus. Während die konkreten Informationen über die Lage in Elsass-Lothringen kaum Aufmerksamkeit in Japan nach dem Ersten Weltkrieg fanden, wurde Elsass-Lothringen durch den Eintritt von „La dernière classe“ in die Lesebücher nur noch mit deren Bühne identifiziert,31 obwohl das dortige Sprachenproblem nach der Rückkehr zu Frankreich wohl spannend blieb. EPILOG Nach dem Ersten Weltkrieg unternahm Sakaguchi 1922 eine Reise in die USA und erneut nach Europa. Seine Eindrücke von dieser Reise veröffentlichte er im folgenden Jahr in seinem Buch „Aus der Reise eines Historikers“. Die Publikation enthält interessante Episoden wie seine Begegnung mit John Maynard Keynes auf einer Tagung in Hamburg (mit dem Titel „Weltwirtschaft und Friedensvertrag“) und einen Besuch bei Oswald Spengler in seiner Wohnung in München. In diesem Buch beschreibt er unter dem Titel „Der Herbst im Elsass“32 seinen Besuch des französischen Landstriches. Er erzählte lebendig vom neuen Gesicht der Stadt Straßburg mit seinen französischen Straßen- und Platznamen und von seinem misslungenen Wiedersehen mit einem alten, sehr japanisch-freundlichen 29 Lee ,Yeounsuk, (Anm. 6), S.250–255. Wie Lee aber selbst bemerkt, erscheint die praktische Umsetzung dieses Dekrets wenig erforscht zu sein. 30 Ebd. (Anm. 6), S.246–250. 31 Die einzige Ausnahme ist m.W. ein Bericht des Finanzministeriums, der sich 1920 mit dem “wirtschaftlichen Wert von Elsass-Lothringen” im Zusammenhang mit der Grenzverschiebung nach dem Versailler Vertrag beschäftigte. 32 Sakaguchi, Takashi, Rekishika no Tabi kara, Tokio 1923 (ND: 1981), S.265–273. Zufälligerweise wurde dieses Buch 1981 neugedruckt, als das am Anfang zitierte Buch “Sprache und Staat” von Tanaka erschien. So könnte man vielleicht dieses Jahr als Anfang der “Wiederentdeckung” des Elsass in Japan bezeichnen. 1987, gerade nach dem Verschwinden von “La dernière classe” aus dem Schulunterricht, wurde Frédéric Hoffets Psychanalyse de l’Alsace (1951) ins Japanische übersetzt. Bisher übersetzt sind auch Werke u.a. von Eugène Philipps, Pierre Rigoulot und André Weckmann.
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Bekannten von dort. Er befürchtete zunächst, dass der Freund über die japanische Besatzung von Quindao am Anfang des Ersten Weltkriegs sehr verärgert wäre und ihn deshalb nicht mehr habe treffen wollen. Dann spekulierte er auch, dass der Freund, Lehrer an einer Gewerbeschule, durch die französische Regierung aus dem Elsass vertrieben worden sei. Er berichtet auch von seinem Ausflug nach dem Odilienberg, wo er zufällig die Gruppe des „Gesangvereins der Heiligen Cäcelien“ traf. In der gemütlichen Unterhaltung fragte er sie, warum sie, das Vereinsabzeichen aus deutscher Zeit auf der Brust tragend, nur französische Lieder gesungen hätten. Auf dem Weg fand er im Dorf Hohwald ein Kriegerdenkmal, auf dem der Satz „Für unsere Männer, die zum Unglück im Krieg gefallen sind“ geschrieben war. Im Ausdruck „zum Unglück“, der in Japan (und auch in Deutschland und Frankreich) undenkbar sei, statt von „fürs Vaterland ehrenvoll“, sah er die Tragödie von Elsass-Lothringen. Er schrieb resümierend und etwas poetisch, wie vor 10 Jahren: Das Elsass hat seine eigene Landeskultur. Wie traurig es ist, dass das Schicksal der Bevölkerung, die im Land stark verwurzelt ist, [zwischen den beiden Nationen] schwankt, wie sie gestern von der deutschen Hand geleitet wurde und heute dem französischen Wind folgt! Jedenfalls kann man nicht leugnen, dass ihre Kultur zwei Seiten hat. Vom Blut her ist sie zwar mit dem Deutschen verbunden. (…) Aber für ihre Gesinnung und ihr Gemüt kommt der frische Wind nicht vom Osten, sondern vom Westen über den Vogesen. Sie glaubt, dass es Frankreich ist, das dem Elsass freie Ideen und feine Kultur bringt. Diese Doppelkultur ist das Charakteristikum des Elsass. Das ist also das historische Schicksal der deutsch-französischen Feindschaft seit mehreren Jahrhunderten.33
Sakaguchi war ein seltener japanischer Historiker seiner Zeit, der kein Stubengelehrter war, obwohl er Alt- bzw. Renaissancehistoriker war. Wenn auch von gewissen Vorurteilen von damals nicht völlig frei, war er doch interessiert an seiner Zeit und versuchte, zwischen Geschichte und Gegenwart reflektierend, die Sensibilität und Mentalität der Menschen zu verstehen. Er lehrt uns, oder zumindest mir, dass die Reiseziele für Historiker nicht nur Archive oder Bibliotheken sein sollten. Dr. Akiyoshi Nishiyama, Kyoritsu Women’s University, Tokio
33 Ebd. (Anm. 32), S.268.
DES LIEUX D’UNE MÉMOIRE FRONTIÈRE D’UN MICRO-PAYS LE PAYS DE BITCHE (SYLVAIN SCHIRMANN)
Située à l’Est du département de la Moselle, comprenant trois cantons, la géographie du pays de Bitche dessine à l’Ouest un pays ouvert, limite orientale du bassin parisien, et à l’Est un pays fermé, vallonné et forestier, ensemble lorrain des Vosges du Nord. Les premiers témoins d’une frontière humaine sont hérités des périodes celtes, et tout porte à croire que la Pierre des Douze apôtres, ancien menhir, qui marque actuellement encore la séparation entre la Moselle et le Bas-Rhin, entre la Lorraine et l’Alsace, ait fixé à l’origine la rencontre entre Gaule celtique et Gaule Belgique. Lieu de culte probablement aussi, il servit les religions de ses maîtres successifs: paganisme des gallo-romains, christianisme par la suite.1 La religion créa très vite dans la région de Bitche de nouvelles marques de la frontière. C’est probablement en 1135 que le duc de Lorraine Simon Ier décide d’installer une abbaye cistercienne sur le ban de l’actuelle commune de Sturzelbronn et les premiers moines s’y installent en 1136. Certes, ses relations avec l’ordre de Citeaux sont bonnes, mais les motivations politiques sont loin d’être absentes de ce geste ducal. Simon Ier marque, à travers le don de ces terres aux moines, les limites de son territoire face au duché voisin d’Alsace et affirme son autorité sur ce «finistère lorrain». L’ordre bénéficie ainsi de la protection des ducs de Lorraine, qui exercent un patronat de fait sur les possessions. Les liens affectifs entre la Maison de Lorraine et l’abbaye de Sturzelbronn sont intenses. Dons, juridiction criminelle, privilèges et charte sont consentis à cette dernière, tournant la contrée indéniablement vers la Lorraine. Les premiers ducs (Simon, Mathieu, Ferry I, Ferry II) s’y rendent souvent, et Ferry II souhaite même y être inhumé. De l’abbaye, il ne reste que peu de vestiges après les destructions consécutives à la Révolution française: un tympan, visible dans l’actuel cimetière de la commune; un calendrier du XIIème siècle, présent dans le clocher de l’église paroissiale; et le portail d’entrée du XVIIème siècle, avec un élément du mur d’enceinte. Mais les forêts environnantes contiennent les marques visibles des limites du domaine originel de Sturzelbronn: des bornes marquées de la crosse abbatiale et du nom de «Stirzelbron».2 A la même époque – deux sécurités valent mieux qu’une – un ensemble de châteaux forts vient compléter le dispositif de marquage des terres orientales du duché. Utilisant des sites de hauteur, rebords de plateau, ou des collines entièrement aménagées, ces nids d’aigle des Vosges du Nord favorisent la défense du 1 2
Pöhlmann, Carl, Die älteste Geschichte des Bliesgaus, Saarbrücken, 1953; voir également: Jacops, Marie-France, Guillaume, Jacques, Hemmert, Didier, Le pays de Bitche. Images du patrimoine, Metz 1990. Kaiser, Jean B., Die Abtei Stürzelbronn, Strasbourg, 1937; Pacaut, Marcel, Les moines blancs. Histoire de l’Ordre de Cîteaux, Paris 1993.
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territoire et tentent de protéger les terres des incursions de l’Est ou du Nord. Mais ils se transforment également, comme à Bitche, en centre d’autorité politique, organisant le comté. La liste est longue des vestiges demeurant encore visibles. La citadelle de Bitche, reprenant le lieu de l’ancien château, c’est l’Arnsbourg à Baerenthal, voire le Falkenstein à Philippsbourg ou le Waldeck, qui en territoire mosellan restent les témoins des guerres féodales que se livrent les maisons de Hanau-Lichtenberg et de Deux-Ponts–Bitche, ou les Lutzelbourg–Falkenstein. Ce dernier château, création des comtes de Lutzelbourg, passe ensuite à la maison de Falkenstein avant que Philippe IV de Hanau-Lichtenberg ne le rachète en 1564. Ces guerres féodales provoquent souvent la destruction de ces édifices, avant que Richelieu et les chevauchées régionales de la guerre de Trente Ans ne les détruisent définitivement, Bitche étant incendiée en 1633. C’est aussi le moment, où au lendemain du traité de Westphalie (1648), le pays de Bitche bascule dans «l’orbite française», l’influence du Royaume de France devenant dorénavant prépondérante dans le Duché de Lorraine. Celle-ci renforce le catholicisme au détriment d’une religion réformée, cantonnée dans deux villages de l’Est du pays de Bitche, Phillipsbourg et Baerenthal, introduisant un autre type de mémoire dans cette région considérée par les uns, comme front de la catholicité face à des communautés alsaciennes acquises à la Réforme, et pour les autres comme premier rempart de la défense de la Réforme.3 Le passage sous influence française y provoque au XVIIème siècle une occupation intermittente. Elle renforce la nécessité pour le Roi de France de protéger «ce pré carré» du Royaume. En 1679, une mission d’inspection confiée à Louvois et Vauban indique la nécessité de renforcer le dispositif de protection à Bitche. Ce site devait être un élément clef du système défensif avec ceux envisagés à Sarrelouis et Phalsbourg. Ces places, centres logistiques et défensifs, nécessitent d’importants travaux et le renforcement des infrastructures qui y amènent. Elles supposent également, surtout au lendemain d’une guerre aussi meurtrière que celle de Trente Ans, une «colonisation» française. Les rapports entre la place de Bitche et le Royaume de France témoignent des rivalités d’influence entre le Duc de Lorraine et le souverain français. En 1634, la garnison ducale y capitule une première fois face aux troupes françaises. Mais de 1644 à 1655, elle reste aux mains du Duc. Les données stratégiques sont fondamentalement modifiées au lendemain de la deuxième occupation de la Lorraine par la France en 1670, et surtout après la signature de la paix de Nimègue en 1678. Bitche est rattachée aux possessions françaises en Lorraine en 1680. La fortification de la place a un coût énorme: 2 millions de livres. Elle attire à partir de 1681 une arrivée de migrants en provenance des provinces royales, une migration fortement encouragée par les autorités du Royaume. Il s’agit de franciser une zone dont la vocation est d’entrer dans le «pré-carré». Des mesures libérales de distribution des terres et d’exemptions fiscales encouragent une «immigration picarde», qui doit supplanter les premiers habitants qui s’étaient fixés au lendemain de la guerre de Trente Ans et qui venaient du Tyrol. Des «villages picards» surgissent ainsi. Ils «surveillent» les routes stra3
Robin, Bernard, Manteaux de grès et dentelles de sapin, Metz 1992; Heumann, Gautier, La guerre des paysans d’Alsace et de Moselle (avril-mai 1525) 1976.
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tégiques vers Bitche. Si le duc Léopold obtient à nouveau la place de Bitche au lendemain de la paix de Ryswick en 1697, la forteresse doit cependant être détruite. Une émigration alémanique est encouragée, le Saint Empire en fournissant l’essentiel. La guerre de succession d’Espagne amène la troisième occupation française, et dès lors le souverain français entreprend de faire à nouveau de Bitche une place défensive majeure. Stanislas étant duc de Lorraine, les travaux commencent en 1740. Reprenant les plans de Vauban, l’ingénieur militaire Cormontaigne et le gouverneur de la place, le comte de Bombelles, en achèvent le gros œuvre en 1754. Il faut attendre 1766 pour que la citadelle soit achevée. Elle ne subit plus de modification majeure jusqu’en 1870.4 Le joyau de l’architecture militaire érigé sur l’emplacement de l’ancien château occupe le centre de la cité qu’on dote d’une enceinte fortifiée, pour remplacer l’enceinte urbaine de terre qui existait depuis le début du XVIIIème siècle. Des courtines ont été construites, et au début de la période révolutionnaire, entre 1788 et 1795, on ajouta un mur crénelé. Dès lors, la place fortifiée de Bitche et son proche pays sont liés aux grandes gestes de l’épopée révolutionnaire et du XIXème siècle. Position centrale entre l’armée du Rhin et l’armée de la Moselle, la citadelle de Bitche ne peut que susciter la convoitise des forces coalisées contre les troupes révolutionnaires. Les troupes prussiennes occupant l’Alsace du Nord, le 16– 17 novembre 1793, le prince de Hohenlohe ordonne un coup de main contre la citadelle. Il échoue. Le général Hoche établit alors passagèrement son quartier général à Bitche et peut ensuite se lancer dans l’offensive qui repousseles Prussiens sur le Rhin. En 1814–1815, au moment des campagnes de France, la place résiste également aux coalisés. Sous la seconde Restauration, Bitche dorénavant cité-frontière, complète son dispositif de défense. Un ouvrage avancé, le fort Saint-Sébastien, fait figure de premier rempart en 1846. L’enceinte est réaménagée entre 1846 et 1857. Mais c’est au cours de la guerre de 1870–1871 que la résistance de la cité marque les esprits. Isolée et sans perspectives, la place forte de Bitche, sous le commandement du colonel Teyssier, soutient un siège jusqu’en mars 1871. Sous le feu des bombardements, la ville est en grande partie détruite. Elle tient cependant jusqu’à l’armistice et subit le siège le plus long de cette guerre. Occupée à partir de 1871 par les Bavarois, la ville dorénavant intégrée au Reich allemand n’en reste pas moins marquée par sa vocation militaire. Plus éloignée après 1871 de la frontière qui passe largement à l’Ouest et au Sud, la place de Bitche n’en est pas moins le théâtre de la création d’un camp de manœuvre et d’entraînement dans les forêts à l’Est de la ville. Place arrière, les autorités allemandes y construisirent également des casernes. Peu concernée par la Première Guerre mondiale, la région de Bitche retrouve son statut de région frontière dès 1918.5 Le retour à la France renforce la vocation militaire de ce «finistère», et la construction de la ligne Maginot en accentue l’importance. Intégrée dans la région 4
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Blanchard, Anne, Les ingénieurs du „roy “ de Louis XIV à Louis XVI. Etude du corps des fortifications, Montpellier, Centre d’Histoire Militaire et d’Études de Défense Nationale, 1979; Zeller, Gaston, L’organisation défensive des frontières du Nord et de l’Est au XVII° siècle, Paris 1928. Roth, François, La guerre de 1870, Paris 1990.
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Sylvain Schirmann
fortifiée de la Lauter – entre la Sarre et le Rhin, elle doit barrer la trouée des Vosges – le site de Bitche a vocation à être entouré d’une puissante ceintures d’ouvrages. Autour du Simserhof, gros ouvrage, tout un secteur fortifié dit de Rohrbach, devait faire face au Palatinat proche: il comprenait à côté de l’imposant Simserhof, à l’Ouest le Welschof et le fort de Rohrbach; à l’Est, le Schiesseck et l’Otterbiel. Achevés entre 1929 et 1938, les ouvrages tiennent le choc au moment de l’offensive allemande en 1940, particulièrement en cas d’attaque relativement frontale des gros ouvrages. Mais la grande faiblesse du dispositif réside dans la possibilité de le contourner. Construit de 1929 à 1933, le Simserhof reste inviolé jusqu’à sa reddition au lendemain de l’armistice. Intégré ensuite dans le dispositif défensif allemand, l’ouvrage a dès 1940 la vocation de défendre le secteur Pirmasens-Zweibrücken, contre une éventuelle attaque partant des Vosges vers l’Allemagne. L’ouvrage est modifié en ce sens et cette transformation coûte approximativement 11 milliards de RM. D’autres pièces dans la région de Bitche sont tournées vers l’Ouest. Elles servent à la fin de la guerre lors de l’offensive alliée. Malgré leur peu d’équipements – les Allemands utilisent certaines pièces sur le Mur de l’Atlantique –, la résistance par exemple au Simserhof sans être décisive, bloque cependant les Américains quelques jours. L’assaut américain contre l’ouvrage commence le 13 décembre 1944 pour s’achever le 19. Les soldats allemands quittent alors l’ouvrage par les issues de secours et se replient au-delà de l’ancienne frontière. Les ouvrages sont restaurés au lendemain de la guerre. Certains équipements doivent en effet servir d’abris anti-nucléaires au temps de la guerre froide. Mais, très rapidement cette perspective abandonnée, associations de bénévoles et autorités militaires les restaurent et les mettent à la disposition d’un tourisme militaire sans cesse croissant. C’est le cas du Simserhof, longtemps propriété de l’armée et musée de la fortification, aujourd’hui propriété du département de la Moselle. Ou encore du fort Casso de Rohrbach-les-Bitche, aux mains d’une association.6 La fin de la guerre ne signifie pas pour autant la fin de la vocation militaire de la région de Bitche. Trois régiments y sont installés: un régiment de cuirassiers, un d’artillerie et une compagnie de génie, dans l’ancien camp de manœuvre ouvert par les Allemands à l’époque du Reichsland. D’autres équipements s’installent également dans la région: une base de radars. Il faut attendre la fin de la guerre froide et les années 1990, pour que dans le cadre de la réforme des armées décidée par le Président Jacques Chirac la région de Bitche perde une partie des militaires présents traditionnellement sur son sol. Dès lors se pose la question de l’exploitation des casernes laissées vides. Dans une région où les flots de touristes à la recherche de ces témoins de la frontière, dans leur diversité architecturalle et chronologique, rappellent qu’il y a eu des invasions moins pacifiques! 6
Truttmann, Philippe, La muraille de France ou la ligne Maginot, Thionville 1985; Truttmann, Michel, Hohnadel, Alain, La ligne Maginot, Paris 1989; Mary, Jean Yves, La ligne Maginot, ce qu’elle était, ce qu’il en reste, Paris 1980; Wahl., Jean Bernard, La ligne Maginot en Alsace, Strasbourg 1987; Wahl, J.B., Il était une fois la ligne Maginot: Nord-Lorraine-Alsace. Historique et guide de la célèbre ligne fortifiée, Colmar 1999; Gaber, Stéphane, La Lorraine fortifiée 1870–1940. De Séré de Rivières à Maginot, Nancy 1994.
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Quasiment deux millénaires au cours desquels l’histoire des trois cantons des Vosges du Nord, connus sous le nom de pays de Bitche, se confond avec celle d’une marge frontière, d’un finistère. Entre les Gaules d’abord, témoin la pierre frontière de Goetzenbruck. Entre les terres d’Alsace et celles du duc de Lorraine, avec ses nombreux vestiges présents: ceux de l’abbaye de Sturzelbronn, ducs et moines ayant scellé ensemble leur présence sur ces terres; ceux de ces «nids d’aigles», ruines gréseuses dressées sur des promontoires rappelant les luttes entre familles vassales, liées aux ducs ou aux autres princes du Saint Empire. La lutte entre la catholicité et l’Eglise réformée n’épargne guère une région, qui pour l’une et l’autre fait figure de front, le duc y faisant en fin de compte triompher «la vraie foi», à l’exception des villages réformés du Sud-Est du Pays. La lutte entre le Royaume de France et le Saint Empire, ou avec le duc de Lorraine, puis celle entre la France et l’Allemagne y laisse d’impressionnants «témoins» militaires: citadelle de Bitche, ligne Maginot. Lieux d’affrontements, mémoire marquée par les faits d’armes, les destructions, le sang et la négation de l’homme, ils appellent à la vigilance. Prof. Dr. Sylvain Schirmann, directeur de l´institut d´études politiques de Strasbourg
LUXEMBURG–BELVAL HIN UND ZURÜCK? ZUR GRÜNDUNG UND ZUM STANDORT DER UNIVERSITÄT LUXEMBURG (JE AN-PAUL LEHNERS UND MAGALI LEHNERS)
Die Gründung der Universität Luxemburg im Jahre 2003 sorgt noch immer für viel Gesprächsstoff, und das nicht nur in Luxemburg. Es handelt sich um eine der ersten Neugründungen im 21. Jahrhundert, und das in einem kleinen Land, in dem bisher zumindest die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und auch die sogenannte Intelligenzija der Gründung einer Universität eher ablehnend gegenüberstanden.1 Um diese Gründung besser zu verstehen, wird in einem ersten Teil ein kurzer historischer Rückblick versucht, wobei zwei Fragen im Mittelpunkt stehen: „Warum gab es so lange keine Universität in Luxemburg?“ Und: „Warum sind erste Versuche gescheitert?” In einem zweiten Teil sollen die Gründungsphase sowie die Hauptcharakteristika der Universität im Vergleich zu anderen europäischen Universitäten beschrieben werden. Ein dritter Teil beschäftigt sich mit der Standortfrage. In einem letzten Teil werden Chancen und Risiken der Neugründung erörtert. HISTORISCHER RÜCKBLICK Warum eine Universität in Luxemburg? Muss die Frage nicht anders lauten: Warum so lange keine Universität in diesem Lande? Gründungen von Universitäten haben u. a. etwas mit Nationenbildung zu tun. Das heutige Luxemburg war während Jahrhunderten Teil eines größeren Territoriums, unterstand etwa im 16. und 17. Jahrhundert den spanischen, im 18. Jahrhundert den österreichischen Habsburgern. Das Herzogtum lag an der Peripherie dieser Reiche. Die Ausbildung der Führungskräfte geschah an den Universitäten der Nachbarregionen. Luxemburg war ein Agrarland abseits der großen Handelswege und ohne ausgeprägte Stadtentwicklung, Faktoren, die bei Universitätsgründungen eine Rolle spielen. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzte ein entscheidender Wandel ein, einerseits mit der Unabhängigkeit des Landes, andererseits mit der Entstehung der Eisen- und Stahlindustrie, die die Wirtschaftsgeschichte Luxemburgs bis heute prägt. Die ersten Ingenieure kamen aus dem Deutschen Reich.
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Unter den Dossiers und Stellungnahmen siehe Harpes, Jean-Paul (sous la direction de), L’Avenir universitaire au Luxembourg. Fascicule1, Luxembourg 2002 (= Publications des Amis du Centre universitaire); Dossier „Quelle université pour le Luxembourg? “ in: Forum, Dezember 1992, Nummer 140 (in dieser Zeitschrift regelmäßig Artikel zur Entwicklung der Universität, www.forum.lu). Siehe auch das Dossier des Luxemburger Wort (28.11.1992).
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Folgende Fragen wurden im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit gestellt: Wer garantiert die Qualität der Studien im Ausland? Impliziert die Souveränität eines Landes nicht auch eine Kontrolle des Wissens? Hat das kleine Land Luxemburg die Möglichkeiten dazu? Vorläufer einer Hochschullandschaft gab es schon 1817 mit der Schaffung von zwei Lehrstühlen (Logik/Metaphysik und Physik/Mathematik) für eine einjährige Hochschulausbildung am Athenäum in Luxemburg, die 1824 „cours académiques“ genannt wurde mit einem Zweijahresprogramm, das aber keinen richtigen Erfolg kannte; 1848 wurde es in „Cours Supérieurs“ umbenannt. Dieses System wurde in den darauffolgenden Jahrzehnten mehrfach modifiziert. Im Rahmen der Unabhängigkeit stellte sich darüber hinaus die Frage, wie man das notwendige Personal in der höheren Karriere ausbilden soll, wenn man keine Universität im eigenen Lande hat. Die Verfassung von 1848 sah für die Studierenden die freie Wahl der Universität vor; das Gesetz vom 23. Juli desselben Jahres erkannte jedoch die im Ausland erworbenen Grade nicht an und führte die sogenannte „collation des grades“ ein, wohl ein Unikum in der europäischen Hochschulentwicklung. Diese Regelung sah vor, dass die Luxemburger ihre Studien im Ausland machen, für bestimmte Berufe (Medizin, Recht, Sekundarschulprofessoren) jedoch ihre Examina in Luxemburg (mit Erhalt des Doktortitels) vor einer Jury ablegen, die ihre Legitimation dadurch erhielt, eben an den oben erwähnten Cours Supérieurs zu unterrichten, ohne Universitätsprofessor zu sein. Dieses System, das in den darauffolgenden Jahrzehnten mehrmals in Frage gestellt wurde, konnte zum Dilemma führen, entweder als sehr fleißiger Student an einer ausländischen Universität zu studieren und das Risiko einer schlechten Prüfung in Luxemburg mit in Kauf zu nehmen, oder das Studium im Ausland auf die leichte Schulter zu nehmen um sich hauptsächlich auf die Prüfungen in Luxemburg vorbereiten zu können; es erlaubte dem Staat eine Kontrolle seiner zukünftigen Lehrer, Ärzte, Anwälte etc. und wurde erst 1969 zusammen mit den Doktortiteln abgeschafft sowie durch die Anerkennung der im Ausland erworbenen Titel und Grade ersetzt. Die Cours Supérieurs wurden jedoch beibehalten aus mehreren Gründen: um den Studierenden einen sanften Übergang zwischen Gymnasium und Universität zu ermöglichen; aus ökonomischen Gründen, da ein Studium am Heimatort billiger ist; außerdem fördere dies die kulturellen und wissenschaftlichen Aktivitäten. 1974 kam es zur Schaffung des Centre Universitaire, die ein Abschaffen der Cours Supérieurs bedeutete, eine logische Folge des Gesetzes von 1969, und die eine Abkoppelung von den Gymnasien erlaubte, was von all denen begrüßt wurde, die in den Cours Supérieurs nur eine Verlängerung des Gymnasiums sahen. Versuche, eine private katholische Universität bzw. Fakultät in Luxemburg zu gründen, waren im 19. Jahrhundert dreimal fehlgeschlagen, 1867, 1881, 1898. Bei Letzterem handelte es sich um eine katholische Akademie mit einer theologischen und philosophischen Fakultät, die jedoch nur bis 1907 funktionierte. Unter den Ursachen des Scheiterns dieser Versuche kann man die Ablehnung der Nachbarländer Frankreich und Deutschland festmachen, was natürlich auf die eingeschränkte Souveränität Luxemburgs hinweist; darüber hinaus zeigt es ein Miss-
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trauen gegenüber einer privaten Hochschule vonseiten des Staates sowie ein Misstrauen der Liberalen gegen einen verstärkten Einfluss der katholischen Kirche. Dabei spielten auch die Frage der Unterrichtssprache(n) sowie die geringe Anzahl der Studierenden noch eine Rolle.2 Immer wieder gab es von der Zivilgesellschaft getragene Initiativen zur Gründung einer Universität, die jedoch über Jahrzehnte hinweg ohne Erfolg blieben.3 In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde etwa die „Université internationale de sciences comparées“ gegründet, die jährlich bzw. alle zwei Jahre Lehrveranstaltungen u. a. im vergleichenden europäischen Recht organisierte. Im Jahre 1986 war eine Vereinigung „Université de Luxembourg“ entstanden mit dem Ziel, eine administrative und finanzielle Struktur aufzubauen, die ausländischen Universitäten oder Fakultäten zur Verfügung gestellt werden könnte. Es gab Interessenten, etwa die ULB in Brüssel oder die Universität Montpellier. Das Vorhaben wurde von einer Kommission des Bildungsministeriums verworfen, wobei aber festgehalten wurde: „la concentration des efforts dans des domaines bien déterminés ainsi qu’une collaboration très étroite avec des universités étrangères mérite cependant d’être creusée davantage“.4 Im Mai 1993 wurde der Bericht einer Spezialkommission der Abgeordnetenkammer unter der Leitung von François Colling fertiggestellt5 zur Vorbereitung einer Orientierungsdebatte über die Hochschulpolitik in Luxemburg. In der Einleitung wird auf die Veränderungen seit den 80er Jahren hingewiesen. Luxemburg stünden wirtschaftliche und finanzielle Mittel in einem solchen Ausmaß zur Verfügung, wie es bisher undenkbar gewesen sei. Das könne dem Land erlauben, in Bildung zu investieren, so wie andere Länder mit sogar geringerer Einwohnerzahl es getan hätten, Island etwa. Die europäische Gemeinschaft wolle grenzüberschreitenden Austausch fördern. Dienstleistungssektor, Technologietransfer und Forschung könnten sich nur entwickeln, wenn eine solide Hochschullandschaft existierte. Der Immobilismus, der bisher die Gründung einer Universität vereitelt hatte, wurde bedauert. Die Studentenorganisationen, die hauptsächlich die luxemburgischen Studierenden vertreten, die im Ausland studieren, standen dem Vorhaben jedoch im Allgemeinen eher skeptisch gegenüber. Aufgrund dieses Berichts schlug der Minister ein Rahmengesetz für die bestehenden Hochschulinstitutionen vor, das im Jahre 1996 von der Abgeordnetenkammer angenommen wurde. Das neue Gesetz sah für das Centre universitaire den Ausbau zu einem kompletten ersten Zyklus nach dem französischen Modell (zwei Jahre) sowie der Möglichkeit der Schaffung von dritten Zyklen (DEA oder DESS) vor. Der zweite Zyklus wurde bewusst ausgelassen, um die Studierenden zu zwin2
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Auf die Geschichte der anderen hochschulähnlichen Institutionen (Institut supérieur de technologie (IST), Institut supérieur d’études et de recherches pédagogiques (ISERP), Institut d’études éducatives et sociales (IEES) soll hier nicht näher eingegangen werden; siehe dazu Schmit, passim. Siehe etwa Christophory et al., L’enseignement universitaire et la recherche scientifique au Luxembourg, 1984 (Typoskript). Zitiert in Rapport, S. 8; zur möglichen Zulassung bzw. Gründung privater Universitäten siehe das am 15.07.1976 angenommene Gesetz. Vgl. Christophory et al. (Anm. 3).
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gen, ins Ausland zu gehen, außer er würde mit einer ausländischen Universität zusammen organisiert. Eine „richtige“ Universität war nicht vorgesehen.6 Im selben Jahr wurde das Conseil national de l’enseignement supérieur geschaffen. Auch der Präsident dieses Gremiums Robert Mackel sah 1998 die Zeit für eine eigene Volluniversität noch nicht gekommen. Zusammenfassend kann man sagen, dass über Jahrzehnte hinweg Pro- und Contra- Argumente dieselben blieben, eine erstaunliche Tatsache! Die Gegner unterstrichen die Kleinheit des Landes, die fehlenden Finanzen, die geringe Anzahl der Studierenden und der zur Verfügung stehenden Hochschullehrer, stellten also die Frage nach der Rentabilität, sie wiesen auf die Notwendigkeit hin, im Ausland die nötigen Kompetenzen, auch sozialer Natur zu erwerben, und sprachen von dem Risiko geistiger Inzucht und Provinzialismus anstatt der angestrebten Weltoffenheit. Sollte eine Universität geschaffen werden, dann könnte sie im besten Fall Mittelmaß sein. Und schließlich gehe es auch dem Lande gut ohne Universität! Die Befürworter einer Universität in Luxemburg hielten dem entgegen, dass ohne eigene Universität das Land den Anschluss an das Ausland verlierte, dass die Zulassungsbeschränkungen an ausländischen Hochschulen den Luxemburgern ein Studium erschweren könnten. Man wüsste nicht, wielange die ausländischen Universitäten die Ausbildung der Luxemburger Studierenden, die ja auch ein entsprechender finanzieller Aufwand darstellt, tolerieren würden. Eine eigene kleine Universität mit ausgezeichneten Arbeitsbedingungen würde es Schülern aus ärmeren Verhältnissen erlauben, ein Universitätsstudium zu beginnen; eine Hauptstadt mit regionalem und europäischem Charakter, ein wichtiger Finanzplatz und Sitz mehrerer europäischer Institutionen brauchte eine Universität, die u. a. die Weiter- und Fortbildung der Leute, die hier arbeiten, organisieren könne. Eine Universität stärkte darüber hinaus die nationale Identität. Und eine Universität schaffte auch Arbeitsplätze. Bei all diesen Debatten ging es fast ausschließlich um Lehre; für die Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen für die Forschung interessierte man sich erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. ZUR GRÜNDUNG UND ZU DEN HAUPTCHARAKTERISTIKA DER UNIVERSITÄT Am Ende des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts verstärkten sich die Rufe nach einer eigenen Universität7. Diskussionen über die Bedeutung der „knowledge 6
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„Objectif hors de portée “ , „question prématurée “ , Rapport S. 61; „il n’est pas question de créer une université “ Rapport S. 63; „Le Luxembourg ne sera jamais l’endroit rêvé pour effectuer des études de doctorat “ Rapport S. 64; „Eine komplette Universität in Luxemburg ist wenig sinnvoll (Unterrichtsminister Marc Fischbach in Luxemburger Wort 28.11. 1992). U.a. Livre blanc de l’enseignement supérieur au Grand-Duché de Luxembourg (8. Mai 2000), Interpellation Ben Fayot in der Abgeordnetenkammer im Juni/Juli 2000, Document d’oriertation Université de Luxembourg Dezember 2001 mit der Entscheidung der Regierung ein Gesetzprojekt zur Schaffung einer Universität vorzubereiten, Seminar in Mondorf (14. März 2002), Gesetzesprojekt 5059 am 3.12.2002 in der Abgeordnetenkammer deponiert.
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society“ für die europäische Wirtschaft im Allgemeinen und die Wirtschaft Luxemburgs im Besonderen sowie die Meinung der in Luxemburg ansässigen und arbeitenden Ausländer dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Unter dem Impuls der damaligen Hochschulministerin Erna Hennicot-Schoepges wurden Rundtischgespräche organisiert, ausländische Experten mit der Ausarbeitung von Plänen beauftragt (einer dieser Pläne sah z. B. die Schaffung einer Universität ohne Fakultäten vor, ein anderer mit 5 Fakultäten auf 3 Standorte verteilt) und eine andere Gruppe von ausländischen Experten mit der Ausarbeitung des Gesetzes beauftragt. Nach einigen Hürden politischer Natur, u. a. zur Frage der Autonomie der Universität, die in der Endfassung des Gesetzes eingeschränkter ist als im ursprünglichen Projekt, weil nicht konform mit der Verfassung (Artikel 23 und 36), wurde das Gesetz schließlich am 17. Juli 2003 mit einer großen Mehrheit (52 von 59 Abgeordneten) verabschiedet und trat drei Tage nach Veröffentlichung im Memorial (6. Oktober 2003) in Kraft.8 Das Gesetz brachte die vier bestehenden Hochschulinstitutionen unter einem Dach zusammen, ging jedoch in seinen Zielsetzungen weit über das bisher existierende System hinaus. Den Gegnern des Projektes war man insofern entgegengekommen, als dass man die Mobilität der Studierenden innerhalb des Bachelor-Studiengangs (ein Auslandssemester von insgesamt 6 Semestern) obligatorisch machte und so einen, wenn auch kurzen, Aufenthalt im Ausland vorsah. Außerdem war garantiert, dass die Universität sich auf einige Schwerpunkte konzentrieren und dass die Forschung eine entscheidende Rolle beim Ausbau spielen soll.9 Es sei auf einige andere Kontroversen hingewiesen, die die Gründung der Universität begleiteten: Wäre es nicht besser, langsamer vorzugehen, um eine harmonische Integration zu gewährleisten? Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen der Universität und den öffentlichen Forschungszentren aus? Wie steht es mit hochschulähnlichen Bildungsgängen ohne universitären Charakter? Soll die Mobilität der Studierenden auf allen Bildungsniveaus obligatorisch sein? Schließt eine hochkarätige, international anerkannte Universität spezifische Bildungsgänge aus, die den Bedürfnissen der Luxemburger Gesellschaft und Wirtschaft angepasst sind, ohne notwendigerweise zu Exzellenzzentren zu gehören? Wie steht es mit dem Einsatz neuer pädagogischer Methoden, etwa dem „problem solving“? Wie kann man eine Forschungsuniversität, die den Bedürfnissen der Wirtschaft entgegenkommt, mit einer traditionellen Universität mit einem Gleichgewicht zwischen Forschung und Lehre unter einem Dach zusammenfassen? Soll man das überhaupt? Ist es möglich eine Universität zu schaffen, die einerseits Akteur der Gesellschaft ist, andererseits aber auch ein Instrument der kritischen Analyse dieser Gesellschaft sein soll?10 Kann man eine „top down“ und eine „bottom up“ Strate8
Die Debatten im Parlament am 17. Juli 2003 sind in extenso dokumentiert in: Chambre des Députés, Compte rendu des séances publiques Numéro 22–Session ordinaire 2002–2003. 9 Siehe in diesem Zusammenhang das Gesetz von 1987 über die Schaffung von staatlichen Forschungszentren (Centres de recherche publics) und die Gründung des Fonds National de la Recherche (FNR) 1999. 10 Siehe Interview von Jean-Paul Lehners in Luxemburger Wort 14.12.2001 unter dem Titel: „Wir müssen Uni-Atmosphäre schaffen“.
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gie miteinander verbinden? Ist die Leitungsstruktur nicht zu dirigistisch?11 Wer legitimiert diese Leitungsstruktur? Wie wichtig ist die Rolle des Rektorats im Vergleich zur Rolle des Rektors? Wird die Interdisziplinarität nicht dadurch erschwert, dass die Universität auf mehrere Standorte verteilt ist? Auf die Ernennung eines Vizerektors und des Directeur administratif Anfang Oktober 2003 erfolgte die Ernennung des ersten Rektors nach einer öffentlichen Ausschreibung unter Mithilfe einer Londoner Headhunter Firma. François Tavenas, ehemaliger Rektor der Universität Laval im Quebec, nahm seine Arbeit am 1. Dezember 2003 auf, starb jedoch plötzlich am 13. Februar 2004, was natürlich ein herber Verlust für die junge Institution bedeutete. Am Vortag seines Todes hatte er noch die letzten Korrekturen am strategischen Plan mit der von ihm eingesetzten und geleiteten Arbeitsgruppe abgesprochen. Der unter dem Vizerektor (der als Interims-Rektor 10 Monate lang amtierte, da lange Zeit kein Nachfolger für Tavenas gefunden werden konnte) fertiggestellte Text wurde vom Conseil de gouvernance leider nie ausführlich diskutiert. Die Hauptcharakteristika der Universität sind im Gesetz von 2003 festgelegt: Eine internationale Universität, in der es zu einer Symbiose zwischen Lehre und Forschung kommen soll; d. h. u. a., dass in der Regel die Programme in der Lehre, insbesonders auf Master Niveau, von Forschung begleitet werden müssen; eine Organisation der Lehre nach den Kriterien des Bologna-Prozesses; Interdisziplinarität; Mehrsprachigkeit; Mobilität der Studierenden und Tutoring. Die Universität soll klein bleiben (im Wintersemester 2007/2008 waren etwas mehr als 4.000 Studenten eingeschrieben; 2338 im Bachelor, 407 im Master, 155 als Doktoranden und 1159 in anderen Studienangeboten). Die Universität ist in drei Fakultäten aufgeteilt (Fakultät für Naturwissenschaften, Technologie und Kommunikation, Fakultät für Rechts-, Wirtschafts- und Finanzwissenschaften, Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur, Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungswissenschaften) mit der Möglichkeit der zusätzlichen Schaffung von bis zu drei interdisziplinären Zentren. ZUR LEITUNGSSTRUKTUR Die strategischen Entscheidungen werden von einem Conseil de gouvernance getroffen, der aus 7 Mitgliedern besteht, die von der Regierung ernannt werden und die keine Funktion an der Universität haben dürfen; darunter müssen mindestens vier Verantwortung an einer Universität tragen oder getragen haben. Sie werden von der Regierung vorgeschlagen und erhalten ihre Ernennung vom Großherzog. Rektor und Vertreter der Lehrenden und Studierenden sowie der Regierungskommissar nehmen an den Sitzungen mit beratender Stimme teil. Daneben gibt es einen Conseil universitaire, der außer dem Rektorat und den Dekanen aus Vertretern des Personals und der Studierenden besteht und hauptsächlich eine beratende Rolle einnimmt.
11 Siehe dazu den Artikel „Eine Ostblock-Uni für Luxemburg“ in forum Juli 2003, S. 5–7.
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Im Mission Statement vom 16. April 2005, dem Leitbild der Universität, sind die Prinzipien festgehalten, nach denen die Universität funktioniert, u. a. die Werte, auf die sie sich beruft und die sie verteidigt. Eine der ersten Aufgaben des neuen Rektors Rolf Tarrach, der im Januar 2005 nach der vorher erwähnten langen Interimszeit seine Arbeit aufnahm, war das Erstellen eines strategischen Plans, auf dem der neue Vierjahresplan aufgebaut ist. Dieser Vierjahresplan, der am 13. März 2006 vom Conseil de gouvernance verabschiedet wurde, diente als Grundlage für das Abkommen zwischen Universität und Regierung, welches am 10. Oktober 2006 unterzeichnet wurde. In diesem Kontrakt ist in insgesamt 29 Artikeln festgehalten, welches die Aufgaben der Universität bis zum Jahr 2009 sind; der letzte Artikel beinhaltet das Budget, das die Regierung der Universität bis 2009 bereitstellt (bei einer kontinuierlichen Steigerung 72 Millionen Euro im Jahre 2009). DIE UNIVERSITÄT IM INTERNATIONALEN RAHMEN Das Gouvernance Modell ist interessant, weil effizient, da es ein Modell der kurzen Wege ist; es widerspricht aber dem akademischen „bottom up“ Modell, das ja ein breites Mitspracherecht der Betroffenen garantiert; dies ist u. a. an der geringen Rolle des Conseil universitaire erkennbar. Eine weitgehende Autonomie war in Aussicht gestellt worden nach Änderung der Verfassung; diese Änderung wurde jedoch bisher nicht vorgenommen. DIE UNIVERSITÄT IN DER GROSSREGION Es wird immer wieder betont, dass die Universität keine Nachahmung der Nachbaruniversitäten in Deutschland, Frankreich und Belgien werden soll. Ein starkes Selbstwertgefühl bei der Schaffung eines ambitiösen Projektes ist wichtig, darf aber nicht zu Hochmut und Arroganz führen; schließlich gibt es an den Nachbaruniversitäten ausgezeichnete international anerkannte Forschungseinheiten. Gemeinsame Doktorandenkollegs in der Großregion werden in Zukunft die Zusammenarbeit in bestimmten Disziplinen verstärken und so könnte punktuell ein starkes Netzwerk entstehen, das sich geschlossen nach außen präsentieren kann. Warum nicht gemeinsam auftreten als ein Netzwerk von einem Dutzend Universitäten mit 200.000 Studierenden auf einer Studierendenmesse in Shanghai? Wahr bleibt, dass die Qualität einer Zusammenarbeit nicht durch die geografische Nähe determiniert wird. ZUR STANDORTFRAGE Da die neugegründete Universität aus der Fusion von verschiedenen Institutionen hervorgegangen ist, ist sie momentan auf drei Standorte verteilt: zwei in der Stadt Luxemburg (Limpertsberg und Kirchberg) und einer in der Nachbargemeinde Walferdingen. Die Idee der Schaffung eines neuen Standortes war sehr stark an
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Jean-Paul Lehners – Magali Lehners
die Revalorisierung der Industriebrachen in Esch/Belval im Süden des Landes geknüpft. Im Regierungsprogramm 2004 wurde festgehalten, dass die Fakultät für Naturwissenschaften, Technologie und Kommunikation neben anderen Forschungszentren in Belval angesiedelt werden soll, die beiden anderen Fakultäten auf einem Standort der Stadt Luxemburg zusammengefasst werden sollen. Am 23. Dezember 2005 entschied die Regierung sich dafür, Belval als einzigen Standort vorzusehen, ließ aber die Frage offen, ob die Fakultät für Recht, Wirtschaft und Finanzen nicht doch in der Stadt Luxemburg bleiben soll; dies soll 2009 entschieden werden.
Campus Walferdingen
Campus Kirchberg
Campus Limpertsberg
Maison du savoir Esch-Belval
Die Universität soll eine Universität in der Stadt werden, also keine Campusuniversität. Abzuwarten bleibt, wie schnell in Belval die neue geplante Stadt mit ein paar Tausend Einwohnern entstehen wird. Abzuwarten bleibt auch, ob neben der Stadt Esch/Alzette eine zweite Stadt Belval entstehen wird oder ob beide miteinander fusionieren. Ist der Standort Belval ein geeigneter Standort? Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich davon ab, was man unter einem geeigneten Standort versteht.
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Von einem geografischen Standpunkt aus gesehen wurden in einer Studie sechs Standortkriterien festgemacht, wobei bei der Aufstellung der Kriterien besonders auf die Bedürfnisse der Studierenden geachtet wurde:12 Größe und Ausbaufähigkeit der Fläche, Verfügbarkeit der Fläche, Verkehrsanbindung, Wohnungssituation, studentische Infrastruktur und städtebauliche Kriterien. Die „aufgeführte Analyse nach objektiven Standortkriterien zeigt deutlich, dass der Standort mehr als nur geeignet ist. Hier besteht die Möglichkeit einen lebhaften Universitätsstadtteil aufzubauen, wo mehrere Funktionen untergebracht sind und so die „Stadt der kurzen Wege“ Realität wird.“13 Andere wichtige Kriterien wurden bei dieser Studie bewusst nicht berücksichtigt, etwa der symbolische Charakter einer Standortauswahl (Bedeutung der mentalen Distanz, der mentalen Grenzen etwa). Belval ist nicht eine der Hauptstädte Europas; die ausländischen Studierenden wollen aber, jedenfalls momentan, eher in einer Hauptstadt studieren; das könnte sich ändern bei der Realisierung eines ambitiösen Projektes, in Belval, architektonisch innovativ, ein Aushängeschild weit über die Grenzen hinaus zu schaffen; bei verbesserten Verkehrsanbindungen u.a. mit der Möglichkeit, in Belval zu studieren und in der Hauptstadt zu leben, schließlich bei der Garantie der Einbindung in eine neue Stadt. Ein Ausbau in Richtung französischer Grenze ist auch auf lange Sicht nicht undenkbar: eine grenzüberschreitende europäische Universität? Die ersten Architektenwettbewerbe wurden organisiert; der Plan für das erste Gebäude, die „Maison du savoir“ steht. Der Umzug ist für 2012 vorgesehen. „Es ist aber unmöglich zu sagen, ob man es in Esch/Belval schafft, den Flair einer Universitätsstadt zu schaffen; das wird die Zukunft zeigen; die Voraussetzungen sind gegeben“.14 Auch für die Stadt Luxemburg ergeben sich, sollte dort ein Teil der Universität bleiben, mehrere mögliche Standorte, die in der erwähnten Diplomarbeit miteinander verglichen wurden. Ein potenzieller Standort für die gesamte Universität blieb bei dieser Studie außer Betracht: eine Erweiterung des Standorts Limpertsberg, der in der Studie als der geeignetste Standort identifiziert wurde, in Richtung des Nachbarviertels Rollingergrund. Er würde das Schließen der Firma Villeroy & Boch im Rollingergrund mit Verkauf des Geländes an den Luxemburger Staat voraussetzen, was im Rahmen der Globalisierung und der Auslagerung von Produktionsstätten durchaus denkbar ist. Die Verbindung der zwei Stadtteile, das eine im Tal, das andere auf der Höhe, durch den Bau der Universitäts- und Nationalbibliothek im Hang würde einen idealen Standort ergeben mit genug Ausbaufläche. Die politische Entscheidung fiel aber anders.
12 Siehe Lehners, Magali, Zur Frage des Standortes der Universität Luxemburgs. München 2005, Diplomarbeit an der LMU München; siehe auch Kies, Alex/Lehners, Magali Lehners, ESCH-BELVAL, Standort der Universität Luxemburg, CEPS/INSTEAD, Differdange (Population et Territoire 12, Juli 2007). 13 Kies/Lehners (Anm. 13), S. 14. 14 Kies/Lehners (Anm. 13), ebd.
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AUSBLICK Die Akzeptanz für die junge Universität in der Luxemburger Bevölkerung und auch im nahen und fernen Ausland ist gestiegen. Es kommt seltener vor, dass man die Existenz der Universität in Frage stellt. Das heißt nicht, dass die Universität definitiv etabliert ist. Der Aufbau einer ausgewählten Reihe von Exzellenzzentren (u. a. mit der Foresight Studie des Fonds National de la Recherche, die im Oktober 2007 in das Aufstellen der Prioritätenliste der Regierung für die Forschung mündete), eine effiziente Nischenpolitik, eine Strategie, die auch den Bedürfnissen der in Luxemburg lebenden Bevölkerung entgegenkommt (der Anteil der Luxemburger Abiturienten, die ein Hochschulstudium beginnen, ist nach wie vor gering im europäischen Vergleich), die Zusammenarbeit und die Synergien der Universität mit den bestehenden staatlichen Forschungszentren sind conditio sine qua non für einen Erfolg. Maßgeblich sind die Qualität und die Qualitätssicherung durch externe und interne Evaluation der Forschung und der Lehre. Das heißt, dass der Erfolg maßgeblich von den Lehrenden und den Forschern geprägt sein wird, die ein bestimmtes Ausmaß an akademischer Freiheit auch jenseits aller Evaluation benötigen, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Es setzt ebenfalls eine Vertrauensbasis zwischen allen an diesem Prozess Beteiligten voraus, sowohl intern als auch in den Beziehungen zwischen Universität und Regierung. Die Standortfrage ist eine politische Frage. Bei der Wahl des Standorts dürfte eine Rolle gespielt haben, dass die Arbed (heutige Arcelor-Mittal) ihre Industriebrache nutzbar machen wollte/musste. Die Aufwertung des Südens des Landes, die eine allzu starke Konzentration auf das Zentrum verhindert, ist für eine Regierung, deren Minister zu einem großen Teil aus diesem Süden kommen, auch nicht unwichtig. Die Entscheidung der Regierung, den endgültigen Standort der dritten Fakultät erst 2009 zu klären, führt natürlich zu einer aktiven und engagierten Politik der Stadt Luxemburg, die sich für den Erhalt eines Standortes in der Hauptstadt stark macht und dafür vor allem die Bedeutung des europäischen Charakters dieser Stadt, die Nähe zu den europäischen Institutionen und dem Bankenplatz hervorhebt. Sie führt auch zu einer gewissen Planungsunsicherheit in Belval. Zur Zeit der Abfassung dieses Artikels ist die Standortfrage nicht endgültig geklärt. Sollte die Fakultät für Recht, Wirtschaft und Finanzen in der Hauptstadt bleiben und sich in demselben Tempo entwickeln wie bisher, die beiden anderen Fakultäten jedoch stagnieren, dann könnte es in einiger Zeit zwei Universitäten in Luxemburg geben mit ungefähr gleicher Studierendenanzahl: eine Prestigeuniversität mit ausgeprägt europäischem Charakter in der Hauptstadt und eine eher am Rande existierende Hochschule im Süden. Wir wissen, dass es in der Geschichte Bifurkationen gibt und dass zu bestimmten Zeitpunkten aus einer Vielzahl von Möglichkeiten eine Auswahl getroffen wird. Die Geschichte behält meist nur diejenigen Entscheidungen in Erinnerung, die effektiv getroffen wurden; die Alternativen geraten in Vergessenheit. Die histoire immédiate, die histoire du temps présent muss mit diesem Problem leben; sie ist in die Zukunft hin offen. Aber ist das nicht auch der Fall bei einer Geschichte der longue durée, bei der es einfacher ist den Anfang festzumachen als
Luxemburg–Belval hin und zurück?
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das Ende? Ab wann kann man sagen, dass ein Prozess beendet ist? Alles nur Transition? Prof. Dr. Jean-Paul Lehners, Professor für Neuere Geschichte, Historisches Institut, Universität Luxemburg und Vizerektor der Universität 2003 bis 2007. Magali Lehners, Diplom-Geografin, Doktorandin an der LMU in München
VON PHALSBOURG NACH MARSEILLE UND DAKAR ZUM „TOUR DE LA FRANCE PAR DEUX ENFANTS“ (1877) UND SEINEN KOLONIALEN ADAPTATIONEN (HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK)
EIN REPUBLIKANISCHER SCHULBESTSELLER Le Tour de la France par deux enfants (1877) verkörpert, wie kein anderes Werk der Dritten Republik, das nationale Selbstverständnis des republikanischen Frankreichs des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1877 von Augustine Guyau unter dem Pseudonym A. Bruno im Verlag Belin veröffentlicht, stellte das Werk mit einer Gesamtauflage von 8,5 Millionen Exemplaren in insgesamt 400 Auflagen das auflagenstärkste Schulbuch der Dritten Republik dar. Allein zwischen 1877 und 1901 wurden von dem Schulbuchbestseller 6 Millionen Exemplare gedruckt.1 Für die Generationen junger Französinnen und Franzosen, die zwischen 1880 und 1940 die Schulbank drückten, bildete Le Tour de la France par deux enfants den ersten Zugang zur nationalen Geschichte und vor allem zur Geografie Frankreichs als eines nationalen Raums, der durch die Annexion Elsaß-Lothringens durch das Deutsche Reich 1871 eine schmerzliche und als traumatisch empfundene Amputation erlitten hatte. Nicht zufällig beginnt die Reise der beiden Waisenkinder André und Julien, der beiden Protagonisten des Buches, nach der Niederlage von 1870/71 in Phalsbourg im deutsch besetzten Teil Lothringens. Die beiden Brüder verlassen an einem sehr nebligen Septembertag ihre Geburtsstadt Phalsbourg durch die „Porte de France“, wie es zu Beginn des Werkes heißt, um den letzten Willen ihres bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückten Vaters zu erfüllen, der ihnen aufgetragen hatte, ihren im unbesetzten Frankreich lebenden Onkel Frantz aufzusuchen. Die Suche nach ihrem Onkel führt die beiden Brüder, den neunjährigen André und den 13–jährigen Julien, durch Burgund und das Rhônetal zunächst nach Marseille, wo ihr Onkel zuvor gelebt hatte. Als sie erfahren, dass er fortgezogen ist, machen sie sich erneut auf seine Suche und gelangen von Marseille über Toulouse, Bordeaux, die Bretagne und die Normandie nach Paris, wo sie ihrem Onkel schließlich begegnen und sich mit ihm in der Beauce in einem von deutschen Truppen im Krieg von 1870/71 zerstörten Bauernhof niederlassen, den sie gemeinsam wieder aufbauen. Das Ende des Werkes enthält eine Lobhymne auf Frankreich („J’aime la France“) und unterstreicht, am Beispiel der Protagonisten, den patriotischen Ta1
Ozouf, Mona und Jacques, Le Tour de la France par deux enfants, le petit livre rouge de la République, in: Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire. Bd. I: La République. Paris 1984, S. 291–321; vgl. zu dem Werk auch Siepe, Hans T., L’imaginaire historique dans Le Tour de la France par deux enfants, in: Histoire de l’Historiographie, 14, 1988, S. 160–176; Zimmermann, Margarete, Ein politisches und moralisches Lehrbuch der III. Republik: G. Brunos Le Tour de la France par deux enfants (1877), in: Französisch heute, 1, 1980, S. 1–9.
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tendrang, der es Frankreich erlaubt habe, die Niederlage von 1870/71 und ihre Zerstörungen zu überwinden. Der angeschlagene Ton ist patriotisch, aber keineswegs revanchistisch, sondern von einem pragmatischen Optimismus geprägt, der zugleich eine durchaus utopische Dimension beinhaltet: „Si la guerre a rempli le pays de ruines„, dit ainsi l’oncle Frantz au moment de la décision de reconstruire la vieille ferme, “c’est à nous tous, enfants de la France, d’effacer ce deuil par notre travail, et de féconder cette vieille terre française qui n’est jamais ingrate à la main qui la soigne. Dans quelques années nous aurons couvert les champs qui nous entourent de riches moissons, nous aurons relevé pièce par pièce le toit de la ferme, et si vous voulez, mes amis, nous y placerons joyeusement un petit drapeau aux couleurs françaises.“2
Die Reise von Julien und André findet somit nach sechs Jahren, im Jahre 1877, dem Jahr des Erscheinens von Le Tour de la France par deux enfants, ihr glückliches Ende in einer neuen, allerdings – bis auf die kleine Marie, die Tochter des Onkels Frantz – ausschließlich aus Männern bestehenden Familie, die die Renaissance der großen Nationalfamilie Frankreich symbolisiert. Die Bilder von Zerstörung und Verwüstung, die die Landschaften Nordfrankreichs aus der Sicht der beiden reisenden Waisenkinder aus dem Elsass geprägt hatten, sind nunmehr dem Optimismus des gelungenen Wiederaufbaus gewichen, den die letzte Illustration des Bandes mit folgender Bildunterschrift zeigt: „Peu de nations ont éprouvé un plus grand désastre que la France en 1870; mais peu de nations auraient pu le réparer avec une plus grande rapidité. Malgré cette crise violente, notre commerce, déjà considérable, a continué à s’accroître; il a augmenté de plus d’un milliard. C’est par le travail et l’activité de tous que la patrie devient ainsi chaque jour plus prospère.“3
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Bruno, G. [Mme Fouillée]: Le Tour de la France par deux enfants. Devoir et Patrie. Livre de lecture courante avec 200 gravures instructives pour leçons de choses. Paris, Berlin, 1877, p. 305. Neuausgabe unter dem Titel: Le Tour de la France par deux enfants. Devoir et Patrie. Livre de lecture courante, cours moyen, avec plus de 200 gravures instructives pour les leçons de choses. Adopté et recommandé pour les bibliothèques scolaires et inscrit sur la liste des ouvrages fournis gratuitement par la ville de Paris à ses écoles communales. Paris, Belin, 1903. Ebd. (Anm. 2), S. 306.
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Quelle: Bruno, G.: Le tour de la France par deux enfants. Paris: Librairie Classique Eugène Belin, 1977 (1877), S. 302, 306.
Le Tour de la France par deux enfants vermittelte, neben einer Fülle praktischer Informationen über Handwerk, Landwirtschaft sowie Pflanzen- und Tierwelt, in erster Linie ein ebenso kondensiertes wie anschauliches Wissen über Geschichte und Geografie Frankreichs, zwei Gegenstandsgebiete, die als Fächer in Frankreichs Unterrichtswesen traditionell eng miteinander verknüpft sind. Der Leser des Buches lernt auf den Spuren der beiden Brüder André und Julien die Vielfalt der französischen Landschaften kennen, sowohl hinsichtlich ihrer klimatischen und botanischen als auch über wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen, und erwirbt Kenntnisse über die verschiedensten handwerklichen, landwirtschaftlichen und industriellen Tätigkeiten und Berufe. Im Zusammenhang mir ihrem Besuch in der Stahlhüttenstadt Le Creuzot werden sie beispielsweise in die Berufswelt der Stahlarbeiter eingeführt und lernen Details über die Technik der Stahlherstellung kennen. Die Rundreise durch Frankreich erschließt den beiden reisenden Brüdern und den Lesern des Werkes gleichfalls die französische Geschichte, die im Wesentlichen über den Besuch historischer Monumente, wie der Schlösser von Versailles und Vincennes und der Cathédrale Notre-Dame, erfolgt. Historische Fakten und Zusammenhänge werden hierbei vor allem durch den biografischen Zugang, das heißt die Geschichte der „Grands Hommes de la France“, vermittelt, deren Biografien aus Anlass des Besuchs ihrer Geburtshäuser, Wirkungsstätten und Statuen evoziert werden. Diese sich im Verlauf des Werkes sukzessive entwickelnde Galerie ‚Großer Männer der französischen Nation‘ umfasst Staatsmänner, Generäle, Weltumsegler (wie La Pérouse), aber in erster Linie Schriftsteller und Wissenschaftler, die die intellektuelle Größe und kulturelle Überlegenheit Frankreichs repräsentieren sollen. Neben den Biografien von Jeanne d’Arc, Vercingétorix und Vauban, die die militärische Vergangenheit Frankreichs verkörpern, finden sich
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somit die Biografien zahlreicher Vertreter des kulturellen und literarischen Frankreich, vor allem des 17. und 18. Jahrhunderts, wie Bossuet, Montesquieu, Jussieu, Buffon, Monge, Cujas, Fénelon und Jean de La Fontaine, „un des écrivains qui ont le plus immortalisé notre langue.“4 Als narrative Darstellung der nationalen Identität Frankreichs, die vor allem im nationalen Raum, in der nationalen Geschichte und in den großen französischen Schriftstellern und Wissenschaftlern verankert wird, enthält Le Tour de la France par deux enfants auch eine utopische und visionäre Dimension. Das Werk gründet auf einer teleologischen Sicht der französischen Nation und seiner Geschichte, die von den Ideen des Fortschritts und der Zivilisation beherrscht wird. Als entscheidende Hebel des zivilisatorischen Fortschritts erscheinen, ganz in der Tradition des Aufklärungszeitalters, wie sie etwa von Condorcet (Esquisse d‘un tableau historique des progrès de l‘esprit humain, 1793–1794) und Henri Grégoire verkörpert wird, Alphabetisierung, Bildung und Wissenschaft. Le Tour de la France par deux enfants antizipierte, zum Zeitpunkt seiner Publikation, die umfassende Bildungsreform von Jules Ferry (1877–85), die die Einführung des verpflichtenden und allgemeinbildenden Schulwesens nach sich zog, sowie die zum Teil an deutschen Vorbildern orientierten Reformen im französischen Hochschulwesen in den Jahren 1880 bis 1900. Als André und Julien Savoyen durchqueren, die erst 1860 Frankreich angegliederte ostfranzösische Provinz, stellen sie einen – im Vergleich zu anderen Regionen Frankreichs – frappierenden Bildungs- und Alphabetisierungsrückstand fest, der jedoch rasch aufgeholt werden könne. Diese Entwicklung werde, so die Vision, in gleicher Weise wie etwa im Jura, auch in Savoyen allgemeinen Wohlstand nach sich ziehen: „Aussi quand ils seront tous instruits, comme dans notre Jura, on verra la Savoie changer de face: l’agriculture, mieux entendue, enrichira les cultivateurs, l’industrie fera prospérer les villes, et les enfants trouveront du travail chez eux, au lieu d’aller courir le monde; car voistu, petit Julien, il faut toujours en revenir à l’instruction: les esprits cultivés sont comme les terres bien labourées, qui paient par d’amples moissons les soins qu’on leur donne.“5
II KOLONIALE ADAPTATIONEN In zwei kolonialen Schulbüchern, die gleichfalls Bestseller darstellten und zu Beginn der Dritten Republik publiziert wurden, wurde das narrative und ideologische Muster der Tour de la France par deux enfants auf das französische Kolonialreich in Afrika übertragen: zum einen in dem Werk Les Étapes d’un Petit Algérien dans la Province d’Oran von Jules Renard, das 1888 erschien und den expliziten Untertitel „Livre de lecture publié sous le patronage du Conseil Général et de la Société de Géographie d’Oran“ trug; und zum anderen in Moussa et Gi-gla. Histoire de deux petits noirs von Louis Sonolet und A. Pèrès, das 1916 veröffentlicht wur4
5
Ebd. (Anm. 2), S. 275. Vgl. zur Bedeutung von Literatur und Kultur im kollektiven Gedächtnis Frankreichs das (immer noch) sehr anregende Werk von Parkhurst Clark, Priscilla, Literary France. The Making of a Culture. Berkeley, Los Angeles, Oxford, University of California Press, 1987, Neuaufl. 1991. Ebd. (Anm. 4), S. 93.
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de, bis 1946 zumindest fünf Auflagen erlebte und ein weitverbreitetes Lesebuch für den Französischunterricht an den Collèges im subsaharischen Afrika der französischen Kolonialzeit darstellte.6 Das Werk von Sonolet und Pérès erzählt die Reise der beiden Brüder Moussa und Gi-gla durch Französisch-Westafrika (Afrique Occidentale Française), zunächst in Diensten eines französischen Kaufmanns und dann eines französischen Offiziers, die sie von Tombouctou über Dakar nach Grand-Bassam an der Elfenbeinküste und nach Porto-Novo in der damaligen Kolonie Dahomey führt. Les Étapes d’un petit Algérien dans la Province d’Oran führt die beiden Protagonisten, den kleinen Louis und seinen Vater, durch die algerische Provinz Oran und verfolgt, wie der Autor in seinem Vorwort unterstreicht, die Absicht, „de faire connaître et aimer un coin de notre Algérie, mon pays d’adoption, pays si beau, si riche, si français de cœur et d’âme.“7 In beiden Werken findet sich grundlegend die gleiche Figurenkonstellation wie in dem französischen Vorbild: ein älterer, erfahrener Protagonist – bei Jules Renard der Vater von Louis, in Sonolet/Pérès’ Werk der 13-jährige Moussa, dessen Vater verstorben ist – tritt als Mentor gegenüber einem jüngeren Protagonisten auf, der als jünger und unerfahren, aber zugleich als sehr neugierig, lernbegierig und intelligent beschrieben wird, wie etwa der junge Gi-gla, ein Waise, den Moussa im Verlauf seiner Reise in Porto-Novo (Dahomey) kennenlernt und der als „malin et débrouillard“8 geschildert wird. Die Reiseerzählung, die ebenso eine Suche darstellt, simuliert somit in unterhaltsamer Weise eine pädagogische Situation. Beide Protagonisten eignen sich gemeinsam, und gleichzeitig mit dem Leser, der ihnen auf ihrer Reise folgt, beständig neues Wissen über die bereisten Regionen an und kommentieren dieses, wobei auch hier neben praktischen Kenntnissen über Flora, Fauna und materielle Kultur die Geografie und die Geschichte im Vordergrund der Reiseerzählung stehen: „Ils voyagent ensemble“, so heißt es im Vorwort von Moussa et Gi-gla, „s’instruisant sans cesse, demandant à tout voir et à tout comprendre.“9 Beide kolonialen Adaptationen von Le Tour de la France par deux enfants übernehmen auch, mit bestimmten Nuancen, die gleiche historische Vision und die gleichen republikanischen Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und gesellschaftlichem Fortschritt. In Moussa et Gi-gla werden diese beispielsweise aus Anlass der Feiern des 14. Juli in Bandiagara im Soudan, dem heutigen Mali, denen ein ganzes Kapitel des Buches gewidmet ist, ausführlich dargestellt. So werden nacheinander die Feierlichkeiten als grandioses und beeindruckendes Schauspiel („Spectacle“) beschrieben, die Errichtung eines Festbaums („Mât de 6
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Vgl. z.B. die Belege bei Vaillant, Janet G., Vie de Léopold Sédar Senghor: Noir, Français et Africain. Paris, Karthala, 2006, S. 83; Conklin, Alice L., A Mission to Civilize: the Republican Idea of Empire in France and West Africa, 1895–1930. Stanford, Stanford University Press, 1997, S. 52–53, 123–125, 136. Renard, Jules, Les Etapes d’un Petit Algérien dans la Province d’Oran. Livre de lecture publié sous le patronage du Conseil Général et de la Société de Géographie d’Oran. Ouvrage illustré de 10 gravures. Paris, Hachette, 1888, S. 5. Sonolet, L./Pérès, A., Moussa et Gi-gla. Histoire de deux petits noirs. Livre de lecture courante. Paris, Armand Colin, 1916, S. 39. Ebd. (Anm. 8), S. VI.
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Cocagne“) in den Blick gerückt, von dem die Zuschauer Köstlichkeiten mitnehmen konnten, und eine beeindruckende Militärparade geschildert. Im Zentrum des Erzählerkommentars steht jedoch die republikanische Bedeutungsdimension des Festes: „Jusqu’à la nuit ce fut dans Bandiagara un bruit de chants, de tambours, de trompes, de pétarades de fusils célébrant ce pays de France qui a apporté aux Noirs la liberté et la prospérité.“10 Die vorkoloniale Geschichte sowohl Nordafrikas als auch des subsaharischen Afrika wird hingegen in beiden Werken äußerst negativ dargestellt und korreliert mit einer Idealisierung der kolonialen Eroberung, die als eine Befreiung von Tyrannenherrschaft und Sklaverei erscheint. Das Kapitel, das in Jules Renards Werk Abd-el-Kader, der der französischen Kolonisation hartnäckigen Widerstand entgegengesetzt hatte, gewidmet ist, schildert diesen als einen Despoten, der mit eiserner Hand ein Volk ländlicher Stämme beherrscht habe, die zuvor unter der Terrorherrschaft („Régime de terreur“) der Osmanen gelebt hätten.11 Die Autoren von Moussa et Gi-gla verbinden die vorkoloniale Epoche unter anderem mit der Grausamkeit der Touareg, die die Stadt Tombouctou mehrfach geplündert und zerstört hätten, mit der Existenz von Menschenopfern („sacrifices humains“12), dem Einfluss der traditionellen Sänger und Geschichtenerzähler, der „Griots“, und der als Tyrannei geschilderten Herrschaft von Samory und El-Hadj Omar, die sich der französischen Eroberung entgegengestellt hatten, während die koloniale Eroberung und ihre Symbolfiguren Faidherbe, der als „Père du Sénégal“ bezeichnet wird, René Caillié, William Ponty und André Brué idealisiert werden.13 Beide Protagonisten entschließen sich am Ende, ihren Vorbildern nachzueifern, Gi-gla wird Landwirt und versucht, die neuen, französischen Erkenntnisse landwirtschaftlicher Nutzung umzusetzen; Moussa verpflichtet sich als Kolonialsoldat („Tirailleur“), „le plus beau métier du monde“14, um Frankreich, seine Errungenschaften und Ideale mit der Waffe zu verteidigen: „Moussa tirailleur, Gi-gla agriculteur! Voilà, parbleu, deux beaux métiers. L’un défendra son pays, l’autre le cultivera.“15 Beide Werke sind gleichfalls von jener teleologischen Sicht der Geschichte geprägt, die auch ihr gemeinsames Vorbild charakterisierte. Die durch die koloniale Eroberung und Erschließung erfolgten Veränderungen afrikanischer Gesellschaften und Kulturen werden in die Zukunft hinein verlängert und erscheinen als Zeichen eines kontinuierlichen sozialen, ökonomischen und kulturellen Fortschritts. „Les Blancs“, so erklärt der französische Offizier, den Moussa und Gi-gla begleiten, „ont découvert beaucoup de choses utiles et, aujourd’hui, ils en font bénéficier leurs frères noirs moins avancés en civilisation. Aussi l’intérêt de ceux-ci 10 Ebd. (Anm. 8), S. 203–208, hier S. 208. 11 Ebd. (Anm. 8), S. 78: „un peuple, composé de tribus rurales jusqu’ici maintenues dans l’ordre par la terreur que répandaient les Turcs. Sowie ebd. S. 64–64. 12 Ebd. (Anm. 8), S. 32: „Depuis lors, les sacrifices humains ne sont plus qu’un affreux souvenir pour les Anciens comme moi. “ 13 Vgl., ebd. (Anm. 8), S. 99–100, 114. In dem Werk von Jules Renard werden u.a. der Maréchal Bugeaud (S. 81), der Capitaine Dutertre (S. 198), „ce Français qui a l’âme d’un Romain “ , und der General Lamoricière (S. 203) zu Identifikationsfiguren stilisiert. 14 Ebd. (Anm. 8), S. 257. 15 Ebd. (Anm. 8), S. 139.
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est-il de venir à nous avec confiance.“16 Der zivilisatorische Fortschritt lasse sich, so die Sichtweise des Schulbuchs, anhand der Veränderungen von Städten und Landschaften seit dem Beginn der Kolonialherrschaft unmittelbar ablesen und erfahren. Dakar beispielsweise, so der Erzählerkommentar in Moussa et Gi-gla, habe sich seit der kolonialen Eroberung grundlegend gewandelt, aus einem ärmlichen Fischerdorf sei innerhalb weniger Jahrzehnte eine „ville magnifique“17, die glänzende Metropole der Afrique Occidentale Française, geworden. Auch hier unterstreicht die suggestive didaktische Frage am Ende des Kapitels „À qui la ville de Dakar doit-elle ses progrès?“18 das zivilisatorische Selbstverständnis der französischen Kolonialherrschaft. Tombouctou, einst im 12. und 13. Jahrhundert ein strahlendes Zentrum islamischer Gelehrsamkeit, sei nach Jahrhunderten des Zerfalls und der Dekadenz dank der französischen Kolonisation wieder zu alter Blüte zurückgelangt, „redevenue ce qu’elle était autrefois, quand on venait de tous les côtés de l’Afrique pour y chercher la science et la sagesse“.19 In Les Étapes d’un petit Algérien dans la Province d’Oran sind es vornehmlich die Städte Oran, Tlemcen und Mostanagem, die den seit dem Beginn der französischen Kolonialherrschaft durchlaufenen zivilisatorischen Fortschritt veranschaulichen sollen. Die Stadt Oran sei, so der Erzählerkommentar, bereits 50 Jahre nach der Eroberung Algiers um das Fünffache angewachsen.20 Tlemcen sei seit der französischen Eroberung 1842 aus seinen Ruinen auferstanden und kündige eine Zukunft an, die seiner römischen Vergangenheit würdig sei, als deren Erbe sich die französische Kolonialherrschaft betrachtete. Das Werk mündete, ebenso wie das französische Vorbild, in eine nahezu utopische Zukunftsvision, die ebenso auf die wirtschaftliche Nutzung der natürlichen Ressourcen des Landes wie auf die Verstärkung des nationalen Zusammenhaltes zwischen dem Mutterland Frankreich und der „France d’Outre-Mer“, im Rahmen der Konzeption eines größeren Frankreich, einer „Plus Grande France“, abzielte: „Quand ce vaste territoire sera exploré, fouillé, retourné ; quand les éléments multiples qui constituent ses ressources seront connus et exploités ; quand tous, étrangers, Juifs, Kabyles et Arabes, auront passé par nos écoles et s’y seront coudoyés sous la direction des mêmes maîtres; quand l’éducation en commun aura produit les effets salutaires attendus, que la langue de Voltaire et de Victor Hugo sera comprise de chacun, que nos idées auront pénétré une à une les cerveaux comme l’eau pénètre goutte à goutte la pierre; […] quand toutes ces réformes et tous ces travaux seront accomplis, l’Algérie sera véritablement la France nouvelle que nous rêvons tous, j’entends tous ceux qui ont à cœur la richesse, la force, la gloire et la grandeur de la patrie.“21
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Ebd. (Anm. 8), S. 239. Ebd. (Anm. 8), S. 11. Ebd. (Anm. 8), S. 81. Sonolet/Pérès, (Anm. 8), S. 12. Zwei didaktische Fragen, die am Ende des Kapitels zu Tombouctou stehen, nehmen diese Argumentation explizit nochmals auf, um sie den afrikanischen Schülern nachdrücklich einzuprägen: “Depuis quand Tombouctou est-elle redevenue prospère et pourquoi? Pourquoi faut-il bien servir la France?„ 20 Renard, (Anm. 7), S. 30. 21 Ebd. (Anm. 7), S. 219–220.
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Die Übertragung des Tour de la France par deux enfants auf den kolonialen Kontext verweist auf Grundcharakteristika der französischen Kolonialideologie der Dritten Republik: ihre assimilationistische Grundhaltung gegenüber kulturell differenten gesellschaftlichen Gruppen innerhalb des eigenen Territoriums; die hieraus resultierenden Kontinuitätslinien zwischen der innerfranzösischen und der kolonialen Assimilations- und Erziehungspolitik; der Fortschritts- und Erziehungsgedanke, der vorbehaltlos vom Hexagone auf das Kolonialreich übertragen wurde; und schließlich der Wille zur sukzessiven Integration des Empire Colonial in einen erweiterten französischen Nationenverband, eine „France des cinq continents du monde“, deren Gemeinsamkeiten in den Schulbüchern von Sonolot/Pérès und Renard ebenso beschworen wurden wie auf den französischen Kolonialausstellungen.22 Moussa und Gi-gla, die aus unterschiedlichen Regionen Westafrikas (Soudan und Dahomey) stammen, verschiedenen Völkern und Ethnien angehören, unterschiedlicher Religionszugehörigkeit sind und verschiedene afrikanische Muttersprachen sprechen, sollen aus der Sicht der Autoren des Schulbuchs die Integrationskraft der französischen Sprache und der republikanischen Werte vorführen: „Ils deviennent amis“, so heißt es im Vorwort des Buches, „montrant ainsi, malgré la différence de souche, de religion, de traditions, ils sont capables de s’élever à une idée de fraternité dans la grande famille noire“. Ils voyagent ensemble, s’instruisant sans cesse, demandant à tout voir et à tout entendre23 Vor diesem ideologischen Hintergrund, der die Legitimation und mediale Darstellung der kolonialen Expansion während der Dritten Republik prägte, mag es geradezu paradox erscheinen, dass sich die Autoren der kolonialen Adaptationen der Tour de la France par deux Enfants der geografischen, aber auch vor allem kulturellen und sozialen Heterogenität des Empire Colonial, die eine Verschmelzung zu einer homogenen Nation nach dem Vorbild der France métropolitaine letztlich utopisch erscheinen lassen musste, durchaus bewusst waren. So verwendete Jules Renard in seinem Werk mehrfach die Begriffe „peuple algérien“ und „Algérie“ und ließ sein Buch mit einem von Applaus begleiteten Vivat enden, das in gleicher Weise Frankreich und Algerien betraf: „Vive la France! Vive l’Algérie!“24 Diese Widersprüche, die über 70 Jahre später zur Auflösung des französischen Kolonialreichs entscheidend beitragen sollten, waren somit selbst in den of-
22 Vgl. hierzu Lüsebrink, Hans-Jürgen, „Littérature Nationale“ et „Espace National“. De la littérature hexagonale aux littératures de la „Plus Grande France“ de l’époque coloniale (1789– 1960), in: Michel Espagne/Michael Werner (Hrsg.), Philologiques III. Qu’est-ce qu’une littérature nationale? Approches pour une théorie interculturelle du champ littéraire. Paris, Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, 1994, S. 265–286. 23 Ebd. (Anm 22), S. V-VI. Vgl. zur Integrationsrolle der französischen Sprache auch ebd., S. 30: „Ainsi la pratique de la langue française rapproche les Noirs les uns des autres et leur permet de se connaître et de se rendre service.“ Der Satz, der den Charakter eines pädagogischen Merksatzes haben soll, ist auch im Original kursiv gesetzt. 24 Ebd. (Anm. 22), S. 220.
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fiziellen kolonialen Schulbüchern der Dritten Republik, die in zeittypischer Weise ihre zugleich integrative und emanzipatorische Nationalideologie verkörperten und tradierten, zumindest implizit und unterschwellig vorhanden. Prof. Dr. Hans-Jürgen Lüsebrink, Professor für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation, Institut für Romanistik, Universität des Saarlandes
UN JUMELAGE RÉUSSI: NANCY-KARLSRUHE
(CHANTAL METZGER)
En 2005, les villes de Karlsruhe et de Nancy célèbrent en grande pompe le 50ème anniversaire de leur jumelage. La place Stanislas fête son 250ème anniversaire la même année et s’est transformée, grâce à l’action des jardiniers de Karlsruhe et de Nancy, en un immense jardin en éventail reprenant le plan de la ville de Karlsruhe. On a même reproduit la pyramide, située place du marché à Karlsruhe, en face de l’arc de triomphe construit par l’architecte Héré. Cette représentation de Karlsruhe, la cité éventail,1 sur la place Stanislas reflète bien les liens qui unissent les deux villes depuis plus de cinquante ans.
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Née de la volonté du Margrave Charles-Guillaume de Bade-Durlach qui se fit construire en 1715 une résidence sur le modèle de Versailles, Karlsruhe est l’ancienne capitale du Grandduché de Bade. La ville s’est développée autour du château, au contact de la plaine du Rhin et de la forêt de la Hardt; son plan est un exemple curieux de l’urbanisme géométrique du XVIIIe siècle: les principales avenues rayonnent en éventail, au sud du palais, coupées par les rues orientées est-ouest, dont la principale est la Kaiserstrasse, artère commerçante rectiligne longue de deux kilomètres.
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Chantal Metzger
En 1955, dix ans après la fin de la guerre qui a meurtri les populations des deux côtés du Rhin, la France et l’Allemagne se sont rapprochées dans le cadre des premières instances européennes: Conseil de l’Europe et surtout Communauté européenne du charbon et de l’acier. Si l’Etat reste l’acteur officiel, un nouvel intermédiaire, la société, apparaît dans les échanges. Une véritable compréhension entre les deux peuples ne peut avoir lieu que si les citoyens des Etats en question s’associent et établissent des rapports amicaux. Les premiers appariements entre villes allemandes et françaises, ces «nouveaux espaces de citoyenneté construits librement entre deux villes» naissent.2 Le premier jumelage entre Montbéliard et Ludwigsburg, a, dès 1950, tracé la voie. Ces deux villes avaient eu des liens étroits de la fin du Moyen-âge à la Révolution française, ce qui n’était nullement le cas de Nancy et Karlsruhe. Karlsruhe prit l’initiative. L’idée de jumeler Nancy et Karlsruhe a été lancée par le Dr Friedrich Bran, un membre allemand de l’Union internationale des maires, association européenne fondée en 1948. Proche d’Otto Abetz, il avait enseigné dès 1932 au Goethegymnasium de Karlsruhe et avait la même année fait une conférence à l’Université de Nancy. Journaliste à L’Ettlinger Zeitung, il était revenu à plusieurs reprises dans la cité ducale après la guerre et y avait notamment rencontré, à l’automne 1954, Sacha Simon, le rédacteur de l’Est Républicain qu’il avait, sans difficulté, réussi à gagner à ses idées. Friedrich Bran, déjà à l’origine des premiers contacts entre Epernay et Ettlingen en 1953, ancien membre de sociétés franco-allemandes, nées après les accords de Locarno, représente, dans une certaine mesure, la continuité. Sacha Simon, futur journaliste au Figaro, consacre, à l’automne 1954 au lendemain du rejet de la Communauté européenne de défense par le Parlement français, un article en première page de son journal à l’idée des appariements communaux, démontrant ainsi que la réconciliation peut et doit se faire au niveau des citoyens des deux pays. Mais les deux villes n’étaient pas destinées à s’associer: la municipalité de Nancy songeait à Mannheim, celle de Karlsruhe à Reims. Reims ayant préféré se tourner finalement vers Aix-la-Chapelle, Karlsruhe dont le maire est membre de l’Union internationale des Maires pour l’entente germano-française et la coopération européenne cherche alors à se rapprocher de Nancy. Le choix de Nancy s’explique tout d’abord par la proximité géographique. Nancy n’est qu’à 230 km de Karlsruhe et les échanges pourront se faire sans trop de difficultés. Les deux villes sont en outre situées au carrefour de grandes lignes internationales. Le site des deux cités est sensiblement le même, elles sont toutes deux entourées de collines verdoyantes et leurs municipalités ont tenu à maintenir 2
Banoun, Sylvie, Girod de l’Ain Bertrand, Girod de l’Ain, Marina, Villes jumelées et échanges franco-allemands. Des liens inusables, in: Documents, n°2, 1996, p. 86. Defrance, Corine, Les relations culturelles franco-allemandes dans les années cinquante: Acteurs et structures des échanges, in: Hélène Miard-Delacroix, Rainer Hudemann (Hrsg.), Wandel und Integration: deutsch-französische Annäherungen der fünfziger Jahre/Mutations et intégration. Les rapprochements franco-allemands dans les années cinquante, München 2005, p. 241–256. Kissener, Michael, Die deutsch-französische Freundschaft. Aspekte einer Annährerungsgeschichte, in: Historisch-politische Mitteilungen. Archiv für Christlich-Demokratische Politik 11 (2004) p. 183–201.
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de nombreux espaces verts au centre de leur cité. La ville de Stanislas Leszczynski représente le pendant idéal de la ville-éventail du Margrave Karl Wilhelm von Baden-Durlach. Les points communs ne manquent pas: Nancy et Karlsruhe sont des villes modernes, de taille équivalente, dotées d’une université et de nombreuses Grandes Ecoles. Elles possèdent une importante tradition historique et un passé prestigieux, même si celui de Nancy est plus riche. La vie culturelle y est intense. A Karlsruhe les musées sont nombreux: galerie nationale et musée badois de conception moderne, Badischer Kunstverein, musée d’histoire naturelle, musée Pfinzgau, salles de concert, théâtres privés. Nancy riche de son passé possède également de nombreux musées, celui de l’Ecole de Nancy est unique dans son genre, s’y ajoutent le musée des Beaux-arts, le musée lorrain, le musée du fer, un opéra, des théâtres.3 La jeunesse ignorant les souvenirs désagréables du passé, l’initiative va venir d’un lycée de Karlsruhe. Sous la conduite de leur professeur de français, Elisabeth Teichmann, toute une classe du Lessing-Gymnasium se rend, pendant les fêtes de Pâques, à «Nancy la belle, Nancy la coquette»4 comme la désigne une lycéenne allemande. Le but d’Elisabeth Teichmann, née de parents français et allemand, et qui a vécu toute sa jeunesse à Strasbourg, est de concrétiser la réconciliation entre les deux peuples conformément aux vœux émis, en 1948, par l’union internationale des maires. Très dynamique, elle a longuement préparé ce voyage avec ses élèves. Les lycéennes allemandes sont accueillies par Madame Frisch, le professeur d’allemand et les élèves du lycée Jeanne d’Arc. Ils vont passer plusieurs jours à visiter la ville. Les élèves rédigeront un devoir en français, à leur retour à Karlsruhe. Une jeune lycéenne allemande donne ses impressions sur Nancy. Elle a été marquée par l’ «atmosphère purement française et le caractère complètement romain» de la ville. «C’est là, écrit-elle, où je sentis: «je suis vraiment en France et j’en étais bien fière» .5 Elle venait de passer quelques jours en Alsace et avait perçu la différence entre les deux provinces, constatant qu’en Alsace, la culture est une fusion entre la mentalité française et allemande et des influences réciproques, ce qui n’était pas le cas de la région de Nancy. «Tout le charme et toute la grâce qui on dit (sic) à la gloire du Français se manifestent dans les valeurs intellectuelles et culturelles de cette ville, dans ses édifices, ses jardins et ses musées… L’exemple le plus impressionnant, c’est la place Stanislas, le chef d’œuvre de l’architecte Héré connu dans le monde entier et centre attractif de Nancy qui a célébré cette année son bicentenaire. Toute la place est séparée des rues par des portes en fer forgé. Dans cette façon, la place est une unité qui se manifeste particulièrement à son côté le plus grandiose avec l’hôtel de ville. Dans un coin de la place, l’œil aperçoit les fontaines gracieuses avec Amphitrite et Neptune. Ces deux figures sont presque vivantes, c’est un aspect ravissant. Quel brillant de la dorure, quelle lueur derrière les branches des vieux arbres. Tout cela agit sur moi dans une manière inconnue, 3 4 5
Karlsruhe Nancy, Eine deutsch-französische Städtepartnerschaft, Karlsruhe 2005. Archives municipales de Nancy (dorénavant AMN) cote provisoire I; I1–14, lettre d’une lycéenne de Karlsruhe évoquant son séjour à Nancy en 1955. Ibid.
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c’était quelque chose d’extraordinaire qui m’a impressionné fortement … Un trésor et valeur immense pour Nancy, la Lorraine et toute la France sont la cathédrale, l’Eglise Saint-Epvre, la coupole de la Chapelle ducale, la porte de la Craffe, le palais du gouvernement, le Musée lorrain, l’ancien palais ducal qui est actuellement un musée très intéressant… Toutes ces impressions étaient bien nouvelles et intéressantes pour nous, ajoute la jeune fille, mais il faut encore mentionner une chose qui était pour nous la plus importante de tout notre voyage: c’était l’accord entre les Français et les Allemands. Et je dois dire que j’étais vraiment étonnée et bien surprise du bon accueil, de la politesse et de la bienveillance que nous avons rencontrés partout – oui, il faut le répéter partout. Nous avions pris le dîner dans le Lycée Jeanne d’Arc, en compagnie des jeunes Françaises. D’abord, nous avions tous des têtes rouges (nous autres allemandes). Il était terrible. Est-ce que c’était le froid dehors ou par notre chaleur intérieure? Ou peut-être parce qu’il nous fallait parler français? En tout cas, cela ne dura pas longtemps car nos camarades françaises étaient si gentilles et après les premières phrases en français, c’était un bavardage joyeux et sans gêne. La même situation se répéta dans les familles françaises où nous avons passé deux journées. Et ce n’est pas mentir si je dis: je me sentais comme dans mon propre foyer. Car l’accueil était si cordial et aimable que notre accord était complet. En résumant je peux dire que notre séjour à Nancy, en Alsace et en Lorraine était bien court… j’[y] ai lié des amitiés dont j’espère qu’ils seront de longue durée, où on ne regarde pas la nationalité mais où on n’estime que le sentiment naturel, l’âme et ses qualités».6 Ce premier échange fut riche de promesses. Deux mois plus tard, en juillet, les jeunes Françaises du Lycée Jeanne d’Arc rendent la visite. Entre les deux visites, a lieu le premier contact avec des représentants officiels: le 17 juin 1955, date de la fête nationale allemande, des membres de la municipalité de Karlsruhe, du ministère de l’Education et du Goethegymnasium de Karlsruhe prennent contact avec les deux grands lycées nancéiens: les lycées Henri Poincaré et Jeanne d’Arc, les édiles nancéiens ne sont pas présents. Il faudra attendre en réalité 1956 pour assister à la première rencontre officielle. Le lycée Kant de Karlsruhe accueille, du 13 juin au 27 juin 1956, une exposition de peinture d’artistes contemporains venus de Nancy. Une délégation, conduite par le Dr Pierre Weber, premier adjoint au maire, Daum, adjoint au maire, Huriet, conseiller municipal et Garoux, directeur du Syndicat d’initiative, est à cette occasion reçue à l’hôtel de Kaiserhof par le Dr Keidel, directeur municipal représentant le maire. Et c’est lors d’un concert donné par un orchestre d’écoliers allemands, à Nancy, qu’a lieu la première grande réception officielle à l’hôtel de Ville en présence du sénateur-maire, Raymond Pinchard. De longs articles, agrémentés de photographies officielles paraissent dans les grands journaux de Nancy et de Karlsruhe. A partir de cette date, les rencontres se multiplient, les jardiniers de Karlsruhe, participent, le 31 mars 1957, aux fêtes de la mi-carême à Nancy et à l’issue de cette visite, l’Est Républicain note que «Ce carnaval de l’année 1957 a … contribué activement à la compréhension de deux peuples qui veulent être les soutiens prin6
AMN, cote provisoire I; I1–14, Lettre d’une lycéenne de Karlsruhe évoquant son séjour à Nancy en 1955.
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cipaux de l’Europe de demain».7 Plus symbolique encore est le voyage accompli la même année par un groupe de donneurs de sang nancéiens à Karlsruhe. Menés par le Dr Pierre Weber, ils se rendent à l’hôpital de Karlsruhe pour y donner leur sang. La presse badoise se fait l’écho de cette importante manifestation d’amitié, dont l’aspect symbolique n’échappe à personne. La Badische Volkszeitung du 19 mai 1957 titre «Das Blut soll heute für den Frieden gegeben werden» et quelques mois plus tard, alors qu’une délégation de Karlsruhe se rend, à son tour, à Nancy pour y donner son sang, les Badische Neueste Nachrichten ajoutent “Wir wollen nicht vergessen aber einander verzeihen.“8 Le jumelage est devenu, titre le Républicain lorrain, «un appariement aux reins solides».9 Lorrains et Badois ne se contentent pas de «banqueter», le jumelage se traduit par «des réalisations fécondes et des projets d’avenir chargés de promesses».10 Les échanges se font à tous les niveaux: du lycéen au chef d’orchestre en passant par les réservistes de l’armée, les pompiers, les artisans-boulangers, les horticulteurs, les sportifs… Tous les domaines, la culture, les sciences, l’université, le monde politique, l’économie et même la religion11 sont concernés. La population des deux villes s’investit sincèrement dans ce rapprochement. Les enfants des établissements scolaires se rencontrent régulièrement, ils participent à des camps de scouts, à des manifestations sportives comme ce match de football de 1964 entre écoliers des deux villes à Karlsruhe. Sur le plan culturel, des chorales, des compagnies de théâtre, des orchestres et des expositions de la ville partenaire se déroulent indifféremment dans les deux villes. L’année 1962 est ainsi marquée par la représentation à Nancy par le Badisches Staatstheater de l’opéra de Verdi, Aida, le 26 octobre et le 8 décembre, le théâtre municipal de Nancy interprète à Karlsruhe, Mireille de Gounot. Nancéiens et Badois n’ont pas attendu le rapprochement franco-allemand et la signature du traité de l’Elysée pour renforcer leurs liens. Les manifestations du jumelage sont nombreuses.
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Est Républicain, 2 avril 1957. Badische Neues Nachrichten, 1er octobre 1957 Républicain lorrain, 29 eptembre 1960. Ibid. (Anm. 9). Est Républicain, 21 septembre 1961. Des jumelages spirituels sont établis entre les paroisses des deux villes sur initiative de Pax Christi.
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50 ANS DE JUMELAGE NANCY–KARLSRUHE12 Contacts entre municipalités et citoyens des 2 villes (rencontres et inaugurations de manifestations)
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Echanges scolaires et universitaires (colloques)
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Echanges culturels: théâtres, concerts, chorales, expositions artistiques, médias
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Echanges sportifs
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Contacts entre les différents cultes
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Contacts socioprofessionnels (artisans, fonctionnaires…) et manifestations à caractère économique (foire, semaine française ou allemande)
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Divers (actions humanitaires, cercles franco-allemands, rencontre des Lions et Rotary club)
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Contacts entre Anciens combattants, victimes du nazisme…
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Les contacts les plus importants, en moyenne un par an, concernent logiquement les relations entre les municipalités. Pour célébrer leur amitié, elles échangent des cadeaux: Karlsruhe offre à Nancy deux ours bruns en 1961 pour son zoo de la Pépinière, et Nancy remet à Karlsruhe une fontaine aux dauphins du sculpteur Eugène Grandcolas dans le style 18ème siècle, elle sera placée, près du jardin municipal.13 Les anniversaires du jumelage représentent des temps forts. Les deux maires Günther Klotz et Pierre Weber prononcent, lors du dixième anniversaire en 1965, un long discours pour commémorer l’appariement de leurs villes, et ceci malgré le refroidissement des relations franco-allemandes au niveau national. Karlsruhe et Nancy sont récompensés, à plusieurs reprises, par les instances européennes. Elles obtiennent conjointement, en 1963, l’année de la signature du traité de l’Elysée, la médaille Aristide Briand et le drapeau de l’Europe pour leur action en faveur de l’Europe. En 1969, elles reçoivent le Prix de l’Europe, une haute distinction accordée par la Communauté européenne à des communes ayant accompli des actions notables pour promouvoir l’idéal d’union européenne; en 1974, le président du Sénat Alain Poher leur remet le prix France-Allemagne, démontrant ainsi qu’elles ont, par leur jumelage, contribué à renforcer la connaissance et l’estime mutuelle entre les citoyens d’Europe. 12 Ce tableau a été effectué à partir de la chronologie établie par Matthias Boucebci, étudiant en Master 2 à l’université Nancy 2 dans le cadre des manifestations du cinquantième anniversaire du jumelage Nancy-Karlsruhe. Les recherches en vue de la constitution de cette chronologie ont été faites aux Archives municipales de Nancy, certains documents ont été obligeamment fournis par Madame Verena Denry (Service des Relations internationales de Nancy). 13 Est Républicain, 6 juin 1962. Ces cadeaux ont été échangés lors de l’ouverture de la foire internationale de Nancy par l’ambassadeur d’Allemagne, Blanckenhorn, en présence des maires de Karlsruhe, Sarrebrück et Kehl.
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Lors du 20ème anniversaire, le maire de Nancy, Marcel Martin et son collègue de Karlsruhe, Otto Dullenkopf, signent la première charte de jumelage. Après un léger fléchissement sous le mandat de Claude Coulais,14 les échanges reprennent dans le cadre des cérémonies du 30ème anniversaire. Le nouveau maire de Nancy, André Rossinot, se rend à Karlsruhe, accompagné d’une importante délégation nancéienne. Les relations entre les deux municipalités se sont, depuis la fin des années quatre-vingt, considérablement renforcées. Nancy accueille à deux reprises, en 1999 et en 2005, le sommet du triangle de Weimar. Outre les présidents français et polonais et le chancelier allemand, étaient présents à la cérémonie, les maires de Karlsruhe et de Lublin. La ville de Karlsruhe sera bien évidemment présente lors des cérémonies d’inauguration de la place Stanislas rénovée, le 5 mai 2005. Les rencontres entre jeunes, élèves, lycéens et étudiants se sont poursuivis. En août 2007, la ville de Nancy reçoit des étudiants de Karlsruhe pour un stage dans les Services Municipaux, qui leur permettra de perfectionner leur connaissance de la langue française, de découvrir pendant un mois un autre mode de vie, une autre culture d’un pays à la fois si proche mais tellement différent, et d’appréhender le fonctionnement d’une collectivité territoriale française. «Cette pratique, instaurée depuis de longues années, 1973 pour Karlsruhe, s’inscrit dans la stratégie voulue par la Ville de Nancy, de mobiliser ses jumelages au profit des échanges humains et de la connaissance mutuelle entre les peuples».15 La richesse des contacts culturels entre les deux villes peut être illustrée par l’exposition du peintre allemand Wilfried Otto au Club des Arts, 4 rue Stanislas.16 Il était venu en tant qu’interprète à Nancy et avait traduit le texte de représentations données par le théâtre de Karlsruhe à Nancy. Séduit par la ville, il en avait peint des paysages. En février 1966, il demande au député-maire, Pierre Weber, l’autorisation d’exposer «quelques vingt aquarelles et gouaches dont la moitié représente des vues de Nancy, l’autre partie des aspects de Karlsruhe, vue (sic) avec la franchise du peintre contemporain». Car ajoute-t-il, «la grande beauté surtout des places à Nancy, m’a fasciné et m’a convaincu à chanter leur louange par la couleur».17 Comme l’avait déclaré Pierre Weber, les habitants «veulent de tout cœur, de toutes leurs forces réaliser l’union des deux villes»18 et tirer «des leçons de ce dont ils ont souffert».19 Dès juillet 1961, un groupe d’officiers de réserve de Karlsruhe rend visite aux officiers de réserve nancéiens, et en 1963, le maire Pierre Weber reçoit à l’hôtel de ville des Anciens combattants allemands invités par l’Amicale des anciens coloniaux et troupes marines de Nancy; il déclare: «il n’est d’ailleurs 14 Claude Coulais fut maire de Nancy de 1977 à 1983, André Rossinot lui succède le 12 mars 1983. 15 http://agglo.grand-nancy.org/nandelib.nsf ( 20 novembre 2007), séance du Conseil municipal du 25 juin 2007, délibération n° VI-2, rapport de Mme Lebon, sur l’accueil dans les services municipaux de Nancy de 22 stagiaires des villes jumelées de Padoue et Karlsruhe. 16 AMN, cote provisoire Série I, I – 30. 17 Ibid. (Anm. 16). 18 Est Républicain, 12 octobre 1959. 19 Est Républicain, 4 mai 1963.
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point de meilleur terrain que le vôtre, celui des Anciens combattants pour comprendre combien nos luttes ont été vaines et stériles… une page de l’histoire est tournée».20 Cet appariement qui commença avec la jeunesse s’avère être un plein succès. Au jumelage officiel, au jumelage parcheminé, les deux villes ont substitué un jumelage vivant. Des liens étroits et profonds se sont progressivement tissés entre les deux villes. L’union avait été voulue par les dirigeants mais elle a été soutenue et relayée par les citoyens transformés en «militants de la paix».21 Ce jumelage a, à n’en pas douter, contribué au rapprochement entre les deux peuples. Les élèves de l’école Sainte-Elisabeth, de retour d’un voyage à Karlsruhe, ont à l’instar de leurs aînés, cinquante ans plus tôt, cherché les différences entre eux et leurs amis allemands. Ils constatent qu’il est bien difficile de les trouver. Mais après avoir passé une semaine à Karlsruhe, ils ont noté quelques petites dissemblances: «les Allemands communiquent beaucoup plus avec internet, alors qu’en France on communique plus avec le portable, jugé plus utile… Ensuite nous avons remarqué qu’en Allemagne beaucoup de garçons se maquillaient. Après avoir bien réfléchit (sic), nous nous sommes posé (sic) la question „et pourquoi pas?“ Comme les filles, les garçons ont le droit de séduire et pas seulement par la tenue vestimentaire». Les lycéennes ont également noté que les enseignants allemands «étaient plus cools» que leurs professeurs français. Elles remercient néanmoins ces derniers: «heureusement qu’ils sont là, car notre séjour en Allemagne était vraiment génial.».22 La conclusion des jeunes Nancéiennes de 2001 rejoint celle de la lycéenne de Karlsruhe de 1955, l’amitié qui lie, à présent, les habitants des deux villes est comme le déclarait Blanckenhorn en 1962 «non seulement le fait de l’action de nos gouvernements mais elle répond également aux sentiments spontanés de nos deux peuples».23 Prof. Dr. Chantal Metzger, Professeur d’histoire contemporaine, Université Nancy 2
20 Ibid. (Anm. 19). 21 Est Républicain, 12 octobre 1959, discours de P. Weber. 22 http://www.nancy.fr/documents/pdf/dossiers_presse/dp_50ans_jumelage_2006.pdf. et http:// www.lycee-Charlesdefoucauld.fr/site_chdf/autres/echanges/karlsruhe 17 novembre 2007). 23 Est Républicain, 6 juin 1962.
DIE MARSEILLAISE MEHR ALS EIN KRIEGSLIED, MEHR ALS EINE NATIONALHYMNE (BEATRIX BOUVIE R)
Die Marseillaise war immer mehr als ein Kriegslied revolutionären Ursprungs, das zur französischen Nationalhymne wurde: Sie war beispielsweise eines der populärsten Lieder der internationalen Arbeiterbewegung. Doch vorweg sei an ihre Geschichte und ihre Melodie erinnert.1 Es war der Ingenieur-Offizier Claude Joseph Rouget de Lisle, der im April 1792 in Straßburg die Marseillaise verfasste und komponierte,2 und sein „Kriegsgesang der Rheinarmee“ wurde berühmt, als im Juli des gleichen Jahres zu dem Zeitpunkt, als „la patrie en danger“ proklamiert und die Absetzung des Königs diskutiert wurde, Hunderte von Freiwilligen von Marseille aus nach Paris marschierten, wo sie durch den Vorort Saint-Antoine zu den Klängen des Liedes zogen, das bald ihren Namen trug. Von da an war es das Lied und die Hymne der Revolution. Ihre propagandistische Wirkung wurde von Freund und Feind bezeugt.3 Das Regime des Thermidor setzte der „Marseillaise“ sein „Reveil du peuple“ entgegen, das zum Lied des „weißen Schreckens“ wurde; ein Kampf zwischen beiden feindlichen Liedern brach aus, der möglicherweise für viele Analphabeten den Zeitungskampf ersetzte.4 Zahlreiche Nachahmungen kursierten; selbst die Gegner der Revolution und der Republik machten sich die allgemeine Kenntnis und Popularität der „Marseillaise“ zunutze, die sich während des Direktoriums weiterhin behaupten konnte. Sie gehörte auch in der Folge zum Programm der großen Staatsfeste und blieb Bestandteil traditionell gewordener Zeremonien. Trotz angeblicher Abneigung wusste auch Napoleon bei Gelegenheit sich ihrer zu bedienen. Sie verschwand zwar während seiner Herrschaftszeit, lebte jedoch in den „Hundert Tagen“ für kurze Zeit spontan wieder auf, und zwar als Verkörperung des revolutionären Geistes von 1792. Die Julirevolution von 1830 brachte die „Marseillaise“ erneut hervor, und der junge Hector Berlioz bearbeitete das Lied für großes Orchester mit Doppelchor. Auf die Partitur soll er anstelle der Worte „Tenöre, Bässe“ geschrieben haben: „Alles, was Stimme, Herz und Blut in den Adern hat“.5 Es war unverkennbar, dass vor allem das Volk an dem alten Revolutionslied hing,6 das zum Symbol und Ausdruck dafür wurde, dass viele sich betrogen fühl1 2 3 4 5 6
Vgl. dazu u. a. Tiersot, Julien, Rouget de Lisle, Paris 1892; Fiaux, Louis, La Marseillaise, Paris 1918; Wendel, Hermann, Die Marseillaise. Biographie einer Hymne, Zürich 1936; Gel, František, Internationale und Marseillaise. Lieder, die Geschichte machten, Prag 1954. Zum Folgenden vor allem nach Wendel (Anm. 1), S. 23ff. Vgl. ebd., S. 37f. Ebd., S. 53. Nach ebd., S. 68f. Dazu und zum Folgenden Wendel (Anm. 1), S. 73ff.
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ten, weil sie 1830 ihre Haut vergeblich zu Markte getragen hatten. Im Verlauf der Julimonarchie verschwand das Lied jedoch erneut aus der breiteren Öffentlichkeit. Als um 1840 die Losung von der Rheingrenze wiederauflebte, verfasste Alphonse de Lamartine ein großes Gedicht, das er „La Marseillaise de la Paix“ nannte. Wenig später übertrug Ferdinand Freiligrath die Verse dieser „Friedensmarseillaise“ ins Deutsche, in denen die Völker verbindende Rolle des Rheins gefeiert und die Brüderschaft zwischen Franzosen und Deutschen verkündet wurde.7 Zwar verstummte die „Marseillaise“ nie ganz, doch erst mit der bevorstehenden Revolution von 1848 lebte sie erst richtig wieder auf, lag sie wie diese quasi in der Luft. Mit der Ausbreitung der Reformbankette erfolgte auch die des Liedes, und die „Marseillaise“ wurde sozusagen zum Lied der Februarrevolution. Die „Marseillaise“ begleitete dann auch den vergeblichen Widerstand gegen den Staatsstreich Napoleons. Obwohl oder gerade weil ihr Gesang später verpönt, verfemt, verboten war und verfolgt wurde, geriet sie nicht in Vergessenheit; immer wieder ertönte sie bei verschiedenen Gelegenheiten als Ausdruck trotzigen Unmutes und ohnmächtigen Widerstandes, verstärkt seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Opposition gegen das Kaiserreich. Ende 1869 gründete der Journalist Henri de Rochefort mit Unterstützung der IAA (Internationale Arbeiter-Association, wie die I. Internationale eigentlich hieß) ein Oppositionsblatt, das er Die Marseillaise nannte; der Name sollte nicht nur an die Tradition – an die vermeintlich „unsterblichen Prinzipien von 1789“, wie man meist sagte, – erinnern, er war zugleich auch Programm, und zwar in dem auf die eigene Zeit ausgerichteten Sinn, nämlich dass die „Marseillaise“ nicht mehr wie bisher Soldaten anfeuern, sondern nun die „Hymne der Arbeit, der Freiheit und der Gerechtigkeit“ sein sollte.8 Sie war das Symbol der republikanischen Opposition. Gegen Ende des Kaiserreichs konnte man sie weder verbieten noch unterdrücken. Nach Ausbruch des deutsch-französischen Krieges ließ Napoleon III. nicht die offizielle Kaiserhymne „Partant pour la Syrie“ spielen, sondern die „Marseillaise“, wozu Karl Marx wenige Tage später bemerkte: „Das Singen der Marseillaise auf Befehl des Dezembermannes ist natürlich eine Parodie, wie die ganze Geschichte des Zweiten Kaiserreiches. Dennoch zeigt es, dass er fühlt, dass ‚Partant pour la Syrie‘ für diese Gelegenheit nicht ziehen würde.“9 Auch zu dem verzweifelten Widerstand, den die Republik nach dem 4. September 1870 der deutschen Invasion entgegensetzte, gehörte die „Marseillaise“. Da sie insbesondere zum Symbol des belagerten Paris und der Kommune wurde, musste sie auf die „Versailler“ wie ein rotes Tuch wirken. Infolgedessen galt sie nach der blutigen Niederschlagung des Kommunenaufstandes in den Augen vieler Bürgerlicher als durch die Kommune entehrt, und zudem erinnerte sie immer wieder allzu sehr an den Bürgerkrieg. Von den Vertretern der autoritativen Republik des konservativen Adolphe Thiers und viel mehr noch während der Präsident7 8 9
Später für ein breiteres Publikum, insbesondere für die Arbeiterbewegung, abgedruckt in dem Sammelwerk: Von unten auf. Ein neues Buch der Freiheit, gesammelt und gestaltet von Franz Diederich, Bd. 1, Berlin 1911. Vgl. Wendel (Anm. 1), S. 90. Marx an Paul und Laura Lafargue vom 28. Juli 1870, in: MEW, Bd. 33, S. 125.
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schaft des Marschalls und Grafen von Mac-Mahon wurde sie verpönt; hingegen blieb sie das Kampflied der Republikaner unter Führung von Léon Gambetta. Als 1879 mit der Wahl von Jules Grévy zum Präsidenten der Republikanismus sich endgültig durchsetzte, wurde die „Marseillaise“ zur Nationalhymne erhoben. Von Anfang an reichte die Ausstrahlung der „Marseillaise“ – ebenso wie die Ideen der Revolution – weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. Nach einem Wort des Revolutionshistorikers Alphonse Aulard war sie „das Hoffnungslied der zivilisierten Menschheit“.10 Das galt auch für Deutschland, wo sie schon kurz nach ihrer Entstehung rezipiert wurde. Da ist z.B. an die jakobinische Tradition zu erinnern, ein Bestandteil des bürgerlichen Emanzipationsprozesses, dessen Erbe (jedenfalls nach eigenem Selbstverständnis) die Arbeiterbewegung antrat. 11 Damit blieb die „Marseillaise“ als Symbol immer auch Element einer gemeinsamen emanzipatorischen und – entgegen dem Ursprung der Melodie als Kriegslied – Völker verbindenden Tradition.
10 Vgl. Wendel (Anm. 1), S. 115. 11 Grab, Walter, Die deutschen Jakobiner, in: Hans-Werner Engels, Gedichte und Lieder deutscher Jakobiner, Stuttgart 1971, S. XX; vgl. allgemein u. a. Grab, Walter, Norddeutsche Jakobiner. Demokratische Bestrebungen zur Zeit der Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1967; Scheel, Heinrich, Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin (O) 1962; Stephan, Inge, Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789–1806), Stuttgart 1976; Kuhn, Axel, Jakobiner im Rheinland, Stuttgart 1976; als anschauliche Übersicht zahlreicher Probleme vgl. auch den dreibändigen Katalog zu der Ausstellung: Deutsche Jakobiner. Mainzer Republik und Cisrhenania 1792–1798, Mainz 1981; Grab, Walter, Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobnier, Frankfurt/Olten/Wien 1984.
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Ohne die Problematik der jakobinischen Bewegung in den deutschen Staaten zu entfalten, sei festgestellt, dass sie während der Epoche der Französischen Republik nicht nur ideologisch, sondern auch militärisch auf den Beistand Frankreichs angewiesen war. Höhepunkt der demokratischen Agitation war die Zeit des Herbstes und Winters 1792/93, als französische Revolutionstruppen nach dem Sieg bei Valmy ins Deutsche Reich vorstießen und Teile des Rheinlandes besetzten. Als beispielhaft dafür sei die Mainzer Republik lediglich erwähnt. Die Hinrichtung des französischen Königs, der Sturz der Gironde und die Alleinherrschaft der Jakobiner veränderten die Situation dahin gehend, dass von den französischen Jakobinern keine Hilfe zu erwarten war, und die Usurpation Napoleons vernichtete endgültig die Hoffnungen der deutschen revolutionären Demokraten.12 In dieser Hauptphase der jakobinischen Agitation in Deutschland wurde auch die „Marseillaise“ als eines der revolutionären Symbole übersetzt, nachgedichtet und in zahlreichen Versionen verbreitet.13 Symbole waren und sind wichtige Mittel der Verständigung zwischen Menschen. Die wichtigsten der Französischen Revolution – Jakobinermütze, Kokarde, Sansculotten, Marseillaise und Freiheitsbäume – sind teilweise den heutigen Anstecknadeln und Kleidermoden vergleichbar; das Singen der Marseillaise und die Errichtung von Freiheitsbäumen waren hingegen Ausdruck des Gemeinschaftserlebnisses vieler Menschen. Beide zusammen verschmolzen trotz ihres unterschiedlichen und gegensätzlichen Ursprungs – Kriegsgesang der französischen Rheinarmee als militante Tradition und der Freiheitsbaum als Brauchtum mit sehr viel älteren, aber auf jeden Fall friedlichen Wurzeln – zu einem revolutionären Volksfest. Schilderungen derartiger Festveranstaltungen besagen, dass zu ihrem idealtypischen Verlauf neben „türkischer Musik“ das „Ça ira“ und das „Marseiller Lied“ gehörten.14 Anlässlich der Errichtung des Freiheitsbaums in Mainz am 13. Januar 1793 beispielsweise verfasste Friedrich Lehne, Mitglied des Mainzer Jakobinerklubs, nach der Melodie der „Marseillaise“ das „Lied freier Landleute“, das weder eine Übersetzung noch Nachdichtung des französischen Textes ist.15 Die Übersetzungen und Nachdichtungen der „Marseillaise“ aus der Hochphase der jakobinischen Agitation in Deutschland können im Einzelnen nicht angeführt werden.16 Vor allem die freien Nachdichtungen machen deutlich, wie sehr der Kampf der französischen Revolutionäre gegen äußere und innere Feinde – häufig als „Taten der Neufranken“ bezeichnet – dem eigenen Anliegen entsprach: 12 Vgl. Grab (Anm. 11), Die deutschen Jakobiner, S. XXXIIff. Der jakobinische Wohlfahrtsausschuss hatte ausdrücklich erklärt, sich nicht in die Angelegenheiten fremder Völker einmischen zu wollen; die Politik des Direktoriums und die napoleonischen Feldzüge waren mit den ursprünglich verkündeten Revolutionsprinzipien kaum in Einklang zu bringen. 13 Zu den zahlreichen Versionen, Übersetzungen, den zeitgenössischen Erscheinungsorten und ihrer Verbreitung vgl. u. a Engels (Anm. 11), S. 200 ff; bibliografische Hinweise auch in: Deutsche Jakobiner, Bd. 3, S. 35. 14 Vgl. Kuhn, Axel, „Und ewig soll am Vater Rhein die Freiheits-Eiche blühn!“ Die deutschen Revolutionsfreunde beim Feiern beobachtet, in: Deutsche Jakobiner, Bd. 1, S. 177–192. 15 Abgedruckt in: Engels (Anm.11), S. 49ff.; zur Biografie Lehnes und zu bibliografischen Nachweisen vgl. ebd., S. 195f. 16 Zahlreiche Texte mit weiterführenden Nachweisen bei Engels (Anm. 11), S. 74ff.
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nämlich dass mit der Hoffnung auf eine dauerhafte französische Republik auch die eigene Befreiung verbunden sein würde. Die historische Entwicklung nahm einen anderen Verlauf, als es die deutschen Jakobiner erhofft hatten; ihre Ziele und ihr Wirken gerieten zunächst in Vergessenheit, ebenso ihre Lieder und Gedichte. Das betrifft auch die Übersetzungen und Nachdichtungen der „Marseillaise“. Eine politische Funktionalisierung und agitatorische Umsetzung des Textes – in welcher Version auch immer – war unter den gegebenen politischen Verhältnissen weder möglich noch denkbar. Und dennoch geriet das Lied ebenso wenig wie in Frankreich ganz in Vergessenheit. Besonders im Zusammenhang mit den Ausstrahlungen der Julirevolution wurde es auch in Deutschland gelegentlich gesungen bzw. es erklang die Melodie, wie z. B. bei Tumulten in Göttingen, bei den Hanauer Krawallen, in Leipzig und Dresden oder in der Pfalz vor dem Hambacher Fest.17 Wie das alte Revolutionslied gelegentlich tradiert wurde, schildert Heinrich Heine am Beispiel alter Republikaner, die in Paris nach der Julirevolution neue Hoffnung schöpften: „Einen von ihnen hörte ich sogar singen, denn im Kaffeehaus sang er uns die Marseiller Hymne vor, und wir lernten da die Melodie und die schönen Worte, und es dauerte nicht lange, so sangen wir sie besser als der Alte selbst.“18 In den dreißiger und vierziger Jahren fand die „Marseillaise“ dann Eingang auch in die „klassische“ Musik.19 Neben Berlioz ist in diesem Zusammenhang zunächst Robert Schumann zu nennen, der mehrfach musikalische Elemente des Liedes verwendete, wie in dem Klavierstück „Faschingsschwank aus Wien“, in der Komposition zu Heines Gedicht „Die Grenadiere“ und dann noch einmal in der Ouvertüre zu Goethes „Hermann und Dorothea“. Auch Richard Wagner vertonte Heines „Grenadiere“ und benutzte dabei die „Marseillaise“. Erwähnt seien außerdem Tschaikowskys Ouvertüre 1812 und Franz Liszts symphonische Dichtung „Heldenklage“ sowie Henry Litolffs Ouvertüre zu „Robespierre oder der letzte Schreckenstag“. In der Arbeiterbewegung benutzte man beispielsweise gerade die Ouvertüre zur musikalischen Untermalung lebender Bilder, vor allem bei Szenen aus der Französischen Revolution.20 Die musikalische Verwendung der „Marseillaise“ war nicht ausschließlich als ein Kennzeichen der Französischen Revolution anzusehen, sondern auch als Einführung und Charakterisierung der Franzosen, als musikalische Erinnerung an historische Ereignisse oder sogar auch als Apotheose Napoleons. Mit der Revolution von 1848 erlebte die „Marseillaise“ nicht nur in Frankreich einen neuen Aufschwung; es entstanden im deutschen Sprachraum Revolutionslieder, die sich der populären revolutionären Melodie bedienten, um mit ihrer Hilfe eigenständige und politisch zeitgemäße Inhalte zu transportieren.21 Erwähnt 17 Vgl. Wendel (Anm. 1), S. 117f. 18 Heine, Heinrich, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, hrsg. und eingeleitet von Wolfgang Harich, Frankfurt am Main 1966, S. 187f. 19 Vgl. dazu u. a. Ernst, Erich, Die Marseillaise in der deutschen Musik, in: Berliner Arbeiterkalender 1902. 20 Ein Beispiel dafür ist: C. M. Scävola, Die Französische Revolution. Episch-dramatische Dichtung in 12 lebenden Bildern, Berlin 1893. (Selbstverständlich findet auch die Marseillaise Rouget de Lisles darin ihre Verwendung).
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sei dafür lediglich Ferdinand Freiligraths „Vor der Fahrt“, worin ausgedrückt war, welche Hoffnungen und Erwartungen mit der Revolution verknüpft waren.22 Diese Lieder zur Weise der „Marseillaise“ aus der Revolution von 1848 wurden in der sich seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts organisierenden Arbeiterbewegung nicht vergessen; sie waren als Kampfgesänge bzw. als Lieder mit revolutionären Texten aber nicht so verbreitet wie die Melodie der Marseillaise, zu der in den Jahren bzw. Jahrzehnten nach 1864 zahlreiche neue Texte entstanden. Sie war vor dem Ersten Weltkrieg in der deutschen Arbeiterbewegung die wohl bekannteste und populärste Melodie. Musik und Gesang haben seit jeher in vielen Bereichen des menschlichen Lebens eine wichtige Rolle gespielt. Auch politische und soziale Bewegungen haben sich in der einen oder anderen Form der Musik bedient. Zugleich enthalten Lieder im Text und in der Musik Symbole, „die oft mehr über die emotionale und intellektuelle Beschaffenheit der Bewegung verraten als öffentliche Ansprachen, Zeitungsartikel und Parteiprogramme.“23 Unzählige Lieder haben die Arbeiterbewegung begleitet, und in ganz besonderem Maße trifft dies für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf die „Marseillaise“ zu. Mit ihr und durch sie kann ein weiter Bogen gespannt werden: Sie gehörte zu sozialdemokratischen Parteitagen ebenso wie in den Bereich, der als „Arbeiterkultur“ umschrieben wird. Man sang sie organisiert oder spontan, man sang sie im Kontext eines musikalischen Rahmenprogramms oder als und aus Protest; die Texte wechselten je nach Gelegenheit (Theaterstücke, Gedichte und Deklamationen) oder Verein, und sie reichten vom Gesangs- bis zum Turnverein. Ungeachtet anderer Arbeitergesänge kam der „Marseillaise“ eine besondere Bedeutung zu. Denn Melodie und Text waren revolutionären Ursprungs, und allein die weite Verbreitung der Melodie mit zahlreichen Textversionen in unterschiedlichen historischen Epochen sind ein Indiz, dass beiden – Text und Melodie – als „Hohelied“ der Revolution eine bedeutsame Funktion zukam. Für die Lieder, die in der Arbeiterbewegung Verwendung fanden, gab es nur wenig Originalkompositionen, was bedeutete, dass man Texte mit den Klängen bekannter Lieder unterlegte. Diese Art Parodieverfahren geht auf alte Traditionen zurück, war es doch schon immer eine Möglichkeit bzw. ein Mittel auch für polemische Auseinandersetzungen, und es wurde eine durchaus übliche Praxis in der Arbeiterbewegung. 24 Wenn man davon ausgeht, dass der Wirkungsgrad eines Liedes in hohem Maß von der jeweiligen Melodie abhing, so ergibt sich daraus fast automatisch die Frage, welche Melodien geeignet und beliebt waren sowie häufig verwendet wurden. Neben der „Marseillaise“ waren dies allseits bekannte „Weisen“ wie etwa „Gaudeamus igitur“, „Prinz Eugen, der edle Ritter“ oder „Zu Mantua in Banden“.25
21 Vgl. Inge Lammel (Hrsg.), Lieder der Revolution 1848, Leipzig 1957; dies.: Das Arbeiterlied, Frankfurt am Main 1980. 22 Abgedruckt in: Von unten auf. 23 Lidtke, Vernon, Lieder der deutschen Arbeiterbewegung, 1864–1914, in: Geschichte und Gesellschaft 5 (1979), H. 1, S. 54. 24 Vgl. Lammel (Anm. 21), S. 20ff.; Lidtke (Anm. 23), S. 70ff. 25 Vgl. Lidtke (Anm. 23), S. 71f.; Lammel (Anm. 21), S. 21f.
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Auffallend an den Vorlagen sind die patriotischen Traditionen; viele dieser Lieder entstanden während der Freiheitskriege, andere stammen aus den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Umso bemerkenswerter muss es auf den ersten Blick erscheinen, dass die aus dem Patriotismus der französischen Republikaner stammende „Marseillaise“ sich bei den Sozialdemokraten so großer Beliebtheit erfreute. Im Kontext der sozialdemokratischen Geschichte und unter Berücksichtigung der frühen Wurzeln der Arbeiterbewegung ist das Nebeneinander von revolutionären und nationalen Traditionen auf vielen Ebenen zu beobachten. Die musikalischen Symbole sind dafür ein freilich charakteristisches Beispiel. Überlegungen zur Verwendung der „Marseillaise“ als Untermalung zahlreicher Arbeiterlieder führen zu dem Hinweis, dass musikalische Einflüsse von ihr auch auf andere Arbeiterlieder ausgingen. „Charakteristisch für den Beginn der Melodie wurde die Quartenauftaktigkeit. Dieser Quartsprung von der Quinte herauf zum Grundton verlieh dem Liedbeginn sogleich einen kämpferischen Charakter, so wie er bei der ‚Marseillaise‘ als Symbol der Kampfentschlossenheit geprägt wurde.“26 Gerade bei der üblichen Parodiebildung scheinen sich solche Melodien, die mit einem Quartsprung anfangen, besonderer Beliebtheit erfreut zu haben. Ebenso gern wurden die Signalmotivik und der scharf akzentuierte punktierte Rhythmus der „Marseillaise“ in vielen Arbeiterliedern übernommen. Das populärste Lied dieser Art wurde die ein Jahr nach Gründung des ADAV, also 1864, entstandene „Arbeitermarseillaise“ von Jakob Audorf, die einen wahren Siegeszug antrat und andere Lieder verdrängte. Auch wenn es vorher Lieder zur Weise der „Marseillaise“ gegeben hatte, die – wie die aus der Revolution von 1848–keineswegs in Vergessenheit geraten waren, so war es doch die Audorfsche „Arbeitermarseillaise“, die sich als „Kern- und Parteilied“ durchsetzte.27
26 Lammel (Anm. 21), S. 24f. 27 Nespital, Margarete, Das deutsche Proletariat in seinem Lied, Diss. Rostock 1932, S. 35.
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Die Wirkung dieser Lied-Text-Kombination war so groß, dass ihre Ausstrahlungskraft das Ende des Kaiserreichs überdauerte und bis in die Weimarer Republik hineinreichte, wo dann die meisten inhaltlichen Forderungen des Liedes als erfüllt gelten konnten. Im Hinblick auf Wirkung und Bedeutung wurde sie dann schließlich von der „Internationalen“ abgelöst. Dennoch bleibt es bemerkenswert, dass es gerade diesem Lied gelang, über Jahrzehnte lebendig zu bleiben und zum eigentlichen Parteilied zu werden.28 Die Musik mit ihrem mitreißenden Schwung konnte als „trotziger Ausdruck einer revolutionären Gesinnung empfunden werden.“29 Und aufgrund des Textes war sie ein „wahres Programmlied“, und indem es fast alles an Hoffnungen und Forderungen in sich vereinte, das „den sozialdemokratischen Arbeiter der zweiten Jahrhunderthälfte bewegte“,30 sprach die „Arbeitermarseillaise“ nicht nur das Gefühl der Arbeiter an, sondern sie war zugleich auch Ausdruck ihrer Gefühlswelt. Dafür war die „Marseillaise“ das musikalische Symbol. „Die Melodie der ‚Marseillaise‘ war ein starkes, bedeutsames Symbol der deutschen Sozialdemokratie. Im 19. Jahrhundert wurden ihre Klänge in weiten Teilen Europas zumeist als Schlachtruf des Radikalismus, der Republik und der revolutionären Emanzipation verstanden. Mit der Inbesitznahme der ‚Marseillaise‘ vereinnahmten die Sozialdemokraten für Deutschland dieses mächtige musikalische Symbol der Revolution.“31 Die Melodie entsprach dem Selbstverständnis 28 29 30 31
Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. Lidtke (Anm. 23), S. 74.
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der Sozialdemokratie als einer revolutionären Partei; die Audorfsche „Arbeitermarseillaise“ und zahlreiche andere Texte, die vor dem Ersten Weltkrieg hinzukamen, spiegeln dann nicht allein die konkreten Ziele wider, sondern auch Entwicklungsstadien der Sozialdemokratie. Ohne Zweifel war die „Marseillaise“ im Kaiserreich integraler Bestandteil der sozialistischen Arbeiterbewegung, und sie trug nicht unwesentlich zum Zusammengehörigkeits- und Identitätsgefühl auch insofern bei, als sie in den Jahren nach 1870/71 von keiner anderen Gruppe der deutschen Gesellschaft positiv in Anspruch genommen wurde. Das wurde auch dadurch möglich, dass je nach Bedarf Melodie oder Text in unterschiedlicher Weise funktionalisiert werden konnten, wobei es immer wieder Audorfs „Arbeitermarseillaise“ war, die unter allen Liedern den ersten Platz behauptete. Dazu beigetragen haben mag auch, dass das gemeinschaftliche Singen der „Arbeitermarseillaise“ die Bedeutung eines Rituals gewann, sodass sie wie kein anderes Lied den Geist der Arbeiterbewegung dieser Epoche verkörperte. In den Jahren zwischen 1875 und 1914 bildete sie den Abschluss fast aller Parteitage; in der Regel sangen die Delegierten stehend die erste Strophe.32 Ähnliches gilt für die zeremonielle Bedeutung im Rahmen von Festen und Feiern, wobei die Handhabung unterschiedlich sein konnte. In der Regel steht somit die Ritualisierung der „Arbeitermarseillaise“ im Kontext des Gemeinschaftserlebnisses, aber es gibt auch nicht wenige Beispiele dafür, dass man sie in schwierigen Situationen, etwa bei Konflikten mit dem politischen Gegner, verwandte, um sich selbst Mut zu machen oder um Kraft und Zuversicht zu gewinnen. Dies trifft in hohem Maße wohl auch auf die Situation unter dem Sozialistengesetz zu, als das Singen der „Marseillaise“ untersagt war und Liederbücher mit Texten zur Melodie der „Marseillaise“ verboten wurden.33 Angesichts der Bedeutung und Funktion der „Marseillaise“ ist es kaum verwunderlich, dass nach Audorfs „Arbeitermarseillaise“ zahlreiche Nachahmungen und Variationen entstanden.34 Wenigstens 26 Texte lassen sich nach einem ersten Überblick dazu feststellen. Unabhängig von den Funktionen und der Bedeutung von Liedern im Allgemeinen und der „Arbeitermarseillaise“ im Besonderen sind die zahlreichen Texte zur „Marseillaise ein Ausschnitt sozialdemokratischer Geschichte in Liedform. Sie zeigen etwas von der Entwicklung der Arbeiterbewegung, einschließlich der ideologischen Differenzen, von Kämpfen und Zielen, von Hoffnungen und Wünschen, und sie zeugen von wachsender Macht, aber auch von Ohnmacht. Besondere Wirkung entfalteten sie jedoch erst durch die Verbindung mit der Melodie, die, von ihrer musikalischen und agitatorischen Ausstrahlung abgesehen, auch eine Art revolutionärer Sehnsucht verkörperte. Erinnerte ihr Ursprung doch an eine Revolution, die als erfolgreich galt und die im historischen Selbstverständnis der Sozialdemokratie Ausgangspunkt der eigenen Entwicklung war. Unter veränderten 32 Vgl. Lidtke (Anm. 23), S. 65; Dowe, Dieter, Die Arbeitersängerbewegung in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg – eine Kulturbewegung im Vorfeld der Sozialdemokratie, in: Gerhard A. Ritter, Arbeiterkultur, Königstein 1979, S. 133. 33 Vgl. u. a. Lammel (Anm. 21), S. 38. 34 Vgl. Lammel (Anm. 21), S. 44, 47; Nespital (Anm. 27), S. 51ff.
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historischen Bedingungen übte die „Internationale“ eine ebenso starke Wirkung aus. Dennoch geriet die „Marseillaise“ nicht in Vergessenheit. Dabei geht es nicht um die französische Nationalhymne, sondern vielmehr um eine populäre Breitenwirkung wie bei den Beatles, die sie in „All you need is love“ verwendeten. Erinnert sei abschließend auch an den Kultfilm „Casablanca“, in dem der Widerstandskämpfer Viktor Laszlo sie der „Wacht am Rhein“ entgegensetzte, als es in Rick’s Bar zu einer Begegnung und „musikalischen“ Konfrontation mit Vertretern des „Nazi-Deutschland“ kam. Prof. Dr. Beatrix Bouvier, apl. Professorin, Leiterin von Museum und Studienzentrum Karl-Marx-Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung, Trier und Institut für Geschichte, TU Darmstadt
LITTERIS ET PATRIAE ZWEIMAL DEUTSCHE UNIVERSITÄT STRASSBURG ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND GERMANISIERUNG (1872–1918 UND 1941–1944)1 (R AINER MÖHLER)
„Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“2 – Karl Marx konnte in seiner Broschüre über den ,achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte‘, erschienen erstmals 1852, natürlich noch keinen Bezug zu unserem Thema herstellen; er erwähnte stattdessen die ,Drapierung‘ der Jahre der Französischen Revolution von 1789 bis 1814 als römische Republik oder Kaisertum und die ‚Maskierung‘ Luthers als Apostel Paulus. Die Geschichte der beiden deutschen Universitäten Straßburg im 19. und 20. Jahrhundert, genauer von 1872 bis 1918 und 1941 bis 1944, sind jedoch ein weiteres geeignetes Beispiel, allerdings im umgedrehten Sinne: zunächst als Farce, dann als Tragödie. Zweimal versuchte das Deutsche Reich, mittels einer hervorragend ausgestatteten und personell besetzten Universität, die jeweils zu ihrer Zeit Modellcharakter für das gesamte deutsche Wissenschaftsleben beanspruchte, das Grenzland Elsass und seine als ‚urdeutsch‘ betrachteten Bewohner 1
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Im vorliegenden Essay wurde der genaue Nachweis auf die wörtlichen Zitate eingeschänkt. An Darstellungen lagen vor allem zu Grunde: Michael Erbe (Hrsg.), Das Elsaß: historische Landschaft im Wandel der Zeiten, Stuttgart 2002. Zur allgemeinen neueren deutschen Universitätsgeschichte: Christa Berg (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1–6. München 1987–1998; als ein Beispiel moderner Universitätsgeschichtsschreibung: Paletschek, Sylvia, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001. Zur Geschichte der Kaiser-Wilhelms-Universität immer noch unverzichtbar und unübertroffen: Craig, John E., Scholarship and Nation Building. The Universities of Strasbourg and Alsatian Society 1870–1939, Chicago 1984; neuerdings: Schlüter, Bernd, Reichswissenschaft. Staatsrechtslehre, Staatstheorie und Wissenschaftspolitik im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der Reichsuniversität Straßburg, Frankfurt/Main 2004, sowie: Überfill, François, La société strasbourgeoise entre France et Allemagne (1871–1924): la société strasbourgeoise à travers les mariages entre Allemands et Alsaciens à l’époque du Reichsland; le sort des couples mixtes après 1918, Strasbourg 2001. Der erste Versuch einer gesamtgeschichtlichen Betrachtung: Elisabeth Crawford et Josiane Olff-Nathan (Hrsg.), La science sous influence. L’université de Strasbourg, enjeu des conflits franco-allemands 1872–1945, Strasbourg 2005. Speziell zur Reichsuniversität der Tagungsband: Christian Baechler (Hrsg.), Les Reichsuniversitäten de Strasbourg et de Poznan et les résistances universitaires 1941–1944, Strasbourg 2005, sowie als eine historiografisch sehr interessante und beeindruckende Spurensuche nach den Opfern des Verbrechers Hirt: Lang, Hans-Joachim, Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren, Hamburg 2004. Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon (1852), in: MEW Bd. 8, S. 111– 207, 115.
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wieder zurückzugewinnen. Zweimal scheiterte dieser Versuch nach Kriegsniederlagen; beides Mal war jedoch bereits zuvor erkennbar gewesen, dass die Germanisierungsmaßnahmen ihr Ziel nicht erreicht hatten. Äußerte sich der elsässischfrankophile Widerstand im Kaiserreich in eher harmlosen Erscheinungen wie dem alljährlich zum Jahresende, nach dem ‚Wurstbankett‘, stattfindenden Schweigemarsch der Studenten um die Statue des napoleonischen Generals Jean-Baptiste Kléber, so fällte der Volksgerichtshof unter seinem Vorsitzenden Roland Freisler in Straßburg Todesurteile gegen Studenten, die sich am (gewaltlosen) Widerstand gegen die völkerrechtswidrige Zwangsrekrutierung für die deutsche Wehrmacht beteiligt hatten. Vor allem aber die monströsen Verbrechen des Lehrstuhlinhabers für Anatomie, August Hirt, und die auf Bestellung ermordeten Opfer seiner geplanten ,jüdisch-bolschewistischen‘ Skelettsammlung, führten dazu, dass mit der nationalsozialistischen Reichsuniversität Straßburg auch das Kapitel der deutschen Geschichte des Elsass beendet wurde. Auch noch zwei Generationen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird der Spaziergänger im Universitätsviertel der Straßburger Neustadt in fast jeder Straße mit den Überresten der deutschen Vergangenheit konfrontiert. Die Hoffnung des letzten Dekans der Evangelisch-Theologischen Fakultät der kaiserlichen Universität, Gustav Anrich, scheint bis heute aufzugehen: „Die stolzen Komplexe der Universitätsbauten, wie sie keine französische Provinzialuniversität aufzuweisen hat, reden auch fernerhin von dem, was deutscher Geist und Organisationskraft in Straßburg zu schaffen vermocht haben“.3 Der Neubau einer kompletten Universitätsanlage vor dem ehemaligen Fischerthor, errichtet in den Jahren seit 1875, erhielt mit der Fertigstellung des Kollegiengebäudes am Universitätsplatz seinen ‚Kopf‘. In Vogesensandstein ausgeführt, in den Formen einer „einfachen würdigen Renaissance-Architektur“ – so die zeitgenössische Baubeschreibung durch den Archäologieprofessor Adolf Michaelis – kann der Betrachter bis heute eine vielfältige Symbolik vor allem an der Außenfassade des Gebäudes enträtseln. Die Krönung des Kollegiengebäudes stellt die Gestaltung des Mittelbaus oberhalb der vorgelegten Freitreppe dar, auf der eine Gruppe von fünf überlebensgroßen Figuren platziert ist: „Die Schirmherrin der Wissenschaft, Pallas Athene, steht in feierlich ruhiger Haltung vor ihrem Throne, mit ihrer Rechten die Fackel hoch erhebend, in der gesenkten Linken den Kranz haltend. Zu beiden Seiten des Thrones sind die Vertreterinnen der Geisteswissenschaften und der Naturwissenschaften gelagert, beide im Begriff, einen zu ihren Füssen liegenden Jüngling zu unterweisen. Der eine bemüht sich nach Anleitung der älteren Muse den Schleier der Sphinx zu lüften, dem andern erläutert die jugendlicher gehaltene Schwester mit Hilfe von Zirkel und Krystall ein naturwissenschaftliches Problem. Unter der Gruppe liest man die Worte LITTERIS ET PATRIAE: der Wissenschaft und dem Vaterlande ist der ganze Bau mit Allem, was darin betrieben wird, geweiht“.4 3 4
Anrich, Gustav, Ehemalige Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg, in: Das akademische Deutschland. Bd. 1: Die deutschen Hochschulen in ihrer Geschichte, hrsg. von Michael Doeberl, Berlin 1930, S. 373–384, 384. Michaelis, Adolf, Das Allgemeine Kollegiengebäude, in: Hausmann, Sebastian Die KaiserWilhelms-Universität Strassburg. Ihre Entwicklung und ihre Bauten, Straßburg 1897, S. 104–
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Dieser Wahlspruch LITTERIS ET PATRIAE ist auch heute noch am Zentralgebäude der Université Marc Bloch (Strasbourg II), dem ‚Palais Universitaire‘, zu lesen; er hat den dreimaligen nationalen Besitzwechsel des Elsass in den Jahren 1918, 1940, 1944 überstanden und die Straßburger Universität zu Zeiten des kaiserlichen Obrigkeitsstaates, der nationalsozialistischen De-facto-Annektion sowie der 3. bis 5. Französischen Republik geschmückt. Wilhelm I. akzeptierte den Wunsch des akademischen Senats, der im November 1881 unter dem Rektorat von Michaelis die Namensgebung beschlossen hatte, und wünschte der Universität zur Einweihung des Kollegiengebäudes, dass „die Hochschule in den Reichslanden, ihrem Wahlspruche ‚litteris et patriae‘ unerschütterlich treu, in der Pflege deutscher Wissenschaft und deutschen Geistes für alle Zeiten zum Heile des Vaterlandes ihrer edlen und dankbaren Aufgabe gerecht werden möge“.5 Der Wahlspruch symbolisierte die Überzeugung der Gründergeneration der Straßburger Universität, dass durch die bloße Ausstrahlungskraft der deutschen Wissenschaft dem Vaterlande am besten gedient sei. In einer nüchternen Sprache drückte dies auch die kaiserliche Stiftungsurkunde vom 28. April 1872 aus: „Auf daß an ihr im Dienst der Wahrheit die Wissenschaft gepflegt, die Jugend gelehrt, und so der Boden bereitet werde, auf welchem mit geistiger Erkenntnis wahrhafte Gottesfurcht und Hingebung für das Gemeinwesen gedeihen“.6 Der Wahlspruch beruht trotz der lateinischen Sprache auf keiner antiken Vorlage; mit einiger Mühe kann eine inhaltliche Verbindung zur Verteidigungsrede Ciceros für den Dichter Archias: ‚Pro Archia poeta‘ (62 v. Chr.), gezogen werden.7 Ähnliche Formulierungen, meist unter Hinzufügung von ‚Amico‘ oder ‚Deo‘ und in unterschiedlicher Reihenfolge, waren im 19. Jahrhundert und sind zum Teil bis heute bei studentischen Verbindungen oder Schulbauten von Gymnasien beliebt; selbst in Australien findet sich beim Scotch College in Melbourne das Motto: ‚Deo, litteris, patriae‘. Der Wahlspruch der Universität Straßburg war im Übrigen nicht unbestritten; vor allem die Reihenfolge von LITTERIS ET PATRIAE störte Personen wie Reichskanzler Otto von Bismarck, der anlässlich der Einweihung seine Präferenz für ‚Patriae et Litteris‘ äußerte, um den Vorrang des Vaterländischen vor der freien Wissenschaft auch dem akademischen Publikum deutlich zu machen; ihn störte auch der Baustil der Universitätsneubauten, den er sich lieber germanisch-mittelalterlich als im ‚welschem Renaissancestil‘ gewünscht hätte. Anders als im Fall der Universität Heidelberg, die anlässlich ihrer 550-JahrFeier im Juni 1936 die Inschrift ‚Dem lebendigen Geist‘ durch den des ‚deutschen Geistes‘ und Pallas Athene durch den Reichsadler ersetzte, blieb LITTERIS ET PATRIAE dagegen auch in der nationalsozialistischen Besatzungszeit als Wahlspruch erhalten.
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113, 104f. Verleihungsurkunde vom 9.5.1884, abgedruckt in: Festschrift zur Einweihung der Neubauten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg 1884, Straßburg 1884, S. 21f. Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen 1872, 165. Für die Auskunft und den Hinweis auf Cicero bin ich Herrn Dr. Peter Riemer zu Dank verpflichtet.
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Diese erstaunliche Kontinuität des Wahlspruchs inmitten sich wandelnder Strukturen und überstürzender Ereignisse, ungeachtet politischer, gesellschaftlicher und kultureller Zäsuren, gilt es hier näher zu untersuchen. LITTERIS ET PATRIAE stellt einen ‚historischen Ort‘ der deutsch-französischen Geschichte, des elsässischen Grenzlandschicksals dar. In ihm bündelt sich aber auch ein grundsätzliches Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis: die Frage der Wertgebundenheit von Forschung und Lehre. Im Folgenden soll daher am Beispiel der beiden deutschen Universitäten in Straßburg das Spannungsverhältnis zwischen LITTERIS und PATRIAE, zwischen ‚der Wissenschaft‘ und ‚dem Vaterland‘ untersucht werden. Die durchgeführte Methode des Vergleichs ist angesichts der frappierenden Ähnlichkeiten beider historischen Phänomene ohne Weiteres erlaubt und sinnvoll, um, wie es der Straßburger Historiker Marc Bloch bereits in den 1920er Jahren erklärte, „présenter entre eux certaines analogies, décrire les courbes de leurs évolutions, constater les ressemblances et les différences et, dans la mesure du possible, expliquer les unes et les autres”.8 I. LITTERIS „Niemand soll ihr das Ziel vorschreiben. Niemand kann vorherbestimmen, wohin sie ihr vielfach verschlungener Weg führen wird. Sie darf es nicht von sich weisen, Zweifel zu erregen, Überlieferungen zu erschüttern, die liebsten Überzeugungen, wenn sie als Wahn sich darstellen, zu brechen, den teuersten Empfindungen nahe zu treten, wenn sie dem Irrtum Vorschub leisten. Wie könnte sie zur Wahrheit gelangen, wenn sie nicht das Recht hätte, alles zu prüfen, nichts zu schonen, alles zu wagen, nichts mit furchtsamer Scheu beiseite zu lassen?“9 – diese Hymne auf die Freiheit der Wissenschaft stand im Mittelpunkt der Festrede des Kunsthistorikers Anton Springer bei der feierlichen Eröffnung der deutschen Universität Straßburg im zeltstoffüberspannten Innenhof des Palais Rohan am 1. Mai 1872, dem Jahrestag der Gründung der alten Straßburger Universität, der Akademie des Johannes Sturm im Jahr 1567. Der Festredner erwähnte dabei nicht die geltenden politisch-rechtlichen Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, wie sie zum Beispiel im preußischen Beamteneid, der vor allem einen Treueid auf den preußischen König darstellte, festgelegt waren. Die Erwähnung war aus seiner Sicht sicherlich überflüssig, denn diese Grenzen wurden von den deutschen Professoren seinerzeit nicht (mehr) wahrgenommen, auch wenn sie – wie es Friedrich Meinecke rückblickend beschreibt – ihre „unbedingte monarchische Gesinnung mit einem trotzigen Unabhängigkeitsgefühl“10 verbanden. Kam es trotzdem einmal zu einem politisch8
Bloch, Marc, Pour une histoire comparée des sociétés européennes (1928), in: Ders., Mélanges historiques/hrsg. von Charles-Edmond Perrin, Paris 1963, Bd. 1, S. 16–40, 17. 9 Springer, Anton, Festrede, in: Alte Strassburger Universitätsreden zur Erinnerung an die am 1. Mai 1872 gegründete Kaiser Wilhelms Universität Strassburg, hrsg. vom Vorstand der losen Vereinigung ehem. Strassburger Dozenten und Studenten, Frankfurt/Main 1932, S. 15– 24, 20. 10 Meinecke, Friedrich, Autobiographische Schriften (= Werke Bd. 8), hrsg. von Eberhard Kessel, Stuttgart 1969, S. 148.
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anstößigen Verhalten wie im Fall des Ökonomen Werner Wittich, der 1901 für eine elsässische ‚Doppelkultur‘ zwischen Deutschland und Frankreich plädierte, stellte sich der Dozent dadurch selbst ins kollegiale Abseits und war schutzlos den Disziplinarmaßnahmen der staatlichen Obrigkeit ausgeliefert. Das ursprüngliche Gründungskonzept des von Bismarck beauftragten Freiherrn Franz von Roggenbach, einst badischer Ministerpräsident und liberaler Politiker, war aufgrund der knappen Finanzen erheblich eingeschränkt worden. Trotzdem stellte die kaiserliche Universität eine moderne Reformuniversität dar, die sehr rasch eine große Ausstrahlungskraft auf die deutsche Hochschullandschaft gewann. Die Neuerungen reichten vom Verzicht auf Talare, Ablehnung von Geheimratstiteln, Aufhebung der universitären Strafgerichtsbarkeit, über eine Auflockerung der universitären Hierarchie durch die Schaffung des ‚Plenums‘ als Versammlung aller Professoren, der Verbesserung der Stellung der Privatdozenten, bis hin zur Aufwertung der Sozial- und Staatswissenschaften, der Einrichtung neuer Lehrstühle für moderne Einzelfächer wie ‚Deutsche Literaturgeschichte‘ und der Herauslösung der mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächer aus der Philosophischen Fakultät. Roggenbach war es gelungen, eine sehr homogene Gruppe von jüngeren Gelehrten nach Straßburg zu berufen, eine „jugendlich leistungsfähige, zukunfts- und gestaltungsfreudige Professorenschaft, gehoben und zusammengeschlossen durch das Bewußtsein einer hohen nationalen Aufgabe“.11 Vor allem aber gewann Straßburg den Ruf einer ‚Arbeitsuniversität‘, in der Seminare, Labore und Institute ebenbürtig neben die bisher dominierende Lehrform der Vorlesung traten. Der Nationalökonom Gustav Schmoller erinnerte sich anlässlich des 25–jährigen Universitätsjubiläums: „Nüchterner, kritischer, vielleicht weniger liebenswürdig, aber tiefer bohrend, weniger ästhetisch empfindend, weniger literarisch geschult, aber mit mehr Energie der Wahrheit ins Antlitz schauend, so trat eine jüngere Gelehrtengeneration auf. Ein Hunger nach Tatsachen, nach Wirklichkeit war entstanden, die empirische Beobachtung und Forschung wurde überall nötig. Der Realismus verlangte sein Recht gegenüber den Übeln eines absterbenden Idealismus [...] Mochte man einseitig sein, mochten wir keine Juristen, Historiker, Mediziner mehr haben, die zugleich als große parlamentarische Redner glänzen wollten und konnten: im Hörsaal, im Seminar, im Laboratorium und Institut stellten wir unsern Mann“.12 Der Erfolg blieb nicht aus, und die Kaiser-Wilhelms-Universität, wie sie sich seit dem Kaiserbesuch am Stiftungstag im Mai 1877 nannte, zählte stolz bis Ende des 19. Jahrhunderts 88 Professoren, die aus Straßburg wegberufen worden waren. Diese Zahl bedeutete für die Universität allerdings auch einen schmerzlichen Verlust und war Zeichen für eine seit Mitte der 1880er Jahre fortschreitende ‚Degradierung‘ zu einer normalen Landesuniversität mit begrenzten Finanzmitteln. Bis heute ist umstritten, ob es in der NS-Zeit überhaupt die Möglichkeit zum ‚echten‘ wissenschaftlichen Arbeiten gegeben hat. Der bedeutende personelle Aderlass durch politisch- und rassisch-begründete Entlassungen, die Emigration 11 Anrich, Gustav, Ehemalige Kaiser-Wilhelms-Universität, S. 378. 12 Schmoller, Gustav, Von der Straßburger Jubelfeier (1897), in: Ders., Zwanzig Jahre Deutscher Politik (1897–1917). Aufsätze und Vorträge, München 1920, S. 203–206, 204f.
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bedeutender Forscher, der politische Druck vonseiten des Staates und der außernormativen Gewalten scheinen die notwendige Freiheit der Forschung und Lehre erstickt zu haben. An der Reichsuniversität Straßburg, einer selbst ernannten nationalsozialistischen ‚Musteruniversität‘, waren neben Außenseitern wie dem Religionswissenschaftler und Volkskundler Otto Huth, Mitarbeiter des SS-Ahnenerbes, auch prominente Wissenschaftler wie der Jurist Ernst Rudolf Huber vertreten, der 1953 vom Bundesverfassungsgericht namentlich als „einer der führenden Verfassungstheoretiker der nationalsozialistischer Zeit“13 erwähnt wurde, oder als jüngstes Mitglied der Professorenschaft der Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker, der als Mitglied des Heisenberg’schen ‚Uranvereins‘ an ‚Hitlers Atombombe‘ forschte. Berühmt-berüchtigt wurde die Reichsuniversität Straßburg nach 1945 jedoch durch einige ihrer Mediziner: Neben dem Anatom August Hirt benutzten der Internist Otto Bickenbach und der Bakteriologe Eugen Haagen die Forschungsmöglichkeiten des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, in dem sie Menschenexperimente an Häftlingen im benachbarten Konzentrationslager Struthof-Natzweiler vornahmen und gewissenlos die Grenze hin zum Verbrechen übertraten. II. PATRIAE „Dem Wahlspruch Literis [sic!] et Patriae fehlte bei aller Höhe der Gesinnung die unmittelbare Einheit und ausgesprochene Deutschheit, was Bismarck empfand, als er meinte, Patriae et Literis sei ihm lieber gewesen“ – der Neuzeithistoriker Ernst Anrich, Sohn des Straßburger Theologen Gustav Anrich, nutzte nach dem siegreich beendeten Frankreichfeldzug im Juni 1940 die Chance, seine bereits seit längerem ausgearbeiteten Universitätsreformpläne in seiner Geburtsstadt mithilfe des Gauleiters Robert Wagner und dessen Elsass-Referenten Robert Ernst zu verwirklichen. Die neue Straßburger Universität sollte eine politische Universität sein, der nationalsozialistischen Volkstumspolitik dienen und zugleich als ‚Musteruniversität‘ die allgemeine, bislang ausgebliebene nationalsozialistische Hochschulreform vorantreiben. Im Gegensatz zur kaiserlichen Universität sollten die Gelehrten nicht mehr „jene abstrakte und selbstversponnene Wissenschaft [betreiben], die neben der Politik stand“, sondern dafür sorgen, dass „die deutsche Universität wieder zu einer der Stellen unmittelbar politischer, d.h. der Gestaltung dienender Tätigkeit“ werde. Voller Zuversicht blickte Anrich auf die kommenden Erfolge der nationalsozialistischen Besatzungspolitik: „Aus einer diesmal siegreichen gewaltigen inneren Revolution hat das deutsche Volk die Kraft gewonnen, endlich das deutsche Elsaß dem deutschen Reich wieder hinzuzufügen“. Ihm schwebte eine SS-nahe ‚Führeruniversität‘ mit völkisch-politischer Ausrichtung vor, deren Ausstrahlungskraft „in dieser Westecke des Reiches“ sowohl in das Elsass wie über die Grenzen hinweg in das westliche Europa reichen sollte, zusammengefasst in der Parole: „Die Entthronung der Sorbonne!“.14
13 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 3,58, vom 17.12.1953, hier S. 92.
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Dabei spielte die bloße Partei-Zugehörigkeit für eine Berufung nach Straßburg nicht die entscheidende Rolle – Ernst Anrich selbst war bereits im Mai 1931 wegen Querelen mit dem NS-Reichsstudentenführer Baldur von Schirach aus der NSDAP ausgeschlossen worden, und die Lehrstühle für Physik wurden ausgewiesenen Gegnern der ‚Deutschen Physik‘ zugesprochen. Stattdessen spielte neben dem wissenschaftlichen Renommee vor allem die Persönlichkeit, der Wille zur Einordnung in den Straßburger ,Gefolgsschaftskörper‘, eine ausschlaggebende Rolle. Auch die Reichsuniversität Straßburg war durch einen homogenen, jüngeren Lehrkörper gekennzeichnet, die große Mehrheit ihrer Mitglieder waren Angehörige der ,Kriegsjugendgeneration‘. Mit ihnen sollte die alte ,Universitas‘ der deutschen Universität wieder hergestellt werden: Großseminare statt zergliedernder Einzelforschungen, Gefolgschaftsabende statt Cliquenbildung oder Vereinzelung. Alljährliche Dozentenlager des gesamten Lehrkörpers sollten die organische Geschlossenheit der Universität und ihre gemeinsame Ausrichtung auf die ‚Volksgemeinschaft‘ hin gewährleisten. Die Universität öffnete sich gegenüber dem Lande, Hochschulkurse luden die elsässische Öffentlichkeit in die Universität ein. Gegenüber den nach Clermont-Ferrand evakuierten ‚Kollegen‘ der französischen ‚Université Strasbourg‘ wurde dagegen ein harter Abgrenzungskurs gefahren: Die Universitätsleitung forderte das evakuierte Material, Bücher und Ausstattung der Straßburger Universität zurück, als ‚deutsch‘ bezeichnete Studenten wurden zur Heimkehr ins Elsass aufgefordert. Die Ende 1943 erfolgte Schließung der Universität in Clermont-Ferrand wurde stillschweigend begrüßt, das Schicksal der bei der Razzia und später ermordeten beziehungsweise in die Konzentrationslager verbrachten Professoren und Studenten ignoriert. Auch in der Reichslandzeit war die Kultur dem siegreichen Waffengang im Krieg gefolgt, um die politische Aufgabe der Germanisierung zu vollenden. Am Kollegiengebäude war dies symbolisch dargestellt: Zwei Frauengestalten an der Mittelbaufassade stellten links die Argentina als Verkörperin Straßburgs, rechts die Germania dar, der „geschäftige Knaben die Waffen bei Seite [legen] und sich wieder den friedlichen Studien zu[wenden]“.15 Schmoller erinnerte 1897 an das Beispiel der Bonner Universität, die seit ihrer Gründung im Jahr 1818 „in der halb französisierten rheinischen Pfaffengasse des heiligen römischen Reichs, welche auch nach 1815 für Jahrzehnte der Ausgangspunkt alles Antipreußischen blieb“, alles unternommen habe, um – letztlich erfolgreich – „preußisch-deutsche Gesinnung zu pflanzen“.16 Es war diese Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität gewesen, die in ihrer Glückwunschadresse ‚zum Wiegenfeste‘ 1872 die Straßburger Universität dazu aufgefordert hatte, „das angestammte deutsche Wesen mit frischem Athemzuge zu durchdringen und die während langer Trennung uns ent14 Anrich, Ernst, Geschichte der deutschen Universität Straßburg, in: Festschrift aus Anlaß der feierlichen Wiederaufnahme der Lehr- und Forschungstätigkeit an der Reichsuniversität Straßburg, Straßburg 1941, S. 7–148, 131 u. 142, und Ernst Anrich an Robert Ernst, 23.5.1941; NL Anrich. 15 Michaelis, Adolf, Das Allgemeine Kollegiengebäude, S. 105. Beide Frauengestalten sind heute nicht mehr vorhanden. 16 Schmoller, Gustav, Die Bedeutung der Straßburger Universität (1897), in: Ders., Zwanzig Jahre Deutscher Politik (1920), S. 197–202, 198.
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fremdeten Gemüther durch geistige Zucht und wissenschaftliche Pflege wieder unser zu machen“.17 Die Straßburger Professoren nahmen ihre Aufgabe ernst und drängten bei der politischen Führung der Reichslande auf einen entschlossenen Germanisierungskurs. Die Politik des Statthalters Edwin Freiherr von Manteuffel, der sich den elsässisch-frankophilen Honoratioren und Adligen annäherte – die ihre Söhne entweder gleich nach Paris oder aber nach Nancy zum Studieren schickten -, wurde öffentlich scharf kritisiert, die Anwendung staatlicher Repressionsmittel wie die des ‚Diktaturparagraphs‘ dagegen befürwortet. Universitätsgründer Roggenbach hatte bereits vor der Eröffnung ‚seiner‘ Universität angesichts des nationalen Überschwangs in der deutschen Akademikerschaft den künftigen Erfolg bezweifelt: „Statt schlicht bei ihrem Berufe und ihrer ernsten pflichtmäßigen Arbeit zu bleiben, halten die meisten der Herren [sich für] berufen, in deutschem Chauvinismus Propaganda zu machen. Sie werden darin von dem gleichgerichteten Sinn der deutschen Jugend unterstützt und vorwärtsgetrieben, und scheinen vielfach ihre Zuversicht auf den Sieg der deutschen Sache im Elsaß mehr auf das Recht des Stärkeren als der stärkeren Kultur zu stellen […] Das ganz unfertige Werk der Universität dürfte unter diesen Verhältnissen nur allzu bald den Zänkereien und Maßlosigkeiten zum Opfer fallen, welche das Erbübel deutscher Gelehrten abgegeben haben, solange es davon gibt“.18 Tatsächlich war das Verhältnis der Kaiser-Wilhelms-Universität zum Elsass von Anfang an gespannt, und eine allmähliche Beruhigung der politischen Lage in den 1890er Jahren wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch die zunehmend aktiver werdenden frankophilen Kräfte um den Straßburger Mediziner Pierre Bucher wieder zunichtegemacht. Der Historiker Friedrich Meinecke gewann dieser angespannten Situation im Rückblick sogar etwas Positives ab: „Wir leben hier in einer Kolonie, hieß es unter uns Professoren. Wir fühlten uns wie auf einem alten vulkanischen Boden von herrlicher Fruchtbarkeit, der zuerst uns ganz ruhig geworden schien und nun schon in eine leise Unruhe wieder geriet. Das gab fast unbewusst unserem ganzen Dasein, Denken und Empfinden eine innere Spannung, die auch unserer wissenschaftlichen Arbeit, wie ich glaube, nicht übel ausschlug“.19 Meinecke selbst war im Zusammenhang mit der ‚Spahn-Affäre‘ 1901 nach Straßburg gekommen, die durch die staatlich verordnete, gegen den Willen der Fakultät erfolgende Berufung des jungen Historikers Martin Spahn, Sohn eines bekannten Zentrumspolitikers, ausgelöst worden war. Den Hintergrund bildete das Bemühen der Reichslandregierung, den katholisch gesinnten Teil der elsässischen Bevölkerung stärker an den deutschen Staat zu binden. Zu diesem Zweck sollte eine neue, Katholisch-Theologische Fakultät an der Straßburger Universität eingerichtet werden, wofür allerdings die Zustimmung des Vatikans erforderlich war. Ein geheimes Zusatzprotokoll sicherte der katholischen Seite als Vorleistung zwei konfessionell gebundene Lehrstühle für Geschichte und 17 Die Einweihung der Strassburger Universität am 1. Mai 1872. Officieller Festbericht. Strassburg 1872, S. 39f. 18 Franz von Roggenbach an Großherzog Friedrich von Baden, 3.5.1872, abgedruckt in: Schieder, Theodor, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. Köln 1961, S. 93f. 19 Meinecke, Friedrich, Autobiographische Schriften, S. 146.
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Philosophie zu. Dieses hochschulpolitische Geschäft des zuständigen preußischen Ministerialbeamten Friedrich Althoff, dessen ‚System‘ jahrzehntelang die preußische Universitätslandschaft prägte und der die Straßburger Universität vom Beginn seiner Karriere her kannte, erregte den Zorn des Altmeisters der deutschen Geschichtswissenschaft, Theodor Mommsen. In einem Zeitungsartikel rief er im November 1901 zum allgemeinen Protest gegen diesen Angriff auf die freie Wissenschaft auf: „Es geht durch die deutschen Universitätskreise das Gefühl der Degradierung. Unser Lebensnerv ist die voraussetzungslose Forschung, diejenige Forschung, die nicht das findet, was sie nach Zweckerwägungen und Rücksichtnahmen finden soll und finden möchte, was anderen außerhalb der Wissenschaft liegenden praktischen Zielen dient, sondern was logisch und historisch dem gewissenhaften Forscher als das Richtige erscheint, in ein Wort zusammengefaßt: die Wahrhaftigkeit.- […] Wer daran rührt, der führt die Axt gegen den mächtigen Baum, in dessen Schatten und Schutz wir leben, dessen Früchte die Welt erfreuen“. In dem darauf folgenden öffentlichen Meinungsstreit, der ganz Deutschland erregte, entgegnete der Philosoph Georg von Hertling, gleichzeitig Unterhändler Althoffs beim Vatikan, Mommsen mit dem Hinweis auf die grundsätzliche Wertgebundenheit jeder Art von geisteswissenschaftlicher Forschung und auf die jahrzehntelange Praxis konfessionsgebundener Lehrstühle an den Universitäten Bonn und Breslau. Auch sein Hinweis auf die Benachteiligung der katholischen Gelehrten im akademischen Leben konnte empirisch erhärtet werden: Unter den 111 Dozenten der weltlichen Straßburger Fakultäten befanden sich 15 Juden, elf Katholiken und zwei Konfessionslose. Mommsen wehrte sich zwar weiterhin gegen eine verordnete Konfessionsparität und sah bei künftigen Berufungen die Gefahr von „Mediokritätskreationen“. Sein ursprüngliches Postulat der Werturteilsfreiheit wurde von ihm aber in seinem zweiten Schreiben relativiert: „Die Voraussetzungslosigkeit aller wissenschaftlichen Forschung ist das ideale Ziel, dem jeder gewissenhafte Mann zustrebt, das aber keiner erreicht noch erreichen kann. Religiöse, politische, sociale Überzeugungen bringt ein jeder von Haus aus mit und gestaltet sie aus nach dem Maß seiner Arbeits- und Lebenserfahrungen“.20
Die Spahn-Affäre bildete das letzte Rückzugsgefecht der Auffassung einer völlig freien, voraussetzungslosen Wissenschaft. Einer der sehr wenigen Elsässer, denen in der Kaiserzeit eine Karriere im deutschen Universitätssystem gelang, der Jurist Robert Redslob, fasste das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Vaterland anhand eines Vergleichs zwischen seinem Lehrer Paul Laband und ihm selbst in folgende Formulierung: „Lui enseignait la monarchie, moi le gouvernement par le peuple; lui enseignait l’Allemagne et moi la France“.21
20 Abgedruckt in: Rossmann, Kurt, Wissenschaft, Ethik und Politik: Erörterung des Grundsatzes der Voraussetzungslosigkeit in der Forschung, Heidelberg 1949, S. 28ff. 21 Redslob, Robert, Alma Mater. Mes souvenirs des universités allemandes, Paris 1958, S. 132.
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III. LITTERIS ET PATRIAE „Sur le frontispice de l’édifice principal de leur université, les Allemands ont fait gravé l’inscription suivante: litteris et patriae […] Lettres et sciences n’étaient qu’un moyen; la patrie était le but. L’université allemande avait été établie, sur le sol de l’Alsace, comme un instrument de germanisation” – der elsässisch-französische Historiker Christian Pfister, Mitglied in beratenden Gremien zur künftigen Politik Frankreichs im zurückgewonnenen Elsass, plädierte für die Beibehaltung des Wahlspruchs auf dem Kollegiengebäude. Während die deutsche Universität zur ,wahren‘ Wissenschaft unfähig gewesen sei, bestünde für die französische Universität dieses Problem nicht: „Quand dans Strasbourg redevenue française sera établie la nouvelle Université dont nous venons de tracer le programme, nous reprendrons à notre compte la devise: litteris et patriae, en lui laissant sa haute signification. Les lettres et les sciences seront une fin en elles-mêmes; rien ne detournera ceux qui auront l’honneur d’enseigner à cette Université de proclamer toujours la vérité, et c’est ainsi qu’ils seront les véritables serviteurs de la patrie française”.22 Das Thema LITTERIS ET PATRIAE, das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Vaterland, könnte ebenso auch für die Geschichte der französischen Université Strasbourg nach dem Ersten Weltkrieg aufgezeichnet werden. Hier wurde wieder Wissenschaft betrieben, Namen wie der Soziologe Maurice Halbwachs, die Historiker Lucien Febvre und Marc Bloch, die Physiker Louis Néel und Pierre Weiss sprechen für sich. Andererseits zeigte bereits die großartige Eröffnungsfeier im Palais Universitaire am 22. November 1919, dem Jahrestag des Einmarsches der französischen Truppen, den politischen Charakter der Universität: Die Redner, an ihrer Spitze der Ministerpräsident Raymond Poincaré, betonten die besondere Rolle der Straßburger Universität für die französische ‚patrie‘: „L’Université de Strasbourg deviendra ainsi, à la frontière de l’Est, le phare intellectuel de la France, dressé sur la rive où vient expirer le flot germanique“. 23 Der neu ernannte Dekan der Philosophischen Fakultät, Pfister, empfand kein Mitleid mit den um die Jahreswende 1918/19 ausgewiesenen deutschen Professoren und erklärte sie für „indésirables“;24 unter ihnen der Historiker Harry Bresslau, der als einer der ganz wenigen aus der Professorenschaft familiäre Bindungen mit elsässischen Familien vorzuweisen hatte: Zwei seiner Kinder waren mit Elsässern verheiratet, die Tochter mit dem Theologen Albert Schweitzer. Die wenigen elsässischen Dozenten der Kaiser-Wilhelms-Universität, die im Elsass geblieben waren, wurden misstrauisch beäugt und konnten nur mühselig ihre Karriere fortsetzen. Dem Politiker und Schriftsteller Maurice Barrès wurde die Universität für eine Vortragsreihe zur Verfügung gestellt, in der er seine Theorie des ‚Génie du 22 Rapport sur l’université de Strasbourg/Christian Pfister/Ministère de la guerre. Service d’Alsace-Lorraine, Paris 1917, S. 95. Vielen Dank an Emilie Gasser für ihre freundliche Hilfe in der BNUS. 23 Université de Strasbourg. Fêtes d’inauguration 21, 22, 23 Novembre 1919/République Française, Strasbourg 1920, S. 32. 24 Pfister, Christian, La première année de la nouvelle université française de Strasbourg (1918– 1919), in: Revue internationale de l’enseignement 73 (1919), S. 313–355, 320.
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Rhin‘ darlegte. Vor allem in den ersten Nachkriegsjahren empfand sich die Université de Strasbourg als ‚garde du Rhin‘: Dozenten der Universität arbeiteten im politischen Auftrag für das ‚Centre d’études Germaniques’ der französischen Besatzungsmacht im Rheinland, für das ‚Comité alsacien d’études et d’information‘, oder warben im Elsass und im Ausland für die französische Kultur. Die erstarkende Autonomistenbewegung Mitte der 1920er Jahre führte zu einer wachsenden Entfremdung zwischen der Universität und dem Elsass und einem weitgehenden Rückzug der Dozenten aus dem politischen Geschäft. Später, nach 1933, wurde die Université Strasbourg eines der frühen Zentren der Faschismusbeobachtung und –analyse. Der bereits vor 1933 von den NS-Studenten aus Deutschland vertriebene Statistiker Emil J. Gumbel fand hier beispielsweise die Möglichkeit, sein ‚Sammelbuch aus der deutschen Emigration‘ zu veröffentlichen, das den programmatischen Titel ‚Freie Wissenschaft‘ trägt. Als wenige Jahre später das Dritte Reich Frankreich eroberte und das Elsass germanisierte, zahlten Marc Bloch und andere den Einsatz für ihre Ideale, ihr ‚patrie‘ mit dem Tod. LITTERIS ET PATRIAE bedeutet daher dreierlei: Erstens: An beiden deutschen Universitäten in Straßburg wurde Wissenschaft betrieben, beides Mal unter ‚vaterländischen‘ Voraussetzungen und mit dem Ziel einer erfolgreichen Germanisierungspolitik. Weder ist die KaiserWilhelms-Universität als unpolitisch noch die Reichsuniversität Straßburg als unwissenschaftlich einzuschätzen. Während aber die Mehrheit der Gelehrten im Kaiserreich sich zunächst der Wissenschaft verpflichtet fühlten, waren die Professoren der NS-Zeit zumindest in den Anfangsjahren mehrheitlich stark politisiert. Zweitens: Beide deutschen Universitäten in Straßburg unterscheiden sich vor allem durch die historischen Rahmenbedingungen, in denen wissenschaftlich gearbeitet wurde. Die nationalsozialistische Germanisierungspolitik war von ganz anderer, menschenverachtender Qualität als die der Reichslandzeit. Die Handlungsspielräume gewissenloser Forscher wurden durch die Politik entgrenzt. Drittens: LITTERIS ET PATRIAE, die Wissenschaft und die ihr zugrunde liegenden Werturteile der die Wissenschaft betreibenden Menschen sind untrennbar miteinander verbunden. Es gilt daher, sich immer wieder an die Ermahnung Max Webers zu erinnern, „jederzeit deutlich zu machen, daß und wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen, wo die Argumente sich an den Verstand und wo sie sich an das Gefühl wenden“. Max Weber schloss seinen Vortrag ‚Wissenschaft als Beruf‘ im
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Jahr 1917 mit der Aufforderung an die Hörer, der ‚Forderung des Tages‘ gerecht zu werden – „menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält“.25 Dr. Rainer Möhler, Historiker, Historisches Institut, Universität Saarlandes
LITTERIS ET PATRIAE – aktuelle Ansicht (Foto im Privatbesitz)
Das Kollegiengebäude in der Reichslandszeit (aus: Das Reichsland Elsaß-Lothringen 1871–1918/hrsg. von Max Schlenker. Bd. 3. Frankfurt/Main 1938)
25 Weber, Max, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), und Wissenschaft als Beruf (1917), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 146–214, 157 und S. 582–613, 613.
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Stadtplan Straßburg, ca. 1941: Die Sichtachse vom Kollegiengebäude zum Kaiserpalast (Karte im Privatbesitz)
Beflaggung des Kollegiengebäudes anlässlich der Eröffnungsfeierlichkeiten am 23. November 1941 (Foto im Privatbesitz)
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FRITZ KIENERS GESCHICHTE DER STADT STRASSBURG ALS INTERNATIONALES KOOPERATIONSPROJEKT EIN BEISPIEL FÜR FRANZÖSISCH-DEUTSCHE WISSENSCHAFTSBEZIEHUNGEN IN DEN 1930-ER JAHREN
(WOLFGANG FREUND)
Anfang 1933 entschloss sich der Leiter des Institut d’Histoire d’Alsace der Université de Strasbourg1, Fritz Kiener, ein historiografisches Großprojekt, ein neues Sammelwerk zur Geschichte der Stadt Straßburg, in Angriff zu nehmen. Geschichten der Stadt Straßburg oder Konzepte hierzu hatte es schon einige gegeben. 1909 veröffentlichte Emil von Borries eine Stadtgeschichte.2 Darauf entwickelte Stadtarchivdirektor Otto Winckelmann den Plan zu einer mehrbändigen Aufsatzsammlung; die Stadtverwaltung ließ diesen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs jedoch fallen.3 Schließlich nahm sich 1922 der Altmeister der elsässischen Regionalgeschichte Rodolphe Reuss des Themas an.4 Neu an Kieners Projekt war hingegen, dass er in einer internationalen Kollaboration Forscher aus dem Elsass, dem übrigen Frankreich, aus Deutschland und anderen Ländern zusammenbringen wollte, um sowohl der deutschen, wie der französischen Geschichte von Straßburg gerecht zu werden und das Publikum beider Länder anzusprechen. Auf Grund dieses multiperspektivischen Ansatzes sollte das Sammelwerk gleichzeitig in einer deutschen wie französischen Ausgabe erscheinen5. Die Aufsatzsammlung wollte nicht nur politische Geschichte beschreiben, sondern vor allem die „soziale und wirtschaftliche Struktur auf der breiten Unterlage des Volkstums“, der geographischen Bedingungen und der allgemeinen Verhältnisse herausstellen.6 1874 geboren war Fritz Kiener im Bildungssystem des deutschen Kaiserreiches aufgewachsen. Er sprach perfekt Deutsch und Französisch und war in beiden Kulturen zu Hause.7 Kiener studierte Geschichte an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg, in Leipzig und Berlin und übernahm Anfang des 20. Jahrhunderts 1 2 3
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Igersheim, François, „De la chaire d’histoire de l’Alsace à l’Institut des Hautes Études alsaciennes (1919–1945)“, Terres d’Alsace, chemins de l’Europe: Mélanges offerts à Bernard Vogler, ders., Dominique Dinet (Hrsg.), Strasbourg 2003, S. 233–269. von Borries, Emil, Geschichte der Stadt Strassburg, Straßburg 1909; vgl. Igersheim, François, L’Alsace et ses historiens 1680–1914: La fabrique des monuments, Strasbourg 2006, S. 394. Archives municipales de Strasbourg (AMS), 5MW 291: Protokoll über die Sitzung der SubKommission für das Studium der Beteiligung der Stadt an der Herausgabe einer neuen Geschichte der Stadt Strassburg v. 19.1.1934, S. 1–2; Badisches Generallandesarchiv (GLA), 449/666: Stenzel an CdZ im Elsass – Abt. Erziehung v. 21.4.1942. Reuss, Rodolphe, Histoire de Strasbourg depuis ses origines jusqu’à nos jours, Paris 1922. AMS, 64Z 9: Kiener, „L’Histoire de Strasbourg telle que nous la concevons“, ca. Mitte 1938, S. 1; AMS, 5MW 291: Protokoll … v. 19.1.1934, S. 2; GLA, 449/666: [Friedrich Metz] Rektor Univ. Freiburg an RMWEuV v. 29.4.1938; Stenzel an CdZ im Elsaß v. 21.4.1942; Hausmann (Oberstadtkommissar Straßburg) an Stenzel (GLA) v. 7.5.1942, S. 1. AMS, 5MW 291: Protokoll … v. 19.1.1934, S. 1–2.
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Lehraufträge zur elsässischen Geschichte an der Straßburger Universität, wo er sich 1904 habilitierte. 1909 fiel sein in der Revue alsacienne illustrée/Illustrirten elsässischen Rundschau erschienener Artikel „Die elsässische Bourgeoisie“ auf, da er der in Deutschland verbreiteten Auffassung widersprach, das Elsass sei durch den französischen Zentralstaat romanisiert worden; Kiener hingegen hob hervor, dass das elsässische Stadtbürgertum schon immer republikanisch gesinnt und freiheitsliebend gewesen sei und daher Nutzen aus dem französischen Staat gezogen habe.8 Nach der Rückkehr des Elsass nach Frankreich blieb Kiener an der Straßburger Universität und folgte 1927 Christian Pfister auf den Lehrstuhl für elsässische Geschichte. Gleichzeitig lehrte er am von der französischen Militärbesatzung eingerichteten Centre d’Etudes Germaniques in Mainz (CEG).9 In den 1920-er Jahren wurde er ins Conseil général des Departement Bas-Rhin gewählt. 10 Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zog Kiener mit der Université de Strasbourg nach Clermont-Ferrand und kehrte nicht mehr aus der Evakuierung zurück. Die deutsch-französische Wissenschaftsverständigung gehörte ohne Zweifel zu Kieners Programm. Nach dem Jahrzehnt, da die Université de Strasbourg eine radikale Frontstellung gegen die deutsche Wissenschaft eingenommen hatte11 und die deutschen Hochschulen ebenso unversöhnlich gegenüber der im ehemaligen Reichsland Elsass-Lothringen installierten französischen Wissenschaft gewesen waren, wollte er an seine Kontakte zur deutschen Forschung wiederanknüpfen. Darüber hinaus erkannte er den beiderseitigen Nutzen aus dem grenzübergreifenden Austausch. Unter Umständen war die internationale Straßburg-Geschichte für Kiener nur ein erster Schritt in Richtung einer politischen Annäherung der beiden Staaten, wie sie auf der anderen Seite des Rheins Fritz Kern fast zur selben Zeit mit seinem „Handbuch der deutsch-französischen Beziehungen/Manuel des relations franco-allemandes“ anvisierte.12 Schließlich ist Kieners Wissenschaftsansatz bemerkenswert: Die bikulturelle Geschichte der Stadt Straßburg sollte durch eine bikulturelle Historikergruppe umfassend wiedergegeben werden.
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Perrin, Ch[arles]-Edmond, „Fritz Kiener (1874–1942)“, Mémorial des années 1939–1945, Paris 1947, S. 99–117, hier 103. 8 Kiener, Fritz, Die elsässische Bourgeoisie, 2. Aufl. Straßburg 1910, passim; Igersheim (Anm. 1), S. 461–463, 327. 9 Defrance, Corine, „Le Centre d’Études germaniques dans l’entre-deux-guerres“, Deutschfranzösische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert: Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, Ulrich Pfeil (Hrsg.), München 2007, S. 103–19, hier S. 107, 112. 10 Dollinger, Philippe, „Kiener, Fritz“, Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne, JeanPierre Kintz (Hrsg.), Strasbourg 1993, im Folgenden NDBA abgekürzt, S. 1955–56. 11 Vgl. Olivier-Utard, Françoise, „Propagande et information: Le cas des universitaires strasbourgeois dans l’entre-deux-guerres“, Science des médias: Jalons pour une histoire politique, Didier Georgakakis, Jean-Michel Utard (Hrsg.), Paris 2001, S. 61–75, hier S. 61–63. 12 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R70559,f. H025055: Kern an Kühn v. 1.6.1933;f. H025025–27: [Kern] Planskizze VII: Handbuch der deutsch-französischen Beziehungen/Manuel des relations franco-allemandes [ca. 1932];f. H025031–33: Dt. Botschaft Paris an [Min.Dir.] Köpke (AA) v. 18.5.1932.
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Kieners Entwurf, der sich zwischen 1933 und 1938 konkretisierte,13 teilte die Straßburg-Geschichte in sechs Abschnitte auf. Im ersten allgemeinen Teil sollte Henri Lichtenberger, gebürtiger Elsässer und herausragender Professor für deutsche Literatur an der Sorbonne,14 die Einleitung verfassen. Henri Baulig, Geograph an der Université de Strasbourg und wie Kiener Lehrer am dortigen CEG,15 sollte dem Leser eine geographische Grundlage vermitteln. Für die Vorgeschichte war der namhafte elsässische Archäologe und Konservator des Musée archéologique in Straßburg Robert Forrer16 vorgesehen. In die römische Epoche einführen sollte der ebenso renommierte Straßburger Historiker zur keltischen und römischen Antike Albert Grenier, der ebenfalls schon seit den Mainzer Jahren am CEG gelehrt hatte.17 Im zweiten Abschnitt wollte Kiener selbst die politische Geschichte Straßburgs vorstellen. Nur wenige Kapitel dieses Teil waren anderen Forschern zugedacht: Der Jurist und Historiker Jacques Hatt aus Paris18 sollte die soziale Struktur der Ammeisterfamilien dokumentieren. Ernest Champeaux aus Straßburg, der 1933 noch für die Rechtsgeschichte vorgesehen war, wurde bis 1938 durch den Vorsitzenden der Juristenvereinigung Elsass-Lothringens Fritz Pfersdorff ersetzt, der in den ersten Nachkriegsmonaten kommissarischer Bürgermeister Straßburgs gewesen war.19 Charles Wittmer vom Stadtarchiv in Straßburg20 sollte die Straßburger Kanzlei und die Schrift- und Stempelkunde beschreiben. Der dritte Abschnitt zur Wirtschaftsgeschichte und Bevölkerungsentwicklung war chronologisch aufgeteilt worden: Das Mittelalter war einem im höchsten Maße germanophilen21 Schweizer zugedacht, dem Staatsarchivar von Aarau Hektor Ammann, einem der führenden Mitarbeiter der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG).22 Ursprünglich wollte Kiener auch die Wirtschaftsgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts an das Umfeld der WFG vergeben, an den Leiter des 13 GLA, 449/666: Hausmann (Oberstadtkommissar) an Stenzel (GLA) v. 7.5.1942 u. v. 19.4.1943: Mitarbeiterpläne Kieners von 1933 und vom Juni 1938; AMS, 64Z 9: Kiener, „L’Histoire de Strasbourg telle que nous la concevons“, ca. Mitte 1938, S. 4–5. 14 Rieger, Théodore, „Lichtenberger, Henri“, NDBA (1992), S. 2358. 15 Defrance (Anm. 9), S. 112. 16 Schnitzler, Bernadette, La passion de l’antiquité: Six siècles de recherches archéologiques en Alsace, Recherches et documents, tome 60, Strasbourg 1998, S. 171–209; von Roten, Hortensia, „Forrer, Robert“, Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D44836.php (7.12.2007). 17 Defrance, Corine, „Le Centre d’études germaniques: Mayence, Strasbourg, Clermont-Ferrand, 1921–1939“, Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande, 29 (1997), 113–132. 18 Archives biographiques françaises, sér. 2, London 1996, im Folgenden ABF II abgekürzt, Fiche 332, S. 413–414. 19 Strauss, Léon, Wolff, Christian, „Pfersdorff, Charles Philippe Frédéric (Fritz)“, NDBA (1997), S. 2989. 20 Sittler, Lucien†, Foessel, Georges , „Wittmer, Charles Jean“, NDBA (2000), S. 4279–4280. 21 Wohler, Anton, „Ammann, Hektor“, Historisches Lexikon der Schweiz (HLS)/Dictionnaire historique de la Suisse (DHS)/Dizionario storico della Svizzera (DSS), Chefred. Marco Jorio Basel 2002), 1: 300; Steinacher, Hans, „Der Schweizer H. Ammann wird zum Empfang bei Hitler vorgeschlagen“, Hans Steinacher: Bundesleiter des VDA 1933–1937: Erinnerungen und Dokumente, Hans-Adolf Jacobsen(Hrsg.), Boppard/Rh. 1970, S. 281–282. 22 AMS, 64Z 9: Briefwechsel zwischen Ammann und Kiener.
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Alemannischen Instituts der Stadt Freiburg im Breisgau Theodor Mayer oder an den Stuttgarter Stadtarchivdirektor Karl Stenzel,23 doch 1938 war für diese Aufgabe Henri Hauser von der Sorbonne eingesetzt. Eventuell ist diese Auswechslung auf Kieners wachsende Vorbehalte gegen den Einfluss der WFG auf die elsässische Heimatforschung zurückzuführen.24 Zur Darstellung der Zeit ab Ende des 17. bis ins 19. Jahrhundert wurde Félix Ponteil aus Paris, später Straßburg, angesprochen. Für die Wirtschaftsgeschichte in der Reichslandzeit und nach dem Ersten Weltkrieg stand nie ein Vertreter der geschätzten deutschen Wirtschaftsgeschichte, sondern der Geograph Albert Demangeon25 und der Rechts- und Wirtschaftsprofessor William Oualid,26 beide aus Paris, zur Diskussion; 1938 blieb einzig Oualid übrig. Im vierten Teil sollte die Religionsgeschichte veranschaulicht werden. Für die Geschichte der katholischen Kirche stand der Straßburger Priester und Historiker Lucien Pfleger, mit über 900 Titeln der fruchtbarste Autor zur Geschichte des elsässischen Katholizismus,27 bereit. Den Protestantismus bis 1681 beschrieb Kieners guter Bekannter, der Reformations-, Luther- und Zwinglihistoriker Walther Köhler aus Heidelberg.28 Der für das Anschlusskapitel bis zur Französischen Revolution vorgesehene Pfarrer Johannes Adam aus Dorlisheim, Verfasser einer evangelischen Kirchengeschichte von Straßburg, starb 1936;29 sein Part wurde von Pfarrer Henri Strohl aus Straßburg, einem ausgesprochenen Gegner des elsässischen Autonomismus,30 übernommen. Für das 19. und 20. Jahrhundert fand sich schließlich Pastor Robert Will, der nach dem Krieg die protestantische theologi-
23 Bosl, Karl, „Mayer, Theodor,“ Neue Deutsche Biographie, hrsg. im Auftr. d. Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften v. Hans Günter Hockerts, Hauptschriftltr. Karl Otmar v[on] Aretin, Berlin 1990, im Folgenden NDB abgekürzt, 16: 554–56; Krimm, Konrad, „Karl Stenzel und die ‚oberrheinischen Staatsarchive‘: Deutsche Archivpolitik im Elsass 1940–1944“, Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus: 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart, Robert Kretzschmar (Hrsg.), Essen 2007), S. 195–207; Mariotte, Jean-Yves, Wolff, Christian, „Stenzel, Karl Leopold Otto“, NDBA (2000), S. 3759; vgl. Fahlbusch, Michael, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 350–400; Heinzel, Reto, „Theodor Mayer“, Handbuch der völkischen Wissenschaften: Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hrsg.), München 2008, im Erscheinen. 24 Staatsarchiv Basel-Stadt, Räte und Beamte U 17, 14: Kiener an Paul Roth v. 5.9.1937; PA 454a/16, 3: Paul Roth, Leiter des Staatsarchivs Basel, 1933–1956 [Erinnerungen], S. 44. 25 Schöttler, Peter, „Lucien Febvres Beitrag zur Entmythologisierung der rheinischen Geschichte“, Lucien Febvre, Der Rhein und seine Geschichte, Peter Schöttler (Hrsg.), Frankfurt/M., Paris 1994, S. 217–63. 26 ABF II, 496, 264–265. 27 Muller, Claude, „Pfleger, Lucien“, NDBA (1997), S. 2996. 28 Büsser, Fritz, „Köhler, Walter“, NDB, Hauptschriftltr. Fritz Wagner (1980), 12: 312; Deutsches biographisches Archiv: Neue Folge bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts München 1989, im Folgenden DBA II abgekürzt, Fiche 731, S. 164; AMS, 64Z 9: Briefwechsel zwischen Köhler und Kiener. 29 Krafft, Alfred, „Adam, Johannes“, NDB (1953), S. 52–53. 30 Arnold, Matthieu, „Strohl, Henri Adolphe“, NDBA (2000), S. 3810–3811.
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sche Fakultät der Université de Strasbourg aufgebaut hatte.31 Der Straßburger Rabbiner Moïse Ginsburger32 war für die Geschichte des Judentums vorgesehen. Sprach-, Literatur- und Bildungsgeschichte war das Thema des fünften Abschnitts. Anfangs sollte der Pariser Linguist Paul Levy die gesamte Literaturgeschichte Straßburgs darstellen. Schließlich wurde sie aufgeteilt in die Geschichte der französischen Literatur, die Fernand Baldensperger übernahm, der prominente Komparatist von der Sorbonne, der ab 1935 in Harvard lehrte.33 Die deutsche Literaturgeschichte war Josef Nadler, Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Wien, zugeteilt. Für die Geschichte des Straßburger Schulwesens fand Kiener erst Mitte der 1930-er Jahre Bearbeiter. Das Mittelalter ging an den Philosophieprofessor Ernst Hoffmann aus Heidelberg und die Frühe Neuzeit an den Freiburger Historiker Gerhard Ritter.34 Für die Zeit von der Französischen Revolution bis zur ersten Annexion des Elsass wurde der Straßburger Edouard Schneegans zuständig, der sich als außerordentlicher Professor in Heidelberg im Ersten Weltkrieg geweigert hatte in Deutschland zu lehren und jetzt den Lehrstuhl für französische Literatur des Mittelalters an der Université de Strasbourg inne hatte.35 Die Reichslandzeit und die jüngste Bildungsgeschichte bearbeitete Jean Strohl aus Zürich, obwohl Kiener schon Ritter die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Universität offeriert hatte. Die Geschichte der Volkssitten und -gebräuche wollte der elsässische Volkskundler Joseph Lefftz, Konservator an der Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg, übernehmen. Lefftz hatte sehr gute Beziehungen zur deutschen Elsassforschung, namentlich zum Wissenschaftlichen Institut der Elsass-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt a. M., dem so genannten Elsass-Lothringen Institut (ELI).36 Für die abschließende Kunst- und Architekturgeschichte Straßburgs standen bedeutende Kunsthistoriker zur Verfügung: aus Basel Hans Reinhardt,37 von der TH Stuttgart Otto Schmitt38 und der Museumdirektor von Straßburg Hans Haug.39 Die Geschichte der Buchdruckkunst war Abbé Joseph Walter, dem Stadtbibliothekar und -archivar von Schlettstadt und Präsidenten des Straßburger Münstervereins,40 und dem jungen Kunsthistoriker François-Georges Pariset aus Straßburg zugedacht, der einen Gutteil der ersten Hälfte der 1930-er Jahre am Institut Fran31 32 33 34 35 36
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Weirich, Robert, „Will, Robert“, NDBA (2002), S. 4244–4245. ABF II, 299, 385–386. Thomann, Marcel, „Baldensperger (pseud. Baldenne), Fernand“, NDBA (1982), S. 91–92. Cornelißen, Christoph, „Ritter, Gerhard Georg Bernhard“, NDB, Red. Franz Menges (2003), S. 658–660. Strauss, Léon, Wolff, Christian, „Schneegans, Frédéric Edouard“, NDBA (1999), S. 3499– 3500. ABF II, 404, 66; Archives de la Justice Militaire, Tribunale militaire de Metz v. 14.2.1947 (123/2566), 1,f. 1–2, 4, 6: [Christian Hallier] an Robert Ernst v. 12.12., an Frl. Ebert [Straßburg] v. 15. u. 16.12.1931; Karl Brill in Vertr. v. Ernst an Hallier v. 14.12.1931; vgl. Bundesarchiv – ehem. Berlin Document Center (BArch-BDC), PK, Lefftz, Josef, 14.4.1888. Fuchs, François-Joseph, „Reinhardt, Hans Eugen“, NDBA (1998), S. 3152–3153. DBA II, 1166, 260. Favière, Jean, „Haug, Hans“, NDBA (1987), S. 1441–1442. Meyer, Hubert, „Walter, Marie Georges Joseph“, NDBA (2002), S. 4084–4085.
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çais in Berlin verbracht hatte.41 Pariset allerdings bereitete Kiener gewisse Sorgen; wegen seiner freundschaftlichen Beziehungen zum Vater von François-Georges Pariset, dem Historiker Georges Pariset, einem Kollegen von der Université de Strasbourg und aus dem CEG,42 musste Kiener diesen akzeptieren, wollte ihm aber nicht die Geschichte der Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts, immerhin Parisets Domäne, überlassen.43 Die politischen Veränderungen im Deutschen Reich des Jahres 1933 haben Kieners Entscheidung beschleunigt. Er hatte Angst, dass sein Vorhaben nur noch wenig Zeit habe, denn er befürchtete eine unmittelbare Verschlechterung der deutsch-französischen Beziehungen; eine aggressivere deutsche Außenpolitik in Folge der Machtübernahme der Nationalsozialisten hätte sich negativ auf die wissenschaftliche Zusammenarbeit ausgewirkt. Schon im März 1933 machte sich Kiener auf die Reise, um in Deutschland, Frankreich und der Schweiz die in Frage kommenden Mitarbeiter aufzusuchen.44 Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass Kiener die Crème der historischen Wissenschaften Frankreichs und Deutschlands zu seiner Straßburg-Geschichte einlud. Wäre diesem Projekt Erfolg beschieden, hätte es gewiss große Rezeption und enthusiastische Aufnahme erfahren. Es wäre ein Standardwerk zur Geschichte Straßburgs geworden. Kieners französische Autoren waren zu einem gewissen Teil Dozenten am Centre d’Etudes Germaniques in Mainz und Straßburg; hier lehrten nun einmal viele französische Deutschlandexperten. Zwar war das CEG ebenso eine Einrichtung des Militärs und der Administration Frankreichs, um seine Kader über den früheren Feind Deutschland aufzuklären. Aber Kiener wollte sicher keine Deutschland gegenüber stark kritischen Franzosen rekrutieren, zumal er am Anfang auf ein ausgeglichenes deutsch-französisches Verhältnis achtete. Später wollte er gleichwohl auf einige seiner renommierten deutschen Mitarbeiter verzichten, nachdem er erkennen musste, dass seine wissenschaftliche Partner aus dem Deutschen Reich weiter gehende politische Ziele verfolgten. Aus Angst, revisionistischen deutschen Stimmen ein öffentliches Forum auf elsässischem Boden zu geben, trennte Kiener sich von ein paar deutschen Wissenschaftlern, namentlich von einigen Mitarbeiter der WFG. Ende 1933 trat Kiener mit der Bitte auf finanzielle Unterstützung seiner neuen Aufsatzsammlung an die Stadtverwaltung von Straßburg heran. Anfang 1934 besprach unter dem Vorsitz Alfred Koesslers der Gemeinderatsunterausschuss Kieners Anfrage.45 Gemeinderat Haug wendete sich gegen die große Zahl von Mitarbeitern, die keine geistige Verbindung mit Straßburg hätten, und plädierte für ein 41 Centre des Archives diplomatiques de Nantes, Institut Français de Berlin, 2/[3]: Pensionnaires de durée limitée de l’Institut français, promotion 1934–35, Akte Pariset, François G. 42 Igersheim (Anm. 1), S. 242; Defrance (Anm. 9), S. 107. 43 Bibliothèque du Grand Séminaire de Strasbourg (BGSS), 2228/50 N: Kiener an Walter v. 24.11.1934. 44 AMS, 5MW 291: Protokoll … v. 19.1.1934, S. 5; Kiener, Deklaration v. 7.11.1934; Kiener, Erklärung v. 27.7.1938; GLA, N Stenzel/10: C[hristian] Hallier (ELI) an Stenzel (GLA) v. 15.1.1937. 45 AMS, 5MW 291: [Mairie de Strasbourg] Bericht v. 7.12.1933; Protokoll … v. 19.1.1934, S. 1–2.
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Straßburger Periodikum als Konkurrenz zur deutschen Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. Der Sozialist und Professor an der protestantischen Lehrerbildungsanstalt Straßburgs Marcel Edmond Naegelen, Angehöriger der Stadtratsopposition gegen das regierende autonomistische Wahlbündnis,46 sprach sich gegen Kieners Absicht aus. Er hielt den aktuellen Zeitpunkt als „Epoche des Umschwunges und höchster politischer Aufregung“ für ungünstig, womit er ohne Zweifel die politische Situation im Deutschen Reich ansprach. Die Gemeinderatsmitglieder Karl Roos, Chef der autonomistischen Unabhängigen Landespartei, und Autonomistenanwalt Fritz Klein47 stellten sich vorbehaltlos hinter Kiener.48 Kiener erwiderte seinen Kritikern, dass das Werk sofort begonnen werden müsse, weil es später unmöglich werde. Koessler, selbst Unterstützer des elsässischen Autonomismus,49 betonte noch einmal die „ganze Sympathie“ der Stadt Straßburg für das Projekt und warnte vor deutschen Konkurrenzunternehmen: „Strassburg müsse seine Geschichte aufnotieren; wenn es dazu nicht bereit sei, so könne mit Bestimmtheit angenommen werden, dass andere Leute, z. B. das Frankfurter Institut sich der dankbaren Aufgabe widmen.“50 Aber die elsässischen Autonomisten wollten das ELI nicht anfeinden, verteidigte es doch das Deutschtum in Elsass-Lothringen wissenschaftlich. Vielmehr wurde das Schreckgespenst ELI hochgespielt, damit die autonomistischen Kreise den französischen Behörden Gelder für elsässische kulturelle Zwecke entlocken konnten.51 Schließlich fanden sich auch Naegelen und Haug bereit, Kiener ihre Unterstützung auszusprechen. Am 26. März 1934 schloss sich der Gemeinderat von Straßburg dem Votum seines Unterausschusses an und beauftragte Kiener offiziell mit der Herausgabe einer neuen „Histoire de la Ville de Strasbourg“.52 Im Frühjahr 1938 nahmen die deutschen staatlichen Stellen von Kieners Vorhaben Notiz, denn die ersten deutschen Professoren baten offiziell um die Genehmigung ihrer Mitarbeit. Köhler erhielt von Ministerialrat Eugen Fehrle, dem Hochschulreferenten im badischen Unterrichtsministerium,53 einen Unbedenklichkeitsbescheid und Reisegenehmigungen zur Fahrt nach Straßburg.54 Seitdem versuchten die deutschen Behörden, namentlich das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, in der Folge auch die beiden Reichsinstitute für ältere deutsche Geschichtskunde und für Geschichte des neuen Deutschlands55, ihre wissenschafts- und personalpolitischen Vorstellungen einzubringen. Dem 46 Strauss, Léon, „Naegelen, Marcel Edmond“, NDBA (1996), S. 2796–2798. 47 Strauss, Léon, „Roos, Philippe Charles, dit Karl“, NDBA (1998), S. 3280–3282; ders., „Klein, Jean Georges Frédéric“, NDBA (1992), S. 1990. 48 AMS, 5MW 291: Protokoll … v. 19.1.1934, S. 2–4. 49 Wolff, Christian, „Koessler, Alfred“, NDBA (1992), S. 2073. 50 AMS, 5MW 291: Protokoll … v. 19.1.1934, S. 5–6. 51 Genauso auch bei der Gründung des Centre de Recherche Historique Alsacienne 1936; BGSS, 6504/3c: Conseil général du Bas-Rhin, „Gründung einer besonderen Studienstelle für geschichtliche Nachforschungen die das Elsass betreffen“ v. 20.11.1936, S. 3 52 AMS, 5MW 291: Protokoll … v. 19.1.1934, S. 5–6.; Kiener, Deklaration v. 7.11.1934. 53 BArch-BDC, RS, Fehrle, Eugen, 7.8.1880. 54 GLA, 449/666: Köhler an [Metz] v. 25.6.1938. 55 GLA, 449/666: Kiener an Walter Frank v. 22.8.1938.
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Präsidenten des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, Edmund Ernst Stengel, erschien die in einer solchen internationalen Geschichte Straßburgs enthaltene Möglichkeit, durch „deutsche Forscher den deutschen Charakter dieser Stadt“ zu bekunden, so großartig, dass er in dieser Frage die Entscheidung des Reichsministeriums einholen wollte.56 Ebenfalls empfand es Köhler als wesentlich, „dass diese wichtigste Periode der Geschichte Straßburgs in deutschen Händen liegt, da Straßburg ja damals eine durch und durch deutsche Stadt war.“57 Ritter ließ über den Rektor seiner Universität Freiburg Friedrich Metz das Ministerium über Kieners Besuch und dessen Anliegen unterrichten. Dabei hob Metz den Wert der deutschen Mitarbeit an dieser Straßburg-Geschichte hervor: Ritter sei ein wichtiger Abschnitt über die Geschichte der Stadt Straßburg zugedacht; er solle das protestantische Straßburg und die Geistes-, Kirchen- und Schulgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts schildern. Ferner habe Kiener angedeutet, Ritter sogar die Bildungsgeschichte Straßburgs in der Reichslandzeit übertragen zu wollen. Metz bat das Reichswissenschaftsministerium Ritter die Zustimmung zu erteilen, damit nicht „wichtige Abschnitte dieses Buches in ganz falsche Hände kommen“ würden. Zwar habe die deutsche Seite keinen Einfluss auf die Ausgestaltung des Werkes: „man wird sich daher auch mit französischen und elsässischen Mitarbeitern abfinden müssen, die uns nicht besonders gefallen“. Doch arbeiteten an Kieners Projekt viele Männer mit, die von den deutschen Stellen hoch geschätzt würden und mit denen man schon in ergiebigem Austausch stehe.58 Um kein antideutsches Machwerk zu riskieren, nahm man die auswärtigen Mitarbeiter unter die Lupe. Kiener selbst „sei positiv zu beurteilen“; Stengel traute seinem Sammelband zu, die deutsche Kultur Straßburgs hervorzuheben.59 Das Reichswissenschaftsministerium erkundigte sich bei dem Historiker Günther Franz über Kiener: Nach dem Ersten Weltkrieg habe Kiener der französischen Herrschaft nicht ablehnend gegenübergestanden, sich aber bald bemüht, die Kontakte zur reichsdeutschen Forschung wiederzubeleben. Auch habe er sich heimatrechtlich betätigt und sei daher zeitweise polizeilich beobachtet worden. Kurzum: „Kiener gehört heute sicher zu dem nicht sehr grossen Kreis von Forschern der Vorkriegsgeneration im Elsaß, mit denen eine Zusammenarbeit vom Reich her geboten und erwünscht ist.“ Das Reichserziehungsministerium bescheinigte Ammann langjährige gute Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg bei der Erforschung des deutschen Volkstums und des Grenzlanddeutschtums; daher sei dieser scharfen Angriffen deutsch-feindlicher Kreise in der Schweiz ausgesetzt.60 Lefftz und Pfleger seien als Elsässer mit guter deutscher wissenschaftlicher Schulung bekannt.61 Lefftz wurde als „der führende Volkskundler des Elsaß“ gepriesen; wegen seiner autonomistischen Haltung sei er an der Universitätsbibliothek von 56 GLA, 449/666: Präsident des RIfädG [Stengel] an RMWEuV v. 30.5.1938 (alle Hervorhebungen im Original). 57 GLA, 449/666: Köhler an [Metz] v. 25.6.1938. 58 GLA, 449/666: [Metz] an RMWEuV v. 29.4.1938. 59 GLA, 449/666: [Stengel] an RMWEuV v. 30.5.1938. 60 GLA, 449/666: RMWEuV an [Stengel] v. 9.8.1938. 61 GLA, 449/666: [Stengel] an RMWEuV v. 30.5.1938.
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seinem Vorgesetzten gemaßregelt worden. Auch Pfleger, der eine Maß gebende Rolle in allen wissenschaftlichen Vereinigungen des Elsass spiele, trete für die kulturellen Forderungen der Autonomisten ein. Gegen Josef Nadler aus Wien wurden keine Bedenken geäußert.62 Andere französische Beiträger, wie Edouard Spenlé und Baldensperger, wurden kritischer betrachtet. Namentlich gegenüber Spenlé aus Dijon, dem Kiener die Geistes- und Bildungsgeschichte Straßburgs von 1789 bis 1871 angeboten habe,63 sei Vorsicht geboten,64 zweifellos weil das Reichserziehungsministerium ihm nicht das CEG verzieh, das Spenlé in den 1920er Jahren in Mainz aufgebaut und geleitet hatte.65 Aber auch die deutschen Mitarbeiter wurden vom Wissenschaftsministerium überprüft. Professor Ernst Hoffmann von der Universität Heidelberg wurde die Mitarbeit im Herbst 1937 aus rassistischen Motiven verweigert, weil eine jüdische Großmutter Hoffmanns entdeckt worden war.66 Stengel hieß den Ausschluss Hoffmanns gut: „Selbstverständlich ist ein Wissenschaftler mit jüdischer Blutbeimischung nicht geeignet, an dem genannten Werk mitzuarbeiten und so die deutsche Wissenschaft zu repräsentieren.“ Aber Kiener bringe der Verlust Hoffmanns gegenüber der Stadt Straßburg in Verlegenheit, denn er wolle nicht dem Stadtrat erklären, dass jetzt die deutsche Regierung die Mitarbeiter an der Straßburg-Geschichte aussuche. Stengel empfahl die Zensur der deutschen Beiträge durch deutsche Stellen, was aber der Stadt Straßburg erst recht nicht bekannt werden dürfe. Der Präsident des Reichsinstituts dachte sogar schon an den politischen Nutzen eines möglichen Misserfolges. Sollte das Unternehmen Kieners scheitern, müsse die Schuld dafür dem französischen Chauvinismus zugeschoben und die französischen Nationalisten angeklagt werden, eine unter der Leitung eines elsässischen Historikers von Fachvertretern verfasste Geschichte der Stadt Straßburg hintertrieben zu haben: „In diesem Falle wäre der Fehlschlag ein Aktivum für die Heimatrechtbewegung und gegebenenfalls auch für die deutsche Wissenschaft.“67 Das Publikationsprojekt zog sich in die Länge. Doch dafür konnte kaum die Politik verantwortlich gemacht werden. Wenn nach knapp fünf Jahren noch fast keine Beiträge eingegangen waren,68 so lag es vielmehr an der großen Gewissenhaftigkeit Kieners.69 Er nahm seine Arbeit übergenau und strapazierte seine Organisationskraft. Wiederholt änderte er Plan und Stoffaufteilung der Straßburg-Geschichte.70 Die Zuweisung von immer wieder neuen Themenbereichen verwirrte 62 GLA, 449/666: RMWEuV an [Stengel] v. 9.8.1938. 63 GLA, 449/666: [Stengel] an RMWEuV v. 30.5.1938; Ritter an Rektor Univ. Freiburg v. 4.6.1939. 64 GLA, 449/666: RMWEuV an [Stengel] v. 9.8.1938. 65 Defrance (Anm. 9), S. 105; Olivier-Utard, Françoise, „Spenlé, Jean Edouard“, NDBA (2006), S. 4952–4953. 66 GLA, 449/666: RMWEuV an [Stengel] v. 9.8.1938. 67 GLA, 449/666: [Stengel] an RMWEuV v. 30.5.1938 (Hervorhebungen im Original). 68 Dem Stadtbeigeordneten Dr. Hausmann waren im Frühjahr 1942 nur zwei eingegangene Manuskripte bekannt; GLA, 449/666: Hausmann an Stenzel v. 7.5.1942, S. 3. 69 Dollinger (Anm. 10), S. 1955; Perrin, „Fr. Kiener“, 106, 111; R[obert] Holtzmann, „Nachruf“, Historische Zeitschrift, 168 (1943), 222–223, hier 222. 70 GLA, 449/666: Stenzel an CdZ v. 21.4.1942.
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seine Mitarbeiter, so dass diese ihre Artikel nicht anpackten. Schließlich hatte er die finanziellen Aspekte unterschätzt: Die ins Ausland zu zahlenden Honorare und die Übersetzungskosten bedrückten das Budget des Projekts.71 Im Frühsommer 1939 brach der Kontakt zwischen Kiener und seinen deutschen Mitarbeitern ab. Kiener war offensichtlich zu der Überzeugung gelangt, dass der Krieg unvermeidbar und sein internationales Stadtgeschichtsprojekt obsolet geworden war. Im Herbst 1939 nahm er seine Unterlagen mit nach Clermont-Ferrand in die Evakuierung der Université de Strasbourg. Nachdem die Deutschen das Elsass besetzt hatten, weigerte sich Kiener nach Straßburg zurückzukehren. Er zog das Exil den Nazis vor und starb Ende 1942 fern seiner elsässischen Heimat. Mit seiner Aufsatzsammlung zur Geschichte der Stadt Straßburg bildete Kiener einen personellen Kristallisationspunkt grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Die Kooperation über Fronten hinweg hätte neue Konstellationen ergeben und zu überraschenden neuen Methoden führen können. Zwar stand die Grenzregion Elsass und ihre Metropole Straßburg schon seit fast einem Jahrhundert im Zentrum der deutsch-französischen Auseinandersetzungen, aber in Zeiten politischer Entspannung wie zur Mitte der 1930-er Jahre, da die beiden Hauptstädte Paris und Berlin näher zusammen rückten, vergrößerte sich der internationale Handlungsspielraum des Grenzlandes und Initiativen zur Überwindung der Grenze und zur Sicherung der bikulturellen Eigenart der Region konnten sich entfalten.72 Dr. Wolfgang Freund, Historisches Institut, Universität des Saarlandes
71 AMS, 64Z 9: Kiener, „L’Histoire de Strasbourg telle que nous la concevons“, ca. Mitte 1938, S. 7–8. 72 Hudemann, Rainer, „Strukturen grenzüberschreitender Vernetzung und transnationaler Erinnerung: Ansätze zu einer Typologie“, ‚Grenzen‘ ohne Fächergrenzen: Interdisziplinäre Annäherungen, Bärbel Kuhn, Martina Pitz, Andreas Schorr (Hrsg.), St. Ingbert 2007, S. 197–221, hier S. 212–214.
ÜBER DEUTSCHLAND NACH FRANKREICH
TRIER IN FRANZÖSISCHER ZEIT ZWISCHEN ANNEXION UND AKKULTURATION
(GABRIELE B. CLEMENS)
Trier entwickelte sich in der Frühen Neuzeit zunehmend zu einer eher unbedeutenden Landstadt. Blickte sie auch auf eine ruhmreiche Vergangenheit als römische Kaiserresidenz und mächtige mittelalterliche Bischofsstadt zurück, so konnte sie sich von den katastrophalen Folgen des Dreißigjährigen Krieges sowie den Besatzungen infolge von Reunionswirren, Pfälzischem und Spanischem Erbfolgekrieg nicht mehr erholen. Die Grenzlage Triers am äußersten westlichen Rand des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und damit in unmittelbarer Nachbarschaft des expandierenden Frankreich machten die Stadt und ihr Umland zum bevorzugten Truppenaufmarschgebiet. Auch im Jahr 1789 geriet die Provinzstadt rasch in den Sog der Französischen Revolution. Es erschienen Maueranschläge und Pamphlete mit Verweis auf den „freien Bürgerstaat“, den Paris eingerichtet habe, und es wurde zum Widerstand gegen die Obrigkeit aufgerufen. Zudem kam es im Sommer 1789 in zahlreichen rheinischen Städten zu Protesten, meist ausgelöst von zunftbürgerlichen Gruppen.1 Danach kehrte wieder Ruhe ein, und erst durch die österreichisch-preußische Kriegserklärung wurde Trier direkt in das politische Geschehen involviert. Preußen hatte nämlich erwartet, leichte Beute zu machen, als es sich Österreich nach der im April erfolgten Kriegserklärung durch die französische Nationalversammlung als Koalitionspartner anschloss. Im September 1792 zerbrach diese Illusion nach dem erfolglosen Versuch der Koalitionstruppen in Ostfrankreich einzumarschieren und der Niederlage von Valmy. Das alte fürstliche Europa und die beiden damals angeblich besten Armeen schienen nichts gegen den Geist der Revolution ausrichten zu können. Im Dezember 1792 scheiterten die französischen Truppen noch beim Angriff auf Trier, doch im Sommer 1794 konnte die österreichischkurtrierische Streitmacht deren erneuten Angriff nicht mehr abwehren. Sie verloren die Schlacht auf den Höhenzügen vor Trier an den Pellinger Schanzen. Ohne weitere Kampfhandlungen marschierte der befehlshabende General Moreaux am darauffolgenden Tag, dem 9. August, in die Stadt ein, und Bürgermeister Karl Ludwig Gottbill händigte ihm die Schlüssel der Stadttore aus. Der letzte Trierer Kurfürst, Clemens Wenzeslaus, floh im Oktober 1794 aus Koblenz und sollte nie mehr in sein Erzbistum zurückkehren.
1
Birtsch, Günther, Soziale Unruhen, ständische Repräsentation. Trier in der Zeit der Französischen Revolution, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse, Göttingen 1982, S. 143–159.
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Die Einnahme der Stadt Trier am 9. August 1794. Ölgemälde von Charles Moreaux. Bürgermeister Gottbill überreicht dem siegreichen General Jean-René Moreaux die Stadtschlüssel (Musée national du Château de Versailles).
In den ersten Jahren nach der Besetzung des Linksrheinischen wechselten sich in rascher Folge häufig rivalisierende militärische und zivile Verwaltungsorganisationen ab. Die Bevölkerung litt unter den hohen Kontributionen, wobei die Verwirklichung französischer Parolen wie „Liberté, Egalité, Fraternité“ oder „Krieg
Trier in französischer Zeit
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den Palästen und Friede den Hütten“ auf sich warten ließ. Nachdem Österreich im Frieden von Campo Formio 1797 alle linksrheinischen Gebiete in Geheimartikeln abtrat, begann der Neuaufbau der Verwaltung nach französischem Muster. 1798 wurde das Territorium in vier Departements unterteilt. Es entstanden im Norden das Rur-Departement mit der Hauptstadt Aachen, das Rhein-Mosel-Departement entlang der Rheingrenze mit der Hauptstadt Koblenz, das Saar-Departement im Südwesten mit Trier als Regierungssitz sowie das südlich angrenzende Donnersberg-Departement mit Mainz als Verwaltungszentrum. Die deutsche Historiografie hat die zwanzig Jahre währende französische Herrschaft lange als Fremdherrschaft und Epoche ausbeuterischer Repression gewertet, wobei nationale Ressentiments bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg überwogen. Über zahlreiche von den Franzosen durchgeführte Reformen und Maßnahmen wurden hartnäckig Vorurteile und Halbwahrheiten tradiert, die teilweise bis zum heutigen Tag nachwirken. In der älteren Nationalgeschichtsschreibung herrschte die Tendenz vor, den Einfluss des revolutionären und napoleonischen Frankreich in Mitteleuropa zugunsten „genuin“ preußischer, organischer Reformen abzuwerten.2 Erst mit der in der Nachkriegszeit einsetzenden generellen Entspannung des deutsch-französischen Verhältnisses, in deren Verlauf aus den Erbfeinden gute Nachbarn, ja sogar Freunde wurden, war auch ein entspannterer Umgang mit der Geschichte der Jahre 1794–1814 möglich. 1960 bemerkte KarlGeorg Faber über das Verhältnis der einheimischen Verwaltungseliten zu den Franzosen kurz und präzis: „Nationales Bewusstsein war diesen Beamten ebenso wie der Majorität der Bevölkerung damals noch völlig fremd.“3 In den darauf folgenden Jahrzehnten hat die Forschung dieses Bild grosso modo bestätigt. Für die Provinzstadt Trier brachte die französische Zeit zahlreiche grundlegende Veränderungen, etwa mit der ab 1798 erfolgten Neuorganisation des Justizund Verwaltungswesens: Sie umfasste die Übernahme der französischen Gerichtsordnung mit öffentlichen und mündlichen Verfahren sowie der Gleichheit aller vor Gericht. Hinzu kam die allgemeine Gewerbefreiheit, die Beseitigung der Feudalrechte und damit einhergehend die Abschaffung des Zehnten. Die Zunftordnung wurde aufgehoben, was einschneidende Auswirkungen für das Handwerk hatte. Durch die Eingliederung des Linksrheinischen ins Empire stand den Kaufleuten nun ein Markt mit über 20 Millionen Konsumenten offen; die Grenzen der Kleinstaaterei waren damit zumindest in westlicher Richtung aufgehoben. Für die Juden bedeutete die französische Zeit nicht nur die Freiheit ihrer Religionsausübung und der Wohnortswahl, sondern auch einen Neuanfang in rechtlicher, sozi2 3
Fehrenbach, Elisabeth, Vom Ancien Règime zum Wiener Kongress, München 4. überarb. Auflage, 2001, S. 235ff. Faber, Karl-Georg, Verwaltungs- und Justizbeamte auf dem linken Rheinufer, in: Geschichte und Landeskunde. Festschrift für Franz Steinbach, Bonn 1960, S. 367. Vgl. etwa Molitor, Hansgeorg, Vom Untertan zum Administré. Studien zur französischen Herrschaft und zum Verhalten der Bevölkerung im Rhein-Mosel-Raum von den Revolutionskriegen bis zum Ende der napoleonischen Zeit, Wiesbaden 1980; Andrae, Uwe, Die Rheinländer, die Revolution und der Krieg 1794–1798, Essen 1994. Speitkamp, Winfried, Sozialer und politischer Protest im napoleonischen Deutschland, in: Walter Heinemeyer (Hrsg.), Hundert Jahre Historische Kommission für Hessen; 1897–1997, Marburg 1997, S. 713–730.
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aler und wirtschaftlicher Hinsicht nach Jahrhunderten als Schutzbefohlene in Mitteleuropa.4 Man kann das Jahr 1798 für das Rheinland als Epochenjahr bezeichnen, da umwälzende Reformen Veränderungen in nahezu allen Lebensbereichen bedingten und Neues an die Stelle überkommener Traditionen gesetzt wurde.5 Nach seiner Machtübernahme im November 1799 führte Napoleon das hierarchisch organisierte Präfekturwesen ein, hielt aber an vielen Errungenschaften der Französischen Revolution ganz bewusst fest. Für die seit langer Zeit zunehmend ins Abseits geratene Moselstadt bedeutete die Zuweisung der departementalen Hauptstadtfunktion eine enorme Aufwertung. Trier wurde Sitz wichtiger moderner Justiz- und Verwaltungsbehörden, so des Gerichts der Ersten Instanz sowie des Zucht- und des Kriminalgerichts. Hinzu kam 1804 ein Appellationsgerichtshof, jene Berufungsinstanz, die für mehrere Departements zuständig war. Weitere wichtige Behörden wie die Steuer- und die Forstverwaltungen wurden ebenfalls in Trier angesiedelt. Um die Reformen und Neuerungen durchzuführen, bedurfte es Eliten, die bereit waren, diese grundlegenden Wandlungsprozesse zu unterstützen und zu tragen. Die überwiegende Mehrzahl der ehemaligen kurtrierischen Beamten fand eine Anstellung in den neuen Einrichtungen. Vor allem an den Gerichten überwogen die deutschen Bewerber. Sie hatten keine Probleme, den französischen Amtseid zu schwören. Beamte, die ihrem ehemaligen Landesherren ins Exil folgten, blieben in der Minderzahl, und kehrten auch häufig recht bald wieder zurück, weil sie keine Anstellungen mehr fanden und ihre Familien ernähren mussten. Nicht wenige regionale Beamte dienten nacheinander drei Herren: Clemens Wenzeslaus, Napoleon und Friedrich Wilhelm III. Anders gestalteten sich die Verhältnisse jedoch in der Finanzverwaltung. Hier besetzten vor allem französische Beamte die sehr lukrativen Spitzenpositionen. Meist handelte es sich um Elsässer und Lothringer, die von der französischen Regierung in großer Zahl im Rheinland eingesetzt wurden, nicht zuletzt, weil sie die deutsche Sprache beherrschten und die Mentalitäten nicht zu unterschiedlich waren. Aber schon direkt auf der Ebene unterhalb des Direktorenpostens lassen sich viele Moselländer auf den ebenfalls einträglichen Einnehmerposten nachweisen. Bei den französischen Beamten handelte es sich auch nicht – wie es damals vorurteilsbehaftete Zeitgenossen gerne darstellten – um Personen, die völlig mittellos ins Rheinland gekommen waren, sich dort unmäßig bereicherten und 1814 mit prall gefüllten Taschen die Flucht antraten. Sie waren mehrheitlich schon Beamte im Ancien Régime unter Ludwig XVI. gewesen und hatten ebenso studiert wie ihre kurtrierischen Kollegen. Auf der anderen Seite gelangen aber auch Trierern in 4 5
Kasper-Holtkotte, Cilli, Juden im Aufbruch. Zur Sozialgeschichte einer Minderheit im SaarMosel-Raum um 1800, Hannover 1996. Zum Epochencharakter der französischen Zeit Müller, Jürgen, 1798–Das Jahr des Umbruchs im Rheinland, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 62 (1998), S. 205–237. Zu den Schwierigkeiten, auf welche die intendierten Modernisierungsprozesse in der Armen- und Wohlfahrtspolitik stießen vgl. Hudemann-Simon, Calixte, L’État et la santé. La politique de la santé publique ou „police médicale“ dans les quatre départements rhénans, 1794–1814, Sigmaringen 1995, Dies., L’État et les pauvres. L’assistance et la lutte conte la mendicité dans les quatre départements rhénans, 1794–1814, Sigmaringen 1997.
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napoleonischer Zeit bemerkenswerte Karrieren im Empire. Erwähnt sei nur Franz Marx, ehemaliger Einnehmer des Trierer Domkapitels. Ihn ernannte Napoleon zum Generaleinnehmer – und damit zum wichtigsten Steuerbeamten auf Departementsebene – im elsässischen Colmar. Den späteren Trierer Bürgermeister Wilhelm Haw beförderte der Kaiser gar zum Präfekten in Troyes (Aube-Departement). Die revolutionären bzw. napoleonischen Gesetze wirkten sich in allen Lebensbereichen aus. So wurden die enteigneten Liegenschaften der Kirche und des Adels wie in Frankreich als Nationalgüter auf der Trierer Präfektur seit 1803 öffentlich versteigert, was eine enorme Auswirkung auf die Verteilung des Grundbesitzes hatte.6 Die Trierer Notabeln ergriffen die einmalige Chance, erhebliche Summen zu investieren, wobei sich besonders die ehemaligen kirchlichen Spitzenweingüter großer Beliebtheit erfreuten. Doch auch die einfachere Bevölkerung des Trierer Umlandes ging nicht leer aus. Viele Bauern konnten erstmals den lang ersehnten Traum verwirklichen, eigenen Grund und Boden zu erwerben. Diese Umverteilung von Grundbesitz und die Abschaffung der feudalen Lasten hatten nicht zuletzt erhebliche psychologische Konsequenzen für die Bauern.7 Trotzdem gilt es zu betonen, dass die ohnehin schon vermögenden Bürger die eigentlichen Gewinner dieser Auktionen waren. Die Nationalgüterverkäufe boten den traditionellen Führungsschichten des Ancien Regimes die Chance, ihre wirtschaftliche und soziale Stellung zu festigen und teilweise ganz erheblich zu verbessern.8 Selbstverständlich prägten nicht nur die Beamten das städtische Leben. Hinzu gesellte sich das traditionell reiche Wirtschaftsbürgertum, allen voran die bedeutenden Holz- und Weinhändler. Diese von Napoleon unterstützten Notabeln, auf deren Zusammenarbeit er vor allem in der (Selbst) -Verwaltung angewiesen war, versammelten sich in ihrer Freizeit bevorzugt in den neu entstandenen, dem Zeitgeist entsprechenden Sozietäten. Gemeinsame kulturelle Interessen, vergleichbare Ausbildungswege und vor allem das entsprechende Vermögen erlaubte es ihnen, neue elitäre Vereinsformen zu besuchen. So gab es während der französischen Zeit für Männer mit Besitz und Bildung bessere Möglichkeiten als je zuvor, in Gesellschaften ihre Interessen zu pflegen. Die Wurzeln des Vereinswesens reichen weit in das 18. Jahrhundert zurück. Europaweit etablierten sich – angeregt durch die Philosophie der Aufklärung und Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums – in zahlreichen Städten erste Vereine. In Trier besaß vor allem die zu Beginn der napoleonischen Zeit gegründete Freimaurerloge große Attraktivität. Federführend waren die zahlreich in der Loge engagierten französischen Beamten und Militärs, zu denen sich bald einheimische Notabeln aus Stadt und Land gesellten. Abgesehen vom Engagement in der Loge, bestand die Möglichkeit, sich um Aufnahme in das 6 7 8
Wolfgang Schieder (Hrsg.), Säkularisation und Mediatisierung in den rheinischen Departements: 1803–1813. Edition des Datenmaterials der zu veräußernden Nationalgüter, 5 Teile in 7 Bänden, Boppard 1991. Müller, Michael, Säkularisation und Grundbesitz. Zur Sozialgeschichte des Saar-Mosel-Raumes 1794–1813, Boppard 1980. Clemens, Gabriele B., Immobilienhändler und Spekulanten. Die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung der Großkäufer bei den Nationalgüterversteigerungen in den rheinischen Departments (1800–1813), Boppard 1995.
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seit 1799 bestehende Lesekabinett zu bemühen. War die Tätigkeit des neuen Lesekabinetts nicht so geheimnisumwittert wie jene der Loge, so traf sich auch hier nur die städtische Elite. Noch wesentlich exklusiver war jedoch die „Gesellschaft für nützliche Forschungen“. Während der gesamten französischen Zeit überstieg ihre Mitgliederzahl nie fünfzehn Personen. Daneben gab es natürlich noch viele andere Möglichkeiten zu mehr oder weniger intensiven informellen Begegnungen innerhalb der Trierer Gesellschaft. Man begegnete sich beim Kirchgang und im Wirtshaus. Darüber hinaus saßen Franzosen und Deutsche gemeinsam in den verschiedenen politischen Mitbestimmungsgremien. Dem aus Dünkirchen stammenden Finanzbeamten Jacques Louis Herpein gelang sogar die Wahl in den Stadtrat, der politischen Hochburg der Einheimischen. Dies spricht für einen hohen Grad der Akzeptanz seiner Person.9 Die Trierer Notabeln haben sich während der napoleonischen Zeit weitgehend mit dem neuen politischen System ausgesöhnt, an dem der Kaiser sie in Beratungsgremien auf lokaler und regionaler Ebene beteiligte. Als Napoleon Trier im Oktober 1804 anlässlich seiner Krönungsreise besuchte, bereiteten sie ihm einen begeisterten Empfang. Doch darf man über den positiven Aspekten nicht die Schattenseiten der Epoche übersehen. Gegen Ende des Empires wurde die Steuerschraube wieder stärker angezogen. Besonders einschneidend aber wirkte sich die allgemeine Wehrpflicht aus. Sie war für die Rheinländer ein absolutes Novum und erfasste weite Kreise der Bevölkerung. Noch im 18. Jahrhundert hatten die absolutistischen Herrscher sogenannte „Kabinettskriege“ geführt. Die Heere bestanden aus Söldnertruppen, und die Beteiligung oder gar Mobilisierung der Bevölkerung war gänzlich unerwünscht. In Frankreich wurde erstmals unter dem Druck militärischer Niederlagen 1793 die allgemeine Wehrpflicht angeordnet. Da die kriegerischen Auseinandersetzungen bis 1815 nicht aufhörten, blieb diese bestehen. Französische und deutsche Notabeln standen aus beruflichen, aber auch aus privaten Gründen in engem, täglichen Kontakt zueinander. Aufgrund der Überlieferung können wir nicht sagen, wie konfliktfrei das Leben zwischen den Alteingesessenen und den Neubürgern verlief. Autobiografisches Material ist nur selten überliefert. So dürfte es etwa innerhalb der Gruppe der französischen Beamten zu Animositäten gekommen sein. Begegneten sich doch in den Straßen Triers Personen, wie der radikale Revolutionär und neue Generalstaatsanwalt Claude Emanuel Dobson, der im Nationalkonvent für die Hinrichtung Ludwigs XVI. gestimmt hatte, dem Präfekten Maximilian Keppler, dessen Vater als Syndikus der Abtei von Andlau guillotiniert worden war. Insgesamt scheinen die Kontakte innerhalb der französischen Beamtengruppe aber gut und eng gewesen sein, was Vormundschaften und Ehen zwischen Kindern der Beamten oder Militärs belegen, die sich erst in Trier kennengelernt haben. So heiratete etwa 1810 Dieudonné Rigaud, der Sohn des örtlichen Divisionskommandanten General Antoine Rigaud, eine Tochter des aus Lothringen stammenden Appellationshofrichters und Mitglied des 9
Clemens, Gabriele B., Die Notabeln der Franzosenzeit, in: Unter der Trikolore. Sous le drapeau tricolore. Trier in Frankreich – Napoleon in Trier. Trèves en France – Napoléon à Trèves, Katalog-Handbuch, hrsg. von Elisabeth Dühr und Christl Lehnert-Leven,Trier 2004, S. 105–181.
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Corps Législativ Johann Jakob D’Hame. Doch auch die ehemals kurfürstlichen Beamten hegten keine Bedenken, in französische Familien einzuheiraten. So ehelichte etwa die verwitwete Mutter des späteren Trierer Bürgermeisters Wilhelm Haw den rund zehn Jahre jüngeren Generalzahlmeister Nicolas Gérotin. Der Trierer Staatsanwalt Wilhelm Fritsch verheiratete gleich zwei seiner Schwestern mit aus Frankreich stammenden Beamten. Als die alliierten Truppen Trier im Januar einnahmen, konnten sich die Franzosen in aller Ruhe zurückziehen. Es gab weder einen begeisterten Empfang für die „Befreiungstruppen“ (wovon sollte man auch befreit werden?), noch kam es zu Ausschreitungen gegenüber den Franzosen. In den letzten zwanzig Jahren waren nicht nur Ehen, sondern auch Freundschaften entstanden und manch einer, wie Wilhelm Haw, gerade zum Präfekten in Troyes (Département de l’Aube) ernannt, war wohl wenig begeistert über diese Art der „Befreiung“, die für ihn nicht nur einen Karriereknick bedeutete. Der letzte Präfekt des Saar-Departements, Alexandre-François Bruneteau de Sainte-Suzanne, wurde noch 1820 zum Ehrenmitglied der Gesellschaft für nützliche Forschungen ernannt. Dieselbe Ehre war bereits zwei Jahren zuvor dem mittlerweile nach Besançon gezogenen ehemaligen Trierer Domänendirektor Jean Berger zuteilgeworden.10 Politisch opportun waren derartige Ehrungen zu diesem Zeitpunkt gewiss nicht, sie belegen aber, dass gemeinsame Mitgliedschaften in den kulturellen Gesellschaften persönliche Verbindungen entstehen ließen, die nach den Napoleonischen Kriegen nicht abrissen. Eine enge Freundschaft verband den letzten Präfekten mit dem Domäneneinnehmer Jakob Christian Schmeltzer, dem diese Verbindung beinahe die Weiterbeschäftigung im preußischen Staatsdienst gekostet hätte, da er von den neuen Machthabern verdächtigt wurde, ein Bonapartist und Franzosenfreund zu sein. Andere wiederum, wie der Direktor der Forstbehörde, der aus dem Elsass stammende Joseph Massa, bewarben sich um eine Weiterbeschäftigung in ihrem Amt, wurden von den Preußen aber nicht berücksichtigt. Insgesamt leitete die zwanzig Jahre währende französische Herrschaft grundlegende Wandlungsprozesse ein. In den deutschen Staaten rechts des Rheins wurde vieles hiervon erst im Laufe des 19. Jahrhunderts erreicht: etwa die Bauernbefreiung, die Aufhebung der Zünfte, die Abschaffung der Privilegien oder der Aufbau eines bürgerlichen Rechtssystems. Die Schattenseiten der französischen Zeit darf man gewiss nicht übersehen. Dennoch waren die Trierer keineswegs beglückt darüber, ab 1815 von einem weit entfernt weilenden protestantischen Herrscherhaus regiert zu werden. Sie und die Rheinländer überhaupt kämpften dafür, dass sie „ihr“ rheinisches Recht (gemeint waren die napoleonischen Codes) behalten durften. Die preußische Regierung war so klug, daran nicht zu rühren und auch andere grundlegende Veränderungen, wie etwa die Abschaffung der alten Privilegien oder die Verkäufe der Nationalgüter, nicht wieder rückgängig zu machen.11
10 Clemens, Gabriele B., Von der französischen Provinzakademie zum deutschen Geschichtsverein – Die Gesellschaft für nützliche Forschungen im überregionalen Vergleich, in: Kurtrierisches Jahrbuch 40 (2000), S. 391–409. 11 Koltes, Manfred, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, Köln u.a. 1992.
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Es sollten nach 1815 noch Jahrzehnte vergehen, bis die Franzosen allmählich zu Erbfeinden mutierten und die französische Herrschaft zunehmend als „Fremdherrschaft“ interpretiert wurde.12 Trier befand sich nach der Eingliederung in die Rheinprovinz abermals in einer wirtschaftlich äußerst ungünstigen Grenzlage und das Erbe der „Franzosenzeit“ wirkte fort. 1830 kursierte – wohl inspiriert von der Julirevolution im benachbarten Frankreich – in der Stadt ein Flugblatt, in dem Friedrich Wilhelm III. an das von ihm 1815 gegebene, aber bisher nicht eingelöste Verfassungsversprechen erinnert wurde. Oberbürgermeister Wilhelm Haw schloss sich dieser Forderung, endlich die zugesagte Verfassung einzuführen, in einer Denkschrift im darauffolgenden Jahr an. 1834 eskalierte das Stiftungsfest der honorigen Trierer Casinogesellschaft. Unter lauten Beifallsbekundungen wurde die Marseillaise gesungen und die Trikolore geschwenkt; und während der Revolution von 1848/49 war die Stadt nach Ansicht der preußischen Beamten ohnehin der „Schlimmste Punkt in der Provinz“.13 Hier wie andernorts im Linksrheinischen wirkte das liberale und demokratische Erbe der Französischen Revolution noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Prof. Dr. Gabriele B. Clemens, Professorin für Neuere Geschichte, Historisches Seminar, Universität des Saarlandes
12 Gemäß der Habilitationsschrift von Christian Koller gab es vor 1824 ohnehin noch nicht einmal das Wort Fremdherrschaft und es dauerte noch bis um 1840 bis sich der Begriff der Fremdherrschaft für die französische Zeit etablierte; vgl. Koller, Christian, Fremdherrschaft. Ein politischer Kampfbegriff im Zeitalter des Nationalismus, Frankfurt am Main 2005. 13 Elisabeth Dühr (Hrsg.), „Der schlimmste Punkt in der Provinz.“ Demokratische Revolution 1848/49 in trier und Umgebung, Trier 1998.
DIE SAARKUNDGEBUNG AM NIEDERWALDDENKMAL IN RÜDESHEIM (FRANK G. BECKER)
Auf der Fahrt von Wiesbaden in den Rheingau wird der Autoreisende sanft ausgebremst: Die in Gegenrichtung allmorgendlich verstopfte Autobahn mündet hier in eine breit ausgebaute Bundesstraße, die sich rheinabwärts an beschaulichen Winzerdörfchen entlang windet und ab Geisenheim schließlich nur noch einspurig die letzten Fahrzeuge nach Rüdesheim führt. Begeht man nun den strategischen Fehler, diese Fahrt zwischen März und November – womöglich noch bei schönem Wetter – zu unternehmen, lernt man spätestens hier die Modellpalette an Reisebussen sowie den Werbewert ihrer Heckseiten kennen, während man sich durch die inzwischen enge Straße am Rhein schlängelt. Derartige Beobachtungen werden Reichskanzler Adolf Hitler fremd gewesen sein, als er die Strecke am späten Nachmittag des 27. August 1933 gefahren wurde.1 Sein Ziel war die in Bingen und Rüdesheim seit dem Vortag stattfindende Tagung des „Bundes der Saarvereine“, einer reichsweiten Vereinigung ausgewiesener Saarländer und sonstiger Freunde des Saargebiets, die an der Germania die noch ungelöste Saarfrage2 vor ein großes Publikum tragen wollte.3 Ihre spektakulär in Szene gesetzten Massenaufmärsche 1 2
3
Hitler kam von einer gemeinsamen Feier mit Reichspräsident von Hindenburg anlässlich der Wiederkehr der Schlacht von Tannenberg per Flugzeug nach Wiesbaden. Als Anhang des Versailler Vertrages bestimmte das Saarstatut, dass das nach dem Krieg erst aus der Taufe gehobene Saargebiet für die Dauer von 15 Jahren der Verwaltung des Völkerbundes anheim gestellt sein sollte. Während dieser eineinhalb Jahrzehnte wurde Frankreich das Recht eingeräumt, die saarländischen Kohlegruben auszubeuten, womit der „Erzfeind“ direkt und indirekt zum größten Arbeitgeber in der Industrieregion wurde. Am 13. Januar 1935 entschieden sich über 90% der abstimmungsberechtigten Saarländer für die Rückkehr der Saar in das inzwischen nationalsozialistische Deutschland: Vgl. hierzu aus einer Fülle an Literatur: Ludwig Linsmayer (Hrsg.), Der 13. Januar. Die Saar im Brennpunkt der Geschichte, Saarbrücken 2005. Der 1919/20 gegründete „Bund der Saarvereine“ versammelte Tausende im Deutschen Reich verstreut wohnende Saarländer, die 1935 ihr Votum zugunsten der Rückgliederung der Saar abgegeben sollten. Auf dem Fundament eines stetig wachsenden Ortsgruppennetzes nahm der Bund in den 15 Jahren seines Bestehens Funktionen wahr, welche die amtliche deutsche Politik oftmals nicht ausüben wollte oder konnte. Das durch ihn vermittelte Gedankengut, ein Konglomerat revisionistischer, national-großdeutscher, stellenweise nationalistischer und latent antisemitischer Ideen, wurde in zahlreichen Druckschriften, Zeitungsbeiträgen sowie in (Massen-) Kundgebungen wie hier in Rüdesheim verbreitet: Vgl. hierzu: Becker, Frank G., „Deutsch die Saar, immerdar!“ Die Saarpropaganda des Bundes der Saarvereine 1919–1935, Saarbrücken 2007.
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hatten sich in den zurückliegenden Jahren zwar etabliert, doch wie lässt sich das enorme Interesse der neuen Reichsregierung an der Ausrichtung einer Bundestagung erklären, für die ihre Vorgänger lediglich Grußworte und erst nach eindringlichen Bitten finanzielle Mittel übrig hatten? Sicherlich muss die bevorstehende Abstimmung an der Saar als Begründung ins Feld geführt werden, die es auch bürgerlich und sozialdemokratisch geführten Weimarer Kabinetten nahe gelegt hätte, sich stärker als zuvor zu engagieren. Für die Nationalsozialisten bot sie darüber hinaus ein äußerst willkommenes Forum, sich den Saarländern zu präsentieren und zugleich für das „neue Deutschland“ zu werben. Für die überwiegende Mehrheit der saarländischen Besucher dürfte am Niederwald der erste persönliche Kontakt mit dem reichsdeutschen Nationalsozialismus und dessen Spitzen stattgefunden haben, weshalb diese den Tag zu einem bleibenden Erlebnis machen mussten. Anders als den saarländischen Ableger der NSDAP umgab die Reichspartei der Nimbus der Stärke und insbesondere Hitler schien die lang ersehnte Heilsgestalt zu sein. So wundert auch das Insistieren des Staatssekretärs im Reichspropagandaministerium nicht, dass der Reichskanzler auf jeden Fall am Rhein auftreten werde.4 Anders als bei früheren Tagungen appellierte der „Bund der Saarvereine“ vor allem an die Saareinwohner, ihre persönliche Einstellung zum Schicksal des Saargebiets durch ihre Beteiligung an der Saarkundgebung unter Beweis zu stellen.5 Dementsprechend reizvoll musste es sein, die eng begrenzte Freizeit zugunsten einer ganztätigen Propagandaveranstaltung zu opfern und abgesehen von möglichen Repressalien des Arbeitsgebers auch die Strapazen der mehrstündigen Bahnreise in Kauf zu nehmen. Ebenso wichtig wie die Wirkung auf die abstimmungsberechtigten Saarländer war die Resonanz des Auslandes auf die Tagung, da sich zum einen das nationalsozialistische Deutschland in den zurückliegenden Monaten international weitgehend isoliert hatte6 und die Beteiligung an der Tagung sowohl vonseiten Frankreichs wie Deutschlands als Gradmesser für die Stimmungslage an der Saar gewertet wurde.7 Anders als in den Jahren der Weimarer Republik führte das Auswärtige Amt dieses Mal keine Bedenken gegen die Übernahme der Schirmherrschaft durch Reichspräsident von Hindenburg ins Feld.8 Die an Reichskanzler Hitler gerichtete Bitte des „Bundes der Saarvereine“, ein Referat auf der Saarkundgebung zu übernehmen, zeigt allerdings, dass man in der Berliner Ge4 5
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Vgl. Brief Funks an die Reichskanzlei (18.08.33), in: BA-R 43–I/253. Ähnlich äußerte sich auch Staatssekretär von Bülow (AA) gegenüber Reichsaußenminister von Neurath (10.08.33), in: PA AA, II a Saargebiet, R 76.095. Zwar war man in den vorangegangenen Jahren stets bemüht, eine möglichst große Zahl von Saarländern als Gradmesser der eigenen Bedeutung zum Besuch der Kundgebungen animieren zu können, doch richteten sich die Veranstaltungen vor der Gleichschaltung in erster Linie an das reichsdeutsche Publikum und die dort lebenden Saarländer. Vgl. Mühle, Robert W., Frankreich und Hitler. Die französische Deutschland- und Außenpolitik 1933–1935, Paderborn [u.a.] 1995, S. 41–96. Die Niederwaldkundgebung sollte ähnlich wie die Jahrtausendfeier acht Jahre zuvor den Charakter einer Probeabstimmung erhalten: Vgl. Sitzungsprotokoll des Arbeitsausschusses (23.06.33), in: PA AA, II a Saargebiet, R 76.095. Vgl. Brief des StS im Büro des Reichspräsidenten an das AA (14.06.33), in: (s. Anm. 7)
Die Saarkundgebung am Niederwalddenkmal in Rüdesheim
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schäftsstelle die innenpolitischen Veränderungen im Reich nicht richtig einschätzte und außerdem noch glaubte, die Fäden der Veranstaltung in der Hand zu haben.9 Dabei war die Geschäftsstelle seit Wochen von verschiedenen Seiten ausgebootet worden: Schon Anfang Juni hatte das Auswärtige Amt einem aus dem Neustädter Gauleiter Josef Bürckel, dem saarländischen Gewerkschaftssekretär Peter Kiefer und dem Industriellen Hermann Röchling gebildeten Aktionsausschuss auch die Zuständigkeit für die Planungen zur Bundestagung übertragen,10 und selbst der von der Geschäftsstelle initiierte Saarbrücker Arbeitsausschuss ließ, auf dem offiziellen Kundgebungsplakat die Hinweise auf den Bund als Veranstalter entfernen.11 Gleichermaßen unbeirrbar wie blauäugig trieb Geschäftsführer Vogel unterdessen die Vorbereitungen weiter, bis die Koblenzer Gauleitung Mitte Juli die Planungen für die Saartagung an sich riss. Fortan warb die NSDAP mit ihren Gliederungen im Reich für die Kundgebung am Niederwalddenkmal. Um ein möglichst einheitliches Erscheinungsbild zu erreichen, wurden die umliegenden Gemeinden aufgefordert, die öffentlichen Gebäude und Privathäuser ausschließlich mit Hakenkreuzfahnen zu beflaggen und mit Tannengrün zu schmücken. 12 Unmittelbar vor der Veranstaltung schaltete sich der Koblenzer Gauleiter Simon persönlich ein und befahl die Aufstellung mehrerer Transparentbögen in Rüdesheim und Umgebung.13 Für derartige Vorbereitungsdienste wurden Angehörige der Hitlerjugend und Arbeitsdienstleistende aus dem Lager Bingen rekrutiert. Der dortige Bürgermeister mahnte im Vorfeld die ansässige Bevölkerung, ihre „vaterländische Pflicht“ zu erfüllen und für die saarländischen Volksgenossen Quartiere in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen.14 Mit dem 1883 von Wilhelm I. eingeweihten Niederwalddenkmal hatte der Saarverein einen symbolträchtigen Ort für die Ausrichtung der Saarkundgebung gewählt: Die Grundsteinlegung des damals nicht unumstrittenen Monuments er9 Vgl. Brief der Geschäftsstelle „Saar-Verein“ an Hitler (03.05.33), in: BA-R 43–I/253. 10 Vgl. Briefe des AA an Bürckel, Kiefer und Röchling (03.06.33), in: PA AA, II a Saargebiet, R 76.095. 11 Vgl. undatiertes Sitzungsprotokoll des Arbeitsausschusses vom 01.07.33, in: BA-R 8014/100. Zur Werbung, Finanzierung und Organisation des Transports der saarländischen Teilnehmer hatte Bundesgeschäftsführer Theodor Vogel Ende April 1933 über seine Vertrauensleute an der Saar diesen Arbeitsausschuss initiiert. Das Gremium war zudem ein Instrument der Verschleierung. Auch wenn im Sommer 1933 kaum jemand geglaubt haben dürfte, dass die Veranstaltung nicht von Berliner Regierungs- und Parteistellen gesteuert wurde, war diese Darstellung aus propagandistischen Gründen notwendig. Offiziell stammten alle finanziellen Mittel für den verbilligten Transport aus freiwilligen Spenden, die im Saargebiet gesammelt worden waren, offiziell riefen nur unpolitische Vereinigungen zum Besuch auf, und offiziell war wie in den zurückliegenden Jahren der unabhängige, überparteiliche und interkonfessionell ausgerichtete „Bund der Saarvereine“ der Ausrichter der Veranstaltung. 12 Vgl. Brief der Stadt Rüdesheim an die Lokalredaktion (18.08.33), in: StA Rüdesheim, III/50; „Generalanzeiger für den Mittelrhein“ (19.08.33). 13 Vgl. Brief der Organisationsleitung der Saarkundgebung an den Bürgermeister von Rüdesheim (24.08.33), in: StA Rüdesheim, III/50. Gustav Simon (1900–1945) übernahm ungefähr zum Zeitpunkt der Tagung die Führung des gleichgeschalteten „Bundes der Saarvereine“: Vgl. Krier, Emile, Gustav Simon, in: Rheinische Lebensbilder 16 (1997), S. 255–285. 14 Vgl. „Generalanzeiger für den Mittelrhein“ (12.08.33).
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folgte 1877 „zum Andenken an die einmuetige siegreiche Erhebung des deutschen Volkes und an die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches 1870–1871“.15 Über dem in den Weinberg geschnittenen Vorplatz ragt das insgesamt etwa 38 Meter hohe Denkmal weithin sichtbar als „Wacht am Rhein“ empor. Das Postament, auf dem in Leserichtung die Geschichte des Krieges vom Auszug der Soldaten bis zu ihrer siegreichen Heimkehr dargestellt ist, trägt das Hauptrelief mit knapp 190 Personen in Lebensgröße. Zwar ist Wilhelm I. durch seine Position im Schnittpunkt zweier gedachter horizontaler und vertikaler Linien exponiert, doch anders als bei der einige Kilometer rheinabwärts am Deutschen Eck geschaffenen Reiterstatue wird der Reichsgründer hier von den deutschen Bundesfürsten und namhaften Generälen aus dem Norden und Süden Deutschlands eingerahmt. Nur gemeinsam mit ihnen konnte er als Primus inter Pares Deutschland zum Sieg führen, das Reich einen und den Frieden sichern. Eine ähnliche binnenintegrierende Funktion besitzt auch die über 12 Meter große Germania, die, auf einem quadratischen Aufbau stehend, in der erhobenen rechten Hand die Kaiserkrone auf einem Siegeskranz trägt. In ihrer linken Hand hält sie ein nach unten gerichtetes lorbeerumwundenes Schwert. Der Dresdner Bildhauer Johannes Schilling16 verzichtete darauf, sie provozierend in Richtung Frankreich schauen zu lassen. Sie richtet vielmehr ihren Blick in den nun vor Feindesangriffen sicheren Rheingau und präsentiert dem deutschen Volk das Ziel der zurückliegenden Anstrengungen: die neue Kaiserkrone, die sie sich anschließend auf ihr eichenumkränztes Haupt setzt. Der Verlauf der eigentlichen Tagung des „Bundes der Saarvereine“ soll an dieser Stelle nicht thematisiert werden.17 Großes öffentliches Interesse fanden sowohl der Saar-Heimatabend in der Rheinhalle Bingen wie auch die Turn- und Sportveranstaltungen am nächsten Vormittag im Adolf-Hitler-Stadion.18 Schon während dieser im Grunde unpolitischen Programmpunkte wurden die etwa 7.000 Zuschauer durch Ansprachen auf die bevorstehende Saarkundgebung am Nachmittag eingestimmt. Scheinbar spontan, quasi zur Befriedigung eines tiefen inneren Bedürfnisses, wurden die jeweiligen Beiträge mit dem Singen des Deutschland- bzw. Horst-Wessel-Liedes bekräftigt. Das Saarlied von Hanns Maria Lux hingegen sollte als pseudosakrales Credo erst am Niederwalddenkmal zum Vortrag kommen. 15 Hauptinschrift am Sockel der Germania. Vgl. Erbar, Ralph, Die Wacht am Rhein. Das Niederwalddenkmal bei Rüdesheim. Nation und Nationalismus in Deutschland, in: Bernd Heidenreich/Klaus Böhme (Hrsg.), Hessen. Geschichte und Politik, Stuttgart [u.a.] 2000, S. 316– 327; Tittel, Lutz, Das Niederwald-Denkmal bei Rüdesheim am Rhein, Friedrichshafen 1985. 16 Schenkt man der Überlieferung in der Familie meiner Frau Glauben, so hat sich ihr Urururgroßvater Schilling bei der Germania von den Proportionen der Frauen seiner Familie inspirieren lassen. 17 Vgl. Programmheft, in: StA Rüdesheim, III/50; Saar-Freund 14 (1933) 16/17, S. 299–302; Saar-Freund 14 (1933) 18, S. 318–341; Saar-Kalender 13 (1935), S. 79ff. Saar-Kundgebung am Niederwald-Denkmal 27. August 1933 [o.O. 1933]; von Puttkamer, Jesco, Wahr bleibt wahr. Deutsch die Saar, Oldenburg 1934, S. 83–112. 18 Sportliche Wettspiele waren seit dem frühen 19. Jahrhundert ein gängiges Element nationaler Feiern und hatten daher schon während der zurückliegenden Bundestagungen einen festen Platz im Programm eingenommen.
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Nach der Mittagspause vollzog sich ein stundenlanger prozessionsartiger Aufmarsch zum Denkmal, an dessen Fuß etwa 100 Fahnenträger verschiedener Parteigliederungen, des Stahlhelms, von Kriegervereinen und Ortsgruppen des Bundes Aufstellung nahmen. Mit Fanfarenklängen der Reichswehrkapelle begann kurz nach 17 Uhr die Kundgebung, die unter dem Protektorat des Reichspräsidenten von Hindenburg stand. Während der Saarsängerbund die „Mahnung“ Hans Heinrichs vortrug und der „Treuschwur des Volkes an der Saar“ verkündet wurde,19 kreiste ein Flugzeug über der Menschenmenge und warf einen Blumenstrauß ab. Etwa 400 Ruderer zogen unterhalb des Denkmals auf dem Rhein vorbei. Als erster Redner ergriff der Koblenzer Gauleiter und neue Bundesvorsitzende Gustav Simon das Wort und heizte mit seinen Ausfällen gegen die Kritiker am neuen Deutschland und die Emigranten an der Saar die Stimmung an. Ebenso wenig sparte er mit antisemitischen Hasstiraden und Polemiken gegen führende Köpfe der Rückgliederungsgegner. Bevor sich der preußische Kultusminister Rust in ähnlicher Weise zu Ausfällen gegen die Weimarer Republik, die Demokratie als solche und den Marxismus im Besonderen hinreißen ließ, leistete ein Saarbergmann – gewissermaßen als Identifikationsfigur für die saarländische Bevölkerung – einen Treuschwur auf die Rückkehr der Saar. Zuvor erfuhr die Feier einen ersten liturgischen Höhepunkt durch das gemeinschaftliche Singen des Saarliedes; 20 die Worte des Bergmanns wirkten im Anschluss an den kollektiven Bekräftigungsakt wie ein Glaubensbekenntnis. Gegen 19 Uhr traf schließlich Hitler am Denkmal ein. Anders als seine beiden Vorredner verzichtete er in seiner Ansprache auf polemische Ausfälle. Das eigentliche Thema seiner Ausführungen, die offizielle Haltung der deutschen Reichsregierung zur Saarfrage, war eingebettet zwischen offensiver Werbung für das neue nationalsozialistische Deutschland und der Diskreditierung seiner politischen Gegner als Lügner und Volksverräter. Ganz im Stil seiner in den ersten Jahren des Dritten Reiches unermüdlich beteuerten Friedenspropaganda beharrte er darauf, dass die Rückkehr des Saargebiets zu den natürlichen Rechten nationaler Selbstbestimmung gehöre. Deutschland wolle gerne mit Frankreich über alle wirtschaften Angelegenheiten verhandeln und sich verständigen. In einem aber könne es keine Verständigung geben: „Weder kann das Reich Verzicht leisten auf euch, noch könnt Ihr Verzicht leisten auf Deutschland. (Starker Beifall.)“ Kein Deutscher könne in der anstehenden Abstimmung für ein autonomes Saargebiet oder gar den Anschluss an Frankreich votieren; es bleibe nur die dritte Lösung: „Zurück zu Deutschland! (Langanhaltender Beifall.)“21 Nach seinen Ausführungen endete die Veranstaltung mit dem obligatorischen Deutschland- und Horst-WesselLied. 19 Vgl. Saar-Sänger-Bund 11 (1933/34) 7, S. 153ff.; Saar-Freund 14 (1933) 18, S. 328–332. 20 Nachdem es schon in den zwanziger Jahren einen rasanten Siegeszug sowohl an der Saar wie innerhalb der Ortsgruppen des Bundes erlebt hatte, entwickelte sich das Saarlied in den Monaten bis zur Abstimmung zu dem Bekenntnislied der Rückgliederungsbefürworter: Vgl. Hannig, Jürgen, „Deutsch ist die Saar“. Das Saarlied von Hanns Maria Lux, in: Klaus-Michael Mallmann [u.a.] (Hrsg.), Richtig daheim waren wir nie. Entdeckungsreisen ins Saarrevier 1815–1955, Saarbrücken ³1995, S. 117–122. 21 Zur Rede Hitlers vgl. Saar-Freund 14 (1933) 18, S. 331.
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Die Niederwaldkundgebung passte in das Versammlungsritual, das sich ab Anfang der dreißiger Jahre eingespielt hatte: Weniger der sachliche Diskurs als vielmehr die äußere Wirkung war entscheidend. Allein die Anwesenheit Hitlers war der Grund, weswegen sich Tausende Saarländer und Reichsdeutsche auf den Weg gemacht hatten. Seine Verspätung war ein gezielt eingesetztes taktisches Mittel zur Steigerung der Spannung. Die Topographie des Vorplatzes ließ zwar nicht die aus Wochenschauberichten über die Nürnberger Parteitage bekannte Formierung der Zuschauer zu Menschenblöcken zu, doch dürfte die gewaltige Menschenmenge hoch über dem Rhein vor der Kulisse des Denkmalgebirges mit dem davor drapierten Fahnenwald, den Fanfarenklängen und der Marschmusik große Faszinationskraft auf die Teilnehmer wie auch auf unbeteiligte Beobachter ausgeübt haben. Vergleicht man nun die Presseberichte über die Saarkundgebung am Niederwalddenkmal in deutschen und französischen Blättern, so scheint es, als sei von zwei verschiedenen Tagungen die Rede.22 Am augenscheinlichsten wird das beim Feilschen um die Teilnehmerzahlen. Erste Schätzungen im Frühjahr 1933 prognostizierten die Zahl der saarländischen Besucher mit 15–20.000 Personen, ein Wert, den der Saarbrücker Arbeitsausschuss Anfang Juli schon auf etwa 30.000 anhob. Kurz vor Monatsende rechnete man dort mit insgesamt 50.000 Saarländern.23 In der Festnummer zur Tagung gab sich Simon zuversichtlich, dass allein in den 50 Sonderzügen 70.000 Saarländer anreisen würden. Angesichts dieses Massenandrangs, zu dem noch die reichsdeutschen Besucher hinzugerechnet werden mussten, zog die Stadt Rüdesheim in Erwägung, den Wald um das Denkmal auslichten zu lassen.24 Die saarländische Sozialdemokratie verfolgte im Vorfeld der Tagung eine Doppelstrategie: Sie zog die hohen Zahlen eingegangener Anmeldungen in Zweifel, die ohnehin nur durch massiven Druck erreicht worden seien,25 und versuchte zugleich, das am Niederwald erwartete Bekenntnis zur Rückgliederung vorsorglich von der Zustimmung zur nationalsozialistischen Regierung zu entkoppeln. Unmittelbar vor der Bundestagung streute die „Volksstimme“ die Nachricht, dass sich Hitler entgegen anderslautenden Behauptungen inzwischen entschieden habe, auf einen Auftritt zu verzichten, da er nicht mehr an einen Sieg der deutschen Op22 Zu deutschen Presseberichten vgl. BayHStA, Slg. Rhese 2229; Saarbrücker Zeitung Nr. 224 (26.08.33), Nr. 225 (27.08.33) und Nr. 226 (28.08.33). Die Bandbreite der französischen Artikel reichte von Bewunderung für das deutsche Organisationstalent, neidvollem Anerkennen des Erfolges bis zu unverhohlenem Hass auf Hitler und Herunterspielen der Bedeutung der Kundgebung: Vgl. die Aufzeichnung der Landespressestelle Saar (30.08.33), in: PA AA, II a Saargebiet, R 76.096. 23 Vgl. Brief des Regierungspräsidenten von Wiesbaden an das AA (06.05.33), in: PA AA, II a Saargebiet, R 76.095; Sitzungsprotokoll vom 05.07.33 (06.07.33) und Telefonnotiz (29.07.33), in: BA-R 8014/100. 24 Vgl. Brief der Stadt Rüdesheim an den Regierungspräsidenten in Wiesbaden (02.08.33), in: StA Rüdesheim, III/50. 25 Vgl. „Volksstimme“ Nr. 195 (23.08.33). Die Teilnehmerlisten, die ursprünglich helfen sollten, die Kosten kalkulierbar zu machen, entwickelten sich zu Zwangsinstrumenten. So ließen sich letztlich auch Skeptiker des Saarspektakels am Rhein eintragen, um dem sozialen Druck zu entgehen.
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tion glaube.26 Großer Erfolg war derartigen Sabotagemaßnahmen nicht beschieden: Schenkt man dem „Saar-Freund“ Glauben, so rollten insgesamt 43 Sonderzüge mit 44.000 Personen zur Tagung; weitere 15.000 Personen fuhren mit regulären Zügen. 18.000 Besucher kamen mit Privatfahrzeugen, Bussen oder Krafträdern, zu denen weitere 5.000 Saarländer zu rechnen waren, welche entweder vorausgereist waren oder sich mittels anderer Verkehrsmittel an den Rhein begaben. Alles in allem seien 82.000 Personen von der Saar dem Ruf gefolgt, zu denen sich die gleiche Zahl an reichsdeutschen Teilnehmern gesellte.27 Die französische Seite bezweifelte diese Größenordnung.28 Mit großer Genugtuung meldete Étienne Vaysset, der Vertreter des Quai d’Orsay bei der Bergwerksdirektion, dass von den ursprünglich angekündigten 100.000 Personen insgesamt nur etwa 50–55.000 Saarländer der Niederwaldkundgebung beiwohnten.29 Versuchte er den Erfolg der Veranstaltung schon in quantitativer Hinsicht in Frage zu stellen, so glaubte Vaysset, das Scheitern der deutschen Saarpropaganda endgültig beweisen zu können, indem er genauer differenzierte: Etwa 70% der reisenden Teilnehmer seien Kinder oder Jugendliche gewesen, sodass maximal 15.000 Abstimmungsberechtigte nach Rüdesheim gefahren seien. Selbst unter den Erwachsenen müsse mit einer größeren Zahl von Personen gerechnet werden, die sich erst nach 1919 im Saargebiet niedergelassen hätten. Angesichts der immensen investierten Geldmittel hätte man eine weitaus größere Beteiligung aus dem Saargebiet erwarten können.30 Aus naheliegenden Gründen zweifelten französische Kommentatoren den erhabenen Charakter der Kundgebung an: Der „einfache“ Saarländer habe sich anstatt um das Denkmal, dessen Plateau ohnehin für die offiziellen Gäste reserviert gewesen sei, im Schatten der umliegenden Bäume um eine Flasche Wein versammelt. Zahlreiche französische Blätter unterstellten den Teilnehmern gar eine niedere Gesinnung: Die saarländischen „Pilger“ seien in erster Linie wegen der Festgelage und Unmengen an Delikatessen an den Rhein gekommen. Kaum den Zügen entstiegen, hätten sie sich umgehend Alkoholexzessen hingegeben. Nach je26 Vgl. „Volksstimme“ Nr. 195 (23.08.33) und Nr. 197 (25.08.33). 27 Vgl. Saar-Freund 14 (1933) 18, S. 336. von Puttkamer (Anm. 17, S. 92) sprach sogar von insgesamt 200.000 Teilnehmern. 28 Die Vorbereitungen zur Tagung waren schon seit Monaten beobachtet worden: Vgl. Rapport des Commissaire Spécial de Boulay an den Sous-Préfet (21.07.33), in: AN, F7 13.472. Vgl. auch die Pressemeldungen der Agence Havas (10.08.33 und 18.08.33), in: PA AA, II a Saargebiet, R 76.095. 29 Vgl. Brief Vayssets an das französische Außenministerium (26.08.33), in: MAE, Sarre 281. Unabhängig von seinen Kalkulationen meldete auch der Commissaire Spécial de Sarreguemines seinem Sous-Préfet am gleichen Tag eine identische Größenordnung (26.08.33, in: AN, F7 13.472). Französische Zeitungen übernahmen diese Angaben mit nur geringfügigen Variationen: Vgl. Pressemeldung der Agence Havas (27.08.33), in: MAE, Sarre 281; „Le Temps“ (28.08.33); „Eclaireur de Nice et du Sud-Est“ Nr. 245 (02.09.33). 30 Vgl. Briefe Vayssets (26.08.33) und Morizes (28.08.33) an das französische Außenministerium, in: MAE, Sarre 281. Auch die Autoren der späteren Einheitsfront waren bemüht, die Zahl der saarländischen Besucher zu relativieren und sie auf den Druck zurückzuführen, der auf die Saarbevölkerung ausgeübt worden war: Vgl. Regler, Gustav, Im Kreuzfeuer. Ein Saar-Roman, Paris 1934. Ndr. Hildesheim 1978, S. 196, 271–274 und S. 286.
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dem Festredner sei ein neues Glas geleert worden. Somit erschien die Kundgebung in den Berichten der französischen Zeitungen als hemmungslose Orgie mit politischer Fassade.31 Auch in seinem offiziellen Bericht über die Vorbereitungen zur Tagung hob das französische Mitglied der Regierungskommission den Ausflugscharakter hervor: Für die Saarländer sei es äußerst reizvoll, nahezu kostenlos eine Reise an den Rhein zu unternehmen. Erwachsene zahlten lediglich 30 Francs, Kinder und Jugendliche die Hälfte, während Arbeitslose und Kriegsbeschädigte Freifahrt genössen.32 Unbeschadet dessen, dass die Teilnehmerzahlen heruntergerechnet, die organisatorischen Mängel kritisiert, der Sinn und Zweck der Tagung in Frage gestellt und die verbalen Ausfälle Simons, Spaniols und Rusts von französischer Seite bewusst überinterpretiert wurden, belegt das breite Presseecho, dass die Niederwaldkundgebung dort ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Insbesondere das Bekenntnis Hitlers zur Verständigung mit Frankreich fand rege Beachtung.33 Die beiden Gegenveranstaltungen der KPD-Saar in Saarbrücken und der SPDSaar in Neunkirchen zeigen, dass die im Reich bereits verbotenen Linksparteien der deutschen Saarpropaganda das Feld nicht kampflos überlassen wollten. Schon Tage vor dem großen Kräftemessen gab sich Max Braun in der „Volksstimme“ siegessicher: Auch wenn er ein Verbot der Sonderzüge durch die Regierungskommission für angemessen halte, plädiere er dafür, die Saarländer an den Rhein fahren zu lassen. Schließlich würden die Kontakte mit der einfachen Bevölkerung am Rhein dafür sorgen, dass die Saarländer dem neuen Regime anschließend kritischer gegenüberständen.34 Braun irrte sich kolossal, sollte er wirklich geglaubt haben, die Tagung werde zu einem ernüchternden Erlebnis für die Saarländer werden. Alle Besucher – gleich welcher Veranstaltung an der Saar oder am Rhein – wurden in ihren Erwartungen bestätigt: Die Antifaschisten erfuhren in Saarbrü31 Schon im Vorfeld hatte die französische Agence Havas vor allem die unterhaltenden Elemente der Tagung wie die Sportveranstaltungen, die Musikdarbietungen oder die Mitwirkung der Chöre betont (19.08.33), in: PA AA, II a Saargebiet, R 76.095. Vgl. „L’Intransigeant“ (28.08.33, 29.08.33 und 30.08.33); „La Liberté“ (28.08.33). Vgl. ebenfalls Jean Revires Polemiken im „Figaro“ Nr. 242 (30.08.33), Nr. 243 (31.08.33) und Nr. 248 (05.09.33). 32 Vgl. Brief Morizes an Außenminister Paul-Boncour (10.08.33), in: MAE, Sarre 281. Seine Beobachtung war keineswegs aus der Luft gegriffen: Der Großteil der 15.000 Saarländer, die ihre Reise an den Rhein nicht selbst bezahlen konnten oder wollten, knüpfte seine Teilnahme an die Bedingung, dass die Kosten vollständig von dritter Seite übernommen würden: Vgl. Telefonnotiz der GSV (29.07.33), in: BA-R 8014/100. 33 Vgl. Brief der Deutschen Botschaft Paris an das AA (15.09.33), in: PA AA, II a Saargebiet, R 76.096; Telegramm François-Poncets an Ministerpräsident Daladier (29.08.33), in: MAE, Sarre 281. Vgl. Reaktionen der Presse in: Saar-Freund 14 (1933) 18, S. 340f.; Saar-Freund 14 (1933) 19, S. 365f. 34 Vgl. „Volksstimme“ Nr. 189 (16.08.33). Am Tag selbst stellte Braun die beiden Veranstaltungen gegenüber: „Am Niederwalddenkmal wird demonstriert für: Unterdrückung, Ausbeutung, Krieg, Mord, Sklaverei, Elend, Not, Knechtschaft, Muckertum, Feigheit, Gleichschaltung, Terror, mit einem Wort Faschismus. In Neunkirchen demonstriert das klassenbewußte Proletariat für: Menschenrechte, gegen Unterdrückung, Ausbeutung, Krieg, Mord, Sklaverei, Not und Elend. Für Freiheit und Recht. Mit einem Wort für den Sozialismus.“ Vgl. „Volksstimme“ Nr. 198 (26.08.33).
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cken und Neunkirchen moralische Stärkung ihrer Positionen, während denjenigen, die sich über Saargebietsgrenzen begeben hatten, ein beeindruckendes Spektakel geboten wurde. Die Vorstellung, dass ein noch unentschlossener Besucher erst durch derartige Veranstaltungen überzeugt wurde bzw. gar in das andere politische Lager wechselte, zeugt von einer gewissen Realitätsferne. Lediglich eine schwach besuchte Veranstaltung hätte in diese Richtung wirken können – ein weiterer Grund, weshalb es in erster Linie auf die äußere Form der Kundgebungen und nicht auf die Inhalte der Redebeiträge ankam. Wer eine nationale Feier mit dem neuen Reichskanzler am Rhein erleben wollte, sah ohnehin über die von der gegnerischen Seite überbetonten Unannehmlichkeiten35 gerne hinweg: Vielmehr legen die Ausführungen Brauns über angebliche Wucherpreise bei der Verpflegung ein deutliches Zeugnis dafür ab, wie ratlos die saarländische Sozialdemokratie nach der Niederwaldtagung war. Durch Karikaturen oder Spottverse in der „Volksstimme“ versuchte sie, ihre Konfusion zu kaschieren: „Die Niederwald-Kundgebung“ Zum Saarland sprach am Niederwald Der Hitler: Liebe Brüder, bald Kommt für Euch die schöne Zeit, Fürs ‚dritte Reich‘ halt Euch bereit. Nun die Rechte hoch und schwört Laut, daß alle Welt es hört, Schwört, und mag die Welt auch lachen: Hitler wird uns frei einst machen! Und jetzt singt das schöne Lied, Wie’s Euch nach der Heimat zieht!
Singt mit Inbrunst und Verstand, Singt vom deutschen Vaterland. Dann gibt’s Erbssupp, warme Wurst, Kaltes Bier auch für den Durst, Marschmusike, Freifahrtschein: O, wie herrlich ist’s am Rhein! Doch ich hört durch alles Singen Furchtbar in den Ohren klingen, Tausendfältig Marter-Schreien: Wann wird Deutschland man befreien?“36
In den Tagen vor und nach den Kundgebungen wurde die Auseinandersetzung zwischen den Niederwaldfahrern und Besuchern der beiden Gegenveranstaltungen vielfach auf der Straße ausgetragen. Diejenigen, die nicht an den Rhein pilgern konnten oder durften, waren aufgefordert, ihre Verbundenheit durch Beflaggung der Häuser zu zeigen. Nach Ansicht des „Saar-Freund“ sei das Saargebiet infolgedessen ein rauschendes Fahnenmeer und üppig geschmückt mit nationalsozialistischen Symbolen gewesen.37 Um auch über den Besucherkreis hinaus in das Saargebiet auszustrahlen, rief die Geschäftsstelle „Saar-Verein“ dazu auf, am Tag der Kundgebung allerorten die Festabzeichen zu tragen, die über die saarländischen Vereine und Verbände zu beziehen waren.38 Während der Kirmes in Püttlingen 35 36 37 38
Vgl. „Volksstimme“ Nr. 204 und Nr. 205 (02.09.33 und 03.09.33). „Volksstimme“ Nr. 202 (31.08.33). Vgl. Saar-Freund 14 (1933) 18, S. 320. Vgl. Saar-Freund 14 (1933) 15, S. 247. Nach offizieller Lesart waren die Gelder für die Tagung bis auf den letzten Centimes aus freiwilligen Spenden sowie durch den Verkauf dieses
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zahlten einige Sympathisanten dafür einen hohen Preis: Sie wurden wegen ihres Abzeichens gewaltsam aus dem dortigen Volkshaus entfernt und misshandelt. Zumindest den Meldungen des Saarlouiser Generalstaatsanwalts zufolge standen die Rückgliederungsgegner ihren Kontrahenten im Sommer 1933 in nichts nach, was ihre Präsenz auf der Straße und Gewaltbereitschaft betraf.39 Der Besuch der Germania ist heute befreit von derartigen Lagerkämpfen und eine gute Alternative, dem Treiben in und um die Drosselgasse zu entgehen. Auch der Aufstieg ist nicht mehr so beschwerlich, ist doch die 1884 errichtete Zahnradbahn schon vor 50 Jahren einer Seilbahn gewichen. Nach zehnminütiger Auffahrt sind es nur noch ein paar Schritte zum Nationaldenkmal. Dort angekommen wird man angesichts des Besucheransturms an manchen Tagen zwar eine erneute Massenkundgebung vermuten, doch bei genauerer Betrachtung sieht man, dass die Heerscharen gar nicht ehrfürchtig zum Denkmalmassiv blicken und der ruhmreichen Tage deutscher Geschichte gedenken: Sie genießen hier oben schlichtweg die Aussicht über die Weinberge und den Rhein. – Germania und Wilhelm I. müssen sich damit abfinden, dass ihnen häufig die Rücken zugewendet werden. Dr. Frank G. Becker, Historiker, Saarbrücken/Wiesbaden
Festabzeichens aufgebracht worden: Vgl. Saar-Freund 14 (1933) 18, S. 336. 39 Vgl. 20.–22. Bericht des Generalstaatsanwalts, in: Arch. SDN, C 338/140. In den meisten Fällen ging es allerdings nicht so brutal wie in Püttlingen zu, sondern wurden einzelne Personen wegen des Anbringens antifaschistischer Parolen an Gebäuden oder auf öffentlichen Wegen verurteilt.
HAMBURGS „FRANZÖSISCHE“ KATHOLIKEN
(KLAUS-J ÜRGEN MÜLLER)
Wer, von der Nordsee kommend, die Elbe nach Hamburg hinunterfährt, erblickt lange vor Einfahrt in das Hafengebiet das Wahrzeichen der Hansestadt, den auf einer Anhöhe über der Elbe aufragenden Turm der barocken Hauptkirche St. Michael, den „Großen Michel“, wie ihn die Hamburger nennen.1 Nicht allzu viele Hamburger dagegen kennen den einige Hundert Meter davon landeinwärts gelegenen „Kleinen Michel“, die katholische Kirche St. Ansgar. Und nur wenige der heutigen Zeitgenossen wissen, dass diese Kirche bis heute eine besondere Verbindung zu Frankreich hat. Napoleon war es, der den Hamburger Katholiken die Religionsfreiheit brachte und ihnen diese kleine Kirche überließ.2 Zuvor war die lutherische Konfession offizielle Staatsreligion in Hamburg gewesen, allen anderen Konfessionen war die öffentliche Religionsausübung verboten. Selbst das sogenannte Toleranzedikt von 1785 gestattete Katholiken und Reformierten lediglich eine nicht-öffentliche „Privat-Religionsausübung“ innerhalb eines unauffälligen „Bethauses“. Den Geistlichen dieser Konfessionen war das Tragen von klerikaler Kleidung verboten. Dagegen herrschte in dem unmittelbar an das Hamburger Staatsgebiet angrenzenden, der dänischen Krone zugehörigen Altona Religionsfreiheit. Daher (und nicht wegen der heute dort befindlichen Vergnügungsmeile) rührt der dortige Straßenname „Große Freiheit“. In dieser Straße befindet sich die schöne, zwischen 1718–1723 errichtete und noch erhaltene Barockkirche St. Joseph, die für die Hamburger Einwohner katholischen Glaubens die nächstgelegene katholische Kirche war.3 In Hamburg dagegen durften sie lediglich die in der kaiserlichen Gesandtschaft, also auf exterritorialem Gebiet, befindliche Kapelle benutzen.4 Die Gesandtschaft lag nur einige Meter von der lutherischen Hauptkirche St. Michael entfernt5 und er1 2
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Haas, Diether, Der Turm. Hamburgs Michel. Gestalt und Geschichte, Hamburg 1986. Zum Folgenden vgl. Schmidt, Burghart, Hamburg im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons (1789–1813), 2 Bände, Hamburg 1998 (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, Band XV); Linkemeyer, Carl, Das katholische Hamburg in Vergangenheit und Gegenwart, Hamburg 1931 sowie Wilken, Holger, Die katholische Gemeinde in Hamburg vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1963, Diss. Phil. Hamburg 1997 (Microfiche); ders., Katholische Bevölkerung und katholische Gemeinden im Raum Hamburg: Größe und Zusammensetzung, in: Jürgen Wätjer, Aufbau und Entwicklung katholischer Kirchenverfassung in Schleswig-Holstein seit der Reformation, S. 243–259, Husum 1995. Zuvor war dort eine kleinere Kirche erbaut worden, deren Errichtung der dänische König Frederik III. nach Intervention des französischen Gesandten de Terlon genehmigt hatte. Weitere Kapellen, die den Hamburger Katholiken zum Gottesdienstbesuch offen standen, waren die der königlich-französischen und der königlich-spanischen Gesandtschaft, die eine in der Fuhlentwiete, die andere in der Reichenstraße. Die Gesandtschaft befand sich am Kraienkamp.
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regte, da Orgelspiel, Gesang und Predigt aus der Kapelle auf der Straße hörbar waren, oft Anstoß bei der lutherischen Geistlichkeit. Diese stachelte die Bevölkerung immer wieder durch ihre Predigten gegen die „papistischen Manifestationen“ auf.6 Der kaiserliche Gesandte plante daraufhin den Neubau einer Kapelle, die von der Straßenseite abgewandt auf den Gesandtschaftsgarten hin gelegen sein sollte. Am 20. August 1719 jedoch rottete sich der durch antikatholische Hasspredigten gewisser Pastoren aufgehetzte Pöbel zusammen, stürmte, plünderte und zerstörte unter den Augen der untätig bleibenden Polizei die Kapelle und erhebliche Teile der Gesandtschaft einschließlich der Wohnräume des gerade abwesenden Gesandten, des Grafen Metsch. Der Kaiser verlangte für den an seinem diplomatischen Vertreter und damit an seiner kaiserlichen Majestät verübten Frevel eine kniefällige Entschuldigung durch eine prominent zusammengesetzte Senatskommission in Wien. Hamburg musste außerdem eine hohe Geldstrafe zahlen und für die angerichteten Schäden finanzielle und materielle Wiedergutmachung leisten. Der Senat der Hansestadt überließ daraufhin der Gesandtschaft das Görtzsche Palais als Residenz. Das Bauwerk, noch heute erhalten und in der Straße „Am Neuen Wall“ gelegen, war eines der schönsten Hamburger Stadtpalais.7 In diesem schlossartigen Gebäude führte eine breite Freitreppe zu einer in einem einstigen Prunksaal eingerichteten repräsentativen Kapelle. Zwei Geistliche hatten in der Residenz ihren Wohnsitz. In der Zwischenzeit – bis zum Bezug des Görtzschen Palais 1722 vergingen wegen der notwendigen Umbauten, aber auch wegen rechtlicher Probleme drei Jahre – bot der französische Gesandte den katholischen Hamburgern Asyl. Die französische Diplomatie hatte sich bereits früher als deren „besonderer Freund und Beschützer“8 gezeigt. Als die kaiserliche Gesandtschaft 1643 für einige Jahre Hamburg verließ, war der französische Gesandte de Meullen eingesprungen. Er hatte ein größeres Haus als Residenz gemietet und darin nicht nur eine gut ausgestattete Kapelle eingerichtet, sondern auch eine Wohnung für einen Seelsorger, den Jesuitenpater Schacht, für dessen Unterhalt er zudem sorgte. Ein französischer Gesandtschaftsgeistlicher gehörte zur offiziellen Belegschaft der diplomatischen Vertretung; er beteiligte sich jedoch auch an der Seelsorgearbeit für die Hamburger Katholiken. Der französische Gesandte verstand es schließlich, amtliche Proteste des Hamburger Senats gegen die Fortsetzung katholischer Gottesdienste nach der zeitweiligen Auflösung der kaiserlichen Gesandtschaft diplomatisch geschickt abzubiegen. Der Senat forderte, man solle nicht so vielen Besuchern Zu6
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In größerem historischen Zusammenhang sind diese Vorfälle wohl als Ausläufer der sozialen und politischen Unruheperiode der Hamburgischen Geschichte um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zu sehen, die erst nach Eingreifen einer kaiserlichen Kommission unter dem Grafen Hugo Damian von Schönborn zwischen 1708 und 1712 und mit der verfassungsrechtlichen Neuordnung vom 4. 6. 1710 und 13. 10. 1712 eingedämmt werden konnten: Vgl. Loose, Hans-Dieter, Das Zeitalter der Bürgerunruhen und der großen europäischen Kriege 1618–1712, in: Werner Jochmann u. Hans-Dieter Loose (Hrsg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Band 1: Hans-Dieter Loose (Hrsg.), Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, Hamburg 1982, speziell S. 269–287. Heute trägt es die Nr. 86 und beherbergt staatliche Behörden. Vgl. Linkemeyer (Anm. 2), S. 249.
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tritt zur Kapelle gewähren und vor allem nur in französischer Sprache predigen lassen; zeitweilig ließ er dies sogar durch Polizeieinsatz kontrollieren. Derartige Behinderungen wiederholten sich. Nach dem Tod Kaiser Karls VI. (am 20.10.1740) erklärte der Hamburger Senat die Gesandtschaft bis zur Wahl und Inthronisation eines neuen Monarchen9 für erloschen; die Kapelle wurde geschlossen und versiegelt. Dasselbe wiederholte sich nach dem Tod des nur drei Jahre regierenden Karls VII. Beide Male trat der französische Gesandte für die Hamburger Katholiken ein und öffnete ihnen seine Residenzkapelle. So begründete er eine Tradition französischer Schutzhoheit über die Hamburger Katholiken. Entscheidende Veränderungen der Lage brachten die durch die Französische Revolution und Napoleon ausgelösten ganz Europa erfassenden Erschütterungen. Ab 1792 kamen in zunehmender Zahl Flüchtlinge, vielfach Adlige und eidverweigernde Priester, auch nach Norddeutschland.10 Die meisten ließen sich wegen der größeren Liberalität in Altona und nicht auf Hamburger Staatsgebiet nieder – so etwa der Bischof von Metz, Kardinal Montmorency und der Bischof von Chalons, Graf de Clermont, sowie General Dumouriez mit seinem Adjutanten César Claude de Rainville.11 Aber manche kamen auch nach Hamburg.12 Sie ließen die Zahl der Katholiken sprunghaft ansteigen. Das Jahr 1806 brachte für Hamburg einschneidendeVeränderungen, ausgelöst durch die von Frankreich ausgehenden Erschütterungen.13 Am 6. August 1806 legte Kaiser Franz die römische Kaiserkrone nieder. Damit erlosch auch die kaiserliche Gesandtschaft in Hamburg. Das Görtzsche Palais fiel an den Hamburger Staat zurück. Entgegen den anfänglichen Befürchtungen der katholischen Gemeinde durften die Katholiken jedoch die dortige Kapelle weiterhin benutzen. Folgenschwerer war der Einmarsch französischer Truppen unter General Mortier am 19. November 1806. Die halkyonischen Jahre waren vorbei, in denen Norddeutschland im Windschatten der weltpolitischen Ereignisse lag. Es begann eine bis Mai 1814 fast ununterbrochen andauernde französische Herrschaft über die Stadt. Sie sollte erhebliche Auswirkungen auch auf die Hamburger Katholiken haben. Entscheidend war Napoleon Beschluss, das nordwestliche Deutschland zu annektieren und in das französische Empire einzugliedern. Der Kaiser setzte mit Dekret vom 18. Dezember 1810 eine Regierungskommission ein, welche die Integration durchführen sollte. Hamburg wurde zum 1. Januar 1811 offiziell Teil des französischen Kaiserreiches und Sitz der Präfektur des Departements Bouche de l’Elbe. Das frühere kaiserliche Gesandtschaftsgebäude, das Görtz’sche Palais, wurde Mairie der Stadt. Die Einführung des napoleonischen Verfassungs- und Rechtssystems brachte die Religionsfreiheit und die Gleichberechtigung aller 9 Karl VII. aus dem Haus Wittelsbach wurde am 24.1.1742 inthronisiert. 10 Aus der Fülle der einschlägigen Literatur vgl. Rainer Postel (Hrsg.), Hamburg und die Französische Revolution, Hamburg 1989 und B. Schmid, Kap. 2.1.3. 11 Nach ihm trägt heute noch die Rainville Terrasse ihren Namen, wo er einst auf dem hohen Elbufer ein Lokal eröffnet hatte. 12 Die bekanntesten Flüchtlinge waren u. a. Mirabeau, Lafayette und Charles Maurice de Talleyrand, der 1795 kurz in Hamburg Zuflucht suchte. 13 Zu den außenpolitischen Rahmenbedingungen vgl. Schmidt (Anm.1), Kap. 2.2.
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Konfessionen.14 Inzwischen war die Zahl der Katholiken von rund 3.000 gegen Ende des 18. Jahrhunderts beständig angewachsen. Nach einem Bericht des Kultusministeriums lebten 1813 rund 9.000 Katholiken in der Stadt.15 Hinzu kam eine erhebliche, wenngleich stets wechselnde Zahl katholischer Soldaten von Einheiten aus den verschiedenen Teilen des Empire, welche zunächst als Besatzungstruppe, dann als Garnison fungierten. Zum Militärgottesdienst war man zunächst in die St. Josefskirche nach Altona ausgewichen, da es keine katholische Kirche von angemessener Größe in Hamburg gab. Obwohl die katholische Gemeinde in der Gesandtschaftskapelle hinreichend untergebracht war, befahl der Präfekt aus primär militärseelsorglichen Gründen die Requisition der protestantischen Kleinen Michaeliskirche. Sie war auf den Trümmern einer einige Jahrzehnte zuvor abgerissenen kleinen Vorstadtkirche vom Baumeister Joachim Heinrich Nicolass in spätbarocken Stil errichtet worden und diente als interimistische Aushilfskirche für den Gottesdienst der Gemeinde der Hauptkirche St. Michalis, die durch einen Brand 1750 zerstört worden war.16 Vergeblich erhoben die Protestanten gegen das Dekret Einspruch. Auch die Katholiken benötigten im Grunde keine größere Kirche, nachdem für sie 1805 bereits die während der Französischen Revolution aufgehobene Gesandtschaftskapelle wieder eingerichtet. worden war. Aber die Präfektur und die Militärs fanden diese Kirche, in der zuvor schon für spanische Truppenkontingente katholische Militärgottesdienste abgehalten worden waren, für ihre Zwecke besonders geeignet. Sie konnte bis zu 2.500 Menschen fassen. So wurde am 17. März 1811 ein letzter lutherischer Gottesdienst gefeiert und eine Woche später die Kirche „auf Anordnung des Präfekten und mit Bevollmächtigung des Bischofs von Hildesheim“ durch den deutschen, früher an der kaiserlichen Gesandtschaftskapelle tätigen Jesuitenpater Dominikus Wigandt unter Assistenz des Kaplans Köster auf den Namen des Heiligen Ansgar geweiht.17 Einige Tage später, am 21. März, fand der erste katholische Gottesdienst statt. Messgewänder und liturgische Geräte wurden auf Anordnung der französischen Regierung aus dem Kölner Domschatz entnommen und der Hamburger Gemeinde überstellt. Mit Dekret vom 23. Oktober 1811 verfügte der Generalgouverneur der hanseatischen Departements und Präsident der Regierungskommission Marschall Louis Nicolas Davout, Herzog von Auerstädt, Prinz von Eckmühl: „1. Die sogenannte deutsche Kapelle ist zu einem Ganzen vereinigt mit der katholischen Pfarrkirche in Hamburg. 2. Vermögen und Einkünfte dieser Kapelle werden zur kleinen Michaeliskirche geschlagen…“.18 Des Weiteren ernannte Marschall Davout den vormaligen Aumonier der Gesandtschaft, Abbé de Lievreville, zum Pfarrer der katholischen 14 Über die Auswirkungen auf die protestantische Kirchen- und jüdische Gemeindeverfassung vgl. Schmidt (Anm.1), S. 514ff. 15 Schmidt (Anm.1), S 485. Des Weiteren gab es in Hamburg etwa 6.500 Juden, etwas über 1.000 Reformierte und 126 Mennoniten. 16 Mróz, Margarete, 400 Jahre Kleiner Michel, in: Hamburger Wirtschaftschronik, Bd. 5, 2005, S. 145–148 und Linkemeyer (Anm. 2), S. 376–388. Die Grundsteinlegung erfolgte am 27.8.1754. 17 Mönckeberg, Carl, Geschichte der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1885, S. 412 sowie Linkemeyer (Anm.2), S. 368ff. 18 Schmidt (Anm.1), S. 454 und Linkemeyer (Anm. 2), S. 366.
Hamburgs „Französische“ Katholiken
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Gemeinde in Hamburg. Neben dem französischen Pfarrer amtierten die zwei bisherigen deutschen Seelsorger, nunmehr herabgestuft zu Kaplänen. Damit war der „Kleine Michel“ sowohl französische Garnisonskirche als auch Pfarrkirche der Hamburger Katholiken. In dieser Kirche wurden, solange Hamburg eine Stadt des französischen Kaiserreiches war, auch die staatlichen Feste gefeiert, wie z.B. schon einige Tage nach der Gemeindekonstituierung ein großer Gottesdienst zur Feier der Geburt und der Taufe des Königs von Rom, Napoleons Sohn, oder am 12. Dezember der Krönungstag des Kaisers sowie am 6. Dezember 1912 ein feierliches Tedeum anlässlich der Einnahme Moskaus. Als die Russen unter dem bald zum General beförderten Oberst von Tettenborn19 Hamburg für einige Monate eroberten, plünderten Kosaken die Wohnung des französischen Pfarrers, der sich mit Hilfe des deutschen Kaplans verstecken konnte. Nach der Wiedererrichtung der napoleonischen Herrschaft im Herbst 1913 brach eine Typhusepidemie aus, der der Abbé de Lievreville und einer der Kapläne zum Opfer fielen. Im Mai 1814 wurde Hamburg endgültig von französischer Herrschaft befreit. Zwar schaffte man viele der modernen französischen Rechtseinrichtungen wieder ab; aber den nicht-lutherischen Konfessionen wurde im Vergleich zu den Regelungen des Toleranzediktes von 1785 ein größeres Maß an Religionsfreiheit eingeräumt, u.a. standen öffentliche Ämter bis in die Regierung hinein auch Nicht-Lutheranern offen. Allerdings versuchten die Lutheraner, ihre alten Rechte auf die kleine Michaeliskirche wieder geltend zu machen. Der bis 1824 schwelende Rechtsstreit wurde schließlich vom Senat durch eine ebenso elegante wie großzügige Lösung beendet: Die Hamburger Regierung kaufte der protestantischen Gemeinde für 30.000 Mark Banko die Kirche mit einem etwas reduzierten Grundstück ab und überließ sie den Katholiken gegen eine Zahlung von 5.000 Mark „so lange zum Eigentum, als die katholische Gemeinde sich einer auf diesem Platze stehenden Kirche zu ihren gottesdienstlichen Versammlungen bedienen wird.“20 Fortan blieb der „Kleine Michel“ eine katholische Pfarrkirche. Die traditionelle Verbindung zu den „französischen Ursprüngen“ der katholischen Gemeinde dauert mehr als nur symbolisch bis in unsere Tage: An dieser Kirche war hinfort neben dem deutschen Pfarrer auch ein französischer Geistlicher tätig, der sich um die in der Hansestadt ansässigen oder beruflich sich hier länger aufhaltenden Katholiken kümmern sollte. Ganz materiell-konkret schlug sich die historische Verbindung mit Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg in der großzügigen Hilfe der französischen Nation nieder. Die kleine Michaeliskirche war in den schweren britischen Bombenangriffen während der „Operation Gomorrha“ nahezu vollständig zerstört worden. Durch Vermittlung des Gründers der Pax-Christi-Bewegung Bischof Théas von Lourdes und des französischen Ge19 Friedrich Karl Freiherr von Tettenborn (1778–1845), badischer Herkunft, erst in österreichischen, ab 1812 in russischen Diensten, seit 1818 badischer Militär und Diplomat, u.a. badischer Gesandter in Wien. 20 Überlassungsdekret vom 21. Januar 1825, zit. nach Linkemeyer (Anm.2), S. 376; vgl. auch Mönckeberg (Anm.17), S. 468: Aus privaten Spenden erhielt die kath. Gemeinde noch ein Grundstück für ein Pastorat .
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neralkonsulates in Hamburg kam eine bedeutende Aufbauhilfe der französischen Katholiken zustande.21 Die Hälfte der Baukosten konnte dadurch gedeckt werden.22 Zudem war der Wiederaufbau das gemeinsame Werk eines deutschen Architekten Gerhard Kamps und seines französischen Kollegen Jean-Charles Moreux aus Paris. An diese Aufbauhilfe aus Frankreich erinnert noch heute eine große Tafel an der nördlichen Außenseite der Kirche. Die Inschrift erklärt: „Durch das Zusammenwirken der französischen Katholiken mit den Katholiken in Hamburg ist es möglich geworden, die bei den Bombenangriffen zerstörte Kirche des Heiligen Ansgar wieder zu errichten. Der Wiederaufbau begann im Jahre 1953 dem 800. Todesjahr des Hl. Bernhard von Clairvaux und wurde vollendet im Jahre 1953 dem 1090. Todesjahr des Hl. Ansgar.“ Die Inschrift hält weiterhin fest, dass fortan Bernhard von Clairvaux, der im 11. Jahrhundert ein „großer geistiger Erneuerer“ der Kirche in Deutschland und Frankreich war, neben dem Heiligen Ansgar Namenspatron der Kirche sein soll. Mit dieser gemeinsam wiedererrichteten Kirche – so fährt die Inschrift fort – besitze „Hamburg ein würdiges Denkmal friedvoller Annäherung zwischen den beiden Nationen. Möge von dieser Gottesstätte für beide Völker ein großer Segen ausgehen.“ Als gleichsam personales Symbol der engen Verbindung zwischen Frankreich und Deutschland schloss der Bischöfliche Stuhl der Diözese Osnabrück, zu dem Hamburg damals gehörte, ein Abkommen mit der französischen Bischofskonferenz, auf Grund dessen neben dem deutschen Pfarrer fortan auch ein französischer Abbé an dieser Kirche als Seelsorger für frankophone Katholiken in Hamburg (Mission Catholique Française) amtieren sollte. Erster französischer Priester nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ab 1958 der aus der Mission Catholique Ouvrière stammende Abbé Jean Donnier. Ihm folgten die Abbés Raymond Demarche (1984–1999) und Robert Rinetti (2000–2007) sowie seither der Jesuitenpater Leblanc.23 Durch die Kriegsereignisse der napoleonischen Zeit und des Zweiten Weltkrieges wurde so in Hamburg über alle Wechselfälle der Geschichte, über Krieg und Notzeiten hinweg eine kleine deutsch–französische Traditionslinie bis in unsere Tage begründet, deren Anfänge gar bis in die vorrevolutionäre Epoche zurückreichen. Prof. Dr. Dr. h.c., Klaus-Jürgen Müller, Professor (em.) für Neuere Geschichte, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg
21 Unveröff. Manuskript (2005) „Handbuch des Erzbistums Hamburg“, Kap. Fremdsprachliche katholische Gemeinden in Hamburg, dem Verf. freundlichst von Msgr. Schmidt-Eppendorf, Vorsitzender des Vereins für Kirchengeschichte Hamburgs, zur Verfügung gestellt. 22 Information hierzu und zum Folgenden verdanke ich den Herren Msgr. Wilm Sanders, ehemaligem Pfarrer der St. Ansgar-Gemeinde, und Msgr. Schmidt-Eppendorf. 23 Unveröff. Manuskript (2005) „Handbuch des Erzbistums Hamburg“ und „Rektor Abbé Jean Donnier, Seelsorger der Franzosen“, in: Kirche am Strom, Nr. 30 vom 28. 7. 1963, sowie „Französische Katholiken in Hamburg“, in: Kirche am Strom, Nr. 2 vom 11. 1. 1970.
Hamburgs „Französische“ Katholiken
Tafel an der Nordseite der Kirche St. Ansgar
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DER „TRAIN MILITAIRE FRANÇAIS DE BERLIN“ (1945–1994) SEISMOGRAF AUF SCHIENEN (UTA BIR KEMEYER UND HELMUT TROTNOW)
Dienstag, 12. Mai 1987. Es ist später Nachmittag. Auf dem Bahnsteig des kleinen französischen Bahnhofes in Berlin–Tegel drängen sich Angehörige der französischen Streitkräfte mit ihren Familien und Freunden. Um 17.10 Uhr fährt der „Train militaire français de Berlin“ ab. Gut 800 Kilometer wird der Zug zurücklegen und nach 13 Stunden seinen Zielbahnhof im französischen Strasbourg erreichen. Abschied nehmen ist immer schwer. Ganz besonders gilt dies für die jungen Franzosen, die ihren Wehrdienst in Berlin absolviert haben. Manch einer von ihnen lässt sein Herz in der Stadt zurück, wie die Blicke der jungen Berlinerinnen verraten, die ebenfalls zum Abschiednehmen gekommen sind. Den Zug besteigen dürfen sie nicht, da deutschen Staatsangehörigen in Berlin der Zutritt verboten ist. Doch auch die französischen Fahrgäste müssen sich einer strengen Kontrolle unterziehen, bevor sie einen der acht Waggons betreten dürfen. Der Zugkommandant und zwei Soldaten der französischen Gendarmerie kontrollieren die Reisedokumente. Dies sind keine normalen Fahrkarten, sondern Reisebefehle – ausgestellt in den Sprachen Französisch, Englisch und Russisch.
Der französische Militärzug einige Minuten vor seiner Abfahrt in BerlinTegel, achtziger Jahre. ECPAD, Frankreich
Was auf den ersten Blick befremdlich wirken mag, erweist sich bei näherem Hinsehen als Routineveranstaltung mit einer langen Geschichte. Seit dem 6. Dezember 1947 fahren französische Militärzüge jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag vom „Gare française Berlin-Tegel“, wie der kleine Bahnhof offiziell heißt, ab.
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Die Rückkehr erfolgt donnerstags, samstags und montags. Jeweils morgens um 7.48 Uhr werden die ankommenden Fahrgäste traditionell über Lautsprecher mit dem Lied von der „Berliner Luft“ begrüßt. Genau genommen verkehrten die Militärzüge zwischen Berlin und Frankreich sogar schon im Herbst des Jahres 1945. In den ersten beiden Jahren musste die Abfahrt jedoch vom Bahnhof BerlinWannsee im amerikanischen Sektor erfolgen. Innerhalb von sechs Monaten errichteten die französischen Pioniere im Jahre 1947 das Abfertigungsgebäude im Herzen des französischen Sektors und erneuerten die Schienen des alten Tegeler Bahnhofes. Mit der Inbetriebnahme des Bahnhofes konnte eine direkte Verbindung zwischen der französischen Militärverwaltung in Berlin und dem deutschen Hauptquartier der französischen Streitkräfte in Baden-Baden hergestellt werden. Was hat es mit diesem französischen Militärzug auf sich, der fast ein halbes Jahrhundert lang zwischen Berlin und Frankreich hin- und herpendelte? Wie kam es zu seiner Einrichtung, und wer war dafür verantwortlich? Auf diese und ähnliche Fragen geben die Sammlungsbestände zu den alliierten Militärzügen und die Tonbänder mit Zeitzeugeninterviews im AlliiertenMuseum einige Antworten. Besonders eindrucksvoll schildert Emmanuel Bréart, der fast 30 Jahre lang als „Barmann“ im Restaurantwaggon des Zuges gearbeitet hat, die oftmals turbulenten Fahrten zwischen dem französischen Sektor in Berlin und der französischen Heimat. Die Ursprünge des französischen Militärzuges reichen zurück in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Ende November 1943 setzten die Hauptgegner des nationalsozialistischen Deutschland, die sogenannten Großen Drei – USA, Großbritannien und die Sowjetunion –, in London die Europäische Beratende Kommission ein, um Vorschläge zur Zoneneinteilung Deutschlands nach dessen bedingungsloser Kapitulation zu erarbeiten. Die Ergebnisse wurden am 12. September 1944 im Londoner Protokoll festgehalten. Das Territorium des Deutschen Reiches sollte in Besatzungszonen aufgeteilt werden. Die Hauptstadt Berlin wurde als Sonderfall betrachtet. Sie sollte zwar gemeinsam verwaltet werden, doch erhielt jede Besatzungsmacht einen eigenen Sektor. Frankreich wurde am 1. Mai 1945 offiziell in den Kreis der Siegermächte aufgenommen und trat damit den Abmachungen bei. Obwohl die Verhandlungen fast 13 Monate gedauert hatten, war die Frage des Zugangs auf dem Landweg von und nach Berlin ungeklärt geblieben. Ja, sie war nicht einmal gestellt worden. Dabei zeigte der Blick auf die Landkarte, dass Berlin mitten im sowjetischen Besatzungsgebiet liegen würde. Rund 200 Kilometer betrug die Entfernung zu den westlichen Besatzungszonen. Die Sowjetunion vertrat später die Ansicht, dass sie allein entscheiden dürfe, wer sich in ihrem Machtbereich aufhalte. Die Westmächte dagegen verwiesen stets darauf, dass sich ihr Recht auf freien Zugang von und nach Berlin aus dem gemeinsam mit der Sowjetunion errungenen Sieg über Deutschland und der gemeinsamen Besatzung Deutschlands ableite. Die Frage, wie künftig mit dem besiegten Deutschland umgegangen werden sollte, wurde zum Keil, der das Kriegsbündnis spaltete. Zu unterschiedlich waren die Wertvorstellungen der westlichen Demokratien einerseits und der kommunistischen Sowjetunion andererseits. Austragungsort der Differenzen wurde Berlin, wo sich die vier Siegermächte direkt gegenüberstanden. Obers-
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tes Ziel der Sowjetunion blieb es bis zum Schluss, die Allianz der Westmächte auseinanderzudividieren. Konkrete Interessenkonflikte in Bezug auf Berlin oder „Deutschland als Ganzes“ gab es durchaus auch zwischen Frankreich, Großbritannien und den USA. Doch wenn die Werte Freiheit und Demokratie ernsthaft bedroht wurden, rückten sie fest zusammen und integrierten dabei zunehmend auch die von ihnen besetzten Deutschen. Kommen wir zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zurück. Am 10. September 1945, ein halbes Jahr nach der Kapitulation Deutschlands, verständigten sich die vier Siegermächte im Alliierten Kontrollrat darauf, dass zunächst täglich maximal 16 Züge zwischen den westlichen Besatzungszonen und Berlin verkehren dürften. Ob Frankreich, Großbritannien oder die USA, jede der drei Westmächte konnte jeweils einen „Militärzug“ zum Transport von Fahrgästen und Gütern für ihren Besatzungssektor in Berlin einsetzen. Die Hinfahrt erfolgte über die Strecke Helmstedt–Magdeburg–Berlin, die Rückfahrt verlief über Berlin– Stendal–Hannover. Die deutsche Zivilbevölkerung durfte mit einer entsprechenden Genehmigung in den ersten beiden Jahren in den Militärzügen mitfahren. Am 24. Juni 1948 kam jedoch der gesamte Zugverkehr von und nach Berlin zum Erliegen. Die Sowjetunion hatte nicht nur die Schienen, sondern auch die Straßenund Wasserwege gesperrt. Sowohl die militärischen Einrichtungen der Westmächte als auch die Zivilbevölkerung von gut zwei Millionen Menschen standen ohne Versorgung da. Vorboten für die Blockade hatte es durchaus gegeben. Bereits zu Beginn des Jahres 1948 war ein britischer Militärzug elf Stunden lang auf dem Weg nach Berlin festgehalten worden. Ähnliches wiederholte sich am 11. und 12. Februar sowie in der Nacht zum 1. April beim amerikanischen „Duty Train“. Die sowjetische Seite wollte Kontrollen der Passagiere und Frachtgüter durchführen. Die amerikanischen und britischen Zugkommandanten verweigerten ihnen dies und begründeten ihre Haltung mit den freien Zugangsrechten der Westmächte nach Berlin. Im französischen Militärzug wurden zwar am 1. April 1948 die Kontrollen durch sowjetische Soldaten zugelassen, sodass der Zug bis nach Berlin durchfahren konnte. Aber die französische Regierung in Paris wies den Oberkommandierenden der französischen Besatzungstruppen in Deutschland, General Pierre Kœnig, umgehend an, weitere Kontrollen zu untersagen und ebenso wie die Amerikaner und Briten den Verkehr der französischen Militärreisezüge nach Berlin einzustellen. Der Güterverkehr der Westmächte konnte indessen noch bis zum 23. Juni 1948 relativ störungsfrei abgewickelt werden, bis die Sowjetunion die vollständige Blockade über die Landwege verhängte. Sie wurde elf Monate später am 12. Mai 1949 durch einen sowjetischen Befehl wieder aufgehoben. Im Helmstedter Abkommen vom 11. Mai 1949 einigten sich der sowjetische und britische Verhandlungsführer darauf, im Bahnverkehr die Situation wiederherzustellen, wie sie der Alliierte Kontrollrat bereits am 10. September 1945 beschlossen hatte. Allerdings setzte die Sowjetunion durch, dass für den Verkehr in der sowjetischen Besatzungszone Lokomotiven und Zugpersonal der Deutschen Reichsbahn eingesetzt wurden. Am darauffolgenden Tag passierte ein britischer Militärzug als erster die Grenze bei Helmstedt in Richtung Berlin. Fortan verkehrten wieder täglich drei
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Militärreisezüge und 13 Güterzüge zwischen Helmstedt und Berlin. Die Blockade erwies sich für die Sowjetunion als katastrophaler Fehler. Zum einen demonstrierte die westliche Seite, insbesondere die US Air Force und die britische Royal Air Force, dass sie über die technischen Möglichkeiten und Fertigkeiten verfügten, eine Millionenstadt aus der Luft zu versorgen. Zum anderen veränderte sich das Verhältnis der ehemaligen Kriegsgegner. Die besiegten Deutschen begannen mit den siegreichen Westmächten zusammenzuarbeiten. Aus den Feinden des Zweiten Weltkrieges wurden Partner, dann Freunde und schließlich Verbündete. Die Berlinerblockade 1948/49 hat die Westmächte trotz aller Vorwarnungen völlig unvorbereitet getroffen und hinterließ bei den Verantwortlichen die Erkenntnis, dass es nie wieder zu einer solchen Situation kommen dürfe. In diesem Zusammenhang kam den Militärzügen eine äußerst wichtige Rolle zu. Sie verkehrten täglich im sowjetischen Machtbereich und konnten wie eine Art Seismograf mögliche Komplikationen im alliierten Berlin-Verkehr frühzeitig erkennen. Den Hauptquartieren der Westmächte in Berlin wurde jeder noch so kleine Zwischenfall über Funk gemeldet. Für den Fall einer Störung des Funkverkehrs führte der französische Militärzug bis in die sechziger Jahre sogar Brieftauben mit sich. Damit die östliche Seite in Ist-Zeit mitverfolgen konnte, wie die Westmächte mit den Zwischenfällen umgingen, wurde ein offener Funkverkehr eingerichtet. Sollte es tatsächlich zu einem ernsthaften Zwischenfall kommen, der die Entscheidungsbefugnisse des Zugkommandanten überstieg, so lag für den ranghöchsten dienstältesten Offizier in der französischen Garnison ein Umschlag bereit, in dem er aufgefordert wurde, sich die Situation vom Zugkommandanten genau erklären zu lassen und dann eine Entscheidung zu treffen, die in seiner alleinigen Verantwortung lag. Die Beendigung der Blockade machte deutlich, dass sich die Sowjetunion trotz aller Differenzen weiterhin zu ihrer Rolle als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges bekannte. Als sie am 20. September 1955 der Deutschen Demokratischen Republik die Souveränität bestätigte, wurde die Kontrolle des alliierten Berlinverkehrs ausgeklammert. Sie blieb den sowjetischen Truppen in Deutschland vorbehalten. Für die DDR war der alliierte Bahn-Verkehr von Anfang an ein Unsicherheitsfaktor. Auch wenn konkrete Zahlen nicht bekannt sind, so wissen wir doch, dass die Militärzüge der Westmächte mehrfach für Fluchtversuche genutzt wurden. Vor allem junge Akademiker und Facharbeiter waren nicht bereit, sich den Vorgaben des kommunistischen Regimes in Ost-Berlin zu unterwerfen. Stattdessen suchten sie den Weg in den „freien Westen“. Ihre Fantasie schien dabei grenzenlos. So schaffte es am 17. Juni 1984 ein DDR-Bürger, Betonpfähle über die Schienen zu legen. Den außerplanmäßigen Halt nutzte er, um einen britischen Militärzug zu besteigen, der ihn nach West-Berlin brachte. Die Westmächte hatten kein Interesse daran, die Existenz der „blinden Passagiere“ öffentlich zu machen. Über erfolgreiche Fluchten wurde nicht geredet. Wurde ein Fluchtversuch von östlicher Seite tatsächlich bemerkt, dann blieb den Westmächten gar nichts anderes übrig, als den Flüchtling auszuliefern. Der Drehbuchautor und Journalist Will Tremper hat 1963 einen solchen Zwischenfall in seinem Roman „Verspätung in Marienborn“ beschrieben. Nachdem der Fluchtversuch von sowjetischer Seite ent-
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deckt und der amerikanische Militärzug in Marienborn festgehalten worden war, sahen sich die Verantwortlichen auf amerikanischer Seite vor die Frage gestellt, ob sie den ostdeutschen Flüchtling ausliefern oder, im umgekehrten Fall, einen in seinen Folgen nicht abzuschätzenden Konflikt mit der Sowjetunion riskieren wollten. Im Roman fällt die Entscheidung zuungunsten des Flüchtlings aus. Auch den Akten der DDR-Staatssicherheit ist zu entnehmen, dass selbst das Regime in OstBerlin überzeugt war, dass die Westmächte kein Interesse daran hatten, das OstWest-Verhältnis durch derartige Fluchtversuche zu belasten. „Seitens der Besatzer“, heißt es in einem Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit, „besteht kein Interesse, die sichere ungehinderte Durchfahrt durch die DDR durch Außenstehende gefährden zu lassen.“ Neben den strengen Kontrollen vor der Abfahrt des Zuges wurden zusätzlich alle Waggontüren mit Ketten fest verschlossen, um das unbemerkte Besteigen der Militärzüge zu verhindern. Kehren wir zu unserem eingangs erwähnten „Train militaire français de Berlin“ zurück. Er hat sich vor gerade einmal 15 Minuten in Bewegung gesetzt, da muss er bereits wieder halten. Es ist 17.25 Uhr. Wir haben Berlin verlassen und fahren jetzt in die DDR ein. Der Übergangsbahnhof heißt Potsdam-Stadt. Eine nicht gerade friedliche Welt tut sich hier auf. Angehörige der DDR-Transportpolizei sichern das Bahngelände, während sowjetische Soldaten den Zug von außen inspizieren. Die Lokomotive des französischen Militärzuges wird durch ein ostdeutsches Triebfahrzeug ersetzt. Ein Zugführer der Deutschen Reichsbahn steigt zu, während französische Gendarmen in den Gängen des Zuges darauf achten, dass niemand unbefugt den Zug betritt. Dass sich beide Seiten argwöhnisch beobachten, versteht sich von selbst. Seit 1963 hat der französische Zugkommandant Instruktionen, während der Fahrt durch die DDR Beobachtungen praktischer, psychologischer und militärischer Art anzustellen. Auf der Gegenseite ist die Staatssicherheit im Einsatz. Den Akten können wir entnehmen, dass in den achtziger Jahren vier der insgesamt acht Zugführer, die auf den Militärzügen der Westmächte eingesetzt wurden, „inoffizielle Mitarbeiter“ des ostdeutschen Geheimdienstes waren. Sie erstatteten regelmäßig Bericht über das Leben an Bord der Militärzüge und richteten ihr Augenmerk speziell auf eventuelle Kontakt- und Abschöpfungsversuche seitens der Westmächte. Nicht selten wurde der Halt in Potsdam-Stadt für alle Beteiligten zu einer Geduldsprobe. Mal konnte der Zug nicht weiterfahren, weil die Lokomotive oder sogar der Lokführer fehlte. Ein anderes Mal waren die Schienen nicht geräumt oder ein liegengebliebener DDR-Zug blockierte die Strecke. Beschmierungen des Zuges, vor allem mit Hakenkreuzen, führten bei der Einfahrt in die DDR ebenfalls zu Verwicklungen. Seitdem gab es auf dem französischen Militärzug immer etwas Farbe, um die Schmierereien schnell zu übermalen. An den Staatsfeiertagen kam es regelmäßig zu einem längeren Betriebshalt, weil die Zugkommandanten sich weigerten, mit einer Lok mit DDR-Beflaggung zu fahren, so wie es für sämtliche Triebfahrzeuge der Deutschen Reichsbahn an diesen Tagen vorgesehen war. Aufgrund der Erfahrungen vor allem in den frühen Jahren der Nachkriegszeit wurden immer ausreichend Lebensmittel mitgeführt, um bei einem längeren Aufenthalt die Fahrgäste versorgen zu können. Die Verspätungen, für die der französische
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Militärzug aufgrund der außerplanmäßigen Betriebsstopps bekannt war, wurden im französischen Sektor in Berlin über Radio FFB bekanntgegeben. Diesmal ist der Halt tatsächlich kurz. Um 17.58 Uhr beginnt der französische Militärzug seine Fahrt durch die DDR. Die Strecke beträgt 200 Kilometer, für die mehr als vier Stunden eingeplant sind. Rückblickend muss man sagen, dass diese Fahrt eine höchst unangenehme Erfahrung gewesen sein muss. Zum einen trostlos und trist, zum anderen geradezu bedrohlich spannend. Bei Antritt der Reise finden die Fahrgäste in ihren Abteilen bunte Informationsblätter, die sie mit den besonderen Verhaltensregeln während der Fahrt bekanntmachen. Bei einem Halt in der DDR darf sich niemand in den Gängen des Zuges aufhalten. Fotografieren oder gar filmen während der Fahrt ist strengstens untersagt. Türen und Fenster müssen geschlossen bleiben und bei den Stopps in DDR-Bahnhöfen sind die Rollos herunterzuziehen. Und schließlich steht während der gesamten Fahrt ein Mitglied der Zugbesatzung zur Beobachtung an einem geöffneten Fenster. Höhepunkt der Fahrt durch die DDR ist der Aufenthalt in Marienborn. Am Bahnsteig 9 findet die Grenzkontrolle der alliierten Militärzüge statt. Hier prüft das sowjetische Militär die Reisebefehle und vergleicht sie mit den Passagierlisten. Den Zug betreten darf es nicht. Nach dem Halt des Zuges werden die Fenster verschlossen und eine Tür geöffnet. Der Zugkommandant steigt mit dem Dolmetscher aus. Unter dem Arm trägt er in einer Mappe die Reisedokumente. Erwartet wird er von einem sowjetischen Offizier. Beide salutieren und begeben sich in die Kontrollbaracke. Dort werden die Reisedokumente, geordnet nach Waggons, überprüft und gestempelt. Gibt es keine Beanstandungen, erscheinen beide wieder auf dem Bahnsteig, salutieren und der Zugkommandant steigt wieder in seinen Zug ein. Sollte die sowjetische Seite oder ein DDR-Vertreter eine Zollkontrolle des Zuges verlangen, würde dies mit dem Hinweis auf den alliierten Status des Zuges abgelehnt. Mittlerweile ist es 21.35 Uhr. Der Zug verlässt den sowjetischen Machtbereich und fährt einige Kilometer weiter in den Bahnhof von Helmstedt ein, der ursprünglich in der britischen Besatzungszone lag. Die Zollabfertigung erfolgt durch den französischen Zoll, der dort gemeinsam mit dem britischen und amerikanischen Zoll stationiert ist. Der ostdeutsche Zugführer wird durch den westlichen Kollegen der Deutschen Bahn ersetzt. Jetzt dürfen auch deutsche Fahrgäste zusteigen. Diese Regelung kam vor allem dem deutsch-französischen Schüleraustausch und deutsch-französischen Sportveranstaltungen zugute, denn die Nutzung des Militärzuges war kostenfrei. Um 22.04 Uhr verlässt der Zug Helmstedt. Jetzt endlich nimmt der Zug richtig Fahrt auf und passiert in schneller Folge Göttingen, Marburg, Karlsruhe und Baden-Baden. Einige der Gäste wollen sich bei einem Glas Wein entspannen und suchen die Bar im Restaurantwaggon auf. Nicht zuletzt wegen des guten Essens und Trinkens war der französische Militärzug bei den Angehörigen aller Westmächte äußerst beliebt. Danach ziehen sich die Fahrgäste zum Schlafen zurück. Am nächsten Morgen, es ist Mittwoch, der 13. Mai 1987, früh um 6.37 Uhr, fährt der Zug in Strasbourg ein. Hier steigen die Reisenden aus und warten auf ihre Anschlusszüge nach Paris oder in die Umgebung des Elsass. Pünktlich um 19.14 Uhr setzt sich der „Train militaire français de Berlin“
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wieder in Bewegung. Diesmal in Richtung Osten, wo er hoffentlich in 13 Stunden den kleinen Bahnhof Berlin-Tegel wieder erreichen wird. Die Militärzüge der Westmächte haben im Alltag des Ost-West-Konfliktes eine wichtige Rolle gespielt. Zum einen stellten sie sicher, dass die Exklave Berlin mitten im sowjetischen Einflussbereich nicht abgeschottet wurde. Ihr geradezu täglicher Verkehr machte es möglich, dass die Verbindungslinien in den „freien Westen“ mit Leben erfüllt wurden. Als Seismograf stellten sie außerdem sicher, dass die Westmächte nicht ein zweites Mal von einer Blockade überrascht wurden. Zum anderen zwang die Existenz der Militärzüge alle vier Siegermächte, den Dialog miteinander nicht abbrechen zu lassen. Eine militärische Konfrontation wäre die Folge gewesen. Immer wieder haben die Westmächte im Verlauf des Kalten Krieges die Sowjetunion in die Vier-Mächte-Verantwortung für Berlin und Deutschland als Ganzes einbinden müssen. Vor allem Frankreich hielt mit Nachdruck an den Vier-Mächte-Vereinbarungen fest und vermied alles, was der Sowjetunion oder der DDR die Gelegenheit hätten bieten können, diese Absprachen in Frage zu stellen. Gleichzeitig aber, und dies war das Besondere der französischen Berlin-Politik, nutzte Frankreich alle noch so kleinen Handlungsspielräume aus, um unter dem Deckmantel der Vermittlung französischer Sprache und Kultur Kontakte zu den Menschen „vor Ort“ zu knüpfen. Dieses Ziel wurde von der „Mission culturelle“ verfolgt, die in der sowjetischen Besatzungszone Ende der vierziger Jahre die französische Kultur und Sprache verbreitete. Weitere Beispiele sind die Arbeit der französischen Militärmission in Potsdam im Umgang mit den sowjetischen Verbindungsstäben und die Eröffnung des französischen Kulturzentrums in Ost-Berlin im Jahre 1984. Auch der französische Militärzug hatte nicht nur eine politisch-rechtliche Bedeutung, sondern ermöglichte darüber hinaus den direkten Kontakt zu den sowjetischen Streitkräften in Deutschland und zur DDR, er erlaubte Informationen zusammenzutragen und Einfluss zu nehmen. Den Fahrgästen des französischen Militärzuges dürfte in der Regel die politische Brisanz ihrer Reise kaum bewusst gewesen sein. Dass ihnen dabei manches befremdlich, um nicht zu sagen, bedrohlich, vorgekommen sein könnte, ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. Ein Vergnügen war die Reise nicht, aber sie führte immerhin in die französische Heimat. Uta Birkemeyer, wissenschaftliche Mitarbeiterin, AlliiertenMuseum Berlin Dr. Helmut Trotnow, Leiter des AlliiertenMuseum Berlin
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LITERATURANGABEN Johnson, Martin, History of Rail Access to Berlin 1945–1968, Manuskript 1. 10. 1969, Army Historical Program, Headquarters US Army Berlin. Cazorla, Christophe, Un train pas comme les autres: le train militaire français de Berlin (TMFB), in: Helmut Trotnow, Florian Weiss (Hrsg.), Le Musée des Alliés de Berlin ou Berlin et la liberté préservée (1945–1989). Actes du colloque à la Fondation Singer-Polignac le 29 novembre 2002, Berlin 2003, S. 241–251. Bock, Peter, Interzonenzüge. Eisenbahnverkehr im geteilten Deutschland 1945–1990, München 2007.
ZEITZEUGENINTERVIEW Bréart, Emmanuel, Barmann des TMFB von 1963 bis 1994, geführt am 4. Mai 2007 im AlliiertenMuseum.
MIT ZEPTER, KRONE UND BÜNDEL GESCHWIND DAVON KÖNIG JÉRÔMES FLUCHT AUS KASSEL IM JAHRE 1813 (CLAUDIE PAYE)
Mit der Karikatur „Adieu Westphalia“ nahmen die westphälischen Staatsbürger und insbesondere die Kasselaner 1814 endgültig Abschied von ihrem durch Napoleon eingesetzten französischen Monarchen Jérôme, der bereits im Oktober 1813 geflohen war.
Karikatur „Adieu Westphalia“ ( Umrisszeichnung A.H.)
In dieser Etappe der vorliegenden „Tour de France“ wird ein Abstecher in ein untergegangenes Land unternommen, das Königreich Westphalen. Insgesamt stellte
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das westphälische Regnum eine kurze Episode im Leben des von seinen Untertanen als oberflächlich und ‚lustig‘ verspotteten Königs Jérôme dar. Als 1807 tausende Franzosen ins neu gegründete Königreich Westphalen einwanderten, richteten sich diese jedoch auf einen längeren Aufenthalt ein. Die Tatsache, dass sie spätestens im Oktober 1813 fluchtartig das neue Land verlassen sollten, macht diesen Abschnitt europäischer Geschichte zu einer kurzen, wenn auch bedeutungsvollen Episode. Hatten 1807 die Westphalen den Einzug ihres neuen Königs Jérôme, eines Bruders Napoleons, noch mit Huldigungen begleitet, so waren sie 1813 schnell dabei, sich spöttisch und höhnisch von ihrem Souverän zu verabschieden. Die gewählte Karikatur ist für den Wandel der Zeit charakteristisch und ermöglicht, einige der kursierenden Vorstellungen von dem im Volksmund zum König ‚Lustik‘ umgetauften Monarchen zu eruieren. Durch die Rekonstruktion der Verbindungen dieser Karikatur zu anderen Mediensorten werden außerdem einige grundlegende Dynamiken der Kommunikation in der Umbruchszeit von 1813 auf 1814 deutlich. Die Karikatur „Adieu Westphalia“ zeigt König Jérôme, wie er sich mit hastig über die Schulter geworfenem Bündel, Zepter und Krone, mit in der Hand baumelnden Orden und einem Degen am Bund geschwind davon macht. Seine Eile wird durch seine beflügelten Stiefel unterstrichen. Mit wenig Hab und Gut kehrt er somit als einfacher Privatmann ins Heimatland der napoleonischen Familie zurück, so sein unter der Karikatur wiedergegebener Ausruf: „Adieu Westphalia, Ich eil nach Corsica“! Im Folgenden sollen zunächst anhand der Karikatur die Projektionen der Westphalen auf ihren Monarchen unter Berücksichtigung des Kontexts des Jahres 1813 erläutert werden. Mit der Frage, was die Karikatur zeigt und was sie aufgrund der knappen Darstellung übergeht, soll das Jérômebild der Zeitgenossen ermittelt werden. In einem weiteren Schritt soll die Karikatur mit anderen Zeitdokumenten dialogisiert werden, um mögliche Implikationen und Assoziationen, die die vorliegende Karikatur bei den Westphalen auslösen konnte, herauszuarbeiten.1 Damit versteht sich diese historische Miniatur als ein Beitrag über das vielfältige kommunikative Repertoire der Westphalen. Zum Schluss wird anhand der herangezogenen Quellen die These entwickelt, dass die ‚Franzosenzeit‘ nicht allein wegen des modernen Reformcharakters des Modellstaates Westphalen eine Langzeitwirkung in der deutschen Staatenwelt erzielte, sondern dass die Franzosen auch im kulturellen Bereich eine bisher wenig beachtete Hinterlassenschaft zurückließen. Im Zeitrahmen von Ende September bis Ende Oktober 1813 kam es innerhalb kürzester Zeit zweimal zum fluchtartigen Aufbruch Jérômes und seiner Staatsdiener aus der Hauptstadt Kassel. Bereits Ende September flüchteten sie Richtung 1
Über die Kontextualisierung und Dialogisierung als Untersuchungsmethoden in der mikrohistorischen Analyse, vgl.: Medick, Hans, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte, Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Hrsg. v. Berliner Geschichtswerkstatt, Münster 1994, S. 94–109, hier S. 97ff.
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Rhein als einige Kosaken sich der Stadt näherten. Der General J. A.f. Allix kehrte jedoch wenig später als Vorbote seiner Majestät nach Kassel zurück. Auch Jérôme erschien kurz darauf wieder (13. Oktober) bevor er, von der königlichen Garde begleitet, am 26. Oktober erneut die Flucht ergriff.2 König Jérôme war in den Augen seiner Untertanen nicht nur übermäßig ‚lustik‘ aufgelegt, und damit wenig verantwortungsvoll, er wurde auch des Öfteren als sehr ängstlich dargestellt.3 So gesehen waren seine Flucht im Herbst 1813 nicht die erste seiner Regierungszeit. In der Satire „Jeromiade“ von Karl Scheller verlässt „Jerum“, die imaginierte Figur des Königs Jérôme, fluchtartig Braunschweig, weil er sich vor der angeblichen Erscheinung des Gespenstes des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg-Oels fürchtet.4 Zeitzeugen zufolge soll er auch in Kassel gehörig Respekt vor dem vermeintlichen Gespenst des Kurfürsten von HessenKassel gezeigt haben.5 Von seinen militärischen Verdiensten hielt man ebenfalls nicht viel: als Napoleon 1812 in Polen seinen Truppenanmarsch auf Russland vorbereitete, soll Jérôme kurzerhand nach Hause zurückgekehrt sein.6 Ihr Urteil über ihren abergläubischen und vor der Verantwortung fliehenden Monarchen hatten die Westphalen lange vor 1813 gefällt. So war die Königsflucht als höchste Blamage eines Monarchen aus der Perspektive seiner Untertanen im Fall König Jérômes schon fast eine Gewohnheit. Regelmäßig kursierten Gerüchte, er wolle dem Thron entsagen.7 Seine Abreisen sind ein wiederkehrendes Motiv in den Gerüchten über die königliche Majestät.8 Ein weiterer Aspekt, den die Karikatur transportiert und der auf eine andere Facette des Jérômebilds der Westphalen zurückzuführen sein könnte, ist seine Darstellung als eine Art Wandergeselle. Von Napoleon vor der westphälischen Episode, angeblich zur Festigung seines jugendlichen Charakters, zur Marine geschickt, reiste er nach Indien, besegelte das Mittelmeer, ließ sich eine Zeitlang in Nordamerika, in Baltimore, nieder, wo er als Handelskommis in einem Kontor diente, und bereiste außerdem die Antillen. Das Bild von Jérôme, der zu Fuß nach Korsika eilt, passt zu seiner Mobilität, die ihm aus der Sicht seiner Untertanen eher den Hauch eines Abenteurers als den eines Welteroberers verlieh.
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Vgl. u. a. Niemeyer, Anton, Casselsche Chronik vom acht und zwanzigsten September 1813 bis zum ein und zwangzigsten November desselben Jahrs, Cassel 1814. Vgl. Kircheisen, Friedrich Max, König Lustig, Napoleons jüngster Bruder, Berlin 1928, hier S. 96. Vgl. Scheller, Karlf., Die Jeromiade: in sieben Gesängen und einer Apotheose, Patholpoli [i.e. Leipzig] apud Gelastinum Severum [i.e. Cnobloch] 1814, hier S. 197–199. Vgl. Müller, Friedrich, Kassel seit siebzig Jahren, zugleich auch Hessen unter vier Regierungen, die westphälische mit inbegriffen. Geschildert auf Grund eigener Erlebnisse, 2 Bde., Kassel 1876/1879, hier Bd. I., S. 36, vgl. S. 34–36. Vgl. Nagel, Dr. Friedrich Gottlieb, Kriegsbilder aus der Heimath, hauptsächlich aus Halberstadt, Magdeburg und der Umgegend. Zur Erinnerung an die denkwürdigen Jahre 1806–1815, Halberstadt 1848, hier S. 95. Vgl. Müller (Anm. 5), S. 33. Vgl. u. a. HStAH, Hann. 52, Nr. 2087, Verordnungen der Hohen Polizei die allgemeine öffentliche Ruhe und Sicherheit betr. (1808–1813), hier Bl. 19: Schreiben von Frantz, Präfekt des Leinedepartements in Göttingen, an die Mairen des Kantons Grone, 20.4.1810.
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Die zeichnerische Degradierung vom Souverän zum Privatmann, ohne Amt und Würden, mag den Westphalen, die in ihm eine „Kreatur“ Napoleons, einen von Napoleon geschaffenen Monarchen sahen, mit höchst fraglicher sozialer Herkunft für ein Staatsoberhaupt, eine gewisse Befriedigung verschafft haben.9 Insgesamt scheint Jérôme in der Fantasie seiner Untertanen mehr eine Witzfigur als ein staatsmännisches Oberhaupt gewesen zu sein. 10 Angeblich ging er lieber baden, im wortwörtlichen Sinne, als sich der Verantwortung zu stellen.11 Diese Meinung seiner Untertanen über ihn gibt auch die Karikatur in gewisser Hinsicht wieder. Zwei Aspekte verdeckt die Karikatur allerdings: Jérôme trat die Rückkehr nach Frankreich in Begleitung einiger Staatsdiener und in Schutz seiner königlichen Garde an. Er war nicht auf sich allein gestellt, wie die Karikatur suggeriert.12 Dass Jérôme außer Zepter und Krone ganz unbemittelt nach Korsika zurückeilte, entsprach auch mehr dem Wunschdenken der Westphalen als der Realität: im Laufe seiner Herrschaft, und speziell zwischen seiner ersten und zweiten Flucht hatte Jérôme gepackte Kisten vorausschicken lassen.13 Das Thema des Kunstraubs, das sonst die Zeitgenossen sehr beschäftigte, ist somit ausgeblendet. Dabei brodelten die Gerüchte über eine baldige Auflösung des Königreichs in den letzten Monaten der Herrschaft insbesondere deshalb, weil die Zeitgenossen Abreisevorkehrungen in Form von Kisten in den Ministerien und Schlössern beobachteten und interpretierten. Die politische Polizei versuchte sogar, Gerüchte dieser Art zu unterbinden, bzw. zeigte sich in ihrer Zensurpolitik sehr darauf bedacht, dass das Thema Kunstraub und Kriegsbeute nicht Napoleon angelastet wurde.14 Eventuell 9
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Vgl. Karikatur betitelt “Tiddy-Doll the great French Gingerbread-Baker, drawing out a new Batch of Kings”. Vgl. König Lustik!? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen, Hessische Landesausstellung 2008 (Aust.-kat der Museumslandschaft Hessen Kassel), bearb. v. Thorsten Smidt u. Arnulf Siebeneicker, München 2008, hier S. 202f. Owzar, Armin, Fremde Herrschaft – fremdes Recht? Deutungen der napoleonischen Verfassungspolitik in Westfalen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen, Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, 51 (2001), S. 75–105, hier S. 76f. Vgl. Owzar (Anm. 9), S. 76. Vgl. Kleinschmidt, Arthur, Geschichte des Königreichs Westfalen, (Geschichte der europäischen Staaten Lfg. 54 Abt. 1), Gotha 1893, hier S. 39–40. Andere Karikaturen zeigen ihm durchaus in Begleitung von Ministern und Höflingen im Kontext seiner Königsflucht. Scheffler, S. u. E. unter Mitarb. v. G. Unverfehrt, So zerstieben geträumte Weltreiche. Napoleon I. in der deutschen Karikatur, Stuttgart 1995, hier S. 280f. Vgl. u. a. [Völkel, Ludwig], Eines hessischen Gelehrten Lebenserinnerungen aus der Zeit des Königs Jérôme. Zwei Manuskripte des Oberhofraths Dr. Ludwig Völkel, Hrsg. und erläutert von Dr. Albert Duncker, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte, N.F., IX (1882), S. 249–347; Savoy, Bénédicte, Patrimoine annexé. Les saisies de bien culturels pratiqués par la France en Allemagne autour de 1800, 2 Bde., Paris 2003. König Lustik!? (Anm. 9), S. 38ff., S. 224ff. Vgl. u. a. RNB, St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., K. 16, N° 9760–9796, hier Nr. 9769: Rapport von C[erfy], Polizeiagent in Kassel, an J.f. M. de Bongars, Generalinspektor der Gendarmerie mit der Hohen Polizei beauftragt, 9.4.1813; Mémoires sur la Grèce et l’Albanie, pendant le gouvernement d’Ali-Pacha, par Ibrahim-Manzour-Efendi, Commandant du Genie, au service de ce Visir, ouvrage pouvant servir de complément à celui de M. de Pouqueville,
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erklärt sich das Auslassen der mitgenommenen Fluchtgüter mithilfe einer anderen Quelle. Der anonyme Autor der „Garküche an der Fulda“ urteilte 1814 über den einstmals erfolgreichen Gastwirt Murry: „Und doch – als wenn sich der Mangel an Segen bei dem Erwerbe jeder Art in den vergangenen sieben Jahren, früh oder spät überall offenbaren soll – hat er jetzt nichts, als sein Vaterland in seinen Sohlen mitgenommen“.15 Im Fall Jérômes war den Westphalen offensichtlich wichtiger, sich ihn zu Fuß und lediglich mit einem Wanderbeutel unterwegs nach Frankreich vorzustellen, als die Realität abzubilden, auch wenn diese Jérôme zusätzlich belastete. Allerdings stand die Karikatur, die auf die Tradition des im Laufe der westphälischen Herrschaft gereiften Jérômebilds der Westphalen aufbaute, zum Zeitpunkt ihrer Verbreitung nicht allein da. Parallel zu ihrem Druck lassen sich eine Fülle von Spottgedichten und Singspielen ausmachen, die der Gattung der antinapoleonischen Pamphlete zugeordnet werden können und die mit der Karikatur korrespondieren. Tatsächlich war Jérômes Flucht vom Oktober 1813 nicht nur ein Thema für Karikaturisten: Man findet sie ebenso in Spottgedichten und Singspielen wieder. „Der Abschied aus Cassel“ wurde zeitweilig dem vormaligen westphälischen Finanzminister L. Fr. V. H. Graf von Bülow zugeordnet und erschien teilweise unter dem Pseudonym Friedrich Germanus, wobei später vermutet wurde, dass August von Kotzebue unter diesem Deckmantel mehrere Flugschriften unterschiedlicher Länge geliefert habe.16 Diese Schrift ist das Klagelied König Jérômes in Versform bei seiner Abreise aus seiner Hauptstadt. Die Abschiedsworte, die Jérôme in den Flugschriften deklamiert, bilden ein schriftliches Pendant ersten Ranges zum hier besprochenen ikonographischen Dokument. Teilweise existierte auch eine Version in französischer Sprache: damit sollte möglicherweise die verParis 1827, hier S. XXIV. Zur diesbezüglichen Zensurpolitik vgl.: RNB, St. Petersburg, F 993 Arch. Westf., K. 7, N° 3569–3617, hier Nr. 3596: Schreiben Nr. 1018 P.G. von G. G. Boehmer, Generalpolizeikommissar der Hohen Polizei in Göttingen, an J.f. M. de Bongars, 11.3.1812. Auch nach 1814 blieb das Thema Kunstraub in der Rezeption der napoleonischen Herrschaft von zentraler Bedeutung. Vgl. u. a. Heimsoth, Axel, „Was Bonaparte gestohlen, Können die Preußen wiederholen“ – Die Rückführung der Quadriga 1814 von Paris nach Berlin, in: Gerd Dethlefs/Armin Owzar, u. a. (Hrsg.), Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen 1806–1813, (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 56), Paderborn/München u. a. 2008, S. 219–241. 15 Anonymus, Die französische Garküche an der Fulde..., Erstes Gericht. Oder?? Neuestes Gemählde der Residenzstadt Cassel, wie sie noch im Jahr 1813 und wie sie gegenwärtig nicht mehr ist, Erstes Heft. Ein Pendant zur geheimen Geschichte von Westphalen, St. Petersburg 1814, hier S. 76. 16 Vgl. Zimmermann, Paul, Graf Bülow und der „Abschied von Cassel“, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Alterthumskunde, 24 (1891), S. 46–67, hier S. 46–51. Die neuesten Ergründungen zum Hintergrund des Spottgedichts sind im Rahmen eines Vortrags von Hubertus Fischer in Kassel im Februar 2008 zu erwarten. Seine Interpretation des Spottgedichts wird im Rahmen der Vorlesungsreihe „ Fremdherrschaft und Freiheit. Das Königreich Westphalen als napoleonischer „Modellstaat“, die in Kassel vom 30.10.2007 bis zum 05.02.2008 vorgestellt. Vgl. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=8001 (27.01.2008).
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meintliche Abschiedsrede Jérômes authentischer wirken, da er selbst kaum Deutsch gesprochen haben soll.17 Die kürzeren Varianten (ca. 2 S.) sind Jérômes imaginierte Abschiedsworte an die Kasselaner in Versen. Bei denen mittlerer Länge (4 S.) werden Jérômes Abschiedsworte von den Bürgern Kassels erwidert. Bei den längsten Varianten (bis 12 S.) ergreifen auch Mitglieder der westphälischen Hof- und Staatsräte das Wort.18 So lautet die kürzeste Version: „Adieu, meine Damen! Adieu, meine Herrn! Ich geh’ nach Korsika; Man sah mich hier doch niemals gern, Jetzt ist der Teufel nah. / Ach! Welch ein wackerer Geselle War ich vordem in Baltimore. Nein! Nein! Ich ziehe doch die Elle Den Kronen und den Szeptern vor! / Der Schlusschor der Kasselaner lautete: Tretet ein, o ihr Befreier, Fort ist nun das Lumpenpack! Seyd willkommen! Seyd uns teuer! Russen, Preußen und Cosack“.19
Insgesamt werden durch die Wiedergabe der vermeintlichen Abschiedsworte die Implikationen der Karikatur deutlicher. In einer ausführlichen Version vom „Abschied“ wird Jérôme Angst vor dem Galgen unterstellt: „Man hegt nach alten Herrn Verlangen Und wär’ capabel, mich aufzuhangen.“20
Aus dieser Angabe wird eine weitere Konnotation von Jérômes Königsflucht deutlich: Der Fluchtversuch Ludwigs XVI. im Juni 1791 drängte sich offensichtlich manchem Zeitgenossen zum Vergleich auf.21 Im „Abschied der Casselaner vom König von Westphalen“ findet sich eine durchaus heftige Abrechnung mit König Jérômes Regierungszeit, die auch den 17 Vgl. Paye, Claudie, Vous avez dit Lustik? Über Sprachen und Sprachpolitik im Königreich Westphalen, in: König Lustik!?(Anm. 9), S. 148–154. 18 Paul Zimmermann, der bis zu fünf Auflagen der „Abschied“-Flugschrift zählte, erkannte darin den außerordentlichen Erfolg des Spottgedichts. Vgl. Zimmermann (Anm. 16), S. 52. 19 Zitiert nach Keim, Heinrich, Savoir vivre – Französische Einflüsse in westphälischer Zeit, in: Helmut Burmeister/Veronika Jäger (Hrsg.), König Jérôme und der Reformstaat Westphalen. Ein junger Monarch und seine Zeit im Spannungsfeld von Begeisterung und Ablehnung, (Hessische Forschungen, Bd. 47/„Die Geschichte unserer Heimat“, Bd. 45), Hofgeismar 2006, S. 129–160, hier S. 149. 20 Germanus, Friedrich, Der Abschied aus Cassel. Ein rührendes Singspiel, o.O. o.J., hier S. 1, vgl. ferner S. 4. Diese Version vom „Abschied“ ist 11 Seiten lang. 21 Plausibel wird diese Interpretation insbesondere, wenn man die Übertragung des Bastille-Mythos’ als Wahrzeichen der Tyrannei auf das Kastell zu Kassel im gleichen Zeitraum bedenkt. Vgl. u. a. Lüsebrink, Hans-Jürgen, Der „Transfer“ des 14. Juli 1789–Methodische Überlegungen zur komparatistischen Rezeptions- und Symbolgeschichte historischer Ereignisse am Beispiel des Bastillesturms, in: Freiherr Karl Ottmar von Aretin/Karl Härter (Hrsg.), Revolution und konservatives Beharren. Das Alte Reich und die Französische Revolution, Mainz 1990, S. 37–44.
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Hintergrund der Karikatur anschaulicher macht.22 Das Klagelied Jérômes erwidern hier die Kasselaner Bürger: „Du armer Herr König, dein Reich ist nun aus, Adje! Geschlichen hast du dich zum Tempel hinaus, Adje! Es flohn die Franzosen, die bey uns gehaußt, Nachdem sie die Braten des Landes verschmaußt, Adje! Adje! Adje! […] Du wirst ungesegnet nach Hause geschickt, Adje“!23
Die unrühmliche heimliche Flucht Jérômes wird erwähnt, wie auch die Raffgier der Franzosen in Westphalen. Ihrem ehemaligen König sprechen die Bürger den Segen ab. Im vierten und fünften Abschnitt wird mit Hohn und Spott nicht gespart: „4. Das Tanzen und Schwelgen, es ist nun vorbey, Adje! Du gakerst, wie’s Huhn, um’s verlorene Ey, Adje! Geh, reise, und such’ dir ein anderes Nest, Sonst packen Kosacken am Kragen dich fest, Adje! u. u. 5. Die Zügel Westphalens sind dir eschapirt, Adje! […] Du armer verlassener Landespapa! Du wanderst nun wieder zu deiner Mama, Adje! u. u.“24
Mit diesem letzten Aufruf, der das Bild Jérômes als „armer“ Wanderer bzw. Wandergeselle aufgreift, wird die obige Interpretation zu „Adieu Westphalia“ bestätigen. Kunstraub und Fluchtgut werden an anderer Stelle thematisiert, so im „Abschied der Casselaner“: „9. Fort hast Du geschleppet, was dein sonst nicht war, O weh! Vergessen zuletzt das Bezahlen sogar, O Weh“!25
Die Freude, den entmachteten König als einfachen Privatmann fliehen zu sehen, teilt auch dieser „Abschied“ mit der Karikatur und den weiteren oben erwähnten Flugschriften: 22 Vgl. Abschied der Casselaner vom König von Westphalen. (Nach der Melodie: Es ritten drey Reuter zum Thore hinaus: Adje!), o.O. o.J. Diese Flugschrift oder dieses Lied ist vier Seiten lang. 23 Ebd. (Anm. 22), S. 1. 24 Ebd. (Anm. 22), S. 2. 25 Ebd. (Anm. 22), S. 4.
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Claudie Paye „Als Ladenbursch wird man Dich abermals sehn, O weh“!26
Durch den Zusatz im Titel erfahren wir mehr über den Kontext des Textes. Es sei nämlich „nach der Melodie: Es ritten drey Reuter zum Thore hinaus: Adje!“ zu singen. Vom Spottgedicht mutierte somit die Flugschrift zum Volkslied, die im Kontext der Befreiungskriege ein Stück Propaganda gegen Napoleon und die Napoleoniden leisten sollte. Die Umwandlung von einer Flugschrift zu einem Lied zeigt, wie populär das Motiv des flüchtenden Königs Jérôme, wahrscheinlich auch über die Grenzen seines Königreichs hinaus, werden konnte.27 Auch andere satirische Dokumente, die nicht direkt „Abschied“ betitelt sind, enthalten Abschiedsworte. „Die Königsflucht, oder Hieronymus und seiner Staatsdiener Ankunft in Frankreich: ein Gegenstück zum Abschiede von Cassel“, mit 101 Seiten, verdient u. a. erwähnt zu werden.28 Diese Bearbeitung der rührenden Abschiedsworte Jérômes bezweckt Heiterkeit auszulösen und würde eine theatralische Umsetzung verkraften, so das Vorwort zu der Satire.29 König Jérôme wird bei seinem Incognito-Fluchtversuch dargestellt, wie er sich in einer Douanenbude mehr schlecht als recht verstellt, um nicht überführt zu werden. Er zeigt sich überaus ängstlich und beklagt sich bei seinem Reisegefährten Malchus, dem ehemaligen westphälischen Finanzminister, dass die Hessen, falls sie sie erkannt hätten, sie auf der Flucht bestimmt aufgefressen hätten.30 Auch hier vermisst Jérôme seine Kasseler Weinbäder und seine schöne Zeit in Baltimore.31 In der Sammlung „Deutsche Herbst-Blumen gebrochen nach der Schlacht bei Leipzig“ wird eine Parodie des Schillerschen Liedes „Hör’ich das Pförtchen nicht gehen?“ angeboten, die konkret „Der König vor seiner Abreise von Cassel“ betitelt ist und eine weitere Liedversion auf Grundlage der Flugschrift darstellt.32 In dieser Satire übertrifft sich König Jérôme selbst an Ängstlichkeit: „O wehe, mich ergreift ein Fieberfrost, Und meine Knie fangen an zu beben“.33
Die Mätressen, die den König zu zerstreuen versuchen, haben dabei kaum Erfolg.34 Klagend stellt Jérôme in dieser Version fest: „Ha, mich verlässt im Sturm die ganze Welt, Westphalens Glück wollt’ ich so sicher gründen, 26 Ebd. (Anm. 22). 27 Vgl. Zimmermann (Anm. 16), S. 52. 28 Vgl. Die Königsflucht, oder Hieronymus und seiner Staatsdiener Ankunft in Frankreich: ein Gegenstück zum Abschiede von Cassel, Deutschland [i.e. Quedlinburg] 1814. 29 Vgl. Ebd. (Anm. 28), „Statt einer Vorrede“. 30 Vgl. Ebd. (Anm. 28), S. 28, ferner S. 65. 31 Vgl. Ebd. (Anm. 28), S. 35, 50, 74. 32 Vgl. Deutsche Herbst-Blumen gebrochen nach der Schlacht bei Leipzig, o.O. 1813, hier S. 3ff. 33 Ebd. (Anm. 32), S. 3. 34 Der sexbesessene König Jérôme ist ein weiteres wiederkehrendes Bild, das inzwischen auch kritisch in der Forschung hinterfragt wird. Vgl. Jäger, Veronika/Burmeister, Helmut, Das Königreich Westphalen. Zur Einführung, in: Burmeister (Hrsg.) (Anm. 19), S. 7–20, hier S. 11.
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[…] ich bin allein, Was ich gewesen, werd ich wieder seyn. Und leise, bei nächtlicher Stille […] Verscheuchte der König die Grille, Und schiffte sich über den Rhein.–“35
In den „Possen bey Gelegenheit des Rückzuges der Franzosen. Seitenstück zum Flußgott Niemen u.“ findet sich ein Klagelied von Jérôme an seinen Bruder, das weniger auf die fluchtartige Abreise Jérômes aus Kassel eingeht als auf seine erschöpfte Ankunft in Frankreich. Die Phantasmagorie um den Rückzug der Franzosen blieb also nicht bei den Abschieds-Spottgedichten und -liedern stehen: Nach dem wortreichen und jammervollen Abschied wollten sich die Westphalen wohl auch die Ankunft ihres Königs in Frankreich gern vorstellen. Vor lauter Angst vor den „Teufelskosaken“ und ihren „grässlichen Piken“ kommt Jérôme in den „Possen“ in Paris mehr tot als lebendig an und verstirbt kurz darauf: „O weh! Mein morscher Leib zerbricht. Ich ertrage die Angst, die Qualen nicht. (Er stirbt.)“.36
Hält man weiter nach dem Motiv des flüchtenden Königs Jérôme Ausschau, findet sich ein „Geständnis des Königs an die Casselaner“ aus dem Jahr 1813, für das ebenfalls eine Melodie empfohlen wird. Zur Melodie von „Als ich auf meiner Bleiche“ wird Jérôme abermals als Verprasser des westphälischen Eigentums besungen: „Bin hin nach Frankreich flogen, Verzehre da mein Geld, (Um das ich euch betrogen, –) Und bleib französ’scher Held! – ! –“37
In der „Jeromiade: Gegenstück zur Bonapartiade“, werden auf rund 27 Seiten die Anschuldigungen und Anspielungen, die in den verschiedenen „Abschieds“-Varianten enthalten sind, ebenfalls ausgeführt: Die niedere Herkunft Jérômes findet Erwähnung,38 seine Reisen vor den Königsjahren werden als zwielichtig dargestellt,39 und seine Zeit als „Ladenbursch“ in Baltimore wird belächelt.40 Auch die „beutellosen“ eingewanderten Franzosen, die ‚Fortune‘ im Königreich Westphalen machten, werden erwähnt.41 Über Jérômes Rückkehr in seine Residenzstadt Mitte Oktober schreibt der anonyme Autor: „Doch wieder kam Jerom’, der Held, Zu jedermanns Erstaunen, […] Die Sehnsucht nach so manchem Schatz, 35 Deutsche Herbst-Blumen (Anm. 32), hier S. 4–5. 36 Kotzebue, August von, Possen bey Gelegenheit des Rückzuges der Franzosen. Seitenstück zum Flußgott Niemen u., o.O. 1813, hier S. 14. 37 Geständnis des Königs an die Casselaner: Melodie. Als ich auf meiner Bleiche. [S.l.] [ca. 1813]. 38 Vgl. Jeromiade. Gegenstück zur Bonapartiade, Cassel 1813, hier S. 3. 39 Vgl. ebd. (Anm. 38), S. 4–6. 40 Ebd. (Anm. 38), S. 5. 41 Ebd. (Anm. 38), S. 8.
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Claudie Paye Trieb ihn, den Tapfern, nach dem Platz. […] Es musste noch der letzte Speck Westphalens fort marschiren. Was werth noch schien, ward eingesackt; Zum Transportiren rasch gepackt; Es galt für bonne prise. […] Leer hinterläßt Jerom’ den Thron, Doch, leider! Auch die Kassen […] So fahr’ denn hin, du schlechter Hecht, Mit dem, was du gestohlen; Man wird es einst, und das mit Recht, Zurück vom Hauptdieb holen. Du raubtest deutsches Gut und Blut, D’rum haben wir jetzt stolz den Muth, Dir Pillen derb zu geben […]“.42
Sicherlich würden sich mit einer systematischeren Recherche in den umfangreichen Sammlungen antinapoleonischer Pamphlete aus den Jahren 1813–1814 noch mehr Variationen zum Thema „Abschied“ und „Königsflucht“ Jérômes finden lassen, als hier kurz aufgezeigt werden konnte.43 Im Übrigen war Jérômes Flucht nicht die einzige, die Anlass zu Belustigung und Freude gab.44 Auch von Napoleon sind Karikaturen überliefert, in denen er noch deutlicher als Jérôme als Wanderer am Wanderstock dargestellt ist.45 Die Karikatur „Adieu Westphalia“ fand nicht allein ihren Widerhall in den Spottgedichten und -liedern, auch unter den Karikaturen ließen sich einige heranziehen, die Variationen bzw. Abwandlungen einer ähnlichen Thematik waren. Welche Schlüsse lassen sich aus den Entsprechungen und Ergänzungen, die sich zwischen den Karikaturen, Flugschriften, Spottgedichten und Liedern zu Jérômes Flucht ergeben, ziehen? In den schriftlichen Dokumenten wird zwar die Kritik über die westphälische Herrschaft ausführlicher ausgebreitet als in der Karikatur, die Essenz ist jedoch die gleiche. Beeindruckend ist dabei die kommunikative Spirale, die die Medienvielfalt offensichtlich erzeugte. Wenn die westphälischen Staatsbürger sich die Karikatur „Adieu Westphalia“ anschauten, drängte sich einigen von ihnen sicherlich ein Lied nach vertrauter Melodie auf. Wenngleich nicht davon auszugehen ist, dass jedem Westphalen alle kritischen Variationen über die Abreise Jérômes bekannt wurden, so zeigt doch das kurz angedeutete weite Feld der Rezeption der Flucht König Jérômes mit Interferenzen, Assoziationen und Interpretationsangeboten der verschiedenen Medi42 Ebd. (Anm. 38), S. 25–27. 43 Vgl. König Lustik!? (Anm. 9), S. 516f. 44 Vgl. Abschieds-Lied an Napoleon, [S.l.] [1813]; Goerres, Josef, Abschied des Kaisers Napoleon vor den Völkern Europas, o.O. 1814; Kramer, Johannes, Sprachfehler und vaterländische Gesinnung:f.f. ,Wallrafs’ Abschied an das wegziehende personal der verhaßtern französischen Administrationen‘ vom Februar 1814, in: Gabriele Birken-Silverman/Gerda Rößler (Hrsg.), Beiträge zur sprachlichen, literarischen und kulturellen Vielfalt in den Philologien. Festschrift für Rupprecht Rohr zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1992, S. 329–355; König Lustik!? (Anm. 9), S. 416f. 45 Vgl. Scheffler (Anm. 12), 1995, S. 112f., 210, 228, 270–275.
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en, wie sich die verschiedenen Beiträge verdichteten und aufeinander aufbauten. Für die Westphalen wurde das Thema „Königsflucht“ derart omnipräsent, das es zum medialen Ereignis avancierte.46 Alle Sinne wurden stimuliert, um das fluchtartige Abreisen der Franzosen zu kommentieren. Die Verbindung von Ikonografie mit Schriftlichkeit und Mündlichkeit, wie anhand der Karikaturen, Spottgedichte, Singspiele und Lieder deutlich geworden, war eng und vielseitig. Die Zeitgenossen wurden visuell, musikalisch und kognitiv angeregt, sich über den Rückzug der Franzosen zu freuen. Es kam zu einer für den untersuchten Zeitraum charakteristischen intensiven Vernetzung der verschiedenen Medien.47 So zirkulierten ähnliche ‚Sprachbilder‘ in verschiedenen Gesellschaftsschichten unabhängig vom Medium. Die Karikatur „Adieu Westphalia“ verbindet mehrere Register und mit dem ikonografischen Dokument wurde den Westphalen ein bekanntes Lied ins Ohr geflüstert, das sich leicht mit der politischen Situation assoziieren ließ. Abschließend soll noch eine ganz andere, eher verborgene Lesart der Karikatur vorgestellt werden. Denn trotz der Verballhornung ihres Monarchen verdeckt die Karikatur nicht eine gewisse Sympathie für Jérôme den Wanderer. Er hatte die Kasselanern auf eine neue Mode gebracht, die sie zur vergnügten Entdeckung der nächsten Umgebung führte. Die zwischen den Jahren 1807 und 1813 aufkommende Wanderlust könnte man als Exempel für die allmähliche kulturelle Annäherung der einheimischen Deutschen und der eingewanderten Franzosen ausmachen. Jérômes Lustfahrten, Landpartien und Wanderungen, ob es die Fulda- und die Weserfahrten, seine Harzreise mit der Brockenbesteigung, seine große Fußtour auf den Dörnberg mit der Königin oder die Ausflüge in nächster Umgebung waren, fanden Nachahmer.48f. M. Kircheisen schreibt dazu: „Immerhin ist es zweifellos ein Verdienst der Franzosen und Deutsch-Franzosen, so nannte man damals die Preußen, Hannoveraner und überhaupt alle Nicht-Hessen –, dass die Kasseler und Bewohner anderer größerer Städte die Schönheit des Landes erst durch sie richtig kennen und würdigen gelernt haben. Früher blieb man hübsch zu Hause, jetzt aber wanderte man nach dem Beispiel der Fremden an Sonn- und Feiertage mit der ganzen Familie hinaus in die schöne Natur. Hofgeismar, Katharinen (Wilhelms) -tal, Riede, Kragenhof, der Reinhardswald, sogar der von der Hauptstadt sechs bis sieben Meilen entfernte Berg Meißner sollen damals erst durch die Ausländer in die Mode gebracht worden sein. Wohlhabende Familien fingen auch zu jener Zeit an, den Sommer auf dem Lande zu verbringen. Es dauerte gar nicht lange, und zahllose Schiffe bedeckten die Fulda, um die neuen Naturfreunde in die Umgebung zu bringen, nachdem König Jerome mit einer ihm von seinem Bruder 46 Vgl. Wilke, Jürgen, Der nationale Aufbruch der Befreiungskriege als Kommunikationsereignis, in: Ulrich Herrmann (Hrsg.), Volk – Nation – Vaterland, Hamburg 1996, S. 353–368. 47 Vgl. Tschopp, Silvia Serena, Rhetorik des Bildes. Die kommunikative Funktion sprachlicher und graphischer Visualisierung in der Publizistik zur Zerstörung Magdeburgs im Jahre 1631, in: Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (Hrsg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, München 2005, S. 79–103, hier S. 96. 48 Vgl. u. a. Garküche (Anm. 15), S. 89, 98, 101f.; Keim (Anm. 19), S. 139, 145; Pischer, Karl Berthold, Die Harzreise des Königs Jérôme von Westfalen 1811, in: Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde, 50 (1917), S. 160ff.
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Ludwig geschenkten Jacht den Anfang gemacht hatte“.49 Zahlreiche zeitgenössische Stimmen zeugen von der neuen Leidenschaft der Kasselaner, sich sonntäglich ins Grüne zu begeben und im Freien zu speisen.50 „Selbst durch Frost und Schnee ließ sich der König nicht zurückhalten, wie der Kammerherr Georg von Scheele über einen Ausflug nach Wabern berichtete“. 51 Tatsächlich findet man Gartenlokale in fast allen Ortschaften rund um die Residenzstadt.52 Jérôme ließ die Parkanlage von Napoleonshöhe, zumindest am Sonntag, für seine Staatsbürger öffnen.53 Kassel erhielt jetzt mehrere bemerkenswerte Privatgärten.54 „Viele Kasseler lernten erst jetzt das Tal der Fulda als malerische, romantische Landschaft kennen und schätzen. Bisher war es für manchen ein ‚unbekanntes Land‘. Da die ‚Ausländer‘ […] laut seine Schönheiten priesen, schien es doch mehr zu bieten, als Kassels Bürger bisher gedacht hatten. Nun gewannen auch sie Freude an Natur, ‚Lustreise‘ und Landpartie“.55 Folgt man den Ausführungen H. Keims, nahm diese neue Mode des Wanderns, von 1807 bis 1813 durch die Franzosen angespornt, sogar Tendenzen voraus, die nach 1813 in bürgerlichen Kreisen zum Programm wurden. Nach 1813 begann nämlich das Bürgertum „die Natur zu ‚romantisieren‘. Es über [nahm] den höfischen Brauch […], aus Liebe zur Natur ‚ins Grüne‘ zu ziehen, [… und] Ausflugslokale vor den Toren der Städte aufzusuchen. In der westphälischen Zeit entstandene Ausflugscafés mit Kaffeegarten lock[t]en weiterhin mit Unterhaltung“.56 Bei der Wanderlust ist trotz der Abrechnung mit der westphälischen Herrschaft von 1813, die anhand der anti-napoleonischen Pamphlete so gehässig und spöttisch wirkt, kein Bruch, sondern eine interessante Kontinuität zu verzeichnen. Überspitzt formuliert ging die entdeckte Wanderfreude aus der ‚Franzosenzeit‘ über in den Hang der deutschen Romantiker zur Natur.57 Zu den Langzeitwirkungen, die dem Reformcharakter der westphälischen Herrschaft als ‚positive‘ Errungenschaft der napoleonischen Ära in Deutschland seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zugesprochen werden, wäre also auch die kulturelle Annäherung über das Wandern zu rechnen.58
49 Kircheisen (Anm. 3), S. 87; vgl. ferner Jäger/Burmeister (Anm. 34), S. 14. 50 Vgl. Behr, Hans-Joachim, Erinnerungen Georgs von Scheele an den Westfälischen Hof. 1807–08, in: Westfälische Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, 138 (1988), S. 103–147; vgl. ferner Müller (Anm. 5), S. 37. 51 Keim (Anm. 19), S. 145. 52 Vgl. Ebd. (Anm. 19), S. 144. 53 Vgl. u. a. Müller (Anm. 5), S. 42. 54 Vgl. Garküche (Anm. 15), S. 94. 55 Keim (Anm. 19), S. 145; vgl. Garküche (Anm. 15), S. 99. 56 Keim (Anm. 19), S. 151. 57 Vgl. ferner Plachta, Bodo, In der Heimat die Ferne suchen?: Ferdinand Freiligrath, Levin Schükking, Anette von Droste-Hülshoff und das Projekt des „Malerischen und romantischen Westphalen“, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde, 55 (1986), S. 181–195. 58 Vgl. u. a. Fehrenbach, Elisabeth, Der Kampf um die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaaten, Wiesbaden 1973; Berding, Helmut, Le Royaume de Westphalie, état-modèle, in: Francia, Zeitschrift für westeuropäischen Forschung, 10 (1982), S. 345–358.
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Die neue westphälische Hofgesellschaft war wahrscheinlich imstande, eine solche ‚Revolution‘ in den Gewohnheiten der Kasselaner einzuleiten, weil sie sich selbst vom alten Adel stark unterschied. Manche neue ,Höflinge Ѵ erfuhren einen großen sozialen Aufstieg und wiesen wesentliche sozio-kulturelle Unterschiede zu der in Kassel vorgefundenen Hofgesellschaft auf. Jérôme war selbst u. a. aufgrund seiner sozialer Herkunft, ein recht mobiler ‚Geselle‘. Damit wären wir zu den antinapoleonischen Pamphlete zurückgekehrt. Als Erklärungsmoment für das Aufkommen der Wanderlust kann die Mobilität gelten, die soziale wie die auf der Landkarte, die die neue westphälische Hofgesellschaft charakterisierte. Die französischen Eliten brachten einen neuen Lebensstil nach Kassel, der auch nach 1813 wirkte. Dr. Claudie Paye, Historikerin, München
CHAMPAGNE! ODER DEUTSCHER SEKT?
(B ÄRBEL KUHN)
So manche der heute noch bedeutenden Champagnerproduzenten deutscher Herkunft sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Champagne gekommen. Auch William Deutz (1809–1884) und Hubert Geldermann (1811–1872). Sie waren nun Guillaume und Pierre, wie sie auch bereits in offiziellen Papieren ihrer zu Beginn des Jahrhunderts zu Frankreich gehörenden Geburtsstadt Aachen hießen. Nachdem Deutz, Sohn eines Aachener Feinkosthändlers, zunächst Anfang der 1830er Jahre als Vertreter für das Champagnerhaus Josef Bollinger in Aÿ tätig wurde, gründete er 1838 zusammen mit dem Landsmann Geldermann und dem in Verdun gebürtigen Louis Lambry dort ein eigenes Champagnerhaus. Zweisprachigkeit und eine binationale Biographie wurden bekräftigt durch entsprechende Ehen: die Deutschen Geldermann und Deutz heirateten Töchter angesehener und wohlhabender Bürger der Champagne, der Franzose Lambry ehelichte eine Frankfurter Bürgerstocher. Während Geldermann in Aÿ blieb und sich um den Weinankauf, die Herstellung des Champagners und die Geschäfte kümmerte, bemühten sich Deutz, vor allem in Deutschland, und Lambry, auch in Russland, um Kunden. Für die ersten Jahre des Geschäftsauf- und -ausbaus sind einige Hundert Briefe, die William Deutz, Louis Lambry und schließlich ab den 1860er Jahren auch die Söhne René Deutz (1844–1897) und Alfred Geldermann (1841–1908) sowie einige deutsche Agenten der Firma von ihren Geschäftsreisen nach Aÿ sandten, wertvolle Quellen. In erster Linie geschäftlicher Natur, enthalten die Briefe eine Fülle von Informationen darüber, welche Hürden zu meistern waren und welche Strategien sich als erfolgreich erwiesen, um in jenen Jahren einen zunächst deutschen und dann internationalen Markt für ein noch relativ neues Produkt zu erobern, das gleichzeitig mit einer quantitativen Expansion an Prestige gewann.1 Immer wieder beeinflussten auch politische Ereignisse das Geschäft: sei es, als 1840 über die Frage der Rheingrenze ein deutsch-französischer Krieg drohte, oder, als 1848 beide Länder durch revolutionäre Erhebungen erschüttert wurden. Im Folgenden soll der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 und seine Bedeutung und Auswirkungen für ein deutsch-französisches Unternehmen, das in Frank1
Die Geschichte des Hauses Deutz-Geldermann wurde anläßlich einer Tagung zur Geschichte des Champagners am Deutschen Historischen Institut im September 2005 in Paris vorgestellt. Der Beitrag wird in einem Sammelband zur Tagung in der Schriftenreihe der Sorbonne unter: Kuhn, Bärbel, „Entre Aix-la-Chapelle et Aÿ en Champagne ou l’incroyable parcours de deux négociants et producteurs de Champagne du XIXe siècle en proie aux conflits politiques“ erscheinen. Ich danke dem Champagnerhaus Deutz in Aÿ dafür, dass sie mich gastfreundlich in ihrem Archiv arbeiten ließen, insbesondere dem Geschäftsführer Herrn Fabrice Rosset und den Herren Arnaud Bro de Comères und Rodolphe Verbeke, zur Zeit meiner Recherchen 2004–2006 Directeur des Relations publiques und Firmenarchivar.
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Bärbel Kuhn
reich seinen Sitz und in Deutschland sein wichtigstes Exportgebiet hatte, im Mittelpunkt des Interesses stehen. Nachdem sowohl für Pierre Joseph Hubert Geldermann als auch für William Deutz bestätigt werden konnte, dass ihre Führung in moralischer und politischer Hinsicht einwandfrei und beider Existenzgrundlage zufrieden stellend war, wurden die beiden Rheinländer 1845 und 1846 naturalisiert.2 Alle drei Geschäftspartner waren bald unter den Honoratioren von Aÿ etabliert.3 Alle drei hatten inzwischen Grundstücke und Weinberge erworben, und Deutz sogar die Grenze überschritten, um in den Büchern nicht mehr nur als „négociant en vins“, sondern auch als „propriétaire“ geführt zu werden.4 Doch auch als naturalisierte Franzosen blieben die beiden Aachener, der Aufgabenverteilung in dem deutsch-französischen Unternehmen entsprechend, der eine stärker im französischen, der andere stärker im deutschen gesellschaftlichen Leben verankert. Von Aussagekraft ist sicherlich die Beobachtung, dass Geldermann wohl zumeist in Frankreich zur Jagd ging, Deutz mit dieser elitären Leidenschaft jedoch fest in der besseren Gesellschaft Aachens verwurzelt blieb. Stolz berichtet der bürgerliche Aufsteiger von zunehmenden engen Beziehungen zu adeligen Kreisen. Obwohl auch Geldermann engen Kontakt zur Aachener Verwandtschaft pflegte, verlieren sich seine Spuren in der dortigen Gesellschaft. Deutz hingegen ist für das Jahr 1837 als Gründer der „Erholungs-Gesellschaft“ vermerkt, deren Zweck „die gesellige Vereinigung ihrer Mitglieder und deren geistige Anregung” war.5 Aus beiden Familien tauchen in den Mitgliederlisten der wissenschaftlichen Vereinigung der „Gesellschaft für nützliche Forschungen“ verschiedene Namen auf. In den Subskriptionslisten zu den Ballveranstaltungen und Abendgesellschaften der so genannten „VauxhallGesellschaft“ erscheint des öfteren der Name Theodor Deutz, der auch Mitglied des „Clubs Aachener Casino“ war.6 Das Spektrum seines gesellschaftlichen Engagements zeigt, dass der Bruder Williams bemüht war, breite und unterschiedlichst konsumfreudige und konsumfähige bürgerliche Kreise und Milieus gleichzeitig zu frequentieren und dort Kunden zu akquirieren. Das Netz weitete sich von Aachen ausgehend jedoch innerhalb Deutschlands schnell aus, und es kamen Bestellungen aus Köln, Frankfurt, Düsseldorf, Bonn, Mainz, Fulda, Darmstadt, Krefeld, Berlin, Magdeburg oder Leipzig, um nur einige der Städte zu nennen, die Deutz bereiste und in denen allmählich ein fester Stamm von Agenten die Weine des Hauses Lambry, Geldermann und Deutz vertrieb. Aus 2 3
4 5 6
Archives départementales de la Marne (ADM) 126 M 53, 10. Juni 1845 (Geldermann) und 126 M 39, 5. Februar 1846 (Deutz). Zusammen mit dem Bürgermeister gehörten sie beispielsweise 1859 zu den Gründungsmitgliedern des „Cercle de commerce“. Zum „cercle“ als seit 1830 sich ausbreitender männlicher Geselligkeitsform vgl. Daumard, Adeline, Les bourgeois et la bourgeoisie en France depuis 1815, Paris 1987, 222. Nachweislich hatte er 1846 7,79 „ar de vigne“ erstanden, 1853 32,70 ar für 6253, 42 francs, vgl. ADM 3 Q 45 10, S. 56, Nr. 99 und 3 Q 45 13, S. 48, Nr. 43. Ich danke Frau Dr. Marga van den Heuvel, Erholungsgesellschaft Aachen, für die Auskunft. Vgl. im Stadtarchiv Aachen Arens, Eduard/Janssen, Wilhelm, Geschichte des Club Aachener Casino, gegründet 9. Dezember 1805. Ich danke Frau Margarethe Dietzel vom Stadtarchiv in Aachen für die Auskunft.
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Sankt Petersburg schreibt Lambry am 15. August 1844: „avec la masse d’agents que nous allons avoir de tous les côtés nos affaires devront augmenter par conséquent nous aurons besoin de plus de vin.“ Später kommen nicht nur von Lambry, sondern auch von Deutz Briefe aus Breslau, Riga, St. Petersburg oder Moskau. Vor allem wenn große Ereignisse ihre Schatten voraus warfen – so etwa der Thronwechsel in Berlin 1840 –, begann ein erbitterter Konkurrenzkampf zwischen den etablierten Champagnerhäusern. Wer bekam den Auftrag, die Festveranstaltungen mit dem edlen Getränk zu beliefern? Ob man nun den Zuschlag bekam oder nicht, man musste auf jeden Fall vorbereitet sein. Wichtigste Konkurrenten waren in all den Jahren die bereits etablierten Marken: Renaudin-Bollinger, Jacquesson, Moët, Montebello und natürlich „toujours la redoutable veuve“ – der Champagner des Hauses „Veuve Cliquot“, dessen Ruf bereits legendär war.7 Als Deutsche, die in Frankreich eine Existenz und Familien gegründet hatten, hofften Deutz und Geldermann auf deutsch-französische Kooperation – vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet. Doch auch wenn ihre Bindungen an Deutschland vor allem wirtschaftlicher und kultureller Natur waren, konnten ihnen die politischen Konflikte zwischen Frankreich und Deutschland nicht gleichgültig sein, beeinträchtigten sie doch den normalen und positiven Verlauf der geschäftlichen Beziehungen erheblich. In welcher Weise das geschah, möchte ich vor allem am Beispiel des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 aufzeigen. In den Wirren des Krieges sind Deutz und Geldermann in erster Linie Geschäftsleute geblieben. Die machtstaatlichen und nationalen Konflikte, welche die beiden Länder auf der politischen Ebene miteinander austrugen, sind kaum Thema der Briefe dieser Jahre. Die Korrespondenz mit den deutschen Vertretern, von denen einige wie der Berliner Aloys von Amelunxen Söhne, Brüder, Neffen oder Freunde im Krieg gegen Frankreich hatten, spricht zwar auch von menschlichen Ängsten als Dimensionen des Krieges, vor allem aber wurde der Krieg, der am 19. Juli 1870 mit der französischen Kriegserklärung begann, über seine gesamte Dauer nach seinen Auswirkungen auf den Champagnerkonsum und -handel befragt. Es war jedoch nicht immer einfach und bedurfte eines gewissen diplomatischem Geschicks beiderseits der Grenze, die Beziehungen auf die geschäftliche Ebene zu konzentrieren. Bereits Ende Juli 1870 versucht Amelunxen die Situation und Position aus seiner Sicht zu beschreiben: „Armes Frankreich! Wo der Unschuldige für den Schuldigen mitleiden muß. Bei dem Patriotismus, der überall in Deutschlands Gauen herrscht, ist es nicht anders denkbar, als dass Frankreich unseren Waffen unterliegen muss. Ich versichere Sie, meine Herren, es ist das keine Überhebung unsererseits!“8 Gleichzeitig mit der Versicherung der Anteilnahme bittet er die Geschäftspartner in Frankreich, sie mögen sich – wenn sich die Gelegenheit biete – um seinen Sohn August kümmern, von dem er ohne jede Nachrichten sei. Ein immer wiederkehrendes Thema der Korrespondenz während des Krieges ist die Transportfrage. Stets galt es aufmerksam im Auge zu behalten, welche Wege gerade frei und ungefährlich waren. Denn immer bestand die Möglichkeit, 7 8
Deutz an Geldermann, 3. August 1850, AD. Amelunxen nach Aÿ, 26. Juli 1870, AD.
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dass Etappensiege mit Champagner begossen werden sollten, der dann schnell vor Ort sein musste. Zudem wurde seit Beginn des Krieges auch in der Champagnerbranche mit einem baldigen Abschluss des Krieges und entsprechenden Feierlichkeiten gerechnet. Dafür, dass Kriege auch für die Champagnerbranche durchaus lukrativ sein konnten, gab es schließlich berühmte und nachahmenswerte Vorbilder. Sie konnten Grenzen aufheben, einen offenen Markt schaffen und neue Möglichkeiten des Kennenlernens und des Transfers von Waren eröffnen. So rät Amelunxen am 19. Oktober 1870: „Wenn Sie preußische Offiziere ins Quartier bekommen, so vergessen Sie nicht unsere Marke denselben zu empfehlen, das ist später von großem Nutzen, die Cliquot wurde so durch die Empfehlung der Offiziere 1815 groß in Russland.“ In welch bizarrer Weise sich Kriegsgeschichte und Geschäft vermischen, wird etwa in dem Schreiben Amelunxens vom 16. November 1870 deutlich: zum einen bereichtet er stolz, dass sein Sohn nun vor Paris liege und somit den Einzug der deutschen Truppen in die französische Hauptstadt mitmachen werde. Gelten seine Gedanken und Wünsche zunächst dem Sohn, dessen Wohl und Ehre, wird der deutsche Vater nahtlos zum Geschäftsmann. Er überlegt: „Trotzdem die Deutschen siegen, liegen alle Geschäfte mehr oder weniger darnieder und Geld sehr knapp. Wie es ausgegangen wäre, wenn umgekehrt Ihre Landsleute bei uns statt bei Ihnen hausten, ist nicht zu beschreiben. Ich bin überzeugt nach dem Frieden wird ein schönes Geschäft werden.“ Ähnlich ein paar Tage später: „Wenngleich das Geschäft total darnieder liegt und man kaum Menschen Champagner öffentlich trinken sieht, so glaubt man allgemein, der Friede mit Frankreich wird ein großartiges Geschäft herbeiführen und da will keiner in Verlegenheit geraten, in Betreff Champagner-Vorrat.“9 Wird hier schon deutlich, dass es galt, neben dem Kriegsschauplatz auch die Konkurrenz im Auge zu behalten, wird diese Sorge in einem Brief vom 3. Dezember 1870 explizit: „mein großer Kummer zur Zeit hier ist, dass von Aÿ weder via Belgien noch Strasbourg eine Kiste, weder für unsere Abnehmer noch für unser Lager angekommen ist! Dahingegen sind von den Häusern Roederer, Heidsick, Mumm, Pommery & Greno u.s.w. so bedeutende Sendungen angekommen, dass jeder Bedarf gedeckt ist! Ich begreife nicht, wo unsere Weine bleiben? […] Die Leute in Sachsen, Leipzig, Dresden, auch teilweise in Schlesien sagen‚ wir schreiben Ihnen nach Berlin, wenn der Friede proclamiert ist und Bedarf eintritt, für den momentanen Bedarf haben wir Wein genug, da kein Champagner bei dieser geldknappen Zeit getrunken wird.‘ Hier in Berlin mehren sich die Fallissements namentlich in der Mode- u. Luxusbranche von Tag zu Tag und werden wir noch manches erleben, wenn der Krieg nicht bald sein Ende erreicht.“ Wie zweitrangig letztlich für die Mitarbeiter des deutsch-französischen Unternehmens die politische Dimension des Krieges war, zeigt auch ein Brief des Vertreters Sommer, der sich über die Kapitulation von Metz aus zwei Gründen freute: Zum einen ginge für seinen Sohn, der als Offizier vor Metz eingesetzt war, eine schwere Zeit zu Ende.10 Zweitens könne dieser vielleicht auf dem Weg von Metz nach Paris den Geschäftspartnern in Aÿ einen Besuch abstatten. Das Champagner9
Amelunxen nach Aÿ, 26. November 1870, AD.
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haus in Aÿ war nicht in erster Linie „Feind“, sondern zu den Mitgliedern des Familienunternehmens bestanden inzwischen auch persönliche Beziehungen. Die Hoffnung, dass der Etappensieg in der deutschen Hauptstadt entsprechend begossen würde, wurde allerdings enttäuscht: Amelunxen meldet aus Berlin: „Die Kapitulation von Metz wurde zwar mit Begeisterung von der hiesigen Bevölkerung entgegengenommen, doch war gestern Abend kein Leben in den Weinstuben. Die Champagner-Trinker sind meistens auf dem Schlachtfeld.“11 Wenige Tage später drohte wiederum die Gefahr, dass es Grund zum Feiern geben könnte, ohne das dafür geeignete Getränk bereit zu haben. In Belgien war die Rinderpest ausgebrochen und die Grenzen waren geschlossen worden. Amelunxen sah bereits das Szenario: Wenn nun Paris kapitulierte und damit der Friede absehbar wurde, werde Deutschland „in Lust und Laune taumeln“, doch wenn keine Lösung für die Transportschwierigkeiten gefunden werde, ohne Champagner von Deutz und Geldermann – das wäre „höchst fatal“.12 Gute Beziehungen zum Grenzpersonal schienen hier vonnöten, die Moët etwa zu haben schien.13 Es mussten also andere Transportwege gefunden werden, und in der Tat gingen die Lieferungen nach der Kapitulation Straßburgs seit Ende 1870 über die Straßburger Firma Stähling und Sohn. Überall musste man Augen und Ohren offen haben in diesen Zeiten des Krieges, denn die Geschäfte gingen weiter, nur ein wenig anders. So hatte Deutz gehört, dass die Offiziere in Metz viel Champagner tranken, jedoch mit ihrer derzeitigen Marke nicht zufrieden seien. Deshalb sollte schnellstmöglich jemand mit Proben nach Metz.14 Dass die eigene Marke unter preußischen Offizieren beliebt war, hatte man bereits erfahren,15 denn auch die Armee vor Paris nutzte die Gunst der Nähe, und die Offiziere kauften Champagner vor Ort. Anfang des Jahres 1871 waren es nicht weniger als 400 Flaschen in einer Woche, die bar bezahlt wurden.16 Diese spontanen Gewinne wurden jedoch schnell zunichte gemacht durch die Steuer, die Preußen als Ausgleich für aus Frankreich ausgewiesene Deutsche erhob. Allein die kleine Gemeinde Aÿ musste 9000 Francs zahlen, von denen die Champagnerhäuser Deutz-Geldermann und Bollinger je 1000 Francs übernahmen.17 Ähnlich ambivalent waren die Kriegsfolgen im Alltags- und Familienleben des deutsch-französischen Unternehmens. William Deutz blieb die Kriegsmonate über in Aachen, einerseits, weil er eine antideutsche Stimmung in Frankreich fürchtete,18 aber auch, um von Aachen aus zwischen den überall in Europa verstreuten Vertretern und dem Stammhaus in Aÿ zu vermitteln und darüber hinaus 10 Kopie eines Briefes vom 30. Oktober 1870 von Sommer aus Magdeburg, die Deutz am 2. November seinem Brief nach Aÿ beilegt, AD. 11 Kopien zweier Briefe von Sommer aus Magdeburg an Deutz nach Aachen, 30.10.1870 und von Amelunxen an Deutz nach Aachen 28. Oktober 1870, AD. 12 Kopie eines Briefes von Amelunxen an Deutz, 9. November 1870, AD. 13 Deutz nach Aÿ, 17. November 1870, AD. 14 Deutz nach Aÿ, 9. und 17. Februar 1871, AD. 15 Amelunxen, 16. November 1870: sogar als „Liebesgaben‘ wurde Champagner geschickt, AD. 16 Menges an W. Deutz, Aÿ, 12. Februar 1871, AD. 17 René an William Deutz, 28. Oktober 1870, AD.
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die Geldangelegenheiten in Deutschland zu regeln. Die Angst, mit der viele Deutschstämmige an ihre Rückkehr dachten, drückt im September 1870 unumwunden der deutsche Mitarbeiter des Hauses Deutz-Geldermann Herrmann Menges aus. Von Darmstadt aus schrieb er besorgt zunächst in französischer Sprache nach Aÿ: „vous savez que tout m’intéresse mais surtout l’esprit de la population d’Aÿ“. Schließlich fährt er bekümmert in deutscher Sprache fort: „von Freunden wage ich [...] nicht mehr zu sprechen, denn der Hass auf Deutschland hat sich höchst wahrscheinlich auch auf meine unschuldige Person ausgedehnt.“19 Auch René, der Junior des Hauses Deutz, konnte die Situation nicht so recht einschätzen und wußte nicht, ob er im Oktober 1870 dem Vater zur Rückkehr raten sollte, so wie einige schon zurückgekehrt waren. Besser sei es wohl, abzuwarten. Deutz senior kehrte in der Tat erst nach Abschluss des Waffenstillstandes im Februar 1871 zurück. Wie widersprüchlich die Auswirkungen eines deutsch-französischen Krieges für ein deutsch-französisches Unternehmen tatsächlich sein konnten, zeigt der Fall von zwei deutschen Mitarbeitern des Hauses. Die befürchtete antideutsche Stimmung, die Deutz und Menges daran hinderte, bereits im Winter 1870 zurückzukehren, konnte aus einer anderen Perspektive durchaus auch von Vorteil sein. So schien die Situation für René Deutz eine günstige Gelegenheit zu bieten, um sich zweier deutscher Mitarbeiter zu entledigen, mit denen man ohnehin nicht recht zufrieden war. Im Dezember 1870 fragt er den Vater um Rat: „Que pensestu faire avec Conrad; ce garçon ne nous rendra jamais de grands services et je suis d’avis de profiter de cette occasion pour le lâcher; on peut toujours dire que les esprits sont montés contre les Prussiens et que les jeunes gens ne peuvent pas revenir de si tôt. M. Behr ne peut revenir ici non plus de si tôt et si nous sommes obligés de lui payer ses appointements il nous reviendra cher. Je vais rendre les logements de Behr et Conrad et dans tous les cas s’ils reviennent ils en trouveront d’autres. Répond-moi à ce sujet le plus tôt possible.“20 Wir wissen nicht, was Deutz geraten hat und was aus den beiden Mitarbeitern geworden ist. In der Tat war es auf beiden Seiten nicht leicht, die Wirkungskraft, die das nationale Denken 1870 in der Bevölkerung erlangt hatte, einzuschätzen.21 Gerade Champagner als einem mit Frankreich eng verbundenem Luxus- und Konsumgut konnte dabei schnell zum nationalen Symbol und zentral für die Vergewisserung 18 Vgl. Amelunxen an Deutz, (Kopie), Berlin 4. Februar 1871: „Hoffentlich werden Sie nunmehr unangefochten und ungeschoren auf Ihrem Eigentum im Kreise der lieben Ihrigen sich wieder bewegen können, und dort in Aÿ auf den lang ersehnten Frieden […] abwartend.“ (AD). 19 Menges nach Aÿ, 14. und 27. September 1870, AD. 20 René an William Deutz, 1. Dezember 1870, AD. 21 Vgl. dazu Langewiesche, Dieter, Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 190–236, 212f.; Jeismann, Michael, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart, 1992; Haupt, Heinz-Gerhard/Tacke, Charlotte, Die Kultur des Nationalen. Sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze bei der Erforschung des europäischen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, in: W. Hardtwig/H. U. Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 255–283, 256, 259.
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von Zugehörigkeiten werden.22 Das lässt sich an verschiedenen Beispielen belegen. „Man muss die Kundschaft wahrlich jetzt mit glacé-Handschuhen anfassen, die hohe Steuer, schlechtes Geschäft, abnorme Verluste, macht dieselben zu wütend gegen alles, was nur französisch ist!“23 schildert der deutsche Agent die Stimmung in Berlin. Und in den gleichen Briefen, in denen er seine Hoffnung auf einen baldigen Frieden und eine damit verbundene Belebung oder zumindest Stabilisierung des Geschäfts ausdrückt, muss er als eine erste Auswirkung des deutschfranzösischen Gegensatzes über einen Rückgang des Champagnerkonsums berichten. Am 16. Februar 1871 schreibt er: „Die deutschen Champagnergenießer glauben nämlich fest, die französischen Häuser hätten schlechtere Weine gesandt – denn früher vor dem Kriege!! In den hiesigen öffentlichen Lokalitäten der Demimonde, […] wo ein sich täglich wiederholender Champagner Consum ist, trinkt das Publikum nur deutsche Schaumweine!“24 Champagnerhandel und -konsum als Kriegsschauplatz? Die zahlreichen Ausrufungszeichen in Amelunxens Bericht verleihen seiner Fassungslosigkeit, seinem ungläubigen Staunen sichtbaren Ausdruck. Und doch war in einigen Kreisen der deutsch-französische Konflikt, für die Geschäftsleute offenbar unbemerkt, von der politischen auf die Alltagsebene des Argwohns und Misstrauens ausgedehnt worden. Zwei Tage nach Annahme der deutschen Friedensbedingungen und dem Einzug der deutschen Truppen in Paris, ein Ereignis, auf das sich die gesamte Champagnerbranche in Hinblick auf die deutschen Siegesfeiern vorbereitet hatte, muss Amelunxen die Hoffnungen auf erhöhten Champagnerkonsum aufgeben. Am 3. März 1871 schreibt er an René Deutz: „Hier ist wegen des definitiven Friedens seit gestern großer Jubel – jedoch keine Freude soll vollkommen sein; in allen Kneipen trinkt man deutsche Mousseux Rhein-Weine, aus momentanen patriotischen Gefühlen und man wird gelästert, wenn man französischen Sekt fordert.“ Doch Amelunxen fügt zuversichtlich hinzu: „Doch der Wahnsinn verschwindet bald wieder.“ 25 Und in der Tat kann er denn auch am 17. März beruhigen: „Heute, wo der Kaiser von Deutschland, Wilhelm I., nach Berlin zurückkehrt, wird noch manches Gläschen Champagner, trotz allem Patriotismus, geleert werden.“ Auch in den folgenden Jahren tut der Patriotismus dem Champagner-Konsum offenbar keinen Abbruch, insbesondere die Offiziere der im Reichsland stationierten Truppen scheinen dem französischen Luxusgetränk besonders zugesprochen zu haben.26 Am Beispiel zweier deutschstämmiger französischer Champagnerhändler können nicht nur Erkenntnisse über ökonomische, handels- und konsumgeschichtliche Entwicklungen gewonnen werden. Der konkrete Fall erlaubt es auch, den Nationalismus des 19. Jahrhunderts auf seine soziale Relevanz zu überprüfen und 22 23 24 25 26
Vgl. auch Haupt/Tacke (Anm. 21), S. 281. Amelunxen nach Aÿ, 18. Januar 1871, AD. Amelunxen nach Aÿ, 16. Februar 1871, AD. Amelunxen an René Deutz 3. März 1871, AD. Ich beziehe mich auf die Zusammenfassung der Bestellungen und Rechnungsbücher dieser Jahre durch Rodolphe Verbeke, AD, 22.03.2002.
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die kulturellen Praktiken in den Blick zu nehmen, in denen sich die nationale Selbst- und Fremdwahrnehmung ausdrückte. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konnte der deutsche Sekt dem französischen Champagner keine ernsthafte und dauerhafte Konkurrenz werden. Im Jahre 1900 exportierten das Haus Deutz-Geldermann 43% des Gesamtexports nach Deutschland, soviel wie nach Großbritannien, und zum Geburtstag des deutschen Kaisers wurde mit sieben anderen Marken auch Champagner aus dem Hause Deutz-Geldermann eingeschenkt. Mit dem neuen Jahrtausend fand jedoch eine zukunftsweisende Aufteilung in der deutsch-französischen Familien- und Firmengeschichte statt. Die Firmeninhaber von Deutz und Geldermann beschlossen, zum neuen Jahrhundert eine Filiale im damals deutschen Hagenau zu gründen, von der aus seit 1905 große Teile des deutschen Marktes beliefert wurden. Die hohen Zollabgaben konnten so umgangen und der in Hagenau abgefüllte Deutz-Geldermann-Champagner zu deutlich günstigeren Preisen als das Original aus Aÿ angeboten werden. Mit dem Beginn des Krieges 1914 gerät das Unternehmen erneut buchstäblich zwischen die Fronten: In Großbritannien musste auf den Etiketten der Weine aus dem Hause Deutz-Geldermann betont werden, dass es sich um eine „maison française“ handelte, und der englische Vertreter des Hauses war bemüht, in seinem Land klarzustellen, dass seine Geschäftspartner „Frenchman in the fullest sense of the word“ seien, „by parantage and birth“ und dass sie zudem als französische Offiziere in der französischen Armee dienten.27 Dem gegenüber sollten für den deutschen Markt die Etiketten in weiten Teilen übersetzt werden, vor allem aber der französische Ortsname Aÿ verschwinden und durch Hagenau/E[lsass] ersetzt werden. Der junge Amlunxen jedoch hatte nicht nur das Geschäft von seinem Vater übernommen, sondern auch dessen abwartenden Pragmatismus. Zu oft schon war es anders gekommen, als man zunächst erwartet hatte, und so riet er in vorausschauender Weisheit: „Im Großen und Ganzen glauben wir, dass eine EtikettenAenderung nicht unbedingt nötig ist, und man es so lassen kann, wie es bisher war. Während des Krieges wird ein nennenswerter Umsatz nicht zu erzielen sein, schon weil die Trinker im Lande fehlen, und jeder zur Sparsamkeit und Zurückhaltung aufgefordert wird. Auch nimmt das frühe Schließen der Lokale die Zeit zum Trinken. Die Änderungen, die nach dem Krieg vorzunehmen sind, müssten dann geklärt werden […].“ Doch das ist eine weitere deutsch-französische Geschichte. Prof. Dr. Bärbel Kuhn, Professorin für Didaktik der Geschichte, Universität Duisburg-Essen
27 Brief des britischen Agenten Parkington vom 3. November 1914, AD.
JUMELAGE REIMS–AACHEN EINE BILDGESCHICHTE DEUTSCH-FRANZÖSISCHER BEZIEHUNGEN ÜBER INTERESSEN, GESELLSCHAFTLICHE VERFLECHTUNGEN UND DIE BEDEUTUNG VON SYMBOLEN
(ARMIN
HEINEN)
Endlich, nach 10 Jahren, eine Städtepartnerschaft zwischen Aachen und Reims, L’Union (Reims), 10. Januar 1967
Nichts lag 1957 näher als eine Städtepartnerschaft zwischen Reims und Aachen: hier die Stadt der Salbung französischer Monarchen, dort die Stadt der Erhebung deutscher Könige. Beide Orte beherbergten und beherbergen wertvolle christliche Reliquien und beide symbolisieren die Einheit des Abendlandes, durch Verweis auf die Taufe Chlodwigs zum einen, durch die Pfalz Karls des Großen zum anderen. Beide Städte wurden in Kriegen zwischen Deutschland und Frankreich verwüstet. In beiden ragten nach Kriegsende nur die Kathedrale bzw. das Münster aus den Trümmern hervor, eindringliche Ermahnung an die Überlebenden, das Trennende zu vergessen und das Verbindende zu suchen. Aber als das Aachener Bürgertum Reims 1957 die Städtepartnerschaft antrug, da reagierte die französische Gemeinde verwirrt, ablehnend, zögerlich. Das mag den heutigen Beobachter weniger verwundern als die Zeitgenossen, angesichts der Zumutung eines von außen erzwungenen Wandels der Selbstdeutung für die französische Gemeinde. Denn Reims vermochte mit der Symbolkraft einer durch die Deutschen zerstörten Stadt durchaus zu leben, allerdings auch einer Stadt, die den Deutschen die bedingungslose Kapitulation aufgezwungen hatte. Demgegenüber hatte Aachen sich nach dem Krieg neu erfunden, nicht mehr „Bollwerk im Westen“ wie vor dem Krieg, sondern „Ort des Karlspreises“, und damit Symbol europäischer Gesinnung, abendländischer Verbundenheit und des demonstrativen Friedenswillens.
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Drei Mal wurde Reims Opfer deutsch-französischer Kriege: 1870, 1914, als die Innenstadt total zerstört wurde, und 1940. Die geografische Lage des Ortes – Reims liegt nur 40 Fußstunden von Paris entfernt –, ihr Ausbau zur Festung und ihr symbolischer Rang ließen die Stadt die Verwundungen des Krieges schmerzhafter noch als andernorts spüren. Bereits während des Ersten Weltkrieges begann eine Propagandaschlacht, weil die Kathedrale mit Granaten beschossen worden war. Die deutsche Heeresleitung sprach von widerrechtlicher Nutzung der Türme als Beobachtungsposten für die Artillerie. Aus französischer Sicht wurde das Gebäude als religiöses Symbol und nationales Denkmal bewusst zerstört, gleichsam manifester Ausdruck deutscher Barbarei. Der Wiederaufbau Die Reimser Kathedrale und deren Vorfeld nach dem Beschuss 1914, Berliner der Kirche gelang erst 1938, zwei Jahre vor Illustrierte Zeitung, 23. Januar 1916 dem neuerlichen deutschen Angriff. Dass die französische Politik 1945 gänzlich neue Herausforderungen meistern musste im Vergleich zu 1918, zeigte bereits der Kapitulationsakt in Reims. Eisenhower unterzeichnete die Urkunde für die Westfront und Sosloparow für die Ostfront. Dem französischen General Sève verblieb die undankbare Rolle des Zeugen. Anders als England oder die USA musste Frankreich das Trauma der Niederlage im Juni 1940 erst noch bewältigen. Es galt, das Land grundlegend zu modernisieren und den Anspruch auf Mitsprache im internationalen Ringen nachhaltig zu begründen. Da die französische Regierung kaum Trumpfmittel in der Hand hielt, um von außen Unterstützung einzufordern, setzte sie auf die Furcht der Westalliierten vor Reimser Hauptquartier General Eisenhowers. Hier erfolgte am 7. Mai dem Kommunismus 1945 die bedingungslose Kapitulation durch General Alfred Jodl. „Musée de la Reddition du 7 mai 1945“. Aus: Guillaume sowie auf das verblie- Heute LeQuintrec, Peter Geiss, Histoire – Geschichte. Europa und die Welt bene Vetorecht in der seit 1945, Deutsch-französisches Geschichtsbuch, Stuttgart 2006, S. Deutschlandfrage. 302
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Als doppelte Deutschlandpolitik hat Dietmar Hüser den Sachverhalt gekennzeichnet, als Versuch, das komplizierte Geflecht von Innen- und Außenpolitik, von Finanz- und Sicherheitspolitik zu verknüpfen. Innenpolitisch machte sich eine „scharfe“ Deutschlandpolitik gut, ebenso „außenpolitisch“, weil Paris nur hier über Druckmittel verfügte. Langfristig aber war Sicherheit an der Ostgrenze nur mit den Deutschen zu erreichen, mit einem demokratischen und wirtschaftlich leistungsfähigen Land. Während die Presse die Rhetorik des Ersten Weltkrieges aufgriff, waren die internen Planungen sehr viel offener und zukunftsgewandter. Darauf hat Rainer Hudemann hingewiesen. De Gaulle nämlich ging es um „moralische Eroberungen“, denn ohne Zustimmung musste jede Machtstellung zerbröckeln. Das Angebot einer Kooperation mit Frankreich galt für alle Deutschen, wenn sicherlich auch geografisch gebrochen: Es richtete sich eher an die „Rheinbundbewohner“ als an die „Preußen“. Aber unmittelbar nach dem Krieg war die französische Metropole zu schwach, um die Offerte auf allen Feldern gleichermaßen auszufüllen. Zunächst musste das eigene Land aufgerichtet werden, galt es, die zukünftige Entwicklung im Osten zu kennen und war sicherzustellen, dass die Amerikaner Aachener Nachrichten, 10. September 1949, und Engländer die Front gegenüber der aus: Wolfgang Marienfeld, Die Geschichte Sowjetunion stabilisierten. Was Frank- des Deutschlandproblems im Spiegel der reich unter diesen Umständen in der Kul- politischen Karikatur, Hannover, 2. Aufl., 1991, S. 27 turpolitik oder der Sozialpolitik seiner Zone leistete, war aller Ehren wert. Die Saarabtrennung, auffälligstes Element einer scheinbar negativ orientierten Deutschlandpolitik, diente der Schwächung Deutschlands, der vermeintlichen Stärkung des eigenen Landes, zielte auf die Beruhigung antideutscher Ressentiments in der französischen Öffentlichkeit und war zugleich ein Test, ob die Deutschen bereit waren, ihrem Nationalismus abzuschwören. An der Saar selbst fand das französische Anerbieten zeitAusschnitt aus einer Karikatur von Fritz Behrendt in weilig einen durchaus positiven der FAZ, 23.1.1988. http://www.ac-creteil.fr/allemand/ Widerhall. identite/8—dossier_identite. htm
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Noch Ende 1954 hatten nur neun Prozent der befragten Franzosen eine gute Meinung von den Deutschen. Umgekehrt sprachen nur zwölf Prozent der Deutschen positiv über die Franzosen. Dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hart bestraft werden müsse, dass Reparationen gezahlt werden sollten, das Deutsche Reich zerstückelt werden müsse, entsprach der Auffassung einer großen Mehrheit der französischen Bevölkerung. „Kein Pardon den Deutschen!“, forderten die Kommunisten, verlangten viele Gaullisten, forderte der Mann auf der Straße. Nur wenige widersprachen. Gleichzeitig, und hier stimmten Deutsche und Franzosen überein, optierten 73 Prozent für eine europäische Föderation. Das gab der Politik die entscheidende Handlungsfreiheit. Dennoch, das deutsch-französische „Versöhnungsprojekt“ beruhte auf einem klaren politischen Willen, der gegen die Öffentlichkeit durchgesetzt werden musste.
Zeichnung: Klaus Pielert, 1950, aus: Martina Boden, Europa von Rom nach Maastricht, München 1997, S. 12
Möglich machte die Annäherung eine spezifische Konstellation: 1.) die ganz unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen (sozial, wirtschaftlich, politisch) in Deutschland und Frankreich, 2.) die hieran anknüpfende komplementäre Interessendefinition und 3.) die Übersetzung realpolitischer Ziele in ein gemeinsam zu entwickelndes europäisches Zukunftsprojekt. Paris ging es dabei um die Lösung des Deutschlandproblems, also die Kontrolle des wiedererstarkenden Staates an der französischen Ostgrenze, und um die Modernisierung der eigenen Wirtschaft, wobei Frankreich vor ruinösem Wettbewerb geschützt werden und zugleich Zugriff auf den deutschen Markt erhalten sollte (Kohle, Stahl, Agrarprodukte).
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Auf deutscher Seite zielte die Kooperation auf die Rückgewinnung von Souveränität, die dauerhafte Einbindung in den Westen und die Verhinderung eines Wiederauflebens von Nationalismen. Als Robert Schuman am 9. Mai 1950 seinen Vorschlag einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl unterbreitete, hatte Adenauer bereits zugestimmt. Die Idee einer europäischen Kooperation war ja nicht neu, aber erstmals fügte der Plan konkrete Interessen und Utopien in geschickter Weise zusammen.
„Ist der Mai nicht wunderbar? Selbst das erbverfeindete Paar träumt von klingendem Genuß bei dem ersten Schumankuß“. Archiv R. Schummer. (Nachzeichnung: Monika Röther) – http://archives.arte-tv.com/special/dixans/ images /2–3.jpg
Adenauer wurde die ungeliebte Ruhrbehörde los, und Frankreich konnte unter geschützten Bedingungen die Modernisierung seiner Wirtschaft vorantreiben. Im Blick der Zeitgenossen war die Spannung zwischen Utopie und Interessenverfolgung offensichtlich. Aber das Bild zivilisierten Interessenausgleichs mit möglichen Effekten, die über den engen Handlungsbereich Kohle und Stahl hinauswiesen, faszinierte. Die Stärke des Schumanplans lag gerade in der Begrenzung der Ziele, im Geben und Nehmen auf engem wirtschaftlichen Feld, das gleichwohl Perspektiven eröffnete. Europäische Verteidigungsgemeinschaft und Europäische Politische Gemeinschaft überforderten dagegen die Beteiligten, und deshalb scheiterten sie 1954. Erst EWG und Euratom 1957 berücksichtigten neuerlich das Prinzip gegenseitigen Gebens und Nehmens. Allzu viel Aufsehen erregten die Römischen Verträge allerdings nicht. Anderes hinterließ nachhaltigere Wirkung.
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De Gaulle und Adenauer singen während eines Gottesdienstes gemeinsam das Te Deum in der Kathedrale von Reims, 8. Juli 1962. http://perso.orange.fr/ cchamorand/hist/images/reims.jpg
Der Meinungsumschwung in Deutschland und Frankreich setzte Mitte der fünfziger Jahre ein. In der Saarfrage hatte Frankreich sich als aufrechte Demokratie erwiesen und eine Rückkehr des Landes zur Bundesrepublik ermöglicht. Die Kolonialkonflikte sensibilisierten die französische Öffentlichkeit für ganz andere Sicherheitsprobleme als die Ostgrenze. Und auch wirtschaftlich bzw. gesellschaftlich war die Ausgangslage gegenüber der Nachkriegszeit verändert. Der Außenhandel zwischen Frankreich und der Bundesrepublik florierte, nicht zuletzt wegen der Römischen Verträge. Und viele junge, gebildete Deutsche trugen schwarze Pullover und entdeckten Frankreich als das Land von Sartre und Juliette Gréco. Und doch verfehlte das gemeinsame „Te Deum“ von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer in der Reimser Kathedrale, der Appell an die gemeinsamen Traditionen des Abendlandes, nicht seine Wirkung. Die Nachkriegsjahre waren damit auch symbolisch abgeschlossen.
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Rainer Bölling, Deutschland und Frankreich. Vom „Erbfeind“ zum Partner, Stuttgart 1996, S. 87
Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag vom 22. Januar 1963 verpackte nüchternes außenpolitisches Kalkül – Misstrauen gegenüber den USA, Aufbrechen des bipolaren Weltsystems und Stärkung intergouvernementaler Strukturen – in ein attraktives Bild. Konkret sah er ein regelmäßiges Treffen von Ministern vor – das war gut -, legte auch den Grundstein für das Deutsch-Französische Jugendwerk – das war hervorragend -, aber für die militärische Sicherheit setzte Bonn nach wie vor auf Washington. Und als im Verlauf der Ratifizierung Bundestag und Bundesrat eine Präambel einfügten, wonach der Vertrag sich weder gegen atlantische noch gegen europäische Integrationsbestrebungen richtete, war de Gaulles Konzept einer privilegierten Juniorpartnerschaft für Bonn gescheiterte. Fortan setzte er auf sein Vetorecht in Europa (Luxemburger Kompromiss). Freilich unterfütterte die gesellschaftliche Entwicklung die Idee einer deutschfranzösischen „Hochzeit“. Während die Politik zögerte und das europäische Experiment nur langsam vorankam, machten Deutsche und Franzosen ihre eigenen Erfahrungen mit dem jeweils anderen Land, entdeckten das aufregende, gleichwohl vertraute Fremde.
Ausschnitt aus einer Karikatur v. F. Behrendt
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Frühneuzeitliche Kartenzeichnung von Aachen. Frühneuzeitliche Kartenzeichnung von Reims, Heinz Malangré, Aachen-Reims. Notizen zur in: Aachen. Bilder und Berichte, 18 (1966), S. 5 Partnerschaft. Zwei Krönungsstädte im Beziehungsspiel von deutsch-französischer Geschichte und Lebensart, Aachen, 2004, S. 174
Am 28. Januar 1967, dem Todestag Karls des Großen, war es soweit: Aachen und Reims feierten ihre Städtepartnerschaft. Konnte man nicht Chlodwig und Karl den Großen als die gemeinsamen Urväter beider Nationen feiern? Eine „Hochzeit“ unter Verwandten war angesagt. Der französische Reporter monierte während seiner Reise nach Aachen, dass hier und dort die Partnerstadt amerikanisches Flair ausstrahle, das deplatziert wirke. Ansonsten faszinierte, dass sowohl die Kathedrale wie das Münster der Heiligen Maria geweiht waren, beide Städte während des Mittelalters in engem kulturellem Austausch gestanden hatten und doch die Krönungszeremonien so vollkommen unterschiedlich gestaltet worden waren. Der französische König war gesalbt worden, der deutsche gekrönt. Da war europäische Gemeinsamkeit und Vielfalt erfahrbar. Coopération franco-allemande. Moisan. Le Canard enchaîné, 26. Januar 1983. De Gaulle: „Eh bien! On y va comme ça, petit. Et que le meilleur gagne.“. Kohl: „Eh bien! On continue comme ça, petit! C’est gagné“. (Nachzeichnung: Monika Röther). Http:archives.artetv.com/special/dixans/dtext/ caricatures.htm
In den Folgejahren kehrte sich das Verhältnis Frankreichs zu Deutschland um. War es zunächst darum gegangen, Westdeutschland eine Perspektive zu geben und Frankreich mit Hilfe Deutschlands zu stärken, so zielte die französische Politik seit den sechziger Jahren darauf, Deutschland zu zähmen. Dem diente anfangs
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das französische Veto in der EWG, später die schrittweise Ausweitung der Integration. Freilich eigneten sich die nüchternen technischen Vereinbarungen der siebziger Jahre kaum für große Gesten. Als Helmut Schmidt und Giscard d‘Estaing am 14. und 15. September 1978 in Aachen die deutsch-französischen Konsultationen abschlossen, vermieden sie jede große Gebärde und stellten vor allem die Fortschritte bei der Gründung des Europäischen Währungssystems heraus. In seiner Abschlussrede erläuterte Giscard d‘Estaing: „Auf dem Aachener Treffen konnten die Probleme im Zusammenhang mit den Mechanismen eingehend untersucht und ähnliche Ansichten zwischen dem deutschen und dem französischen Partner zu diesen Fragen festgestellt werden. Diese Mechanismen werden von Montag an im Rat der Gemeinschaften geprüft werden, und ich bin überzeugt, dass wir einen bedeutenden Beitrag zur Errichtung eines gemeinsamen Systems leisten können.“ (http://www. ena.lu?_lang=3&doc=8752) Eine solch hölzerne Sprache technokratischer Konfliktregulierung konnte die Menschen kaum mitreißen. Darüber hinaus festigte das Europäische Währungssystem die DM in ihrer Rolle als Leitwährung, während die Bundesbank sich im Gegenzug zur Unterstützung des Franken verpflichtete.
22. September 1984. http://medias.francetv.fr/bibl/ url_images/2006/01/02/image_16835729.jpg
François Mitterrand und Helmut Kohl hatten ein ganz anderes Gespür für Symbole als ihre Vorgänger. Am 22. September 1984 zelebrierten sie während ihres Treffens in Verdun den großen Auftritt an den Gräbern der Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Mehr als die Jahre 1940–1944/45, Jahre der Kollaboration und der wirtschaftlichen Ausbeutung durch Deutschland, hatte sich der Erste Weltkrieg mit seinen enormen Menschenopfern in das kollektive Gedächtnis Frankreichs eingeprägt. Insofern reagierte der Akt stärker auf französische als auf deutsche Bedürfnisse, und doch blieb die Wirkung der Geste generell gering, denn all zu offensichtlich schien das Plagiat zum Treffen Adenauers und de Gaulles in Reims. Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber einem immer stärker werdenden Deutschland blieb in der politischen Klasse Frankreichs lebendig. Als 1989/90 die deutsche Vereinigung anstand, meinte Pierre Bérégovoy, damals Finanz- und Wirtschaftsminister: Die Europäische Gemeinschaft ist tot. Deutschland wird alles dominieren. Ähnlich warnte Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement, das
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vereinte Deutschland stelle eine Gefahr für die französische und europäischer Sicherheit dar. Selbst Mitterrand soll geäußert haben, es dürfe nicht passieren, dass man sich in einem zweiten München wiederfinde. Gewiss gab es auch andere Stimmen. Raymond Barre, zentristischer Gegenspieler Bérégovoys, meinte: Wir müssen keine Angst haben. Frankreich ist nicht mehr das Frankreich von 1914, 1939 oder 1950.
„Wird es zu einer friedlichen Nutzung der alten Symbole kommen?“ Le Canard enchaîné, 10. November 1990. (Nachzeichnung: Ines Soldwisch) http:// archives.arte-tv.com/special/dixans/dtext/ Karikaturen4.htm
Jedenfalls standen Deutschland und Frankreich ganz anders miteinander in Verbindung als vor dem Krieg. Das Bild von der deutsch-französischen Verständigung prägte die gegenseitige Wahrnehmung. Reimser Bürger reisten nach Aachen, Aachener nach Reims. Innerhalb der ersten 20 Jahre lernten mehr als 20.000 Menschen einander kennen. Seitens der Aachener Geschäftswelt fanden „französische Wochen“ statt, Restaurants und Hotels boten „französische Küche“ an. Selbst wenn das ein oder andere Ereignis Irritationen hervorrief, etwa, weil die wilden Karnevalisten der Champagne die bürgerlich-adretten Fastnachtssoldaten aus Aachen mit Geschossen von Mehl und Eiern begrüßten, änderte das nichts an der guten Stimmung. Die großen Firmen hatten im jeweils anderen Land investiert, der Konsum in beiden Ländern wurde „amerikanischer“ und auch die sozialen Strukturen glichen einander an. Noch Ende der 1960er Jahre hielten 39% der Franzosen und 27% der Deutschen einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland für möglich. Aber als 1989 wegen der deutschen Einheit französische Politiker zauderten, da war es die französische Öffentlichkeit, die Vertrauen in den deutschen Nachbarn besaß. Zwischen 61% und 73% schwankte die Zustimmungsrate zur Einheit, ein Wert, der in Deutschland kaum anders aussah. Hatte nach dem Krieg die Politik der Öffentlichkeit den Weg gewiesen, war es nun die Öffentlichkeit, die der Politik den Weg zeigte.
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„Der Stachel“ – Le Canard enchaîné, 8.7.1970. http://archives.arte-tv.com/special/dixans/ images/3–3gif.jpg
Trotz allem bedeutete die deutsche Einheit eine enorme Herausforderung für Paris. 59 Mio. Einwohner lebten um 2000 in Frankreich, 82,2 Mio. in Deutschland. Die Wirtschaftskraft differierte ähnlich, und zudem verringerte sich durch das Ende des Kalten Krieges die strategische Bedeutung der Nuklearwaffen, auf die Paris so stolz war. In dieser Lage opferte Helmut Kohl die Deutsche Mark auf dem Altar der deutschen Einheit. Kein anderes Symbol stand so sehr für den Wiederaufstieg Deutschlands, auch für die Wiedervereinigung. Wenn die Bundesbank geschickt agiert hätte, wäre es möglich gewesen, die Kosten der Einheit durch die Nachbarstaaten tragen zu lassen. Kohl aber billigte das französische Ansinnen einer gemeinsamen Währung. Fester als zuvor sollte Deutschland in das europäische Staatensystem verankert werden. Demonstrativ ergriffen Mitterrand und Kohl die Initiative und schlugen die Umwandlung der EG zu einer politischen Union vor. Dass Großbritannien nicht zustimmen werde und selbst Frankreich und Deutschland überfordert sein würden, war leicht abzusehen. Heraus kam der Maastrichter Vertrag von 1992. Tatsächlich galt es zunächst ganz andere Probleme zu lösen: die Osterweiterung, die Frage der Identität und Finalität Europas und die Rolle der EU im internationalen Feld. Die Osterweiterung meisterte die EU erfolgreich. Damit aber änderte sich auch die Ausgangskonstellation für die Frage von Identität und Ziel der EU, die nun sehr viel komplexer und schwieriger zu beantworten war als zuvor. Und schließlich bewies die gemeinsame deutsch-französische Position in der Irakfrage, dass das „deutsch-französische Tandem“ politisch und symbolisch in einem Umfeld agierte, das neue Antworten und neue Symbolisierungen erforderte. Die deutsch-französische
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Zusammenarbeit war nicht mehr Voraussetzung europäischer Integration, sondern Ursache der Kluft zwischen dem „neuen“ und dem „alten Europa“.
Ausschnitt aus einer Karikatur v. F. Behrendt
Sowohl Paris als auch Bonn sind in den letzten Jahren offenbar unfähig, die engen Beziehungen zwischen beiden Staaten zu nutzen, um eine kohärente Politik zu formulieren. Doch warum stottert der deutsch-französische Motor? Die Antwort ist verhältnismäßig einfach. Die beiden Gesellschaften sind einander so ähnlich geworden und sind so eng miteinander verzahnt, dass die Definition sich einander ergänzender Interessen kaum mehr möglich scheint. Das „Do ut des“, das „Ich gebe, damit Du gibst“, ist komplexer, schwieriger geworden. Hier wie dort steht der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und die Reform der Sozialversicherung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Generation der Nachkriegspolitiker hat ihr Werk vollendet. Und für die heutige Politikerklasse ist das gute deutsch-französische Verhältnis eine Selbstverständlichkeit geworden. Auf europäischer Ebene vermittelt ein all zu forsches deutsch-französisches Auftreten den Hauch möglicher Fremdbestimmung. Selbst auf der Ebene der Symbole fehlen inzwischen attraktive Visionen.
Entwurf des Aachener Bauhauses Europa. http://www.bauhaus-europa.eu/architektur/ index.html
Das Aachener Bürgertum hat es 2006 noch einmal versucht. Ein „Bauhaus Europa“ auf dem zentralen Platz zwischen Rathaus und Dom sollte die Blicke lenken und die Visionen vorantreiben. Die Stadt Mies van der Rohes wollte architektonisch einen Glanzpunkt setzen und die Europadiskussion in Deutschland bündeln. Für die Mehrheit der aktiven Wähler erwies sich das Vorhaben als zu groß, zu anspruchsvoll und zu wenig an der Lebenswirklichkeit der vielen ausgerichtet. Eine Bürgerinitiative
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monierte, dass die Folgekosten den Sozialetat verringere, die Sichtachse zwischen den beiden historischen Bauten von Kirche und Stadthaus durchbrochen werde und dass ein reines Prestigeobjekt geplant sei. Am 10. Dezember 2006 votierten 56.532 Wähler gegen das Projekt, nur 14.546 waren dafür. Geplant wird seither eine Route Charlemagne, deren Ziel darin besteht, Aachen „lesbar“ zu machen, als Stadt der Geschichte, des Wissens und europäischer Prägung. Die Verbindungen zu Reims sind in diesem Konzept allenfalls eine Fußnote wert. Offensichtlich sind die Kontakte zu Frankreich so selbstverständlich geworden, so alltäglich und so wenig problembelastet, dass sie keiner symbolischen Bewältigung mehr bedürfen. Dass Reims am 29. Mai 2005 mit 52,3% gegen den Europäischen Verfassungsvertrag des Aachener Karlspreisträgers Giscard d’Estaing stimmte, lässt die Herausbildung einer europäischen Gesellschaft erahnen, deren Eliten transnational vernetzt sind und die noch keine Antwort auf die Spaltung Europas in Gewinner und Verlierer der neuen postnationalen Ordnung gefunden haben. Prof. Dr. Armin Heinen, Professor für Neuere Geschichte, Historisches Institut RWTH Aachen QUELLEN: Aachen. Bilder und Berichte, 18 (1966) Aachener Nachrichten, 1.1967, 9.1977, 9.1987, 9.1997 Berliner Illustrierte, 23.1.1916 Boden, Martina, Europa von Rom nach Maastricht. Eine Geschichte in Karikaturen, München 1997 Bölling, Rainer, Deutschland und Frankreich. Vom „Erbfeind“ zum Partner, Stuttgart 1996 http://museen.aachen.de/content/mus/route_charlemagne/index.html Adolf Kimmel, Pierre Jardin (Hrsg.), Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1963. Eine Dokumentation, Opladen 2002 Malangré, Heinz, Aachen–Reims. Notizen zur Partnerschaft. Zwei Krönungsstädte im Beziehungsspiel von deutsch-französischer Geschichte und Lebensart, Aachen 2004 Horst Möller, Klaus Hildebrand (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente, 1949–1963, 4 Bde., München 1996–1998 Scholl-Latour, Peter, Völkerversöhnung. Das Lächeln von Reims, in: Geo, Heft 2, 1987, S. 98ff. L’Union, 10.-30.1.1967
LITERATUR: Cole, Alistair, Franco-German relations, London 2001 Aus Politik und Zeitgeschichte B 3–4 /2003 Hudemann, Rainer, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, 1945– 1953, Mainz 1988 Hudemann, Rainer, Lehren aus dem Krieg. Neue Dimensionen in den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945, in: Rüdiger Hohls, Iris Schröder, Hannes Siegrist (Hrsg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Wiesbaden 2005, S. 428–435 Hudemann, Rainer, L‘occupation française après 1945 et les relations franco-allemandes, in: Vingtième siècle, 55 (1997), S. 58–68
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Hüser, Dietmar, Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“. Dynamik aus der Defensive. Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisenzeiten, 1944–1950, Berlin 1996 Müller-Brandeck-Bouquet, Gisela, Frankreichs Europapolitik, Wiesbaden 2004 Rödder, Andreas, Deutschland, Frankreich und Europa. Interessen und Integration, 1945–2005, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte, 8 (2007), S. 151–160 Soutou, Georges-Henri, L’alliance incertaine. Les rapports politico-stratégiques franco-allemands, 1954– 1996, Paris 1996 Woyke, Wichard, Deutsch-französische Beziehungen seit der Wiedervereinigung. Das Tandem faßt wieder Tritt, Opladen 2000 Ziebura, Gilbert, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Stuttgart 1997.
DAS WÄHRUNGSPOLITISCHE DREILÄNDERECK PARIS, FRANKFURT, MAASTRICHT (GUIDO THIE MEYER)
Steigen Sie ein, kommen Sie mit! Unsere heutige Tour führt sie durch das währungspolitische Dreiländereck Paris–Frankfurt–Maastricht! Erleben Sie drei Wirtschafts- und Währungsstile an einem Tag! Faszinierende Einblicke in die Wirtschaftskultur Frankreichs, Deutschlands und Europas! PARIS Wir starten in Paris bei der Banque de France, rue de la Vrillière. Hier wurde bis 1999 die französische Geldpolitik gemacht. Dabei nahmen die Zentralbank und die Geldpolitik in Frankreich traditionell eine wichtige Rolle im Gesamtkonzept der Wirtschaft ein. Die wirtschaftspolitischen Debatten in Frankreich wurden nämlich in starkem Maße geprägt von einem Denkmuster, das seit Jahrzehnten zur Exception française, zum französischen Sonderstatus in Europa, gehört, den der Journalist Jacques Barraux in der Wirtschaftszeitung „Les Echos“ im November 1998 folgendermaßen beschrieb: „Im Zentrum der Exception française (…) steht der Staat. Ein aktiver, handelnder Staat, der umverteilt, produziert und der der Architekt der sozialen und ökonomischen Entwicklung ist. Ein «starker Staat», der im Mittelalter entstanden ist, sich während des Ancien Régime konsolidiert und während der Republik rationalisiert hat. Ein Staat, der als autoritär, bürokratisch und zentralistisch gilt, der zugleich eine geheiligte Institution darstellt.“1 Die zentrale Rolle des Staates im Wirtschaftsprozess, die nicht mit dem Modell einer Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischer Prägung verwechselt werden darf, gehört zu den parteiübergreifenden ökonomischen Leitbildern der Französischen Republik. Seit 1949 wird er in Frankreich auch mit dem Begriff der „Planification“ oder des „Colbertisme“ verbunden. Beide Begriffe, der der „Planification“ ebenso wie jener des „Colbertisme“ prägen bis heute einen eigenen französischen Wirtschaftsstil. Obwohl der Begriff der Planification erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, sind die hinter diesem Konzept stehenden staatstheoretischen Gedanken sehr viel älter und in enger Weise mit der französischen Vorstellung von der Nation verknüpft.2 Ihre Entstehung wird in Frankreich in der Regel mit Jean Bodin (1530–1596) angesetzt. Er prägte in der französischen Staatsphilosophie die Vorstellung, dass der Staat die höchste Gewalt sein müsse und von keiner gleich- oder übergeordneten Macht 1 2
Barraux, Jacques, l´Etat, acteur surdimensioné, in: Les Echos, 18 Novembre 1998, S. 58/59, zit. Nach Lüsebrink, Hans Jürgen, Einführung in die Landeskunde Frankreichs, Zweite Auflage, Stuttgart Weimar 2003, S. 77. Für das Folgende: Ammon, Günther, Der französische Wirtschaftsstil, München 1989.
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eingeschränkt werden könne. Der Staat stehe über dem politischen Leben, binde alle politischen „Parteien“ ebenso wie die Religionen. Auf der Basis dieses Souveränitätsbegriffs entwickelte Jean Jacques Rousseau in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Gedanken der Nation. Hier entstand nun das, was in Frankreich bis heute als Etat-Nation bezeichnet wird, die Einheit von Staat und Nation. Der „Contrat Social“, wie ihn Rousseau 1762 entwarf, unterschied zwischen der „Volonté de Tous“ und der „Volonté Général“. Während Erstere die Summe des partikularen Einzelwillen meint, steht die Zweite für einen in einem kommunikativen Prozess immer wieder neu definierten Gemeinwillen, der über den Partikularinteressen stehend die Basis für das Gemeinwesen, die Nation gibt. Es handelt sich nicht um einen demokratischen Abstimmungsprozess, in dem eine Mehrheit ihren Willen gegen die Minderheit durchsetzt, sondern um einen allgemeinen Willen, dem das Individuum sich freiwillig unterwirft, weil sein partikularer Wille mit jenem Allgemeinen in eins fällt. Dieses hier nur grob skizzierte staatstheoretische Konstrukt gewann mit der Französischen Revolution und der durch Abbé Sieyès geprägten Definition der Nation für Frankreich politische Bedeutung, es wurde zu einer der Grundlagen der französischen Staatsphilosophie. Erstmals formuliert wurde es im Artikel 6 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789: „La Loi est l ´expression de la Volonté Générale.“3 Das Gesetz wurde zum Ausdruck des allgemeinen Willens erklärt, d.h. die vom Staat vollzogene Gesetzgebung war identisch mit jenem von der Nation formulierten allgemeinen Willen. Dieser ist in diesem Konzept die letztentscheidende politische Instanz, außerhalb der Nation kann es keine legitime Gesetzgebung geben. Es ist leicht nachvollziehbar, dass dieses Konzept nicht nur für den rein politischen Teil des öffentlichen Lebens gilt, sondern für das öffentliche Leben insgesamt, das heißt auch für die Ökonomie. Und damit wird die Rechtfertigung für die Staatsorientierung der französischen Wirtschaft und der Planification deutlich.4 Es ist nicht eine Zentralverwaltungswirtschaft sozialistischer Prägung als Alternative zur Marktwirtschaft, sondern in Zentrum steht die politische Kontrolle der Vorgänge auf den Märkten durch die Nation. Der Staat und mit ihm die Nation können das Geschehen im Bereich der Wirtschaft nicht den autonomen Marktkräften überlassen, sondern die Wirtschaft ist in diesem Verständnis ebenso den politischen Entscheidungen der Nation unterworfen, wie dies die anderen Bereiche des öffentlichen Lebens sind. Und damit ist das entscheidende Charakteristikum des ordnungspolitischen Leitbildes der französischen Wirtschaft genannt: Wirtschaftliche Entscheidungen sind politische Entscheidungen, weil es innerhalb der Nation keine autonomen Sphären geben kann, die sich der höchsten Souveränität des Etat-Nation entziehen. Dies wiederum rechtfertigt die prägende Rolle des Staates 3 4
La Déclaration des Droits de l´Homme et du Citoyen (26 août 1789) zit. Nach: Grüner, Stefan, Wirsching, Andreas, Frankreich: Daten, Fakten, Dokumente, Tübingen Basel 2003, S. 144. Fourastié, J., Courthéoux. J.P., La planification économique en France, Paris 1968. Barmeyer, C., Le modèle français: Einblicke in das französische Wirtschaftssystem, in: Dokumente Bd. 57 (2001), S. 164–171. B.S. Planification, in: Frankreich-Lexikon, Berlin 2005, S. 742–746.
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im französischen Wirtschaftssystem. Der Staat, dessen Aktionen mit dem Willen der Nation identisch sind, greift planend und gestaltend in das Wirtschaftssystem ein, das durchaus eine Marktwirtschaft ist. Doch wird dem Markt keine autonome Steuerungskompetenz zugewiesen. Dies waren die staatstheoretischen Überlegungen, die hinter der Gründung Commissariat Général du Plan im Jahre 1946 standen. Der erste Plan, 1946 vom ersten Commissaire Général au Plan, Jean Monnet, verkündet, stand vollständig im Zeichen der Rekonstruktion der französischen Wirtschaft nach dem Krieg.5 Monnet plädierte vor allem für einen schnellen Aufbau einer modernen Infrastruktur und die Rekonstruktion der Grundstoffindustrie. Zur Finanzierung wurden vor allem die US-amerikanischen Marshall-Plan-Hilfen verwendet.6 Die erste Phase der Planification bis 1961 sorgte vor allem angesichts der politischen Instabilität der Vierten Republik für eine wirtschaftliche Kontinuität. Nach dem Regierungsantritt von Charles de Gaulle und dem Beginn der Fünften Republik gewann das Planungskommissariat noch einmal an Bedeutung. Im Zentrum standen nun die Stabilisierung der französischen Währung (Plan Rueff) und die Realisierung einzelner gaullistischer Großprojekte (Force de frappe, La Défense, La Villette). Wachstum, Export und die internationale Konkurrenzfähigkeit der französischen Wirtschaft standen auf dem Programm. Auch wenn das Konzept gegen Ende der sechziger Jahre fundamental in Frage gestellt wurde (Generalstreik 1968), war die Rekonstruktion der französischen Wirtschaft bis 1970 erfolgreich abgeschlossen. Unter der Präsidentschaft von Valéry Giscard d´Estaing bestand das Commissariat Général du Plan weiter, verlor aber angesichts der liberalen Wirtschaftspolitik Giscards und seines Premierministers Raymond Barre an Bedeutung. Auch wenn der Sozialist François Mitterrand bestrebt war, die Bedeutung des Planungskommissariates wieder zu stärken, konnte auch er den zunehmend durch die Brüsseler EWG-Kommission bestimmte liberal-marktwirtschaftliche Beeinflussung der französischen Wirtschaft nicht aufhalten. Ebenso wichtig wie die politisch-institutionelle Verankerung des Leitbildes sind auch seine mentalen Folgen. Wirtschaftliche Leitbilder können, ebenso wie politische oder kulturelle kollektive Denkmuster identitätsstiftend wirken. Als Beispiel für die identitätsstiftende Funktion des „Colbertisme“ sei die Stellungnahme des republikanischen französischen Wirtschaftsministers Paul Ramadier zum Entwurf des sog. „Spaak-Komitees“ für einen gemeinsamen europäischen Markt zitiert. Ramadier schrieb in einer Aufzeichnung vom 24. Mai 1956: „L ´ouverture d´un véritable marché commun conforme aux règles prévues par le rapport de Bruxelles (gmeint ist der Spaak-Bericht, G.T.) condamne de la manière la plus sevère les pratiques protectionnistes grâce auxquelles la reconstitution industrielle de la France a été possible et qui sont manifestement indispensables à notre agriculture. C´est la position traditionelle de la France. On compterait aisément les années qui depuis le XVIIème siècle se sont écoulés sous un regime de libre échange. L´expérience tentée sous Louis XVI, renouvelée sous Napoléon III a 5 6
Vgl. hierzu die schematische Übersicht unter: http://www.plan.gouv.fr/Historique. (19.10.2007) Bossuat, Gérard, La France, l´aide américaine et la construction de l´Europe, Paris 1992.
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toujours donné de médiocres resultats. On peut affirmer que sans le protectionnisme intensif des années qui ont suivi la libération, le relèvement français n´eut pas possible.”7 Die Äußerungen Ramadiers können als Beispiel gelten für die identitätsstiftende Funktion des “Colbertisme” in Frankreich. Die Anfänge der republikanischen Wirtschaftspolitik wurden ins 18. Jahrhundert verlegt und damit eine historisch begründete Sakralisierung der Legitimationsquellen für die Politik der Gegenwart vorgenommen. Die politisch gesteuerte Wirtschaft wurde zu einer politischen Potenz stilisiert, die nicht in Frage gestellt werden darf, wenn man die Nation insgesamt nicht gefährden wolle. Insgesamt kann festgehalten werden, dass das Konzept der Planification, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, durchaus in der Tradition republikanischen Denkens in Frankreich steht: Der Staat als Ausdruck des politischen Willens der Nation versuchte die grundsätzlich marktwirtschaftlich ausgerichtete französische Volkswirtschaft durch politische Direktiven zu lenken und damit den grundsätzlich gegenüber den Politik autonomen Markt in die Sphäre des Politischen zu ziehen. Der Mythos vom genuin französischen Wirtschaftsstil wirkt bis in die Gegenwart. Noch heute wird die Hochzeit der „Planification“ von 1946 bis in die Mitte der 70er Jahre verklärend als die „Trentes Glorieuses“ bezeichnet. Dass diese Denkmuster bis heute eine Rolle spielen, zeigt der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich des Jahres 2007. Obwohl die beiden wichtigsten Kontrahenten, Ségolène Royal und Nicolas Sarkozy einen polarisierenden Wahlkampf führten, waren sie sich in einem Punkt einig: Beide plädierten für eine stärkere politische Kontrolle der Europäischen Zentralbank. Die Leitzinsen im Euroraum, so argumentierten beide unisono, seien zu hoch und der Wechselkurs zum US- Dollar ebenfalls.8 Daher kündigten sie an, nach einem Wahlsieg eine Vertragsrevision anzustreben, die die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank lockern und sie stärkerer politischer Kontrolle unterstellen würde. Hier schimmerte wieder einmal die französische Tradition wirtschaftspolitischen Denkens durch, die ökonomische Entscheidungen im Sinne des Colbertisme politischer Kontrolle unterwerfen will. FRANKFURT Willkommen in Frankfurt am Main! Wir stehen von dem Gebäude der Deutschen Bundesbank, Taunusanlage 5. Die Bundesbank kann als Symbol für den bundesdeutschen Wirtschaftsstil stehen, denn auch in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich ein wirtschaftspolitisches Leitbild, das hier ähnliche Funktionen erfüllte wie das Konzept der „Planification“ oder des „Colbertisme“ in Frankreich. Seit Beginn der 1950er Jahre wurde die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik als „Soziale Marktwirtschaft“ bezeichnet, einem von Alfred Müller Armack ent7 8
Ramadier, Paul, Note sur le marché commun, 24.5.1956, Archives Départementales d´Aveyron, Rodez, Fonds Ramadier 52J114. Euro: Nachhilfe für Frankreich, in: Der Spiegel 4/2007, S. 80/81.
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wickelten Konzept, das das „Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ suchte.9 So wie der französische Wirtschaftsstil hat auch der deutsche seine Wurzeln in den Werken der klassischen Staatstheorie, hier vor allem in der britischen Tradition der Aufklärung, in Adam Smith und John Stuart Mill. Vom Neoliberalismus der Zwischenkriegszeit übernahm MüllerArmack den Gedanken, dass die Erhaltung des Wettbewerbs auf den Märkten eine wichtige Aufgabe des Staates sei. In Abgrenzung zu diesem sah er jedoch auch die sozialen Probleme, die ein rein marktwirtschaftlich organisiertes Gemeinwesen hervorbringen würde, und plädierte daher dafür, dass der Staat den Marktprozess sozialpolitisch flankieren müsse. Gleichwohl müsse das primäre Prinzip der Wirtschaft das des Wettbewerbs sein, planwirtschaftliche Vorstellungen lehnte Müller-Armack ab. Soziale Marktwirtschaft war für ihn eine bewusst gestaltete Marktordnung, deren primäres Prinzip der Wettbewerb ist. Dem entsprach ein währungspolitisches Konzept, das im Sinne des Monetarismus die Stabilität der Währung als Voraussetzung für das Funktionieren des Wirtschaftssystems sah. Währungspolitische Stabilität, das lehrte die Geschichte, wurde am besten dann gewährleistet, wenn die Emissionsbank unabhängig von Weisungen der Regierung oder des Parlamentes autonom über die Währungspolitik entscheiden konnte. Dies war der Grund, warum die Unabhängigkeit der Zentralbank in der Bundesrepublik nie grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Die „Soziale Marktwirtschaft“ steht damit in der Tradition des schottischen Liberalismus, der, um die wirtschaftliche und politische Freiheit der Individuen dauerhaft zu sichern, die Fundamentalregeln der Politik und der Wirtschaft dem Zugriff der Bürger entzog, und diese durch den Staat gewährleistete. Der schottische Liberalismus steht in dieser Hinsicht im Gegensatz zum Republikanismus französischer Prägung, der, wie gezeigt, alle politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen dem Souverän, der Nation, unterstellte.10 Die „Soziale Marktwirtschaft“ wurde spätestens seit dem Bundestagswahlkampf von 1953, als die CDU für „Erhards Soziale Marktwirtschaft“ warb, zum Leitbild für das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik. Seit der Verabschiedung des Godesberger Programms von 1959 konnte sich auch die SPD-Opposition mit diesem Begriff anfreunden. Auch die Wende von der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik zur keynesianisch inspirierten „Globalsteuerung“ in der Mitte der 60er Jahre wurde unter diesem Begriff vollzogen. Er wurde auch beibehalten, als die konservativ-liberale Koalition seit 1982 wieder eine Rückkehr zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik ankündigte und war zudem über die Wende von 1990 hinaus verbindlich für die großen Parteien. Erst 2007 hat die SPD sich vom Begriff der Sozialen Marktwirtschaft verabschiedet und bezeichnet ihr Konzept nun als „Demokratischen Sozialismus“, während die übrigen Parteien mit Aus9
Müller Armack, Alfred, Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart Tübingen Göttingen 1956, S. 390–392, hier S. 390. 10 Hierzu: Dippel, Horst, Republikanismus und Liberalismus als Grundlagen der europäischen Demokratie, in: Guido Thiemeyer, Hartmut Ullrich (Hrsg.), Europäische Perspektiven der Demokratie. Historische Prämissen und aktuelle Wandlungsprozesse in der EU und ausgewählten Nationalstaaten, Frankfurt u.a. 2005, S. 11–32.
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nahme der Linken an der „Sozialen Marktwirtschaft“ als Leitbild festhalten. Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft ist also sehr flexibel, es konnte verschiedene wirtschaftspolitische Vorstellungen integrieren und wirkte deshalb auch gemeinschaftsbildend. Dies funktionierte zudem, weil der Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ ähnlich wie jener der „Planification“ in Frankreich in der Öffentlichkeit sehr positiv besetzt war und mit einer wirtschaftspolitisch außergewöhnlich erfolgreichen Epoche verbunden wurde, dem so genannten „Wirtschaftswunder“. Insbesondere der erste bundesdeutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard verkörpert diese Zeit, er war es auch, der erheblich zur Begründung des Mythos vom „Wirtschaftswunder“ durch die „Soziale Marktwirtschaft“ beitrug. Zum zehnten Jahrestag der Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen vom 20. Juni 1948 hielt Erhard 1958 eine Rundfunkansprache, in der er auf die Ursprünge des deutschen Wirtschaftserfolges einging: „Es gehörten schon gute Nerven, starke Herzen und unbeirrtes Wollen dazu, die deutsche Wirtschaft und die neue deutsche Währung durch alle Fährnisse, alle bequemen Verlockungen und feindliche Bedrohungen glücklich hindurchzusteuern. (…) An Warnungen, trüben Prophezeiungen und an Drohungen hat es durch alle diese Jahre wahrlich nicht gefehlt, und wenn auch die Besserwisser, die Kritiker und Pessimisten aller Sorten mit ihren falschen Prophezeiungen und dadurch bewirkten Verwirrungen des deutschen Volkes durch das Leben immer wieder ad absurdum geführt wurden, so hat es doch lange gewährt, bis sich die Idee und das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft auf breiter Grundlage durchgesetzt und in der Bevölkerung Resonanz gefunden haben. Der Erfolg der deutschen Währungspolitik, der in der Härte unserer D- Mark so sichtbaren Ausdruck findet, kann ohnedies nicht bestritten werden (…). Ich möchte in dieser Stunde der Besinnung darauf verzichten, das Äußere und das Atmosphärische dieses Geschehens noch einmal auszubreiten. Obwohl ich es bewusst nacherlebe, wie vor zehn Jahren das deutsche Volk in innerem Zwiespalt zugleich hoffte und bangte, als das Unfassbare, die Aufhebung der Bewirtschaftung, der Rationalisierung, das Bezugscheinwesen, der Preis- und Lohnbindung sowie der sklavischen Unterjochung jeder menschlichen freien Regung, lebendige und beglückende Wirklichkeit werden sollte. Vor zehn Jahren sagte ich in einer Rundfunkansprache wörtlich: Wenn ich die mir erteilte Vollmacht zurückgebe, will ich glücklich und dankbar sein, wenn es mir vergönnt war, alle Fährnisse überwunden und meinen Teil dazu beigetragen zu haben, dass auch unser Volk wieder auf gesunder wirtschaftlicher Grundlage arbeitet, noch einmal ein Stück von jener irdischen Lebensfreude empfinden darf, ohne dass es verkümmern und verderben muss. Und ich bin glücklich, dass ich dieser Erwartung Genüge tun und mein Versprechen erfüllen konnte.“11 Die hier formulierten Grundgedanken wurden von Erhard seit der Mitte der fünfziger Jahre in öffentlichen Auftritten immer neu variiert. Die Währungsreform erhielt den Charakter eines mythischen Gründungsaktes der Bundesrepublik, die 11 Erhard, Ludwig, Zehn Jahre Währungs- und Wirtschaftsreform. Rundfunkansprache vom 19. Juni 1958, in: Ders. Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft, Düsseldorf u.a. 1992 (Erstausgabe 1962), S. 388–389.
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verklärende Vergegenwärtigung der Vergangenheit diente – ähnlich wie bei Ramadier – zur Legitimation für Erhards Politik in der Gegenwart. Der zweifellos beeindruckende Erfolg der bundesdeutschen Wirtschaft seit 1950 schien ihm Recht zu geben. Zwar hat die wirtschaftshistorische Forschung inzwischen gezeigt, dass die liberale Wirtschaftsordnung für diesen Erfolg nur ein Faktor unter anderen war.12 Doch war dies für die öffentliche Wahrnehmung irrelevant. „Die beispiellose Hochkonjunktur“, so schreibt Volker Hentschel, „war nicht der Wirtschaftspolitik zu verdanken, aber die Menschen dankten dem Wirtschaftsminister die Hochkonjunktur. Erhard machte die Hochkonjunktur nicht, aber er schien sie den Menschen in seiner Person verständlich zu machen. (…) Er wurde nicht als Macher, sondern als Medium verehrt.“13 Ludwig Erhard war einer der populärsten Politiker der Adenauer-Ära und ist bis heute in der Bundesrepublik hoch geschätzt. Durch ihn erhielt die „Soziale Marktwirtschaft“ unabhängig von der ordnungspolitischen Konzeption Müller-Armacks,14 Züge einer Zivilreligion. Die mythisierende Vergegenwärtigung der Währungsreform und der Gründung des deutschen Wirtschaftssystems schuf einen Grundkonsens, eine Identität für die neu formierte bundesrepublikanische Gesellschaft. „Soziale Marktwirtschaft“ wurde so zu einer Sinngebungs- und Rechtfertigungsinstanz, die deswegen funktionierte, weil die Bundesrepublik und Westeuropa von einer Phase der Hochkonjunktur und der nach dem Krieg kaum für möglich gehaltenen Wohlstandssteigerung stabilisiert wurden. „Soziale Marktwirtschaft“ und die von Erhard beschworene Härte der Deutschen Mark wurden so Bestandteile westdeutscher Identität so wie der „Colbertisme“ und die „Planification“ Bestandteile der Französischen wurden. Wenn Sie mir nun bitte nach Maastricht folgen würden…. MAASTRICHT Willkommen zum letzten Ort unserer Rundreise, in Maastricht. Hier wurde am 7. Februar 1992 jener Vertrag unterzeichnet, der die Europäische Währungsunion schuf. Mit ihm wurde in Frankreich ein währungspolitisches Regime etabliert, das der in Paris erläuterten französischen Tradition zuwiderlief. Artikel 107 des EGVertrages bestimmte: „Bei der Wahrnehmung der ihnen durch diesen Vertrag und die Satzung des ESZB (i.e. Europäisches System der Zentralbanken) übertragene Befugnissen, Aufgaben und Pflichten darf weder die EZB (i.e. Europäische Zentralbank) noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Regierungen der 12 Lindlar, Ludger, Das missverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität, Tübingen 1997, S. 42–104. 13 Hentschel, Volker, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, Landsberg 1996, S. 227. 14 1952 schrieb Müller-Armack: „Der Gedanke (der Sozialen Marktwirtschaft, G.T.) – dies müssen wir uns eingestehen – wurde im Anfang seitens der wirtschaftlichen Führung eher gefühlsmäßig begriffen, und es bedarf noch erheblicher wissenschaftlicher Arbeit, um ihn klar zu entwickeln (…).“ Alfred Müller-Armack, Stil und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft, in: Ders. Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Freiburg 1966, S. 231–242, hier S. 232.
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Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen.“15 Damit war die institutionelle, politische und personelle Unabhängigkeit der neuen Europäischen Zentralbank festgelegt. Schon in der Übergangsphase mussten die nationalen Zentralbanken in die Unabhängigkeit entlassen werden, wenn ein Land die Zulassungskriterien für den am 1. Januar 1999 vorgesehenen Übergang zur Währungsunion erfüllen wollte. Die Banque de France, die seit dem Zweiten Weltkrieg dem französischen Finanzministerium unterstanden hatte, wurde mit dem Gesetz vom 4. August 1993 in die Unabhängigkeit entlassen. Damit wurde 1993 der eigentliche Bruch mit dem französischen Wirtschaftsstil vollzogen. Die Banque de France und ab Januar 1999 die Europäische Zentralbank wurden dem politischen Zugriff der Regierung und damit letztlich der Kontrolle der Nation entzogen. Währungspolitik wird seither außerhalb des politischen Sektors von einem nach rein technokratischen Prinzipien entscheidenden Expertengremium vorgegeben, sie ist der politischen Sphäre prinzipiell entzogen. Nun könnte man auch hier argumentieren, dass eine Mehrheit der französischen Wahl-Bevölkerung den Vertrag von Maastricht befürwortete und er deswegen demokratisch legitimiert ist. Zudem könnte Frankreich theoretisch, wenn es die Nation denn wolle, durch einen Austritt aus der Währungsunion wieder zum Status quo ante zurückkehren. Doch wird diese Option selbst von den ärgsten Kritikern gegenwärtig nicht erwogen. Mit der Europäischen Währungsunion wurde der deutsche Wirtschaftsstil auch hinsichtlich der Währungspolitik auf die Europäische Union übertragen und damit auch in Frankreich wirksam. Damit wurde ein Prozess fortgeführt, der schon mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes in den Römischen Verträgen begonnen hatte. Auch die Wettbewerbsordnung der EWG ist in starkem Maße von den ordnungspolitischen Vorstellungen des bundesdeutschen Wirtschaftsstils geprägt.16 Dies erklärt zumindest teilweise die seit der Mitte der 1990er Jahre beständige Kritik der französischen Öffentlichkeit an der europäischen Wirtschaftsordnung und auch die Ablehnung des Verfassungsvertrages durch die Wahlbevölkerung im Mai 2006. Dieser Kritik hat sich auch die neue französische Regierung angeschlossen. Im Zentrum der Europakritik des französischen Präsidenten Sarkozy steht die Entpolitisierung der Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene. So erklärte einer seiner engsten wirtschaftlichen Berater in einem Interview mit Le Monde: „L´Europe est dépolitisée. Elle tend à n´être gouvernée que par des règles automatiques. La Commission, elle-même, est dans un système tel que l´essence de son pouvoir est dans la seule application des règles. On est allé trop loin dans
15 Art. 107 EG-Vertrag vom 7.2.1992. 16 Dagegen wurden die Agrar- und die Regionalpolitik stark durch französische Vorstellungen geprägt. Vgl. hierzu: Thiemeyer, Guido, The Mansholt Plan, the Definite Financing of the Common Agricultural Policy and the Enlargement of the Community, 1960–1973, in: Jan van der Harst (Hrsg.), Beyond the Customs Union: The European Community´s Quest for Widening, Deepening and Completion, 1969–1975, Paris, Bruxelles Baden Baden 2007, S. 197– 222.
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désincarnation du politique.“17 Damit ist einmal mehr der Kern des französischen Wirtschaftsstils durch die Kritik an seinem deutschen Gegenpart beschrieben. Damit sind wir am Ende unserer Reise angelangt. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass es in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland zwei verschiedene Wirtschaftsstile gibt. Das französische Modell rekurriert auf die französische Staatstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts und ordnet die Wirtschaftspolitik den allgemeinen politischen Entscheidungen des Souveräns, der Nation, unter. Demgegenüber geht das bundesdeutsche Modell auf die schottische Aufklärung zurück, nach der die Grundpfeiler einer politischen und wirtschaftlichen Ordnung zur dauerhaften Garantie der Freiheit der Individuen dem politischen Prozess entzogen und vom Staat vorgegeben werden müssen. Beide Wirtschaftsstile haben sich in der Nachkriegszeit als erfolgreich erwiesen, gingen daher als politische Mythen in das kollektive Gedächtnis ein und wurden Bestandteile der nationalen Identität Frankreichs und der Bundesrepublik. Aus französischer Sicht unterliegt die Zentralbank den Weisungen der Regierung; sie ist wie alle anderen Bereiche öffentlichen Lebens der Kontrolle des Souveräns unterstellt. Der deutsche Wirtschaftsstil hingegen fordert die Unabhängigkeit der Notenbank, weil eine dauerhaft stabile Währung nur dann garantiert werden kann, wenn die Regierung keinen Zugriff auf die Ressourcen der Deutschen Bundesbank hat. Mit dem Vertrag von Maastricht war die französische Regierung gezwungen, die Banque de France in die Unabhängigkeit zu entlassen. Dies wird in weiten Teilen der politischen Elite, aber auch in der Bevölkerung als Abkehr vom französischen Wirtschaftsstil empfunden. Daher verwundert kaum, wenn der französische Präsident Sarkozy die Europäische Zentralbank kritisiert und Mitwirkungsrechte der Politik einfordert. Es ist zu erwarten, dass die Konfrontation zwischen deutschem und französischem Wirtschaftsstil die europäische Integration auch in die Zukunft begleitet. PD Dr. Guido Thiemeyer, Privatdozent für Europäische Geschichte, Universität Kassel
17 Guaino, Entretien Henri, Conseiller spécial du président de la République, Nicolas Sarkozy, in: Le Monde 22./23. 7. 2007.
ROUBAIX UNE ÉTAPE POUR UN PÉRIPLE FRANCO-ALLEMAND
(JEAN-FRANÇOIS ECK)
Roubaix, en effet, n’est pas seulement l’ancienne capitale mondiale, aujourd’hui déchue, de l’industrie de la laine, la « ville aux mille cheminées », toute bruissante, il y a un demi-siècle encore, du vacarme des métiers et du remue-ménage des usines. A quelques stations de métro de Lille, l’agglomération est riche d’un patrimoine architectural et artistique exceptionnel où l’historien retrouve aisément, sous les ravages de l’urbanisme des années 1980, un tissu urbain où les contrastes sociaux ont atteint une ampleur maximale à l’âge de l’industrialisation, d’où le contraste, sensible aujourd’hui encore, entre l’opulence des anciennes demeures patriciennes et la misère des quartiers ouvriers. On peut y visiter la Piscine, un grand musée d’art contemporain aménagé récemment dans une installation municipale de style Arts Décos, y admirer l’hôtel de ville construit par Victor Laloux en 1911, au temps où la conquête du pouvoir municipal était un enjeu entre la droite, conduite par Eugène Motte, le grand industriel de la laine, président de la Fédération républicaine, et la gauche, notamment socialiste, dirigée par Jules Guesde. Si l’on est davantage sensible aux évolutions contemporaines, on peut aussi observer au fil des rues la reconversion de la vie économique locale, par exemple à travers les multiples établissements qui proposent matériel et services informatiques, crédits bancaires et contrats d’assurance et, plus généralement, toutes les prestations de la « nouvelle économie », remplaçant ainsi progressivement les vieilles enseignes du négoce de tissus le long des grandes artères comme l’avenue qui, entre la gare et la Grand Place, porte le nom de Jean-Baptiste Lebas, en l’honneur de l’ancien maire, ministre du Travail sous le Front Populaire, créateur, dès octobre 1940, d’un journal clandestin, L’Homme libre, arrêté par la Gestapo, mort en déportation en 1944. Mais tel n’est pas le but de visite que nous proposons à Rainer Hudemann. Ce que nous lui suggérons, c’est de se diriger vers un haut et massif bâtiment situé en plein cœur de la ville, construit en briques, rehaussées de pierre blanche, flanqué de tours et d’une cheminée surmontées de créneaux aux allures moyenâgeuses, typique de ce que l’on appelle parfois les « châteaux de l’ industrie ». C’est là, dans l’ancienne filature de coton du groupe Motte-Bossut, qu’est installé depuis 1993 le Centre des archives du monde du travail, ou plutôt, pour employer la nouvelle dénomination en vigueur depuis un an, le bâtiment qui abrite les Archives nationales du monde du travail. L’histoire de la filature Motte-Bossut est bien connue. Rappelons-en brièvement les principaux éléments, au risque d’obliger Rainer Hudemann à recourir à la compétence et à la gentillesse du personnel qui accueille les nouveaux lecteurs si d’autres éléments suscitent sa curiosité. C’est en 1866 que Louis Motte, après un incendie qui avait ravagé sa fabrique, déjà si imposante que les contemporains l’avaient surnommée l’«usine monstre», décide de construire, juste en face, de
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l’autre côté d’un canal aujourd’hui disparu, un édifice d’amples proportions, haut de six étages, capable d’occuper, sur ses machines équipées de broches ultra-modernes, des milliers de travailleurs. De conception novatrice, inspirée d’outreManche, le bâtiment possède une armature métallique, faite de poutres de fer supportées par des colonnes en fonte, encadrant ainsi des voûtains de briques qui permettent d’éviter la propagation du feu. Il représente, dans le paysage urbain, une masse d’autant plus imposante qu’elle coupe une voie de circulation, obligeant les habitants, lorsqu’ils veulent se rendre d’un bloc de maisons à l’autre, à passer par l’intérieur de l’usine. Nul besoin, ici, d’œuvres charitables d’inspiration paternaliste: il s’agit de manifester le plus haut possible la toute puissance d’un patronat convaincu de sa légitimité et décidé à affirmer son autorité autant qu’il sera nécessaire. Pourtant, progressivement, à mesure que s’éloignent les bases qui avaient fait la puissance du groupe Motte-Bossut durant la première industrialisation, la prospérité s’évanouit. Bientôt, durant les années 1950 et 1960, apparaissent la mévente, l’endettement, la crise. Le bâtiment voit fondre ses effectifs. En 1981, au moment du dépôt de bilan d’une affaire vieille de près de cent quarante ans, seules quelques dizaines de salariés y travaillent encore. Cette évolution qui, à Roubaix, l’ancienne capitale textile, n’est malheureusement pas propre à la seule filature Motte-Bossut, en recoupe une autre située dans un tout autre univers: celui de l’archivistique. Durant les années 1970, à Paris, les conservateurs des Archives nationales constatent l’engorgement progressif de la section ouverte en 1949 sous l’autorité de Charles Braibant qui, confiée à Bertrand Gille, rassemblait à l’intérieur d’une série spécifique, la série AQ, des fonds d’entreprises, quels qu’en soient le statut, l’activité, l’origine ou la localisation. Un important patrimoine archivistique avait été ainsi constitué, formant autant de sources privilégiées pour les universitaires en un moment, qui paraît aujourd’hui bien lointain, où l’histoire économique et sociale formait un domaine pionnier de l’historiographie, que ce soit sous l’influence persistante du marxisme ou sous celle grandissante des travaux réalisés à Harvard par Alfred Chandler et ses disciples. L’arrivée au ministère de la Culture de Jack Lang, dans un gouvernement dirigé par Pierre Mauroy, toujours attaché à promouvoir les intérêts de sa région, est le déclic qui suscite la prise de décision. L’ancienne filature Motte-Bossut est cédée à la commune de Roubaix, puis à l’Etat, pour un franc symbolique. En 1983, elle est choisie pour abriter, avec quatre autres centres, l’un des dépôts décentralisés des Archives nationales. Simultanément, la mission confiée à la section chargée des archives d’entreprises est redéfinie. Elle est désormais élargie aux fonds des syndicats de salariés, des organisations patronales, des coopératives, des mutuelles, des associations de toute nature, voire même aux archives laissées par les particuliers dès lors que ces fonds ont pour caractéristique commune de concerner le monde du travail. Les nécessités budgétaires n’ayant laissé subsister du projet initial que le seul dépôt de Roubaix, l’Etat décide de confier la réhabilitation de l’ancienne usine Motte-Bossut à un architecte de renom, Alain Sarfati. Son idée, audacieuse, consiste à évider complètement le bâtiment, à n’en conserver que la carcasse et à reconstruire à l’intérieur, sur huit niveaux, les magasins d’archives, espaces de traitement, bureaux, salles de réunion et de consulta-
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tion nécessaires. D’importants espaces sont dégagés pour abriter des expositions, des colloques et des manifestations diverses. L´architecte accentue encore l’aspect de citadelle de l’ancienne filature, aménageant l’entrée principale sous forme d’un pont-levis. Après de longs travaux étirés sur une dizaine d’années, le Centre national des archives du monde du travail ouvre ses portes en 1993. Commence alors, sous l’autorité de ses directeurs et directrices successifs, une active politique de collecte. Elle permet d’ajouter, aux anciens fonds d’entreprises rapatriés de la section des archives économiques de Paris, de nouveaux dépôts, rassemblés non seulement dans le Nord de la France, mais aussi dans l’ensemble du pays. Il ne saurait être question, en quelques lignes, de présenter toute la richesse des archives conservées à Roubaix. Outre les classiques, mais austères instruments de recherche constitués par les répertoires et catalogues, dont une liste alphabétique des fonds, aisément consultable en ligne, un ouvrage récent leur a été consacré, autour de multiples documents écrits et figurés.1 Qu’il suffise de dire qu’aujourd’hui, c’est à Roubaix que doivent se rendre les chercheurs qui souhaitent travailler sur tous les sujets d’histoire économique et sociale. C’est là que l’on trouvera, par exemple, le mouvement des navires dans le canal de Suez depuis son ouverture, les opérations de la branche française de la banque Rothschild, les résultats d’exploitation de la plupart des compagnies charbonnières, puis ceux de Charbonnages de France après 1946, les commandes de grands chantiers à l’étranger adressés aux Etablissements Eiffel ou de paquebots aux Chantiers de l’Atlantique et de la Méditerranée. C’est là également que sont consultables de multiples fonds patronaux, d’importance locale, régionale ou nationale (CNPF, Comité des Forges, Comité central des armateurs de France), ainsi que des fonds de syndicats de salariés dont tous ne concernent pas l’industrie, ceux de la Fédération de l’éducation nationale par exemple, des fonds d’associations diverses, comme Emmaüs, des fonds de personnes privées qui ont été en rapports avec le monde du travail (ingénieurs, journalistes, publicitaires, prêtres ouvriers), enfin de nombreux fonds de cabinets d’architectes. Sur les 50 kilomètres d’archivage théoriquement disponibles dans les magasins, 35 sont actuellement occupés. C’est dire l’ampleur du travail réalisé depuis 1993, car, comme le savent bien les historiens, la collecte des fonds n’est qu’une étape parmi d’autres de la chaîne archivistique. Encore faut-il les inventorier, les classer, les rendre accessibles aux lecteurs, les valoriser par de multiples opérations, qu’elles soient destinées à la communauté scientifique ou au «grand public». Dans tout ceci, quelle place pour l’Allemagne? Pourquoi un spécialiste des rapports franco-allemands comme Rainer Hudemann devrait-il pousser la porte des Archives nationales du monde du travail et profiter des exceptionnelles conditions de travail offertes par la vaste salle de lecture, ainsi que de l’extrême disponibilité du personnel qui accueille les lecteurs? S’agit-il d’étudier, à travers les fonds déposés à Roubaix, les liens ayant existé entre l’industrie nordiste et l’Allemagne? Disons-le d’emblée: ceux-ci semblent n’avoir jamais été très étroits. C’est vers d’autres cieux, vers la Pologne russe ou la Galicie autrichienne que se tour1
Sous le titre «Usine à mémoires. Les Archives nationales du monde du travail à Roubaix», ouvrage collectif sous la direction de Françoise Bosman, Paris 2008.
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naient les grands capitaines d’industrie du textile lorsqu’ils cherchaient avant 1914 des placements rentables pour leurs capitaux, que ce soit dans des filatures textiles ou dans des activités extractives, les champs de pétrole par exemple, à moins de choisir l’Amérique, l’Afrique du Sud ou l’Australie pour y implanter des maisons de négoce de laine et des usines de peignage. Certes, réciproquement, quelques grandes firmes allemandes s’étaient implantées dans le Nord. Bayer par exemple avait fondé à Flers-en-Escrebieux, non loin de Douai, une usine de colorants pour approvisionner à meilleur compte ses clients locaux. Mais l’intensité des relations était incomparablement plus forte avec d’autres pays, notamment avec l’Angleterre et, bien évidemment aussi, avec la Belgique. Il s’agit de tout autre chose: le fait qu’à Roubaix se trouvent, rapatriées depuis Paris, les archives de plusieurs entreprises, maisons de commerce et agents d’affaires allemands actifs en France de 1940 à 1944. Ces archives, placées sous séquestre à la Libération, puis versées par l’administration des Domaines et conservées sous plusieurs cotes de la série AQ, sont librement consultables depuis 1992.2 Elles méritent à plus d’un titre de retenir l’attention. Les fonds dont il s’agit sont nombreux, mais de faible ampleur: 25 au total, dont 13 comportent moins de cinq articles. Inconvénient dans un autre cadre, la dimension restreinte s’avère ici source d’avantages. Elle permet d’observer, dans toute sa diversité, la manière dont les entreprises françaises ont subi durant l’Occupation l’exploitation allemande. Aussi bien est-ce à l’occasion d’un colloque organisé à Roubaix en 2004 par le Groupement de recherches du CNRS sur les entreprises françaises sous l’Occupation dirigé par Hervé Joly que ces fonds de séquestre ont été mis en valeur pour la première fois, dans le cadre d’une communication présentée par deux conservateurs des Archives nationales du monde du travail.3 Ils ont, après un tableau général, illustré l’intérêt de ces fonds à travers un cas particulier, le fonds Hackinger qui permet de suivre les activités du représentant en France de l’AFA (Akkumulatoren-Fabrik AG), chargé en même temps du contrôle de l’industrie française des piles et des accumulateurs. Nous inspirant de cette présentation, nous la compléterons par d’autres indications, en particulier celles que nous avons pu retirer d’une incursion dans le fonds, de la filiale française de la firme AGFA.4 Le but est le même: suggérer la richesse que présentent de telles archives et l’intérêt qu’il y aurait à les utiliser de manière plus systématique. On y observe notamment de façon très concrète certains des moyens qu’a employés le régime national-socialiste pour l’exploitation économique de la France. Le cadre général de cette mise sous tutelle est bien connu, des commandes passées 2 3 4
Voir en annexe la liste des cotes, tirée de Bertrand Gille, Isabelle Guérin-Brot, Françoise Hildesheimer et Bertrand Joly (Hrsg.), Etat sommaire des archives d’entreprises conservées aux Archives nationales (série AQ), 3 tomes (1AQ à 215 AQ), Paris 1957, 1977 et 1995. Hottin, Christian/Sablon du Corail, Amable, Les fonds des entreprises sous l’Occupation conservés au Centre des archives du monde du travail, in: Hervé Joly (Hrsg.), Les archives des entreprises sous l’Occupation. Conservation, accessibilité et apport, Lille 2005, p. 21–34. Eck, Jean-François, L’introduction de la photographie en couleurs. Un enjeu industriel dans la France des années 1930–1940, in: Archives départementales du Nord–Centre des archives du monde du travail (Hrsg.), Couleur, travail et société du Moyen Age à nos jours, catalogue d’exposition, Lille 2004, p. 62–73.
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aux branches industrielles au remboursement des frais d’occupation, en passant par la surévaluation de la monnaie et par le fonctionnement déséquilibré de l’accord de clearing encadrant les relations commerciales, sans oublier le travail forcé de la main-d’œuvre et l’expropriation du capital de certaines firmes. L’intérêt des fonds conservés à Roubaix se situe à un niveau différent. A travers eux, on comprend comment ces mécanismes d’exploitation se sont insérés dans des relations entre entreprises qui apparemment suivent un cours ordinaire, mais en réalité sont des moyens d’assujettissement d’autant plus efficaces qu’ils restent masqués. On peut les regrouper autour des trois grandes catégories d’acteurs présents dans ces relations d’affaires: les filiales et les représentations commerciales d’entreprises allemandes d’une part; les hommes d’affaires chargés par les occupants du remodelage de branches entières de l’industrie d’autre part; les créations nouvelles enfin, résultant d’initiatives qui, paradoxalement, survivent parfois à l’effondrement du Reich, car elles présentent un intérêt dépassant les circonstances qui avaient motivé leur création. A l’intérieur de la première catégorie, on trouve les filiales et représentations commerciales de grands groupes de la sidérurgie (Gutehoffnungshütte), de la construction électrique (AEG, Siemens), de l’optique (Zeiss-Ikon), de la chimie (AGFA, IG Farben). Loin d’être le fruit de la défaite de 1940, la plupart sont antérieures à la guerre. Par exemple, c’est en 1926 que sont créés à Paris, d’une part AGFA-Photo, destinée originellement à revendre sur le marché français du matériel photographique d’outre-Rhin, d’autre part la SOPI (Société pour l’importation des matières colorantes et des produits chimiques) qui représente en France les intérêts d’IG Farben, le géant de l’industrie chimique créé l’année précédente, dans lequel AGFA se trouve d’ailleurs inclus. L’ancienneté est plus nette encore chez AEG et Siemens (pour cette dernière par l’intermédiaire de Schuckert), dont les filiales apparaissent en France dès 1898–1899, tout comme dans le cas de la Gutehoffnungshütte qui contrôle des gisements de fer en Basse-Normandie depuis le début du siècle. On peut d’ailleurs remarquer que les dirigeants placés à la tête de telles entreprises, lorsqu’ils sont allemands, ce qui est loin d’être toujours le cas, appartiennent aux cercles dirigeants de l’industrie et de la finance et possèdent souvent la majorité, voire la totalité, des entreprises concernées. Chez AGFA-Photo par exemple, la gérance appartient depuis 1931 à Arnold von Mallinckrodt, membre d’une illustre famille patronale de Rhénanie, qui est également propriétaire des neuf dixièmes du capital de la maison qu’il dirige pour le compte de la firme berlinoise. Un autre cas de figure est représenté par des hommes d’affaires investis par les autorités d’occupation du remodelage de branches entières de l’industrie française. Beaucoup sont en même temps les représentants ou fondés de pouvoirs de telle ou telle firme, formant ainsi un lien avec la catégorie précédente, mais, tout en conservant leur fonction, ils la dépassent pour acquérir une importance qui en fait les intermédiaires obligés entre les entreprises des deux pays. C’est le cas par exemple de Corbin Hackinger. Investi en 1940 du contrôle sur l’industrie française des piles et accumulateurs par le ministère de l’Aviation du Reich, il représente en France l’AFA, la principale firme allemande du secteur, propriété de la famille
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Quandt. Mais il parvient à obtenir pour cette firme l’exclusivité des commandes avec des firmes françaises, d’où un gonflement des affaires qui lui permet bientôt de fonder sa propre entreprise de courtage, la Hackinger AG, puis de prendre des participations dans le capital de plusieurs sociétés françaises. Devenu, à la fin de la guerre, l’acteur principal d’un secteur d’importance décisive dans l’économie de guerre du Reich, du fait des besoins en accumulateurs pour les véhicules terrestres et les sous-marins, sa trajectoire n’est pas sans rappeler celle d’Arnold von Mallinckrodt chez AGFA-Photo. C’est en effet ce dernier qui promeut l’introduction en France du procédé de photographie en couleurs Agfacolor. Présenté au public en 1943 au cinéma Normandie à Paris, à l’occasion de la projection du film «La Ville dorée», du réalisateur Veit Harlan, ce procédé est décrit une semaine auparavant, lors d’une conférence faite par l’un des dirigeants de la maison-mère de Berlin aux principaux représentants de l’industrie cinématographique, formant un parterre qui a été trié soigneusement par les soins de Mallinckrodt. C’est également lui qui négocie avec Kodak-Pathé les termes d’une entente sur le marché des pellicules photographiques, en noir et en couleurs, avec extension prévue aux autres matériels, entente qui, semble-t-il, a été respectée par les deux partenaires jusqu’à la fin des hostilités, qui s’accordent pour éviter de la soumettre aux autorités de Vichy. Enfin, parmi les entreprises dont les fonds ont été placés sous séquestre à la Libération, une troisième catégorie est composée de créations nouvelles, apparues lors de la défaite, mais parfois susceptibles de survivre aux circonstances de leur naissance. C’est le cas, par exemple, d’Hoyer-Béton industriel de Gennevilliers, une entreprise fondée en 1940 par la firme allemande Hoyer et destinée à l’exploitation industrielle d’un brevet de béton précontraint déposé par l’ingénieur français Eugène Freyssinet. Ce brevet intéresse la Kriegsmarine, car il permet la confection de dalles, poutres et pontons utiles aux fortifications côtières, ainsi que la construction de péniches. La firme ainsi créée, dont les établissements se trouvent à Gennevilliers, n’a rien d’original. Elle appartient à une branche où se sont illustrées d’autres entreprises françaises, par exemple Sainrapt et Brice, dont les dirigeants sont poursuivis pour collaboration à la Libération, en particulier pour les rapports qu’ils ont entretenus avec le groupe allemand Hochtief. Point d’étonnement non plus à constater, vu le caractère de ses fabrications, qu’Hoyer-Béton industriel ait subi des bombardements alliés qui détruisent en partie ses installations. Il est plus surprenant d’observer que, placée sous séquestre à la Libération, elle renaît rapidement de ses cendres. Devenue BIG (Béton industriel de Gennevilliers), recevant l’aide financière de banques, notamment du Crédit industriel et commercial, renflouée par le ministère de la Reconstruction et de l’Urbanisme, elle reçoit d’importantes commandes publiques, tant de la part de la SNCF que de l’administration des Ponts et Chaussées. Sa survie est-elle ou non semblable à celle d’autres entreprises du bâtiment et des travaux publics étudiées par les historiens? Qu’apporte-t-elle à ce que l’on sait de la manière dont s’est faite, dans la France d’après 1945, la reconstruction? Il n’est pas anodin de pouvoir sur ce point recourir aux archives conservées à Roubaix.
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Ces quelques observations, tirées de la consultation des inventaires et de travaux ponctuels, convaincront-elles Rainer Hudemann de faire étape aux Archives nationales du monde du travail lors de son prochain «Tour de France»? S’il faut un argument de plus, poursuivons la métaphore et hasardons un clin d’œil. Chaque année au printemps, lorsque la pluie rend particulièrement glissants les fameux pavés du Nord, se déroule la course cycliste «Paris-Roubaix».5 Une seule fois, elle a été gagnée par un Allemand. C’était en 1896, lors de sa création. Il s’appelait Josef Fischer. N’est-ce pas une bonne raison pour venir à Roubaix, assister à l’arrivée de la prochaine course, et savoir s’il a trouvé, plus d’un siècle après, un successeur? Prof. Dr. Jean-François Eck, Professor für Wirtschaftsgeschichte, Université Charles de Gaulle – Lille 3, IRHIS. Liste des fonds de séquestre d´entreprises allemandes conservés dans la série AQ AEG 36 AQ 15 articles AGFA 37 AQ 48 articles Bank der deutschen Arbeit 104 AQ 1 article Brown Boveri et Cie 104 AQ 1 article Alexandre Carroux 104 AQ 11 articles Deutsche Bergwerk- und Hüttenbaugesellschaft 104 AQ 1 article Degussa 104 AQ 1 article Commerzbank 32 AQ 55 articles Dresdner Bank 104 AQ 1 article Gutehoffnungshütte 104 AQ 2 articles Hackinger 38 AQ 32 articles Hoyer – Béton industriel de Gennevilliers 107 AQ 44 articles Max Klössner (importateur de vins) 104 AQ 1 article Fred Lehrer 104 AQ 2 articles Scharpf (articles d’optique) 104 AQ 1 article Schenker et Cie (transports automobiles entre France et Allemagne) 21 AQ 343 articles Siemens France 35 AQ 20 articles SOCOLILEX (importations d’articles textiles en Allemagne) 39 AQ 4 articles SOPI (Société pour l’importation des matières colorantes et des produits chimiques) 108 AQ 50 articles Stahlunion Export 104 AQ 2 articles
5
Voir à ce propos Stéphane Fleuriel (Hrsg), 100 Paris-Roubaix, patrimoine d’un siècle, Villeneuve d’Ascq 2002, 231 p. et de multiples ouvrages commémoratifs, parmi lesquels ceux de Pascal Sergent, Paris-Roubaix: chronique d’une légende, 2 tomes, Roubaix 1990–1991, 243 p. et 314 p., ainsi que L’Equipe (Hrsg), Paris-Roubaix, une journée en enfer, Issy-les-Moulineaux 2006, 223 p.
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Georg Steib (papetier) 104 AQ 1 article Telefunken 104 AQ 5 articles W. Thome 104 AQ 1 article Otto Wolff 106 AQ 16 articles Zeiss-Optica et Zeiss-Ikonta 104 AQ 90 articles
CONSTRUIRE POUR JUGER UN TOUR DE FRANCE DES PALAIS DE JUSTICE
(C HRISTINE MENGIN)
Le tour de France esquissé dans ces quelques pages propose une «lecture à pierre ouverte» des palais de justice, pour reprendre la belle expression de Robert Badinter. En invitation à la promenade, laissons cette grande figure de la Justice française décrire le temple de l’institution judiciaire: «Qu’exprime-t-elle, cette architecture «parlante» qu’appelaient de leurs vœux les hommes de la Révolution? Le Temple antique constitue en lui-même la première référence, non seulement comme représentation du Beau, mais comme symbole de la Raison et de la Sagesse. Dès lors, la Justice ne peut se concevoir qu’abritée derrière un fronton soutenu par des colonnes, et rendue dans des chambres réparties, sur le modèle des basiliques, autour d’une vaste salle des pas perdus. Mais d’autres traits spécifiques traduisent dans la composition architecturale une certaine idée de la Justice dans la Cité. (…) Il se dresse seul, à l’écart des autres bâtiments officiels, traduction spatiale du principe de la séparation des pouvoirs. Et cette solitude souveraine est renforcée par le jeu des marches qui conduisent au portique d’accès, auquel les colonnes donnent rythme et force, équilibre et puissance. Cette situation dominante, qui met la Justice au-dessus de l’agitation immédiate de la rue, témoigne de ce qu’elle maîtrise les passions comme elle résout les conflits de la Cité. Le plaideur ou le visiteur ne gagnera pas ainsi de plainpied le lieu où l’on rend la Justice, comme on pousse la porte d’un édifice ordinaire pour y pénétrer. Il lui faut monter vers elle, qui le domine de ses colonnes et de ses chapiteaux, pour en éprouver la force ou en rechercher la protection.»1 Notre progression spatiale suivra paradoxalement un cheminement historique, celui de la réponse architecturale à l’institution judiciaire: l’improbable déroulement géographique de l’itinéraire reliera en effet dix édifices, dont la chronologie jalonne les grandes étapes de cette évolution peu étudiée. Pas d’étoiles ni d’horaires d’ouverture donc, pour ce sightseeing tour judiciaire qui, tel le Top Ten de l’éditeur Hachette, comprend dix entrées, mais l’évocation à travers chacun d’eux d’un moment de l’architecture judiciaire, sans autre ambition que de permettre au touriste, comme dirait Michelin, d’effectuer son voyage avec profit, pour s’informer, «sans ambition faussement culturelle, mais sans concession à la facilité ou à l’à-peu-près».2
1 2
Badinter, Robert, Préface, La Justice en ses temples, Paris 1992, p. 10. Francon, Marc, Le guide vert Michelin: l’invention du tourisme culturel populaire, Paris 2001, p. 282.
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RENNES: LE PARLEMENT DE BRETAGNE OU L’INVENTION DU LIEU DE JUSTICE D’ANCIEN RÉGIME Commençons notre promenade par un monument qui, précisément, n’évoque en rien le palais de justice. Le parlement de Bretagne, authentique chef d’œuvre Renaissance, classé monument historique depuis 1883, est pourtant bien, dès sa conception et depuis quatre siècles, un lieu où justice est rendue. En effet, lors du rattachement de la Bretagne à la couronne de France en 1532, le roi accorde à la ville de Rennes le droit de bâtir un palais. Lorsque les fonds sont réunis, c’est à Salomon de Brosse lui-même, architecte de Marie de Médicis et auteur du palais du Luxembourg, qu’est confié le soin de concevoir le palais qui manifestera la fierté bretonne face à l’État central. Édifié de 1618 à 1655, le parlement, premier édifice en pierre dans une ville de bois, emprunte clairement à l’architecture du château, avec ses quatre pavillons d’angle et ses grands toits en ardoise. Pourtant, il s’agit bien d’un lieu de justice, organisé comme il était fréquent sous l’Ancien Régime: au «bas étage», dont l’accès était barré par de lourdes portes, les geôles: salle commune pour les prisonniers et les visiteurs, cachots, lieux d’interrogatoire et… chapelle, le tout mal éclairé par des fenêtres grillagées. Au bel étage, desservi par une terrasse auquel un magnifique escalier de granit, situé à l’extérieur, permettait d’accéder, un ensemble de pièces répondant à des besoins diversifiés: la vaste salle des procureurs et différentes chambres aux proportions plus modestes. Sous les combles enfin, l’étage en galetas abrite cabinets et rangements. Il s’agit d’un édifice à l’importance considérable dans l’histoire de l’architecture judiciaire, car il délaisse la forme oblongue de l’auditoire médiéval au profit d’un plan rectangulaire, organisé autour d’une symétrie axiale. À la suite de l’incendie qui l’endommage gravement en 1720, Jacques-Jules Gabriel adapte la façade au goût Louis XV, sculpte sur les trumeaux le glaive et la balance symbolisant la justice… et fait démolir l’escalier de granit. À nouveau incendié par des manifestants marins-pêcheurs en 1994, le parlement de Bretagne a bénéficié d’une restauration exigeante et coûteuse qui a restitué à cet édifice prestigieux, siège de la cour d’appel de Rennes, lustre et commodité. CAEN: UN PRÉSIDIAL NÉO-CLASSIQUE COMME PRÉLUDE AU CONTRÔLE DE LA FONCTION JUDICIAIRE Cette organisation verticale du palais de justice est dans les dernières années du XVIIIe siècle mise en cause par la monarchie, impatientée de l’indépendance d’esprit des justices de village et des parlements, et rêvant d’un grand service public de la justice qu’elle pourrait contrôler. À cette fin, l’adoption du néo-classicisme alors en vogue pour l’architecture judiciaire n’a rien d’un simple effet de mode, mais vise l’autonomisation de la fonction carcérale par rapport à la fonction judiciaire: fait nouveau, la prison quitte le palais. Dès avant la Révolution, quelques projets sont conçus en ce sens. Le premier est le siège du présidial de Caen, construit en 1779–1784 sur la place de Fontette nouvellement aménagée à l’entrée de la ville, selon un tracé octogonal typique de l’art urbain de la fin de l’Ancien
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Régime. Sa façade principale, soulignée par ses ailes en retour, comprend la plupart des éléments architecturaux qui caractériseront le palais de justice jusqu’à la Première Guerre mondiale: le péristyle à colonnes, qui soutient un fronton triangulaire, forme un avant-corps. L’accès ne comprend que quatre marches: ce n’est que plus tard que ce modeste perron se transformera en emmarchement monumental. Outre Caen, l’amorce de cette politique concerne Paris, dont le palais est reconstruit à partir de 1776, et La Rochelle. En 1784, le projet de Claude-Nicolas Ledoux pour Aix-en-Provence va dans le même sens. ANGOULÊME OU L’INVENTION DU PALAIS DE JUSTICE RÉPUBLICAIN SOUS LE CONTRÔLE DU CONSEIL DES BÂTIMENTS CIVILS Nonobstant ces prémisses, la véritable invention d’un type architectural nouveau date de la Révolution française, qui signe l’acte de naissance de la justice démocratique. Les révolutionnaires baptisent temples de la justice ces palais à la connotation encore imprécise. Dans les deux décennies suivantes toutefois, la précarité domine et les tribunaux, que les préfets ont l’obligation d’installer, se casent tant bien que mal dans des locaux de fortune ou de récupération. Mais ce bricolage ne saurait convenir au palais de justice que doit désormais arborer chaque chef-lieu de département (y compris les départements étrangers rattachés à l’Empire!). Le Conseil des bâtiments civils, créé en1798 et chargé de contrôler l’architecture publique, se met au travail. Il ne se contente pas de confirmer le temple grec comme seule forme digne de la justice républicaine, mais se montre tout aussi attentif aux questions fonctionnelles: forme, volume, éclairage, acoustique de la salle d’auddience. Rien ne lui échappe: ni l’emplacement respectif du bureau du procureur, du greffe, des avocats, du concierge, des archives, ni les circuits des prisonniers, des magistrats, du public. Durant ses premières quarante années d’activité, le Conseil joue un rôle central dans la codification d’un palais de justice tout à la fois satisfaisant pour l’image républicaine de la justice et répondant à ses besoins de fonctionnement. Le palais de justice d’Angoulême, construit par l’architecte Paul Abadie père de 1825 à 1828, constitue en quelque sorte le prototype de cette série homogène. Il constitue une réalisation neuve, en réponse à un programme complet. Chaque juridiction (en l’occurrence tribunal d’assises, civil et de commerce) dispose de sa propre salle d’audience et de locaux annexes, desservis par une double circulation: publique d’un côté, avec le vestibule, la salle des pas perdus, le grand escalier, réservée au service de l’autre avec corridors et escaliers secondaires. La hiérarchie des volumes s’organise à partir de la salle d’assises. Comme la plupart des palais de justice construits dans les années 1820–1830, sa façade est celle d’un corps de bâtiment bas et large, dominée par un péristyle central servant de porche d’entrée, et dont les quatre à six colonnes sont précédées d’un large emmarchement. Les ailes sont avares d’ouvertures (pas plus de trois fenêtres!): il faut protéger le palais de justice des bruits et des regards extérieurs. À la suite du prototype d’Angoulême, le palais de justice républicain s’affine, dans la recherche toujours prégnante d’une monumentalité grave et solennelle, in-
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carnant symbolique égalitaire et répression. Certes, quelques variations viennent parfois troubler l’hégémonie du modèle, mais les variantes franchement dérogatoires, telles le «vingt-quatre colonnes» de Baltard à Lyon (1835) ou la niche évoquant les thermes romains de Nantes (1844–1852) demeurent exceptionnelles. LE HAVRE: DU TEMPLE AU PALAIS? Cette conception d’un bâtiment imposant, à la fois majestueux et austère, perdure, comme en témoignent à la fin du siècle les propos de Julien Guadet, éminent professeur de théorie architecturale à l’École des Beaux-Arts: «l’autorité de la justice ne peut que gagner à ce que la solennité de ses arrêts fût confirmée, rehaussée même, par la solennité grave et imposante d’un édifice imposant le respect».3 Néanmoins, certains palais de justice de la seconde moitié du XIXesiècle (dont le corpus reste à étudier) semblent tentés de se démarquer quelque peu de cette uniformité contraignante. Par rapport à la parcimonie des percements et à son corollaire, l’imposant dispositif d’entrée, la façade a tendance à prendre l’air: de hautes fenêtres ouvrent vers l’extérieur, le péristyle disparaît, le décor sculpté prolifère. Ainsi au palais de justice du Havre, construit à partir de 1876, qui s’apparente à la façade ouest du palais de justice de Paris, dite de Harlay (Louis Duc, 1867). Notons que les deux statues de lion en pierre, attributs classiques de la puissance publique, qui se trouvaient de part et d’autre de l’escalier monumental, ont été par la suite remplacées. BÉTHUNE OU L’INERTIE DE L’ARCHITECTURE JUDICIAIRE DANS LA PREMIÈRE MOITIÉ DU XXE SIÈCLE Dans la première moitié du XXe siècle, peu de palais de justice sont édifiés. L’une des rares exceptions est celui édifié à Béthune dans les années 1930, dans le cadre de la reconstruction de la ville, massivement détruite pendant la Première Guerre mondiale. Il est savoureux d’observer l’irruption de motifs typiquement art déco dans un lieu de justice: colonnade de pilastres cannelés, mince entablement, grandes baies dans toute la hauteur, calepinage des grandes dalles de pierre, médaillons, typographie géométrisée: rien ne manque. Cela dit, cette mise au goût du jour ne transforme en rien la typologie du programme. Cette modernisation stylistique demeure exceptionnelle car, si l’on en trouve des éléments dans le palais de justice de Pontoise construit en 1934 (et incendié en 2002), le palais de justice de Marseille pour sa part conserve une facture traditionnelle (Gaston Castel, 1921– 1933). Quant aux concours lancés au titre de la reconstruction, ils témoignent de la sensibilité des concurrents aux sirènes régionalistes (Montdidier, Péronne, Chauny).
3
Guadet, Julien, Éléments et théorie de l’architecture, Paris 1899, t. 2, p. 435–437.
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LILLE: LE FONCTIONNALISME AU SECOURS DE LA PROLIFÉRATION DES TÂCHES ADMINISTRATIVES Le véritable bouleversement se produit avec la réforme de la justice menée par la Ve République. Dans l’intervalle, les tâches institutionnelles se sont multipliées et la magistrature se professionnalise, à la suite de la création en 1958 de l’École nationale de la magistrature. Il est désormais crucial d’accroître les espaces dévolus aux activités administratives. Le palais de justice de Lille, voulu et financé par les collectivités locales, est l’indice de cette mutation. D’une écriture architecturale résolument fonctionnaliste, construit de 1956 à 1969 par Marcel Spender et Jean Willerval, il reprend la solution, expérimentée aux États-Unis depuis le début du XXe siècle, d’une tour de bureaux articulée à un volume bas abritant les salles d’audience. Cela dit, le principe de la construction judiciaire en hauteur, expérimentée dans certaines villes nouvelles de la grande Couronne (à Créteil notamment) est rapidement abandonné. SENLIS: LA CITÉ JUDICAIRE COMME OUTIL D’HUMANISATION DE LA JUSTICE Dans le sillage de 1968, et plus précisément à partir de 1974, la réflexion sur l’institution judiciaire est prise en charge par le ministère de la Justice. Un groupe de travail sur «le palais de justice de demain» est mis en place, avec pour mission de réfléchir à l’humanisation d’une justice qui serait plus transparente et accueillante pour le justiciable. Le concept de cité judiciaire se substitue au terme de palais de justice, rejeté. Une quinzaine de ces cités judiciaires est mise en chantier: à Montbéliard, Nancy, Senlis, Villefranche-sur-Saône, Draguignan, Albertville, Rennes, Meaux, Bobigny, Dijon, Le Mans et Clermont-Ferrand. Celle de Senlis est la première opération dont le programme est directement défini par le groupe de travail. En 1976, le concours est lancé non plus par une collectivité locale, mais par le ministère de la Justice lui-même. Livrée en 1980, la cité judiciaire est limitrophe du centre de Senlis. L’architecte Chauveau adopte un parti résolument horizontal, avec des bâtiments à deux niveaux seulement. Cinq volumes orthogonaux accueillent les différentes composantes de la cité: les salles d’audience sont situées dans le carré central. L’entrée principale dessert la salle des pas perdus et l’accueil, dont l’institution judiciaire commence à faire grand cas. DRAGUIGNAN: DE LA DIFFICULTÉ DE COMBINER ARCHITECTURE URBAINE ET MONUMENTALITÉ MODERNE La cité judiciaire de Draguignan (1978–1983) marque le retour des lieux de justice en centre-ville. Son architecte, Yves Lion, explore la voie d’une monumentalité qui combine architecture moderne et retour à l’urbanité. Il conçoit un plan en V, avec une aile décomposée en trois volumes cubiques correspondant aux trois salles d’audience, et une seconde aile longeant rue passante, dont la façade, dessinée
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selon une trame régulière, est parfois interrompue par des volumes en saillie reposant sur des pilotis. La démarche n’est cependant pas dénuée d’ambivalence. En effet, pour fondre la cité judiciaire dans son environnement, Lion en conforme le gabarit à celui des constructions voisines et recourt aux tuiles de toit et placages de pierre locaux. La saillie du portique précédant la cour d’honneur, savante allusion à la composition des anciens palais, est si discrète qu’elle passe inaperçue. La monumentalité visée est donc à chercher à l’intérieur de l’édifice, dans le traitement expressif des circulations en béton brut et la forte affirmation des structures de la spectaculaire salle des pas perdus, aménagée dans toute la hauteur du bâtiment, et éclairée par le haut. BORDEAUX: TÊTE DE SÉRIE D’UN AMBITIEUX PROGRAMME NATIONAL Le tournant essentiel dans l’architecture judiciaire en France se produit en 1987. Alors qu’antérieurement, les palais de justice étaient gérés par les collectivités locales, les lois de décentralisation, en un apparent paradoxe, confient désormais le volet immobilier de la fonction régalienne à l’État – qui n’en demandait pas tant. Soudain à la tête d’un parc immobilier disparate et vétuste, la Chancellerie fait procéder à un audit, inventorie ses possessions et fait avec dépit le constat que l’image triomphante du palais de justice républicain a cédé le pas à un assemblage aussi hétéroclite que proliférant de lieux de justice, dont le dénominateur commun hésite entre l’exigu et le malcommode. Elle décide alors de décalquer l’opération coup de poing qu’elle vient de mener pour la construction de prisons au profit des lieux de justice. Elle crée une délégation ad hoc, que rejoignent des ingénieurs des Ponts et Chaussées rodés aux ambitieuses opérations de construction et bien décidés à œuvrer en faveur du renouvellement de l’équipement de justice. Avec méthode et sang-froid, sous la houlette du vaillant Délégué, René Eladari, vingt-six départements, identifiés comme présentant une situation critique, font l’objet d’un schéma directeur. Dans la foulée, une loi de programmation est votée et plus d’une vingtaine de grands concours d’architecture lancés. En termes qualitatifs, le programme vise à remédier au déficit de solennité des cités judiciaires, décriées car accusées, sinon de ressembler à des immeubles de la Sécurité sociale, du moins d’être dépourvues de la plus élémentaire dignité. Aux grands maux, les grands remèdes: notre Délégué obtient de donner carte blanche aux plus grands architectes du moment, afin qu’ils réinventent le palais de justice – le retour en grâce du vocable est plein de sens – ni temple grec, ni immeuble pour compagnie d’assurances. L’entrée en matière est proprement spectaculaire. Dans son audace, la Délégation n’hésite pas à convaincre un architecte étranger de participer à la première compétition qu’elle organise. Elle n’est pas déçue du résultat, puisque le lauréat est l’architecte britannique Richard Rogers, dont le Centre Georges Pompidou avait naguère défrayé la chronique.4 Plus familier de la common law que du Code 4
En collaboration avec l’architecte italien Renzo Piano.
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civil, Sir Rogers entreprend la remise à plat sans préjugé de l’édifice judiciaire, qu’il organise en deux blocs d’importance égale: une cage de bureaux transparente pour les magistrats et une rangée d’ahurissantes salles d’audience, logées dans de grands chaudrons de bois reposant sur un trépied. La salle des pas perdus est écrasée entre les deux. Cet événement inaugural a placé haut la barre en matière d’innovation judiciaire. À partir de fin 1992, les concours se succèdent, attirant à chaque fois les plus grands noms de l’architecture française: Architecture Studio, Christian de Portzamparc, Claude Vasconi, Jean Nouvel, Paul Chemetov, Henri Ciriani, Henri Gaudin, pour ne citer qu’eux. Fin 2001, à l’échéance fixée initialement, les deux tiers des palais de justice ont été livrés, dont onze constructions nouvelles: Lyon, Nanterre, Montpellier, Caen, Melun, Bordeaux, Grasse, Nantes, Avignon, Fort-deFrance, Grenoble. MELUN: UNE MONUMENTALITÉ A VISAGE HUMAIN Dans les dossiers de concours figure une analyse historique et typologique du palais de justice, afin de donner aux candidats des éléments de réflexion sur les éléments constitutifs et symboliques du lieu de justice.5 L’une des solutions qui a combiné avec le plus d’invention monumentalité du palais de justice et accueil du justiciable hérité de la cité judiciaire est le palais de justice de Melun (1994– 1998). Pour cet édifice situé dans un quartier ingrat, dont il devait amorcer la restructuration, l’architecte Françoise Jourda a réinterprété le thème de la colonnade, avec six colonnes métalliques qui se transforment en autant d’arbres de justice, au fur et à mesure qu’ils approchent de l’auvent qu’ils soutiennent. En rez-de-chaussée, le verre, à la coloration opalescente, évite une transparence par trop ostentatoire, source de vulnérabilité pour les magistrats et reçue comme provocation par certains justiciables. FIN DE LA VISITE: OÙ ALLONS-NOUS? La Délégation ayant rempli son office, elle a été supprimée, comme prévu, après dix ans de bons et loyaux services, laissant dans son sillage une belle série d’édifices, parfois décriés comme trop luxueux, mais qui ont contribué à donner à la justice, pouvoir traditionnellement faible en France, un lustre nouveau.6 La puissance publique a, avec panache, veillé à ce que les lieux où elle est rendue soient à la hauteur des espérances que le citoyen place désormais en elle, au moment où son appétence pour l’État tend à faiblir. 5 6
À partir de l’automne 1991, le dossier «Conception architecutrale des palais de justice», rédigé par l’architecte Arnaud Sompairac, est joint à tous les dossiers de concours. 1er janvier 2002: l’Agence de maîtrise d’ouvrage des travaux du ministère de la Justice a pris le relais. Les deux axes de son action concernent désormais l’architecture pénitentiaire et la programmation du TGI de Paris.
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Notre tour s’achève par la capitale. Le palais de justice de l’île de la Cité explosant littéralement dans ses murs, le ministère de la Justice a conçu le projet de construire, pour le Tribunal de grande instance, un édifice neuf, d’une échelle sans précédent en France: cent mille mètres carrés à proximité de la gare d’Austerlitz. Las, la pusillanimité semble avoir reconquis le terrain, les bisbilles politiques entre la Ville et l’État ne cessent de rebondir, les associations de protection du patrimoine s’en sont mêlées, dans une conspiration habile à procrastiner l’opération. Les atermoiements de toute nature autour de cette opération, cruciale pour le fonctionnement et la dignité de la justice, ne laissent pas de troubler. En conclusion de notre promenade, livrons à nos voyageurs ce sujet d’inquiétude: à l’issue de cette phase dynamique, où maîtrise d’ouvrage publique et crédibilité des «petits juges» se sont conjuguées pour une lisibilité contemporaine du tribunal dans la cité, espérons qu’au moment où elle se clôt, cette glorieuse parenthèse ne débouchera pas sur le «tout carcéral», qui semble désormais mobiliser l’énergie édificatrice de la Chancellerie… Dr. Christine Mengin, Maître de conférences en histoire de l’architecture contemporaine, UFR d’Histoire de l’art et archéologie, Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne Pour en savoir plus: Peu de titres concernent l’architecture judiciaire en France. Notons: «Architecture et justice, deux siècles d’évolution», Paris, ministère de la Justice, 1988, 27 p. Association pour l’histoire de la justice, La justice en ses temples, Poitiers, Paris, éd. Brissaud/éd. Errance, 1992. Dossier «Construire pour la justice», Architecture intérieure-Créé, n° 265, mai-juin 1995, p. 42– 145. Dossier «Les palais de justice», Les monuments historiques, n° 200, janvier-février 1996, p. 5–94. Loupiac, Claude, «Du temple de Thémis à la maison des Droits de l’homme», Sociétés & représentations, n° spécial sur la Justice, Université Paris 1, CREDHESS, novembre-décembre 2001. La nouvelle architecture judiciaire. Des palais de justice modernes pour une nouvelle image de la Justice, Recueil d’impressions et d’éclairages à l’occasion du colloque de Nanterre, 12 mai 2000, Paris, La Documentation française, 2002. Moulin, Laure-Estelle, «L’architecture judiciaire en France sous la V e République », thèse de doctorat d’histoire de l’art sous la direction de Gérard Monnier, Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne, décembre 2006, 559 p. dactyl.
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Illustrations: • Parlement de Rennes (1618-1655, plans : Salomon de Brosse) photo Jean Jablonski diffusion RMN • Présidial de Caen (1779-1784, Armand Bernardin Lefebvre ingénieur) photo Robert Jacob (source: La justice en ses temples, 1992, p. 59) • Palais de justice d’Angoulême (1825-1828, Paul Abadie père architecte) photo ND-Viollet (source: Les monuments historiques, n° 200, 1996, p. 39) • Palais de justice du Havre (concours 1866, construction à partir de 1876, Eugène Bourdais architecte-ingénieur) photo Claude Loupiac, 2008 • Palais de justice de Béthune (1930, Paul Decaux architecte du département) © Jean-Marie Monthiers • Palais de justice de Lille (1958-1969, Marcel Spender et Jean Willerval architectes) photo Robert Jacob (source: La justice en ses temples, 1992, p. 61) • Cité judiciaire de Senlis (1976-1980, Chauveau architecte) (source: «Architecture et justice, deux siècles d’évolution», 1988, p. 17) • Cité judiciaire de Draguignan (1978-1983, Yves Lion architecte) photo Christine Mengin, 2008 • Palais de justice de Bordeaux (1992-1998, Richard Rogers architecte) © Jean-Marie Monthiers • Palais de justice de Melun (1994-1998, Françoise Jourda et Gilles Perraudin, architectes) photo Christine Mengin, 2007
SÜDFRANKREICH UND SPANIEN
LATCHE
(HÉLÈNE MIARD-DELACROIX)
Avoir été invité à Latche ou ne pas l’avoir été, voilà qui sépare le monde en deux catégories bien distinctes. Cela vaut pour le monde politique français, surtout celui des socialistes, mais aussi pour le cercle des chefs d’État et de gouvernement d’Europe et du monde. La qualité de la distinction a tenu au tempérament et à l’image de François Mitterrand, mystérieux et parfois impressionnant patriarche de la gauche, dont le prestige ne laissa pas indifférent le social-démocrate Helmut Schmidt: l’ancien chancelier souligne dans le deuxième volume de ses mémoires autant la dignité du dirigeant à la geste gaullienne que la profondeur de l’homme de lettres.1 Au début du XXIe siècle où la privatisation du politique progresse fortement en France sous la forme d’une colonisation de la sphère publique par la vie privée des dirigeants, mise en scène et propulsée vers la lumière, la façon dont François Mitterrand utilisa à l’inverse un espace privé pour transformer la nature et l’esprit d’une relation bilatérale et débloquer une situation internationale est instructive à plus d’un titre. Elle fut l’expression d’une façon particulière de se livrer, de lâcher tout en gardant, qui caractérisa l’homme et lui valut d’être souvent qualifié de manipulateur. L’effacement des frontières entre les sphères privée et publique se fit par l’inclusion exceptionnelle de la seconde dans la première, en faisant pénétrer des interlocuteurs dans un espace privé et en soustrayant des lieux habituels d’activité publique la phase décisive d’une négociation internationale. Elle participa enfin de la mise en forme de la relation privilégiée, dans une visée de clarification sans exclure une intention de séduire, dans un apparent refus de l’ostentation tout en calculant l’effet démonstratif de l’absence de visibilité. La description qu’Helmut Schmidt a faite de sa visite à Latche le 8 octobre 1981 mérite qu’on s’y arrête, en raison de sa longueur d’abord, puis par l’effet de miroir produit par la présentation du même lieu dans les mémoires du successeur Helmut Kohl.2 Renonçant ici au simple récit des visites de chanceliers allemands à Latche qui ne relève que de la petite histoire, l’évocation du lieu sera accompagnée de trois questions qui s’enchevêtrent: celle de la nouveauté relative du phénomène, celle de son efficacité dans les constellations politiques et stratégiques données, et celle de ce que la privatisation des contacts révèle des processus de décision au sommet dans l’édifice franco-allemand – on se trouve là au cœur des difficultés d’écrire une histoire franco-allemande.
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Schmidt, Helmut, Die Deutschen und ihre Nachbarn, Berlin 1990, S. 255–257, document reproduit ici. Kohl, Helmut, Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 1034–1037.
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L’ESPACE DE REPLI SUR LA SPHÈRE PRIVÉE Latche, il faut déjà réussir à le trouver et à l’atteindre, petite retraite inaccessible dans un paysage de pins, de sable et de maïs. Un havre de tranquillité à l’écart d’un village, dans cette grande étendue des Landes un peu rude, hostile et qui se fait modeste. A plus de 700 km de Paris et à moins d’une heure de route de l’exubérance un peu décatie de Biarritz comme de l’accent rugueux de Mont de Marsan. Il faut d’abord aller au village pour se renseigner, Soustons, avec ses 5000 âmes et sa place devant l’église, l’un de ces calmes petits bourgs de la province française où l’on sait faire respecter l’ordre pour les jours où il y a affluence. Ainsi, devant l’église, un panneau précise bien que l’usage des cinq places de parking est exclusivement réservé aux obsèques. Mais c’est aussi déjà le Sud avec ses tuiles romaines, douceur en hiver et chaleur en été, avec les touristes qui campent près du lac, vont se baigner à Hossegor ou préfèrent la clameur des courses landaises dans les arènes de Soustons. Et puis le café où l’on vous indique le chemin, avec en supplément la réponse à la question qui alla jusqu’à tracasser un chancelier allemand: ici, on prononce «Latché», mais Madame Mitterrand dit toujours «Latche» (prononcer: Latch’). Un nom écrit sans un accent aigu que l’on prononce quand même mais pas toujours, la part de mystère est préservée.3 Il suffit en été de suivre le claquement de l’arrosage sur les maïs, Vieux Boucau, l’Azur, atteindre le sous-bois avec ses fougères pour découvrir la retraite du premier Président socialiste de la Ve République dont on dit qu’il n’y laissa entrer que quelques intimes. On peut facilement manquer la barrière en bois dans le virage à droite sous les arbres, car Latche, on le voit et on ne le voit pas. Seuls les ânes qui philosophent en silence sont un indice pour ceux qui ont lu les mémoires de Helmut Schmidt. Il est tentant d’y voir la version française et rustique de l’habitude qu’ont les présidents américains de recevoir certains hôtes étrangers dans leur résidence d’été, comme Franklin D. Roosevelt dans l’Île de Campobello au NouveauBrunswick, Johnf. Kennedy à Hyannis Port, ou plus récemment George W. Bush soignant devant les journalistes, comme ses prédécesseurs, l’image du décideur en tenue décontractée à Kennebunkport. Mais à Latche, s’il y eut parfois des photographes, pas de pupitre prévu pour une déclaration à la presse. Comme si l’on se retrouvait en famille, tels les cousins Guillaume II (Willy) et Nicolas II (Nicky) qui, séjournant dans l’une des résidences d’été du tsar, signèrent le 24 juillet 1905 le traité germano-russe de Björkö en croyant sceller une alliance défensive contre l’Angleterre, au demeurant parfaitement inefficace face aux avantages que présentait l’alliance franco-russe pour la Russie. Le vrai précédent, cette fois dans l’histoire franco-allemande, fut la visite de Konrad Adenauer au domicile privé et familial de de Gaulle, La Boisserie à Colombey-les-deux-églises, le 14 septembre 1958: en faisant de Adenauer le seul chef de gouvernement étranger à y pénétrer du vivant du général, celui-ci donna 3
Dans son journal du début des années soixante-dix, La Paille et le Grain, Mitterrand écrit Latche sans accent: à la date du vendredi 2 novembre 1973, Mitterrand, François, La Paille et le Grain, Paris 1975, p. 216.
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un signal puissant de la confiance partagée et, en projection, de l’intimité qu’il souhaitait voir établir entre les deux peuples voisins: autrement dit, comme il le déclara quatre ans plus tard devant 20 000 jeunes rassemblés à Ludwigsburg, «l’estime, la confiance, l’amitié mutuelle du peuple français et du peuple allemand».4 Si Latche partage avec La Boisserie ce caractère d’espace de repli du politique devenant un lieu d’exercice du politique alors qu’il n’est pas conçu pour cela, la différence majeure entre les deux résidences privées se trouve dans le fait qu’il y a plusieurs précédents à l’accueil de Schmidt à Latche les 7 et 8 octobre 19815 et que Mitterrand chercha par la suite à reproduire l’effet de révélateur, voire d’accélérateur en matière diplomatique, du tête à tête dans sa bergerie: il y invita, entre autres, Helmut Kohl le 4 janvier 1990 et Michael Gorbatchev le 30 octobre 1991. HELMUT SCHMIDT INVITÉ À LATCHE Lorsque le socialiste français est élu Président de la République le 10 mai 1981, il n’est un secret pour personne que François Mitterrand n’était pas le candidat favori du chancelier; ce dernier entretenait depuis une décennie, dont sept ans au plus haut niveau, une relation privilégiée avec le président sortant, le libéral Valéry Giscard d’Estaing. L’appartenance à la même famille politique et à la culture supposée commune du mouvement ouvrier ne pouvait être considérée comme de bon augure pour la relation Schmidt/Mitterrand que par ceux qui n’auraient pas perçu les dissensions au sein de la gauche européenne. Helmut Schmidt incarnait pour les socialistes français d’alors la social-démocratie dans sa tiédeur et supposée connivence avec le capitalisme; François Mitterrand était pour une bonne partie du SPD, en particulier pour l’aile modérée du chancelier, l’épouvantail qui osait promouvoir la stratégie de l’union de la gauche et confier à des communistes des ministères d’un État démocratique occidental. Vue comme l’expression d’un radicalisme doctrinaire, la partie économique du Programme commun était jugée très aventureuse à la Chancellerie et inquiétait particulièrement – en février 1981 Schmidt aurait dit en parlant de l’éventualité de l’élection de François Mitterrand: «ne me parlez pas de malheur…».6 Aussi seule la correction, le respect des pratiques et l’inertie de la machine franco-allemande élaborée en application du traité de l’Elysée de 1963–ou plus positivement le «réalisme lucide» qu’évoque Hubert Védrine7 – étaient-ils de nature à permettre des échanges entre les deux nouveaux interlocuteurs. Le chancelier déclara plus tard en avoir pris son parti et avoir choi-
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Hudemann, Rainer, Voyage en Allemagne (4–9. 9. 1962), in: Claire Andrieu, Philippe Braud et Guillaume Piketty, Dictionnaire de Gaulle, Paris 2006, p. 1171. Par ex. les 23 et 24. 5. 1974, un mois après la chute du fascisme portugais, Mitterrand réunit à Latche les dirigeants des partis socialistes de l’Europe du Sud, cette fois sans Mario Soares, un habitué de Latche et de la rue de Bièvre. Cité in Védrine, Hubert, Les Mondes de François Mitterrand. A l’Elysée 1981–1995, Paris 1996, p. 128. Ebd. (Am. 6), p. 129.
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si d’éviter les sujets de désaccord,8 ce que n’attestent qu’en partie les archives car il y a bien eu des critiques allemandes sur le protectionnisme français et sur les conséquences des nationalisations;9 le nouveau président et son équipe à l’Elysée déploraient cette situation et l’idée s’imposa qu’il fallait transformer l’essai de la première rencontre positive du 24 mai 1981, lever les préventions allemandes et forcer la mise en place d’une relation personnelle entre les dirigeants. De tous les clichés du couple Giscard/Schmidt, c’est la photo d’un tête à tête enfumé au bar du domicile de Schmidt à Reinbek qu’il fallait concurrencer.10 A en croire le récit qu’en fait l’ancien chancelier dans notre texte de 1990, les sujets de friction en matière de politique économique furent évités à Latche. Sauf à comprendre que parmi les «longues conversations en profondeur» rendues possibles par «le temps et l’occasion», qui manquent habituellement aux responsables politiques, il y eut aussi les effets des premières mesures du gouvernement de Pierre Mauroy: l’intense activité réformatrice du «changement» annoncé,11 avec des nationalisations, une relance par la consommation alliée à une politique sociale. Cette politique globalement fort onéreuse par les aides aux secteurs en difficulté et qui misait sur l’augmentation du pouvoir d’achat du fait de la hausse des salaires et des prestations sociales n’eut pas les résultats attendus car le coût du travail s’accrût très fortement, ce qui fragilisa les exportations françaises et creusa le déficit de la balance commerciale. Certes dès le lendemain de l’élection de Mitterrand la Bundesbank avait fait le geste de soutenir le franc par des ventes massives de DM; l’inflation française resta au taux élevé de 14% en 1981, elle gomma l’avantage des hausses de salaires et amena le désenchantement. Quatre jours avant la visite de Schmidt à Latche le 8 octobre 1981, le franc était dévalué une première fois; le mois suivant Jacques Delors évoqua une nécessaire «pause dans les réformes» ce qui se matérialisa en 1982, juste après la deuxième dévaluation du franc, dans le blocage des prix et des salaires. Aussi plusieurs signes, notamment dans les dossiers préparatoires à la rencontre, indiquent que l’on parla aussi d’économie à Latche le 8 octobre 1981, notamment dans une perspective européenne.12
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Entretien avec l’auteur, 24.2.1987. Miard-Delacroix, Hélène, Ungebrochene Kontinuität – François Mitterrand und die deutschen Kanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl, 1981– 1984, in: VfZG, 44 (1999), S. 539–558. 9 Par ex. Horst Schulmann, sherpa de Schmidt, lors d’une réunion des sherpas, sommet d’Ottawa, 7–8. 7. 1981, note de Jean-Marcel Jeanneney, sherpa de Mitterrand, [s.d.], archives de l’Elysée, AN 5 AG 4/11– 4767; Aussi notes manuscrites de Claude Sautter en séance plénière, consultations franco-allemandes, 13. 7. 1981, AN 5 AG 4/11– 4286. 10 Note Védrine et Sautter au Président, 13. 7. 1981, AN 5 AG 4/11– 4286: «Le chancelier avait fait un geste très important à ses yeux en invitant M. Valéry Giscard d’Estaing à son domicile à Hambourg. Ce geste n’a jamais été rendu. M. Schmidt serait certainement sensible à une invitation au domicile du président lors d’une prochaine visite (Paris ou Latche)» . 11 Serge Berstein, Pierre Milza, Jean-Louis Bianco (Hrsg.), François Mitterrand, les années du changement, 1981–1984, Paris 2001; Miard-Delacroix, Hélène, Willy Brandt, Helmut Schmidt und François Mitterrand – vom Komitee gegen den Ministerpräsidentenerlass 1976 bis zur Krise der Mittelstreckenraketen 1983, in: Horst Möller, Maurice Vaïsse (Hrsg.), Willy Brandt und Frankreich, München 2005, pp. 231–245.
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Le texte de Schmidt met en avant plutôt la politique étrangère en nommant les différents sujets abordés dans la bergerie. Parmi les quelques témoins, le conseiller à l’Elysée Jean-Michel Gaillard fut d’ailleurs «ébloui de cette leçon de géostratégie appliquée.»13 Si le détail évoque un vaste tour d’horizon, la question des euromissiles était alors centrale et se trouvait au croisement des trois premiers domaines évoqués par Schmidt, la situation des deux superpuissances, les relations Est-Ouest et le contrôle des armements. Avec son discours à l’International Institute for Strategic Studies le 28 octobre 1977, le chancelier avait été l’initiateur de la double décision de l’OTAN dont le principe avait été fixé au sommet de la Guadeloupe en décembre 1979: soit les Soviétiques acceptaient de retirer d’ici quatre ans leurs SS20 pointés vers l’Ouest, soit il faudrait rétablir l’équilibre des forces en stationnant des fusées américaines Pershing II en Europe de l’Ouest et en particulier en RFA. Il ressort d’un examen attentif des sources que la prise de position en faveur du déploiement des euromissiles qu’adopta Mitterrand dans son fameux discours au Bundestag le 22 janvier 1983 fut spectaculaire par sa forme, l’espace où elle eut lieu et le contexte politique franco-allemand donnant à penser que Mitterrand s’était soudainement rangé aux vues de Helmut Kohl. Pourtant, sur le fond, Mitterrand partageait déjà en octobre 1981 l’analyse d’Helmut Schmidt: il s’était exprimé dès le 20 décembre 1979 à l’Assemblée nationale pour le rétablissement de l’équilibre des forces en Europe; l’accord mutuel sur le refus des SS20 joua certainement un rôle fondateur dans la qualité des échanges de Schmidt et Mitterrand. Sur l’ensemble des questions de politique étrangère, l’ancien chancelier insiste: «certes il y eut des nuances nettes sur telle ou telle des questions discutées mais il n’y eut pas de désaccord.» Ainsi le souhait de soigner les relations bilatérales, entre autres pour ne pas devenir «le jouet des Américains ou, pire, des Russes» était-il partagé, dans la même conviction de faire partie du même camp que les États-Unis (les nuances ne tenant qu’au statut respectif issu de l’histoire) et avec le même agacement face aux interprétations hâtives des commentateurs, qu’elles supputent un refroidissement ou dénoncent un «alignement» systématique.14 Le récit de Schmidt traduit en plusieurs endroits sa surprise face à la nouvelle réalité du socialiste français jugé jusqu’alors plutôt inquiétant: admirant «sa bibliothèque qui était aussi son bureau», Schmidt relève, dans l’analyse que fait 12 Dans une note à Bérégovoy, Védrine évoque la nécessité de «convaincre H. Schmidt de notre crédibilité» sur ce qui l’intéresse, notamment «la fermeté de la France dans sa politique économique intérieure» , «il s’intéressera alors à notre proposition de relance (emprunts communautaires NIC, charbon et peut-être même l’espace social européen)», Archives Elysée, AN 5 AG 4/27–11300 ‘rencontre Latche’, (note s.d.). 13 Musitelli, Jean, Institut François Mitterrand, Lettre n° 13, 23. 10. 2005. Les archives font état de la présence auprès de Mitterrand du secrétaire général de l’Elysée Bérégovoy, du conseiller Védrine, de l’aide de camp Olhagaray, de la secrétaire Mlle Papegay, et de l’interprète Stoffaes, et dans la délégation allemande, de Lahnstein, v.d. Gablentz, du chef cabinet Chancelier Frickhinger et de l’interprète Bouverat. Elysée, AN 5 AG 4/27–11300 ‘rencontre à Latche’. Des photographies montrent également le second jour le ministre des Finances Jacques Delors et le président de l’Assemblée nationale Louis Mermaz. 14 Védrine (Anm. 6), p. 184–185.
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Mitterrand de l’attitude à adopter face à Reagan, de l’adresse et de la finesse. Et il a cette façon caractéristique de reconnaître avoir été séduit: «j’ai eu pour la première fois le sentiment de le comprendre.» L’admiration socialement située, avec le prestige qu’ont les livres dans le milieu de la petite bourgeoisie lettrée et éclairée dont Schmidt est issu, fut sans aucun doute un effet voulu et calculé par Mitterrand, dont les trois domiciles, rue de Bièvre, Latche et l’Elysée, étaient envahis par les bibliothèques. Jean Glavany a décrit les bibliothèques «intimes» dont l’accès était réservé aux proches: «Rue de Bièvre […] il m’avait convoqué, dans son petit “poulailler”, son bureau sous les combles, envahi par les livres, posés à même le sol […]; il vivait parmi les livres, une invasion permanente. Il a décidé assez vite de faire descendre des centaines et des milliers de livres à Latche, dont des poches, des livres qui n’avaient pas grande valeur, pour lesquels il a construit deux chalets de bois mis sous les pins, pour le stockage.»15 Tel qu’il est décrit par Schmidt, le bureau circulaire dans la bergerie de Latche, dont «les murs étaient recouverts de rayonnages remplis de livres jusqu’au plafond», est le repaire du sage et Mitterrand apparaît, tel Montaigne dans sa tour, comme un «homme de lettres» (en français dans le texte) qui ne peut pas être entièrement mauvais. La fonction du lieu fut ainsi l’établissement de la confiance et du jeu de la transparence; les développements de Schmidt tant sur la réalité de la situation en Europe de l’Est que sur la «fermeté de sa position» face à la RDA et au mouvement neutraliste en RFA vont dans ce sens. Écrit en 1990 avec le recul sur la réunification qui donne un éclairage particulier au contenu, ce texte insiste sur la perspicacité de Mitterrand quant à la rapidité des évolutions possibles et sur sa lecture gaullienne de «la logique de l’histoire», nourrissant la thèse que le président français n’a pas tenté d’empêcher la réunification mais juste d’en fixer le cadre et les conditions.16 DE LA SÉDUCTION À LA CONVICTION: HELMUT KOHL À LATCHE Que Helmut Kohl donne de la bergerie une description très succincte ne tient pas qu’au style de ses mémoires mais largement au fait que c’est dans un contexte autrement dramatique, de «bourrasques heureuses»17 mais aussi de tensions fran15 Institut François Mitterrand, Lettre n° 14, 22. 1. 2006, «un archipel de bibliothèques». Voir aussi les photos in: Danièle Georget, et photographies de Claude Azoulay, François Mitterrand. Tenez-vous prêt, nous partons! , Paris 2005. 16 Schabert, Tilo, Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart 2002. Bozo, Frédéric, Mitterrand, la fin de la guerre froide et l’unification allemande. De Yalta à Maastricht, Paris 2005. 17 Cette formule de Mitterrand à Latche, précisant «Nous ne sommes plus dans l’ordre tranquille, insupportable, des quarante dernières années», Institut François Mitterrand, Lettre n° 13, 17. 10. 2005, est beaucoup plus neutre dans la version allemande: „Es sei eine glückliche Bewegung. Der bisherige Zustand sei im Grunde unerträglich gewesen; es habe sich aber um eine ruhige Ordnung gehandelt“, Deutsche Einheit. Dokumente zur Deutschlandpolitik. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, hrsg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs, München 1998, p. 682 (Document 135, p. 682–690).
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co-allemandes, qu’a eu lieu sa visite à Latche le 4 janvier 1990. De la rencontre de Mitterrand avec Gorbatchev à Kiev, à la visite du président dans la capitale de la RDA moribonde à la fin de l’année 1989, les causes d’irritation étaient nombreuses du côté allemand, en écho à un agacement français au moins aussi fort face à un Kohl semblant faire cavalier seul avec son plan en 10 points qu’il a rendu public sans en avoir informé l’Elysée au préalable.18 La conversation, qui dura trois heures et fut prolongée par une longue promenade sur la plage de Soustons, fut entièrement centrée sur le processus de la réunification et sur l’analyse respective des bouleversements en marche ou potentiels dans l’équilibre Est-Ouest. Mitterrand se fit l’interprète de Gorbatchev et mit en avant ses craintes pour l’avenir de la perestroïka en raison de l’extrême rapidité du processus de réunification qui ne pouvait que donner des arguments aux opposants à Gorbatchev et contraindre ce dernier, pour ne pas être renversé, à durcir sa position à l’international.19 Kohl exposa en détail les évolutions en Allemagne et les projets de son gouvernement, Mitterrand dénonça les interprétations des média présentant les amis de l’Allemagne, dès qu’ils s’exprimaient avec prudence, comme de mauvais amis, voire comme des traîtres.20 Qualifié «d’entretien clef»,21 «franc et éclairant»,22 cette conversation à Latche eut une fonction de clarification et peut être considérée comme un virage dans l’histoire franco-allemande de la réunification. Elle permit à chaque partie de réfuter des allégations, de donner des gages de confiance, de s’entendre sur la connexion entre unification allemande et construction européenne et enfin, côté français, d’encourager la réévaluation du facteur soviétique en cours à l’Elysée.23 LES FONCTIONS DU LIEU Des trois problèmes posés au début de cette étude, le plus aisé à résoudre est celui de l’efficacité du transfert dans une sphère privée d’une négociation internationale pour transformer la nature et l’esprit de la relation bilatérale. La réception des deux chanceliers allemands à Latche, ce sont deux variations d’un même schéma où il importait de clarifier les positions dans des constellations politiques et stratégiques nouvelles et, pour 1990, exceptionnelles. Dans les deux cas, le lieu a eu une fonction claire et le succès de l’entreprise a été mis en avant par les hôtes autorisés à entrer dans l’espace privé. La question de la nouveauté relative du phénomène est également simple à résumer: il n’y eut pas de réelle nouveauté, sauf à considérer que recevoir Helmut Kohl à Latche a constitué une rupture avec la tra18 Teltschik, Horst, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, p. 97–100, ici p. 98. Kohl fait état du malaise (Anm. 2), p. 1033. 19 Teltschik (Anm. 18), p. 99; Deutsche Einheit (Anm. 17), p. 685–686, Kohl (Anm. 2), p. 1035. Compte-rendu de Loïc Hennekine, archives privées, citées in Bozo (Anm. 16), Fin de la guerre froide, p. 179; 20 Deutsche Einheit (Anm. 17), p. 685. 21 Teltschik (Anm. 18), p. 100. 22 Kohl (Anm. 2), p. 1037. 23 Bozo (Anm. 16), Fin de la guerre froide, p. 181.
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dition de la bergerie comme lieu de rencontre des socialistes d’Europe et du monde. Cela revient à surexposer, comme en photographie, l’entente de deux dirigeants issus de familles politiques différentes, dans le même éblouissement que celui que provoqua la réunification en Europe. Car Latche a bien été un lieu d’élaboration du politique à l’ère mitterrandienne: c’est de là que le futur président a évoqué sérieusement sa candidature aux élections présidentielles de 1974 et de 198124 et on imagine bien la plage voisine en arrière-plan sur les affiches de sa campagne de communication à partir de 1976, montrant Mitterrand marchant au bord de la mer avec le slogan: «Le socialisme, une idée qui fait son chemin». Cette formule qui évoque celle de Saint-Just, « le bonheur est une idée neuve en Europe », trouve son écho dans «la force tranquille», à la mise en forme de laquelle la dimension rustique de Latche a contribué, comme l’Hôtel du Vieux Morvan de Chateau-Chinon. Vis-à-vis de Schmidt et de Kohl, Latche a été un attribut rassurant. Enfin, l’utilisation de Latche comme lieu de transformation de la perception des positions politiques met en évidence la particularité des processus de décision au sommet dans l’édifice franco-allemand. Malgré l’étroitesse du maillage des contacts bilatéraux à différents niveaux des deux administrations, tel qu’il s’est développé progressivement et peut être considéré comme le grand acquis des relations franco-allemandes pour la compréhension réciproque, les décisions continuent à être élaborées au sommet et suivent le schéma du top-down, avec des échanges laissant souvent peu de traces aux niveaux inférieurs. Cela complexifie, si cela ne rend vaine, l’histoire par les acteurs dont les témoignages, avec en particulier le genre des mémoires, ne peuvent être compensés par l’heureuse ouverture précoce des archives que dans la mesure où on y trouve des notes d’entretien. Avec la privatisation des contacts au sommet, on est au cœur de la difficulté à écrire cette histoire. Dans la courte mémoire franco-allemande des années de construction européenne, Latche est un espace symbolisant cette privatisation de l’espace de formulation du politique. C’est pour l’instant un exemple en petit de la pratique de l’échange en dehors du cérémonial et des rôles écrits à l’avance. Il est trop tôt pour évoquer un lieu de mémoire franco-allemand. HELMUT SCHMIDT, DIE DEUTSCHEN UND IHRE NACHBARN, BERLIN 1990, S. 255–257 „Präsident Mitterrand hatte mich am Schluss der Bonner Sitzung zu einem privaten Besuch in Paris eingeladen; daraus wurde der schon erwähnte Besuch in seinem Landhaus am 7. und 8. Oktober [1981]. Der Ort Latché (oder Latche – die korrekte Schreibweise ist mir angesichts verschiedener Schreibweisen und Aussprachen durch die Franzosen selbst nie klar geworden) besteht eigentlich nur aus zwei oder drei verstreuten Gehöften; es liegt inmitten der riesigen, 24 Institut National de l’Audiovisuel (INA), respectivement JT 20h, ORTF, 15/04/1974, et IT1 13h, TF1, 19/08/1980.
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von der Atlantikküste sich ostwärts erstreckenden Pinnenwälder südlich Bordeaux und der Garonne. Mitterrands Anwesen, eine ehemalige Schäferei mit alten, aber restaurierten und innen modernisierten Fachwerkgebäuden, ist unauffällig in die Landschaft eingepasst. Die einstöckigen Häuser stammten aus dem Jahre 1783, sagte Mitterrand: ein ehemaliger Schafstall, ein Schuppen, dazu ein Backofen, ein kleiner moderner Anbau. Mitterrand hatte ein paar Jahre zuvor ein Eichenwäldchen gepflanzt, das er mir stolz zeigte, es war einstweilen noch eine Schonung. In Latché hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, Mitterrand zu verstehen. Ich wusste von seiner Ausbildung als Jurist, kannte seinen Werdegang als Politiker; ich hatte auch die Würde erlebt, mit der er bei offiziellen Anlässen Frankreich repräsentierte – auch hierin nicht viel anders als Giscard, offensichtlich ebenso stark geprägt vom Stil de Gaulles. Aber nun erlebte ich den Mann in seiner Bibliothek, die zugleich sein Arbeitszimmer war; er handelte sich um einen kreisrunden ehemaligen Stall für Schafsherde, der sich einige Schritte abseits des Wohnhauses befand. Die Bücherregale entlang den Wänden waren bin unter die Decke gefüllt – Mitterrand war im Grunde ein Homme des Lettres, einer, der die Bücher der anderen las, der selbst schrieb – und der Geschichte machen wollte. Während wir uns in diesem anheimelnden, zur seelischen Entspannung und zur Konzentration der Gedanken inspirierenden Arbeitszimmer unterhielten, schrie draußen ein Esel. „Sonst sind sie eigentlich immer wie die Philosophen“, sagte Mitterrand, „sie stehen stundenlang am gleichen Ort und denken über die Welt nach.“ Meine Antwort: „Leider haben wir Esel von Politikern dafür zu selten Gelegenheit und Zeit.“ Nun wohl, in Latché hatten wir beides, Zeit und Gelegenheit. Wir haben die beiden Tage für ausgedehnte, in die Tiefe gehende Unterhaltungen genutzt; am zweiten Tag kamen unsere beiden Amtschefs Lahnstein und Bérégovoy hinzu, ebenso unsere beiden außenpolitischen Berater. Die außenpolitischen Themen reichten von der inneren Lage der beiden Supermächte, den Ost-West-Beziehungen und den Abrüstungsverhandlungen über nukleare Mittelstreckenwaffen, China, den Mittleren Osten, die Nord-Süd-Problematik im allgemeinen bis zur aktuellen Problematik der EG. Zwar gab es zu manchen der diskutierten Fragen durchaus unterschiedliche Nuancen, aber es gab keine Widersprüche. Mitterrand betonte, besonders enge Beziehungen und ein gutes Einvernehmen zwischen Frankreich und Deutschland seien der einzige Weg für die Westeuropäer, nicht zum Spielball der Amerikaner oder – noch viel schlimmer – gar der Russen zu werden. Ihm stand ein bilaterales Treffen mit Reagan ins Haus, und es lag ihm daran, die Punkte mit mir durchzugehen, die vermutlich zur Sprache kommen würden. Sehr treffsicher bemerkte er, man brauche viel direkten, persönlichen Kontakt zu Ronald Reagan, damit dieser mit eigenen Ohren die Positionen und Urteile der Europäer höre und kennenlerne. Ich legte besonderen Wert darauf, meinem Gastgeber ein differenziertes Bild von der unterschiedlichen Lage der Polen, Ungarn und Tschechen sowie andererseits der Deutschen in der DDR zu geben. Meine Absicht, Honecker zu besuchen, stand fest, und ich wollte vermeiden, dass dabei falsche Töne, die ich mit Gewissheit in einigen Massenmedien sowohl der Bundesrepublik als auch Frankreichs erwartete, bei Mitterrand Zweifel an der Festigkeit meiner Position auslösten. Ich sprach über die mir geläufigen französischen Sorgen, dass die Deutschen in beiden deutschen Staaten versucht sein können, ihr nationales Problem durch die Herstellung einer neutralistischen Atmosphäre in Mitteleuropa zu lösen. Zwar gebe es solche Tendenzen, aber sie kennzeichneten auf unabsehbare Zeit nur eine kleine Minderheit (vornehmlich in meiner eigenen Partei), und man brauche den in Frankreich so genannten deutschen Neutralismus nicht zu fürchten. Mein Besuch bei Honecker diene unserem vitalen Interesse, die Verbindungen zwischen beiden deutschen Staaten nicht abreißen zu lassen. Vielleicht werde Honecker auf finanzielle Zugeständnisse abzielen und deshalb bereit sein, sich gewisse Reiseerleichterungen für unsere Bürger, leider nicht für die Bürger seines eigenen Staates, abhandeln zu lassen; wir hätten aber schon erlebt, dass er solche Vereinbarungen nach einiger Zeit wieder torpedierte, etwa durch eine Erhöhung des Zwangsumtauschs. Mein Besuch werde Aufsehen erregen, obwohl er nur kurz und auch nicht herzlich sein werde; hoffentlich erwecke er keine illusionären Hoffnungen.
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Hélène Miard-Delacroix Kein westdeutscher Politiker glaube gegenwärtig, dass es noch in diesem Jahrhundert eine Möglichkeit der Vereinigung beider deutschen Teile geben werde; um so wichtiger erscheine es mir, alles zu tun, was die Lage der geteilten deutschen Nation und die Beziehungen zwischen beiden Teilen erleichtern könne. Mitterrand machte dazu eine Bemerkung, die auch von de Gaulle hätte stammen können: „Sicherlich wird zur Vereinigung noch einige Zeit verstreichen. Aber sie liegt in der Logik der Geschichte, und mich schockiert das keineswegs. Die objektiven und die subjektiven Tatsachen, die einer Wiedervereinigung der Deutschen entgegenstehen – vor allem die Existenz des sowjetischen Imperiums – könnten sich immerhin eines Tages schneller verändern, als man heute denkt. Mir hat diese realistische Einschätzung gefallen; ich habe mich 1989 ihrer erinnert, als die Ereignisse im Osten Europas und in der DDR die deutsche Frage kataraktartig beschleunigten.“
Prof. Dr. Hélène Miard-Delacroix, Professeur de civilisation allemande contemporaine, ENS LSH, Lyon
DIE VILLA MARIE IN FRÉJUS EIN (FAST) VERGESSENER MOSAIKSTEIN SAARLÄNDISCHER GESCHICHTE (R OLF WITTENBROCK)
Seit über vierzig Jahren fällt der Blick jedes Besuchers, der die herrschaftliche Treppe in der Stadtbibliothek von Fréjus (Var) benutzt, auf eine Gedenktafel, die hier 1960 angebracht wurde. In goldenen Lettern kann man lesen, dass diese Villa Marie den „Mines de la Sarre“ gehörte, bevor sie der Stadt Fréjus übereignet wurde, die dann hier ihr neues Bibliotheks- und Medienzentrum einrichtete. Inzwischen gehen die meisten Besucher achtlos an dieser Marmortafel vorüber, ist diese Information doch für sie ohne Interesse, da sie sie überhaupt nicht in einen historischen Kontext einordnen können. Ein Saarländer jedoch, der zudem ein wenig über die Geschichte seiner Heimat in der Nachkriegszeit weiß, muss sich verwundert die Augen reiben: Sollte diese wunderschöne Villa tatsächlich einmal den Saargruben gehört haben, die in den fünfziger Jahren ja in französischer Hand waren? Wenn er dann aus der Villa wieder ins Freie tritt, entdeckt er noch heute einen großzügig angelegten Park mit einer Größe von über 3 ha. Dort gibt es inzwischen zahllose über 15 Meter hohe Palmen, mächtige und prächtige exotische Bäume und eine mediterrane Blütenpracht, die den Besucher aus eher nördlichen Breiten immer wieder aufs Neue fasziniert. Neben historischen, von Patina überzogenen Brunnen kann er zu gepflegten Wasserflächen bummeln, in denen sich die Villa in ihren ganzen majestätischen Ausmaßen spiegelt.
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UNE VILLA PRESTIGIEUSE… Eine geschwungene, von einer eindrucksvollen Balustrade gesäumte Außentreppe in Hufeisenform führt vom Park aus auf eine Terrasse, auf der die Villa mit einer Grundfläche von etwa 600 m² errichtet wurde. Die im Palladio-Stil zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaute Villa zeigt zur Parkseite eine reich gegliederte, aber unsymmetrische Fassade mit zahlreichen Kolonnaden und einem dreiachsigen Eingangsportal, das von einem herrschaftlichen Balkon im ersten Stock fortgeführt wird. Der ganze zweistöckige Baukörper wird von einem mächtigen Walmdach mit zahlreichen Dachgauben bedeckt, das wiederum von einem eindruckvollen klassizistischen Belvedere bekrönt wird.
Alle Fassaden auf den Schauseiten sind in neoklassizistischen Stilformen verziert, und diese Formelemente prägen auch das umlaufende marmorne Treppenhaus, das in den ersten Stock führt und dort von einer großzügigen Galerie begrenzt wird. Die Fußböden im Eingangsbereich sind mit kleinteiligen Mosaiken belegt, die an exponierten Stellen von besonderen Ornamenten unterbrochen werden. Ganz anders ist dagegen der Stil der schmiedeeisernen Fenstergitter an den Außentüren und der ebenfalls eisernen Füllungen der Treppengeländer: Bei der Gestaltung dieser Bauteile finden sich Formen, die eindeutig dem Jugendstil zuzuordnen sind.
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In allen Räumen gibt es große offene Kamine, die durch ihre Formenvielfalt überraschen. Während die Zimmer im Erdgeschoss noch eine reiche Wand- und Deckenverzierung in Stuck aufweisen, sind die hier ursprünglich gezeigten wertvollen Wandgemälde inzwischen in das Bürgermeisteramt von Fréjus ausgelagert worden. …AVEC UNE HISTOIRE MOUVEMENTÉE 1892 erwarb der in Fréjus begüterte Jean-Marie Thevenet die 9 Jahre zuvor erbaute „Villa Virginie“, die auf einem großen Gelände unmittelbar vor der in diesem Teil noch überwiegend gut erhaltenen Stadtmauer aus römischer Zeit errichtet worden war.1 Das Grundstück östlich des bebauten Stadtkerns von Fréjus gehörte zu einer Gemarkung, die auf zwei zeitgenössischen Lageplänen als „Le Paradis“ 2 bezeichnet wurde. Das Grundstück wurde auf der Südseite durch einen Weg begrenzt, der später zur Nationalstraße 7 ausgebaut wurde, die in östlicher Richtung einen schnellen Zugang zur touristisch bereits weitgehend erschlossenen, nur 3 km entfernten Stadt St. Raphael direkt am Mittelmeer ermöglichte. In westlicher Richtung führte diese Straße ebenfalls entlang an der Mittelmeerküste nach Ste Maxime und in den Golf von St. Tropez.
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Michaud-Jeannin, Emilie, Les villas palladiennes à Fréjus et St. Raphael. Travail pour la DRAC à Aix-en-Provence 1988. Für den Hinweis auf diese unveröffentlichte Arbeit danke ich Mme Gallissot-Ortuno und Mme Lecat, Leiterin der Médiathèque municipale de Fréjus. Archives municipales de Fréjus, fonds 63W24.
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Die „Villa Virginie“ war zweistöckig und bestand aus zwei kleineren Bauteilen. Nach der Jahrhundertwende wurde im Westen ein weiterer Flügel angebaut. Als Jean-Marie Thevenet 1901 verstarb, übernahm sein Sohn Joseph Marius Thevenet das Anwesen. Er nahm 1903 und 1905 einige Erweiterungen vor, sodass sich die Grundfläche der Villa mehr als verdoppelte. Etwa um 1906 hatte dann das Anwesen den heute noch erhaltenen Baukörper. Nun verfügte die Villa im Erdgeschoss über einen repräsentativen Eingangsbereich mit korinthischen Säulen. Von hier aus erreichte man einen großen Salon sowie eine Bibliothek. Nun erfolgte der Zugang in den Garten, der wegen der gepflegten Rosenanlagen allgemein bewundert wurde, über eine Loggia. Neu war auch die großzügige Marmortreppe, die zu den Wohnräumen und Gästezimmern im ersten Geschoss führte, und die oben in eine lange Galerie mündete. Im gesamten Wohnbereich gab es stuckverzierte Decken, Mosaikfußböden, wertvolle Wandgemälde sowie große jeweils unterschiedlich gestaltete Kamine. In einem seitlich gelegenen älteren Bauteil befand sich auch eine private Kapelle, die ausschließlich von der Familie Thevenet genutzt wurde. Der neue Eigentümer Joseph Marius Thevenet nannte die Villa vermutlich nach seiner bereits vor 1901 verstorbenen Mutter „Villa Marie“3. Der Bauherr lebte anfangs selbst in der Villa und ehelichte Ines Marie Delphine Eulalie de Kerchove d’Exaerde, die mit der belgischen Königsdynastie verwandt war. Später verzog Monsieur Thevenet – er war Sénateur geworden – nach Paris, wo er 1932 verstarb.4 1934 ging die Villa Marie in das Eigentum des Sohnes Marc Thevenet über, allerdings behielt die Ehefrau des Senators ein Nießbrauchrecht. Am 26. Dezember 1941 wurde die Villa an die Fa. Agrimex (Société agricole Immobilière du Var) für 1,5 Millionen Francs verkauft. Über dieses Unternehmen und die Nutzung der Villa fehlen in den Akten jegliche Hinweise. Aber es gibt die Vermutung, dass zwielichtige Machenschaften eines M. Casanova, der in der Villa zeitweise ein Hotel und ein Restaurant betrieb, zu einem erneuten Eigentümerwechsel führten.5 Am 24. Juni 1952 kaufte die Régie des Mines de la Sarre die Immobilie zum Preis von 17 Millionen Francs, wobei sie die Immobilie auf Bitte der Saarknappschaft erwarb, die auch den Kaufpreis zahlte und die Bewirtschaftung des Hauses übernahm. Damit begann die Villa Marie auch Teil der saarländischen Geschichte zu werden, gehörte sie doch nun zum Betriebsvermögen des mit Ab-
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In den verfügbaren Akten und Dokumenten in Fréjus findet sich noch keine Erläuterung für die Namensgebung. In der lokalen Geschichtsschreibung von Fréjus wird vermutet, dass die Villa Marie in den Zwanziger Jahren an wohlhabende Gäste vermietet wurde und dass 1924 der bekannte amerikanische Schriftstellerf. Scott Fitzgerald in der Villa residierte. Allerdings handelt es sich hier wohl um eine Verwechslung: der Schriftsteller bewohnte zwar eine „Villa Marie“, allerdings lag diese in der Nachbargemeinde St. Raphael, Information von Rida Roty @wanadoo.fr. Auskunft von Helmut Lissmann, bis Ende 1988 Abteilungsdirektor Liegenschaften und Forsten der Saarbergwerke AG, am 21. Mai 2007. Neben Herrn Lissmann danke ich für wertvolle Auskünfte den Herren Adolf Groß, Hans-Josef Haupenthal, Franz Rauber und Max Rolshoven. Herr Lissmann war so freundlich, mein Manuskript kritisch zu prüfen.
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stand bedeutendsten saarländischen Versicherungsträgers, der damals ein Sechstel aller saarländischen Arbeitnehmer betreute. UNE ACQUISITION POUR LA SARRE – POUR QUI ET POURQUOI? Das am 31. Dezember 1947 erlassene Dekret betreffend die Organisation der Régie des Mines hatte festgelegt, dass die an Frankreich verpachteten Saargruben in allen wichtigen Verwaltungspositionen von französischen Fachleuten zu besetzen waren.6 Generaldirektor seit 1950 war Pierre Couture, der dieses Amt bis zum 30. September 1957 innehatte. In seiner rückblickenden Bilanz lobte er das konstruktive Miteinander von französischen und deutschen Führungskräften im Unternehmen.7 Das galt allerdings nur eingeschränkt für die Zeit vor 1953. Deutsche Vertreter im Saargrubenrat, die im Übrigen die Wirtschaftsunion mit Frankreich keineswegs ablehnten, beanstandeten immer wieder die Personalpolitik des französischen Generaldirektors, der Saarländer – auch bei gleicher Eignung – von leitenden Positionen ausschloss. Zum Teil bezeichnete man die Régie des Mines als einen „Staat im Staate.“8 Der Protest prodeutscher Belegschaftsmitglieder richtete sich immer wieder gegen die Informationspolitik der Direktion. So beklagte ein Mitglied im November 1952 im Saargrubenrat, „dass der vorliegende Monatsbericht nur ein Neuntel der Informationen umfasse, die ein ausführlicher Bericht, der in den Händen der Generaldirektion sei, beinhalte.“9 Es mag sein, dass diese restriktive Informationspolitik ein Grund dafür war, dass sich in den verfügbaren Quellen und Dokumenten in Saarbrücken keinerlei Hinweise über den Kauf einer Villa an der französischen Riviera fanden. Weder in den offiziellen Publikationen der Régie des Mines noch in den Bergmannskalendern fand eine Villa Marie Erwähnung, obwohl es in dieser Zeit nicht an Berichten über bestehende Sozialeinrichtungen der Grubenverwaltung und über Ferienlager von Berglehrlingen in Südfrankreich fehlte, die im Übrigen von der Régie des Mines großzügig finanziell unterstützt wurden.10 Auch in der Zeitungssammlung des Schneider-Becker-Archivs finden sich keine Dokumente über diesen Immobilienerwerb, obwohl gerade prodeutsche Gruppen diesen Kauf in Frankreich für ihre politischen Ziele hätten nutzen können. Möglicherweise gab es ein Arrangement zwischen der Régie des Mines und der Saarknappschaft, diesen Immobilienerwerb vertraulich zu behandeln, der ja als durchlaufender Posten die Bilanz der 6
Heinen, Armin, Saarjahre. Politik und Wirtschaft im Saarland 1945–1955, Stuttgart 1996, S. 188. 7 Die Saargruben 1945–1957. 12 Jahre französisch-saarländische Verwaltung, Saarbrücken 1957. 8 Herrmann, Hans-Christian, Sozialer Besitzstand und gescheiterte Sozialpartnerschaft. Sozialpolitik und Gewerkschaften im Saarland 1945 bis 1955, Saarbrücken 1996, S. 362. 9 Ibid., S. 350. 10 So erwähnte der offizielle und um Vollständigkeit bemühte Bericht der Saarbergwerke vom 1. Juli 1955 „Die sozialen Einrichtungen der Saarbergwerke“ die Villa Marie mit keiner Silbe. Vgl. auch Saarbrücker Bergmannskalender 1953, Spilker, Werner, Die Ferienlager der Régie des Mines de la Sarre, S. 33–35. Die Régie zahlte 50 % der Fahrt- und Aufenthaltskosten für ihre Lehrlinge.
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Régie des Mines nicht belastete. Man kann auch nicht ausschließen, dass die Geschäftsberichte der Saarknappschaft die Villa Marie nicht erwähnten, da diese die Bewirtschaftung und damit die Erstellung der Einnahmen-/Ausgabenbilanzen unmittelbar in die Hände des nachgeordneten Sozialfonds gelegt hatte. Die so beschriebene Quellenlage, – d.h. das vielleicht absichtsvoll herbeigeführte Fehlen jeglicher schriftlichen Überlieferung – erlaubt keine gesicherten Aussagen über die Umstände und Motive für den Erwerb der Villa Marie. Glücklicherweise gelang es jedoch, mithilfe der Oral History und der Befragung von Zeitzeugen, diese Lücke ein wenig zu schließen und wichtige Facetten dieses saarländisch-französischen Mikrokosmos in Fréjus zu rekonstruieren. Demnach diente der Erwerb der Immobilie dazu, Mitarbeitern der Saarknappschaft und – sofern noch freie Plätze vorhanden – der Régie des Mines ein herrschaftliches Feriendomizil in einem bevorzugten Urlaubsgebiet in Frankreich zu sichern. Eine so geschaffene dauerhafte Verbindung aus dem Saarland nach Frankreich entsprach natürlich auch den übergeordneten politischen Zielsetzungen der teilautonomen Saarregierung, konnten doch auf diese Weise die Kontakte zu dem großen Partner im Westen ausgebaut und vertieft werden. SAARLÄNDISCHES FERIENGLÜCK “AU PARADIS“ Schon ein Jahr nach dem Kauf der Villa Marie wurde die Führungsstruktur der Grubenverwaltung erheblich verändert. Der saarländisch-französische Vertrag vom 20. Mai 1953 brachte die Auflösung der Régie des Mines. An ihre Stelle trat ein paritätisch geführtes Unternehmen mit dem Namen „Saarbergwerke“, juristische Person des öffentlichen Rechts, in dem zunehmend auch Saarländer in wichtige Führungspositionen berufen wurden. Nun konnten sowohl deutsche Mitarbeiter der Knappschaft als auch französische oder deutsche Belegschaftsmitglieder mit ihren Familien zeitgleich ihren Urlaub im betriebseigenen Feriendomizil an der Côte d’Azur verbringen. Ich verdanke Marianne Altmeyer einen ausführlichen Bericht und zahlreiche Fotos über die Villa Marie als Urlaubsresidenz.11 Sie hat mit ihrem Ehemann zweimal ihren Urlaub in Fréjus verbracht und war 1955 drei Wochen zu Gast in der Villa, da ihr Vater als Direktor “de la section des combustibles“ für seine Tochter und ihren Ehemann einen solchen Aufenthalt gebucht hatte. Zeitgleich verbrachte auch die Familie Becker mit drei Söhnen ihren Urlaub in der Villa: Dr. Becker war Zahnarzt und führender Mitarbeiter der Knappschaft. Es konnten aber auch Sekretärinnen oder andere Belegschaftsmitglieder mit niedrigeren Gehaltsstufen ihren Urlaub in Fréjus verbringen, sofern sie die geforderte finanzielle Beteiligung aufbringen konnten. Generell waren es jedoch Führungskräfte und vielfach auch Knappschaftsärzte, die von diesem Angebot Gebrauch machten. Es wird berichtet, dass der Aufenthalt in der Villa, die sehr oft ausgebucht war, in
11 Interview mit Frau Dr. Altmeyer am 30. April 2007. Auch Dr. Becker, Ottweiler, danke ich für seine Aussage als Zeitzeuge.
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Anbetracht der gebotenen Leistungen günstig war und vielfach die Kosten nicht deckte. Das junge Ehepaar Altmeyer startete Anfang Juli mit dem eigenen Simca in Richtung Süden. Die über 900 km lange Strecke über mehrere Nationalstraßen konnte nicht an einem Tag zurückgelegt werden, deshalb übernachtete es im Auto. Ab Lyon ging es dann über die legendäre Nationalstraße 7, die direkt bis vor die Tore der Stadt Fréjus und dort zum Domizil Villa Marie führte. Die Streckenführung entsprach weitgehend der später gebauten Autoroute du Soleil, aber die Ortschaften und größeren Städte, die man passieren musste, wollten kein Ende nehmen. Diese schon in den 50er Jahren relativ viel befahrene Route des vacances, die auch von den meisten Urlaubern aus Paris genutzt wurde, verwandelte sich in den Sommermonaten in ein glühendes Asphaltband, das häufig von Lastwagen verstopft wurde und das immer wieder in den Dörfern von Straßenhändlern gesäumt wurde. Hier konnte man in Cavaillon wunderschöne Melonen kaufen, nachdem man schon vorher in Montélimard alle Autoinsassen mit Nougat versorgt hatte… Klimaanlagen im Auto gab es noch nicht. Unser junges Paar verbrachte dann drei Wochen in der Villa Marie. Es erhielt ein eher einfach möbliertes Doppelzimmer mit einem Waschbecken, Duschen und WC befanden sich auf dem Flur. Zur Reinigung der Zimmer standen Zimmermädchen zur Verfügung. Im Erdgeschoss befanden sich beiderseits des Empfangs einige Aufenthaltsräume, in der herrschaftlichen Eingangshalle gab es neben einer Bar eine große Sitzecke, die zum Zeitungslesen einlud. Es war möglich, alle Mahlzeiten im Speisesalon der Villa einzunehmen, wobei unser Paar die sehr gute französische Küche lobte und besonders hervorhob, dass zu jedem Essen Rotwein in beliebiger Menge serviert wurde. Auf Fotos aus dieser Zeit ist ersichtlich, dass die abgebildeten Personen vornehm gekleidet waren, aber das mag vielleicht nicht für alle Feriengäste gelten. Insgesamt konnten gleichzeitig etwa 40 Urlaubsgäste aufgenommen werden. Im Mittelpunkt des Urlaubsprogramms standen Badeferien und Besichtigungen bedeutender Sehenswürdigkeiten an der Côte d’Azur. Deshalb verzichtete unser Paar auch häufig auf das Mittagessen in Fréjus. Besonders beliebt waren die etwa 3 km entfernten Strände von St. Raphael, aber der lang gestreckte Sandstrand von St. Aygulf stand ebenfalls hoch im Kurs. Außerdem konnte man ohne Probleme von der Villa aus zu Fuß einen wunderschönen, noch wenig erschlossenen Sandstrand in Fréjus erreichen. In diesen Wochen erfolgten aber auch Besuche in Nizza, Cannes und Monte Carlo sowie eine Schiffsreise nach St. Tropez. Die Stadt Fréjus hingegen war weniger gefragt, tatsächlich erfolgte ja auch der Ausbau von Fréjus zu einem Touristenzentrum erst nach 1980. Immerhin besuchte unser Paar die zahlreichen, z. T. recht gut erhaltenen Monumente von Fréjus aus römischer Zeit.
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DIE CÔTE D’AZUR EIN TRAUMZIEL NICHT NUR FÜR PRIVILEGIERTE SAARLÄNDER Auch in den Jahren zwischen 1954 und 1960 finden sich in den Publikationen der Saarbergwerke keine Hinweise auf die von der Knappschaft bewirtschaftete, betriebseigene Ferienresidenz am Mittelmeer. Es ist aber auch verständlich, dass man darauf verzichtete, alle Mitarbeiter des Unternehmens über dieses besonders herrschaftliche Urlaubsangebot zu informieren. Von den über 50000 Mitarbeitern hätte ohnehin nur ein verschwindend kleiner Teil Aufnahme in diesem Feriendomizil finden können, und ein Bericht über die Urlaubsgestaltung begünstigter Belegschaftsmitglieder hätte nur Neidkomplexe aktiviert und letztlich den Betriebsfrieden gefährdet. Dabei ist festzustellen, dass im Saarland in dieser Zeit auch zahlreiche andere Berufsgruppen und Angehörige mit geringerem Einkommen bevorzugt ihren Urlaub an der Côte d’Azur verbrachten. Viele Betriebe pflegten intensive Handelsbeziehungen mit Frankreich, und so war es naheliegend, dass die Geschäftsführungen Urlaubsplanungen ihrer Mitarbeiter mit einem Reiseziel in Frankreich unterstützten. Einerseits konnte so die Sprachkompetenz verbessert werden, andererseits gab es keine Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Devisen für die Urlaubskasse. Im Rahmen der nach dem Krieg einsetzenden Reisewelle war dabei für die Saarländer die Côte d’Azur das bei Weitem beliebteste Urlaubsziel.12 So organisierte die Arbeitskammer alljährlich Urlaubsreisen für saarländische Familien nach Nizza. Auch die Lehrlinge der Saarbergwerke konnten ab 1953 im Sommer mehrere Wochen am französischen Mittelmeer verbringen. Am beliebtesten war dabei ein Aufenthalt in Antibes oder auch in Nizza, wo die Saarbergwerke ein großes Lager mit Zelten für je 10 Personen vorhielten. 1956 z.B. verbrachten 300 Lehrlinge ihre Ferien in Antibes, ein Jahr zuvor hatte das Unternehmen über 800 Kinder in ein angemietetes Kinderheim an der Côte d’Azur geschickt. Für diese Urlaubsfahrten wurde in der Regel die Bahn benutzt, wobei die Nachtzüge zumeist in Saarbrücken starteten. Vor allem für die Kinder war es dann ein unvergessliches Erlebnis, wenn sie am frühen Morgen beim Blick aus dem Zugfenster hinter Marseille erstmals das tiefblaue Mittelmeer erblickten und sich damit plötzlich in einer anderen Welt glaubten. DAS ENDE DES SAARLÄNDISCHEN FERIENGLÜCKS IN DER VILLA MARIE Nach der politischen und wirtschaftlichen Angliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik wurde die Förderung von Ferienaufenthalten in Südfrankreich durch die Unternehmensleitung der Saarbergwerke schrittweise abgebaut. Dabei mag es vereinzelt nationalpolitische oder paternalistische Motive gegeben haben. So soll z. B. ein Mitglied der Geschäftsleitung bei einem Gespräch über die Bei12 Vgl. Heinen (Anm. 6), S. 520.
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behaltung des Urlaubsortes Antibes für die Berglehrlinge gesagt haben: „Was hat ein Berglehrling in seinem Urlaub an der Côte d’Azur zu suchen?“13 Wichtiger waren jedoch juristische Gründe im Rahmen der Eingliederung des Unternehmens in das deutsche Sozialversicherungsrecht. Demnach war es Versicherungsträgern wie der Saarknappschaft nicht erlaubt, Kinder- und Ferienheime in eigener Regie zu betreiben und zu besitzen.14 Hinzu kam, dass auch der neue Vorstand der Saarbergwerke AG schon bei seinem Amtsantritt am 1. Oktober 1957 einen strikten Sparkurs ankündigte15 und 1960 die Notwendigkeit eines neuen Sozialprogramms damit begründete, „dass die bisher betriebenen sozialen Einrichtungen nur einem verhältnismäßig kleinen Teil der Belegschaftsmitglieder und ihrer Angehörigen zugutekamen.“16 Auch die Villa Marie, die ja nicht nur ständig Unterhaltungskosten, sondern auch Personalkosten für den Verwalter, für das Küchen- und Gartenpersonal verursachte, konnte zu keinem Zeitpunkt kostendeckend bewirtschaftet werden. Das musste auch der für die Bewirtschaftung zuständige Unterstützungsverein feststellen, der 1958 an die Stelle des Sozialfonds getreten war. So kam es 1959 zu einer Absprache zwischen der Direktion der Saarknappschaft und dem Vorstand der Saarbergwerke AG, die Villa Marie in Fréjus zu verkaufen. Die ersten Verkaufskontakte wurden vom Direktor der Saarknappschaft geknüpft, der für die Immobilie einen Preis von 30 Millionen (anciens) Francs verlangte. Der Bürgermeister von Fréjus André Léotard erhielt Kenntnis von der Verkaufsabsicht und bat um ein Vorkaufsrecht für seine Stadt.17 Er begründete seine Bitte damit, dass die Villa eine wertvolle Bereicherung für die historischen Bauwerke in der Stadt darstelle und dass die Bevölkerung von Fréjus der Villa Marie wegen ihrer unvergleichlich schönen Lage sehr verbunden sei. Die Saarknappschaft entsprach diesem Wunsch. Allerdings verzögerten sich die weiteren Verhandlungen mit der Stadtverwaltung, da Fréjus am 2. Dezember 1959 am späten Abend von einer großen Naturkatastrophe heimgesucht wurde. Bei dem Bruch der Staumauer von Malpasset ergoss sich eine 40 m hohe Flutwelle in das Tal bei Fréjus, am nächsten Morgen barg man unzählige Opfer, insgesamt gab es 423 Tote bzw. Vermisste. Der Staatspräsident Charles de Gaulle kam wenig später an den Unglücksort. Er übernachtete am 17. Dezember in dem schönsten Domizil von Fréjus, in der Villa Marie, hier hielt er auch eine Ministerratssitzung ab. Auf diese Weise wurde die Villa in ganz Europa über die Medien bekannt. 13 Talkenberg-Bodenstein, Renate, Wie kommt der Lehrling aufs Kamel? Lehrlingsreisen der Régie des Mines de la Sarre, in: Von der Stunde 0 zum Tag X‘. Das Saarland 1945–1959, Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums im Saarbrücker Schloss, Saarbrücken 1990, S. 421. 14 Auskunft von H. Lissmann, 21. Mai 2007. 15 Schacht und Heim, Oktober 1957, Erklärung der Vorstandmitglieder Rolshoven, Müller und Dietrich. Der Vorstandsvorsitzende Rolshoven hat übrigens niemals seine Ferien in der Villa Marie verbracht. Er gab einer relativ einfachen Behausung in der Nähe von Gassin (ebenfalls an der Côte d’Azur) den Vorzug. 16 Schacht und Heim, Februar 1960, S. 21. 17 Bürgermeister Léotard an Direktor der Saarknappschaft, Schreiben vom 8. August 1959.
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Durch das Unglück verzögerte sich jedoch der Abschluss der Verkaufsverhandlungen, aber die Saarknappschaft demonstrierte ihre Solidarität mit der so schwer vom Schicksal heimgesuchten Stadt und bestätigte das der Stadt eingeräumte Vorkaufsrecht, obwohl es auch andere Interessenten gab. Schließlich beschloss der Stadtrat am 30. März 1960 den Kauf der Villa zu einem Preis von 30 Millionen (anciens) Francs. Die Stadtverwaltung finanzierte diesen Kauf einerseits mit einer großzügigen Spende der Vereinigung der europäischen Städte und Kommunen, die kurz zuvor in Cannes getagt hatte. Andererseits erhielt Fréjus auch die Einnahmen aus einer besonderen Wohltätigkeitsaktion nach der Flutkatastrophe, zu der u. a. Picasso, Miro, Braque und Chagall Kunstwerke gestiftet hatten. Der Kaufvertrag wurde am 20. September 1960 unterzeichnet.18 Zu diesem Zweck reisten Helmut Lissmann und Paul Haller als Bevollmächtigte der Saarbergwerke AG sowie Dr. Daub, der Direktor der Saarknappschaft, nach Fréjus. Sie waren die letzten Saarländer, die in der Villa vor und nach der Unterzeichnung übernachteten. Die Stadtratsmitglieder waren über den Kauf so beglückt, dass sie bereits am Tag des Erwerbs der Villa die eingangs erwähnte Marmortafel anbrachten. Am Abend versammelten sie sich vor dieser Tafel in der Eingangshalle der Villa. In einer feierlichen Zeremonie berichtete der stellvertretende Bürgermeister hier erstmals über die für ihn überwältigende Solidarität, die er bei der Sitzung in Cannes hatte erfahren dürfen, wobei er besonders die folgenden Worte eines deutschen Bürgermeisters zitierte: „Messieurs, que vous le vouliez ou non, les Etats unis d’Europe sont créés car l’Europe entière a été émue et est unanime à voler au secours d’une cité européenne qui lui est chère entre toutes: Fréjus. L’unanimité a été faite, le flambeau d’amour et de fraternité entre les peuples a été allumé, ne le laissons pas éteindre.“19 Anschließend gab es ein gemeinsames feierliches und feuchtfröhliches Abendessen, an dem fast der gesamte Stadtrat teilnahm. Damit endete ein Tag, der nicht nur den Erwerb der Villa durch eine großzügige Spende engagierter Europäer ermöglicht hatte. Vielmehr brachte dieser Tag auch das Ende eines Feriendomizils in der Hand des größten saarländischen Industrieunternehmens. Eine letztlich kurze Episode einer saarländischen Urlaubsidylle in einem herrschaftlichen Ambiente an der Côte d’Azur wurde damit endgültig Geschichte.
18 Nice-Matin v. 21. Sept. 1960. 19 Nice- Matin, v. 22. Sept. 1960.
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LA VILLA MARIE – UN CENTRE CULTUREL ET SOCIAL POUR FRÉJUS Schon beim Kauf der Villa bestand Einvernehmen über die zukünftige Nutzung: Das Erdgeschoss sollte für feierliche Empfänge der Stadtverwaltung genutzt werden, während im ersten Stockwerk ein Kultur- und Sozialzentrum eingerichtet werden sollte. Der kleinere, westliche Teil des Parks diente seit dem Verkauf von 1960 dem französischen Roten Kreuz als Standort für eine Kinderkrippe. Der gesamte Park wurde für die Bürger geöffnet, dabei blieben allerdings der wertvolle, zum Teil exotische Baumbestand ebenso erhalten wie die Springbrunnen und Wasserflächen. Ganz im Osten entstand allerdings ein moderner Kinderspielplatz. 1963 wurden zunächst im ersten Stockwerk die Bestände der Stadtbibliothek untergebracht. Inzwischen werden alle Räume der Villa als Bibliothek genutzt, die über 60000 Bücher umfasst und auch wertvolle ältere Werke aus der frühen Neuzeit besitzt. Besonders schnell wachsen die Bestände der seit einigen Jahren angegliederten Mediathek. Somit werden jetzt alle Räume für diese Zwecke genutzt. Die verfügbare Freihandbibliothek, die zahlreichen Autorenlesungen, Ausstellungen, Vorträge und Jugendwettbewerbe haben die Villa Marie tatsächlich zu einem Ort der kulturellen Begegnung gemacht, der von Jung und Alt in gleicher Weise geschätzt wird. Dr. Rolf Wittenbrock, Historiker, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
LESCUN EIN DEUTSCH-FRANZÖSISCHER ERINNERUNGSORT DER LITERATUR IN DEN PYRENÄEN (HANS MANFRED BOCK)
1. QUELLE „Ce soir-là, et les soirs suivants, Manauthon nous racontait Lescun, au destin tracé par sa position: haute vallée isolée latérale, reliée à la vallée d’Aspe par un défilé difficilement praticable. On n’avait construit la route carrossable que peu de temps avant la guerre de 1914. [...] Il m’expliqua les quatre zones du pays: ‘les granges’, c’est-à-dire les champs et les prés, jusqu’à une ou deux heures du village. Chaque propriété, de quelques hectares, s’assemble autour de deux bâtiments: le plus grand où l’on entasse le foin et le regain où on abrite les bestiaux en hiver, le plus petit où les Lescunois vont vivre pendant l’été. Parmi les granges, des pâturages communaux couverts de fougère que l’on coupe et sèche pour servir de litière au bétail. Audelà une zone de forêts encore fort sauvages, hêtraies mêlées ça et là de sapins. Plus haut, vers 1500 mètres, là où l’arbre ne pousse plus guère, la zone des pâturages d’été, ce que les Lescunois appellent proprement ‘les montagnes’ – une montagne, pour eux c’est un pâturage. Au-delà, cela ne mérite plus pour eux le nom de montagne: c’est le rocher, s’élevant parfois d’un seul jet vertical de plusieurs centaines de mètres, se dentelant en pointes aiguës entre lesquelles se répandent des coulées de pierrailles qu’on nomme ici des ‘caillabères’ où chaque pas fait rouler cailloux et rochers, jusqu’à ce que l’ensemble retrouve sa pente d’équilibre.“*
2. LESCUN, EIN PYRENÄENDORF In der Topografie der deutsch-französischen Kulturbeziehungen ist das Pyrenäendorf Lescun bislang ein weißer Fleck. Es fehlte seit der Romantik nicht an deutschen Reisenden in den Pyrenäen, die über den imposanten Kontinentalriegel zwischen Frankreich und Spanien schrieben. Kurt Tucholsky, der als Frankreichkorrespondent 1927 die Gebirgsregion bereiste, kannte diese älteren literarischen Zeugnisse deutscher Besucher recht gut.1 Doch weder seine historischen Stichwortgeber noch ihn selbst führten die Wege in den „Cirque de Lescun“ im westlichen Teil des Gebirges, das zu der Zeit noch nicht über ausgebaute Straßen zu erreichen war. Neben dem „Cirque de Gavarnie“ im östlichen Teil 2 blieb das höchstgelegene Gebirgsdorf (940 m) im weit ausschwingenden Tal der oberen Aspe abseits der modernen industriellen Entwicklung und der Touristenströme des 20. Jahrhunderts. Dabei war das an Spanien angrenzende Aspe-Tal im Allgemeinen und Lescun im Besonderen über Jahrhunderte im Rahmen des Béarn und der * 1 2
Aus Bertaux, Pierre, Mémoires interrompus, Asnières 2000, S. 14f: L’école des Pyrénées ou Le livre de Lescun. Siehe Tucholsky, Kurt, Gesammelte Werke. Bd. 5. 1927, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 7ff: Ein Pyrenäenbuch. Ebd., (Anm. 1), S. 89ff.
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agrarischen Produktionsweise durchaus prosperierend.3 Dafür war ausschlaggebend der fruchtbare Sedimentboden, den die Gletscher der Eiszeit in dem Tal hinterlassen hatten, und eine hoch entwickelte angepasste agrarische Anbautechnik und Tierhaltung. Das untrüglichste Indiz für die relative Wohlhabenheit der Lescunois in der Agrargesellschaft ist die Bevölkerungsentwicklung des Dorfes. Sie stieg von 700 Einwohnern im Jahre 1691 auf 1571 Bewohner im Jahre 1870 und fiel seitdem kontinuierlich bis zum heutigen Tag.4 Dieser relative Wohlstand und die militärstrategische Bedeutung des oberen Aspe-Tals, das seit vorhistorischen Zeiten in Verbindung mit dem Somport-Pass ein Einfallstor für kriegerische Invasionen war, trug vor allem dazu bei, dass dieses Pyrenäental bis an die Schwelle der Dritten Republik ein hohes Maß von politischer Autonomie bewahren konnte. Allem Anschein nach konnte sich die feudale Grundherrschaft im Mittelalter im Aspe-Tal und in Lescun niemals vollständig durchsetzen, sondern wurde durch eine Art Selbstverwaltung der grundbesitzenden Dorfnotabeln begrenzt.5 Es gab einen „Baron de Lescun“, der einer von drei „seigneurs“ des Béarn war. Er erhielt seine Einkünfte in der Region in der Regel jedoch durch Wegzölle an den Handelswegen nach Spanien und nur in geringem Umfang durch Lehnsgüter. Noch heute wird in Lescun nicht ohne Genugtuung berichtet, wie der Baron beim jährlichen Besuch im Cirque de Lescun mit den Vertretern der Dorfgemeinschaft Geiseln austauschen musste und als Lehnsgabe dann einen sauren Hering erhielt.6 Verbürgt ist auch, dass die Dorfbewohner bis ins 19. Jahrhundert nur eingeschränkt von der Soldatenaushebung betroffen waren. In der Militärgeschichte Frankreichs ist die Schlacht von Lescun aus dem Jahre 1794 ein fester Referenzpunkt. Dort schlugen die Revolutionstruppen des Béarn die zahlenmäßig weit überlegenen spanischen Invasionstruppen, die über die Pyrenäenpässe eingedrungen waren, mithilfe einer strategischen List, indem sie durch verdeckt lärmende Frauen und Kinder den Eindruck erweckten, dass zahlreiche französische Nachschubkräfte im Anmarsch waren.7 Aus der geografischen Lage des Dorfes, aus seiner agrarischen Prosperität und seiner Tradition politischer Unabhängigkeit entstand bei seinen Bewohnern eine kleinräumliche kollektive Verhaltensdisposition, die bis ins 20. Jahrhundert durch stolze Selbstgenügsamkeit bestimmt war und die den von außen Zugereisten sofort auffiel. Der Enkel des Félix Bertaux, der Heinrich Mann 1927 nach Lescun einlud, spricht in Kenntnis dieser Mentalität, von einem „caractère fort“ der Dorfbewohner.8 Die Dorfbevölkerung wies ganz unterschiedliche ethnische, sprachliche und kulturelle Ursprünge auf. Es gibt baugeschichtliche Spuren der maurischen Präsenz im Dorfe aus den Jahren 700 bis 1000,9 die eine ältere Kultur mit vorindoger3 4 5 6 7 8 9
Vgl. Bedecarrats, Guy, Lescun en vallée d’Aspe. Le village à travers l’histoire, Villefranchede-Rouergue 2006. Ebd., (Anm. 3), S. 157. Ebd., (Anm. 3), S. 117ff. So Bertaux, Michel, Lescun, Ms. 3 Seiten. Vgl. dazu Lieutenant Schmuckel, La bataille de Lescun et la guerre dans la vallée d’Aspe, Pau 2004 (Reprint einer Broschüre von um 1900). Bertaux (Anm. 6). Vgl. Bedecarrats (Anm. 3), S. 50ff.
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manischer Sprache, das Baskische und die romanische Sprachschicht beeinflusste. Für die Bestandteile des ethnischen Schmelztiegels, den das Dorf also darstellte, sind gesicherte historische Informationen schwierig beizubringen. Ein schematischer Überblick über den Bevölkerungszustrom nach Lescun in den Jahrzehnten der stärksten Zuwanderung (1739–1889) zeigt, dass die meisten Neuankömmlinge aus dem unteren Aspe-Tal (116), aus Spanien (102) und aus dem oberen Aspe-Tal (53) stammten, während aus dem westlich angrenzenden Baskenland (11) und aus „Frankreich“, also den Regionen außerhalb des Béarn, lediglich 8 Neubewohner sich im Dorf niederließen.10 Die über lange Zeit konstant bleibende Einteilung der Wohnviertel im Dorf war ethnisch und soziologisch determiniert. Im 20. Jahrhundert gab es bereits Rückwanderer aus Süd- und Nordamerika, deren Vorfahren nach 1870 das Dorf verlassen hatten und deren Nachkommen als Wohlsituierte heimkehrten. Heinrich Mann berichtet, dass die „reichen Amerikaner“, also eben diese Remigranten, in den geräumigeren Häusern und in den höher gelegenen Teilen des Dorfes wohnten.11 Am anderen Ende der sozialen Abstufung (und also im unteren Dorf) lebten hingegen die „cagots“, die er (der gängigen Legende folgend) für die Nachkommen ehemaliger Leprakranker hielt und die in jeglicher Form von den anderen Gruppen in Lescun gemieden und ausgeschlossen wurden. Sie hatten sogar ihren eigenen Brunnen und ihre eigene Kirchentür. Den jungen Pierre Bertaux, der seit Beginn der 1920er Jahre mit seinem Vater von Paris nach Lescun kam, faszinierte diese ausgestoßene Bevölkerungsgruppe und er belegt in seinen Memoiren, dass erst 1913 die erste Heirat eines „cagot“ mit einem Mitglied der übrigen Dorfgemeinschaft stattfand und heftige Reaktionen auslöste.12 Die Hypothese von Pierre Bertaux, dass es sich bei den „cagots“ in den rund 15 Häusern, die sie in Lescun bewohnten, um direkte Nachkommen der Westgoten handelte, die als häretische Christen in den Pyrenäen eine Bleibe gefunden hatten, ist nicht mehr und nicht weniger plausibel als andere genetische Herleitungsversuche dieser rätselhaften ethnischen Gruppe. In den zwanziger Jahren verfiel das „Cagot“-Viertel in Lescun. Während die soziologischen Daten der bergbäuerlichen Mehrheit der Dorfbewohner durch mehrere Großbrände weitgehend vernichtet wurden,13 bildete sich der ethnische Schmelztiegel-Effekt im Dorfe besonders plastisch ab in der Sprache seiner Einwohner. Diese zog etwa zur gleichen Zeit, als Heinrich Mann in Lescun seinen Freund Félix Bertaux besuchte, das Interesse der romanistischen Sprach- und Dialektforscher auf sich. Der damalige Tübinger Sprachwissenschaftler Gerhard Rohlfs (1892–1986) widmete den sprachhistorischen und sprachmorphologischen Eigenheiten von Lescun eine größere Studie, die 1929 geschrieben und 1931 in französischer Sprache in Spanien veröffentlicht wurde.14 Der Sprachhistoriker fand heraus, dass die Mundart von Lescun die altertümlichste der Gas10 Ebd., (Anm. 3), S. 34. 11 Mann, Heinrich, Nach einer Reise, in: ders.: Sieben Jahre. Chronik der Gedanken und Vorgänge. Essays, Frankfurt/Main 1994, S. 382. 12 Bertaux, Pierre, S. 34ff. 13 Lieutenant Schmuckel (Anm. 7), S. 6f.
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cogne darstellte und dass sie zahlreiche phonetische und lexikalische Analogien mit der Sprache jenseits der Grenze zu Spanien hin aufwies, während die Gemeinsamkeiten mit dem Baskischen gering waren. Er führte die Gemeinsamkeiten zwischen der Mundart von Lescun und derjenigen des spanischen Anso auf den traditionellen Grenzverkehr der Hirten beider Dörfer und auf ein älteres gemeinsames Sprachsubstrat zurück. Zugleich dokumentierte er, dass in den zwanziger Jahren die Sprechweise der jungen Generation in Lescun unter dem Einfluss der Verkehrsmodernisierung und des Militärdienstes sich rapide der französischen Hochsprache, dem „langage de Pau“, annäherte. Unter dem doppelten Einfluss der im Second Empire vorangebrachten Industrialisierung und der von der Dritten Republik forcierten Zentralisierung setzte der demografische Niedergang von Lescun ein. Die Einwohnerzahlen gingen rapide zurück. Sie fielen von rund 1.500 im Jahre 1870 auf 1.033 (1900), 838 (1913), 668 (1921) und 441 (1946), um gegenwärtig bei 203 anzukommen.15 Allein im Ersten Weltkrieg fanden 42 junge Männer aus Lescun den Tod. Die verkehrstechnische Erschließung des Aspe-Tals (1886 Heranführung der Departementalstraße nach Lescun, 1928 Bau einer Eisenbahnstrecke auf der Talsohle bis an die spanische Grenze, Anfang der dreißiger Jahre Befestigung der Talstraße, die heute als Route nationale 134 und Route européenne 07 bis zum Somport-Pass führt, und die in der Zwischenkriegszeit beginnende Motorisierung) trug eher zur Entvölkerung von Lescun bei, als dass sie diese zum Stillstand brachte. Als der Pariser Gymnasiallehrer und Literaturkritiker Félix Bertaux 1921 mit seiner Familie den Entschluss fasste, das Pyrenäendorf Lescun als Erholungsort in Augenschein zu nehmen, endete die Eisenbahn noch in Bedous, 8 Kilometer vor ihrem Zielort. Die Familie musste mitsamt ihrem Gepäck eine dreistündige Fahrt mit einem Maultierkarren auf sich nehmen, um in den weltabgeschiedenen Ort zu gelangen. Sie trafen dort auf eine fremdartige geschlossene Welt, die sich ihnen erst mithilfe des ortsansässigen Volksschullehrers Auguste Manauthon und mit viel Geduld erschloss.16 3. LESCUN, EIN LITERARISCHER BEGEGNUNGSORT Mit dieser Personalkonstellation entstanden die Voraussetzungen für eine bemerkenswerte und folgenreiche Episode der französisch-deutschen Kulturbeziehungen in der Zwischenkriegszeit. Aufgrund der Eindrücke, die Heinrich Mann als Gast von Familie Bertaux 1927 in Lescun und im gascognischen Pyrenäenvorland erhielt, entstanden nicht nur Ansätze zu seiner Konzeption eines „geistigen Locarno“, die er in der unmittelbaren Folgezeit bei mehreren öffentlichen Gelegenhei14 Rohlfs, Gerhard Rohlfs, Le patois de Lescun (Basses-Pyrénées). Tirada aparte de la „Miscelánea filológica dedicada a D. Antonio Alcover”, Palma de Mallorca 1931. 15 Vgl. Bedecarrats (Anm. 3), S. 157, ergänzt durch die aktuelle Einwohnerzahlangabe der Gemeinde Lescun. 16 Zu ihrer Beschreibung s. den eingangs wiedergegebenen Auszug aus den Memoiren von Pierre Bertaux, dessen Kapitel über Lescun die aktuelle Entsprechung zu den Notizen von Heinrich Mann von 1927 („Nach einer Reise“, Anm. 11) darstellt.
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ten darlegte, sondern auch die frühesten Anregungen für seine Devise eines „streitbaren Humanismus“, die er ab 1934 seinem historischen Roman über Henri IV zugrunde legte.17 Heinrich Mann hatte sich vor und während dem Ersten Weltkrieg emphatisch zu seiner Dankesschuld an die französische Kultur bekannt und hatte dieser u.a. mit seinem großen Zola-Essay von 1915 Ausdruck verliehen. Von seinem Bruder Thomas deshalb herabsetzend als „Zivilisationsliterat“ charakterisiert, wurde Heinrich Mann nach Kriegsende zum bevorzugten Ansprechpartner der verständigungsorientierten französischen Intellektuellen um die „Nouvelle Revue Française“ (NRF), zu denen der Deutschlandexperte Félix Bertaux (1881– 1948) gehörte.18 Die frühesten Nachkriegskontakte des NRF-Kritikers Bertaux zu den Brüdern Mann wurden ab 1922 zu Heinrich Mann hergestellt, während ihm Thomas Mann zu der Zeit noch in der deutschen Kriegsideologie befangen zu sein schien.19 Heinrich Mann nutzte die Gelegenheiten, das Land, dem seine kulturelle Hochachtung galt, baldmöglichst wieder zu bereisen, während Thomas Manns erste Frankreichreise der Nachkriegszeit erst Anfang 1926 zustande kam.20 In der Herbeiführung der Anlässe für Heinrich Manns Reisen nach Frankreich spielte Félix Bertaux ab 1922 eine maßgebliche Rolle und bei jedem dieser Frankreichbesuche trafen sich die beiden Männer des öffentlichen Wortes, für die den Produkten kulturellen Schaffens ganz selbstverständlich eine politische Gestaltungsfunktion zukam. Sie trafen sich unter anderem im Zusammenhang mit dem europäischen Intellektuellen-Treffen im August 1923 in Pontigny, anlässlich der Teilnahme Heinrich Manns am P.E.N.-Kongress in Paris vom Mai 1925 und schließlich bei der Gelegenheit der Pyrenäenreise des deutschen Schriftstellers im August 1927. Für Heinrich Mann standen diese Begegnungen immer in einem zugleich kulturellen und politischen Kommunikationszusammenhang. In Pontigny hielt er sich 1923 im Gespräch mit den französischen Schriftsteller-Kollegen eher zurück und testete deren Bereitschaft zur Akzeptanz eines deutschen Geistesvertreters.21 In Paris trat er im Frühjahr 1925–von der Öffentlichkeit unbemerkt – in Beziehung zum französischen Erziehungsminister Anatole de Monzie (1867–1947), dem an der Wiederaufnahme des kulturellen Austauschs mit Deutschland gelegen war und der den Schriftstellern eine Funktion als „pré-diplomates“ in diesem Zusammenhang zuerkannte.22 In den Pyrenäen schließlich lernte er durch Bertaux’ 17 S. dazu die Essays von Bertaux, Pierre, Zur Entstehung des Henri Quatre. Heinrich Mann in den Pyrenäen, Berlin 1971, S. 9–25, und ders.: Heinrich Mann en Béarn, in: Etudes germaniques, 1971, Nr. 3, S. 282–292. 18 Zu dessen Biografie siehe Bock, Hans Manfred, „Réapprendre l’Allemagne“. Félix Bertaux als Freund André Gides und der zeitgenössischen deutschen Literatur, in: ders.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung, Tübingen 2005, S. 309–332. 19 Siehe dazu den Briefwechsel zwischen beiden Biruta Cap. (Hrsg.), Thomas Mann – Félix Bertaux. Correspondence 1923–1948, Bern, New York 1993. 20 Vgl. Bock, Hans Manfred, Bußgang zu den „Zivilisationsliteraten“? Zu Thomas Manns ParisAufenthalt im Januar 1926, in: Pierre Béhar u.a. (Hrsg.), Médiation et conviction. Mélanges offerts à Michel Grunewald, Paris 2007, S. 103–138. 21 Dazu umfassend Blattmann, Ekkehard, Heinrich Mann und Paul Desjardins. Heinrich Manns Reise nach Pontigny anno 1923, Frankfurt/Main 1985. 22 Siehe dazu jetzt Marmetschke, Katja, Ein Wendepunkt für die deutsch-französische Verständigung? Das Treffen zwischen dem preußischen Kultusminister C.H. Becker und dem franzö-
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Vermittlung im Sommer 1927 einen eindrucksvollen Vertreter des radikal-sozialistischen Denkens und Handelns in der Person des Volksschullehrers Auguste Manauthon (1883–1945) kennen,23 der für ihn zum Inbegriff des republikanischen Basisarbeiters wurde, zur Symbolgestalt des humanistischen politisch-moralischen Grundkonsenses der „republikanischen Synthese“ der Dritten Republik. Für den frankophilen Deutschen war diese Bekanntschaft mit Manauthon deshalb ein so anhaltender Eindruck, weil er hier, im Pyrenäendorf Lescun, einen Mann des Volkes kennenlernte, der den republikanischen Konsens (den Heinrich Mann sich auch für Deutschland wünschte) in täglicher Kleinarbeit praktizierte und nicht nur (wie viele Intellektuelle) postulierte. Sozialgeschichtlich gesehen war der ehemalige Lehrer von Lescun (der von 1924 bis 1935 nach Bayonne versetzt wurde, jedoch in seinem Dorf ein Haus behielt und dorthin so oft es ging zurückkehrte) ein besonders typischer Vertreter des radikal-sozialistischen Kleinbürgertums und seiner politisch-moralischen Avantgarde, nämlich des aufklärerischen, laizistischen und überwiegend pazifistischen Volksschullehrerstandes. Manauthon war (gemäß den Recherchen von Daniel Bertaux und der Bestätigung eines Enkels) ein Adept des „siècle des Lumières“, Freimaurer und pazifistischer Ancien Combattant. Die Volksschullehrer-Gewerkschaft „Syndicat National des Instituteurs“ war in den zwanziger Jahren dominant pazifistisch und die links orientierte „Union Fédérale des Anciens Combattants“ beschritt in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts den Weg der Verständigung mit Deutschland.24 Es war genau diese Milieuverbundenheit, die Manauthon veranlasste, Heinrich Mann im Hause Bertaux in Lescun Ende August 1927 mit ein wenig linkischer Feierlichkeit als Freund Frankreichs und des Friedens zu begrüßen: „Plötzlich stand er auf und sagte mit verändertem Ton, daß er gekommen sei, um mir zu danken. Wofür? Mein Erstaunen beirrte ihn nicht. Er wollte mir danken für meine Worte in seiner Zeitung und daß ich für Frankreich sei und für die Freundschaft mit Frankreich. Er sprach sein rollendes Südfranzösisch, sprach rauh wie ein Gebirgler und sagte zarte und feste Worte. Seine Augen blickten fest und treu. Ich begriff, daß er mir früher mißtraut hatte. Es gibt zwei Deutschland, wie es auch zwei Frankreich gibt, und die Frage ist immer, zu welchem der beiden jeder gehört.“25 Diese spontane politische Freundschaftsbekundung, die durch ein Interview von ihm in der „Dépêche de Toulouse“ ausgelöst worden war, wurde für Heinrich Mann zu einem Schlüsselerlebnis, das ihn in seinem Glauben an die Verwirklichungsmöglichkeit der deutsch-französischen Verständigung bekräftigte auf dem Höhepunkt der politischen Locarno-Ära. Er bezog sich nicht nur auf dieses politische Wunschziel in seiner Reiseskizze in die Pyrenäen, indem er dort neben den Volksschullehrern auch gleich den französischen Gymnasial- und Hochschullehrern sischen Erziehungsminister Anatole de Monzie im September 1925 in Berlin, in: Hans Manfred Bock (Hrsg.), Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005, S. 37–52. 23 Zu dessen Biografie siehe Bertaux, Daniel, Auguste Manauthon (1884–1945), in: Pierre Bertaux, Mémoires, S. 309–313. 24 Siehe dazu z.Bsp. Prost, Antoine, Les Anciens Combattants français et l’Allemagne 1932– 1936, in: La France et l’Allemagne 1932–1936, Paris 1980, S. 131–148. 25 Mann (Anm. 11), S. 383f.
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eine friedfertige und vernunftgeleitete Gesinnung nach der Art von Manauthon zuschrieb.26 Er berief sich auf dieses Schlüsselerlebnis in Lescun auch in seiner viel beachteten Rede für ein „Geistiges Locarno“, die er Ende 1927 im ehemaligen Herrenhaus in Berlin und an der Pariser Sorbonne hielt, wenn er auf die bedeutende Rolle der Volksschullehrer für die Friedenserziehung hinwies: „Der Friedenswille des Volkes muß gleich in der Schule entstehen. Der ungeheure Einfluß des Volksschullehrers muß fruchtbar gemacht werden für die große Sache, die seiner würdig ist. Ich glaube, daß dies schon begonnen hat, und daß viele Volksschullehrer unsere Mitarbeiter sind.“27 In seiner Rede im Trocadéro vom 16.12.1927 beschwor er sein Manauthon-Erlebnis ausführlich am Schluss seiner Ermahnung zur deutsch-französischen Gemeinsamkeit im Zeichen der Menschenund Bürgerrechte: „Il pensait comme moi, que nos deux nations pourraient s’enetendre, et que même par l’union de leurs idées et de leurs sentiments intimes, elles ne formeraient moralement et devant l’humanité qu’une seule. C’est pourquoi il me regarda bien en face en me disant ses souhaits pour l’amitié de la France avec l’Allemagne.“28 So wie die Manauthon-Begegnung in Lescun Heinrich Manns Optimismus mit Bezug auf die deutsch-französische Konfliktlösung im Zenith der LocarnoKonstellation beflügelte, so inspirierte ihn seine Reise im Béarn, die ihn den Gave de Pau entlang von Pau nach Orthez führte, zur Planung seines Henri IV-Romans, den er in der Zeit der politischen Verdüsterung in Europa durch den Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland und seines Exils in Frankreich niederschrieb. Nach dem Scheitern der deutsch-französischen Verständigung im Zeichen der Republik wurde für Heinrich Mann die Periode der französischen Religionskriege zur Allegorie des europäischen Bürgerkriegs der Gegenwart. Pierre Bertaux (1907–1986), der Augenzeuge des Béarn-Besuchs von Heinrich Mann, stellt die beiden Schlüsselerlebnisse des deutschen Schriftstellers während dieser Reise in einen inneren Bezug, indem er in beiden Fällen ein der Region eigenes, traditionelles Motiv zugrunde legt: Im kleinen lebensweltlichen Zusammenhang (Manauthon) und im großen nationalgeschichtlichen Zusammenhang (Henri IV) sei das Motiv des „streitbaren Humanismus“ wirksam gewesen, das Heinrich Mann in seinem Exil-Roman gestaltet habe: „Der streitbare Humanist, vom König Henri IV zu seinem kleinen Nachfahren, dem Dorfschullehrer von Lescun, das ist eine Tradition der Gascogne, und das ist der Held des Henri-Quatre-Romans. Der streitbare Humanist und die Macht der Güte. Der Roman, schrieb Heinrich Mann, soll ein Dokument sein ‚zur Macht der Güte in einem Zeitalter der Bosheit, der Dummheit und der leeren Herzen, weder verklärte Historie noch freundliche Fabel, sondern nur ein wahres Gleichnis‘.“29 Nicht allein den Stoff für seinen Roman habe der deutsche Freund der Familie im Béarn entdeckt, sondern auch diese poli26 Ebd. (Anm. 11), S. 384. 27 Mann, Heinrich, Ein geistiges Locarno. Gesprochen im ehemaligen Herrenhaus und in der Sorbonne, in: ders.: Sieben Jahre (Anm. 11), S. 393. 28 Mann, Heinrich, Discours tenu à la Ligue des Droits de l’Homme et à l’Union Féminine pour la Société des Nations, in: ders.: Sieben Jahre (Anm. 11), S. 405. 29 Bertaux (Anm. 17), S. 19.
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tische Lebensauffassung, die in ihm selbst herangereift war und die zur Botschaft seines Romans geworden sei. Der damalige Germanistik-Student und spätere Hölderlinforscher Pierre Bertaux traf im Oktober 1927 in Berlin ein, wo Heinrich Mann ihm den direkten Zugang zur Berliner Kulturszene eröffnete.30 Sie beide und Félix Bertaux in Paris wurden Zeitzeugen des Scheiterns des „geistigen Locarno“, für dessen programmatische Formulierung der Besuch Heinrich Manns in Lescun eine auslösende Funktion gehabt hatte. So schrieb sich in der Folgezeit ein anderer Ort der BassesPyrenées tiefer in das kollektive Gedächtnis ein, der vom Nationalsozialismus und seinen Handlangern in Frankreich geschaffen wurde: Das Internierungslager Gurs, das im Zweiten Weltkrieg errichtet wurde und in dem tausende von Verfolgten des Hitler-Regimes ihr Leben ließen.31 Der Ort liegt an der Straße von Orthez nach Oloron, die weiterführt in das Aspe-Tal. Einige der Mitstreiter Heinrich Manns für eine friedliche und fruchtbare Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich setzten in den Kriegsjahren aus Verzweiflung ihrem Leben selbst ein Ende (Carl Einstein im Gave de Pau und Wilhelm Friedmann in Bedous32) in eben der Region, in der die Vorstellung von einem „geistigen Locarno“ entstanden war. Heinrich Mann entging diesem Schicksal, indem er im September 1940 die Flucht aus Frankreich antrat, die mit einer entwürdigend mühseligen Überquerung der östlichen Pyrenäen begann und ihn über Spanien in die USA führte. Prof. Dr. Hans Manfred Bock, Professor (em.) für Politikwissenschaft und Komparatistik, Universität Kassel
30 S. dazu die dichte Dokumentation in Bertaux, Pierre, Un normalien à Berlin. Lettres francoallemandes 1927–1933, Asnières 2001. 31 Vgl. dazu Lahari, Claude, Le camp de Gurs, 1939–1945, un aspect méconnu de l’histoire de Vichy, Biarritz 1993 und Mittag, Gabriele, Es gibt Verdammte nur in Gurs, Tübingen 1996. 32 Siehe Delphis, Claudine, Wilhelm Friedmann (1884–1942). Le destin d’un francophile, Leipzig 1999, S. 218.
NIZZA – MON AMOUR! REISEEINDRÜCKE VOM AUSGEHENDEN ANCIEN RÉGIME BIS ZU DEN ANFÄNGEN DES 20. JAHRHUNDERTS (C HRISTOPH CORNELISSEN)
Ob Romanciers, Dichter oder Cineasten – viele haben sich von Nizza inspirieren lassen. Und ist es ein Zufall, dass die Stadt im äußersten Südwesten Frankreichs wiederholt als Bühne mehr oder minder schauriger Kriminalfälle gewählt worden ist, wofür Alfred Hitchcocks „Über den Dächern von Nizza“ aus dem Jahr 1954/55 nur ein besonders bekanntes Beispiel abgibt? Wohl kaum, hat doch die Stadt die Reichen magisch angezogen und das Zurschaustellen von Reichtum geradezu eingefordert, wobei Touristen aus dem Adel und weit später auch solche aus dem besitzenden Bürgertum eine wichtige Rolle spielten. Gelegenheit macht Diebe, heißt es bekanntlich! Dass es diese nicht nur in der fiktionalen, sondern auch in der ,tatsächlichen‘ Wirklichkeit gab, wenn auch nicht alle so attraktiv wie im Spielfilm oder so gerissen wie im Kriminalroman, das verraten uns meist andere Genres. Zu ihnen zählen Reiseberichte, Reisehandbücher sowie eine vielgestaltige Reisefachliteratur, die von Kartenmaterial über Bildsammlungen bis hin zur Tourismuswerbung reicht. Dem „Handbuch für Fremde in Nizza“ aus dem Jahr 1839 ist beispielsweise zu entnehmen, dass die Zahl der Armen und Bettler dort sehr hoch ausfalle, ja auf den Promenaden hielten sie den Besucher auf eine geradezu „widerliche Weise“ auf.1 Neben solchen Stellen vermitteln die sich wandelnden Einträge der Enzyklopädien aufschlussreiche Einblicke in die Wahrnehmung einer Stadt, die endgültig seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Rang eines der bedeutenden Tourismus-Orte Europas aufgestiegen ist. Wie sich die „économie touristique“2 Nizzas seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat und über die Strecke, die dabei zurückgelegt wurde, werden hiernach die Stimmen einiger ausgewählter zeitgenössischer Beobachter berichten. Im Kern sollen sie verdeutlichen, wie sehr das Reisen inzwischen einer eingehenden historischen Aufarbeitung bedarf, obwohl das ephemere und transitorische Moment des Urlaubs der Nachwelt meist nur eine bruchstückhafte Quellenlage hinterlassen hat.3 Zweifelsohne aber bietet sich Nizza für eine tourismushistorische Studie mit lokalen Bezügen geradezu an, erweist sich doch insbesondere diese Stadt sowohl
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Weber, E., Handbuch für Fremde in Nizza, einem seines milden Klimas wegen beliebten Winteraufenthaltsortes in Ober-Italien, Heidelberg 1839, S. 90. Vgl. dazu die Homepage der Stadt Nizza: http://www.nice.fr/mairie_nice_558.html. (2.4.2008). Vgl. Kopper, Christopher, Neuerscheinungen zur Geschichte des Reisens und des Tourismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 665–677, sowie den Überblick von Hachtmann, Rüdiger, Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007.
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in wirtschafts- als auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht als ein ausgesprochen dankbares Objekt.4 Zunächst sollte jedoch zumindest kursorisch der weitere Rahmen der Tourismus-Geschichte in den Blick genommen werden. Bevor die Züge als Verkehrsmittel für die Beförderung von Massen einen Durchbruch erlebten, war das Reisen teuer, langsam, aufwendig und teilweise sogar schmerzvoll. Seitdem in den 1820er Jahren zunächst in Großbritannien, dann auch in anderen Ländern Europas das Eisenbahnnetz ausgebaut wurde, wandelte sich die Lage erheblich. Immer mehr Menschen aus allen sozialen Schichten entdeckten nun das Reisen für sich als ein Vergnügen, meist in der Form eines Tages- oder Wochenendausflugs. Sicher: Hierbei gab es deutliche soziale Abstufungen und der Jahresurlaub beziehungsweise die mehrfachen Urlaubsreisen während ein und desselben Jahres verweisen auf eine Möglichkeit, die erst mit den längeren Urlaubszeiten und der besseren materiellen Ausstattung der Haushalte seit den 1960er Jahren zu einer massenhaften Wirklichkeit in Europa werden sollte. Gleichwohl berichtet schon Meyers Konversationslexikon in der Auflage des Jahres 1890 davon, dass sich das Reisen mit dem Fortschritt der Zivilisation in einer erstaunlichen Weise entwickelt habe. Die Reisestatistiken für das 19. und 20. Jahrhundert bestätigen den Trend. Schon 1967, als die Vereinten Nationen das Jahr zum „Internationalen Touristenjahr“ erklärten, war die Reisebranche zu einem bedeutenden Wirtschaftssektor geworden. In dessen Zentrum stand Europa, der Kontinent mit der weltweit größten „Ein- und Ausfuhr“ an Urlaubern.5 Kehren wir an dieser Stelle zurück nach Nizza, um zu sehen, seit wann und wie die Stadt von dem expandierenden Markt für Urlaubs- und Erholungsreisen erfasst wurde. Von der aufnehmenden Seite signalisieren die Einwohnerzahlen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts insgesamt recht beschauliche Rahmenbedingungen. Während sie Ende des 18. Jahrhunderts bei ungefähr 20.000 Personen lagen, stiegen sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur moderat auf 36.800 (1848) an. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Stadt auf der Grundlage des Turiner Vertrages von 1860 endgültig an Frankreich fiel, war ein weiterer Anstieg auf 48.200 Menschen zu verzeichnen. Gleichwohl setzte erst in den 1880er Jahren eine rapide demografische Expansion ein, die sich nach der Wende zum 20. Jahrhundert nochmals erheblich beschleunigte: 1911 lebten bereits 139.000 Personen in Nizza. Die quantitative Expansion hielt über beide Weltkriege des 20. Jahrhunderts an: 1921 wurden 155.000, 1946 210.000 und am Ende des 20. Jahrhunderts sogar 340.000 Einwohner gezählt. Schon lange aber bevor Nizza sich zu einer veritablen Großstadt, mit allen damit einhergehenden Vergnügungsangeboten für den Massentourismus unserer Tage entfaltet hatte, wurde es zu einem gesuchten Ort der Muse und Erholung für Reisende, zunächst vornehmlich von den Britischen Inseln. In erster Linie wegen 4 5
Vgl. dazu Aspects de Nice du XVIIIe au XXe Siècles, Paris 1973. Zudem erlaubt ein solcher Fokus dem Autor die Rückkehr in eine Stadt, in der er als Neunjähriger 1967 seine ersten Frankreicherfahrungen sammeln durfte – wenn auch nicht im Kreise der Reichen! Vgl. dazu Hartmut Berghoff u.a. (Hrsg.), The Making of Modern Tourism. The Cultural History of the British Experience 1600–2000, London 2002.
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der milden Wintermonate – die durchschnittliche Temperatur betrug 1888 für das Jahr 15,9° C, für den Winter 9,5° C, und nur an wenigen Tagen sank das Thermometer morgens einige Grad unter Null6 – kamen die ersten adligen Besucher aus dem Norden im Laufe des 18. Jahrhunderts. Was seit den 1730er Jahren zunächst nur ein punktuelles Ereignis war, entwickelte sich seit dem Besuch des Herzogs von York im Jahr 1764, dem Bruder des britischen Königs Georg III., zu einer regelrechten Institution. Das Überwintern in Nizza erhielt bald Züge einer sozial exklusiven Modeerscheinung. Ungeachtet der schwierigen Verkehrsanbindungen und trotz der zunächst nur sehr beschränkten Vergnügungsangebote kamen bereits vor der Französischen Revolution regelmäßig über einhundert adlige Familien nach Nizza, vor allem von den britischen Inseln, aber auch aus Russland, Frankreich und den deutschsprachigen Territorien, um dort die Wintersaison zu verbringen. Aus den Reiseberichten dieser Zeit wissen wir, wie beschwerlich die Umstände der Anreise ausfielen, aber auch, dass die Bedingungen des Aufenthaltes durchaus nicht zu jedermanns Gefallen waren. So beklagten sich die hivernants über Geziefer und allerlei Insekten, über die zu hohen Preise für das Mobiliar und die Mieten für Villen oder Appartements, die unzulänglichen Umgangsformen des Dienstpersonals sowie über die schlechte Nizzaner Küche.7 Offensichtlich jedoch wurde all das von den Attraktionen des Klimas und der Vegetation sowie den ersten kulturellen Angeboten aufgewogen, wurde doch schon vor der Französischen Revolution ein Kasino gegründet, in dem das gehobene Publikum Zeitungen lesen und sich anderen Vergnügungen hingegeben konnte. Unter anderen berichteten darüber der Schweizer Mathematiker Johann Georg Sulzer sowie der schottische Schriftsteller Tobias Smollett.8 Ein besonders aufschlussreicher Reisebericht jedoch liegt aus der Feder von Ernst Moritz Arndt vor, der im Frühling 1799 Frankreich besuchte und hierbei unter anderem nach Nizza gelangte.9 Dass er hier sogar fünf Wochen zubrachte, hing mit neuen Pass- und Visumsbestimmungen zusammen, die das Direktorium erlassen hatte. Aus seiner Notlage machte Arndt eine Tugend. Er mietete sich ein und beobachtete danach wie ein Enzyklopädist die Vorgänge in und um die Stadt. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die natürliche Umwelt und die üppige Vegetation genauso wie auf die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Da sich seine Schilderungen auf Vorgänge in Nizza nach der Inbesitznahme durch französische Truppen am 29. September 1792 beziehen, bietet sein Reisebericht zusätzlich wertvolle Einblicke in die revolutionären Neuerungen in der Politik, die 6 7 8 9
Eintrag „Nizza“, in: Meyers 1888, Bd. 12, 4. Auf. Leipzig 1890, S. 200. Trotz des Klimawandels sind die Angaben bis in unsere Gegenwart aktuell geblieben. Latouche, Robert, Histoire du Comté de Nice, Paris 1932, S. 170f. Ebd., sowie Fitzon, Thorsten, Reisen in das befremdliche Pompeji. Antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender 1750–1870, Berlin 2004. Arndt, Ernst Moritz, Bruchstücke einer Reise durch Frankreich im Frühling und Sommer 1799, Leipzig 1802. Siehe dazu: Parisot, Richard, Nice et la Provence vues par voyageurs allemands avant et après la Révolution de 1789, in: Monique Cubells (Hrsg.), La Révolution française: La guerre et la frontière, Paris 2000, S. 283–298, sowie Ruiz, Alain, Les paysages de la Riviera et du pays niçois vues par Ernst Moritz Arndt en 1799, in: Revue germanique internationale 7 (1997), S. 113–125.
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sich mit interessanten Reflexionen zur Funktion von Volksbräuchen und zur Theatralität von Politik verknüpft finden. Das ist alles noch nicht im Stil des ,Frankreichfressers` der späteren Jahre geschrieben. Vor dem Hintergrund der wechselnden Herrschaftsverhältnisse vor Ort sind Arndts Beschreibungen weiterhin aus ethnografischem Blickwinkel von Bedeutung. Wir zitieren hiernach ausführlich aus der Quelle, ohne nur annähernd die vielen von ihm erfassten Facetten angemessen wiedergeben zu können: „Der fatale Aufenthalt hier, der mir zuerst so schlimm däuchte, ward mir nach und nach, wenn nicht lieber, doch lehrreicher, und besonders die kriegerischen Begebenheiten in Italien brachten manches hieher, was mich gleichsam mitten in das Getümmel der Schlachten und in den Geist des bürgerlichen und militärischen Verwaltungssystems setzte wovon ich sonst schwerlich einen rechten Begriff bekommen hätte.“ [...] (S. 14f.) „Die Stadt liegt länglich von Osten nach Westen, und hat nördlich einen Bergstrom und südlich einen Berg mit der Citadelle, zwischen welche sie eingeklemmt ist und sich in Form eines Zugnetzsackes weiter und nach der westlichen Meerseite ausbreitet. Auch so ist ihre Länge nicht beträchtlich und lässt sich vom Place de la République bis ans westliche Ende bequem in 10 Minuten durchmessen. Ihre Mitte, das heißt, alles, was zwischen den beiden großen Plätzen liegt, ist unbeschreiblich häßlich. Die Gassen sind nach Genueser Art, und die nach dem Berge hin so höckericht und hügelig und eng, dass man ganz genuesisch auf- und absteigen muss, und die nur für die Passage von Eseleins mit seinem Doppelsack gemacht scheinen. Wie es zur Zeit des Sirius in diesen Löchern dampfen muß, das läßt sich denken. Die Häuser sind meistens drei, vier Stock hoch, aber nicht nett genuesisch, sondern schmutzig, obgleich sie das Ziegeldach voraus haben. [...] (S. 22f.) Besser, als dieser häßliche innere Häuserklumpen sind die Außenseiten, d. h. die westliche am Korso und Meere, und die östliche an der Straße ins Piemont, so wie ein Theil der nördlichen Außenseite an dem Bergstrom. Da giebt es schöne große Häuser, viele von stattlicher Länge, und die meisten vier, fünf Stock hoch, welche diesen Enden ein sehr gefälliges Ansehen geben. Zuerst am Ostende ist der schöne Platz de la République, welcher die Stadt hier schließt, ein so schönes und geräumiges Quadrat, als sich nur eine der größten und prächtigsten Städte wünschen mögte. Er ist rund umher bebaut, und seine Anlage reicht nicht über 30 Jahre hinaus. Die Gebäude haben fast alle Loggien unten im ersten Stock, wo Casini für die Kehlen und Magen, Kaffeehäuser, Höckereien, Weinschenken, auch Buden und Galanteriekrämer sind. [...] (S. 24) Hier scheint mir der Ort, von der Entstehung dieser eleganteren Theile der Stadt ein Wörtchen zu sagen. Größtentheils sind sie englischen Ursprungs und jenes Volk, das jetzt das Schrecken des Meeres ist, war einst der Liebling des hiesigen Volkes, als die Grafschaft Nizza noch zu Piemont gehörte; [...] Viele Engländer nemlich, um dem todtschießigen Nebel und Kohlendampfe zu entgehen, fanden es gar bequem, hier längst der Küste bis nach Toulon hin fünf, sechs Monate des Jahres zu leben, nemlich von der herbstlichen bis zum Anfang des Sommers. Manche alte und junge Sünder vermehrten diese Anzahl der Fremden, um hier leichter Uebel auszuheilen und auszuschwitzen, welche sie nicht durch Arbeit noch Tugend erworben hatten. Und wahrlich dieses milde Klima mit seinen lauen Wintern und heitern und langen Frühlingen, mit seiner reinen Luft und seinen köstlichen Früchten war nicht übel dazu gewählt. Man rechnet, daß hier oft mehr als funfzig Familien und viele Einzelne englisches Geld ausgestreut haben, und seit dem Anfange des Krieges fehlen. Auch viele reiche Familien von Piemont pflegten sich hier sonst eine Zeit lang aufzuhalten. Für diese baute man die großen und schönen Häuser an der Meerseite und den großen Plätzen, auch manche außer der Stadt unter den hesperischen Gärten. Sie stehen nun meistens leer und manche zeigen schon die Spuren eines schnellen Verfalls. Bei anderen sieht man Thüren und Fenster vernagelt und mit Papier verkleistert; ja manche außerhalb der Stadt zeigen schon eingefallene Decken und zerbröckelnde Treppen; denn Lust und Geld zum Ausbessern fehlt, da man nicht weiß, was
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man damit machen soll, besonders da niemand ist, der einziehen könnte. Ueberall giebt die Stadt einen sehr todten Anblick, Fabriken fehlen, obgleich man hier etwas Seide verarbeitet. Viele hauen die Maulbeerbäume um, weil die Seide weder roh, noch verarbeitet Käufer findet. Der Handel schränkt sich fast allein auf ein wenig Küstenschiffahrt ein, weil auch die Neutralen selten sind. Dabei sind alle fremde und einheimische Artikel sehr theuer, und die Ausgaben bei den kriegerischen Umständen natürlich mannigfaltig.“ [...] (S. 29–31) „Die Vergnügungen der kleinen Stadt, der man doch an 20000 Menschen giebt, sind nicht ausgezeichnet, da Theater und größere Belustigungen fehlen. An festlichen Tagen, auch wohl oft an Arbeitstagen, geht man zu den schönen Gärten und Landhäuschen spazieren, und die Stadt gießt sich wie ein Strom aus und vertheilt sich auf verschiedenen Wegen; den Abend hat man den niedlichen Korso und die Esplanade, die aber selten so besucht sind, als sie es verdienen. Die Männer haben ihre Billards und Kaffeehäuser, die in großer Menge und fast nie leer sind: ein Geschmack der immer mehr wächst, je weiter man nach dem Süden hinauf reiset. An teutsche häusliche Geselligkeit muß man hier nicht denken, sondern alles lebt am dritten Orte zusammen so froh, als es nur kann.“ (S. 49).
Der Wert dieser Beobachtungen für tourismushistorische Studien liegt offen auf der Hand. So verdeutlichen die Darlegungen Arndts in Übereinstimmung mit vielen weiteren zeitgenössischen Berichten den sozial exklusiven und temporären Charakter der Anfänge des frühen Reisegeschäfts in Nizza, dessen ökonomische Potenziale von den Einwohnern zunächst überhaupt nicht erkannt worden sind. Deutlich wird ebenso, dass sich die örtlichen Lebensbedingungen während des Konsulats und ersten Empires wegen der Requisitionen durch die Militärs zunehmend schwierig gestalteten: Vor allem Brot und Fleisch wurden teurer.10 Zusätzlich erhält man eine Ahnung davon, wie sehr die lange Winterfreizeit der adligen Stammgäste für den Aufbau eines speziellen Marktes zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse sorgte. Dass sich dies zunächst alles auf einem nur sehr moderaten Niveau abspielte, verdankte sich unter anderem der anhaltend schwierigen Verkehrsanbindung der Stadt. Obwohl bereits 1805 mit dem Bau der Straße von Nizza nach Genua begonnen werden konnte, die am Ende von Napoleons Herrschaft bis Menton fertiggestellt worden war, bedeutete die Restaurationsphase nach dem Rückfall der Gebiete an Sardinien in dieser Hinsicht einen förmlichen Stillstand. Zwar rückte unter der energischen Führung von Viktor Emanuel II. die Verbesserung des Verkehrswesens erneut auf die politische Agenda, aber erst im Jahr 1864 erhielt Nizza einen Eisenbahnanschluss. Schon weit früher aber hatten die adligen hivernants aus England der Stadt ihren Stempel aufgedrückt.11 Ab 1822 förderten sie den Bau der Promenade des Anglais, die danach zu einem Wahrzeichen der Stadt aufsteigen sollte. Ihre Villen oder Appartements suchten die ausländischen Wintergäste vornehmlich in der neuen Stadt, entlang der Straße Saint-François de Paule beziehungsweise im Faubourg Croix de Marbre, während sie die Altstadt mieden. Noch Ende der 1870er Jahre urteilte ein Autor, dass seine „Strassen doch der primitivsten Erfordernisse der Hygiene“ ermangelten. Nur den andauernden Luftströmun-
10 Vgl. Latouche (Anm. 7), S. 204f. 11 Ebd., S. 216.
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gen, die durch die Straßen wehen, sei es zuzuschreiben, dass Nizza kein Herd für krankhafte Infektionen und Epidemien bilde.12 Offensichtlich aber hatten in der Zwischenzeit die Einwohner Nizzas den Wert des Reisegeschäfts erkannt. Jedem Fremden, „dem es um Ersparnis zu thun“, heißt es in diesem Zusammenhang schon im „Handbuch für Fremde“ von 1839, „sei es geraten, sich über Preise und dergleichen bei zuverlässigen Personen zu informieren; doch muss man sich als Fremder immer ein kleines Opfer gefallen lassen“.13 Dass aber überhaupt das Kalkulieren der Kosten von nun an zum Reisen dazugehörte, verweist auf die Ankunft von immer mehr Bürger-Touristen.14 Obwohl die große Konjunktur des Tourismus in Nizza erst in den 1880er Jahren einsetzen sollte, lässt sich der Anstieg des bürgerlichen Kontingents schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachten. Auch die wachsende Anzahl von Hotels weist darauf hin. Waren 1861 nur rund 30 Hotels und Pensionen gezählt worden, so stieg ihre Anzahl bis 1867 auf 53 und 1909 auf 132 Hotels mit 13.334 Zimmern an. Hiervon profitierten immer mehr Gäste. 1861 wurden rund 4.560 Fremde gezählt; ein Jahrzehnt später beliefen sich die Zahlen schon auf 12.000 und 1881 erreichten sie mehr als 32.000. Damit einher gingen Veränderungen in der nationalen Herkunft. So nahm der Anteil der Gäste aus dem französischen Mutterland immer weiter zu und überflügelte schließlich die Zahl der Engländer, gefolgt von einer recht großen Touristengemeinde aus Russland sowie kleineren Gruppen aus Deutschland, Polen und Italien. Zunehmend aber gelangten auch Amerikaner nach Nizza; in den Jahren nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs übertraf ihre Zahl sogar die der Russen. Dass die wachsende Nachfrage für einen Anstieg vor allem der Beherbergungspreise sorgte, wird von den zeitgenössischen Reiseführern bestätigt. Aber „wir dürfen deshalb schließlich doch behaupten“, meinte Henry Lippert 1877, „dass eine mehr für die Interessen der Gesundheit als der Geselligkeit berechnete Wintersaison in Nizza sich ohne große pekuniäre Opfer durchführen lasse“.15 Freilich wurde es immer schwieriger, eine solch abstinente Haltung einzunehmen, denn die ständig erweiterten Angebote des Kultur- und Tourismusmarktes zogen immer mehr Menschen in Nizza in ihren Bann. Genau das war letztlich der Grund dafür, dass seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ,bessere Gesellschaft‘ regelmäßig dorthin kam, um ihr Glück in den Spielsalons zu suchen. Aber auch die Kulturstätten expandierten: Hatte es bis zur Annexion nur einen Kulturkreis Le Philharmonique, in der Stadt gegeben, so änderte sich die Lage vor allem mit der Gründung des 1867 eröffneten Casino an der Promenade des Anglais. Die danach zum Cercle de la Méditerranée umfunktionierte Institution öffnete ihre Tore nicht nur Männern, sondern – für die Zeit ungewöhnlich – auch Frauen und 12 Lippert, Henry, Das Klima von Nizza seine hygienische Wirkung und therapeutische Verwertung nebst naturhistorischen, meteorologischen und topographischen Bemerkungen, 2. Aufl., Berlin 1877, S. 53. 13 Weber (Anm. 1), S. 82f. 14 Vgl. hierzu und zum Folgenden Lèques, Paulette, Tourisme Hivernal et vie mondaine à Nice de 1860 à 1881: Cercles et salons, in: Aspects de Nice (Anm. 4), S. 93–101, sowie Schor Ralph, La fonction d’accueil de Nice et la guerre de 1914–1918, in: ebd., S. 103–135. 15 Lippert (Anm. 12), S. 112.
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Kindern. An diesem Ort, dem wohl „elegantesten socialen Rendez-Vous“16 für die Fremden, wie auch in vielen kleineren Salons und auf unzähligen Tanzveranstaltungen, auf Konzerten, fêtes de bienfaisance, Musikhallen sowie später auch im Kino konnten die Angereisten ihren Freizeitbedürfnissen nachgehen. Nicht alles war nur der leichten Muse zuzurechnen, wurden doch schon während des Zweiten Empire ein Theater mit 500 Plätzen errichtet und Anstrengungen zum Aufbau politischer Salons unternommen. Dennoch blieb der plutokratische Charakter ein Markenzeichen des Tourismus in Nizza. Dazu gehörten vor allem das repräsentative Wohnen, zunächst in Villen und Appartements, zunehmend aber auch das Logieren in den mondänen Hotels sowie beträchtliche Ausgaben auf den neu geschaffenen Märkten für Kleidung, Blumen, Schmuck und Bijouterie. Warnend meinte dazu ein deutscher Beobachter der Szene: „Diese nie endende Kette von Diners, Soiréen, Matinées, Dansantes, Bällen, Theater, Concerten, Picnis – die Hitze der Salons, die Erregung der Conversation, der Mangel an Schlaf, die Temperaturdifferenzen, denen man sich in leichter Balltoilette allnächtlich aussetzt – sie bedingen Gefahren für die Gesundheit, die kein Klima neutralisiren kann, sei es auch noch so heilsam!“ 17 Ungeachtet dieser ,Gefahren‘ aber kamen die Touristen in immer stärkeren Strömen in die Stadt, sodass regelmäßig im Winter Nizza zum „Sammelplatz einer zahlreichen Fremdenwelt von Kranken und Gesunden aller Länder Europas“ wurde, „welche unter dem Schutz seines milden Klimas die raue Jahreszeit in angenehmer Weise“ verbrachte.18 Die eigentliche Hochsaison reichte von Januar bis Anfang April. Im Sommer aber blieb die Stadt trotz aller Versuche, die Vorzüge auch dieser Monate den auswärtigen Gästen zu verdeutlichen, leer. Gleichwohl: Bis 1914 entwickelte sich Nizza zu einer der großen Kapitalen des europäischen Tourismus. Zu jeder Saison strömten im Vorkriegsjahrzehnt ca. 150.000 Touristen dorthin, von denen rund ein Siebtel mehrere Monate dort verbrachten. Welche Vergnügungen damit verbunden waren, signalisiert der Tatbestand, dass vor allem die Steuern der Spielpaläste der städtischen Kasse beträchtliche Einkünfte einbrachten.19 Trotz des beträchtlichen und scheinbar unaufhörlichen Aufschwungs aber traten bereits vor 1914 einige Schattenseiten an die Oberfläche. Denn die hygienischen Zustände in vielen Hotels waren unzureichend; die meisten Zimmer verfügten nicht über ein eigenes Bad. Und von 250 im Jahr 1913 gelisteten Hotels besaßen nur 64 ein Telefon. Vor allem die großen Hotels hatten außerdem zunehmend mit Rentabilitätsproblemen zu kämpfen. Außerdem konnten all diejenigen, die sich nicht ausschließlich dem Glamour der Tourismusindustrie ihrer Zeit hingaben, das soziale Elend Nizzas kaum übersehen: Rund zwei Fünftel der Einwohnerschaft wohnten im Jahr 1911 in unzulänglichen Behausungen, und das städtische Wohlfahrtsamt zählte mehr als 10.000 Arme.
16 Ebd., S. 55. 17 Ebd., S. 114. 18 Baedeker, Karl, Italien Handbuch für Reisende. Oberitalien, Ligurien, Das nördliche Toscana, Leipzig 1894, S. 336. 19 Vgl. dazu Schor (Anm. 14), S. 113ff.
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Auf dem Tourismusmarkt aber schienen alle Zeichen auf eine weitere Expansion gesetzt, als der Erste Weltkrieg einen massiven Einbruch nach sich zog. Dass die großen Hotels während der Kriegsjahre zu Lazaretten umgewandelt wurden, kann man als Symbol für einen fundamentalen Umbau des Ferien- und Freizeitmarktes in dieser Zeit begreifen. Nur schwierig kam das Geschäft ab den 1920er Jahren wieder in Gang. Nicht verwundern kann es daher, dass die Stadt danach vermehrt Anstrengungen unternahm, Touristen auch in den Sommermonaten nach Nizza zu locken. Hierbei erwies sich die Verbreitung des Automobils als ein besonders nützliches Instrument. Nach und nach brachte es die reichen und später auch die nicht so reichen Touristen in großen Massen nach Nizza. Gleichzeitig sorgte es dafür, dass nicht nur die Stadt, sondern das gesamte Hinterland über den Bau neuer Straßen eine fundamentale Transformation erfuhr. Ob man nun in einer solchen Entwicklung des modernen Tourismus, wie Hans Magnus Enzensberger 1958 im Merkur grundsätzlich meinte, eine Flucht aus der industriellen Welt verstehen muss, „die an den romantischen Leitbildern unberührter Natur und Geschichte“ orientiert sei, „sich aber schon längst selbst zu einer Industrie“ entwickelt habe, sei hier dahingestellt. Vielleicht sollten wir uns doch eher an den Reiseberichten Ernst Moritz Arndts und denen seiner Zeitgenossen orientieren, weil sie völlig frei von kulturpessimistischen Zügen den Genuss und den Gewinn einer „Bildungs-Reise“ zu vermitteln wissen. Mit Arndt im Gepäck jedenfalls lohnt der Weg nach Nizza! Prof. Dr. Christoph Cornelißen, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität Kiel
AUF DEM JAKOBSWEG DAS CENTRE EUROPÉEN DE DOCUMENTATION ET D’INFORMATION (CEDI) ALS MITTLER ZWISCHEN SPANIEN, DEUTSCHLAND UND FRANKREICH (JOHANNES GROSSMANN)
Wer heute von Norden kommend das Zentrum vom Paris durchquert, schreitet zunächst an der Tour Saint Jacques vorüber, ehe er mit der Île de la Cité gewissermaßen das Herz der französischen Hauptstadt betritt. Lässt man nun die Fassade von Notre-Dame links an sich vorüberziehen, so gelangt man in die Rue Saint Jacques, die in gerader Richtung weiter nach Süden führt. So oder auf ähnlichem Wege mögen wohl auch die Jakobspilger im elften Jahrhundert durch Paris gezogen sein. Wie in vielen anderen französischen Städten wimmelt es in Paris von Bauwerken, Ortsnamen und Symbolen, die mit dem Jakobuskult in Verbindung stehen. Sie sind Marksteine mehrerer Pilgerrouten, die im Mittelalter quer durch Europa verliefen und sich in Frankreich zu einem engmaschigen Netz von Städten, Dörfern und Klöstern verdichteten. Jenseits der Pyrenäen mündeten die vier Hauptrouten der Jakobspilger1 in den Weg, welcher die Iberische Halbinsel in westlicher Richtung durchquerte und dann zielstrebig auf Santiago de Compostela zulief. Bis heute wird dieser Weg in Spanien als Camino francés, als „französischer Weg“ bezeichnet. Nicht zu Unrecht gilt der Jakobsweg daher als Sinnbild jener engen Beziehungen, die Frankreich und Spanien, Europa und die Iberische Halbinsel über Jahrhunderte hinweg miteinander verbanden und deren spirituelle Grundlagen bei allen Streitigkeiten und Rivalitäten stets unangefochten Bestand hatten. Erst die Französische Revolution sollte mit diesen Traditionen brechen und damit insbesondere auch die Beziehungen zwischen Spanien und Europa vor ganz neue Herausforderungen stellen. Vor neue Herausforderungen gestellt sah sich auch jene Gruppe von mehr als zweihundert jungen Studenten aus ganz Europa, die sich im Juli 1965 in Santiago de Compostela zusammengefunden hatten, um darüber zu diskutieren, wie man sich – so das vieldeutige Motto der Veranstaltung – das „Europa von morgen“ vorzustellen habe. Eingeladen zu der Pilgerfahrt, die im Zeichen der Tausendjahrfeier der spanischen Apostelstadt stand, hatte das Europäische Dokumentationsund Informationszentrum. Diese Organisation, von ihren Anhängern aus pragmatischen Gründen meist nur entsprechend der Abkürzung ihres französischen bzw. 1
Die Via Tolosana von Arles über Toulouse nach Puente la Reina, die Via Podensis von Le Puy nach Ostabat, die Via Lemovicensis von Vézelay über Saint-Léonard nach Ostabat und die Via Turonensis von Paris über Tours nach Ostabat. Zur Geschichte des Jakobsweges, der in den vergangenen Jahren eine wahre Renaissance als spiritueller Selbstfindungstrip und Touristenmagnet erlebte, vgl. Herbers, Klaus, Jakobsweg. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, München 2006.
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spanischen Namens als CEDI2 bezeichnet, war 1952 unter großzügiger materieller und ideeller Unterstützung der spanischen Regierung ins Leben gerufen worden. Als seine Gründungsväter galten Alfredo Sánchez Bella, der damalige Direktor des Instituto de Cultura Hispánica, und Otto von Habsburg, seines Zeichens ältester Sohn des letzten Kaisers von Österreich-Ungarn und Thronprätendent der untergegangenen Donaumonarchie. Ziel dieser illustren und aufgrund des politischen Gewichts ihrer Mitglieder und Sympathisanten durchaus als einflussreich zu charakterisierenden Gesellschaft sollte es sein, im Sinne eines konservativen und christlichen Europa zu wirken. Diese nur auf den ersten Blick eindeutige politische und weltanschauliche Stoßrichtung wurde gemeinhin unter dem ebenso unbestimmten wie umstrittenen „Abendland“-Begriff subsumiert, wobei die Bekämpfung marxistischen Gedankengutes und die Ablehnung der bipolaren Nachkriegsordnung Europas als unverrückbare Konstanten den Zusammenhalt der Gruppe sicherten. Vordringlichstes Anliegen des CEDI war die Beendigung der internationalen Ächtung, mit der das Franco-Regime seit Ende des Zweiten Weltkriegs als vermeintliches Relikt der faschistischen und nationalsozialistischen Epoche belegt worden war. Innerhalb eines ganzen Netzes von offiziell unabhängigen, in ihrer Funktionsweise jedoch zumindest als halbstaatlich zu bezeichnenden Organisatio-
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Centre européen de documentation et d’information/Centro europeo de información e documentación. Die Geschichte des CEDI wurde in der Forschung bisher nur unzureichend und lediglich unter spezifischen Fragestellungen behandelt. Zur Einordnung in die deutsch-spanischen Beziehungen vgl. u.a. Weber, Petra-Maria, Spanische Deutschlandpolitik 1945–1958. Entsorgung der Vergangenheit, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1992, hier insbesondere S. 205– 268; Aschmann, Birgit, „Treue Freunde…“? Westdeutschland und Spanien 1945–1963, Stuttgart 1999, insbesondere S. 425–435; Sanz Diaz, Carlos, España y la República Federal de Alemania (1949–1966). Política, económica y emigración, entre la Guerra Fría y la Distension, Univ.-Diss., Madrid 2005, insbesondere S. 434–450; nur wenige neue Ergebnisse bietet Lehmann, Walter, Die Bundesrepublik und Franco-Spanien in den 50er Jahren. NS-Vergangenheit als Bürde, München 2006, insbesondere S. 65–75. Zur Einordnung in die Europapolitik bzw. die ideologische Ausrichtung des Franco-Regimes vgl. Moreno Juste, Antonio, El Centro Europeo de Documentación e Información. Un intento fallido de aproximación a Europa, in: Tusell, Javier u.a. (Hrsg.), El régimen de Franco (1936–1975), Madrid 1993, Bd. 2, S. 459–475, sowie González Cuevas, Pedro Carlos, Neoconservatismo e identidad europea (una aproximación histórica), in: Spagna contemporanea 13 (1998), S. 41–60. Eine erste Beurteilung im Hinblick auf den europäischen Einigungsprozess gibt Chenaux, Philippe, Une Europe Vaticane? Entre le Plan Marshall et les Traités de Rom, Louvain-la-Neuve 1990, S. 207–215, S. 222–228 sowie S. 240–244. Die bisher umfangreichste und genaueste Darstellung betrachtet vor allem die deutsche Sektion des CEDI unter ideengeschichtlichem Blickwinkel: Conze, Vanessa, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005, insbesondere S. 169–206. Zur Selbstdarstellung des CEDI vgl. den Jubiläumsband von Gaupp-Berghausen, Georg von (Hrsg.), 20 años C.E.D.I., Madrid 1971. Der Autor des vorliegenden Beitrages arbeitet derzeit an einem Dissertationsprojekt, aus dem eine möglichst vollständige organisationsgeschichtliche Darstellung zum CEDI unter dem Gesichtspunkt transnationaler Verflechtung hervorgehen soll. Dieser Aufsatz stützt sich auf Quellen aus deutschen, französischen und österreichischen Archiven sowie auf Gespräche mit mehreren Zeitzeugen.
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nen, die im Sinne einer „Substitutionsdiplomatie“3 die Zugehörigkeit Spaniens zum „Abendland“ beschworen und auf eine Einbindung des Landes in den beginnenden europäischen Integrationsprozess drängten, nahm das CEDI eine privilegierte Stellung ein. So zählten zu den Mitgliedern neben Otto von Habsburg auch weitere Vertreter des europäischen Hochadels wie zum Beispiel die Fürstenhäuser Waldburg-Zeil und Liechtenstein.4 Mehrere spanische Minister und Spitzenfunktionäre wie Alberto Martín Artajo, Gonzalo Fernández de la Mora und Manuel Fraga Iribarne, die größtenteils dem reformerisch gesinnten Flügel des Regimes zuzuordnen waren, gestalteten die Tätigkeit des CEDI aktiv mit und versuchten, die Organisation für ihre eigenen politischen Ambitionen nutzbar zu machen. Aber auch hochrangige deutsche Politiker, darunter vor allem Hans-Joachim von Merkatz und Richard Jaeger, engagierten sich im Dokumentationszentrum. Der Personenkreis, welcher in Deutschland Interesse am CEDI bekundete, deckte sich dabei anfänglich weitgehend mit dem Führungszirkel der Abendländischen Akademie.5 Im Zuge der vereinsrechtlichen Konstituierung des internationalen CEDI 1957 wurde schließlich mit dem Europäischen Institut für politische, kulturelle und wirtschaftliche Fragen auch eine eigene deutsche Sektion des Dokumentationszentrums gegründet. An die Öffentlichkeit trat das CEDI, das seine Aufgabe prinzipiell eher in einem stillen Wirken hinter den Kulissen der politischen Bühne sah, mit einer alljährlichen internationalen Tagung, die fast immer in Spanien und zumeist in der symbolträchtigen Klosteranlage des Escorial stattfand.6 Wenngleich diese Kongresse aufgrund ihres ausgeprägten Zeremoniells im rückblickenden Urteil mehrerer Zeitzeugen als Reise ins 19. Jahrhundert beschrieben wurden, so bewegten sich die Vorträge und Diskussionsbeiträge nach dem einhelligen Bekunden von Teilnehmern und Beobachtern auf einem sehr hohen wissenschaftlichen und intellektuellen Niveau.7 Schnell entwickelten sich die Jahrestagungen dadurch zu den 3 4
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Aschmann: „Treue Freunde…“ (Anm. 2); vgl. auch den Begriff der „Paradiplomatie“ bzw. „Paralleldiplomatie“ bei Sanz Díaz, España y la República Federal de Alemania (Anm. 2). Die Geschichte des Adels im 20. Jahrhundert und insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist bisher praktisch kaum erforscht. Erfreuliche Ausnahmen bilden Conze, Eckart, Von deutschem Adel. Die Grafen Bernstorff im 20. Jahrhundert, Stuttgart/München 2000, sowie die bisweilen lückenhafte, in unserem Zusammenhang aber dennoch besonders interessante, epochenübergreifende Studie von Dornheim, Andreas, Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlich-historische Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil, Frankfurt a.M. 1993. Speziell zu Otto von Habsburg vgl. Stickler, Matthias, Abgesetzte Dynastien. Strategien konservativer Beharrung und pragmatischer Anpassung ehemals regierender Häuser nach der Revolution von 1918–Das Beispiel Habsburg, in: Günther Schulz/Markus A. Denzel (Hrsg.), Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen 2004, S. 397–444. Zur abendländischen Bewegung in der Bundesrepublik vgl. insbesondere Schildt, Axel, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideengeschichte der 50er Jahre, München 1999, S. 21–82, sowie Conze, Das Europa der Deutschen (Anm. 2), S. 127–169. Zu Teilnehmern und Inhalten der Jahrestagungen vgl. Gaupp-Berghausen, 20 años C.E.D.I. (Anm. 2). Vgl. dazu beispielsweise die im Quai d’Orsay, Auswärtigen Amt und im Österreichischen Staatsarchiv überlieferten Berichte der jeweiligen Missionen.
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tragenden Pfeilern der Organisation, die einerseits das Zusammengehörigkeitsgefühl verstärkten und andererseits der Werbung neuer, dem Weltbild des CEDI entsprechender Mitglieder und Sympathisanten dienten. Die Organisation und Ausgestaltung der Kongresse war auch die Hauptaufgabe eines internationalen Generalsekretariates mit Sitz in Madrid. Dessen Leitung lag zunächst in den Händen von José Ignacio Escobar Kirkpatrick, dem Marqués de Valdeiglesias, der dem monarchistischen Flügel des Regimes angehörte und sowohl zu General Franco als auch zum spanischen Thronprätendenten Don Juan enge Kontakte unterhielt. Die eigentliche Arbeit leistete aber sein beflissener und unermüdlicher Stellvertreter Georg von Gaupp-Berghausen, der 1964 schließlich auch offiziell zum ersten Generalsekretär ernannt wurde. Gaupp-Berghausen stand als gebürtiger Österreicher in doppelter Loyalität zu Otto von Habsburg und zum Fürsten von WaldburgZeil, von dem er als Angestellter der Zeilschen Hofverwaltung sein Gehalt bezog.8 In der Anfangszeit des CEDI waren die Initiativen vor allem von spanischer und deutscher Seite ausgegangen, während die Aktivitäten in anderen Ländern oft auf das Wirken einzelner Personen beschränkt blieben. In Frankreich beruhte die Tätigkeit des Dokumentationszentrums in den ersten Jahren fast ausschließlich auf dem Engagement des Grafen François Aubry de la Noë. De la Noë entstammte einem alten normannischen Adelsgeschlecht. Er hatte sich mit mehreren religionsphilosophischen Schriften einen Namen in den gebildeten Kreisen Frankreichs gemacht und stand dem Klerus sehr nahe. Anfang der dreißiger Jahre hatte er als Kabinettschef des umstrittenen Pariser Polizeipräfekten Jean Chiappe gedient und somit während der schicksalhaften Tage des Februar 1934 im Zentrum des Geschehens gestanden. Aufgrund seiner guten Kontakte in den Vatikan diente er mehreren Regierungen der Vierten Republik, die oft nicht gerade ein herzliches Verhältnis zur Kirche pflegten, als Verbindungsmann zur Kurie. Als nur sporadisch bezahlter „attaché libre“ stellte er sich wiederholt in die Dienste des Quai d’Orsay, blieb jedoch politisch stets ungebunden: „Il était réellement un diplomate secret, selon le mode du XVIIIe siècle.“9 Mit Otto von Habsburg war er wohl erstmals während dessen Zeit im Pariser Exil zusammengetroffen. Durch die Gründung des CEDI hatte diese Zusammenarbeit einen festen institutionellen Rahmen bekommen. Seit der Jahrestagung im Juni 1955 gewannen die Aktivitäten der französischen Sektion infolge der Partizipation mehrerer enger Wegbegleiter von General de Gaulle wie Edmond Michelet, Louis Terrenoire und zeitweise auch Michel Debré eine neue Stoßrichtung. Das CEDI musste den Gaullisten aus verschiedenen Gründen als hilfreiches Forum erscheinen. Einerseits versprachen die hochrangigen internationalen Kontakte des Dokumentationszentrums einen gewissen Ausgleich für die weitgehende innenpolitische Isolation der Gaullisten, wobei sie ihr Interesse wohl nicht zufällig gerade in dem Moment bekundeten, als sich abzeichnete, dass der Rassemblement du Peuple Français (RPF) seine politischen Aktivitäten einstellen würde. Andererseits bot das CEDI – im Gegensatz zu den 8 9
Gespräch des Autors mit Georg Fürst von Waldburg-Zeil am 26. September 2007. Auszüge aus den unveröffentlichten Erinnerungen von Hervé de Fontmichel, Enkel einer Cousine de la Noës, dem Autor mit Schreiben vom 12. September 2007 übersandt.
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Gremien christdemokratischer Parteienkooperation, in denen Frankreich durch Mitglieder des Mouvement Républicain Populaire (MRP) vertreten war – die Möglichkeit, mit europäischen Politikern dezidiert konservativer Inspiration zusammenzuarbeiten und dadurch ein internationales Forum für De Gaulles Europapolitik zu schaffen. Dabei lag das Hauptinteresse auf Kontakten mit hochrangigen deutschen Politikern, deren starkes Engagement im CEDI genau beobachtet wurde: „Les Allemands sont discrets, mais terriblement présents. D’où la nécessité d’être là.“10 Nach der Rückkehr De Gaulles auf die politische Bühne im Juni 1958 sollte sich das Engagement seiner Anhänger im Dokumentationszentrum auszahlen. Denn nun wirkte das CEDI als konsequenter Verfechter der gaullistischen Vision eines „Europas der Vaterländer“ und vermittelte den Gaullisten wertvolle internationale Kontakte, die ihnen aufgrund der personellen Fokussierung und des ursprünglich rein nationalen Zuschnitts ihrer Bewegung ansonsten versagt geblieben waren.11 Auch De Gaulles Deutschlandpolitik erfuhr vonseiten des CEDI schließlich nachhaltige Unterstützung, als Graf de la Noë im Januar 1963, wenige Tage vor der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, eine Initiative zur direkten Kooperation der beiden Mehrheitsfraktionen von UNR-UDT und CDU/CSU lancierte, um auf dem Wege von Parlamentariergesprächen ein positives Klima für die Umsetzung des Vertragswerkes zu schaffen.12 Auf den internationalen Tagungen des CEDI warb General Pierre-Marie Gallois für die neue französische Militärstrategie einer nuklearen Abschreckung, an deren Ausarbeitung er selbst entscheidenden Anteil gehabt hatte.13 Die finanzielle Unterstützung, welche das Dokumentationszentrum in dieser Zeit von mehreren staatlichen Stellen in Frankreich bezog, belegt die Wertschätzung, welche den Diensten des CEDI von offizieller Seite entgegengebracht wurde.14 Weniger offensichtlich, aber dennoch erfolgreich wirkte das CEDI auch im Bereich der spanisch-französischen Beziehungen. Diese waren seit dem Spanischen Bürgerkrieg schweren Belastungen ausgesetzt gewesen. Das Franco-Re10 Aufzeichnung Louis Terrenoires vom 1. Juni 1955, zitiert nach Le Dorh, Marc, Les démocrates-chrétiens français face à l’Europe. Mythes et réalités, Paris 2005, S. 491. 11 Für eine derartige informelle internationale Kontaktaufnahme nutzten die Gaullisten auch die Paneuropa-Union. Die Neugründung bzw. Reaktivierung parlamentarischer Freundschaftsgesellschaften auf Betreiben gaullistischer Abgeordneter lässt auf eine ähnliche Strategie schließen. Derartige Institutionen erreichten zwar niemals die Durchschlagskraft und den Organisationsgrad der christ- oder sozialdemokratischen Parteienkooperation, entsprachen dafür aber viel eher den gaullistischen Vorstellungen von bilateraler bzw. zwischenstaatlicher anstatt multilateraler bzw. supranationaler Kooperation. 12 Zu den Parlamentariergesprächen, die sich später offenbar zusehends verselbständigten, vgl. beispielsweise den Bericht v. Merkatz’ über das dritte Treffen am 3. und 4. Juli 1963, in: Horst Möller/Klaus Hildebrand (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich: Dokumente 1949–1963, Bd. 3, München 1997, Nr. 303, S. 795–802. 13 Zu den strategischen Konzeptionen General Gallois’, der als Chefstratege De Gaulles galt, vgl. beispielsweise Malis, Christian: Raymond Aron et le débat stratégique français 1930– 1966, Paris 2005, insbesondere S. 466–471, S. 555–567, sowie S. 650–656. 14 Sicher ist, dass die französische Sektion des CEDI finanzielle Unterstützung aus dem Matignon und vom Quai d’Orsay erhielt.
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gime hatte die französischen Initiativen zur internationalen Isolation des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vergessen, und die spanische Regierung wertete die Freiheiten spanischer Oppositioneller im Nachbarland als Zeichen einer grundsätzlich feindlichen Einstellung, was zumindest für den Großteil der französischen Bevölkerung auch den Tatsachen entsprach. Die französische Regierung verfolgte zwar spätestens seit Beginn der fünfziger Jahre eine pragmatische Politik gegenüber dem südlichen Nachbarn, beobachtete aber Francos Annäherung an die arabischen Staaten, seine Ambitionen in Nordafrika und insbesondere seine nicht nur moralische Unterstützung für den Aufstand in Algerien mit Sorge. 15 Die Machtübernahme De Gaulles beschleunigte schließlich den Paradigmenwechsel hin zu einer flexibleren Gestaltung der spanisch-französischen Beziehungen. Dass sich im Rahmen des CEDI einige der engsten Wegbegleiter des französischen Staatspräsidenten regelmäßig und auf freundschaftlicher Basis mit hochrangigen spanischen Regierungsmitgliedern trafen, dürfte einen wichtigen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis geleistet haben, wenngleich konkrete politische Initiativen wohl eher De Gaulle selbst und seinem Außenminister vorbehalten blieben. Bis zu Beginn der sechziger Jahre hatte sich das Dokumentationszentrum auf der Basis eines elitären Freundeskreises konservativ denkender Europäer weitgehend ungestört von äußeren Einflüssen entwickeln können. Neben Spanien, Deutschland und Frankreich hatten sich in vielen anderen Ländern CEDI-Sektionen gebildet, deren Arbeit oft auf dem rührseligen Engagement einzelner oder einiger weniger Personen beruhte.16 Mit der räumlichen und organisatorischen Ausweitung einhergehen sollte zumindest nach den Vorstellungen Gaupp-Berghausens auch ein aktiveres Auftreten des Dokumentationszentrums in der Öffentlichkeit. Ein derartiger Anspruch musste das CEDI jedoch in mehrerlei Hinsicht vor Probleme stellen. Denn einerseits erforderte das Vorhaben höhere finanzielle Mittel, welche jedoch weder die spanische Regierung noch die privaten Geldgeber aus anderen Ländern zusagen wollten. Andererseits sah sich das CEDI nun gezwungen, seine Mitgliederbasis zu verbreitern und einer drohenden Überalterung entgegenzuwirken. Dies wiederum implizierte zumindest eine Relativierung der bisherigen elitären Praxis der Mitgliederwerbung und vergrößerte gleichzeitig die Angriffsflächen für mögliche politische Gegner. In dieser Situation beschloss das Präsidium auf Anregung Gaupp-Berghausens, die Jahrestagung 1965 in Form eines mehrtägigen Pilgerzuges mit abschließender Konferenz in Santiago de Com-
15 Die spanisch-französischen Beziehungen der Nachkriegszeit sind nur spärlich erforscht. Zur Frühphase vgl. v.a. Martínez Lillo, Pedro Antonio, Una introducción al estudio de las relaciones hispano-francesas (1945–1953), Madrid 1985, sowie französischer Seite Dulphy, Anne, La politique de la France à l’égard de l’Espagne de 1945 à 1955. Entre idéologie et réalisme, Paris 2002. Für die Regierungszeit De Gaulles vgl. aus wirtschaftspolitischer Sicht Sánchez Sánchez, Esther, Rumbo al sur Francia y la España del desarrollo, 1958–1969, Madrid 2006, insbesondere S. 79–142. Speziell zur Nordafrika-Problematik in spanisch-französischer Perspektive vgl. die unpublizierte Studienarbeit von Otero, Maruja, L’Algérie dans les relations franco-espagnoles, 1954–1964, Mémoire de DEA, IEP Paris 1996. 16 So in Belgien, Österreich, Griechenland, Schweden (alle 1957 gegründet), Liechtenstein (1958), der Schweiz, Großbritannien (beide 1959) und Portugal (1962).
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postela abzuhalten.17 Zu diesem Zweck wurden Studenten und junge Politiker aus verschiedenen europäischen Ländern eingeladen. Den Spagat zwischen personeller Verjüngung und gewünschter Beibehaltung der bisherigen politischen Linie versuchte man dadurch zu meistern, dass gezielt die Kinder mehrerer altgedienter Mitglieder sowie solche Jungpolitiker angesprochen wurden, die sich bereits einen Namen als konservative Hoffnungsträger gemacht hatten.18 Unter dem Segen des Erzbischofs von Santiago sollten die Teilnehmer den Zusammenhalt des abendländischen Europa beschwören und gleichzeitig die Aktivitäten des CEDI auf eine neue und breitere Basis stellen. Wenngleich die Jahrestagung 1965, die schon aufgrund ihres hohen Symbolgehaltes ganz nach dem Geschmack der Gründungsväter gewesen sein musste, als großer Erfolg gewertet wurde, so waren ihre längerfristigen Auswirkungen doch eher bescheiden. Zum einen waren nur wenige der führenden CEDI-Mitglieder wirklich dazu bereit, Verantwortung zu übertragen und ihren elitären Anspruch zugunsten eines schlagkräftigeren und öffentlichkeitswirksameren Auftretens zurückzustellen. Zum anderen zeigten auch die jugendlichen Teilnehmer des Pilgerzuges kaum Ambitionen, sich in einer Organisation zu engagieren, deren restaurativer äußerer Anschein und dessen Arbeitsweise im gesellschaftlichen Klima der späten sechziger Jahre und angesichts moderner Gepflogenheiten politischer Kommunikation nur altmodisch erscheinen konnte. Eine personelle Verjüngung in ausreichendem Umfang gelang dem CEDI deshalb nicht. Stattdessen machten sich schon bald die ersten Auflösungserscheinungen bemerkbar, als gleich mehrere Todesfälle den Freundeskreis der Gründergeneration zusammenschmelzen ließen. Im Oktober 1968 verstarb François de la Noë, zwei Jahre später ereilte die französische Sektion mit dem Tod Edmond Michelets ein weiterer einschneidender Verlust. Zwar führte Michel Habib-Deloncle die Geschäfte des Dokumentationszentrums mit großem Elan weiter, doch geschah dies eher aus alter Anhänglichkeit und aus Respekt vor früheren Erfolgen des CEDI als mit reellen Aussichten auf eine erfolgreiche Wiederbelebung des ursprünglichen politischen Gewichts.19 17 Eine nicht unwichtige Rolle bei dieser Entscheidung spielten sicherlich auch werbetechnische Überlegungen. So stieg Spanien in den sechziger Jahren zu einem der beliebtesten Reiseziele der Welt auf. Das touristische Potenzial des Jakobsweges war den verantwortlichen spanischen Funktionären – allen voran Tourismusminister Fraga Iribarne – dabei durchaus bewusst. Vgl. Dazu Pack, Sasha D., Tourism and Dictatorship. Europe’s Peaceful Invasion of Franco’s Spain, Nwe York 2006, S. 153–155. 18 Unter dem Teilnehmern der Jahrestagung 1965 befanden sich unter anderem Alain Terrenoire – Sohn von Louis Terrenoire, ab 1967 Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung und heute als Präsident der internationalen Paneuropa-Union Nachfolger von Otto von Habsburg – sowie der spätere bayerische Ministerpräsident Max Streibl. Einen Überblick über Referenten, Programm und Berichterstattung gibt Gaupp-Berghausen, 20 años C.E.D.I. (Anm. 2), S. 453–485. 19 Michel Habib-Deloncle, von November 1962 bis Januar 1966 Staatssekretär im französischen Außenministerium, war einer der Initiatoren der deutsch-französischen Parlamentariergespräche gewesen. Unter seiner Federführung fanden auch entsprechende Annäherungsversuche an andere europäische Mehrheitsparteien wie die Österreichische Volkspartei (ÖVP) und die italienische Democrazia Cristiana (DC) statt. 1982 unternahm er den letzten Versuch von französischer Seite, das CEDI zu reaktivieren, möglicherweise, um dadurch eine internationale
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Denn inzwischen hatte auch das ursprüngliche Interesse der französischen Regierung am CEDI spürbar nachgelassen. Die Kontakte zu anderen europäischen Mehrheitsparteien waren hergestellt, die befürchtete internationale Isolation der Gaullisten konnte erfolgreich abgewendet werden. Andere, mitgliederstärkere Organisationen wie die Paneuropa-Union, in derem französischen Comité sich – wie in anderen Ländern auch – auffällig viele Mitglieder des CEDI engagierten, schienen geeigneter, die gaullistische Europavision zu propagieren und die politische Basis zu erreichen. Dennoch, und obwohl 1973 mit Otto von Habsburg der Mitinitiator, langjährige Präsident und Ehrenpräsident des CEDI an die Spitze der internationalen Paneuropa-Union gewählt wurde, sollte das Dokumentationszentrum nicht in der Paneuropa-Union aufgehen. Mehreren entsprechenden Vorschlägen des Generalsekretärs Gaupp-Berghausen widersetzten sich die verbliebenen Mitglieder hartnäckig – letztlich wohl eher aus Trotz und Nostalgie denn aus Überzeugung, waren doch mit dem Ende des frankistischen Regimes in Spanien auch die letzten finanziellen und ideologischen Quellen des internationalen CEDI versiegt.20 Folglich endete die Geschichte des Dokumentationszentrums, wie sie begonnen hatte – im Stillen und abseits der Weltöffentlichkeit. Nach dem letzten großen Jahreskongress 1976 beschränkten sich die Aktivitäten der wenigen verbliebenen Mitstreiter auf gelegentliche Krisengespräche und vereinzelte aber letztlich erfolglose Wiederbelebungsversuche, ehe die weltpolitischen Umwälzungen der achtziger Jahre auch dem Antikommunismus als vielleicht wichtigstem ideologischen Bindeglied des CEDI die Grundlagen entzogen. Und dennoch konnten die Mitglieder des CEDI ihre Aufgabe rückblickend als erfüllt bezeichnen, war doch mit dem Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft am 1. Januar 1986 das ursprüngliche Anliegen der Organisation in Erfüllung gegangen. Für den Historiker liegt der tatsächliche Erfolg des Dokumentationszentrums aber in einer anderen Dimension begründet – nämlich darin, eine einflussreiche Gruppe von Konservativen, die der Demokratie westlichen Zuschnitts anfänglich größtenteils reserviert gegenüberstanden, durch eine intensive und grenzüberschreitende Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegszeit in den europäischen Dialog eingebunden und dadurch letzten Endes an demokratische Werte herangeführt zu haben. So war das Europäische Dokumentationsund Informationszentrum, bildhaft gesprochen, ein geistiger Jakobsweg im Europa des 20. Jahrhunderts, dessen Stränge zwar in Spanien zusammenliefen, dessen Pfade sich aber quer durch Westeuropa zogen, um die konservativen Kräfte des Kontinents hinter dem gemeinsamen Gedanken eines „christlichen Abendlandes“ zu scharen, und dessen eigentliches Ziel immer der Weg selbst blieb. Johannes Großmann, Diplom-Kulturwissenschaftler, Historisches Institut der Universität des Saarlandes
Isolation der in die innerfranzösische Opposition gedrängten Gaullisten zu verhindern. 20 Zu den Beziehungen zwischen dem CEDI und der Paneuropa-Union vgl. Conze, Das Europa der Deutschen (Anm. 2), S. 202–204.
Auf dem Jakobsweg
Die Teilnehmer der CEDI-Jahrestagung von 1965 vor der Kathedrale von Santiago de Compostela. Aus: Gaupp-Berghausen, 20 años C.E.D.I. (Anm. 2), S. 470.
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L’ART DE VIVRE EN AQUITAINE UNE IDENTITÉ RÉGIONALE? (SYLVIE GUILLAUME)
Nombreux sont les historiens qui concluent à la non existence d’une identité aquitaine si ce n’est peut être dans son art de vivre1. Ainsi peut-on lire dans Le Guide du Routard: «Si le sous-sol, désespérément démuni en matières premières, a découragé l’industrialisation massive, le sol, en revanche, fournit près de la moitié des produits fins de France. Faut-il y voir les raisons d’un goût immodéré pour les plaisirs de la table qui font des hommes du sudouest des chasseurs de palombes, des châtelains de grands crus ou des cueilleurs de cèpes? ‘Bonne cuisine et bons vins, c’est le paradis sur terre’, proclamait déjà Henri IV. Le climat qui baigne la région lui donne facilement raison.»2
Ainsi l’art de vivre aquitain serait-il le seul marqueur identitaire d’une région qui n’a pas d’unité historique, géographique ou économique? Un art de vivre qui reposerait sur un patrimoine matériel et immatériel acquis depuis des siècles tel le vignoble ou la gastronomie, des traditions sportives comme la pelote basque ou le rugby, ou encore très hypothétiquement une langue. Mais ce patrimoine s’identifie davantage à des «pays» qu’à une région. La diversité peut être source de richesse et ce patrimoine constitue aujourd’hui paradoxalement un atout majeur dans une région qui manque de dynamisme industriel et qui est fragilisée par des infrastructures insuffisamment développées. Le développement du tourisme vert, balnéaire ou encore urbain et culturel semble en témoigner faisant de l’Aquitaine une région attractive. FRAGMENTATION D’UNE IDENTITÉ RÉGIONALE La région Aquitaine est une entité administrative créée par les lois successives de 1955, 1960, 1972 et 1982 dans le cadre d’une politique de décentralisation et de régionalisation pour pondérer les effets d’un Etat centralisateur et jacobin à la française mais elle n’a pas de fondements historique, géographique ou économique. L’historien médiéviste Charles Higounet, directeur de la collection «Histoire de Bordeaux» et «Histoire de l’Aquitaine» écrit: «Il n’existe pas une Aquitaine, mais il y a eu tant d’Aquitaines, d’Auguste à la Cinquième République, qu’il était impensable de pouvoir enserrer une histoire dans une notion territoriale aussi fluctuante» 1 2
Anne-Marie Cocula, Michel Figeac, Sylvie Guillaume, Philippe Loupès (Hrsg.), Entre tradition et modernité, l’identité aquitaine, Mélanges offerts à Josette Pontet, Bordeaux 2007. Voir en particulier la contribution de Pierre Guillaume, L’impossible singulier, p. 356–363. Le guide du routard, Aquitaine, version 2002.
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Sylvie Guillaume
En effet alors que Jules César limite l’Aquitaine à la Garonne, Auguste crée la province Aquitania allant des Pyrénées à la Loire jusqu’aux frontières de la Narbonnaise. Le nom «Aquitaine» pendant la période médiévale est attaché à Aliénor, une poitevine pourtant mais dont les Aquitains revendiquent comme leur, alors qu’elle apporta ses immenses terres à son premier époux Louis VII en 1137 puis en 1152 à son second époux Henri II Plantagenêt, duc d’Anjou et roi d’Angleterre. Les terres aquitaines «Guyenne» et «Gascogne» sont disputées entre les couronnes de France et d’Angleterre et seul le Prince Noir installé à Bordeaux de 1362 à 1371 semble réaliser une unité. Ravagées par la Guerre de Cent ans, ces terres sont rattachées au Royaume de France après la bataille de Castillon en 1453 au grand dam des Bordelais qui préféraient la présence anglaise et dont il leur reste des comportements et des pratiques sportives. Mais le pouvoir royal a fort à faire avec ces sujets qui n’ont d’aquitains que le nom, hâbleurs et divisés, ancrés dans leurs terroirs (d’Artagnan est gersois et Cyrano périgourdin). C’est en partant de l’Aquitaine qu’Henri de Navarre, protestant et futur Henri IV conquiert le royaume. A l’époque moderne, le pouvoir royal est contesté par «ces Messieurs de Bordeaux» réunis au Parlement de la ville et fort jaloux de leurs prérogatives. Les excès révolutionnaires sont condamnés par ceux que l’on appelle les «girondins» tel Vergniaud. Mais si ceux-ci paient de leur tête l’opposition aux Montagnards, ils n’en ont pas moins laissé à la postérité l’expression «girondinisme» qui signifie modération et réformisme pour ne pas dire opportunisme. Cette modération caractérise les tempéraments politiques jusqu’à nos jours ce qui n’exclue pas de temps à autre l’explosion de fièvres comme le boulangisme. C’est ainsi que Bordeaux se rallie à la monarchie dès 1814 et qu’elle devient par tempérament profondément attachée à l’orléanisme, ce qui explique aussi son républicanisme modéré à partir de 1871. Le poids politique des centres est considérable sous la Troisième République. Armand Fallières, président de la République de 1906 à 1913 est un exemple de cette modération. Il faut attendre les années 1930 pour constater la radicalisation des combats électoraux. «Capitale tragique» de la France en 1870, Bordeaux l’est de nouveau en 1914 et en 1940 car très éloignée du front et disposant de structures d’accueil. Mais la vie politique de l’Aquitaine manque d’unité. Les départements de Dordogne et du Lot et Garonne basculent à gauche et il s’y développe même un communisme rural pendant que les Basses-Pyrénées devenues Pyrénées-atlantiques sont à droite. Bordeaux est marquée par le présidentialisme municipal avec successivement la période Marquet, un socialiste devenu néo-socialiste et maire de la ville de 1934 à 1944 puis, après la guerre, avec Jacques Chaban-Delmas, résistant, radical et gaulliste ce qui permet aux notables de se faire pardonner des compromissions avec le régime de Vichy et enfin à partir de 1995 avec Alain Juppé. Mais l’Aquitaine n’est pas une terre de gaullisme référendaire et l’antigaullisme y est fort développé malgré l’étiquette du maire de Bordeaux3. L’Aquitaine a fortement contribué à l’élection présidentielle du candidat socialiste François Mitterrand en 1981. La région aquitaine administrativement parlant est elle aussi marquée par la personnali3
Pierre Guillaume (Hrsg.), Gaullisme et antigaullisme en Aquitaine, Bordeaux 1990.
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sation du pouvoir avec le socialiste Alain Rousset président de région à partir de 1998. L’Europe des régions a-t-elle contribué à forger une identité régionale en Aquitaine? Rien n’est moins sûr. On voit au contraire le sud de l’Aquitaine de plus en plus attiré par une région limitrophe, Midi-Pyrénées et sa capitale Toulouse et des liens se tisser entre le pays basque français et le pays basque espagnol pendant que l’Aquitaine du nord reste davantage tournée vers l’Atlantique.4 L’Aquitaine n’a pas non plus d’unité économique. Le XVIIIe siècle est qualifié d’âge d’or à cause de la prospérité de Bordeaux fondée sur le vignoble et le négoce (commerce sucrier et traite négrière); les industries de l’arrière pays sont liées à ce négoce (tonnellerie, cordages voilages dans la moyenne Garonne, forges et forêts du Périgord, moulins de Nérac) pendant que le port de Bayonne et le pays basque conservent une relative autonomie par rapport à Bordeaux. Cet âge d’or qui impressionne des voyageurs comme l’Anglais Arthur Young à la fin du siècle est très ancré dans la mémoire collective comme en témoigne l’abondance des travaux sur ce siècle et l’insistance appuyée pour mieux faire oublier les difficultés actuelles. Les mutations du XIXe siècle sont importantes avec l’implantation d’une grande industrie chimique et métallurgique à Bordeaux à la fin du siècle, avec le reboisement des Landes qui en fait un pays plus sain et plus rentable, avec le développement de la viticulture marquée cependant par la grande crise du phylloxéra. La polyculture règne néanmoins dans l’arrière pays. Au XXe siècle, de nouvelles activités se développent surtout après la deuxième guerre mondiale avec, en particulier, la découverte de gisements de gaz à Lacq, près de Pau et autour de Bordeaux les industries aéronautique, aérospatiale et automobile. Mais aujourd’hui, ces industries sont toutes fragilisées; même les raffineries dans l’estuaire qui avait suscité de grands espoirs ont fermé dans les années 1980 et l’avant-port du Verdon qui aurait dû se substituer au port de Bordeaux n’a jamais tenu ses promesses. La crise des années 1970 toucha les industries traditionnelles comme l’agro-alimentaire et l’habillement et on assiste à une désindustrialisation au profit du secteur tertiaire dynamisé par le tourisme. Le secteur agricole est lui aussi en difficulté, la forêt landaise, avec la dévaluation de la résine, est moins rentable, la polyculture s’est effondrée au profit du maïs et si les grands crus résistent grâce à une forte demande de pays comme le Japon, la Chine ou l’Inde les petits bordeaux sont concurrencés par les vins chiliens, australiens et même par les vins des pays de Loire ou du Midi. L’exploitation des grands vignobles est de plus en plus entre les mains de grandes sociétés comme AXA et d’investisseurs étrangers. Le célèbre quartier des Chartrons, lieu du négoce du vin avec les appartements au premier étage et les chais au rez de chaussées, est en pleine rénovation mais ce sont désormais les «bobos» bordelais ou étrangers à la ville qui l’habitent.
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Guillaume, Sylvie, La République et l’Europe des régions, dans Cocula, Figeac, Guillaume, Loupès (Hrsg.), L’identité aquitaine (Anm. 1).
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Sylvie Guillaume
II. UNE POLITIQUE PATRIMONIALE QUI COMPENSE LE MANQUE D’UNITÉ Cependant la fragmentation qui fut un frein au développement et à l’identité régionales peut être aussi un facteur positif dans de nouvelles logiques fortement liées à la valorisation des terroirs et des traditions en opposition à la mondialisation. Bordeaux donne l’exemple lorsque les édiles municipaux, constatant la faillite de leur port et n’ayant pas tenté de le redynamiser, prennent modèle sur des villes américaines comme Toronto ou Chicago pour substituer aux friches industrielles et portuaires des espaces verts de loisirs pour les promeneurs et les amateurs de vélos ou de rollers. Les Bordelais ravis redécouvrent leur fleuve qui était complètement masqué par des hangars sordides. Bordeaux a nettoyé ses façades malgré les réticences de beaucoup de ses citoyens, restaure non sans mal des immeubles dégradés et offre à ses habitants un tramway ultra moderne qui permet de limiter l’utilisation de la voiture de toute manière interdite chaque premier dimanche du mois. Bordeaux est devenue une ville musée suscitant de la part des Bordelais des commentaires contrastés mais ville attractive, inscrite depuis 2007 au Patrimoine mondial de l’UNESCO. L’arrière pays fort diversifié entre le Périgord au passé fort riche, les Landes a priori déshéritées par leur paysage monotone mais qui attirent par leurs grands espaces, et toute la côte atlantique du bassin d’Arcachon à la côte basque en passant par les plages du grand océan dans les Landes, tirent également profit de ce qui aurait pu être considéré il y a un demi siècle comme des inconvénients. Les archaïsmes deviennent ainsi modernité, les traditions curiosité à cultiver, l’espace une force. L’art de vivre aquitain revisité par des préoccupations actuelles est bien en ce sens un marqueur identitaire au service d’une région aussi fragmentée soit-elle. Il relève très largement d’une construction identitaire qui compenserait l’absence d’identité territoriale, historique, politique ou économique de l’Aquitaine et qui s’appuie sur un patrimoine riche. Vin et vignobles font très certainement partie de ce patrimoine. Pour beaucoup d’étrangers, Bordeaux est immédiatement associée aux vins de Bordeaux, à ses châteaux du Médoc ou encore aux propriétés de Saint-Emilion. Le vin et la civilisation du vin sont tellement intériorisés qu’on n’imagine pas encore de nos jours d’organiser une manifestation, un colloque scientifique sans en faire un thème majeur. De même, à Bordeaux, on compose un repas toujours à partir des vins choisis par le maître de maison. Servir et goûter et non pas boire le vin obéit à un rituel immuable qui s’enrichit d’un vocabulaire complexe que seuls les initiés comprennent. La prédominance viticole est ancienne (Ausone) tellement bien qu’un officier de finances s’était écrié en 1766: «Ce pays est trop couvert de vignes» mais les propriétaires aquitains ne veulent pas l’entendre malgré les périodes de mévente. Le parlementaire Cazeaux-Cazalet, propriétaire-viticulteur de Cadillac, qui présida en 1907 une commission parlementaire chargée d’étudier les causes de la crise viticole en France après l’agitation du Midi prend soin de distinguer la production «naturelle» de la production «artificielle» due aux pratiques abusives du sucrage et du mouillage. Celle-ci, qui est la seule cause, à ses yeux, de
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la surproduction responsable de la baisse des cours, doit être punie; il n’est donc pas question de songer à une diminution du terroir viticole en tout cas dans le Bordelais. La crise du phylloxéra à la fin du XIXe siècle concentra la vigne au nordouest de l’Aquitaine mais des îlots viticoles du sud et de l’est de la région reprennent vitalité après la deuxième guerre mondiale. Si l’essentiel du vin de Bordeaux relève des cépages cabernet et sémillon, l’essor des vins du sud ont des cépages spécifiques comme le tannat pour le rouge. Mais Jean-Claude Hinnewinkel évoque: «un socle commun de valeur, une identité culturelle de l’Aquitaine à travers ses traditions, son patrimoine vitivinicole mais aussi sur le rôle de la place de Bordeaux».5 On songe alors à la place omniprésente du château dans la réalité comme dans les esprits qui est une construction sociale au même titre que le vin du terroir. Mais si le vin d’Aquitaine est avant tout du bordeaux puis du bergerac, il n’est pas que cela et on peut citer le tursan dans les Landes, le vignoble d’Irouléguy dans le Pays Basque qui ont un ancrage territorial identifiable pendant que le Madiran est à cheval sur les départements du Gers, des Pyrénées atlantiques et des Hautes Pyrénées. Tous ces vins rencontrent des difficultés pour s’imposer face aux vins de Bordeaux d’où la création par exemple en 1997 du Comité interprofessionnel des Vins du sud-ouest, CIVSO, qui regroupe 14 appellations de la région Midi-Pyrénées et de l’Aquitaine. Le Centre régional des Vins d’Aquitaine qui, comme son nom l’indique, s’identifie à la région Aquitaine, est une association interprofessionnelle suscitée par le Conseil régional en 1993. Pour celui-ci, le vin a une image valorisante et il convient de canaliser et de fédérer les intéressés mais cette volonté se heurte aux syndicats d’appellation qui restent encore campés sur des logiques de terroirs locaux et cherchent plus à développer des niches actuellement porteuses qu’à nouer des alliances qu’ils jugent souvent hasardeuses.6 On ne peut donc que souligner la complexité des problèmes et le concept commercial de «vins du sud-ouest» est préféré à celui de «vins d’Aquitaine». L’ambition identitaire vitivinicole au niveau régional est donc loin d’être acquise. La cuisine est un autre marqueur identitaire important de la culture matérielle. Là encore, on parle davantage de la cuisine du Sud-Ouest que d’Aquitaine. Celleci a incontestablement envahi les cartes des grands et plus petits restaurants et elle rivalise en notoriété avec la cuisine lyonnaise à l’identité plus ancienne. Ce décalage tient largement au fait que la cuisine du Sud-Ouest était considérée comme une cuisine paysanne, plutôt indigeste et basée sur des produits de terres déshéritées comme la châtaigne dans le Périgord ou la morue dans le Pays basque. Mais comme pour le vin, les élites ont joué un rôle dans l’affirmation de l’identité de la gastronomie du sud-ouest. C’est un mélange de produits du terroir comme les vo5
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Hinnewinkel, Jean-Claude, La culture de la vigne en Aquitaine, mythes et réalités , dans Cocula, Figeac, Guillaume, Loupès (Hrsg.), L’identité aquitaine (Anm. 1), p.144. Voir aussi Roudié, Philippe, Vignobles et vignerons du Bordelais (1850–1980), Paris 1988. Ou encore Figeac, Michel, La douceur des Lumières. Noblesse et art de vivre en Guyenne au XVIIIe siècle, Bordeaux 2001. Hinnewinkel (Anm. 5), p.153.
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lailles, les confits et de produits «exotiques» venus des horizons lointains comme le thé, le café ou le chocolat. La spécificité de la cuisine du Sud-Ouest repose sur le foie gras mais celui-ci a une histoire complexe comme le montre Philippe Meyzie: «A partir du milieu du XVIIIe siècle, le pâté de Périgueux ou du Périgord devient dans l’imaginaire gastronomique des élites un pâté à base de foie gras alors que les traiteurs périgourdins continuent de préparer des pâtés de perdrix aux truffes jusque dans les années 1780. L’utilisation de foie gras dans les pâtés ne s’établit vraiment qu’à partir de 1820–1830».7
On a bien ici l’exemple d’une reconstruction, par les élites locales puis parisiennes, qui est éloignée des pratiques alimentaires locales. Mais qu’importe puisque commercialement cette gastronomie «exportée» est rentable. On a aussi plus récemment l’exemple du magret de canard qui, pas plus que la tartiflette en Savoie, était une tradition gastronomique locale mais qui s’est imposé au goût du consommateur grâce à une bonne publicité. La cuisine régionale est quelles que soient ses origines, évolutive à partir d’un fonds commun dont la cuisson à l’huile ou le«gras», la primauté de l’ail et le goût pour les volailles en sont ici les éléments. Il est facile en des temps qui revendiquent le retour au terroir face à l’homogénéité de mettre au goût du jour les produits du Sud-Ouest. On construit ainsi un patrimoine gastronomique régional par delà des spécificités locales comme le jambon de Bayonne, les cèpes et les truffes du Périgord, les huitres d’Arcachon, le foie gras disputé par le Périgord ou les Landes sans jamais parler de l’Alsace, la lamproie à la bordelaise. La consommation de ces produits identitaires renforce ainsi l’idée d’une région où l’on mange bien. Le goût des Aquitains pour le gibier découle de la pratique de la chasse qui n’est pas spécifique à la région mais qui contribue aussi à la construction identitaire. En effet ce qui était nécessité pour diversifier une alimentation pauvrement carnée puis simple passe temps est devenu un enjeu politique de premier ordre. Les chasseurs de tourterelle du Médoc s’opposent aux écologistes qui entendent mieux réglementer pour ne pas dire interdire le droit de chasse. Pour défendre ce qu’ils estiment être leur liberté individuelle et leurs traditions, les chasseurs constituent des listes Chasse, Pêche et Tradition auquel s’ajoute le terme Nature, CPNT. Ces listes recrutent tout particulièrement dans trois ensembles, le Médoc, la haute Gironde et ses confins landais et lot et garonnais, pays du chevreuil, et les terres basque et béarnaise, domaines de la chasse à la palombe. La chasse d’abord présentée comme un art de vivre s’enrichit d’un vocabulaire mieux adapté aux circonstances; les chasseurs se disent être eux aussi les protecteurs de la biodiversité et de l’écosystème par leur connaissance de la nature. Les sports comme la pelote basque ou le rugby sont également des marqueurs identitaires. Ce dernier est présent dans tous les départements d’Aquitaine. « C’est le rugby des villages, tant vanté, véritable creuset d’identification locale et d’appartenance régionale»8 mais comme le note Alexandre Fernandez, il dépasse les cinq départements de l’Aquitaine pour s’étendre dans le Midi et s’il est bien pré7
Meyzie, Philippe, La table du Sud-Ouest et l’émergence des cuisines régionales 1700–1850, Rennes 2007, p. 360.
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sent dans le sud, il est en concurrence avec le football dans le nord en particulier avec les «Girondins» de Bordeaux. La popularité du maire Chaban-Delmas se nourrit de son passé de rugbyman mais c’est sous son mandat que le club de football les «girondins» de Bordeaux a eu son heure de gloire au prix d’ailleurs d’un coût exorbitant. De même la tauromachie est très présente dans les arènes en particulier du sud de la région mais on y distingue les célèbres courses des vaches landaises des corridas avec mise à mort, pratiquées à Bayonne ou à Floirac. Ces manifestations attirent aussi beaucoup d’étrangers à la région qui voient surtout l’occasion de faire la fête sans se préoccuper aucunement d’une construction identitaire. C’est ce que déplorent ainsi les Bayonnais ou les Montois qui ne voient pas toujours d’un bon oeil cette affluence de quelques jours d’une jeunesse éméchée. La langue n’est pas non plus un facteur identitaire déterminant car il n’existe pas d’unité linguistique. Si le basque est bien différencié et de plus en plus enseigné, les autres langues ont un statut moins enviable; on s’interroge de savoir si le gascon est une langue ou un dialecte occitan.9 Tous les socio-linguistes ne partagent pas la vision de Robert Escarpit qui constate l’affirmation d’une identité gasconne dans une communauté culturelle occitane. Ainsi donc la grande diversité pour ne pas dire la fragmentation de plusieurs éléments de la culture matérielle et immatérielle ne permettent pas de conclure à une identité régionale. Par contre, on peut affirmer qu’un certain art de vivre très largement construit et reconstruit a contribué à la valorisation du secteur touristique aquitain et celui-ci n’est pas une réalité récente. Médecins et hygiénistes depuis la fin du XIXe siècle ont vanté le climat, les espaces et l’art de vivre aquitains pour inciter les personnes malades de phtisie ou simples convalescents à en tirer le plus grand profit.10 L’inauguration de la ligne de chemin de fer Bordeaux-La Teste en 1841 puis de la section La Teste-Arcachon en 1857 grâce aux investissements des frères Péreire fait d’Arcachon une station climatique fréquentée. Le Casino mauresque puis la construction de la Ville d’hiver en fit aussi un lieu de divertissement pour les élites. Le «Bassin» comme disent les Bordelais est de nos jours un véritable lieu de sociabilité avec ses rituels (les pique-niques au banc d’arguin avec l’inévitable salade de riz). Il est cependant concurrencé par la côte basque, la ville de Bayonne, la station chic de Biarritz ou encore le port de Saint-Jean de Luz mais les grands espaces océaniques en bordure du département des Landes attirent eux aussi les amateurs de baignades ou de sensations plus fortes avec le développement du surf. La clientèle n’est pas seulement régionale mais nationale et internationale. Se pressent dans les campings en pleine nature ou dans les hôtels des Allemands, des Belges, des Néerlandais à partir des années 1970. L’arrière-pays a su lui aussi valoriser son patrimoine en attirant Britanniques et Néerlandais. C’est 8
Fernandez, Alexandre, Du ballon ovale et des taureaux comme marqueurs identitaires , dans Cocula, Figeac, Guillaume, Loupès (Hrsg.), L’identité aquitaine (Anm. 1), p. 338. 9 Viaut, Alain, La représentation du gascon en Aquitaine “ dans Cocula, Figeac, Guillaume, Loupès (Hrsg.), L’identité aquitaine (Anm. 1), p. 237. 10 Guillaume (Anm. 3).
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sur le marché de Sarlat en Périgord que l’on vend en anglais cèpes et foies gras, c’est grâce à cette clientèle étrangère que les petits villages revivent, ouvrent même des écoles et que les maisons et jardins sont fleuris. Car ces touristes deviennent vite résidents et tous ne sont pas retraités. Qui aurait pu penser il y a une dizaine d’années que la ville de Bergerac dans le Périgord allait avoir un aéroport rentable fréquenté par les lignes low coast qui assurent des vols directs avec le Royaume-Uni en particulier? L’identité même culturelle d’une région, on le voit, doit beaucoup à l’imagination et à l’innovation des protagonistes qui profitent ainsi des effets de mode sur le retour au terroir pour faire d’une région multiforme et composite «un paradis sur terre» comme le proclamait Henri IV? Ce qui était un handicap – manque de développement industriel – devient incontestablement un avantage aujourd’hui. Prof. Dr. Sylvie Guillaume, Professeur d’histoire contemporaine, Université de Bordeaux 3, Membre Institut universitaire de France
NACH LOURDES PILGERN IM MAI 1947 SAARKATHOLIKEN IN SUPRANATIONALER MISSION
(J UDIT H HÜSER)
GROSSER BAHNHOF FÜR DIE ERSTE TOUR Über 4000 Anmeldungen waren allein bis Anfang März eingegangen. Der Ansturm überstieg die Erwartungen der französischen Initiatoren um ein Vielfaches. Eine wahre Reisebegeisterung schien an der Saar ins Rollen zu kommen. Die Veranstalter hätten sich auch mit einer Mindestzahl von 600 Teilnehmern auf den Weg gemacht. Nun begrenzte das maximale, bis auf den letzten Sitzplatz ausgeschöpfte Kontingent die Mitfahrmöglichkeiten: 700 Saarländer konnten sich schließlich am Mittag des 28. Mai 1947 auf dem Saarbrücker Bahnhof einfinden.1 Letzte Formalitäten wurden abgewickelt, hier und da die mit Nummern markierten Waggons nebst Gruppenführer zugewiesen. Perfekt französisch sprechende Mitreisende bat man im Interesse der Gruppe um Mitarbeit und diejenigen, die gut bei Stimme seien, um Meldung beim Chorleiter. Jeder Einzelne empfing von der saarländischen Reiseleitung ein Abzeichen in Form einer kleinen Anstecknadel. Dazu wurde ein Büchlein gereicht mit Gebeten und Gesängen sowie Verzeichnis der Teilnehmer, Verhaltensregeln im Zug und detaillierter Tagesordnung vor Ort, das auf der Fahrt Orientierung und nach der Fahrt ein „liebevolles Andenken“ bieten sollte. Um die Reisenden gleichsam Novizen einer neuen politischen Saar-Mission zu entsenden, gab sich ein beachtliches Aufgebot an offiziellen Repräsentanten Frankreichs und der Saar gegen 13 Uhr auf dem Quai ein Stelldichein. Vertreter von Presse und Radio verbreiteten die Kunde vom großen Bahnhof an die Daheimgebliebenen im ganzen Land. Diese erste „Tour de France“, von der französischen Besatzungsmacht noch vor Bildung einer französisch-saarländischen Wirtschaftsunion auf den Weg gebracht, bot sich der deutschen Saarbevölkerung als Pilgerfahrt an. Mit 75 Prozent Konfessionsanteil repräsentierten die Katholiken die Großgruppe im stark dörflich-parochial strukturierten Montanrevier und die Zielgruppe des Reiseunternehmens. Angekündigt vom Gouverneur de la Sarre in der Weihnachtszeit 1946 als eine „message dǥ avenir et dǥ union“ und über Zeitungen und Aushänge in den Kirchen publik gemacht, ließen sich die Saarkatholiken spontan von Reiselust in „Mariens Namen“ packen und machten sich auf nach Lourdes, der „Stadt der Unbefleckt Empfangenen“ am Fuße der „mit ewigem Schnee und Eis bedeckten Pyrenäen“. Seit 1858, seit den Erscheinungen, die sich der damals 14-jährigen Müllerstochter Bernadette Soubirous in ihrem gaskognischen patois als „Immaculada Councepciou“, als das Dogma Pianischer Frömmigkeit, offenbarte, erfuhr der rasch kirchlich anerkann-
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MAE Z 1944–1949 Sarre 31, Aumônier Stutzmann, Conseiller ecclésiastique du Gouvernement Militaire de la Sarre an Gouverneur Gilbert Grandval, Rapport sur le projet du pélérinage, 6.3.1947.
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te Gnadenort einen rasanten Ausbau zum größten marianischen Pilgerzentrum Europas. Die Route in den Süden Frankreichs führte die Pilgerschar durch Saargemünd, Straßburg, Mülhausen, an Belfort, Besancon, Dôle, Villefranche vorbei, nach Lyon, Valence, Avignon, dann abbiegend in den Südwesten – teils entlang der Mittelmeerküste – über Tarascon, Nîmes, Lunel, Sète und Toulouse zum Reiseziel kurz vor der spanischen Grenze. Die Gegend habe schon in den Kämpfen Karls des Großen gegen die Sarazenenfürsten eine große Rolle gespielt, der letzte Burgherr habe sich bekehren lassen und das Gelände der Gottesmutter geweiht, war historisch kenntnisreich in der Pilgerinformation zu lesen. Das Saar-Lourdes-Pilgerkomitee organisierte bereits die 17. Wallfahrt seit den Anfängen im Jahre 1923.2 In der Zwischenkriegszeit stand Straßburg Modell, dort hatte ein saarländischer Kohlehändler mit seiner französischen Ehefrau an der Bistumswallfahrt teilgenommen. Die Saarpilgerzahl stieg rasch derart an, dass im erstmals vom Völkerbund eingegrenzten „Saargebiet“ ein eigener Pilgerzug nötig wurde und ein selbstständiges Organisationsbüro mit Geistlicher Leitung, die der Trierer Bischof als Dienstherr auch genehmigte. Grenzraum als Interferenzraum und internationaler politischer Sonderstatus beförderten gleichermaßen deutsch-französischen Kulturkontakt und saarländische Eigenständigkeit. Rückgliederung, nationalsozialistische Verbotspraxis und Zweiter Weltkrieg hatten nach 1935 nur noch einige Wallfahrten zur deutschen Marienstätte Altötting zugelassen, bis auch diese eingestellt werden mussten. Nach Lourdes im Mai 1947 zu pilgern bedeutete kein unbekanntes Terrain zu betreten, vielmehr Vertrautes zu erreichen und Tradition wieder aufzunehmen. Kein Beten mit Füßen, keine mehrwöchige Fußwallfahrt galt es zu bewältigen. Drei Tage Zugreise – dritter Klasse, um die Gesamtkosten von 600 Mark pro Person erschwinglich zu halten – waren einzuplanen und vier Tage ganz dem Aufenthalt am französischen Gnadenort zu widmen. Zahlreiche Gottesdienste in den großen Basiliken und mehrere Prozessionen zu den Kultstätten um die Grotte der Marienerscheinung erwarteten in einem stets gleich geregelten Ablauf die Pilger bei Tag und in der Nacht. Ein kleines Besichtigungsprogramm am Ort bot sich an, das Haus der hl. Bernadette und das Kloster, in dem sie erzogen wurde. Sehenswert sei auch die Stadtkirche, das Diorama und das Schloss. Weiteres sei buchbar, aber man sei ja kein „Ausflügler“. PILGERSCHAFT UND BOTSCHAFT: DER RUCKSACK WIRD NEU GESCHNÜRT Der französische Saargouverneur, gefolgt von Offizieren der Militärregierung, war in Begleitung des Vorsitzenden der saarländischen Verwaltungskommission gekommen, diesen ersten Pilgerzug nach Kriegsende in einer feierlichen Zeremonie zu verabschieden.3 Pfarrer Greif begrüßte als geistlicher Leiter der Pilgerfahrt die Delegation und dankte Gilbert Grandval in französischer Sprache für die Unterstützung. Der 2 3
Zum Saar-Lourdes-Pilgerkomitee: Privatnachlass Pfarrer Greif, Gersweiler. MAE Z 1944–1949 Sarre 31, Traduction de la cérémonie du départ du premier train de pélérinage pour Lourdes, transmission de Radio Sarrebruck, 28.5.1947.
Nach Lourdes pilgern im Mai 1947
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Priester der kleinen nordsaarländischen Gemeinde Brotdorf, im Volksmund wegen seiner bekannten Francophilie auch Abbé Greif genannt, verwies auf den moralischen Mehrwert des Pilgerzieles, in welchem Maße diese Wallfahrt einen Schritt nach vorne in der gegenseitigen Verständigung der beiden Völker darstelle. Das „Bienvenu“ seiner Amtsbrüder, aus dem Lourdeser Pilgerbüro als Buchungsbestätigung gesandt, sammelte er wie Prätiosen auf diesem Weg. Auch der saarländische Kommissionspräsident Erwin Müller, Katholik und Mitglied der Christlichen Volkspartei Johannes Hoffmanns, richtete Dankesworte an Colonel Grandval, in denen zum Ausdruck kam, wie wenig selbstverständlich eine solche Frankreichreise für Deutsche zu diesem frühen Zeitpunkt sei. Zwei Jahre nach dem schrecklichsten aller Kriege habe dieser seiner saarländischen Heimat Gelegenheit gegeben, durch Pilger in Frankreich repräsentiert zu werden. Und an die Saarwallfahrer adressiert rief er aus, zur Jungfrau von Lourdes zu beten, auf dass der Frieden erhalten bleibe, und im Gebet gestärkt an die Saar zurückzukehren. Anschließend ergriff der Gouverneur das Wort und betonte, wie glücklich er sei, die ersten saarländischen Pilger auf dem Weg nach Lourdes zu sehen. Im Laufe der letzten beiden Jahre sei viel getan worden, um die Lebensbedingungen des saarländischen Volkes zu verbessern, und es bliebe noch viel zu tun in der Zukunft. Die Lourdeswallfahrer forderte der französische Katholik daher auf, in ihren Gebeten den himmlischen Beistand zu erflehen, ohne den nichts Wirklichkeit werde. Er sei sich gewiss, dass die Pilger unterwegs in Gedanken bei ihnen seien, und fühle sich dadurch gestärkt in seiner Arbeit „pour le bien de la Sarre, de la France et de la Paix“. Dann unterhielt er sich in Begleitung seines Dolmetschers mit einigen Kranken, die bei der Jungfrau von Lourdes Heilung erbeten wollten. Die Botschaften wurden auf dem Bahnsteig ausgetauscht und medial weithin zu Gehör gebracht. Der Vertreter Frankreichs an der Saar wollte es nicht versäumen, zusammen mit dem saarländischen Verwaltungspräsidenten das besondere gemeinsame Anliegen den Pilgern ins mentale Gepäck zu geben. Dort kollidierte das neue politische Credo mit den ganz frischen Eindrücken zweier Hirtenbriefe des Trierer Bischofs. Im Abstand von nur sechs Wochen hatte der für den größten Teil des Saarlandes zuständige Bistumschef sie zur Kanzelverlesung gebracht, nachdem der Entnazifizierungsprozeß an der Saar abgeschlossen war. Der erste, am 30. März, an Palmsonntag verkündet, richtete sich unmittelbar an die „lieben Saardiözesanen“ und klagte die „Vaterlandsliebe“ als christliche Pflicht ein. Erzbischof Franz-Rudolf Bornewasser, gleichsam Hauptbetroffener eines Saarbistums und erster deutscher Opponent gegen jegliche Saarabtrennung, trieb zu diesem frühen Zeitpunkt eine doppelte Spitze in das Land: Die französische Militärregierung sah sich argumentativ geschlagen mit der „32. Lektion des“, so Bornewasser, „vorzüglichen französischen Katechismus“ über die Liebe, die es dem Vaterland entgegenzubringen gelte. Diese „warme“ und „innige“ Darstellung ende im übrigen mit der Abbildung einer Tricolore. Und den saarpolitisch Verantwortlichen haftete künftig das kirchliche Verdikt des „Separatismus“ an, der umso verwerflicher sei, als er aus wirtschaftlicher Opportunität hervorgehe. Der zweite, am 15. Mai, an Christi Himmelfahrt verlesene Hirtenbrief war zunächst von der Zensur verboten aufgrund kritischer Vergleiche der aktuellen französischen Besatzung mit dem Völkerbund-
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mandat der Zwischenkriegszeit, dann in Teilen freigegeben worden. Erzbischof Bornewasser gab einen „Rückblick auf 25 Bischofsjahre“, in denen er treu zu seinen Diözesanen gestanden habe, wie diese auch ihrem Oberhirten die Treue gehalten hätten. Das Kirchenhaupt bekräftigte den Bistumszusammenhalt mit einer langen Tradition und band das Gewissen der Saarkatholiken an eine nationalstaatliche Einheit. Zahlreiche Briefe von Saarkatholiken waren daraufhin in Trier eingegangen. Der Bischof könne ihnen keine Arbeit geben, meinten die Verfasser kritisch. Und schon 1935 sei der damalige Hirtenbrief ein schlechter Ratgeber gewesen. Nach Ablauf des 15–jährigen Völkerbundmandates war es um die Abstimmung über einen Status quo gegangen, eine Rückkehr zu Deutschland oder eine Angliederung an Frankreich. Knapp zwei Jahre nach Hitlers Machtergreifung hatten über 90 Prozent der Stimmberechtigten des Saargebietes für eine Rückkehr zu Deutschland gestimmt, nicht zuletzt, weil der Trierer Bischof klar zugunsten der „Vaterlandsliebe“ Stellung genommen hatte. Das politische Koordinatensystem der „Saarfrage“ schien sich 1947 in der neuen Besatzungssituation zu verschieben. Für die „Brotfrage“ machte Frankreich Angebote, in der deutschen Zusammenbruchsgesellschaft war die „nationale Frage“ weniger zentral, und auch in der „Christusfrage“ schien transnationale Bewegung möglich.4 ATTRAKTION UND VEHIKEL: „LA FRANCE RELIGIEUSE, LA DOULCE FRANCE“ Konzipiert als „train de pélérinage de démonstration“, sei der Pilgerzug Bestandteil der umfassenden französischen Anstrengungen, „pour faire briller la France dans son attirante beauté“. Gerade das Religiöse müsse dabei „supra-national, ou universel“ sein, erläuterte der kirchliche Berater der Militärregierung sein Projekt. Ausgerichtet auf das übergeordnete Leitziel der Sicherheits- und Umerziehungspolitik, war dieses Kulturkonzept neben dem „coup de force“ in der kirchlichen Kontrollfrage der zweite wichtige Pfeiler französischer Religionspolitik, dem Saargebiet seine „moralische Gesundheit“ wiederzugeben5. Denn an der Saar, so Abbé Stutzmann, der mit Grandval aus dem lothringischen Widerstand gekommen war, werde Religion von den feindlichen Milieus wie ein Bollwerk gegen jeglichen französischen Einfluss benutzt. Direkter Kontakt mit „la France religieuse“ könne da eine Bresche 4
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Ausführlich: Hüser, Judith, Saarkatholiken auf dem Sonderweg? Kirche und Konfession, Nation und Europa in einem deutsch-französischen Grenzland (1919–1959), in: Bernhard Schneider und Martin Persch (Hrsg.), Beharrung und Erneuerung 1881–1981, Geschichte des Bistums Trier, Bd.V, Trier 2004, S. 671–697. Zur französischen Religionspolitik an der Saar: Hüser, Judith, Kirche, Konfession, Religiosität und saarländische Nachkriegspolitik: Zwischen „Klischee“ und „Wandlung“, in: Rainer Hudemann, Burkhard Jellonnek, Bernd Rauls (Hrsg.), Grenz-Fall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1945–1960, St. Ingbert 1997, S. 225–238. Zur Planung eines autonomen Saarbistums, das deutsche und französische Geistliche integrieren sollte: dies., Saarkirche – nationales Band oder transnationales Modell? Politischer Neubeginn und kirchliche Struktur im deutsch-französischen Grenzraum, 1945–1955, in: Rainer Hudemann und Alfred Wahl (Hrsg.), La Lorraine et la Sarre depuis 1871: Perspectives transfrontalières – Lothringen und Saarland seit 1871: grenzüberschreitende Perspektiven, Metz 2001, S. 157–173.
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schlagen, den religiösen Horizont erweitern und den Lourdespilgern „la piété, la douceur, la libéralité de doulce France“ vor Augen führen. Der Aumônier de la Mission catholique setzte früh auf die Routine des Saar-Lourdes-Pilgerkomitees. Dass dieser Zug auch für Frankreich und seine Bevölkerung kein leichtes Unterfangen sei, wurde zwar konstatiert, aber auch hier erschien alles nur eine Frage der Logistik: So wurde das Visum ausschließlich für die Reisegruppe als Ganzes erteilt, und lediglich direkte Fahrt ohne Zwischenstopps und Ausflüge an keinem anderen Ort als Lourdes ermöglicht. Über die wiedergefundene Tradition hinaus transportierte Lourdes 1947 das Signal zur Erneuerung deutsch-französischer Beziehungen auf christlicher Basis. Der Wallfahrtsort bildete den Ausgangspunkt der 1950 als Pax Christi international strukturierten katholischen Friedensbewegung. An deren Beginn stand der noch im Krieg verfasste Gebetsaufruf zur Versöhnung mit Deutschland, unterzeichnet von 40 französischen Bischöfen. Spiritus Rector war Monsignore Théas, der selbst aufgrund seines Eintretens für die jüdische Bevölkerung in deutschen Lagern in Frankreich interniert war und dort seinen französischen Landsleuten „Feindesliebe“ predigte. Nach dem Krieg wechselte er von Montauban auf den Bischofsstuhl von Tarbes und Lourdes. 1947 waren erstmals siebzehn ausgewählte Deutsche, darunter der Kapuzinerpater Manfred Hörhammer, später Präsident der deutschen Sektion, eingeladen, an der nationalen Lourdeswallfahrt teilzunehmen. Aus britischer Gefangenschaft war Hörhammer am 24. November 1945 an die Saar zurückgekehrt, wo er vor dem Krieg als Jugendseelsorger tätig gewesen war. Dort machte ein Freund ihn auf den Gebetsaufruf aufmerksam, dessen Anliegen der Sohn eines Bayern und einer Lothringerin sich zur künftigen Mission nahm. Diese Bewegung prägte nach einem dreiviertel Jahrhundert deutsch-französischer Kriege insbesondere die Grenzlandschaft entlang des Rheins und setzte neue Zeichen: von Aachen, wo 1946 ein mobiles Friedenskreuz aus Holz im Bistum symbolisch unterwegs war, bis zum badischen Bühl, wo im Mai 1952 ein Friedenskreuz errichtet wurde, zusammenbetoniert aus den Überresten der Siegfried- (Westwall) und der Maginot-Linie, ehemals von Militärstrategen aufgezogen als Bollwerke gegen den Erbfeind und von den gegnerischen Militärstrategen dann entweder über- oder umrannt. Lourdes-Pilgerschaft war bei soviel grenzüberschreitendem Engagement von Christen auch ein neues Feld der Ehre für deutsche Priester: Pfarrer Greif, der die Geistliche Leitung der saarländischen Pilgerfahrten zu seinem Lebenswerk gemacht und in vielen Vorträgen, Artikeln und Pilgerbüchern die „Gnade“ und die „natürliche Schönheit“ der Marienstätte vermittelt hatte, wurde zum Chapelain dǥ honneur de la Basilique ernannt. Persönlich wurden ihm die Würden von Msgr. Théas übertragen.
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Erinnerungsbild mit dem saarländischen Innenminister Edgar Hector anläßlich der 27. SaarLourdes-Pilgerfahrt im September 1952 (aus: Nachlaß Edgar Hector, Saarbrücken)
WEICHENSTELLUNG: FRÜHER UND DIREKTER WEG NACH WESTEN Konnte Lourdes beim Neuverorten der Saarpolitik zielführend sein? Stellte die Wallfahrt kulturell tragfähige Weichen für Wohlstand und gemeinsames friedliches Wiederauferstehen nach zwei Weltkriegen? Wo ließen sich französische und saarländische Zukunftshoffnungen politisch orten? Die saarländischen Marienwallfahrer hatten eine deutsch-französische Mittlerfunktion zu schultern, die auf Versöhnung durch kulturellen Kontakt, aber auch auf wirtschaftlichen Interessenausgleich zur friedlichen Zukunftssicherung über den Grenzraum hinaus Signale für Deutschlandpolitik setzen sollte. Für dieses saarländische Sonderbewusstsein war Frankreich bereit, langfristig viel in sein schwerindustrielles Reparationsobjekt zu investieren. Früher und zahlreicher als ihre deutschen Glaubensbrüder und -schwestern konnten sich die Saarkatholiken in Lourdes einreihen in die Prozessionen und die intendierte „Völkergemeinschaft Gottes“ erfahren. Früher und stärker sollten die Menschen im Grenzraum bekennen, dass sie im „Namen einer neuen Ethik“, einen politischen Neuanfang in Deutschland und Europa wagen wollten. Die Präambel der Verfassung, Credo und Crux der Saarstaatsbildung von 1947, begründete die französischsaarländische Wirtschaftsunion und die politische Trennung von Deutschland mit dem Willen, eine Brücke zu bauen zwischen Frankreich und Deutschland und dem
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Vertrauen auf eine europäische Einigung. Doch bei allen wirtschaftlichen Verflechtungen und kulturellen Brückenschlägen nach Frankreich blieb die Klammer kirchlicher Bindung mit Trier Option auf eine „Deutscherhaltung“ der Saar, kulturell und politisch. Die Umsetzung des politischen und kirchlichen Autonomiekonzeptes der französischen Besatzungsmacht wie der Saarregierung rieb sich bei vielfältiger Kooperation an diesem Spannungsverhältnis auf, auch weil der europäische Einigungsprozess und die mit ihm verbundene Saarlösung mehrfach stockte, zuletzt auch beim „Nein“ Frankreichs zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im August 1954. Das Saarexperiment lief in verschiedenen Etappen über zehn Jahre. Bei dem Referendum am 23. Oktober 1955 schließlich lehnten mehr als zwei Drittel der Stimmberechtigten ein zwischen der Bundesrepublik und Frankreich ausgehandeltes europäisches Saarstatut ab und damit die Fortführung einer Sonderrolle außerhalb Deutschlands. Den direkten Weg nach Europa hatte immerhin ein Drittel für realisierbar gehalten, obwohl Ansätze zu einem „Europa der Regionen“ längst einem „Europa der Vaterländer“ gewichen waren. Das „Nein“ sei allerdings kein Votum gegen Frankreich, ließen die Statutgegner verlautbaren. Weder als „Muster“ noch als „Experiment“, sondern in einer neu erlangten Normalität Deutschlands in Europa suchten sie sich künftig zu beheimaten: Während die Ja-Sager bekundeten, prioritär als Vorreiter für Deutschland in Europa zu wirken, bekannte das Wahlkampf-Motto der Neinsager schlicht „Mit Deutschland nach Europa“ zu gehen. Das Primat der Einheit war 1955 moralisch einfacher zu rechtfertigen als 1935 vor dem Hintergrund einer Vereinigung mit Hitlerdeutschland. Auch deshalb gewann der Hirtenbrief Bornewassers vom März 1947– in der Saarabstimmung 1955 trotzig von den sogenannten „Prodeutschen“ als Vermächtnis des verstorbenen Erzbischofs unter das Wahlvolk gebracht – eine andere Bedeutung. Das Denken an eine nationale Einheit war nicht mehr genuin unmoralisch und der Wunsch der Deutschen auf Einigung nicht per se nationalistisch motiviert. Ein Friedensvertrag und eine große deutsche Wiedervereinigung waren realiter zu dem Zeitpunkt in weite Ferne gerückt. Neue Grenzen im Westen Deutschlands und damit im Westen Europas schienen das falsche Signal, der Respekt vor demokratischen Entscheidungen der bessere europäische Weg. ENTGRENZUNG UND VERNETZUNG ALS EUROPÄISCHE BEWUSSTSEINSBILDUNG Der Wegfall des Eisernen Vorhangs eröffnete später ganz andere Vernetzungsmöglichkeiten: 1996 verband Lourdes sich mit fünf großen Marianischen Wallfahrtsstätte, Altötting in Deutschland, Loreto in Italien, Mariazell in Österreich, Fatima in Portugal und Tschenstochau in Polen zu den „Shrines of Europe“. Der Wiederausbau eines europäischen Pilgernetzes mag dem Phänomen einer Wiederentdeckung des Religiösen geschuldet sein. Die Vernetzung von Orten religiösen Gedächtnisses in Europa verweist darüber hinaus auf Ansätze einer „europäisierten“ Kulturpolitik, die längst vergessene Lebensräume wieder begehbar und dadurch Europa in seiner Vielfalt erfahrbar macht. Zahlreiche lokale Initiativen an Grenz- und Knotenpunkten setzen Zeichen, um den Übergang zwischen den Regio-
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nen und zwischen den Nationalstaaten zu nivellieren. Bürger, Gläubige und Geistliche beschildern den „Jakobsweg“, befestigen alte Pfade zu einem „Ökumenischen Pilgerweg“. Damit entstehen in Europa neuartige, religiös bestimmte Verbindungen jenseits des Nationalen. LOURDES – CHIFFRE FÜR DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN AUFBRUCH Pilgern nach Lourdes hieß 1947, die Chance ergreifen, Frankreichbilder und im Gegenzug auch Deutschlandbilder zu erweitern, womöglich zu wandeln. Lourdes als Wallfahrtsort wirkte erstmals wieder gemeinschaftsbildend, „katholisch“ im eigentlichen Sinne und damit über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Lourdes mochte als Chiffre für einen friedlichen Aufbruch dienen, weil der Ritus des Pilgerns und der Habitus des Pilgers Verhaltenssicherheit boten im Umgang ehemals verfeindeter und noch nicht in einer Friedensordnung geeinter Nationen. Diese ritualisierte und habitualisierte Öffentlichkeit ließ sich medialisieren zu einer „supranationalen oder universellen“ Mission. Überkommene „cultural packages“ wurden zumindest aufgeschnürt: „La Sarre, cǥest autre chose“, erklärte die Lourdeser Tageszeitung ihrer internationalen Leserschaft den saarländischen Sonderstatus, da diesen Deutschen die Ehre zuteilgeworden war, die Sakramentsprozession anzuführen. Wie tief und wie dauerhaft der einzelne Saarpilger diese Deutung aufnahm, wieweit er ein supranationales Bewusstsein entwickelte, hing nicht nur von seiner Gläubigkeit ab, die zwischen volks-, kirchenund weltorientierter Frömmigkeit schwankte. Dafür war der Alltag zwischen französischer Besatzung, Autonomiepolitik und der politisch offenen Saarfrage zwischen Frankreich und Deutschland und Europa zu komplex. In langfristiger Sicht eröffnete die Wallfahrt vielen Saarländern den Weg nach Frankreich. Man könnte den Zug des Saar-Lourdes-Pilgerkomitees daher als eine transnationale Volksbewegung deuten, die zu kulturellen Annäherungen in weiteren Bereichen gesellschaftlichen Lebens führte. So zählte zu den Teilnehmern der Pilgerfahrt 1953 etwa die Fußballmannschaft des FC Ensdorf, die bei dieser Gelegenheit mit dem FC Lourdes ein Freundschaftsspiel austrug. Auch Minister der Saarregierung nahmen immer wieder an den Pilgerreisen teil, geschlossen hatten sie die Mitgliedschaft der von Lourdes ausgegangenen „Pax-Christi“-Bewegung erworben.7 Deutsche Bischöfe in Lourdes trafen die Saarkatholiken und französische Bischöfe besuchten Saarbrücken. Nach der gelungenen „Testfahrt“ vom Mai 1947 erhielten die Saarbewohner weitere Zugänge zur „France religieuse“. Wie vor dem Krieg konnten sie im Halbjahres-Rhythymus auf variierenden Lourdes-Strecken traditionsreiche Zwischenstationen ansteuern: in Paris zu Sacre-Coeur aufsteigen, in Paray-le-Monial im Benediktiner-Kloster und dem Zentrum der Herz-Jesu-Verehrung innehalten, Nevers besichtigen mit dem Kloster und der Grabstätte der hl. Bernadette, in Lisieux zum Hause der hl. Theresia vom Kinde fahren oder am Strand von Biarritz zum Meeresgottes7
„Im Zeichen des Friedens Christi. Der Bischof von Lourdes besucht das Saarland“, Paulinus (Trierer Bistumsblatt) 15.7.1948.
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dienst bei Sonnenaufgang weilen. Für diejenigen, die diese Fahrt nicht antreten konnten, entstand eine von Bischof Théas 1948 geweihte Lourdesgrotte im saarländischen Brotdorf, wo jährlich am 15. August, am Tage Mariä Himmelfahrt, eine große Feier mit Tausenden Marienverehrern stattfand. Die „Kleine Wiedervereinigung im Westen“ bedeutete 1957 keinesfalls Abbruch, sondern Fortführung kultureller Eigenständigkeit, obwohl doch der Trierer Bischof die Saarländer zur eigenen Bistumswallfahrt einlud. Autonomie in der Begegnung mit Frankreich blieb beim „langen Weg nach Westen“ auf vielen kulturellen Terrains im Saarland bestehen. Auch von dieser wiedergefundenen und erweiterten Vielfalt profitierte Deutschland als Ganzes in Europa. Judith Hüser, M.A., Saarbrücken
MIT PETRARCA UND JÜRGEN AUF DEN MONT VENTOUX
(B URKHARD JELLONNEK)
Einen uralten Hirten trafen wir an den Hängen des Berges, der sich mit viel Worten bemühte, uns von der Besteigung abzubringen. Dieser sagte, er habe von fünfzig Jahren in ebensolchem Ansturme jugendlichen Feuers den höchsten Gipfel erstiegen, indessen nichts von da heimgebracht als Reue und Mühe und von den Felskanten und spitzem Dornengestrüpp zerrissenen Leib und Rock, und es sei weder vor noch nach jener Zeit je bei ihnen davon gehört worden, dass irgendwer ähnliches gewagt habe. (Francesco Petrarca, 1336)
Ja, man kann es eigentlich nur bekloppt nennen. Da macht man im August 1993 Familienurlaub in der Provence mit zwei damals elf- und achtjährigen Kindern, hat noch eine befreundete Familie im Schlepptau, freut sich, dass die Kids gut miteinander klarkommen, mit Vorliebe im Lac de Paty baden oder Kanu fahren, der „Cotes du Ventoux“ und der „Vacqueyras“ lecker schmecken und die wie Teppiche in der Landschaft liegenden Lavendelfelder und die Sonnenblumen in voller Blüte stehen. Einzig der Besuch des Amphitheaters von Orange in der prallen Mittagssonne wurde von der Gattin kritisiert. Da urplötzlich entdeckt Jürgen auf der übervollen Informationstafel von Bédoin, unserem Camping-Unterschlupf, einen Aushangzettel. „Nachtwanderung zum Gipfel des Mont Ventoux!“, lautet die Einladung – und das gleich am morgigen Abend. „Das wäre doch was für uns“, Jürgen und ich gucken uns gegenseitig an – schließlich hatte uns eben jener sagenumwobene weiße Gipfel nach Südfrankreich gelockt. Wobei wir bei unseren Reisevorbereitungen schnell registriert hatten, dass ein gipfelfreundlicher PKW-Aufstieg problemlos möglich sei. Die Radbesteigung, seit 1951 sind die Bilder vom Aufstieg des Fahrerfeldes auf den Mont Ventoux Geschichte, hatten wir im Vorfeld schon verworfen und die Fahrräder zuhause gelassen, schließlich wusste ich als damaliger Bewohner der oberen Saarbrücker Petersbergstraße, was nur einige Höhenmeter Unterschied an Kraft kosten können. Und jetzt dieser Zettel und diese Einladung! Die Nacht zum Tage machen und das im Urlaub? Aber es gab kein Entkommen: entweder morgen Abend oder nie, denn am darauf folgenden Nachtwanderungstermin hätte uns Saarbrücken schon wieder gehabt. Unsere Frauen hatten schnell beschlossen, dass die Kinder von der Tour überfordert wären, und stellten sich ganz uneigennützig für das abendliche „Babysitting“ zur Verfügung. Im Gegenzug würden sie uns am nächsten Morgen auf dem Gipfel erwarten – Anreise im PKW, selbstverständlich. Jetzt gab es kein Zurück mehr! Vielleicht hatten Jürgen und ich ja doch insgeheim gehofft, der Wanderkelch würde an technischen Gründen scheitern, so aber hieß es am Abend des nächsten Tages, den Rucksack schnüren und warme Klamotten einpacken. Aus dem Vorschlafen am Nachmittag war natürlich nichts geworden, Sarah, Fabian, Nadine und Björn waren mindestens so aufgekratzt wie die väterlichen Bergsteiger.
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Auf Petrarcas Spuren wollten wir wandern. Am 26. April 1336 hatte der italienische Dichter und Humanist seinen lang ersehnten Traum wahr gemacht, wie er in seinem gern zitierten Brief an Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro schrieb: „Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht unverdient Ventosus, den Windumbrausten, nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen, einzig von der Begierde getrieben, diese ungewöhnliche Höhenregion mit eigenen Augen zu sehen.“ Seither gilt Petrarca als der „Vater aller Bergsteiger“, als Erfinder des Alpinismus aus freiem Antrieb. Für einen mittelalterlichen Menschen war es schier undenkbar, aus reiner Freude einen Berg zu besteigen und darüber auch noch zu schreiben. Dabei hatte der literaturkundige Petrarca nur seinen antiken Livius gelesen und dem entnommen, dass Bergwanderungen zu den Reiseprogrammen der Kaiser und Könige gehörten. „Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst“, hatte Petrarca bei Aurelius Augustinus nachgelesen. Jürgen und ich hielten uns mit unserer Nachtwanderung mehr an den Nachfahren, Frédéric Mistral, einen Dichterfürsten aus der Provence, der im 19. Jahrhundert die Besteigung des Mont Ventoux vor dem Morgengrauen als die einzig richtige Art ausgemacht hatte, sich dem gewaltigen Berg zu nähern, „comme il faut“ sozusagen. Gott sei Dank hatte ich in Jürgen einen idealen Begleiter für diese Wanderung gefunden. Petrarca hatte da so seine Probleme, wie er seinem älteren Freund gestand: „Als ich aber über einen Begleiter nachdachte, da erschien mir, so seltsam das klingen mag, kaum einer meiner Freunde dafür richtig geeignet; so selten trifft man selbst unter guten Freunden eine völlige Übereinstimmung aller Neigungen und Gewohnheiten. Der eine ist mir zu träge, der andere zu lebhaft, der ist zu langsam, der zu hastig, der zu trübsinnig, der zu lustig, der hat weniger, und der hat mehr Verstand als mir lieb ist. Beim einen schreckt mich seine Schweigsamkeit, beim anderen seine Geschwätzigkeit, einer ist mir zu schwer und zu fett, wieder einer zu mager und schwächlich. Da stößt mich kalte Teilnahmslosigkeit ab, dort wieder allzu hitziger Eifer. Solcherlei nimmt man, wenn es auch belastend ist, zu Hause in Kauf – die Liebe erträgt alles, wie Paulus sagt, und die Freundschaft nimmt jede Bürde auf sich -, unterwegs aber wird es zu einer allzu schweren Belastung.“ Am Ende hat sich der erste Alpinist der Renaissance für seinen jüngeren Bruder entschieden. Respekt hatten wir schon, das 2800-Seelen-Dorf Bédoin lag gerade 275 Meter über dem Meeresspiegel, der legendäre Gipfel des Mont Ventoux aber zählte 1912 Meter über demselbigen, 21 Kilometer lagen vor uns an diesem späten ProvenceAbend, laut unserem Guide stolze 1637 Höhenmeter Unterschied. Längst ist der Mont Ventoux ein Mythos, er zählt zu den sieben heiligen Bergen der Erde und hat fast ein Alleinstellungsmerkmal trotz seiner gar nicht so überwältigenden Gipfelkreuzhöhe. Dort erhebt er sich in der Provence seit der Zeit der Griechen, Kelten und Römer wie ein Thronberg, freigestellt, kilometerweit zu sehen – eben nicht Teil einer Gebirgslandschaft, sondern majestätisch, dominierend. Selbst im Sommer, wenn man ihn zum ersten Mal sieht, wähnt man ihn schneebedeckt, bis
Mit Petrarca und Jürgen auf den Mont Ventoux
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man sich klar macht, hier eine immer weiße Kalksplitterwüste vor sich zu haben, für deren Erscheinung schon die alten Römer durch einen gewaltigen RodungsKahlschlag sorgten. Zwei Dutzend wohl ähnlich Verrückte wie Jürgen und ich versammelte die geführte Wanderergruppe in den Abendstunden. Die Gluthitze des Tages schwächte sich zunehmend ab, wir genossen den Weg durch die Wälder von Perrache, im flotten Schritt passierten wir Steineichen, Zedern, Buchen, Lärchen und Kiefern. Vor Tatendrang quoll uns der Mund über – wir hatten uns viel zu erzählen, schmiedeten Pläne für die nächsten Tage und waren mit Gott und der Welt eins. Es dauerte gar nicht so lange, da dunkelte es mehr und mehr. Ab und zu flammten in der düsteren Gesellschaft des Waldes Taschenlampen auf, um festen Boden unter den Füßen zu sichten. Die anfangs so angeregten Gespräche versickerten zunehmend, die stete Steigung und die sicherlich für die meisten ungewohnte Laufleistung forderten ihren Tribut. Zunehmend fiel die Kälte ein, Pullover wurden hervorgekramt und Jacken übergestreift. Getränkeflaschen kursierten immer häufiger, auch waren alle dankbar, dass die Veranstalter so nachdrücklich auf festes Schuhwerk bestanden hatten. Mit zunehmendem Aufstieg wurde die Vegetation karger, aus den eingangs stattlichen Bäumen wurden zunehmend Bäumchen. Petrarca hatte damals – über Tag übrigens – den Weg über Malaucène beschritten, wie er in seinem Brief schilderte. Ein „Ort am Fuße des Berges, in nördlicher Richtung. Dort blieben wir einen Tag, und heute nun endlich bestiegen wir, jeder mit einem Diener, den Berg, und wir hatten nicht wenig Beschwerlichkeiten dabei. Er bildet nämlich ein steil abfallendes, fast unzugängliches Felsmassiv. Aber schön hat es der Dichter Vergil ausgedrückt: Mühe besiegt alles, die rastlose. Ein langer Tag vor uns, linde Luft, der Aufschwung unseres Geistes, Kraft und Gewandtheit des Körpers und alles, was dazugehört, kamen uns beim Wandern zustatten, einzig die Natur des Ortes leistete uns Widerstand.“ Das konnten wir Petrarca nachfühlen, wie dieser Ort und die spürbar dünnere, Kälte verbreitende Luft uns zusetzten. Doch je karger die Landschaft wurde, um so mehr wurde der Blick frei für den hell leuchtenden Mond und wir bekamen die Gipfelstation, den Mont Ventoux, unser Objekt der Begierde, klar, fast strahlend vor Augen. „Ein Gipfel ist da, der Höchste von allen, den die Bergbewohner das ‚Söhnlein‘ nennen, warum, weiß ich nicht – vielleicht nach dem Prinzip des Gegensatzes; er erscheint nämlich in Wahrheit als der Vater aller benachbarten Gipfel,“ berichtete Petrarca. Höhenmeter auf Höhenmeter ging die Vegetation zurück, wie eine Mondlandschaft – kahl – lag die Gipfelregion mit ihren Geröllmassen vor uns. Die üppige Mittelmeervegetation am Fuße des Mont Ventoux war zur übersichtlichen Pflanzenwelt des Polarkreises mutiert. Auf Schritt und Tritt mussten wir uns konzentrieren, um nicht umzuknicken auf den locker liegenden Gesteinsbrocken. Mitternacht war längst vorüber, selbst die von unserer Gruppe ausgestoßenen Käuzchenrufe und ähnlich Angst verbreitendes Gespenstertum waren längst verstummt. Jeder bekämpfte die Müdigkeit in Kopf und Körper für sich, Gespräche, Worte gab es kaum noch. Mir spukten immer die Apollo-Astronauten Neil Armstrong und Edwin Aldrin mit ihrer Mondlandung durch den Kopf – hat
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es dort oben vielleicht genau so wie hier ausgesehen? Bisweilen überquerten wir auch die Autostraße, die – in Serpentinen gelegt, sich den Weg nach oben erschloss. Das war wohl auch kein Zuckerschlecken für die damaligen Tour de France – Helden und natürlich hatten wir gelesen, dass bei der Frankreich-Rundfahrt 1967 am 13. Juli der englische Radprofi Tom Simpson kurz vor dem Gipfel erschöpft zusammenbrach und noch an der Unglücksstelle verstarb. Wie wir heute wissen, ist Simpson durch eine hohe Dosis von Amphetaminen und wohl auch durch Alkohol am Mont Ventoux ums Leben gekommen. Bei unserer Heimfahrt mit dem PKW haben wir die ihm gesetzte Gedenkstätte zu sehen bekommen. Höhenmeter für Höhenmeter scheint der Wind zuzunehmen. Gegen 2 Uhr sind wir alle glücklich, als unser Guide uns zur einzigen längeren Pause am Chalet Reynard einlädt. Der ein oder andere bereut es, dass die Gastronomie noch nicht geöffnet hat, aber immerhin ist es warm und windstill, Bänke laden zum Ausruhen ein. Auf geht’s zu unserer letzten steinigen Etappe, nur noch Geröll, die Gipfelstation vor Augen, kämpfen wir uns vorwärts, freuen uns buchstäblich auf den Sonnenaufgang, auf wärmende Sonnenstrahlen, die uns von unserem Bergchef zwischendurch als Belohnung in den schönsten Farben versprochen wurden. Und in der Tat: oben auf dem Gipfelplateau empfängt uns ein schneidender Wind. Die Luft ist klar, es ist rattenkalt. Noch liegt die Dunkelheit der Nacht über der lautlosen Landschaft. Ich bin froh, den Schlafsack wie einen Pelzmantel über die ohnehin nicht dünne Wanderbekleidung werfen zu können. Die Müdigkeit tut ihr übriges, der Anstieg lässt mich jeden Knochen einzeln spüren. Doch da, wie aus dem Nichts, begleitet von Vogelstimmen, das grandiose Naturschauspiel des Tagesanbruchs. Wo vorhin noch sich Kämme und Bergrücken in der Ferne wie Schattenbilder überlagerten, blinzeln uns plötzlich die ersten Sonnenstrahlen an, erhellt das blendende Morgenlicht die unendliche Weite dieser riesigen Reliefkarte. Binnen Minuten wird die Landschaft gelbrot gefärbt, entwickelt sich ein Bergpanorama, der glühende Sonnenball wird sichtbar. Petrarca muss damals ähnlich überwältigt gewesen sein, wie wir an diesem frühen Morgen, wenn er schrieb: „Zuerst stand ich da wie benommen von der ungewohnten Luft und dem ganz freien Rundblick. Ich schaue nach unten: Wolken schweben zu meinen Füßen, und schon scheinen mir Athos und Olymp nicht mehr unglaubhaft: Was ich von ihnen gehört und gelesen habe, erblicke ich auf einem weniger berühmten Berg nun mit eigenen Augen. Ich wende meinen Blick jetzt nach der Seite, wo Italien liegt – die Gegend, zu der sich mein Geist so sehr hingezogen fühlt. Die Alpen selbst, eisstarrend und schneebedeckt, die einst der wilde Feind des Römernamens überstieg – mit Essig hat er dabei, wenn wir der Überlieferung glauben wollen, die Felsen gesprengt – die Alpen schienen mir greifbar nahe, obwohl sie doch so weit entfernt sind. Ich seufzte, ich gestehe es, nach dem Himmel Italiens, der mir mehr vor der Seele als vor den Augen stand. Und ein heißes, unauslöschliches Feuer der Sehnsucht ergriff mich, Freund und Vaterland. (...).Der Grenzwall der gallischen Lande und Hesperiens, der Grat der Pyrenäen, ist von dort aus nicht zu erkennen, meines Wissens nicht, weil ein Hindernis die Sicht versperrt, sondern nur, weil unser menschliches Sehvermögen zu schwach ist. Sehr klar sah ich dagegen zur Rechten die Gebirge der Provinz von Lyon, zur Linken sogar den Golf von Marseille und den, der gegen Aigues-Mortes brandet, und dabei ist dies einige Tagesreisen weit entfernt. Die Rhone hatte ich geradezu vor Augen. Ich betrachtete nun eins nach dem anderen voll Staunen; ich genoss bald das Irdische, bald erhob ich nach dem Beispiel des Leibes auch die Seele zum Höheren (…).“
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Mit dem Vaterland, wie der aus Italien verbannte Petrarca hatten wir es wohl in diesem Augenblick nicht so, immerhin waren wir froh, dass unsere Frauen und Kinder inzwischen auch angekommen waren und die Schlusstakte des Sonnenaufgangs miterleben konnten. Im Gegensatz zu uns hatten sie für Ihren PKW-Aufstieg eine gute halbe Stunde gebraucht und hatten die Natur nicht so direkt erlebt wie wir. Unserem kleinen Cairn-Terrier standen die Haare buchstäblich zu berge, er musste aufpassen, nicht verweht zu werden. Nachdem auch unsere Kids durchgepustet genug waren, beschlossen wir, am Fuße des Berges am Marktplatz Kaffee zu trinken und zu frühstücken. „Dass ihr immer in so eine bappische Kneipe müsst“, schimpfte Birgit, nachdem sich die Lokalauswahl als suboptimal herausgestellt hatte. Aber Jürgen und mich konnte das nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Der heiße Kaffee duftete wunderbar, wir fühlten uns – ganz im Sinne Petrarcas – wie kleine Könige. Und alles andere als bekloppt! Dr. Burkhard Jellonnek, Historiker, Leiter der Landeszentrale für politische Bildung des Saarlandes
NOTRE-DAME DE LUMIÈRES
(HEINRIC H KÜPPERS)
Notre-Dame de Lumières ist ein kleiner Ort in der mittleren Provence. Im Grunde besteht der Flecken nur aus einer Häuserzeile – und sogar einer Gaststätte. Ländlich ist sie. Doch sie verfügt über eine ansprechende Küche. Notre-Dame de Lumières gehört zum Département Vaucluse, das von Avignon aus verwaltet wird, der traditionsreichen Stadt an der Rhone. Von dort aus ist Lumières in südöstlicher Richtung erreichbar. Der Ort liegt in der Talebene des Calavon.1 Und die wiederum ist eingerahmt von den Bergzügen des Lubéron im Süden und den Anhöhen des Apilles und des Ventoux im Norden. Das Tal des Calavon ist fruchtbar. Obst gedeiht hier, Lavendel und Rosmarin sowieso und vor allem Wein. Es sind gleich zwei Anbaugebiete, die hier gute Namen vertreten: die Côtes du Ventoux und die Côtes du Lubéron. Lumières liegt zwischen beiden Anbaugebieten. Die Winzer dort machen einen bekömmlichen Wein. Zu empfehlen ist vor allem der rote Clos des Baumelles, hergestellt aus Trauben der Syrah und der in der Provence fast schon unvermeidlichen Grenache. Der Verkaufsladen der coopérative viticole von Lumières liegt in unmittelbarer Nähe zu einem Kloster. Und das wiederum bildet sozusagen das Zentrum von Lumières. Ein Teil des Klosters ist heute verpachtet. Genutzt wird er als Hotel. Das Klostergebäude selbst ist inzwischen über 300 Jahre alt. Seine Geschichte begann im Jahre 1664. Damals waren die Karmeliter in der Absicht nach Lumières gekommen, sich hier niederzulassen. Sie blieben bis in die Anfänge der Großen Revolution. Dann verließen sie den Ort freiwillig. In der Zeit der Restauration kamen neue Hausherren, die Trappisten. Doch ihre Phase währte nur kurz. 1837 verkauften sie das Kloster an die Oblaten von der Unbefleckten Jungfrau Maria. Diese Kongregation war im Jahre 1816 gegründet worden und hatte seinen ersten Verbreitungsschwerpunkt im Süden Frankreichs. Die Oblaten von der Unbefleckten Jungfrau Maria verstanden sich als Erziehungs- und Missionsorden. Ihre Gründung steht in enger Verbindung mit der Geschichte des französischen Katholizismus im 19. Jahrhundert. Politik war für den Orden immer nur eine weltliche Sache. Dennoch waren in der Gründungsphase und in der Zeit danach Sympathien für das alte, das vorrevolutionäre Frankreich nicht zu übersehen. Jedenfalls wurde die Säkularisierung für ein Unglück gehalten. Die Oblaten gehören zu den aktiven Orden der katholischen Kirche. Mission, Seelsorge und Erziehung sind ihnen auch heute noch als Aufgabenfelder wichtig. Gleichwohl hat der Orden dem Kontemplativen stets eine hohe Beachtung zukommen lassen. Wesentlich älter als das Kloster von Notre-Dame de Lumières ist die Straße, die an dem Gebäude vorbei führt. Heute ist sie eine Rue National und trägt die 1
Der Calavon entspringt in der Nähe der Ortschaft Banon (Alpes-de-Haute-Provence). Er hat eine Länge von 84 km und durchfließt eine lang gezogene Talebene. Der Calavon mündet in die Durance. Die wiederum ist ein Nebenfluss der Rhone.
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Nummer 100. Die Straße beginnt in Avignon und erreicht Lumières nach rund 30 Kilometern. Nach weiteren 12 mündet sie in die Stadt Apt ein. Danach verliert sie sich irgendwo in den französischen Seealpen. Rund 2000 Jahre vorher, als die Römer noch diesen Raum beherrschten, hieß Avignon noch Avenio, und Apt trug den Namen Apta Julia Vulgentium. Und damals war die heutige Straße Nummer 100 auch schon da, nicht so fein geteert wie heute, sondern ausgebaut mit groben Pflastersteinen, wie das in der römischen Zeit üblich war. So weit soll freilich die Zeitreise nicht gehen. Im Gegenteil. Sie ist sogar relativ kurz und geht nur bis in das Jahr 1940. Damals, unmittelbar nach der fürchterlichen Niederlage Frankreichs gegen Hitlerdeutschland, war das Oblatenkloster bald zu einem Refugium für viele Flüchtlinge geworden. Die ersten kamen aus Osteuropa, einige sogar aus Nordafrika. Später kamen vertriebene Ordensleute und Flüchtlinge aus dem Elsass und aus Lothringen dazu. Und einer kam aus der Bretagne, war aber ein Saarländer. Sein Name: Johannes Hoffmann, der spätere erste Ministerpräsident des Saarlandes in der Zeit von 1947 bis 1955. Hoffmann traf am 26. Juli 1940 in Lumières ein.2 Davor hatte er eine schwere Zeit erlebt. Beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 hatte sich Hoffmann noch in Luxemburg aufgehalten, zusammen mit seiner Familie. Freiwillig war sie dort nicht hingegangen. Das Großherzogtum steht vielmehr für ein Exil, zu dem sich Hoffmann im Januar 1935 entschlossen hatte. Vorausgegangen war eine Volksabstimmung. Sie hatte ein klares Votum für eine Rückkehr der Saar nach Deutschland erbracht, nachdem das Gebiet 15 Jahre Völkerbundsmandat gewesen war. Johannes Hoffmann war im Vorfeld des Plebiszits nicht gegen eine deutsche Saar gewesen, wohl aber gegen eine Rückgliederung seiner Saarheimat in ein Deutschland, in dem die Nationalsozialisten inzwischen eine Diktatur errichtet hatten. Die ganzen Vorgänge hatten ihn schließlich dazu gebracht, strikt gegen eine nationale Lösung der Saarfrage zum Zeitpunkt 1935 zu sein. Zugleich war er in großer Schärfe gegen Hitler und den Nationalsozialismus aufgetreten. Hoffmann hatte also allen Grund anzunehmen, dass sich die Nationalsozialisten nach der Volksabstimmung für diese Verhaltensweise irgendwann einmal revanchieren würden. In dieser Situation hatte er keinen anderen Weg mehr gewusst, als mit seiner Familie das heimatliche Saargebiet zu verlassen und in das benachbarte Luxemburg zu fliehen. In den Anfängen des Jahres 1940 war er dann nach Paris gegangen, um dort eine Tätigkeit bei einem Sender deutscher Emigranten aufzunehmen. Die Anstalt firmierte unter dem Namen Radio Strasbourg, hatte aber ihren Sitz in Paris. Das Programm war deutschsprachig, die Aufsicht über den Sender lag indes in französischer Hand.3 Hoffmann hatte die Absicht gehabt, auch seine noch in Luxemburg lebende Familie in die französische Hauptstadt zu holen. Luxemburg war ihm als Aufenthaltsort inzwischen zu unsicher geworden. Schließlich musste er davon 2 3
Hoffmann, Johannes, Am Rande des Hitlerkrieges, Neuauflage Saarbrücken 2005, S. 118– 120. Weitere Einzelheiten bei Hilscher, Elke, Frankreich, in: Pütter, Conrad, Rundfunk gegen das „Dritte Reich“. Ein Handbuch. Unter Mitwirkung von Loewy, Ernst und Hilscher, Elke, München u. a. 1986, S. 53–59.
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ausgehen, dass der militärische Krieg bald auch den Westen erreichen würde, nach dem die Kampfverbände Hitlers zuvor Polen und Norwegen unterworfen hatten. Das Einreisevisum für seine Familie hatte Hoffmann dann am 10. Mai 1940 erhalten. Doch am gleichen Tag hatte Hitler seinen Armeen den Befehl zum Angriff auf die Staaten in Westeuropa gegeben. Von nun an war alles anders verlaufen als geplant. Hoffmanns Familie hatte in Luxemburg bleiben müssen. Er selbst war umgehend interniert worden, weil die große Mehrheit der Franzosen damals glaubte, erneut wie im Jahre 1914 einen klassischen nationalen Krieg führen zu müssen. Deshalb hatte es auch für Hoffmann keine Schonung gegeben. Frankreich internierte alle Deutsche, auch wenn sie davor gegen Hitler aufgetreten waren. Hoffmann war von Paris aus schließlich in die Bretagne gebracht worden, in das Lager von Audierne, um genau zu sein. Als die deutschen Truppen Ende Juni bis an den Atlantik vorgestoßen waren, war es Hoffmann im letzten Augenblick vor der Einnahme gelungen, aus dem Lager zu fliehen. Nach einem beschwerlichen Fußmarsch voller Gefahren und Abenteuer quer durch das inzwischen bis zur Loire besetzte Frankreich hatte er Mitte Juli jenen südlichen Teil erreicht, der von der Geißel Besatzung vorerst verschont geblieben war. Acht Tage später hatte er dann sein Ziel Lumières erreicht. Lumières war für Hoffmann kein Zufall. Sein ältester Sohn, der damals 22jährige Hans-Jakob, war ein Oblate. Schon mit 13 war er in den Juniorrat des Ordens aufgenommen worden, der im südniederländischen Valkenburg beheimatet war. Seit September 1937 hatte Hans-Jakob Hoffmann dann Gemeinschaften seines Ordens angehört, die in Ostfrankreich niedergelassen waren. Im November 1939 war er schließlich in das Kloster von Lumières gewechselt. Zu diesem Zeitpunkt war er immer noch Novize. Sein Ewiges Gelübde wird der junge Ordensmann am 15. August 1942 ablegen. Seine Weihe zum Priester wird dann am 18. September 1944 folgen. Er wird sie unter dem Decknamen Jean Louis Lacour empfangen.4 Diese Stationen hat sein Vater Johannes nicht mehr miterlebt. Er hatte Lumières schon im April 1941 wieder verlassen und war über den Atlantik nach Brasilien geflüchtet. Dabei hatte sich Johannes Hoffmann in Lumières äußerst geborgen gefühlt. Als eine „Insel des Friedens“ hat er das Kloster später bezeichnet und als eine Stätte, an der er nach einer höchst unglücklichen Zeit wieder neuen Lebensmut und eine „neue Hoffnung“ für sein „leidschweres Herz“ gewonnen habe.5 Diese Loblieder sind durchaus verständlich. Nach den Strapazen in den Monaten des Krieges und des Waffenstillstandes in Frankreich erlebte er nun eine Zeit der Ruhe und Erholung in einer schönen Landschaft. Und das Kloster Lumières ließ alle Nöte des täglichen Bedarfs, die ihn seit Mai 1940 ständig gequält hatten, bald vergessen. Alles war bestens geregelt: Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und so-
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Nach Mitteilungen von Christa und Josef Winkelheide (Köln), Schwester und Schwager von Hans-Jakob Hoffmann, vom 20. September 2004. Hoffmann (Anm. 2), S. 125 und S. 116 sowie brasilianisches Tagebuch von Johannes Hoffmann, Einträge vom 28. Mai und 1. Juni 1941, Union Stiftung Saarbrücken.
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gar die gesundheitliche Betreuung. Hoffmann erlebte Lumières als eine Oase, als eine Oase mitten im Krieg. Hoffmann hat in seinen Erinnerungen gar von heimatlichen Gefühlen gesprochen, die er während seines Aufenthalts in Lumières verspürt hätte. Tatsächlich war das Kloster eine Stätte, die ihm viel von dem gab, was dem frommen Christenmenschen Hoffmann zeit seines Lebens wichtig war: die täglichen Gebete, die Momente tiefer Besinnung, die Stille in den klösterlichen Räumen, die der Verehrung und des Gebets vorbehalten waren, und schließlich auch und vor allem das gefühlte spirituelle Du mit dem Schöpfer, zu dem das Kloster selbst und die Provence mit ihren schönen Landschaften geradezu einluden. Lumières war schon im 19. Jahrhundert ein Wallfahrtsort, es war selbstverständlich auch 1940 Wallfahrtsort, und Lumières ist auch heute noch Wallfahrtsort. Die Wallfahrer, die bis heute nach Lumières kommen, sind keine Wallfahrer des Mittelalters. Sie sind Wallfahrer des 19. Jahrhunderts, bewusst katholisch, sensibel für das Marianische in ihrer Kirche und betont konfessionell. Hoffmann hat im Jahre 1940 das tiefgläubige Vertrauen der Wallfahrer von Lumières in das Heilswirken der Gottesmutter als Fingerzeig des Himmels gedeutet, als Zeichen der Hoffnung auf ein Ende der augenblicklich so unglücklichen Zeit, als Zeichen der Hoffnung auf ein gesundes Wiedersehen mit seiner Familie, die er in Lumières und später noch mehr in Brasilien so schmerzlich vermissen wird, als Zeichen der Hoffnung auf eine Rückkehr in seine saarländische Heimat, die er so liebte und an die er in Lumières so oft erinnert wurde. Zu stark waren die Gemeinsamkeiten zwischen der katholischen Welt von Lumières und der katholischen Welt an der Saar, in der er groß geworden war und die ihn intensiv geprägt hatte. Kurz und gut: In der Situation, in der sich der Flüchtling Hoffmann im Jahre 1940 befand, konnte er eigentlich kaum ein besseres Refugium finden als das Kloster von Lumières. Und dennoch wird er diese für ihn so günstige Bleibe in den Apriltagen des Jahres 1941 verlassen. Die Gründe hierfür waren mannigfach. Der Erste hat mit Vichy-Frankreich zu tun, das schon im Herbst 1940 anfing, Ausländern und Emigranten gegenüber engherzig aufzutreten. Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit hatte viel mit der katastrophalen Wirtschaftslage, der hohen Arbeitslosigkeit und den Reparationen zu tun, politische Lasten, die der neuen französischen Regierung unter Marschall Philippe Pétain schwer zu schaffen machten. Hoffmann, der aufmerksame Beobachter, hatte bald erkannt, dass sich die Lage zuspitzte.6 Und als Pétain im Oktober 1940 dann auch noch nach Montoire-sur-Loire reiste, um sich dort mit Hitler zu treffen, stand für Hoffmann fest, dass dieses schmalbrüstige Vichy-Frankreich abhängig bleiben würde vom Wohlwollen des nationalsozialistischen Deutschland. Hoffmann hat daraus den Schluss gezogen, dass die Häscher Hitlers bald auch in der Provence aufkreuzen werden. Etwa zu gleichen Zeit erfuhr Hoffmann von dem berüchtigten Artikel 19 der Waffenstillstandsvereinbarungen zwischen Hitlerdeutschland und Frankreich, der Berlin das Recht einräumte, in Einzelfällen eine Auslieferung deutscher Emigranten zu verlangen.7 Außerdem konnte er beobachten, dass Vichy inzwischen die in 6 7
Hoffmann (Anm.2), S. 125–126. Ebd., S. 125.
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Südfrankreich vorhandenen Internierungslager reaktivierte. Nach einer Verordnung der Regierung musste jeder Emigrant, der jüdischer Herkunft oder ohne Vermögen war, davon ausgehen, dorthin eingewiesen zu werden. Die Verfügung hätte also auch Hoffmann treffen können, denn er lebte in Lumières als mittelloser Mann. Nun bedeutete eine Einweisung in ein Internierungslager nicht gleich eine Auslieferung.8 Doch im Dezember fing Vichy an, namhafte deutsche Emigranten zu inhaftieren, um sie anschließend der Gestapo zu überlassen. Betroffen waren unter anderem Fritz Thyssen, der Stahlunternehmer aus dem Ruhrgebiet, sowie die profilierten Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding, die in den Tagen von Weimar hohe politische Ämter bekleidet hatten, der eine als Vorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion, der andere als Minister.9 Die Vorgänge spielten sich in der Nähe von Lumières ab und die Zeitungen berichteten darüber. Hoffmann war also informiert und alarmiert.10 Noch mehr als diese spektakulären Fälle führt das traurige Schicksal der damals 52jährigen Johanna (Hanna) Kirchner vor Augen, in welcher Gefahr sich Johannes Hoffmann damals befunden hat. Die aus Frankfurt am Main stammende zweifache Mutter war eine mutige, eine außergewöhnliche Frau. 1933 war sie aus ihrer Heimatstadt geflohen, weil die couragierte Sozialdemokratin eine Verhaftung zu befürchten hatte. Zwischen 1933 und 1935 hatte sie im Saargebiet gelebt und dort mit ihren Gesinnungsfreunden für den Status quo gekämpft. 1935 war Johanna Kirchner nach Frankreich geflohen und hatte sich im Grenzgebiet zu Deutschland selbstlos um die Flüchtlinge gekümmert, die, wie sie, wegen Hitler die Saar verlassen hatten. Diese Johanna Kirchner wurde im Jahre 1941 in das berüchtigte Lager Gurs interniert. Wenig später wurde sie durch Vichy an die Gestapo ausgeliefert. Im Jahre 1943 verurteilte sie ein Gericht zu zehn Jahren Zuchthaus. Der Volksgerichtshof in Leipzig hob dieses Urteil im Jahre 1944 auf und wandelte das Strafmaß in ein Todesurteil um. Johanna Kirchner wurde am 9. Juli 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.11 Johannes Hoffmann hat Johanna Kirchner gekannt und geschätzt. Beide sind sich in Südfrankreich mehrmals begegnet, vor allem in Marseille. Die Metropole am Mittelmeer hat Hoffmann von Lumières aus im Zeitraum Oktober 1940 bis Februar 1941 mehrmals aufgesucht. Sein Ziel war dort der Vieux Port gewesen, 8
Eggers, Christian, Deutschsprachige Emigranten in den französischen Internierungslagern (1939–1942), in: Saint Sauveur-Henn, Anne (Hrsg.) Zweimal verjagt. Die deutschsprachige Emigration und der Fluchtweg Frankreich–Lateinamerika 1933–1945, Berlin 1998, S. 41. 9 Ausführlich zu diesen Vorgängen und ihren Hintergründen Delacor, Regina M., „Auslieferung auf Verlangen?“ Der deutsch-französische Waffenstillstandsvertrag 1940 und das Schicksal der sozialdemokratischen Exilpolitiker Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding nach dem deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrag 1940, in: VZG 47 (1999), S. 217– 241. 10 Hoffmann (Anm. 2), S. 126. 11 Oppenheimer, Max, Das kämpferische Leben der Johanna Kirchner. Porträt einer antifaschistischen Widerstandskämpferin, Frankfurt am Main 1974; Dertingen, Antje und von Trott, Jan, „… und lebe immer in Eurer Erinnerung“. Johanna Kirchner – Eine Frau im Widerstand, Berlin und Bonn 1985.
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weil in dessen Umfeld das Centre de Sécours Américain operierte, das der amerikanische Pazifist Varien Fry als Leiter der legendären Hilfsorganisation Emergency Rescue Comittee dort eingerichtet hatte.12 Hoffmann wollte zunächst von Südfrankreich in die Staaten flüchten. Und die Aussichten dafür waren auch nicht schlecht, zumal Hoffmann in dem Sozialdemokraten Wilhelm Sollmann einen Helfer gefunden hatte. Aber die USA hatten für eine Einreise hohe Hürden errichtet. Eine Aufenthaltsgenehmigung war von ihren Behörden nicht so leicht zu erreichen. In Frankreich hatte die Fremdenfeindlichkeit derweilen weiter zugenommen. Hoffmann lebte bei den Oblaten in Lumières unangemeldet, weil er befürchtete, dass er eines Tages doch noch Opfer der Fallstricke werden könnte, die von den Regierungsstellen in Vichy ausgelegt worden waren. So hätte die Denunziation eines subalternen Beamten in der Gesinnung eines Pierre Lavals durchaus dazu führen können, dass er in ein Lager abgeschoben worden wäre. Im März 1941 verlagerte Hoffmann daher seinen Aufenthaltsort von Lumières nach Marseille. Allerdings wohnte er auch hier in einem Haus der Oblaten. Weil er inzwischen der französischen Polizei nicht mehr traute, nahm er einen Decknamen an. Er lebte also illegal in Marseille.13 Anfang März 1941 hatte Hoffmann immer noch eine Emigration in die Staaten oder in Richtung Kanada im Sinn. Doch dann erhielt er Post aus der Schweiz. Der Schreiber des Briefes war der frühere Pfarrer aus dem saarländischen Ballweiler, Franz Weber. Er hatte 1934 auf der Seite von Hoffmann gestanden und dabei den Nationalsozialismus ebenfalls schonungslos angegriffen. Nach dem 13. Januar 1935 hatte also auch Weber Repressalien zu fürchten gehabt. Einer durchaus denkbaren Verfolgung war er zunächst durch eine Flucht nach Österreich ausgewichen. Nach dem „Anschluss“ im März 1938 war Weber dann in die Schweiz gegangen. Und von hier aus teilte er nun im Auftrag von Hermann Matthias Görgen Hoffmann mit, dass er bald einen (tschechischen) Pass erhalten werde. Danach könne er nach Portugal ausreisen. Und von da aus werde es dann nach Brasilien weitergehen.14 Hoffmann hat Frankreich am 14. April 1941 verlassen, nachdem zuvor noch einige Hürden in Sachen Ausreisegenehmigung und Devisen mithilfe der Oblaten in Lumières aus dem Weg geräumt werden konnten. Am Vorabend seiner Abreise ist er in Avignon zufällig noch einmal mit Johanna Kirchner zusammengetroffen. „Wir ‚feierten‘ das zufällige und unerwartete Zusammentreffen, das gleichzeitig der Abschied war.“15 Hoffmann erreichte Lissabon am 19. April 1941. Sein Schiff verließ den Hafen der portugiesischen Hauptstadt am 26. April. Am 11. Mai begann dann seine Emigrantenzeit in Brasilien. In dem neuen Refugium hat Hoff12 Zur Person und zur Geschichte der Hilfsorganisation vor allem Gold, Mary Jayne, Crossroads Marseille 1940, Donbleday 1980. Angemerkt sei auch die Selbstdarstellung von Fry, Varien, Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41, Elfe, D. und Hans, Jan (Hrsg.), München und Wien 1986. 13 Hoffmann (Anm. 2), S, 126. 14 Ausführlich dazu Görgen, Hermann, Ein Leben gegen Hitler, S. 122–124. Die Personalakte von Franz Weber befindet sich im Bistumsarchiv Speyer. 15 Brasilanisches Tagebuch von Johannes Hoffmann (Eintrag vom 31. Mai 1941). Union Stiftung Saarbrücken.
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mann von dem tragischen Schicksal der Johanna Kirchner erfahren. Die schlimme Nachricht hat ihn tief erschüttert. Hoffmann wusste von nun an, dass auch ihn ein solches Schicksal hätte treffen können. Schließlich hatte er davon auszugehen, dass er in den Fahndungslisten der Gestapo auf einer ähnlich hohen Stufe stand wie Johanna Kirchner.16 Aus Brasilien wird Hoffmann im August 1945 zurückkehren. An der Saar wird er bald zum führenden Kopf der Christlichen Volkspartei aufsteigen und in dieser Rolle hauptverantwortlich sein für den Sonderweg des kleinen Landes in den Jahren bis 1955. Allerdings hat Hoffmann, wie in der Literatur immer wieder gemutmaßt und gelegentlich sogar behauptet worden ist, in Brasilien keinen Kontakt zu Kreisen des französischen Widerstandes gehabt.17 Damit erübrigt sich auch jede Spekulation über frühe Absprachen Hoffmanns mit französischen Stellen über Grundlinien einer Saarpolitik nach Hitler. Solche hat es definitiv nicht gegeben. Sie sind aber auch deswegen auszuschließen, weil Frankreich außenpolitisch zwar stets ein großes Interesse an der Saar gehabt hat, aber erst im Jahre 1947 entschieden hat, in welcher Form es durchgesetzt werden sollte. Die Flucht über den Atlantik war für Hoffmann übrigens nicht der letzte Ausweg. Es gab eine Alternative. Aber die war sehr riskant. Für Hoffmann gab es die Möglichkeit des Untertauchens. Die Ordensgemeinschaft von Lumières hatte ihm für diesen Fall jede Hilfe angeboten. Doch im Jahre 1941 war die Lage und die Länge der kriegerischen Auseinandersetzungen nur schwer einzuschätzen und Hoffmann hätte sich auf Ähnliches einlassen müssen wie Samuel Beckett (1906– 1989), den Großmeister des absurden Theaters und Schöpfer von Werken wie „En attendant Godot“ und „Fin de partie“.18 Der Literat aus Irland war Ende 1940 in seiner Wahlheimat Frankreich der Résistance beigetreten, in diesem Fall der Pariser Widerstandszelle „Gloria SMH“. Die aber wurde bald an die Gestapo verraten. Beckett musste fliehen. Er ging mit seiner Lebensgefährtin nach Südfrankreich und landete hier in Roussillon, einem der idyllischen Orte in den nördlichen Berghängen am Rande zur Talebene des Calavon. Bis weit in das Jahr 1943 hinein haben beide hier unerkannt und unter anderen Namen gelebt. Beckett verdingte sich 16 Bundesarchiv Berlin, Bestand Berlin Document Center, Liste: Erfassung führender Männer der Systemzeit, Juni 1939, Nr. 36. Vermerk: Geheim. 17 Schneider, Marc Dieter, Saarpolitik und Exil 1933–1955, in: VZG 25 (1977), S, 526; Derselbe, „Ein Land der Zukunft“. Deutschsprachige Emigration in Brasilien nach 1933, in: Gordan, Paulus (Hrsg.), Um der Freiheit Willen. Eine Festgabe für und von Johannes und Karin Schauff zum 80. Geburtstag, Pfullingen 1983, S. 170f.; Patrik von und zur Mühlen, Fluchtziel Lateinamerika. Die deutsche Emigration 1933–1945: politische Aktivitäten und soziokulturelle Integration, Bonn 1988, S. 196f. und S. 285 (hier die angeblich von Frankreich begünstigte Rückkehr Hoffmanns); Paul, Gerhard und Mallmann, Klaus-Michael, Milieus und Widerstand. Eine Verhaltensgeschichte der Gesellschaft im Nationalsozialismus. Widerstand und Verweigerung im Saarland 1935–1948, Bd. 3, Herrmann, Hans-Walter (Hrsg.), Bonn 1995, S. 88; Becker, Winfried, Johannes Hoffmann, in: Aretz, Jürgen u. a. (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbilder, Bd. 10, Münster 2001, S. 170. 18 Samuel Beckett ist in der Literatur mehrmals biografisch vertreten. Bair, Deirdre, Samuel Beckett. Eine Biographie, Reinbek 1994; Knowlson, James, Samuel Beckett. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2003; Pittler, Andreas P., Samuel Beckett, München 2006; Rathjen, Freidhelm, Samuel Beckett, Reinbek 2006.
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in dieser Zeit der Not als Erntehelfer und Gelegenheitsarbeiter. Und nachts schrieb er an seinem Roman „Watt“, der 1953 erschienen ist. Auf dem Weg nach Roussillon müssen Beckett und seine Gefährtin die Straße von Avignon nach Apt benützt haben. Kurz hinter Lumières sind sie dann nach links abgebogen, um nach etwa acht Kilometern ihren Zielort Roussillon zu erreichen. Ein anderer Großmeister des absurden Denkens hat nicht unweit von Lumières sein Grab gefunden. Die Rede ist von Albert Camus (1913–1960), der drei Jahre vor seinem frühen Tod und 12 Jahre vor Beckett den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Der große Schriftsteller und scharfsinnige Denker über den Existenzsinn der Menschheit hat allerdings erst in Jahre 1958 die Provence als ständige Bleibe entdeckt.19 Entschieden hat er sich dabei für Lourmarin, den wohl schönsten Ort auf der südlichen Seite des Lubérons. Damals war Camus 45. Angezogen hatte ihn die Provence schon seit längerem. Wenn er sich dennoch erst im Jahre 1958 entschlossen hat, hier mit seiner Frau Francine Faure und den beiden Kindern Cathérine und Jean sesshaft zu werden, dann mag das mit seiner Anhänglichkeit an seiner Geburtsheimat Algerien zu tun haben. Als Camus ein Wohnhaus in Lourmarin erwarb, da hatte er seine wichtigsten Werke bereits geschrieben, wie zum Beispiel die philosophischen Essays „Le Mythe de Sisyphe“ (1942) und „L’Homme révolte“ (1951) oder die Erzählung „La chute“ (1956), die wohl am deutlichsten den hohen moralischen Anspruch spürbar werden lässt, den Camus an die Welt und seine Menschen gestellt hat. Camus’ Tod war tragisch. Er starb am 4. Januar 1960 auf einer Autofahrt nach Paris, als sein Wagen in der Nähe von Villeblevin im Département Yonne verunglückte. Zu Grabe getragen wurde er in Lourmarin, den Ort, den er inzwischen ganz in sein Herz geschlossen hatte, Lourmarin, den Ort, von dem aus er leicht auf die Bergzüge des Lubéron hatte gelangen können. Und von hier aus konnte er dann seine Augen zum Wohlgefallen seiner Gefühle auf die ebenso herbe wie schöne Landschaft der mittleren Provence richten. Und wenn das Wetter klar war, dann hatte er in der Ferne die Höhen der Apilles und den stolzen Ventoux sehen können und davor die Talebene des Calavon. Seine Augen waren dann frei gewesen für die kleine Stadt Apt und sie waren frei gewesen für Lumières und sein Kloster, dem Refugium von Johannes Hoffmann in den Jahren 1940 und 1941. Camus’ Ruhestätte auf dem Friedhof von Lourmarin ist unauffällig. Sein Grab ist eingehüllt in Rosmarin und Lavendel. Oben auf dem Kopf findet sich eine schlichte rechteckige Grabplatte, auf der nur der Name und die Lebensdaten stehen. In der Nähe von Camus’ Ruhestätte befindet sich das Grab von Henri Bosco (1888– 1976). Seine Romane und seine Lyrik sind ganz seiner provençialischen Heimat gewidmet. Bosco war ein phantasievoller Schriftsteller. Seine Gestalten sind teils traumhaft, teils real. Die Natur zeichnet er als etwas Geheimnisvolles, fähig zur Verschwendung und Hingabe, aber auch zur Zerstörung. Bosco ist im Grunde Neoromantiker, weil er die Natur als einen ewigen Organismus deutet, als Mittlerin zwischen irdischem Sein und übersinnlichen Mächten. 19 Ein Standardwerk der Camusforschung ist die Biografie von Lottmann, Herbert R., Camus – Das Bild eines Schriftstellers und seiner Epoche, München 1988. Angemerkt sei auch Wieacker-Wolff, Marie-Laure, Albert Camus, München 2003.
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Von den Gräbern der beiden so unterschiedlichen Literaten bis nach Aix-enProvence ist es nicht mehr weit. Die einstige Residenzstadt der Grafen der Provence hat auch eine lange und reiche Geschichte, die weit bis in die römische Zeit zurückreicht. Aber das wiederum wäre ein neuer Beitrag. Prof. Dr. Heinrich Küppers, Professor (em.) für Neuere Geschichte, Historisches Seminar Bergische Universität Wuppertal
ABSTECHER IN DEN MITTELMEERRAUM
MAILAND: I VESTITI NUOVI DELL’IMPERATORE* DIE GESCHICHTE ZWEIER GESCHEITERTER DENKMÄLER FÜR NAPOLEON (CHRISTOF DIPPER)
Die Propagandapolitik Napoleons ist inzwischen gut erforscht. Flächendeckend versorgten seine Getreuen die von Napoleon beherrschten Länder mit Statuen, Büsten und Bildern. Nicht immer jedoch hatten sie mit ihrer Auswahl Glück. So kam es, dass zwei der spektakulärsten Standbilder Napoleons den Zeitgenossen vorenthalten worden sind. Der folgende Beitrag möchte – freilich nur ganz skizzenhaft – aus vergleichender Perspektive die Geschichte zweier gescheiterter Denkmäler nachzeichnen. Auf ihrer Tour de France nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges, die an anderer Stelle ausführlich gewürdigt ist, kamen André und Julien, die beiden heimat- und vaterlos gewordenen Kinder aus dem zum Deutschen Reich geschlagenen Phalsbourg/Pfalzburg, an keinem Denkmal für Napoleon vorbei, ja der republikanische Bestseller erwähnt den Kaiser überhaupt nur ein einziges Mal.1 Das ist nicht verwunderlich, denn 1877 war der Bonapartismus am Boden2 und das hatte den Ruf Bonapartes natürlich nicht unbeeinflusst gelassen. Die III. Republik suchte sich die Feinde und die Verehrer Napoleons gleichermaßen vom Leibe zu halten. Natürlich konnte sie der Commune den Sturz der Vendôme-Säule nicht ungestraft durchgehen lassen und stellte die Säule samt kaiserlichem Standbild 1875 wieder auf. Aber sie tat das ohne Zeremoniell.3 Ansonsten pflegte sie das Andenken an die Revolution. 1880 machte sie den 14. Juli zum offiziellen Feiertag. Überhaupt hat aber Frankreich Napoleon wenig Statuen gesetzt und die meisten davon posthum.4 Obwohl oder gerade weil sein Erbe allgegenwärtig ist – * 1
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Anspielung auf den 2001 gedrehten Film gleichen Namens, in dem Andersens Märchen von ;des Kaisers neue Kleider‘ auf Napoleon umgemünzt wurde. Bruno, G. [Augustine Fouillée], Le Tour de France par deux enfants, Paris 11877. „La France nous doit le plus habile capitaine du monde, Napoléon Ier“, sagte stolz der korsische Matrose beim Wettbewerb der französischen Provinzen um den ersten Platz im nationalen Wettbewerb (S. 190 der Ausgabe von 1906). Der Satz vom „plus habile capitaine du monde“ ist fast wörtlich identisch mit dem öffentlichen Aufruf an Canova für ein Denkmal Napoleons von 1801; vgl. Anm. 6. Zum Bonapartismus in der ersten Legislatur (wie überhaupt zur frühen Parteiengeschichte) noch immer maßgeblich Hudemann, Rainer, Fraktionsbildung im französischen Parlament. Zur Entwicklung des Parteiensystems in der frühen Dritten Republik (1871–1875), Zürich, München 1979. Sellin, Volker, Napoleon auf der Säule der Großen Armee. Metamorphosen eines Pariser Denkmals, in: Christof Dipper/Lutz Klinkhammer/Alexander Nützenadel (Hrsg.) Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 399. Posthum ist nicht nur die Statue im Invalidendom, sondern auch das Reiterstandbild auf dem Rond Point des Champs Élysées und sein Relief am Arc de Triomphe. Die Colonne de la
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man denke nur an den Code Civil, die Grandes Écoles, die Ehrenlegion -, besetzt er nicht mit Standbildern den öffentlichen Raum. Wer ein zu Napoleons Lebzeiten angefertigtes Denkmal besichtigen möchte, noch dazu das künstlerisch Spektakulärste, hat die Wahl zwischen London und Mailand, zwischen Original und Kopie. Natürlich sollten beide dem Napoleonkult dienen, doch kam es beim Original, das zum offiziösen Denkmal des Kaisers in seiner Hauptstadt vorgesehen war und vom berühmtesten Bildhauer seiner Zeit gefertigt wurde, zum „größten Fiasko“,5 während die Kopie so recht erst runde 30 Jahre nach dem Tod des Kaisers den Weg in die Öffentlichkeit fand. Giovanni Battista Sommariva, bis 1799 Generalsekretär der inzwischen untergegangenen ersten Cisalpinischen Republik und nunmehr Präsident der Provisorischen Regierung der kurzlebigen Zweiten, richtete am 27. März 1801 einen Appell an den „plus habile sculpteur du siècle“, Antonio Canova, eine Statue „du plus grand capitaine du monde“ zu schaffen.6 Es sollte sich um ein Denkmal zu Ehren der französischen Armee auf dem Foro Bonaparte (so hieß das soeben zur Umgestaltung bestimmte Terrain des Castello Sforzesco) in Mailand handeln, das einen von der Siegesgöttin gekrönten Napoleon als Kolossalstatue darstellt.7 Sommariva, den Foscolo den „sublime ladro“ nannte8 und der tatsächlich im Stile russischer Oligarchen damals in zwei Jahren ein riesiges Vermögen zusammenraffte, versuchte mit diesem Appell sowohl der Regierungskommission zuvorzukommen, die den Wettbewerb für diesen ambitionierten urbanistischen Eingriff tatsächlich erst im Juni ausschrieb und sich eine Granitsäule wünschte, als auch beim Ersten Konsul seinen ramponierten Ruf zu retten. Das hat ihm nichts genützt – weder bei Bonaparte, der ihn gegen Jahresende aus dem Verkehr zog, noch beim Bildhauer, der nur von (meist adeligen, vor allem englischen) Kunstkennern Aufträge entgegenzunehmen pflegte und schon gar nicht auf eine fast schon barsche Aufforderung wie diese reagierte. Canova, der den Kunstraub seiner Zeit heftig geißelte, war deshalb auch Napoleon alles andere als gewogen. Das sollte sich allerdings bald ändern. Denn im Frühjahr 1802 sah Napoleon beide Versionen von Canovas Cupido und Psyche bei seinem Schwager Murat, war begeistert oder klug genug, diesen
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Grande Armée in Boulogne-sur-Mer, 1804 begonnen, wurde 1823 fertig, die Statue Napoleons aber erst 1841–der Zusammenhang mit der Überführung von Napoleons Leichnam von St. Helena im Vorjahr ist offensichtlich – und erst dem 2. Kaiserreich verdankt Frankreich Napoleons Denkmäler in Lyon (1853), Cherbourg und La Roche-sur-Yon. Natürlich kam auch das kleine Denkmal in Waterloo erst nach Napoleons Sturz zustande. O’Brien, David, „Antonio Canova’s Napoleon as Mars the Peacemaker and the Limits of Imperial Portraiture“, in: French History 18 (2004), S. 355. Siehe Quelle im Anhang. Das italienische Original konnte nicht beschafft werden. Fast gleichzeitig bestellte Sommariva für seine eigene Sammlung bei dem damals in Mailand lebenden sizilianischen Maler Giuseppe Errante ein Gemälde mit dem Titel Napoleone come Ercole Pacificatore (Allegoria della Repubblica Cisalpina). Es kann kein Zufall sein, dass Canova zwei Jahre später dieses Motiv für seine Kolossalstatue übernahm. Zum Bild den Kommentar von Stefano Bosi im Ausstellungskatalog: Carlo Capra/Franco Della Peruta/Fernando Mazzocca (Hrsg.), Napoleone e la Repubblica Italiana (1802–1805), Mailand 2002, S. 169f. (ohne Abb.). Zit. bei Zaghi, Carlo, L’Italia di Napoleone dalla Cisaplina al Regno, Turin 1986, S. 251.
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international renommierten Künstler nicht länger unbeachtet zu lassen, und lud ihn umgehend nach Paris ein. Nach einigem Zögern bzw. ultimativem Druck vonseiten des Ersten Konsuls reiste der Bildhauer dorthin, wo ihm zwischen Mitte Oktober und Ende November der Erste Konsul in fünf Ateliersitzungen Modell saß.9 Er hatte eine Büste bestellt, deren Verwendung er sich einstweilen vorbehielt. Den Gipsabdruck, bis heute erhalten, nahm Canova nach Rom zurück und stellte ihn im Januar 1803 aus, wo er allgemeine Bewunderung erregte. Kein Wunder, dass die Marmorversion das kanonische Bild Napoleons wurde und unzählige Male kopiert wurde. Bonaparte hatte wohl das Gespräch auch auf den Vorschlag Sommarivas gebracht. Jedenfalls machte Canova auf der Rückreise, als er durch Mailand kam, Vizepräsident Melzi d’Eril nun seinerseits den Vorschlag, auf dem Foro Bonaparte zwar nicht die von Sommariva gewünschte Kolossalstatue aufzustellen, sondern einen Napoleon in Gestalt des friedenstiftenden Kriegsgottes, ein Thema, mit dem er sich seit zwanzig Jahren immer wieder befasste.10 Das war ganz im Sinne Melzis, der nun endlich den Staatspräsidenten mit einem spektakulären Kunstwerk in der Hauptstadt seines Nebenlandes ehren konnte, und entsprach thematisch auch Napoleons Selbsteinschätzung, denn seit seiner Rückkehr aus Ägypten im Jahre 1799 gab er sich vornehmlich als Held und Retter aus.11 Der am 1. Januar 1803 in Rom unterzeichnete Vertrag beschrieb das Kunstwerk sehr genau:12 Es wich stark vom Muster zeitgenössischer Herrscherdenkmäler ab und stellte den Napoleonkult ganz in die Tradition der Klassik. Entsprechend ungewöhnlich sollte die kolossale Marmorstatue ausfallen: Napoleon als Mars Pacificator mit einer über die Schulter geworfenen Chlamys, in der Linken einen Speer, in der Rechten eine Viktoria, beides in Bronze. Ein Feldherr also, aber nicht im Panzer, denn er brachte ja den Frieden. Der Erste Konsul war ein nackter Jüngling! Im Sommer 1803 war das Gipsmodell fertig und Canova stellte auch dieses in seinem Atelier aus; selbst der Papst sah es sich an. Der französische Botschafter berichtete nach Paris, dass die perfekteste Statue der Welt, wenn sie fertig sei, in
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Der 1757 im Venezianischen geborene Antonio Canova hatte zunächst ganz auf das Mäzenatentum des Vatikans und des europäischen Hochadels gesetzt und war damals tatsächlich der bekannteste und entsprechend nachgefragte Bildhauer Europas. Für die Napoleoniden fertigte er erst ab 1803/04 eine ganze Reihe von Büsten und Statuen an. Aus der überreichen Literatur zu Canova sei hier neben dem Werkkatalog: Mario Praz/Giuseppe Pavanello (Hrsg.), L’opera completa del Canova, Mailand 1976, lediglich Christopher M. S. Johns, Antonio Canova and the Politics of Patronage in Revolutionary and Napoleonic Europe, Berkeley 1998, herausgegriffen, weil dies eine besonders gründlich recherchierte Arbeit ist. 10 Ohne Belege zu nennen, suggeriert Johns eine ganz andere Geschichte; ihrzufolge habe Cacault auf Drängen Bonapartes in Rom Canova Ende 1802 dazu gebracht, den Mars Pacificator gleich für den Ersten Konsul anzufertigen; Johns (Anm. 9), S. 92. 11 Dwyer, Philip G., „Napoleon Bonaparte as Hero and Saviour. Image, Rhetoric and Behaviour in the Construction of a Legend”, in: French History 18 (2004), S. 379–403. Natürlich denkt man sofort an Tulard, Jean, Napoléon ou le mythe du sauveur, Paris 1977, doch ist das Thema des Retters in diesem Buch nicht erkenntnisleitend. 12 Staatsarchiv Mailand, Fondi camerali, cart 38, fasc. 1; zit. Ausstellungskatalog (Anm. 7), S. 167.
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ein Museum gehöre13 – eine, wie sich zeigen sollte, hellsichtige Feststellung. Die Ausführung des Standbildes aus ausgesuchtem Carraramarmor begann 1804 und zog sich bis in den Herbst 1806 hin. Inzwischen hatten die Auftraggeber allerdings längst von ihrem Vorhaben Abstand genommen. Schon im Dezember 1804 waren sie nämlich aus Rom informiert worden, dass sie nicht erhalten würden, was sie bestellt hatten. Die Statue sei viel zu klein, um einen großen Platz zu füllen, nämlich gerade einmal 3,40 Meter hoch; Canova sehe dies inzwischen selbst ein und schlage etwas anderes vor: einen Theseus, der einen Kentauren erschlägt.14 Aber nicht dieser Umstand ließ das Projekt versanden, sondern erstens blieb das gewaltige Foro Bonaparte am westlichen Rand der Innenstadt ewige Baustelle und zweitens verschwand 1805 die Italienische Republik und mit ihr der einflussreiche Melzi d’Eril. Die napoleonische Propaganda musste in Mailand auf ihr spektakuläres Vorhaben verzichten, den Ersten Konsul als Friedensbringer unübersehbar am Stadtausgang in Richtung Simplonpass, über den der Befreier seinerzeit gekommen war, zu postieren. Canova focht das nicht an, denn er sah sich ohnedies nicht im Dienste der Napoleonpropaganda.15 Außerdem hatte seine im Herbst 1806 aufgestellte Marmorstatue großen Zulauf. Abbildungen kursierten sogleich auch in Frankreich und der Mercure de France brachte einen begeisterten Bericht.16 Denon, der Direktor des in Musée Napoléon umbenannten Louvre, reiste nach Rom und befand, die Statue müsse in sein Museum, und zwar gleich am Eingang und direkt neben die Laokoon-Gruppe.17 Er war es vermutlich, der Napoleon, seit einem Jahr Kaiser, überzeugte, anstelle der Mailänder die Statue zu kaufen18 und nach Paris bringen zu lassen. Wegen der Transportrisiken – die Statue wog dreizehn Tonnen und durfte außerdem keinesfalls, so die Anweisung, dem Feind in die Hände fallen – verzögerte sich die Lieferung. Erst im Februar 1811 kam sie in Paris an und wurde sogleich in der Salle des Hommes illustres aufgestellt, wo sie der Kaiser im April besichtigte. Noch am selben Tag untersagte er die öffentliche Präsentation. Was war passiert? Dass Canova kein beim Publikum populäres „Handlungsporträt“ wie etwa die lebensvollen Bilder Jacques Louis Davids liefern würde, war bekannt. Schließlich zirkulierten seit Jahren Kupferstiche des Standbilds. Aber auch die französischen Eliten reagierten, von den Kunstsachverständigen abgese13 Cacault an das Außenministerium, 11. 12. 1806; zit. Johns (Anm. 9), S. 99. 14 Giuseppe Bossi, Sekretär der Pinacoteca di Brera, an Francesco Melzi d’Eril, 15.12.1804; zit. Ausstellungskatalog (Anm. 7), S. 167. Den Theseus bestellte die Republik umgehend und zahlte ebenso wie später das Königreich ratenweise Vorschüsse auf das Werk, das endlich 1819, also lange nach dem Ende der napoleonischen Zeit, fertiggestellt wurde. Es hagelte in ganz Italien Proteste, als daraufhin Kaiser Franz I. die Kolossalstatue nach Wien transportieren ließ, wo sie heute im Kunsthistorischen Museum steht. Ein Gipsmodell von 1804/05 befindet sich im Canova-Museum in seiner Heimatstadt Possagno. Zum Vorgang ebd., S. 32, Abbildung S. 30. 15 So die zentrale These Johns’ (Anm. 9), der sich O’Brien (Anm. 5) anschließt. 16 27.9.1806; zit. O’Brien (Anm. 5)., S. 358. 17 Zit. Johns (Anm. 9), S. 99. 18 Napoleon zahlte nicht weniger als 120.000 Francs, eine Summe, die Johns zu recht als Bestechungsgeld bezeichnet; S. 92.
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hen, ablehnend, als sie das Original erblickten: Ein Jüngling, dessen Körpersprache, besonders die dank der Meisterschaft des Künstlers täuschend echte Nacktheit, an den Apollo des Belvedere erinnerte. Sie verstanden Canovas antike Formensprache nicht – beziehungsweise sie verstanden sie zu gut. Denn im alten Rom wurden, wenn überhaupt, die Kaiser post mortem nackt dargestellt. Nicht weil 1811 der alternde Napoleon dem heldischen Idealbild seines Körpers nicht mehr entsprach,19 verbot er die Zurschaustellung, obwohl die Nacktheit auch als Verstoß gegen die guten Sitten empfunden wurde.20 Vielmehr war mit diesem Standbild keine Politik zu machen. Der Kaiser wollte in der Öffentlichkeit nicht als Halbgott gesehen werden, sondern als hart arbeitender, schaffender Staatsmann, und so ließ er den Ausstellungssaal zusperren. Nur ausgewählte Besucher erhielten in der Folgezeit noch Zutritt.21 Nach Napoleons Sturz wurde der Saal zwar wieder geöffnet, doch Canovas Marte Pacificatore verschwand hinter einem segeltuchbespannten großen Wandschirm. Als 1815 die englische Regierung anfragte, weil sie dem Sieger von Waterloo ein Geschenk machen wollte, willigte Ludwig XVIII. dankbar ein und trat die mehrfach irritierende Statue für 66.000 Francs ab. Der Herzog von Wellington besaß nun seinen niedergerungenen Gegner in effigie und ließ ihn in sein neues Londoner Heim, Apsley House, bringen, wo er heute noch im Treppenhaus steht und seit 1947 besichtigt werden kann. Die Mailänder konnten den Misserfolg der mithilfe Canovas unternommenen Propagandapolitik nicht ahnen, als sie einen zweiten Versuch unternahmen, ihren Landesherrn – er trug seit März 1805 den Titel eines Königs von Italien – mit einem Standbild zu ehren. Seit 1806 war, wie erinnerlich, die ursprünglich für das Foro Bonaparte bestimmte Marmorstatue in Rom fertiggestellt und konnte besichtigt werden. Man wusste also auch, anders als beim ersten Mal, was man erhalten würde, wenn man eine Bronzekopie bestellte, wie es Vizekönig Eugène Beauharnais im Mai 1807 tat. Canova beauftragte die Brüder Righetti, denen erst der zweite Guss im November 1809 gelang.22
19 Diese These wird häufig vorgetragen, insbesondere von Johns, Canova (Anm. 9), S. 101f. Sie stützt sich auf den Brief Denons, demzufolge Napoleon gesagt habe, sein Ebenbild sei „zu athletisch“. Denon an Canova, 15.4.1811, zit. O’Brien (Anm. 5), S. 359. Dabei hatte Canova im Vorjahr bei seinem zweiten Parisbesuch den Kaiser auf die Nacktheit vorbereitet. Außerdem war ja Dejoux’ Standbild (s. nächste Anm.) nicht deshalb der Kritik verfallen, weil der General in Wahrheit zu rundlich war. 20 Napoleon war nämlich gewarnt, denn das von ihm im Vorjahr auf der Place des Victoires aufgestellte Bronzestandbild des in Marengo gefallenen Marschalls Desaix, eine an die Herkulessymbolik der Republik erinnernde nackte Kolossalstatue, erregte so viel Anstoß, dass sie schon nach vierzehn Tagen mit einer Art Holzverschalung verkleidet werden musste. 1815 hat man sie sogleich eingeschmolzen. Lottes, Günter, „Damnatio historiae. Über den Versuch einer Befreiung von der Geschichte in der Französischen Revolution“, in: Winfried Speitkamp (Hrsg.), Denkmalsturz, Göttingen 1997, S. 31. Abbildung bei Johns (Anm. 5), S. 99. 21 Der Kunstsachverständige Passavant berichtet, dass er 1812 im Museum der Antiken Canovas Standbild inmitten griechischer und römischer Statuen, die Napoleon aus allen Ländern zusammengeraubt hat, besichtigt habe. 1832 sah er die „colossale Statue“ in London wieder. Passavant, Johann D., Kunstreise durch England und Belgien, nebst einem Bericht über den Bau des Domthurms zu Frankfurt am Main, Frankfurt 1833, S. 73f.
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Als die Skulptur im August 1812 in Mailand endlich ankam, war natürlich bekannt, wie das Original im Vorjahr auf den Kaiser gewirkt hatte. Das spielte aber offenbar keine Rolle, denn eine Aufstellung fürs große Publikum war gar nicht mehr vorgesehen. Weniger um Propaganda ging es, vielmehr hatte Beauharnais sich für ein deutlich sichtbares Herrschaftszeichen entschieden. So sollte, nachdem Napoleon Anfang 1808 der Errichtung eines Senates zugestimmt hatte,23 die in ihm zusammengerufene oberitalienische Elite, durch ihr Amt in den erblichen Adelsstand erhoben, an ihre Loyalität durch ein Standbild des meist vom fernen Paris aus herrschenden Kaisers erinnert werden.24 Der Sinn des Kunstwerks hatte sich also stark verändert und schon sein geplanter Aufstellungsort spiegelte die in Gang gekommene elitäre Abschottung des Regimes deutlich wider. Im Innenhof des für den Senat des Königreiches vorgesehenen Palastes, des ehemaligen Collegio Elevetico, fand der Mars Pacificator seinen Platz. Aber nur für ein Jahr. Schon 1813 verbrachte man ihn in die Brera; die Gründe sind unbekannt. Um die weitere Geschichte des Denkmals zu verstehen, muss man sich den Umgang mit der Hinterlassenschaft Napoleons auf der Apenninenhalbinsel ins Gedächtnis rufen. Einerseits hatte das Regime im Moment seines Abtretens jeden politischen und moralischen Kredit verspielt. In Mailand war es sogar am 20. April 1814 von einem Aufstand gestürzt worden, den der reaktionärste Teil des lombardischen Adels organisiert hatte, um den zusammengetretenen Senat am Handeln zu hindern. Dabei war, ein singulärer Fall damals, Finanzminister Prina, die Personifizierung des verhassten Systems, gelyncht worden. Andererseits war das Haus Habsburg weitsichtig genug, in den von seinen Angehörigen regierten Staaten – neben dem Königreich Lombardo-Venetien waren das in der Hand von Sekundogenituren befindliche Großherzogtum Toskana sowie die Herzogtümer Modena und Parma, das der Wiener Kongress Napoleons Ehefrau Marie Louise übereignet hatte – nicht mehr als eine oberflächliche Restauration zu versuchen. Die technische Liberalität der napoleonischen Epoche blieb auf der italienischen Halbinsel, von Piemont und dem Kirchenstaat abgesehen, weitgehend erhalten, wobei die Modernisierung des Staatswesens in der Lombardei am weitesten vorangekommen war. Denkmalsturz kam schon deshalb nicht in Frage, weil (anders als etwa im restaurierten Kurfürstentum Kassel, wo 1812 zwei in Frankreich erworbene Napoleondenkmäler in der Hauptstadt des damaligen Königreichs Westphalen aufgestellt
22 Die Geschichte dieses zweiten, um 15 Zentimeter kleineren Exemplars ist erstaunlicherweise kaum erforscht. 23 Der Senato Consultore ersetzte den schon 1805 aufgelösten Corpo Legislativo (der es gewagt hatte, die Verfassungsbestimmungen über sein Budgetrecht ernst zu nehmen und damit die Regierung in Verlegenheit brachte) und bestand aus handverlesenen Persönlichkeiten, die den erblichen Adelsstand erhielten und so viel mehr als die gewählte Legislative zu einem exklusiven, dem König bzw. Vizekönig strikt ergebenen Organ wurden. Näheres dazu bei Daum, Werner, Italien, in: Peter Brandt/Martin Kirsch/Arthur Schlegelmilch (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Bonn 2006, S. 365. 24 Demselben Zweck diente das im Thronsaal des Palazzo Reale angebrachte Gemälde Apotheose Napoleons samt zahlreichen anderen Bildern, die seine Siege verherrlichten.
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worden waren und 1814 abgetragen wurden,25 gar keine Denkmäler zu stürzen waren. Der Mailänder Mars Pacificator verschwand einfach im Kellermagazin der Brera, das von Murat bestellte Reiterstandbild Napoleons war noch nicht fertig und erhielt später den Kopf Ferdinands I. von Neapel Repliken von Canovas Napoleonbüste blieben dagegen zu Dutzenden erhalten. Es fanden auch nirgends auf der gesamten Halbinsel öffentliche Feiern im Stile des sog. Nationalfests statt, das in vielen Teilen Deutschlands am 14. Oktober 1814 nach einheitlichem Muster veranstaltet wurde. Das auf kleine Kreise vornehmlich in Oberitalien begrenzte Nationalbewusstsein verdankte sich der französischen Zeit und nur Ausnahmepersönlichkeiten wie der allerdings schon 1803 gestorbene Vittorio Alfieri26 versuchten es in lodernden Frankreichhass umzuschmieden. Das sollte sich in den Jahrzehnten des Risorgimento nicht ändern und stellt einen Unterschied zum gleichzeitig sich bildenden deutschen Nationalbewusstsein dar, der gar nicht überschätzt werden kann.27 Dessen ungeachtet kann von einer gleichsam naturnotwendigen Entfremdung zwischen den Moderati Oberitaliens, ja noch nicht einmal zwischen den Anhängern Cattaneos und dem Haus Habsburg keine Rede sein, wie es die Risorgimentolegende wissen will, die sich mit dem Argument der „Fremdherrschaft“ eine ins einzelne gehende Prüfung der Ursachen ersparte. Sie ist vielmehr die Folge einer sich allmählich einstellenden Diskurshoheit der um ihre Hoffnung auf ‚Selbstverwaltung‘ betrogenen Grundbesitzereliten, die in napoleonischer Zeit aus Adel und Großbürgertum zur eng verbundenen Notabelnschicht geworden waren28 und nach 1814 das Rad der Geschichte bis auf Maria Theresia zurückzudrehen suchten, als sie das Land tatsächlich noch beherrschten.29 Ihre wichtigsten Argumente waren der Vorwurf der Provinzialisierung und „Vielregierei“, steuerliche Überbürdung, Zensur und geistige Bevormundung. Verschärfend wirkte sich der Umstand aus, dass man im Zeichen der aus Deutschland importierten, romantisch inspirierten Volksidee die lombardischhabsburgischen Interessengegensätze und Friktionen als Konflikt zweier nationaler Kulturen zu sehen lernte, für den je länger, desto weniger etwas anderes als die Trennung die Lösung sein konnte.30 25 Speitkamp, Winfried, Protest und Denkmalsturz in der Übergangsgesellschaft. Deutschland vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Revolution von 1848, in: ders., Denkmalsturz (Anm. 20), S. 57f. 26 Alfieri hatte den 14. Juli 1789 in Paris erlebt und verließ Frankreich Ende 1792 nach dem Sturz der Monarchie. Seinen Frankreichhass brachte er im Gedicht Il Misogallo von 1799 zu Papier. 27 Dazu Jeismann, Michael, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992. 28 Dazu grundlegend Capra, Carlo, Nobili, notabili, élites. Dal “modello” francese al caso italiano, in: Quaderni storici, Nr. 37 (1977), S. 12–42. 29 Bahnbrechend der Versuch Marco Meriggis, die Restaurationsepoche vom einseitigen Bild zu befreien, das sie seit den Historikern des Risorgimento hat: Amministrazione e classi sociali nell’Lombardo-Veneto (1814–1848), Bologna 1983. 30 Die Diskursgeschichte des Risorgimento liefert M. Banti, Alberto, La nazione del Risorgimento. Parentela, sanità e onore alle origini dell’Italia unita, Turin 2000. In lokalgeschichtlicher Hinsicht wichtig ist Bertolotti, Maurizio, Le complicazioni della vita. Storie del Risorgimento, Mailand 1998.
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1848 glaubten die Moderati, erst recht die Demokraten, noch ohne Hilfe von außen die ‚Fremdherrschaft‘ abwerfen zu können, nachdem sie in den Cinque Giornate die habsburgischen Truppen aus Mailand geworfen hatten. Hierin irrten sie sich bekanntlich und so suchten sie beim nächsten Mal nach Bündnispartnern. 1859 waren das nicht nur die dank ihrer Reformpolitik hoch geachteten piemontesischen Nachbarn, denn diese hatten sich ihrerseits der Hilfe Napoleons III. versichert, der mit seinen Truppen die wichtigen Siege erfocht. Hier rundet sich unsere Geschichte. Am 9. Juni betraten Viktor Emanuel II. und Napoleon III. nach ihrem Sieg in der Schlacht von Magenta das von den Österreichern verlassene Mailand. Die Gründung eines unabhängigen oberitalienischen Königreichs – mehr war ja nicht geplant bzw. abgesprochen – mit französischer Hilfe war in greifbare Nähe gerückt, die Geschichte schien sich zu wiederholen. Was lag da näher, als das Bündnis durch eine denkmalspolitische Geste zu unterstreichen und den Mars Pacificator aus dem Keller zu holen und ihn im Innenhof des Palazzo Brera aufzustellen? Da steht er seither, abseits der Straßen und Plätze der Stadt, und täglich eilen Tausende von Bildungshungrigen achtlos an ihm vorbei in Bibliothek oder Museum. Im heutigen Italien ist Napoleon nicht einmal ein luogo della memoria. Wer weiß schon, welcher nackte Jüngling auf dem meterhohen Marmorsockel steht? QUELLE République Cisalpine, Milan, 27 mars (6 germinal) Le comité du gouvernement provisoire de la république cisalpine vient d’écrire une lettre à Rome, au célèbre sculpteur Canova, pour l’engager à faire la statue du vainqueur de Marengo, qui doit être placée sur le monument qu’on va ériger dans le forum Bonaparte. Voici la traduction littérale de cette lettre: «Monsieur, l’impatience que nous avons de donner des marques éternelles de la reconnaissance dont le peuple cisalpin est pénétré envers l’immortel fondateur et libérateur de cette république, a donné lieu à une loi par laquelle l’emplacement de la ci-devant citadelle de Milan est converti en une place très-vaste, portant le nom de forum Bonaparte. C’est dans cette enceinte que seront réunis les établissements pour les assemblées du peuple, pour les arts, pour les sciences, pour le commerce et pour le soldat qui a bien mérité de la patrie. Si l’exécution répond au plan, le forum Bonaparte offrira un spectacle digne de la grandeur des romains. Il sera élevé, dans l’endroit le plus marquant de cette place, un monument destiné à transmettre à la postérité les actions éclatantes des armées françaises. La statue de Bonaparte, couronnée par la victoire, devant orner ce monument, il faut que le ciseau qui la sculptera soit digne de la grandeur du sujet. Dans quelque lieu de l’Europe qu’on eût conçu un semblable projet, on n’aurait pu jeter les yeux sur un plus célèbre artiste que vous, monsieur, qui jouissez d’une réputation généralement établie, et dont l’envie n’osera jamais attaquer la célébrité. C’est donc à vous, monsieur, l’honneur du nom italien, qui avez
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perfectionné la sculpture, au point de faire rivaliser l’Italie avec l’ancienne Grèce, qu’appartient l’honneur de sculpter la statue d’un héros. Le gouvernement se flatte que vous voudrez bien remplir son vif désir, et que vous le mettrez à même de connaître vos intentions sans délai. La république cisalpine possédera un trésor inappréciable, si elle obtient du plus habile sculpteur du siècle la statue du plus grand capitaine du monde. Milan, le 4 germinal an 9. Sommariva, président»31
Canovas Napoleon-Denkmal im Palazzo Brera (Mailand)
Prof. Dr. Christof Dipper, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Institut für Geschichte, TU Darmstadt
31 Gazette nationale ou le Moniteur universel, No. 200, p. 839. Décadi, 20 germinal an 9 [10. April 1801] de la république française, une et indivisible
TOD IN BAGNOLES-DE-L’ORNE DIE ERMORDUNG DER ITALIENISCHEN ANTIFASCHISTEN CARLO UND NELLO ROSSELLI AM 9.6.1937 (WOLFGANG SCHIE DER)
Am 11. Juni 1937 wurden in einem Wald in der Nähe des etwa 250 km westlich von Paris gelegenen Badeortes Bagnoles-de-l’Orne am Straßenrand zwei von zahlreichen Schüssen getroffene und regelrecht verstümmelte Leichen gefunden, die nur achtlos mit Zweigen zugedeckt worden waren. Es handelte sich zweifellos um die Opfer eines Gewaltverbrechens, wie allein schon eine neben den Toten liegen gebliebene Pistole bewies. Schon am Vortag war etwa 10 km vom Fundort der Leichen entfernt ein altes Auto der Marke Ford entdeckt worden, das innen und außen mit Blut verschmiert war. Beides schien zueinanderzupassen, doch tappte die zuständige Polizei im nahegelegenen Domfrond zunächst im Dunkeln, da die beiden Toten keine Papiere bei sich trugen. Erst der Anruf der besorgten Ehefrau des einen der beiden, die sich das Verschwinden ihres Mannes nicht erklären konnte, brachte Klarheit. Die Ermordeten waren die italienischen Brüder Carlo und Sabatino (genannt Nello) Rosselli.1 Da Carlo Rosselli zu den Wortführern der antifaschistischen Opposition der Italiener im französischen Exil gehörte, entstand sofort der Verdacht, dass es sich um einen politischen Mord handeln könnte. Aufgrund von Zeugenaussagen konnte der Untersuchungsrichter in Domfrond den Tathergang des Doppelmordes ziemlich rasch rekonstruieren. Die Tat war, zwei Tage vor ihrer Entdeckung, am 9. Juni 1937 einige Kilometer entfernt vom Fundort der Leichen auf einer wenig befahrenen Nebenstraße verübt worden. Carlo Rosselli und seine Ehefrau Marion hatten sich am 27. Mai im Hotel Cordier in Tessé-la-Madelaine, das zur Comune von Bagnoles-de-l’Orne gehörte, für drei Wochen eingemietet. Am 7. Juni war Carlos jüngerer Bruder Nello aus Florenz über Paris zu Besuch gekommen, wodurch er ebenfalls zum Opfer des Mordanschlages werden sollte.2 Am 9. Oktober musste Marion vorzeitig nach Paris zurück, wo ihre Kinder zurückgeblieben waren.3 Carlo und Nello brachten sie im Auto zum Bahnhof und machten anschließend noch einen Ausflug nach Alencon, dem etwa 40 km entfernten 1
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Die wichtigste Darstellung des politische Gewaltverbrechens ist die von Franzinelli, Mimmo, Il Delitto Rosselli. 9 giugno 1937. Anatomia di un omicidio politico, Milano 2007. Manche Informationen lassen sich auch dem Buch von Bandini, Franco, Il cono d’ombra. Chi armò la mano degli assassini dei fratelli Rosselli, Milano 1990, entnehmen, obwohl der Autor starke Vorurteile gegenüber Rosselli hat und viele seiner Behauptungen nicht belegt. Eine französische Darstellung fehlt. Die Familiengeschichte der Rossellis ist breit erschlossen. Vgl. Rosselli, Aldo, La famiglia Rosselli. Una tragedia italiana, Milano 1983; Zeffiro Ciuffoletti (Ed.), I Rosselli. Epistolario familiare di Carlo, Nello, Amelia Rosselli (1914–1937), Milano 1997; Costanzo Casucci (Ed.), Carlo Rosseli, Dall’esilio. Lettere alla moglie 1929–1937, Milano 1997; Fiori, Giuseppe, Casa Rosselli. Via di Carlo e Nello, Amelia, Marion e Maria, Torino 1999; Rosselli, Silvia, Gli otto venti. Memorie, Roma 2006.
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Hauptort des Départements Orne. Bei der Rückfahrt wurden sie auf einer Nebenstraße, die sie zur Abkürzung gewählt hatten, von zwei Autos mit insgesamt sieben Insassen zum Halten gezwungen. Zwei Männer stürzten heraus und schossen die beiden Rossellis ohne jede Vorwarnung nieder. Carlo war sofort tot, während Nello sich noch schwer verletzt in Sicherheit zu bringen suchte, bevor er starb. Das für seine warmen Schwefelquellen bekannte Bagnoles-de-l’Orne lag fernab der großen Straßen. Durch den Doppelmord stand der stille Badeort plötzlich im Licht internationalen Interesses. Große Zeitungen entsandten Reporter, Geheimdienste schickten Agenten, die örtliche Polizei sicherte den Tatort und verhörte bei ihren Ermittlungen zahlreiche Zeugen.4 Die Witwe Carlo Rossellis musste aus Paris anreisen, um ihren Mann zu identifizieren. Die dadurch entstehende Unruhe ging weit über die Aufregung hinaus, die ein normaler Kriminalfall ausgelöst hätte. Der vermutete politische Kontext machte den Doppelmord zur Sensation, ohne dass die Hintergründe zunächst auch nur ansatzweise geklärt waren. Die antifaschistische Emigration in Frankreich und anderswo war sich rasch einig: Nur die italienischen Faschisten konnten die Täter, nur Mussolini persönlich der Auftraggeber des Doppelmordes sein.5 Morde an prominenten politischen Gegnern des Faschismus hatten in Italien ja Tradition: 1926 waren der Linksliberale Piero Gobetti und der demokratische Wortführer im Parlament, Giovanni Amendola, Opfer faschistischer Gewalt geworden.6 Der bedeutendste kommunistische Theoretiker Italiens, Antonio Gramsci, erlag kurz vor dem Mord an den Brüdern Rosselli im April 1937 im Gefängnis den Misshandlungen seiner Peiniger.7 Am meisten Aufsehen hatte jedoch der Mord an dem parlamentarischen Fraktionsführer der Sozialisten, Giacomo Matteotti, erregt, der am 10.4.1924 von einer im Innenministerium, das zu dieser Zeit von Mussolini in Personalunion geführt wurde, ausgehaltenen Killerbande ermordet wurde.8 Seitdem stand fest, dass das faschistische Regime sich nur vorgeblich allein auf Massenkonsens stützen würde. Das eigentliche Merkmal der faschistischen Herrschaft Mussolinis war die physische Gewaltanwendung bis hin zum rücksichtslosen Mord.
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Carlo Rosselli (geb.1899) war mit der Engländerin Marion Rosselli Cave verheiratet, mit der er drei Kinder hatte. Nello Rosselli (geb.1900) hatte mit seiner Frau Maria Rosselli Todesco vier Kinder. Über ihre Mutter, die Schriftstellerin Amelia Pincherle Rosselli, waren die Brüder mit Alberto Moravia (Pincherle) verwandt, der dem Verbrechen auch den, von Bernardo Bertolucci verfilmten Roman Il conformista, Mailand 1951, widmete. Sie gehörten damit zur Elite der jüdischen Intelligenz Italiens. Vgl. für Frankreich Guillen, Pierre, La risonanza in Francia dell’azione di GL, in: Carlo Francovich (Ed.), Giustizia e Libertà nella lotta antifascista e nella storia d’Italia. Attualità dei fratelli Rosselli a quaranta anni dal loro sacrificio, Firenze 1978, S. 239–260. Vgl. z.B. Giustizia e Libertà IV, 18.6.1937: “Mussolini ha fatto assassinare in Francia Carlo e Nello Rosselli.” Vgl. Gervasoni, Marco, L’Intelletuale come eroe. Piero Gobetti e le culture del Novecento, Firenze 2000; Simona Colarizi, I democratici all’opposizione. Giovanni Amendola e l’Unione Nazionale 1922–1928, Bologna 1973. Vgl. zuletzt Lepre, Antonio, Il prigioniero. Vita di Antonio Gramsci, Roma/Bari 1998. Giuseppe Rossini (Ed.), Il delitto Matteotti tra Viminale e l’Aventino, Bologna 1966; Mauro Canali, Il delitto Matteotti. Affarismo e politica nel primo Governo Mussolini, Bologna 1997.
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Sollte nun das faschistische Regime sogar außerhalb Italiens versucht haben, sich seiner Gegner gewaltsam zu entledigen? Das hatte bisher nur das nationalsozialistische Regime gewagt, als es 1934 die österreichischen Nationalsozialisten dazu anstiftete, den Staatskanzler Dollfuß zu ermorden.9 Pläne dafür gab es in der Szene der faschistischen Geheimdienste schon seit Langem, ohne dass es freilich je zu deren Ausführung gekommen wäre. Der Mord an Carlo Rosselli, dem sein Bruder Nello wohl nicht zufällig in den Tod folgen musste, war insofern ein Menetekel, das beträchtliches internationales Aufsehen erregte und den staatsterroristischen Charakter von Mussolinis Regime mit einem Schlage enthüllte. Die Männer, die den Brüdern Rosselli in der Nähe von Bagnoles-de-l’Orne auflauerten und sie brutal umbrachten, waren jedoch keine Italiener, es waren Franzosen. Der Doppelmord war insofern eine sehr viel komplexere Gewaltaktion, als es die ersten verzweifelten Schuldzuweisungen der italienischen Emigration glauben machen wollten. Die italienischen Faschisten mordeten nicht selbst, sie ließen morden. Es handelte sich um einen Transfer politischer Staatskriminalität, wie er in dieser Form bis dahin ziemlich einzigartig war. Der Mord an den Brüdern Rosselli verweist insofern auf eine Enthemmung politischer Gewalt, wie sie für alle faschistischen Bewegungen, und im besonderem Maße für das Regime Mussolinis in Italien charakteristisch war. Warum wurden aber gerade Carlo und Nello Rosselli die Opfer eines faschistischen Auftragsmords? Carlo Rosselli besaß innerhalb der antifaschistischen Emigration in Frankreich und darüber hinaus eine einzigartige politische Position.10 Anders als alle anderen italienischen Exilpolitiker verfügte er über erhebliche Mittel aus dem Familienvermögen, weshalb er nicht nur zur politischen Aktion aufrufen, sondern diese auch finanzieren konnte.11 Er war ein begnadeter Redner, dessen Charisma man sich nur schwer entziehen konnte. Seine eigentliche Stärke war jedoch das geschriebene Wort. Keiner der antifaschistischen Emigranten aus Italien konnte in politischen Texten so pointiert formulieren wie Rosselli. Der suggestiven faschistischen Propagandasprache war er nicht nur gewachsen, sondern rhetorisch überlegen. So prägte er nach dem 9
Vgl. zuletzt Schafranek, Hans, “Sommerfest mit Preisschießen”. Die unbekannte Geschichte des NS-Putsches im Juli 1934, Wien 2006, sowie Walterskirchen, Gundula, Engelbert Dollfuß. Arbeitermörder oder Heldenkaiser, Wien 2004. Ferner: Dollfuß, Eva, Mein Vater Hitlers erstes Opfer, Wien 1994. 10 Aus der umfangreichen Literatur zur Biografie Carlo Rossellis sind vor allem wichtig die Darstellung des antifaschistischen Weggefährten Garosci, Aldo, La vita di Carlo Rosselli, 2 vol., Roma/Firenze/Milano 1945, Taschenbuchausgabe Bologna 1973; sowie seitdem Tranfaglia, Nicola, Carlo Rosselli dall’interventismo a „Giustizia e Libertà“, Bari 1968; Francovich (Ed.), Giustizia e Libertà, zit.; Joel Blatt, The battle of Turin. 1933–1936: Carlo Rosselli, Carlo, Giustizia e Libertà, Ovra and the Origins of Mussolinis Anti-Semitic Campaign, in: Journal of Modern Italian Studies I (1995), S. 86–104; Bechelloni, Antonio, Carlo e Nello Rosselli e l’antifascismo europeo, Milano 2001; Pugliese, Stanislao G., Carlo Rosselli. Socialista eretico ed esule antifascista, Torino 2001; Marina Gianetto (Ed.), Un’altra Italia nell’Italia del fascismo. Carlo e Nello Rosselli nella documentazione dell’Archivio Centrale dello Stato, Roma 2002. 11 Das Familienvermögen der Rossellis entstammte ihrem Anteil an den Quecksilbergruben in Siele. Vgl. Blatt, Joel, Rosselli, Carlo e Nello, in: Victoria de Grazia e Sergio Luzzatto (Ed.), Dizionario del fascismo, vol. 2, Torino 2003, S. 548.
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Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs die Formel „Heute in Spanien, morgen in Italien.“12 Nach der vernichtenden Niederlage der faschistischen Einheiten in Spanien in der Schlacht bei Guadalajara spitzte er diese Formel noch mehr zu, indem er für ein „Guadalajara auf italienischem Boden“ warb.13 In parteipolitischer Hinsicht stand er sowohl den Kommunisten als auch den Sozialisten kritisch gegenüber, weil er ihrer Strategie misstraute, durch politische Untergrundarbeit die ‚Massen‘ zu mobilisieren. Statt dessen setzte er auf direkte Aktionen, durch welche er die Bevölkerung spontan zum Widerstand gegen das faschistische Regime aufzubringen hoffte. Obwohl seinem ganzen Habitus nach ein bürgerlicher Intellektueller, distanzierte er sich gleichermaßen vom demokratischen Liberalismus, dem er Versagen gegenüber dem Faschismus vorwarf. Er suchte in ideologischer Hinsicht nach einem dritten Weg zwischen bürgerlichem Liberalismus und proletarischem Sozialismus. Schon in der Verbannung auf Lipari bekannte er sich zu einem, theoretisch freilich ziemlich unausgegorenen socialismo liberale, der sein künftiges politisches Credo werden sollte.14 Nach seiner abenteuerlichen Flucht von der Insel gründete er 1929 in Paris zusammen mit einem Dutzend politischer Weggefährten die politische Vereinigung Giustizia e Libertà, eine politische Sammelbewegung der nicht kommunistischen Linken, die bewusst keine Parteistruktur haben, sondern aus voneinander abgeschotteten Zellen bestehen sollte.15 In der Realität bestanden die Zirkel von Giustizia e Libertà, welche sich in den großen Städten vor allem Norditaliens gebildet hatten, im Wesentlichen aus Intellektuellen, deren Untergrundarbeit sich im Wesentlichen auf publizistische Aktivitäten beschränkte, jedoch weit entfernt war von revolutionärer Umsturztätigkeit. Der faschistische Überfall auf Abessinien beflügelte 1935 Rossellis Umsturzerwartungen, nach dem Sieg Mussolinis musste er sich seine Fehleinschätzung jedoch eingestehen. Um so begeisterter war er im Juli 1936 vom Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs. In Paris brachte er mit der Prima Colonna Italiana die erste Einheit von Freiwilligen zusammen, welche für die bedrohte spanische Republik zu kämpfen bereit waren.16 Es war freilich ein bunter Haufen von Anarchisten, Trotzkisten, sozialistischen Dissidenten und bürgerlichen Mitgliedern von Giustizia e Libertà, deren innere Konflikte abzusehen waren. Rosselli teilte sich mit dem Anarchisten Camillo Berneri und dem Republikaner Mario Angeloni die militärische Führung der Einheit. Diese nahm an mehreren Gefechten teil und wurde dabei zur Hälfte aufgerieben. Nach der vergeblichen Eroberung von Almudar im November 1936 kam es in der 12 Carlo Rosselli, Si, oggi in Spagna, domani in Italia, in: Giustizia e Libertà IV (22.1.1937). 13 Ders., Per una Guadalajara in terra italiana, in: Giustizia e Libertà IV (23.4.1937). 14 Zum liberalen Sozialismus Rossellis vgl. vor allem Tranfaglia, Carlo Rosselli, passim und neuerdings Pugliese, Carlo Rosselli, passim. Die wichtigsten Texte dazu wurden ediert von Costanzo Casucci (Ed.), Carlo Rosselli, Scritti dell’esilio, 2 vol., Torino 1988/1992. 15 Aus den umfangreichen Literatur zu Giustizia e Libertà sind außer Tranfaglia, Carlo Roselli, zit. vor allem wichtig: Costanzo Casucci (Ed.), Archivi del Movimento Giustizia e Libertà, Roma 1969; Francovich (Ed.), Giustizia e Libertà, zit.; Mario Giovana, Giustizia e Libertà in Italia. Storia di una cospirazione antifascista 1929–1937, Torino 2005. 16 Vgl. Rosselli, Carlo, Perché andammo in Spagna, in: Giustizia e Libertà (18.6.1937). Die neueste Darstellung der Vorgänge bei Pugliese, Carlo Rosselli, S. 197–202.
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Kolonne zu einer Rebellion. Rosselli wurde als militärischer Führer des dezimierten antifaschistischen Häufleins zum Rücktritt gezwungen und kehrte daraufhin deprimiert nach Paris zurück. In der stark hagiografisch gefärbten Rosselli-Biographik wird dieser unrühmliche Rückzug des Protagonisten der direkten Aktion auf den Ausbruch einer Venenentzündung (flebites) zurückgeführt, die Rosselli sich bei einer leichten Verwundung zugezogen haben soll.17 Doch scheint die Krankheit eher sekundär gewesen zu sein. Rosselli war im Grunde im militärischen Einsatz gegen den Faschismus, den er immer gepredigt hatte, in Spanien gescheitert. Nur noch ein „arbeitsloser Journalist“, wie man boshaft vermerkt hat, war er deswegen allerdings noch lange nicht. 18 In Paris konnte er wieder sofort an die Spitze von Giustizia e Libertà zurückkehren und zumindest äußerlich gesehen seine alte politische Betriebsamkeit aufs Neue entfalten. Giustizia e Liberta war freilich fast nur noch im Ausland existent. Die faschistischen Geheimdienste hatten innerhalb Italiens mehr oder weniger alle Zellen der politischen Vereinigung unterwandert, sodass sie von der Polizei nach und nach ausgehoben werden konnten. Entgegen ihrem Anspruch war Giustizia e Libertà Mitte der dreißiger Jahre nur noch eine reine Exilorganisation. Gleichwohl hielt man sie in den faschistischen Führungszirkeln nach wie vor für besonders gefährlich. Wie kein anderer antifaschistischer Exilpolitiker sorgte Carlo Rosselli in den faschistischen Führungscliquen für Unruhe. Schon 1934 wurde er in Italien als „Hauptfeind“ des Faschismus angesehen.19 Die faschistischen Geheimdienste stellten ihn in Paris rund um die Uhr unter intensive Beobachtung. Seine Korrespondenz wurde abgefangen, seine politischen Aktivitäten wurden ständig kontrolliert und alle seine persönlichen Beziehungen sorgfältig registriert. Seine Akte im politischen Geheimarchiv Mussolinis ist mit Abstand die umfangreichste aller Personalakten. Man darf davon ausgehen, dass auch Mussolini selbst sich diese regelmäßig angesehen hat. Rosselli musste ihm spätestens in dem Augenblick als der gefährlichste aller politischen Gegner erscheinen, als er in einem der Spitzelberichte lesen konnte, dass dieser der „einzige mögliche Nachfolger von Mussolini sei“.20 Die reale politische Bedeutung Rossellis wurde damit zweifellos erheblich überschätzt. Er war sicherlich der brillanteste Wortführer der antifaschistischen Opposition im Exil, aber keineswegs der große Gegenspieler Mussolinis, für den man ihn in Italien hielt. Dazu fehlte ihm allein schon der organisatorische Rückhalt. Das über17 Die in der biografischen Literatur ungeprüft weitergereichte Annahme, Rosselli sei wegen einer erneut aufgebrochenen Venenentzündung aus Spanien abgereist, geht auf Garosci, Vita di Carlo Rosselli, vol 2, Firenze 1973, S. 458 zurück. Die Zweifel, die Bandini (Anm. 1), S.127– 131 daran anmeldet, scheinen mir jedoch berechtigt zu sein. 18 So Bandini (Anm. 1), S. 131. 19 Franzinelli (Anm. 1), S.69, der sich auf einen Spitzelbericht aus Paris vom 23.3.1936 bezieht, in dem es heißt: „Ho dovuto persuadermi che il Rosselli è, senza dubbio, l’uomo più pericoloso di tutto il fuoruscitismo. Egli è un piccolo “Lenin, figlio di papa”..”. 20 Franzinelli (Anm. 1), S.70: „Gode di grande popularità tra i militi antifascisti facoltosi che recentemente giusero a designarlo “unico possibile successore di Mussolini” ( Spitzelbericht aus Paris vom 17.12.1936). Vgl. auch Paola Carucci, Arturo Bocchini, in: Ferdinando Cordova (Ed.), Uomini e volti del fascismo, Roma 1980, S.87f.
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steigerte Feindbild, welches das faschistische Regime von ihm aufbaute, sollte ihm jedoch in dem Augenblick zum Verhängnis werden, in dem Mussolini seine persönliche Herrschaft für einen Augenblick als gefährdet ansah. Wie jeder moderne Diktator lebte dieser in ständiger Angst vor Verrat. Er machte es sich deshalb zum Prinzip, seine engsten politischen Mitarbeiter ständig auf verschiedenen Posten rotieren zu lassen. Keiner sollte in einem Parteiamt oder einer staatlichen Position soviel Einfluss und Prestige ansammeln, dass er ihm gefährlich werden konnte. Dass er umfänglichere Regierungsakten nur selten las, dafür aber täglich ausführlich alle ihm vorgelegten Geheimdienstberichte über die Stimmung in der Bevölkerung sowie die politischen Aktivitäten seiner Gegner, aber auch seiner engsten Gefolgsleute, ist ein weiteres Indiz für seine misstrauische Wachsamkeit. Um nicht vollständig abhängig von personellen Beziehungen und institutionellen Bindungen, zu denen vor allem auch die Respektierung der Monarchie gehörte, zu sein, versuchte Mussolini seine persönliche Diktaturherrschaft charismatisch abzusichern. Der künstlich hergestellte und sorgsam gepflegte Massenkonsens als ‚Duce del fascismo‘ hatte die politische Funktion, ihn plebiszitär zu legitimieren. Die unabdingbare Voraussetzung plebiszitärer Herrschaftssicherung ist jedoch der Erfolg. Der militärische Sieg im Abessinienkrieg, dessen genozidale Methoden der italienischen Bevölkerung weitgehend unbekannt blieben, und die Ausrufung des Impero fascista verhalfen Mussolini zu einer zuvor nicht erreichten Popularität.21 Um so dramatischer war für ihn der Stimmungsumschwung, welchen die vernichtende Niederlage der faschistischen Interventionstruppen bei Guadalajara im Spanischen Bürgerkrieg bewirkte. Mit einem Schlag schien das politische Kapital, das Mussolini für sich persönlich angesammelt hatte, entwertet zu sein.22 Dass Rosselli in dieser Situation noch gezielt Salz in die Wunden streute und die militärische Niederlage auf italienischem Boden wiederholt sehen wollte, scheint sein Schicksal daher besiegelt zu haben. Bereits 1934 waren innerhalb des faschistischen Geheimdienstmilieus erste Pläne für eine Ermordung Rossellis ventiliert worden, ohne dass dies jedoch vorerst zu Konsequenzen geführt hätte. 1937 erreichten diese staatsterroristischen Pläne jedoch die faschistische Führung, wobei, ähnlich wie im Fall der Ermordung Matteottis im Juni 1924 offenbleiben muss, inwieweit Mussolini das Mordkomplott persönlich angeordnet hat.23 Es gehörte längst zum Wesen der persönlichen Diktatur des ‚Duce‘, dass ihm seine engsten Komplizen ungefragt zuarbeiteten, wenn sie überzeugt wa21 Vgl. dazu neuerdings Terhoeven, Petra, Liebespfand fürs Vaterland. Krieg, Geschlecht und faschistische Nation in der italienischen Gold- und Eheringsammlung 1935/36, Tübingen 2003. 22 Vgl. dazu Renzo De Felice (Ed.), Galeazzo Ciano, Diario 1937–1943, Milano 1990, S.256; Garosci, Carlo Rosselli, vol. 2, S. 500–502; Franzinelli, Delitto Rosselli, S. 57–67. 23 Es gibt keinen direkten Beleg dafür, dass Mussolini den Mord angeordnet, ja nicht einmal, dass er davon vorher gewusst hat. Die Richtigkeit der Behauptung des notorisch unzuverlässigen Yvon De Begnac, Palazzo Venezia. Storia di un regime, Roma 1952, S.613, Mussolini habe zu ihm gesagt, dass der “Machthaber nicht immer alle Aktionen zu kontrollieren in der Lage sei, welche der Apparat, der ihm unterstehe, ausführe“, ist allerdings zu bezweifeln. Vgl. aber Renzo de Felice, Mussolini il Duce. II. Lo Stato totalitario 1936–1940, Torino 1981, S. 421f., der allerdings De Begnac unverständlicherweise für glaubwürdig hält, um auf diese Weise Mussolini historisch zu entlasten.
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ren, in seinem Sinne zu handeln. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Entschluss zur Ermordung Carlo Rossellis zutiefst den Intentionen Mussolinis entsprochen hat, selbst wenn er diese nicht direkt angeordnet haben sollte. Nachweislich waren an den Mordplanungen aber der Außenminister und Schwiegersohn Mussolinis, Galeazzo Ciano und dessen Alter Ego und Kabinettschef Filippo Anfuso beteiligt.24 Auch sie kümmerten sich selbstverständlich nicht persönlich um die Details, ohne ihre ausdrückliche Zustimmung hätten die Initiatoren im Geheimdienst jedoch außerhalb Italiens keinesfalls aktiv werden können. Die eigentlichen Drahtzieher des Mordkomplotts waren zwei höhere Mitarbeiter des militärischen Abwehrdienstes, des Servizio Informazioni Militari (SIM), dessen Chef 1937 der selbstverständlich ebenfalls eingeweihte General Mario Roatta war. Es waren dies der Sizilianer Santo Emanuele, seit 1935 Chef der Dritten Abteilung (Terza Sezione) des SIM und sein Turiner Resident Roberto Navale.25 Nach allem, was bekannt ist, hatte Emanuele, ein ebenso ehrgeiziger wie skrupelloser Karrierist, die entscheidende Idee, wie man den Mord an Rosselli organisieren könne, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Er schlug vor, die seit dem Sommer 1936 bestehenden Kontakte zu einer rechtsextremen französischen Geheimorganisation zu nutzen.26 Abgesandte dieser Geheimorganisation hatten bei mehreren Treffen mit Navale, aber dank dessen Fürsprache auch schon mit Beamten des Außenministeriums in Rom um Unterstützung für ihre gewaltsamen Umsturzpläne in Frankreich geworben. Es handelte sich bei dieser Untergrundorganisation um eine extremistische Splittergruppe, die sich im Juni 1936 vom militärischen Flügel der Action Francaise, den Camelots du Roi, losgesagt hatte, weil diese in ihren Augen gegenüber der Linken versagt hatte. Sie bezeichnete sich ursprünglich als Organisation Secrète d’Action Révolutionnaire Nationale (OSARN), benannte sich dann in der Folge mehrfach um und wurde hauptsächlich unter dem Namen Cagoule bekannt.27 Dieser Name war vom lateinischen cuculla abgeleitet, welches die Mönchskutte oder nur die Kapuze der Mönche bezeichnete. Die Cagoulards ahmten die Kapuzentracht des amerikanischen Ku Klux Klan nach, dessen Rituale ihnen auch sonst als Vorbild dienten. Ihre nach dem Zellenprinzip hierarchisch aufgebaute Organisation entsprang jedoch nicht nur geheimbündlerischer Folklore, sie mussten vielmehr in der Zeit der Volksfrontregierungen tatsächlich ihre Aufdeckung fürchten. Obwohl ihr Gründer, der Ingenieur Eugène Deloncle, ebenso einem eher kleinbürgerlichen Milieu entstammte wie die meisten der Aktivisten des Geheimbundes, konnte dieser mit erheblicher finanzieller 24 25 26 27
Vgl. dazu Franzinelli (Anm. 1), S. 82–93, 114–115. Vgl. die Kurzbiografien von Emanuele und Navale bei Franzinelli, (Anm. 1), S. 267–269. Ebd., S.90f. Die zentrale Quelle für die Aktivitäten der cagoulards stellt die geheime Chronik des Geheimbundes dar, die von Aristide Corre geführt wurde. Corre übergab die Chronik kurz vor seiner Erschießung durch die SS im März 1942 einem ehemaligen Mitglied der Cagoule, dem Pater Joseph Fily, der den Text offenkundig gesäubert hat. Vgl. Franzinelli (Anm. 1), S.177. Publiziert wurde die Geheimchronik durch Christian Bernadac (Ed.), Aristide Corre, Dagore. Les carnets secrets de La Cagoule, Paris 1977. Es gibt keine wissenschaftliche überzeugende historische Gesamtdarstellung der Geschichte der Cagoule. Das folgende aber nach Bourdrel, Philippe, La Cagoule, Paris 1992 und Monier, Frédéric, Le complot dans la République, Paris 1998.
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Protektion durch die französische Großindustrie, vor allem die Autoindustrie, aber z. B. auch in besonderem Maße die Kosmetikfirma l’Oréal, rechnen. Kleinbürgerliche Cagoulards und große industrielle Finanziers verband unter dem Eindruck der ersten Volksfrontregierung eine imaginäre Angst vor einem kommunistischen Umsturz, dem man durch einen Gegenputsch glaubte, zuvorkommen zu müssen. Das – freilich nur vage definierte – politische Ideal der Cagoule war eine monarchische Restauration unter faschistischem Vorzeichen.28 Aus diesem Grunde übte das Diktaturregime Mussolinis auf sie eine hohe Faszination aus. Sie hofften darauf, wenn schon nicht direkt bei ihren Umsturzplänen unterstützt, so doch durch das faschistische Regime mit Waffen versorgt zu werden. Im Oktober 1936 fuhr Deloncle zusammen mit einem weiteren Cagoulard nach Rom, um dort unter strengster Geheimhaltung im Auswärtigen Amt eine politische Zusammenarbeit anzubieten.29 Später kam für die Cagoulards die Hoffnung hinzu, in Italien Rückzugsräume zu finden, um sich auf diese Weise der Strafverfolgung und dem Zugriff der französischen Behörden zu entziehen. Ausgerechnet der eigentliche Mörder Carlo Rossellis, Jean Filliol, hat diesen Schutz auch tatsächlich in Anspruch nehmen können.30 Es waren also ursprünglich nicht die italienischen Faschisten, die sich in Frankreich nach Helfershelfern für einen Mordanschlag auf Carlo Rosselli umsahen, vielmehr waren es zuerst die Cagoulard, die in Italien um politische Unterstützung durch den Faschismus nachsuchten. Die faschistischen Drahtzieher eines Attentates auf Rosselli kamen so eher unverhofft in die Lage, die Cagoulards als politische Auftragsmörder engagieren zu können. Die ersten Verhandlungen über eine Zusammenarbeit fanden im Spätherbst 1936 in Turin zwischen dem dortigen Residenten des SIM, Navale und dem für die Außenbeziehungen der Cagoule zuständigen Francois Méténier statt. Die Cagoule durfte daraufhin in San Remo einen geheimen Stützpunkt mit zwei Residenten bilden, von denen der eine (Adolphe Juif) bald darauf von seinen eigenen Kumpanen liquidiert wurde, weil man ihm Unterschlagungen und Geheimnisverrat nachweisen zu können glaubte.31 Für den italienischen Kontaktmann des SIM war dieser brutale Fememord kein Grund die Verhandlungen abzubrechen, sie schienen ihm vielmehr nur zu bestätigen, dass die politische Mörderbande der Cagoule der richtige Partner für die Beseitigung von Rosselli war. Emanuele war sogar skrupellos genug, den Fememord dazu zu benutzen, die Cagoule zu erpressen. Mit Sicherheit wussten Navale und sein Vorgesetzter Emanuele ohnehin über frühere politische Mordaktionen der Cagoulard Bescheid, so etwa den Mord an dem politisch undurchsichtigen sowjetischen Bankier Dimitri Navachine in Paris. Die bis dahin spektakulärste Aktion der Cagoule war sicherlich der tätliche Angriff auf den 28 Bei einer der ersten Begegnungen mit dem faschistischen Kontaktmann Santo Emanuele erklärte der Francois Méténier: „Votre Duce ... est et sera notre modèle, et nous sommes tout à fait d’accord avec lui pour considérer le fascisme comme une norme de vie politique à l’échelle européenne; la France doit, selon nous, s’inspirer du régime fasciste italien, et l’appliquer pour son propre compte. “ Zit. nach Bourdrel (Anm. 27), S. 111. 29 Vgl. Monier (Anm. 27), S.307. 30 Vgl. dazu Brigitte e Gilles Delluc, Jean Filliol du Périgord à la Cagoule, de la Milice à l’Oradour, Périgueux 2005. 31 Vgl. Franzinelli (Anm. 1), S. 89.
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dem Geheimbund sowohl als Sozialist als auch als Jude verhassten Léon Blum am 13. Februar 1936 auf dem Pariser Boulevard Saint-Germain.32 Dieser Ausschlag trug freilich eher dazu bei, dass Blum, der bei dem Angriff nur leicht verletzt wurde, am 26. April die Parlamentswahlen gewann und die erste Volksfrontregierung bilden konnte. Im März 1937 unterbreiteten Emanuele und Navale den Plan, Rosselli durch die Cagoulards beseitigen zu lassen, dem Chef des SIM, Mario Roatta, dem Polizeichef Arturo Bocchini und dem Chef der politischen Polizei Michelangelo Di Stefano. 33 Der gesamte faschistische Polizeiapparat wurde auf diese Weise in das Mordkomplott hineingezogen. Eindeutig erwiesen ist auch, dass Cianos Kabinettschef und enger Freund, Filippo Anfuso, sich aktiv an den Mordplanungen beteiligte, ja sogar mehrmals mit dem Verhandlungsführer der Cagoulards, Méténier, in Italien persönlich zusammentraf.34 Dass auch Ciano auf dem Laufenden gehalten wurde, kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Der faschistische Auftragsmord an den Brüdern Rosselli in Bagnoles-de-l’Orne entsprang somit keiner bloßen Selbstermächtigung untergeordneter Polizeiapparate, er muss vielmehr als gezieltes Staatsverbrechen des Faschismus angesehen werden. Nach der offiziellen Billigung des Mordplans trieben Emanuele und Navale dessen Umsetzung energisch voran. Mit Méténier und Joseph Darnand, der als Waffenspezialist der Cagoule in Italien an den letzten Verhandlungen teilnahm, wurde für die Ermordung Rossellis die Lieferung von 100 Maschinenpistolen der Marke Beretta, sowie von Munition und Sprengstoff vereinbart, eine eigentlich lächerlich geringe Belohnung für ein Verbrechen dieser Tragweite.35 Aber die faschistischen Drahtzieher hatten mit der Bereitstellung einer Villa in San Remo, die als Fluchtraum diente, und der Unterstützung bei der Beschaffung eines ähnlichen Refugiums im spanischen San Sebastian für die Cagoulards schon große Vorleistungen erbracht. Die „l’Affaire Rossignol“ – so der Tarnname unter den Cagoulards – konnte damit ihren Lauf nehmen.36 Außer zahlreichen faschistischen machten sich nun auch noch Spitzel der Cagoule an Rosselli heran, sodass seine Schergen schließlich über seine politischen und persönlichen Pläne, seine Korrespondenz und seinen persönlichen Umgang in allen Einzelheiten Bescheid wussten. Kaum zu glauben, dass Rosselli zu keinem Zeitpunkt auch nur den geringsten Verdacht schöpfte. Er fühlte sich aber in Frankreich unter der Volksfrontregierung vor faschistischen Nachstellungen völlig sicher, – dass ihm französische Auftragsmörder nach dem Leben trachten könnten, war für ihn offenbar nicht vorstellbar. So lange Rosselli noch in Paris war, schreckten die Cagoulards vor einem Mordanschlag zurück. Aus abgefangenen Briefen war ihnen jedoch bekannt, dass Carlo Rosselli mit seiner Frau am 27. Mai nach Bagnoles-de-l’Orne reisen würde. Ein At32 33 34 35 36
Vgl. Franzinelli (Anm. 1)., S.75 Ebd., S.85. Ebd., S. 91f. Ebd., S.91; Bourdrel (Anm. 27), S. 115f. Der Tarnname l’affaire Roussignol wird durch die geheime Chronik von Aristide Corre belegt. Vgl. Bernadac (Ed.) (Anm. 27), S. 64 (22.5.1937.
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tentat ließ sich dort sicherlich sehr viel leichter verüben als in Paris. Außerdem steht fest, dass Emanuele im Mai 1937 unter falschem Namen nach Paris kam, aller Wahrscheinlichkeit nach, um mit dem Mordkommando der Cagoule auch noch die Ermordung von Nello Rosselli zu vereinbaren.37 Obwohl im engeren Sinne kein politischer Aktivist, hatte Nello Rosselli aus seiner antifaschistischen Gesinnung niemals einen Hehl gemacht. Der junge und ungemein produktive Risorgimento-Historiker stand deshalb in Italien unter scharfer polizeilicher Überwachung, war mehrfach im Gefängnis und wie sein Bruder längere Zeit in der Verbannung gewesen.38 Für die Möglichkeit, dass man auch ihm nach dem Leben trachtete, spricht vor allem der merkwürdige Umstand, dass er entgegen aller sonstigen Gepflogenheiten auf seinen Antrag hin von der Polizei schon am darauffolgenden Tag einen Pass erhielt, um in Frankreich seinen Bruder zu besuchen, der immerhin als ein besonderer Staatsfeind angesehen wurde.39 Auffällig ist auch, dass die Cagoulards am Tag seiner Ankunft in Bagnoles-de-l’Orne einen ersten, gescheiterten Mordanschlag auf beide Brüder planten und am Tag darauf gleich einen weiteren, so als hätten sie nur noch auf Nellos Ankunft gewartet. Am 27. Mai hatte sich Carlo Rosselli tatsächlich mit seiner Frau im Auto nach Bagnoles-de-l’Orne begeben. Mehrfach hatte er dies damit begründet, dass er in dem Schwefelbadeort seine Venenentzündung auskurieren wolle. In der Woche, die er vor seiner Ermordung in Bagnoles-de-l’Orne verbrachte, scheint er sich jedoch noch kein einziges Mal einer medizinischen Anwendung unterzogen zu haben. Vielleicht wollte er in dem entlegenen Badeort nach der Hektik der letzten Wochen und Monate auch nur etwas Ruhe finden, was jedoch für einen politischen Aktivisten wie ihn kein überzeugendes Argument war. Weder er selbst noch sein jüngerer Bruder, der am 7. Juni verabredungsgemäß zu ihm stieß, betätigten sich in Bagnoles-de-l’Orne in irgendeiner Weise politisch, sie benahmen sich eher wie ganz normale Kurgäste. Von der intensiven Beschattung durch die Cagoulards bemerkten sie nichts. Die Mörder konnten ihr Attentat daher in aller Ruhe vorbereiten. Am 9. Juni gingen Carlo und Nello Rosselli in den Tod. Um ihren faschistischen Auftraggebern den Vollzug des Verbrechens anzuzeigen, nahm der Führer des Mordkommandos, Filliol, die Brieftasche und weitere Papiere, die Carlo Rosselli mit sich geführt hatte, an sich, während eine beträchtliche Geldsumme, die Nello bei sich hatte, zurückgelassen wurde. Die entwendeten Unterlagen Rossellis wurden von dem nicht direkt am Attentat beteiligten Aristide Corre und einem weiteren Cagoulard in der Nähe von Turin dem faschistischen Kontaktmann Roberto Navale übergeben.40 Der makabre Akt beendete für Auftraggeber und 37 Ebd., S.92f. Franzinelli weiß allerdings keine Erklärung für den Blitzbesuch Emanueles in Paris. 38 Vgl. zu Nello Rosselli Giovanni Belardelli, Nello Rosselli uno storico antifascista, Roma 1982; Zeffiro Ciuffoletti (Ed.), Nello Rosselli, Uno storico sotto il fascismo. Lettere e scritti vari 1924–1937, Firenze 1979. 39 Dass Nello Rosselli nicht rein zufällig zusammen mit seinem Bruder ermordet wurde, sondern vom faschistischen Regime gezielt in den Tod geschickt wurde, unterstellte als erster Calamandrei, Piero, Uomini e città della Resistenza, Bari 1955, S. 65. 40 Vgl. Péan, Pierre, Le Mystérieux Docteur Martin, Paris 1993; ferner auch Franzinelli, Delitto Rosselli, S.106f.
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Attentäter symbolisch die l’Affaire Rossignol. Weder die eine noch die andere Seite konnten jedoch riskieren, die Nachricht von dem politischen Verbrechen an die große Glocke zu hängen. Bei den Cagoulards war man jedoch stolz darauf, den zweifelhaften Ruf politischer Gewalttätigkeit gefestigt zu haben. Selbstbewusst hielt die politische Organisation des Geheimbundes (OSARN) vom 2.-3.Juli 1937 auf Schloss Nandy bei Paris ihren ersten und allerdings einzigen Kongress ab. Im August bot Méténier in Monte Carlo Emanuele sogar an, weitere italienische Antifaschisten zu liquidieren.41 Das faschistische Regime übte sich seinerseits in Schuldzuweisungen an die Linke, abwechselnd an die Sowjetunion, an die Anarchisten oder an Giustizia e Libertà selbst. Als den französischen Untersuchungsbehörden im Laufe des Jahres 1938 die faschistische Verstrickung in das Verbrechen klar wurde, war die Volksfront bereits nicht mehr an der Regierung. Das faschistische Regime hatte deshalb nicht mehr zu befürchten, dass seine staatsterroristischen Aktivitäten öffentlich an den Pranger gestellt wurden. So rasch das politische Verbrechen von den örtlichen Behörden aufgedeckt wurde, so viel Zeit ließ man sich im Anschluss daran in Paris mit der Strafverfolgung der Täter. Erst Anfang 1938, als viele Mitglieder des Mordkommandos, darunter vor allem auch der Anführer Filliol, sich längst nach Italien oder Spanien abgesetzt hatten, kam die Anklage schleppend in Gang. Mit Kriegsbeginn wurde im September 1939 dann jedoch alles niedergeschlagen. Erst im November 1948 fand in Paris ein ordentlicher Prozess gegen die Cagoule statt, bei dem freilich nur noch wenige der Hauptverantwortlichen belangt werden konnten. Viele der führenden Cagoulards hatten in der Zwischenzeit auf höchst zweifelhafte Art politische Karriere gemacht.42 Der Anführer des Mordkommandos, Jean Filliol, war in den Dienst der deutschen Besatzungsmacht in Frankreich getreten und hatte eine skrupellose Rolle bei der Bekämpfung des Maquis gespielt. Bei der Zerstörung von Oradour-sur-Glane scheint er entscheidende Hinweise gegeben zu haben. Nach dem Krieg entkam er nach Spanien, wo er nicht behelligt werden konnte. Francois Méténier stieg in der Republik von Vichy zum Führer einer Spezialtruppe auf, wurde jedoch von der deutschen Besatzungsmacht festgesetzt, als er eigenmächtig Pierre Laval verhaftet hatte. Jean-Maria Bonvyer nahm unter deutscher Besatzung an führender Stelle an der Verfolgung der Juden teil. Dass er nach dem Krieg nicht strafverfolgt wurde, hatte er seinem Jugendfreund François Mitterand zu verdanken, der ihn schon Ende 1937 nach seiner Verhaftung demonstrativ im Gefängnis besucht hatte. Antoine Deloncle, der Gründer der Cagoule, stellte sich der deutschen Abwehr zur Verfügung, geriet dadurch jedoch zwischen die Fronten und wurde im Januar 1944 in Paris von der Gestapo erschossen. Am bekanntesten ist die politische Karriere, die Joseph Darnand während des Krieges machte. 1943 baute er innerhalb des Vichyregimes nach dem Vorbild der SS zunächst eine Legionärstruppe auf, die Milice Française. Als Staatssekretär Pétains war er für die innere Sicherheit zuständig, wobei er sich vor allem bei der Bekämpfung der maquisards hervortat. Nach der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten bildete er schließlich in Sigmaringen eine fran41 Franzinelli (Anm. 1), S. 124; Monier (Anm. 27), S. 203. 42 Vgl. dazu die Kurzbiografien bei Franzinelli (Anm. 1), S. 255–265.
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zösische Marionettenregierung. Diese düstere Karriere brachte ihm im Oktober 1945 in einem Prozess vor dem Obersten Gerichtshof Frankreichs die Todesstrafe ein. Alle diese Lebensläufe, so verschieden sie auch politisch endeten, hatten eines gemeinsam: Wie einst den italienischen Faschisten stellten sich die ehemaligen Cagoulards nach der Niederlage Frankreichs den deutschen Besatzern bzw. dem Kollaborationsregime von Vichy zur Verfügung. Und wie für die italienischen besorgten sie auch für die deutschen Faschisten besonders schmutzige Geschäfte. Sie erwiesen sich damit vollends als eine philofaschistische Mörderbande, deren Verständnis von Politik ausschließlich in der Ausübung physischer Gewaltanwendung bestand. Es war das Unglück der Rossellis, dass das faschistische Regime in Italien sich dieser Bande bedienen konnte. Wenn von den führenden Cagoulards wenigstens einige für ihre Verbrechen büßen mussten, kamen die eigentlichen Drahtzieher in Italien sämtlich ungeschoren davon, wenn man einmal von dem Sonderfall Costanzo Cianos, den Mussolini bekanntlich aus ganz anderen Gründen hinrichten ließ, absieht. Emanuele und Navale wurden zwar kurz nach dem Krieg vor Gericht gestellt und wegen des Mordes an den Brüdern Rosselli zu lebenslangen Strafen, Anfuso in absentia sogar zum Tode verurteilt. Im Oktober 1949 wurden jedoch alle drei von einem Berufungsgericht in Perugia aus Mangel an Beweisen freigesprochen.43 Noch skandalöser verlief die Strafverfolgung von Mario Roatta.44 Die von ihm in Abessinien, Spanien und Kroatien zu verantwortenden Kriegsverbrechen wurden ihm gar nicht erst angelastet, nur weil es sich bei den Opfern um Italiener handelte, wurde gegen ihn wegen des Mordes an den Brüdern Rosselli immerhin ein Prozess angestrengt. Die lebenslängliche Strafe wurde jedoch 1948, wie ein Jahr später bei den anderen Verantwortlichen für die Mordaktion, von einer Berufungsinstanz wieder aufgehoben. Das faschistische Staatsverbrechen wurde somit in Italien niemals gesühnt, eine willfährige Justiz trug vielmehr dazu bei, dieses zu vertuschen. Das entsprach dem politischen Erinnerungskonsens, in dem in Italien, wenn auch aus unterschiedlichen Interessen, sowohl die politische Rechte als auch die politische Linke die Zeit des Faschismus spätestens seit 1948 der Vergessenheit anheimgab. Auch wenn Ferruccio Parri, Mitstreiter Carlo Rossellis bei Giustitia e Libertà und erster demokratischer Ministerpräsident Italiens nach 1945, in Bagnoles-de-l’ Orne einen Gedenkstein (cippo) aufstellen ließ,45 dürfte dort heute kaum noch jemand etwas mit dem 9. Juni 1937 verbinden. Die Erinnerungsorte der Franzosen haben eine andere historische Qualität. Doch eine Tour de France sollte nicht nur an die großen Momente der französischen Geschichte erinnern, sondern auch an die Schattenseiten der Vergangenheit. Der von der französischen Untergrundorganisation der Cagoule im faschistischen Auftrag ausgeführte Doppelmord an den Brüdern Rosselli
43 Vgl. die ausführliche Darstellung bei Franzinelli (Anm. 1), S. 187–231. 44 Vgl. schon die zeitgenössische Broschüre Il processo Roatta: i documenti, Roma 1945. 45 Vgl. Rosselli, John, Prefazione, in: Pugliese, Carlo Rosselli, S. IX.
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hätte in der französischen Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts zweifellos als ein Tiefpunkt zu gelten. Aus historischer Sicht ist es angebracht, ihn gerade deswegen nicht zu vergessen. Prof. Dr. Wolfgang Schieder, Professor (em.) für Neuere Geschichte, Historisches Seminar der Universität Köln, Göttingen
UN FONCTIONNAIRE INTERNATIONAL EN FRANCE OCCUPÉE: 1940–1944 (CÉDRIC GUINAND)
Document 1: Lettre de J.W. Nixon au B.I.T., 8 juillet 1940. Reproduction avec l’aimable autorisation des Archives historiques du B.I.T. – Sources: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153.
INTRODUCTION Le document reproduit ci-dessus est une lettre de James William Nixon, envoyée lorsqu’il fut bloqué à Paris lors de l’invasion allemande en France au cours de la Deuxième Guerre mondiale. Même s’il participa directement au conflict armé, le sort de J. W. Nixon, un fonctionnaire du Bureau international du travail (B.I.T.), est intéressant à plus d’un titre. En effet, en tant que fonctionnaire international, il aurait peut-être dû pouvoir profiter d’un traitement différent des autres prisonniers britanniques, même si lors de son arrestation, il ne se trouvait pas en mission officielle. Mais étant d’origine britannique, il fut fait prisonnier par les troupes d’oc-
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cupation allemandes et se retrouva donc interné en France comme plus d’un millier de ses compatriotes.1 Il fit partie des nombreux Britanniques qui restèrent emprisonnés durant la totalité de l’occupation nazie de la France. Mais vu l’étendue de l’horreur nazie et notamment la déportation des Juifs, le sort de ces internés n’a quasiment jamais été étudié. Ainsi, l’ouvrage de Denis Peschanski long de quasiment 550 pages et traitant exclusivement de l’internement et l’emprisonnement de toutes les catégories de personnes en France occupée ne consacre que quatre pages aux Britanniques.2 Et, c’est sans doute un des premiers ouvrages à le faire de façon aussi systématique pour toutes les catégories de prisonniers. Le cas de J. W. Nixon ne prétend pas donner une idée générale du destin de ces milliers de Britanniques pris au piège en territoire (devenu) ennemi ni de comparer l’incomparable, c’est-à-dire mettre en parallèle le sort réservé aux Juifs, aux Tsiganes ou aux résistants avec le quotidien des internés britanniques pendant la Seconde Guerre mondiale, mais il permettra sans doute de voir comment une situation extraordinaire, comme une guerre, change les règles de bases, fixées en temps de paix, comme celle de l’immunité d’un fonctionnaire international. 1. UN BREF APERÇU DU DESTIN DE J. W. NIXON: 1940–1944 Avec le début de la Deuxième Guerre mondiale en septembre 1939, le B.I.T. dut mettre en place plusieurs plans d’urgence pour parer à toutes les éventualités. Mis à part la réduction nécessaire de personnel,3 et vu les probables restrictions budgétaires dues à la guerre, le Comité d’urgence proposa également le déplacement d’un nombre limité de fonctionnaires internationaux vers la France en cas d’invasion de la Suisse.4 Sur cette liste restreinte se trouvait également le nom de James W. Nixon.5 Lui et sa famille se trouvait donc à ce moment-là dans une situation relativement confortable. Avec l’invasion de la France en mai-juin 1940, cette situation de relative sécurité fut complètement remise en question. En effet, les plans d’évacuation étaient devenus complètement obsolètes, car ils n´avaient pas pris en compte ce cas de figure, c´est-à-dire l´invasion de la France par les troupes allemandes. Le B.I.T. dut réduire fortement son personnel, dont les coûts de personnel représentaient 70% de son budget.6 Or, comme l’état des finances de leur organisation était critique, les dirigeants du B.I.T., totalement pris au dépourvu par la tournure des événements, durent de toute urgence s’organiser différemment. 1 2 3 4 5 6
Lettre de M. B. Sullivan à Sir Myrddin-Evans, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier LBO 2–4–4, 12.9.1940, p. 1. Peschanski, Denis, La France des camps. L’internement, 1938–1946, Paris 2002, p. 204–207. Minutes of the Fifth and Sixth Sittings (Private) of the Eighty-Sixth Session of the Governing Body, 2–4 February 1939, Genève 1939, p.40–41. Tableau des mesures à préparer en vue du repliement progressif du bureau en dehors de la Suisse, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 19–47, 9.5.1940. Liste des 50 fonctionnaires à évacuer éventuellement d’urgence, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 19–47, s.d., p.3. Minutes of the Fifth and Sixth Sittings (Private) of the Eighty-Sixth Session of the Governing Body, 2–4 February 1939, Genève 1939, p.30.
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Ils distribuèrent les fonctionnaires sur quatre listes différentes. La liste A contenait les fonctionnaires qui devaient attendre les informations des dirigeants du B.I.T. et allaient sans doute continuer à travailler avec l’organisation pendant la durée du conflit mondial. Sur la liste B se retrouvaient tous les employés qui le moment voulu recevraient un congé extraordinaire de six semaines et seraient selon leur choix soit suspendus, soit forcés de démissionner. Les personnes se trouvant sur la liste C seraient immédiatement libérées de leurs obligations vis-à-vis du B.I.T. Quant aux employés inscrits sur la liste D, ils constituaient un petit groupe chargé de la maintenance du bâtiment de Genève pour que celui-ci reste fonctionnel à tout moment. J. W. Nixon se retrouva sur la liste B, ce qui signifiait qu’il n’avait selon toute vraisemblance quasiment plus aucune chance de conserver en temps de guerre un emploi au sein du B.I.T. Comme l’ensemble des autres employés de la liste B, on lui laissa le choix entre la démission et la suspension, le second choix donnant l’espoir d’obtenir un emploi à la fin de la guerre et surtout le droit de conserver les droits de pension déjà acquis.7 Le 20 juin 1940, les responsables du B.I.T. mirent en place les décisions prises en mai, mais à ce moment-là Nixon ne se trouvait déjà plus à Genève. Il avait quitté Genève le 4 juin 19408 pour mettre sa famille en sécurité et arriva avec sa femme et ses trois filles au plus tard le 6 juin 1940 à Hendaye, ville à la frontière franco-espagnole. Le 10 juin 1940, Nixon quitta Hendaye sans sa famille pour se rendre à Paris, où il rencontra le Directeur du B.I.T., John Winant.9 Les troupes allemandes entrèrent dans Paris le 14 juin 1940, avant que Nixon ait pu quitter la ville,10 tandis que Winant put rejoindre Genève au dernier moment.11 Etrangement, mis à part Winant et Nixon, personne au sein du B.I.T. ne semble avoir été informé de cette rencontre, puisque durant toute la guerre, les fonctionnaires du B.I.T. déclinèrent toute responsabilité de l’organisation genevoise quant au sort de Nixon.12 Cela rendit la position du fonctionnaire de nationalité britannique encore plus délicate, d’autant plus qu’il fut dans l’impossibilité de communiquer avec sa femme ou son employeur durant plusieurs semaines. Dans un premier temps, Nixon fut autorisé par les autorités allemandes à se déplacer librement dans Paris, mais en juillet 1940 il fut interné d’abord à Fresnes, puis à Saint-Denis, où il resta jusqu’à sa libération en août 1944, mis à part trois mois de sanction passés à Drancy au début de l’année 1941.13 Ce n’est 7 8 9 10 11 12 13
International Labour Office, General Instructions I.G. 8.1940, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 19–47, 16.5.1940. Lettre de M. Burge to Sirf. W. Leggett, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 28.7.1941, p. 1. Lettre à M. de Salis, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 17.7.1940. Nixon, James W., Paris 1940–1944: Some Memories , in: Bulletin de l’Amicale du Bureau international du Travail 1/1947, p. 84. Bellush, Bernard, He Walked Alone. A Biography of John Gilbert Winant, The Hague 1968, p. 148. Lettre à Sir Frederick Leggett, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 29.5.1942, p. 2. Réquisitions, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier Paris Branch Office, s.d., p. 1–4; Extract from a letter to Acting Director from Mr. Gallois, Geneva Office, dated 25.2.1941, received 22.3.1941, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153; Nixon, James W.: art. cit., p. 84.
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que le 20 septembre 1944 que Nixon arriva à Londres et put enfin retrouver sa famille.14 2. LES DIFFICULTÉS LIÉES AU STATUT DE J. W. NIXON Le cas de Nixon est intéressant pour de nombreuses raisons. Premièrement concernant son statut: comme chef de la Section statistique du B.I.T, il était un haut fonctionnaire international. Mais le cas est bien plus compliqué: son employeur initial, le Ministère britannique du Travail, ne l´avait été en fait que délégué au près du B.I.T. le 12 avril 1920.15 Son activité dans cette organisation se prolongeant, ni les autorités anglaises, ni les dirigeants du B.I.T. n’estimèrent devoir clarifier son statut, chacune des parties en renvoyant à l’autre la responsabilité. Deuxièmement, Nixon avait été informé en mai 1940 qu’il devait faire un choix entre la suspension et la démission de son poste de fonctionnaire international. Au moment, où on lui demanda de faire ce choix, il était cependant inatteignable et ne put pas prendre de décision jusqu’à sa libération en 1944. Cette situation laissait un flou juridique aussi bien sur le véritable employeur de J. W. Nixon que sur son statut professionnel vis-à-vis du B.I.T. En effet, d´une part, il fallait se poser la question de savoir si Nixon était un fonctionnaire du Ministère du Travail britannique ou du B.I.T. Et d´autre part, clarifier si son contrat d’emploi au B.I.T. était encore valable ou pas, vu la décision prise par l’organisation genevoise le 20 juin 1940. En fait, dès son internement, le B.I.T. et les ministères britanniques concernés commencèrent à correspondre à ce sujet. Dans une première phase, les efforts du B.I.T. et des officiels britanniques se concentrèrent sur une libération sur la base de l’âge de J. W. Nixon, né en 1888 et donc âgé de 52 ans en 1940. Malheureusement, les Allemands ne libérèrent que les hommes âgés de plus de 60 ans. 16 Puis, le B.I.T. tenta de convaincre les Britanniques d’inclure Nixon dans les échanges de personnel diplomatique.17 Cette tentative échoua également, car premièrement les Britanniques ne considéraient plus Nixon comme un employé du Service diplomatique britannique et que deuxièmement le nombre d’Allemands prisonniers en Grande-Bretagne et pouvant servir de monnaie d´échange était nettement inférieur à celui de Britanniques en France et en Allemagne.18 Même si la correspondance sur le cas Nixon est considérable dans les Archives historiques du B.I.T., il est frappant de constater que personne ne chercha vraiment à trouver une solution pour Nixon. D’ailleurs, une fois que la France entière fut occupée et que les Alle14 Télégramme de M. Robbins, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 20.9.1944. 15 Lettre de M. G. A. Johnston to M. S. Williams, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 25.2.1944. 16 Lettre de M. Burge à Mrs. Nixon, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier LBO 2–4–4, 6.2.1941. 17 Lettre de M. Burge à Sirf. W. Leggett, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier LBO 2–4– 4, 27.9.1941. 18 Copie d’une lettre envoyée à M. Henry Churchill par le Prisoners of War Department, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 6.3.1944, p. 1.
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mands refusèrent d’abaisser l’âge de libération à 50 ans, Nixon tenta de trouver lui-même une solution à sa situation en demandant d’être rapatrié en tant que fonctionnaire britannique.19 Cette démarche eut lieu cependant fort tardivement, puisqu’il fit cette demande alors qu’il avait déjà passé trois ans et demi dans les camps d’internement français. Or, c’est à ce moment-là que le Ministère britannique des Affaires étrangères rappela au B.I.T. qu’il avait offert en octobre 1941 à celui-ci d’intervenir s’il s’avérait exact que Nixon était toujours un fonctionnaire britannique et que le Ministère du Travail britannique en faisait la demande formelle.20 Il semblerait que le B.I.T. n’ait jamais transmis ces données au Ministère du Travail britannique et que donc aucune tentative de libération ou d’échange ne fut entreprise avant 1944. Cependant, il est également étrange que deux ministères britanniques aient dû passer par les bons services d’une organisation internationale pour communiquer entre eux. Cette découverte du statut véritable ou plutôt du double statut de Nixon eut lieu trop tardivement, puisqu’on écrivait déjà l’année 1944 et que les Allemands dans leur retrait précipité avaient d’autres priorités que de libérer ou échanger des prisonniers britanniques. Même si les autorités britanniques firent une demande officielle par l’entremise du Consulat suisse pour rapatrier Nixon avec un groupe consulaire britannique interné à Bad Neuenahr,21 ce n’est qu’avec le retrait des Allemands que Nixon put recouvrir la liberté. Le cas de Nixon montre que ni les autorités britanniques, ni les fonctionnaires du B.I.T. furent en mesure ou ne voulurent vraiment rassembler toutes les données nécessaires pour clarifier le véritable statut de Nixon. Une recherche quelque peu approfondie de son affiliation avec ses différents employeurs aurait en effet permis de faire une demande nettement plus convaincante auprès des occupants allemands. Surtout les actions des fonctionnaires du B.I.T. semblent indiquer que pour eux, Nixon s’était mis lui-même dans cette situation et qu’il lui incombait de trouver une solution pour se sortir de ce mauvais pas. 3. LES FINANCES Comme Mrs. Nixon et ses trois filles, toutes quatre non actives professionnellement, se trouvaient en Angleterre sans moyens financiers, le statut de Nixon au sein du B.I.T. devint également un sujet de préoccupation financier pour toutes les parties concernées. Ainsi, dès l’annonce de la disparition momentanée de Nixon à Paris, le Directeur du B.I.T. de l’époque, John Winant, décida qu’il fallait repousser une décision concernant l’éventuelle suspension ou démission.22 Mais cette dé19 Lettre de M. G. A. Johnston à M. S. Williams, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 25.2.1944. 20 Copie d’une lettre envoyée à M. Henry Churchill par le Prisoners of War Department, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 6.3.1944, p. 1. 21 Lettre du Département Politique fédéral à la Légation de Sa Majesté Britannique, in: Copie d’une lettre envoyée à M. Henry Churchill par le Prisoners of War Department, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 6.6.1944. 22 Note interne, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 6.6.1941.
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cision ne simplifia pas les choses, puisque de facto Nixon restait donc un fonctionnaire du B.I.T., même si celui-ci avait suspendu le versement de son salaire. D’ailleurs, Nixon, par l’entremise de sa femme, protesta fermement contre cette mesure, puisqu’il n’en avait pas été informé.23 En dépit d´une absence de décision de la part de Nixon concernant sa suspension ou sa démission, le B.I.T. lui versa une somme en juillet 1940,24 mais personne ne fut en mesure de lui expliquer dans un premier temps ce que cette somme représentait. Pour ne pas arranger l’affaire, le déménagement de la majeure partie du personnel employé par le B.I.T. à Montréal rendit une recherche concernant la raison de ce paiement encore plus difficile. A tout cela, il faut ajouter les communications rendues extrêmement difficiles étant donné les hostilités. Les bureaux de Montréal et de Genève mirent plusieurs mois avant de pouvoir dire ce que les sommes payées à Mme Nixon représentaient exactement.25 La confusion fut telle qu’il y eut même un ordre de versement double. Il faut relever que c´est Mrs. Nixon elle-même qui indiqua l’erreur au B.I.T.26 A intervalles réguliers, certains fonctionnaires du B.I.T. tentèrent de pousser Nixon à choisir entre la suspension et la démission depuis son centre d’emprisonnement.27 Dans la correspondance à disposition dans les dossiers, Nixon ne prit jamais position sur cette demande, mais vu que Mrs. Nixon n’avait plus de ressources financières, elle demanda en mars 1943 une aide financière au directeur ad intérim du B.I.T., Edward Phelan.28 La réponse en faveur d’un soutien financier à l’encontre de la famille Nixon fut assez rapidement prise. Le seul argument qui empêcha une décision encore plus rapide en faveur des Nixon fut que les dirigeants du B.I.T. avaient promis de ne pas aller au-delà des règles émises par la Société des Nations.29 Vu cependant le cas exceptionnel, la Commission de supervision du B.I.T. accorda le 27 août 1942 une aide représentant un quart du salaire annuel d’avant-guerre de James Nixon.30 Cette aide fut renouvelée en juillet 1943,31 mais plus en 1944, Nixon ayant été libéré au cours de cette année. On lui demanda à ce moment de choisir entre la suspension et la démission.32 23 Lettre de Mrs. Nixon à Mr. E. J. Phelan, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 11.5.1941, p. 1. 24 Lettre de Mrs. Nixon à Mr. J. Winant, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 28.12.1940, p. 1. 25 Lettre de M. de Salis, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 19.6.1941, p. 1. 26 Lettre de M. Gallois à M. Burge, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier LBO 2–4–4, 25.2.1941. 27 Par exemple, Lettre de M. Burge à M. Nixon, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 31.7.1941. 28 Lettre de Mrs. Nixon à M. E. J. Phelan, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 1.3.1942, p. 2. 29 Lettre à Sirf. W. Leggett, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 29.5.1942, p. 2. 30 Extract from decisions of Supervisory Commission, August 1942, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 27.8.1942. 31 Télégraphe de M. E. J. Phelan à M. Robbins, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 28.7.1943. 32 Lettre à M. J. W. Nixon, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 7.12.1944. Il est d’ailleurs surprenant de constater qu’en décembre 1944, cette décision n’avait toujours pas été prise par Nixon.
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CONCLUSION Nixon fut donc suspendu par le B.I.T. à partir de septembre 1944, mais comme il ne put être réengagé tout de suite à l´issue de la Deuxième Guerre mondiale, vu que le B.I.T. resta jusqu´en 1948 à Montréal on résilia son contrat en novembre 1945.33 Etant toujours un fonctionnaire britannique, Nixon retrouva un emploi dans la Commission interalliée en Allemagne de août 1945 à novembre 1947. A partir de novembre 1947, il travailla à nouveau au B.I.T. jusqu’à sa retraite en décembre 1949.34 Mis à part le destin personnel douloureux de Nixon, son cas mérite d´être relevé comme celui d’un des premiers fonctionnaires internationaux fait prisonnier dans le cadre d’un conflit mondial. En effet, les Archives de la Société des Nations ne possèdent aucun document qui indique un cas similaire pour leur personnel. Le B.I.T. ne connut que deux autres cas, mais d’une constellation différente: Herbert A. Stapleton, un ancien fonctionnaire du B.I.T. et ressortissant britannique, fut emprisonné en même tant que J. W. Nixon, mais mourut le 29 août 1941 en captivité à la suite d’une dépression nerveuse; la femme et le fils de Charles W. Ould, un fonctionnaire sud-africain du B.I.T., se trouvaient en France lors de l’invasion nazie et furent internés jusqu’en février 1942, puis remis en liberté par les forces allemandes.35 Même si l’Allemagne nazie avait coupé tout lien avec les organisations de la Société des Nations, le manque de respect vis-à-vis d’un des chefs de section du B.I.T. est tout de même étonnant. Il est vrai que les droits diplomatiques des fonctionnaires internationaux n’avaient été définis clairement que par rapport à la Suisse et restaient très floues vis-à-vis des autres pays,36 surtout si ceux-ci n’étaient plus membre de ce type d´organisation comme c’était le cas de l’Allemagne de Hitler. De plus, les voyages en mission et ceux à titre personnel n’avaient pas du tout été traités dans ces «Immunités» et laissaient donc le fonctionnaire international en voyage sans véritable possibilité de s’opposer au traitement que lui imposerait un Etat souverain, comme ce fut le cas de l’Allemagne nazie puis de la France de Vichy. Le cas Nixon montre également que toutes les règles mises sur pied pour une organisation internationale et ses employés peuvent devenir complètement obsolètes du moment que celle-ci n’a qu’une sphère d’influence limitée en période de 33 Lettre de M. J. W. Nixon à M. E. J. Phelan, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 28.7.1945. 34 Lettre de M. G. A. Johnston à M. J. W. Nixon, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 12.9.1947; et Attestation de M. W. Caldwell, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 153, 31.1.1951. 35 Pour ces deux cas, voir Archives historiques du B.I.T., Dossiers P 908 et P 2245. Il est intéressant de relever que Charles Ould accusa le B.I.T. d’être responsable de l’internement de sa femme et de son fils, car le B.I.T. aurait conseillé ses employés de mettre leur famille en sécurité en France (Lettre de M. C. Ould à M. J. G. Winant, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier P 2245, 8.11.1940, p. 1.). 36 Immunités des Membres du Personnel du Bureau international du Travail, in: Archives historiques du B.I.T., Dossier PD 1–2, 15.3.1936, p. 12–13.
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guerre. Il est sans doute impossible de prendre les mesures nécessaires pour tous les cas de figure, mais le manque de vision du B.I.T. et surtout le flou entretenu sur les différents status n’aidèrent pas à améliorer la situation déjà fort compromise de son fonctionnaire. Ainsi, le B.I.T. se trouva totalement dépourvu de moyens durant toute la durée des hostilités et ne fut à aucun moment en position d’influencer d’une manière ou d’une autre une possible libération de son fonctionnaire. Au contraire, l’organisation genevoise dut mettre tous ses espoirs sur les autorités britanniques, qui furent cependant complètement dépassées par l’ampleur de l’événement dans un premier temps, puis eurent du mal à déterminer exactement le statut de Nixon. C’est la question de ce fameux statut qui fit que personne ne se sentit vraiment responsable d’aider Nixon de la manière la plus efficace. Il y a fort à craindre que si un jour, un autre conflit d’une envergure mondiale éclate, les organisations internationales ne seront pas en mesure d´assurer une véritable protection à leurs fonctionnaires et qu’elles devront se tourner vers les Etats d’origine de leur personnel pour trouver des solutions à leurs problèmes. Ceci montre bien que dans des circonstances extraordinaires l’immunité des fonctionnaires internationaux ne semble pas pouvoir être garantie face à la puissance souveraine des Etats membres. Cette «affaire» Nixon pose on ne peut plus clairement la nécessaire mise en place de mesures plus adéquates pour préserver l’immunité des fonctionnaires internationaux en cas de conflits. Ceci va cependant bien au-delà du cadre de cette communication, car il faudrait aussi prendre en considération d’autres aspects, comme la position de l’Allemagne nazie vis-à-vis des organisations internationales de l’époque37 Toutefois ce cas historique met en lumière une problématique dont l’actualité est manifeste. Dr. Cédric Guinand, Historiker, Genf BIBLIOGRAPHIE A. SOURCES Minutes of the Fifth and Sixth Sittings (Private) of the Eighty-Sixth Session of the Governing Body, 2–4 February 1939, Genève: I.L.O. 1939. NIXON, James W.: «Paris 1940–1944: Some Memories», in: Bulletin de l’Amicale du Bureau international du Travail 1/1947, p. 84–86. Dossiers provenant des Archives historiques du B.I.T.: LBO 2–4–4: London Branch Office: World War II: Personnel. Prisoners of War (J. Nixon, Stapleton, Ould and son). P 19–47: Transfert du siège du Bureau en cas de conflit. P 153: Personnel File: Nixon, Mr. J. W. 37 Cf. Erdmann, Ernst-Gerhard, Deutschlands Mitgliedschaft in der IAO – ein Reflex seiner Geschichte 1919–1933–1951, in: Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit. 75 Jahre Internationale Arbeitsorganisation, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Baden-Baden 1994, p. 27–36.
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P 908: Personnel File: Stapleton, Herbert P 2245: Personnel File: Ould, Mr. C. W. PD 1: Diplomatic privileges: General early correspondence with League in England and position of ILO. PD 1–2: Diplomatic privileges: Establishment notices (Office instructions) – General (Part I) 08.1920–11.1935. PD 1–10: Diplomatic privileges: Classification of staff (Part I) 08.1920–04.1937.
B. LITTÉRATURE BELLUSH, Bernard: He Walked Alone. A Biography of John Gilbert Winant, The Hague 1968, 246 p. ERDMANN, Ernst-Gerhard: «Deutschlands Mitgliedschaft in der IAO – ein Reflex seiner Geschichte 1919–1933–1951», in: Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit. 75 Jahre Internationale Arbeitsorganisation, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Baden-Baden 1994, p. 27–36. FREY, Linda S./FREY, Marsha L.: The History of Diplomatic Immunity, Columbus 1998, 727 p. PESCHANSKI, Denis: La France des camps. L’internement, 1938–1946, Paris 2002, 549 p.
LINEA GOTICA – LIEU DE MÉMOIRE DEUTSCHE BESATZUNG IN ITALIEN, 1943–1945
(FABIAN LEMMES)
Über die Toskana ist schon alles gesagt und geschrieben worden, sollte man meinen. Eine einzigartige, über 2500 Jahre vom Menschen geprägte Kulturlandschaft, unermessliche Reichtümer an Kunstschätzen aus Mittelalter und Renaissance, die atemberaubenden Panoramen der Apuanischen Alpen und des Apennin, die Hügellandschaften des Chianti, des Casentino oder des Val d’Orcia, die toskanische Küche und ihre Weine, die sanften Strände der Maremma, der Charme von Elba, Giglio, Capraia und des Monte Argentario – all das und vieles mehr macht die Region zu einem bevorzugten Ziel deutscher und anderer Italienreisender und damit zu einem der hierzulande am besten bekannten Landstriche südlich der Alpen. Und doch stößt man immer wieder auf Überraschungen. Wer sich etwa an der toskanischen Küste ins Badevergnügen stürzt, wird sich mancherorts über massige, von der Witterung gezeichnete Betonkonstruktionen wundern, die aus der ufernahen Macchia, dem Sandstrand oder dem flachen Wasser emporragen. Kenner der französischen Küste, die noch heute von Relikten des 1942–44 von der Besatzungsmacht errichteten „Atlantikwalls“ gesäumt ist, mögen erahnen, worum es sich hierbei handelt. Es sind Überreste deutscher Bunker und Stellungen, errichtet in den Jahren 1943–44 von der Wehrmacht oder der paramilitärischen Organisation Todt, die, 1938 als Zentralstelle für den Westwallbau geschaffen, während des Zweiten Weltkriegs überall im deutsch besetzten Europa kriegswichtige Bauarbeiten ausführte (Bild 1).1 Noch deutlichere Spuren als an der Küste hat die deutsche Besatzung in den Bergen der nördlichen Toskana etwas abseits der breiten Touristenströme hinterlassen, insbesondere in den Apuanischen Alpen und im Apennin entlang der Grenze zur Emilia-Romagna. In diesem Gebiet sowie in den anschließenden nördlichen Marken errichteten Wehrmacht und Organisation Todt zwischen Frühjahr und Spätsommer 1944 eine 320 km lange Verteidigungslinie, zunächst „Gotenlinie“, dann „Grüne Linie“ genannt, mit der die Besatzungsmacht nach dem Verlust Süd- und Mittelitaliens einen weiteren Vormarsch der Alliierten nach Norden aufzuhalten versuchte. Als eine mehr oder weniger dichte Abfolge von Bunkern, Laufgräben, Panzersperren, Artilleriestellungen und Festungen erstreckte sie sich in einer Tiefe von 20–30 km vom Tyrrhenischen Meer bei Viareggio in Ost-WestRichtung nördlich von Lucca, Pistoia und Florenz quer durch den Apennin bis Urbino und weiter nach Pesaro an der Adria (Bilder 2 und 3). Wer sich auf einer der zahlreichen Wanderrouten durch die Apuanischen Alpen, die Garfagnana, das Gebiet von Abetone oder durch den Montefeltro in den angrenzenden Marken bewegt, kann noch heute Überreste der Anlagen inmitten malerischer Landschaften 1
Mein Dank gilt Niccolò Tognarini für seine Hilfe bei der Beschaffung der Fotos.
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und architekturhistorischer Kleinode aus früheren Epochen erspähen – und tut dies nicht selten auf Wegen, die 1944 von der Organisation Todt für militärische Zwecke angelegt wurden (Bilder 4, 5 und 6). Diese Relikte erinnern an eine andere, bisweilen vergessene Toskana. Sie verweisen auf eine ebenso leidvolle wie für Erinnerung und politische Kultur prägende Episode der italienischen Geschichte, die zugleich eines der dunkelsten Kapitel der deutsch-italienischen Beziehungen darstellt. Sie erinnern nicht nur an die militärischen Auseinandersetzungen, sondern auch und vor allem an das Schicksal der Zivilbevölkerung in einer Region, die über Monate hinweg im Operationsgebiet lag, an Widerstand und Partisanenkampf, an deutschen Terror und Massaker an Zivilisten, an Zwangsarbeit, Evakuierung und Deportation sowie an den italienischen Bürgerkrieg zwischen Partisanen und Salò-Faschisten. All dies fand im Bereich der Apenninstellung einen Kristallisationspunkt. Entsprechend ist sie mehr als nur eine militärische Stellung, sie steht emblematisch für die deutsche Kriegführung und Besatzungsstrategie in Italien und für das Leid der italienischen Bevölkerung. Während sie in Deutschland ein bestenfalls Spezialisten und Militärhistorikern bekanntes Detail der Geschichte des Zweiten Weltkriegs darstellt, ist „la Linea gotica“ in Nordmittelitalien ein Erinnerungsort – und dies in zunehmendem Maße. DIE APENNINSTELLUNG IM RAHMEN DER DEUTSCHEN KRIEGFÜHRUNG IN ITALIEN Die germanischen Invasoren der Apenninhalbinsel während der Völkerwanderungszeit waren für Wehrmacht und Organisation Todt (OT) in Italien beliebte Namenslieferanten. So trugen etwa die drei Oberbauleitungen des „Einsatzes Süd“ der OT, der 1943–44 in der weiteren Umgebung von Rom operierte, die illustren Namen „Theoderich“, „Geiserich“ und „Alarich“.2 „Gotenlinie“ hieß die Befestigungslinie entlang dem toskanisch-emilianische Apennin allerdings nur knapp zwei Monate lang im Frühjahr 1944: Hatte man sie in Planungsphase bis April 1944 einfach „Apenninstellung“ genannt, so wurde sie bereits Mitte Juni 1944, als die Arbeiten in großem Stil begannen, in „Grüne Linie“ (oder „Grünstellung“) umgetauft. Diese zweite Umbenennung sollte vor allem verhindern, dass die Alliierten einen zusätzlichen propagandistischen Vorteil aus der Eroberung einer nach den Goten benannten Verteidigungsstellung zögen.3 Die Alliierten übernahmen die neue Bezeichnung jedoch nicht. Entsprechend firmiert die Stellung in der englisch- und italienischsprachigen Literatur ebenso wie in der regionalen Erinnerung als „Gothic Line“ bzw. als „Linea gotica“. Die Grünstellung war eines von mehreren großen deutschen Stellungsbauprojekten in Italien. Wie überall im besetzten Europa wurden diese überwiegend von der Organisation Todt unter Einschaltung privater Baufirmen ausgeführt, teilweise 2 3
Bundesarchiv Berlin, R 50 I, 188–194, passim. Bennet, Ralph, L’ULTRA e la linea gotica, in: Giorgio Rochat/Enzo Santarelli/Paolo Sorcinelli (Hrsg.), Linea gotica 1944. Eserciti, popolazioni, partigiani, Milano 1986, S. 125–141, hier S. 140, Anm. 18.
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– insbesondere in unmittelbarer Frontnähe – auch von den Pioniereinheiten des Heeres, in beiden Fällen unter massivem Rückgriff auf einheimische Arbeitskräfte. Bereits im Herbst 1943 war die „Einsatzgruppe Italien“ der OT mit der Befestigung der Küstenlinien zum Schutz gegen alliierte Landungsversuche beauftragt worden. Zum einen sollte der seit Anfang 1943 als mediterranes Pendant zum Atlantikwall in Südfrankreich errichtete „Südwall“ auf italienischer Seite entlang der ligurischen und toskanischen Küste bis Livorno verlängert, zum anderen die Adriaküste befestigt werden, vor allem im als besonders gefährdeten eingestufte Abschnitt zwischen Ravenna und Ancona. Ein weiteres umfangreiches Küstenverteidigungsprojekt wurde im Sommer 1944 im Bereich der Operationszone „Adriatisches Küstenland“ zwischen Venedig und Fiume in Angriff genommen, wo die deutsche Militärführung mit einer Landung der Alliierten hinter den deutschen Linien rechnete.4 Wesentlich für die von Feldmarschall Kesselring durchgesetzte Strategie des langsamen und aggressiven Rückzugs, gemäß der es ein weiteres Vorrücken der Alliierten nach Norden mit allen Mitteln aufzuhalten oder zumindest hinauszuzögern galt, war außerdem der Bau von Verteidigungslinien durch das Landesinnere in Ost-West-Richtung: zunächst zwischen Rom und Neapel (insbesondere die Gustav-Linie auf der Höhe von Cassino), wo die Front zwischen Oktober 1943 und Mai 1944 weitgehend zum Stehen kam, nach dem Verlust Mittelitaliens dann nördlich von Florenz. Seit 1943 geplant, wurde der Bau der Apenninstellung von Juni 1944 an unter Mobilisierung umfangreicher Material- und Arbeitskräfteressourcen vorangetrieben, wobei sich OT und Pioniere die Bauabschnitte aufteilten. Die ihr von deutscher Seite zugedachte Rolle konnte die Grünstellung nur eingeschränkt spielen, da britische Einheiten sie an der Ostflanke in der Ebene von Rimini bereits Anfang September 1944 durchbrachen und die deutschen Verbände weiter nach Norden drängten. Die deutsche Führung ließ daraufhin im Bereich der Operationszonen „Alpenvorland“ und „Adriatisches Küstenland mit dem Bau einer Voralpenstellung (der sogenannten „Blauen Linie“) und der Anlage von Hochgebirgsstellungen zur Sicherung der Alpenpässe beginnen.5 Allerdings blieb der alliierte Vorstoß im Herbst 1944 in der romagnolischen Ebene stecken und gleichzeitig der westliche Teil der Grünstellung intakt. So dauerten Krieg und deutsche Besatzung für die Bewohner von Teilen des toskanisch-emilianischen Apennin noch bis zum Frühjahr 1945–erst am 21. April wurde Bologna von den Alliierten befreit.
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Dorsch, Xaver, Die Organisation Todt. Ausarbeitung für die Historical Division/US Army in Europe, abgedruckt in: Hedwig Singer (Hrsg.), Entwicklung und Einsatz der Organisation Todt (OT), Osnabrück 1998 (Quellen zur Geschichte der Organisation Todt; 1/2), S. 437– 610, hier S. 507f.; Seidler, Franz W., Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht, 1938–1945, Bonn ²1998, S. 110; Singer, Entwicklung und Einsatz, S. 46f.; zu den Befestigungsarbeiten in der Operationszone Adriatisches Küstenland ausführlich Spazzali, Roberto, Sotto la Todt. Affari, Servizio obbligatorio del lavoro, deportazioni nella zona d’operazioni „Litorale adriatico“, 1943–1945, Gorizia ²1998. Seidler, (Anm. 4), S. 112f.
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Die „Linea gotica“ war der Schauplatz, an dem sich die von Kesselring und Hitler festgelegte Strategie des „aggressiven Rückzugs“ par excellence realisierte.6 Diese beinhaltete eine Politik der verbrannten Erde, rücksichtslosen Terror und Repressalien gegenüber der Zivilbevölkerung im Rahmen der Partisanenbekämpfung sowie die Verschleppung der Bewohner und ihre Heranziehung zur Zwangsarbeit beim Stellungsbau oder in der Kriegsindustrie. MASSAKER AN DER ZIVILBEVÖLKERUNG Mit den Repressalien gegen die Zivilbevölkerung versuchte die deutsche Armeeführung in Italien zum einen, Druck auf die Partisanen auszuüben, und zum anderen, eine Desolidarisierung der Bevölkerung mit der Partisanenbewegung herbeizuführen. Ihren grausamen Höhepunkt erreichten die Repressalien im Sommer 1944 in den Apuanischen Alpen und im toskanisch-emilianischen Apennin. Bereits im Frühjahr erlassene drakonische Befehle wurden im Juni und Juli 1944 vom Oberbefehlshaber Südwest, dem Oberkommando der 14. Armee und den nachgeordneten Stellen noch weiter verschärft. Dabei sicherte man den Verantwortlichen der bei den Aktionen eingesetzten Einheiten für jegliches noch so brutales Vorgehen Straffreiheit zu.7 Am Morgen des 12. August 1944 umstellten vier Kompanien der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ das Bergdorf Sant’Anna di Stazzema im Norden der Provinz Lucca. Die versprengt liegenden Ortsteile wurden systematisch durchkämmt, die Häuser niedergebrannt, alle Bewohner zusammengetrieben, erschossen oder mit Handgranaten oder Flammenwerfern getötet – binnen dreier Stunden war das Dorf ausgelöscht. Ob das offiziell als „Bandenunternehmen“ bezeichnete Massaker primär als Repressalie für die Unterstützung der Partisanen, als Strafaktion wegen Nichtbefolgung eines Räumungsbefehls, als Vergeltung für einen Anschlag oder Suche nach versteckten Partisanen anberaumt worden war, ist umstritten.8 Sicher ist, dass es sich bei den 560 Todesopfern fast ausnahmslos um Frauen, Kinder und alte Männer handelte. An ihr Schicksal erinnert ein 1948 errichtetes Monument, das sich über dem Massengrab erhebt, in dem die sterblichen Überreste ruhen. Das Gelände von Sant’Anna ist heute Teil des Parco della Memoria e della Pace delle Apuane und Sitz eines Museo storico della Resistenza.9 6 7 8 9
Tognarini, Ivan, Popolazioni e Linea gotica, in: Regione Toscana (Hrsg.), Linea gotica in Toscana, http://www.regione.toscana.it/memorie_del_900/linea_gotica/ (Zugriff am 29.10.2007). Klinkhammer, Lutz, Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945, Tübingen 1993 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; 75), S. 443–485. Vgl. Ferretti, Vasco, Le Stragi naziste sotto la Linea Gotica. 1944: Sant’Anna di Stazzema, Padule di Fucecchio, Marzabotto. Milano 2004, S. 47–55. Speziell zum Massaker von Sant’Anna s. ebd., S. 25–77; Gentile, Carlo, Sant’Anna di Stazzema, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003, S. 231–236; Buratti, Claudia/Cipollini, Giovanni, Vite bruciate. La strage di Sant’Anna di Stazzema 1944–2005, Roma 2006.
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Sant’Anna di Stazzema war neben den Fosse Ardeatine in Rom (März 1944, 335 Tote) und Marzabotto (September-Oktober 1944, ca. 770 Tote), im Norden der „Gotenstellung“ knapp 30 km vor Bologna gelegen, das blutigste unter den Hunderten von Massakern, die Wehrmacht, SS und Polizeieinheiten des faschistischen Kollaborationsregimes an der italienischen Zivilbevölkerung begangen. Allein in der Toskana kam es zu über 280 solcher Verbrechen, verteilt auf 83 Kommunen, bei denen etwa 4500 Zivilisten ermordet wurden10 – ebenso viele wie in ganz Frankreich 1943/44 im Rahmen der „Bandenbekämpfung“.11 Fast die Hälfte der ca. 10.000 zivilen Todesopfer, die deutsche Massaker von September 1943 bis Mai 1945 in Italien forderten12, entfielen somit auf die Toskana.13 In der Nachkriegszeit wurde von offizieller Seite der Kriegsverbrechen selten erinnert, nicht zuletzt aus Rücksicht gegenüber der Bundesrepublik. Die Akten zu Sant’Anna und anderen Kriegsverbrechen lagerten jahrzehntelang in einem versiegelten Schrank bei der Militärstaatsanwaltschaft in Rom, wo sie erst 1994 wiederentdeckt wurden. Im Juni 2005 verurteilte das Militärgericht La Spezia zehn ehemalige Offiziere und Unteroffiziere der am Massaker von Sant’Anna di Stazzema beteiligten SS-Einheit in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Die Urteile wurden im November 2006 in höherer und im November 2007 in höchster Instanz bestätigt und sind damit rechtskräftig.14 Für die ehemaligen SS-Männer ist das bisher folgenlos, da die Bundesrepublik im Ausland verurteilte deutsche Staatsbürger nicht ausliefert15 und eine Verurteilung in Deutschland nicht in Sicht ist. Zwar lei-
10 Gentile, Carlo, La Wehrmacht in Toscana. Immagini di un esercito di occupazione (1943– 44), Roma 2006 (Toscana tra passato e presente; 11), S. 3; Regione Toscana (Hrsg.), 1943– 1944 Eccedi nazifascisti, http://www.regione.toscana.it/memorie_del_900/eccidi_nazifascisti//index.shtml (Zugriff am 29.10.2007). 11 Lieb, Peter, Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44, München 2006 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 69), S. 413. 12 Klinkhammer, Lutz, Der Partisanenkrieg der Wehrmacht, 1941–1944, in: Rolf-Dieter Müller/ Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 815–836, hier S. 822. 13 Zu den Massakern in Italien vgl. Klinkhammer, Lutz, Stragi naziste in Italia. La guerra contro i civili (1943–1944). Roma 1997, sowie Schreiber, Gerhard, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter – Opfer – Strafverfolgung, München 1996. Zur mittlerweile umfangreichen Literatur über deutsche Kriegsverbrechen speziell in der Toskana s. Valeria Galimi/Simone Duranti (Hrsg.), Le stragi nazifasciste in Toscana 1943–1945. Guida bibliografica alla memoria. Roma 2003; außerdem Ivan Tognarini (Hrsg.), L’Appennino del ’44: Eccidi e protagonisti sulla Linea Gotica, Montepulciano 2005; Ferreti, Le stragi (Anm. 8). 14 Selvatici, Franca, “Strage di Stazzema, condanne da annulare.” Cassazione, la richiesta del pg militare. Lo sdegno delle famiglie: dateci giustizia, in: La Repubblica vom 7.11.2007; Eccidio di Sant’Anna di Stazzema: La Cassazione conferma ergastoli, 8.11.2007, in: La Repubblica online, www.repubblica.it. 15 Inzwischen hat die italienische Militärstaatsanwaltschaft bei den deutschen Behörden die Verhaftung und Auslieferung von acht in Italien verurteilten ehemaligen SS-Männern (fünf beteiligt an Sant’Anna di Stazzema, drei an Marzabotto) auf der Grundlage der neuen Bestimmungen zum europäischen Haftbefehl beantragt.
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tete die Staatsanwaltschaft Stuttgart 2002 gegen neun der mittlerweile in Italien Verurteilten Ermittlungen ein, erhob jedoch bisher keine Anklage. ZWANGSARBEIT UND ORGANISATION TODT Zwischen der „Bandenbekämpfung“ und dem erzwungenen Arbeitseinsatz der Bevölkerung beim Stellungsbau bestand ein doppelter Zusammenhang. Zum einen waren sowohl die Sicherung der Transportwege gegen Partisanenüberfälle und Sabotage als auch die Beschaffung einer großen Zahl von Arbeitskräften Voraussetzung für eine rechtzeitige Fertigstellung der Apenninstellung und folglich für ihre militärische Wirksamkeit. Zum anderen sollten die Personen, die bei „Auskämmungen“ im Rahmen der „Bandenaktionen“ aufgegriffen wurden, zum Arbeitseinsatz ins Reich transportiert oder der Organisation Todt in Italien überstellt werden (die meisten konnten sich jedoch vorher absetzen). Aktionen gegen die Partisanen waren damit auch Maßnahmen zur Gewinnung von Arbeitskräften und von Beginn an als solche geplant.16 Wir haben keine gesicherten Angaben darüber, wie viele italienische Arbeiter beim Bau der „Gotenstellung“ eingesetzt waren – die Zahlen in der Literatur schwanken zwischen 15.000 und 50.000. 17 Anfang Juni 1944, also kurz bevor die Befestigungsarbeiten im Apennin im großen Stil begannen, belief sich die Zahl der Arbeitskräfte der OT in Italien insgesamt auf schätzungsweise 80.000,18 im Herbst 1944 auf 120.000–130.000.19 Anfang 1945 beschäftigten OT und Wehrmacht bei Befestigungsarbeiten in Norditalien schließlich 240.000 Menschen.20 16 Archivio centrale dello Stato (ACS), Roma, Uffici di polizia e comandi militari tedeschi in Italia, busta 5, fascicolo 6, sottofascicolo 9: Fernschreiben des Befehlshabers der Sicherheitspolizei u. des SD (BdS) in Italien an Reichssicherheitshauptamt III D 5 vom 18.4.1944 betr. „Einsatz von ital. Arbeitskräften in Deutschland”, gez. Harster; BdS Italien, Vermerk vom 30.5.1944 betr. „Auswertung der Banden-Aktion (General von Kamptz) für den Arbeitseinsatz“, gez. SS-Obersturmführer Reyscher; Bevollmächtigter General der Deutschen Wehrmacht in Italien, Chef der Militärverwaltung, Rundschr. Nr. 246 vom 15.6.1944 betr. „Bandenaktionen“. 17 Montemaggi, Amedeo, Offensiva della Linea gotica: autunno 1944, Bologna 1980, S. 76, spricht von “15.000 lavoratori italiani reclutati forzosamente”; vom Einsatz „50.000 italienische(r) Zwangsarbeiter“ bei Wehrmacht und OT spricht dagegen Seckendorf, Martin, Zur Okkupationspolitik des deutschen Faschismus in Südosteuropa (= Einleitung), in: ders. et al. (Hrsg.), Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus in Jugoslawien, Griechenland, Albanien, Italien und Ungarn (1941–1945), Heidelberg 1992 (Europa unterm Hakenkreuz; 6), S. 89. 18 Handbook of the Organisation Todt. By the Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force Counter-Intelligence Sub-Division MIRS/MR-OT/5/45. Reprint of the ed. London March 1945. Hrsg. von Hedwig Singer. Osnabrück 1992 (Quellen zur Geschichte der Organisation Todt; 4), S. 464f. 19 Spazzali (Anm. 4), S. 63; Dorsch (Anm. 4), S. 508. 20 Lagebericht des Militärverwaltungsstabs beim Bevollmächtigten General der deutschen Wehrmacht in Italien für die Zeit vom 16.12.1944–15.1.1945, Bergamo, 4.2.1945, Anlage 1, in: ACS, Uffici di polizia e comandi militari tedeschi in Italia, busta 1, fascicolo 1, sottofascicolo 21.
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Indes waren die Arbeiter, die an der Apenninstellung oder anderswo in Italien bei der OT (bzw. bei einer der für sie arbeitenden deutschen oder italienischen Baufirmen) eingesetzt waren, nicht allesamt und zu jeder Zeit Zwangsarbeiter. Wie in Frankreich setzte die OT zunächst auf Freiwilligenwerbung und lockte mit vergleichsweise günstigen Konditionen. Später bot sie eine Möglichkeit, der Dienstverpflichtung zum „Arbeitseinsatz“ im Reich oder der Einberufung zur italienschen Armee zu entgehen. So blieb die Werbung nicht ohne gewissen Erfolg. Da die Sollzahlen dennoch zu keiner Zeit erreicht wurden, setzten die Besatzer schon bald indirekte Zwangsmaßmittel ein, etwa in Gesalt der Drohung Arbeitslosenunterstützung oder die Lebensmittelkarten zu entziehen. Da alles nicht half, griffen die deutschen Stellen zunehmend zum Mittel der Dienstverpflichtung oder zu purer Gewalt, wie sie die Wehrmacht im süditalienischen Frontgebiet bereits 1943 im Rahmen sogenannter „Greifaktionen“ angewandt hatte. Spätestens seit Sommer 1944 beruhte auch der Bau der „Linea gotica“ wesentlich auf Zwangsarbeit. Wenn Franz Seidler in seiner Gesamtdarstellung der Geschichte der Organisation Todt lapidar von „angeworbenen italienischen Arbeitskräften“ spricht21 und damit suggeriert, es habe sich um gewöhnliche Lohnarbeiter gehandelt, trifft dies zwar punktuell zu, kann aber weder räumlich auf ganz Italien noch zeitlich auf die gesamte Besatzungsdauer verallgemeinert werden. Die dichotomische Gegenüberstellung von freier Arbeit und Zwangsarbeit ist ebenso idealtypisch wie die von Kollaboration und Widerstand. Aus der Perspektive der Betroffenen betrachtet, ist der historische Ort des Arbeitens für die OT – und für die Besatzungsmacht ganz allgemein – in der Regel eine dynamische Grauzone zwischen ausgeübtem Zwang und einer strategischen Wahl. VOM HISTORISCHEN ORT ZUM ERINNERUNGSORT Überreste allein machen noch keinen lieu de mémoire; Stätten, die eine Geschichte haben, sind nicht notwendigerweise Gedenkstätten und Orte des Geschehens nicht automatisch Erinnerungsorte. Der Verlauf der „Gotenstellung“ wird heute nicht nur von Überresten der Anlagen markiert, sondern auch von Denkmälern, Friedhöfen, Stelen und Museen (Bilder 7 und 8). In dem Maße, in dem die lebendige Erinnerung mit dem Ableben der Zeitgenossen verblasst, ist gerade in jüngerer Zeit ein verstärktes Bemühen zu erkennen, die „Linea gotica“ als Erinnerungsort zu institutionalisieren und damit Gedächtnis und Gedenken zu bewahren. Im Jahre 2005 veröffentlichte die Region Toskana in Koordination mit den sechs betroffenen Provinzen, 30 Kommunen sowie 40 lokalen Verbänden und Resistenza-Instituten unter dem Titel „Paesaggi della memoria“ (Erinnerungslandschaften) einen Reiseführer, der zehn verschiedene Routen zu den Spuren und Erinnerungsstätten der „Gotenlinie“ in der Toskana ausweist und dokumentiert.22 Zugleich wurde das Projekt eines „Parco culturale 21 Seidler (Anm. 4), S. 112. Fast genauso liest es sich bei Singer (Anm. 4), S. 49. 22 Paesaggi della memoria. Itinerari della Linea gotica in Toscana. Hrsg. vom Centro Studi OIKOS für die Region Toskana. Milano 2005.
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della Linea gotica“ ins Leben gerufen – „per ricordarci di ricordare” (um uns daran zu erinnern, zu erinnern).23 Das Zusammentreffen einer tief verwurzelten lokalen Erinnerung an die Ereignisse der Jahre 1943–1945 mit einer Materialisierung und regelmäßigen Aktualisierung dieser Erinnerung an bestimmten Stätten macht die „Linea gotica“ zu einem wirklichen Erinnerungsort, und dies in doppeltem, konkretem wie abstraktem Sinn: Zum einen ist sie ein physischer Ort, an dem sich Stätten der Erinnerung und des Gedenkens befinden; zum anderen ist sie eine Erinnerungsfigur im Sinne Jan Assmanns, ein begrifflicher Kristallisationspunkt von Erinnerung und kollektiver Identität. In Deutschland sind die Ereignisse hingegen weitgehend unbekannt. Es mag übertrieben sein, von einer vergessenen Besatzung zu sprechen, gleichwohl muss man konstatierten, dass die zwanzigmonatige deutsche Besatzungsherrschaft im italienischen Raum von September 1943 bis April 1945 im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland kaum eine Rolle spielt. Auch von der Forschung – der deutschen wie der internationalen – wurde sie angesichts einer Fokussierung auf den 1940 besetzten Westen einerseits und die Vernichtungspolitik im Osten andererseits stets stiefmütterlich behandelt. Bezeichnenderweise wird Italien als „Late-comer“ unter den besetzten Ländern bei den Typologiebemühungen der vergleichenden Okkupationsforschung entweder überhaupt nicht oder nur am Rande aufgeführt.24 Dabei war Italien der Ort, in dem die beiden grundlegenden Typen – „Ost“ und „West“ – am stärksten ineinanderflossen.25 Zwar hat sich Situation im Bereich der deutschsprachigen Historiografie seit Beginn der neunziger Jahre vor allem dank der Arbeiten von Lutz Klinkhammer, Gerhard Schreiber und Jens Petersen gebessert, doch bleiben noch immer viele Aspekte der Besatzung unterbelichtet. Das hängt freilich auch damit zusammen, dass die italienische Geschichtswissenschaft die Jahre 1943–1945 lange Zeit entweder nur beiläufig oder dezidiert aus dem Blickwinkel einer engagierten Widerstandsforschung betrachtet hat, die sich mehr für den Partisanenkampf als für den alltäglichen Kampf der Bevölkerung ums Überleben und die Grauzonen zwischen Kollaboration und Widerstand inter23 Amorevoli, Mara, Una guida del Touring, una carta Multigraphic: cresce l´interesse sull’asse difensivo nazista. Per ricordare la Linea Gotica la guerra diventa un parco. Cippi, monumenti, cimiteri: dieci itinerari nei luoghi delle tragedie del 1944, 11.11.2005, in: La Repubblica online, www.repubblica.it. 24 Etwa bei Child, Clifton J., The political structure of Hitler’s Europe, in: Arnold Toynbee/Veronica Toynbee (Hrsg.), Hitler’s Europe, London, New York, Toronto 1954, S. 11–153, hier insb. S. 91–126; Umbreit, Hans, Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft, in: Bernhard R. Kroener/Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit (Hrsg.), Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs, Halbbd. 1, Stuttgart 1988 (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg; 5/1), S. 1–345, hier S. 100; Dlugoborski, Waclaw, Einleitung: Faschismus, Besatzung und sozialer Wandel. Fragestellung und Typologie, in: ders. (Hrsg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel. Achsenmächte und besetzte Länder, Göttingen 1981, S. 11–61; Madajczyk, Czeslaw, Die Besatzungssysteme der Achsenmächte. Versuch einer komparativen Analyse, in: Studia Historiae Oeconomicae 14 (1980), S. 105–122. 25 Dipper, Christof/Hudemann, Rainer/Petersen, Jens, Vergleichende Faschismusforschung – Schwerpunkte, Tendenzen, Hypothesen, in: dies. (Hrsg.), Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag, Köln 1998, S. 9–21, hier S. 19.
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essierte. Hinzu gesellt sich oftmals ein Mangel an schriftlichen Quellen. So kommt es, dass die miteinander verflochtenen Geschichten der Zwangsarbeit, der Organisation Todt in Italien und des Alltags der Bevölkerung auf dem Apennin und in anderen Regionen noch in großen Teilen zu schreiben sind. Fabian Lemmes, M.A., Dep. of History and Civilization Florenz QUELLEN Bild 1: Panzerstellung bei Marina di Cecina (südlich von Livorno) nach der Eroberung durch die US Army, 1944 Bild 2: Kombinierter Tobrukstand und Mannschaftsbunker, Grünstellung, nahe Riccione (südlich von Rimini), 1944 Bild 3: Italienische Arbeiter der Organisation Todt errichten eine Stacheldrahtsperre, Serchio-Tal südlich von Borgo a Mozzano, 1944. Bilder 4 und 5: Schützengräben bei Borgo a Mozzano und San Quirico di Vernio, ca. 2005. Bild 6: Bunker am Passo della Collina, Inschrift eines italienischen Arbeiters der Organisation Todt, ca. 2005. Bild 7: Denkmal auf dem Monte Folgorito im Herzen der Apuanischen Alpen, ca. 2005. Bild 8: „Erinnerungspark Gotenstellung“, San Quirico di Vernio, ca. 2005.
NACHWEISE: Foto 1: Archiv Niccolò Tognarini Foto 2: Quelle: Public Record Office London (PRO), AIR 23–1480, Gothic Line Defences, Illustrated report, übermittelt durch Niccolò Tognarini. Foto 3: Bundesarchiv Koblenz, Bestand Bild 101 I, Album 477, Seite 2110, Foto 34a. Fotos 4–8: Regione Toscana (Hrsg.), Linea Gotica in Toscana, http://www.regione.toscana.it/memorie_del_900/linea_gotica/index.shtml (Zugriff am 29.10.2007).
Panzerstellung bei Marina die Cecina (südlich von Livorno) nach der Eroberung durch die US Army, 1944
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Kombinierter Tobrukstand und Mannschaftsbunker, Grünstellung, nahe Riccione (südl. von Rimini), 1944
Italienische Arbeiter der Organisation Todt errichten eine Stacheldrahtsperre, Serchio-Tal südlich von Borgo a Mozzano, 1944
Bunker am Passo della Collina, Inschrift eines italienischen Arbeiters der Organisation Todt, ca. 2005
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Denkmal auf dem Monte Folgorito im Herzen der Apuanischen Alpen, ca. 2005
„Erinnerungspark Gotenstellung“, San Quirico di Vernio, ca. 2005
RELATIONS FRANCO-ALLEMANDES ET LIEUX SAINTS DE JÉRUSALEM UNE CONFRONTATION AU TOURNANT DES XIXÈME ET XXÈME SIÈCLES (DOMINIQUE TRIMBUR)
Dans un volume consacré à un acteur important de l’entente franco-allemande des décennies récentes, il peut paraître étonnant de faire entrer la thématique des Lieux saints de Jérusalem. Qu’il me soit tout d’abord permis de jouer sur les mots, lorsque dans ce volume il doit être question de «lieux»; et lorsque j’affirme avec une certaine liberté que le Moyen-Orient est considéré, en tout cas par certains à un certain moment, comme une simple extension de l’Europe, une «caisse de résonance» (Braudel) de cette Europe occidentale dont il est question dans le présent volume. Si à l’heure actuelle les deux problématiques – relations franco-allemandes et Lieux saints de Jérusalem – ne peuvent avoir un quelconque rapport entre elles, il a pu en être différemment dans une autre période historique, au moment où la Terre Sainte était encore politiquement la Palestine, ottomane d’abord – jusqu’en 1917, sous mandat britannique ensuite – de la prise de Jérusalem, en décembre 1917, à la fin de la présence anglaise dans la région, en mai 1948. Du temps du régime ottoman finissant, à partir de la moitié du XIXème siècle, les puissances européennes se montrent de plus en plus intéressées par une présence et l’exercice d’une influence dans une région importante symboliquement, appelée à devenir progressivement le point de focalisation du concert international. Dans ce temps de «redécouverte de la Terre Sainte» (Yeoshuah Ben Arieh), d’ «invention de la Terre Sainte» (Henry Laurens), la France et l’Allemagne (cette dernière d’abord sous son apparence prussienne) constituent deux acteurs majeurs de ce qui apparaît comme une autre facette du «grand jeu», en tout cas de ce qui est un reflet de leur concurrence et leur rivalité de plus en plus effrénées sur le continent européen. La France, qui se veut l’héritière directe des Croisades, reprend pied en Terre Sainte à partir des années 1840 (rétablissement du consulat de France à Jérusalem et installation de communautés catholiques d’obédience française) et souhaite exercer le monopole de la représentation des intérêts catholiques au Levant. La Prusse, puis l’Allemagne unifiée, est d’abord agissante d’un point de vue protestant; le protestantisme est perçu par les catholiques, en particulier français, comme un véritable danger, laissant envisager une emprise «hérétique» sur les Chrétiens d’Orient, objets des visées des missionnaires protestants. Le danger allemand devient d’autant plus grand que, après de premières initiatives modestes, les catholiques allemands obtiennent l’appui officiel de Guillaume II, dans la droite ligne du voyage/pèlerinage pompeux que celui-ci entreprend à travers l’Orient, en particulier en Palestine, en octobre-novembre 1898. A ce moment, le catholicisme allemand, jusque-là actif de façon privée sous le couvert d’une association éminemment rhénane, le Deutscher Verein vom Heiligen Lande (sous ce
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nom à partir de 1895, créé dès 1856, également année de création de la très française Œuvre des Ecoles d’Orient), passe à la vitesse supérieure; sa présence restreinte sur le terrain est désormais épaulée par le Kaiser, qui lui fait don d’un terrain que lui-même reçoit en cadeau du Sultan. A partir de là débute la construction d’une vaste église sur le mont Sion, s’installe une communauté de Bénédictins allemands et s’implante un vaste ensemble hospice pour pèlerins allemands – école de jeunes filles (puis de garçons) arabes, aux abords immédiats de la Vieille ville de Jérusalem. Si dans les faits pour les catholiques allemands la réalisation de ces vastes ambitions grève leur budget et fragilise leur présence, la partie française se sent alors considérablement agressée par ce qu’elle considère comme un empiètement sur ses prérogatives: à l’édification d’établissements catholiques allemands – toujours visibles aujourd’hui – s’ajoute la montée de revendications politiques, lorsque les diplomates allemands s’arrogent des compétences en matière de protection de leurs ressortissants catholiques, jusque-là monopole et principale illustration de la prépondérance française dans la région, en plus de la place prépondérante accordée aux représentants français dans les Lieux saints chrétiens, en particulier au Saint-Sépulcre, et des honneurs liturgiques qui leur sont accordés lors d’offices religieux pompeux et démonstratifs. La première décennie du XXème siècle demeure sous le signe de cette rivalité, la France étant progressivement contrainte de concéder certaines de ses anciennes prérogatives au profit de pays rivaux, Allemagne encore et Italie. A la veille de la Première guerre mondiale, la France demeure toutefois la principale puissance dans la région, en termes de présence catholique notamment, l’influence hexagonale étant accessoirement appuyée par des éléments juifs (à travers l’Alliance Israélite Universelle) et laïcs (avec les établissements de la Mission laïque française, fondée en 1902). Et cela en dépit de la politique anticléricale qui bat son plein notamment depuis 1901, une politique militante qui ne s’embarrasse pas de contradictions (Gambetta: «L’anticléricalisme n’est pas un article d’exportation»), elles-mêmes régulièrement relevées par la partie allemande: comme Berlin veut l’expliquer au Saint-Siège, comment faire confiance à Paris dans le domaine de la préservation des intérêts catholiques en Orient si l’état d’esprit qui règne dans la capitale française est foncièrement anti-religieux, et spécifiquement anti-catholique? La Première guerre mondiale représente une catastrophe pour la partie catholique française: l’Empire ottoman entre en guerre aux côtés des Puissances centrales au mois de novembre 1914; les religieux français demeurant en Orient sont alors déportés, puis expulsés, les plus jeunes étant partis pour s’enrôler lors de la mobilisation générale, au début août. Les nombreux établissements français sont alors vides, au bénéfice de l’armée et de l’administration ottomanes qui en réquisitionnent certains. Les diplomates allemands (et austro-hongrois) deviennent les seuls représentants de l’Europe occidentale en Orient, et prennent la place de leurs homologues français, qui viennent d’être expulsés, dans les cérémonies catholiques; les Allemands s’imaginent même acquérir le Saint-Sépulcre – emplacement, selon la tradition, des derniers moments du Christ – et/ou le Cénacle – lieu de la Pentecôte, Lieux saints chers aux chrétiens, notamment aux catholiques, pour en
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faire don au chef de l’Eglise, Benoît XV. Une appropriation qui démontrerait la force de la catholicité allemande, puisque le Saint-Sépulcre serait enfin soustrait au partage délicat et souvent tumultueux entre confessions chrétiennes, et que le Cénacle serait retiré à la prépondérance musulmane. Les religieux allemands quant à eux ambitionnent de remplacer leurs frères en religion française, et songent massifier la présence congréganiste germanique, notamment en les installant dans certains établissements qui avaient été les phares de la présence française, comme le séminaire de Sainte-Anne, depuis 1882 lieu de formation très française du clergé grec-catholique (melkite), l’une des Eglises orientales unies à Rome, auquel Berlin veut substituer une influence allemande. Tandis que les institutions allemandes (et austro-hongroises) continuent de fonctionner sans obstacle réel, à la grande différence de tous les autres établissements étrangers de Palestine, vidés, fermés ou fonctionnant au ralenti. Les perspectives brillantes qui se dessinent pour l’Allemagne n’ont toutefois guère le temps de se concrétiser: dès mars 1917 les troupes britanniques entrent en Palestine, en décembre de la même année la Ville sainte est prise, et la totalité de la région tombe dans l’escarcelle anglaise en septembre 1918. Dans ces conditions, les Allemands se trouvent très rapidement dans la situation des Français quelques années plus tôt: les consuls du Reich à Jaffa et Haïfa et le consul général d’Allemagne à Jérusalem abandonnent la Palestine en suivant la retraite des militaires allemands, alliés des Turcs; les religieux des puissances centrales, devenus ressortissants de pays ennemis en terrain conquis par les pays de l’Entente, sont placés en détention, expulsés ou déportés, à l’instar des Bénédictins allemands du couvent de la Dormition, sur le Mont Sion, internés dans un camp de prisonniers, en Egypte; tandis que les très ambitieux plans d’acquisition de certains Lieux saints demeurent lettres mortes. Dans ces conditions, les Français, modestement représentés dans les forces militaires qui occupent la Palestine, retrouvent leur place; les religieux peuvent progressivement réoccuper leurs établissements, constatant les dégradations perpétrées par la soldatesque ottomane; et les catholiques français s’imaginent prendre une revanche en occupant à leur tour les propriétés des catholiques allemands. Pour la France, la période de la Première guerre mondiale est, en dépit de l’expulsion physique, une période d’appropriation morale de la Terre Sainte: aux yeux des Français, membres des milieux catholiques, dirigeants ou diplomates, l’entrée en guerre de la Turquie aux côtés des Puissances centrales doit en effet conduire à son éclatement; il s’agit donc de se tenir prêt à en récupérer la partie qui, dans l’esprit de beaucoup, doit naturellement revenir à la France. La fin de la guerre en Orient, avec l’effondrement effectif de l’Empire ottoman, doit répondre à cette attente et permettre la réalisation de rêveries anciennes, relatives notamment à la restauration d’un Royaume latin, en un singulier retour au temps des Croisades alors idéalisé: où les Lieux saints, délivrés des Infidèles (les Ottomans) et de leurs alliés (Allemands et Austro-Hongrois), pourraient enfin revenir à leurs légitimes destinataires, les Français, donc les Francs, selon une certaine phraséologie de l’époque. La réalité s’avère toutefois différente. Dans les faits, dans ce qui apparaît comme une sorte de déni de la logique historique, les Britanniques non seulement
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s’emparent de la Palestine, mais s’y installent durablement: à l’occupation militaire succède une administration civile, sous la forme d’un mandat confié à Londres par la Société des Nations. De plus, la perspective qui semble se dessiner pour la Terre Sainte chrétienne semble de plus en plus échapper aux espoirs catholiques français. Les Britanniques s’engagent en effet dans la réalisation des termes de la «déclaration Balfour», qui promet la réalisation en Palestine d’un «foyer national juif»: une entité qui n’est guère compatible avec l’idée d’une nouvelle royauté chrétienne. Une mobilisation catholique et française s’engage alors: pour les Français, il s’agit de montrer que les populations locales refusent une telle perspective, ce en quoi Paris s’accompagne d’alliés ponctuels, mais qu’elle estime solides, des «comités islamo-chrétiens» qui en appellent à une souveraineté française. Quant aux Lieux saints eux-mêmes, ils font l’objet d’une campagne catholique internationale: la Custodie de Terre Sainte, traditionnelle et durable représentation des Franciscains auprès des Lieux sacrés, adresse un mémorandum à la conférence de la Paix, à Versailles, afin de faire entendre une voix différente face aux revendications de la délégation sioniste, qui semble en terrain conquis. Quant à eux, à travers ce qui peut apparaître comme l’émergence d’une mouvance à la fois catholique et pacifiste, visant à contribuer à terme à la réconciliation franco-allemande, des catholiques suisses germanophones concentrés à Fribourg souhaitent réunir les efforts en vue d’affirmer le point de vue de la catholicité. Leur idée est de faire se rencontrer les principaux acteurs concernés en un «Congrès international de Palestine», pour parvenir à une motion commune destinée à proclamer et éventuellement faire prévaloir une option catholique sur la Terre Sainte. Des invitations sont ainsi lancées à l’adresse de personnalités catholiques françaises: on repère ici Mgr Dubois, archevêque de Rouen et futur cardinal-archevêque de Paris, et Mgr Baudrillart, recteur de l’Institut catholique de Paris, brillant orateur qui a célébré, en décembre 1917, la prise de la Ville sainte dans un discours paraphrasant le titre de la pièce du Tasse, «Jérusalem délivrée». Du côté allemand, les dirigeants du DVHL sont naturellement conviés à cette rencontre catholique internationale qui se tiendrait dans les murs de la célèbre abbaye bénédictine d’Einsiedeln, en Suisse. Ces derniers saluent cette initiative, à laquelle ils s’associent bien volontiers, à un moment où l’Allemagne est mise au ban de la communauté internationale, puisqu’il s’agit d’une reconnaissance de la place de la catholicité allemande dans le domaine très symbolique des Lieux saints, alors que le Moyen-Orient commence à esquisser la place centrale qu’il ne cessera d’occuper dans l’actualité du XXème siècle. La réponse française est quant à elle d’abord nuancée: l’idée est bien reçue; les personnes conviées prennent acte des fonctions auxquelles elles sont pressenties (présidence du Congrès pour Mgr Dubois, présidence d’une «section historique» pour Mgr Baudrillart). De fait, la visée est généreuse et accueillie avec une relative bienveillance, puisque cela devrait servir à faire primer le point de vue catholique, avec d’abord l’organisation d’un Congrès, puis la mise en place d’un comité permanent, à l’encontre du protestantisme britannique et de son corollaire, le sionisme dont les vues paraissent devoir triompher.
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Le congrès est d’abord prévu pour l’automne 1919. Des complications d’organisation reportent l’échéance à l’été 1920; en janvier 1921, la revue Das Heilige Land, organe du DVHL annonce toutefois l’annulation de la rencontre, et ainsi l’échec de l’idée d’un comité catholique permanent consacré au sort des Lieux saints de la Palestine. Que s’est-il passé entre temps? La rivalité franco-allemande, la soif de revanche française et des espoirs français qui doivent s’avérer illusoires mettent à mal toute perspective d’entente autour de la question des Lieux saints, à l’image de l’attitude hexagonale vis-à-vis de l’Allemagne vaincue, à ce moment clé de l’histoire européenne. Lorsque la proposition suisse arrive auprès des personnes sollicitées, la France est en effet pleinement lancée dans une logique de reconquête des positions perdues, partout où elle peut l’escompter: cette idée ne peut être compatible avec une quelconque approche multilatérale des problèmes en présence, ce qui vaut en particulier pour l’espace moyen-oriental. Au début janvier 1919, les multiples acteurs de la représentation française au Levant se sont entendus sur tout un ensemble de motions allant dans le sens d’une appropriation française du Levant, lors d’un tonitruant «Congrès français de la Syrie» (Palestine comprise), réuni à Marseille. Pour affirmer ces droits, une délégation laïque est envoyée sur place au printemps 1919; une délégation ecclésiastique, placée justement sous la direction de Mgr Dubois lui succède, devant partir d’abord pour aller fêter les Pâques 1919 à Jérusalem, mais s’y rendant seulement pour la Noël suivante, achevant par là une série de passages de prélats occidentaux représentant chacun certes le catholicisme, mais aussi leur pays de résidence (Dubois suit en effet un cardinal britannique et un légat italien). L’idée suisse du Congrès est donc singulièrement parallèle à cette double affirmation «catholique et française». De plus, sauf le respect auquel sont tenus les catholiques, le placement du Congrès international de Palestine pensé par les Suisses sous le patronage et avec la bénédiction du Pape Benoît XV n’est pas fait pour emporter les suffrages hexagonaux: aux yeux des Français, les appels à une «paix blanche» lancés depuis le Saint-Siège pendant la guerre marquent en effet durablement la Papauté d’une germanophilie réelle ou supposée; aller dans le sens voulu par les catholiques helvètes, ce serait donc, selon les catholiques français de ce temps, accepter ce que leur nationalisme avait conduit à refuser au cours du conflit, à savoir s’entendre avec l’ennemi. La neutralité affichée et voulue par les catholiques suisses, traduisant un fol espoir de concorde après l’effroyable furie de la guerre, n’est pas acceptable pour les Français, catholiques comme diplomates; d’autant plus que le lieu envisagé pour la réunion, l’abbaye d’Einsiedeln, est alors perçu par eux comme un pôle de la catholicité germanophone et un repère de l’esprit «germanissime»: au cours de la guerre, des séminaristes orientaux basés à Rome, instruits jusque-là sous une direction francophone, n’y ont-ils pas été installés pour y être «germanisés»? Autant d’éléments qui rendent donc bel et bien impossible une entente catholique internationale, en particulier franco-allemande, sur le statut des Lieux saints. Cette très brève évocation de la rivalité franco-allemande au tournant des XIXème et XXème siècles, au sujet de ces endroits particuliers que sont les Lieux saints, démontre leur importance symbolique comme reflet d’une nostalgie orientale émanant de tout le continent européen. Dans les faits, les disputes qui se
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concentrent autour de ces «nombrils du monde» (un «centre du monde» symbolique est ainsi placé au milieu de la nef du Saint-Sépulcre) traduisent, outre leur signification religieuse, une connotation toute politique, avec un souci d’appropriation nationale, même dans les situations les plus défavorables aux Etats respectifs. Cet égoïsme chauvin conduit à ce que, dans l’immédiat après Première guerre mondiale, en dépit de la tentative suisse de faire se trouver un terrain d’entente franco-allemand autour de la question des Lieux saints de Jérusalem, rien ne se fait, puisque la mobilisation catholique prévue pour prendre place et se faire entendre à Einsiedeln n’a pas lieu. Pour les mêmes raisons, cette mobilisation n’aboutit pas un peu plus tard, lorsque est pensée une «commission internationale des Lieux saints», au moment où est finalisé le projet de charte du mandat britannique en Palestine, en juillet 1922. Cette impossibilité est une nouvelle fois due au positionnement des Français, qui souhaitent obtenir une présidence française pour cette commission des Lieux saints, dont l’idée reprend en quelque sorte celle des catholiques suisses, lorsqu’ils avaient imaginé un comité permanent destiné à gérer les multiples conflits d’intérêts centrés sur ces endroits sacrés, chers à de trop nombreuses confessions chrétiennes. A l’exigence française s’ajoutent les oppositions entre ces différentes parties, notamment orthodoxes et catholiques; quant à elle, la Grande-Bretagne, puissance mandataire désignée, n’a pas vraiment envie de s’embarrasser d’un tel comité avec lequel elle devrait composer. Ainsi, au nom de préoccupations éminemment nationales, les Lieux saints ne sont pas placés au centre des intérêts internationaux, ce qui très rapidement va s’exercer à leur détriment, comme l’illustrent éloquemment les très lourdes dégradations que connaît quelques années plus tard le Saint-Sépulcre, dommages qui auraient pu être évités dans le cas de la mise en place effective de la dite commission, et qui obligent le mandataire britannique à interdire l’accès à ce Lieu saint pour d’élémentaires raisons de sécurité. Alors que l’Allemagne disparaît comme acteur politique direct au Moyen-Orient, suite à la Deuxième guerre mondiale, l’appropriation nationale demeure d’actualité dans les esprits français au même moment, en tant que telle ou, de manière indirecte, sous le couvert du statut spécifique des Lieux saints (corpus separatum) dont il est alors question. Le bouleversement géopolitique inhérent à la création de l’Etat d’Israël – 1948–puis à la conquête de Jérusalem par l’Etat juif – 1967–modifie définitivement la donne, cette fois au détriment de la France. Aujourd’hui, comme l’affirme la revue du DVHL, le souci catholique, au sens «universel» du terme, n’est plus le même qu’au moment de sa fondation, en 1856. De fait, les Lieux saints sont désormais assurés de leur préservation, et les rivalités internationales autour d’eux sont pour la plupart passées de mode; la préoccupation est ailleurs, puisqu’elle concerne désormais la préservation d’une présence chrétienne autour de ces endroits sacrés, dans un environnement de plus en plus hostile à ce reliquat de chrétienté orientale originelle. Dominique Trimbur, Historien, Chercheur associé, Centre de Recherche français de Jérusalem
LA SUISSE COMME ÎLE
(FRANÇOIS WALTER)
«La Suisse est une île que nous pensons heureuse. Elle se peint à présent, dans les esprits de millions d’hommes, comme une terre bénie où l’on trouve tout ce qui manque à la plupart d’entre eux, où existent réellement ces choses de rêve: du pain vrai, du lait qui est du lait, de la viande qui vient de vivre, du calme, et les conditions de ce travail par lequel peuvent s’accomplir les œuvres de l’intelligence.» (Paul Valéry, 1943)
La métaphore insulaire, à laquelle recourt Paul Valéry en 1943 pour désigner la situation d’un pays à l’abri des affres de la guerre, a été maintes fois reprise par les commentateurs de la seconde moitié du XXe siècle, en général dans un contexte valorisant.1 À l’inverse de celle du hérisson, qui tout en faisant les délices des caricaturistes, exprime plutôt la mise à distance critique, voire le désaveu. Ainsi l’écrivain Peter Bichsel, particulièrement caustique, constate sans complaisance que «la position du hérisson, roulé sur lui-même et les piquants dirigés vers l’extérieur est devenue le symbole de notre indépendance.»2 Ces mises en image sont des manières d’exprimer le topos bien connu de l’exceptionnalité helvétique. La Suisse serait dans l’histoire un cas particulier, un Sonderfall, l’expression désignant aujourd’hui, à l’instar du Sonderweg de l’histoire allemande, une sorte de statut d’exception, quoique le concept n’ait pas la résonance d’expérience déviante qu’il assume dans le contexte germanique.3 Il s’agit plutôt d’une conviction profondément ancrée dans la culture helvétique qui veut que la Suisse ait dans l’histoire une destinée particulière. C’est pourquoi, dans les situations de crise, ce pays tendrait naturellement à se replier sur luimême, à se mettre à part. Quant à savoir d’où vient cette conviction et quels en ont été les vecteurs, la plupart des auteurs en restent à des remarques vagues, qui assignent à un passé lointain non précisé – à moins que ce soit au contexte de la Seconde Guerre mondiale –, la genèse de ce qui constitue, selon certains, le grand mythe helvétique.4 Les premières occurrences en sont à vrai dire assez anciennes. La métonymie, exprimant l’homologie entre le Corpus helveticum et une île au milieu d’un océan déchaîné, est filée par exemple à la fin du XVIIIe siècle. 1
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Valery, Paul, La Suisse est une île … , in: Images de la Suisse, numéro spécial des Cahiers du Sud, Marseille 1943, p. 13. Dans le même recueil, un texte de Louis Gillet, académicien et historien d’art, dans lequel on lit: «Plus que jamais la Suisse, au milieu du déluge, me représentait l’Île du Bonheur, l’arche de la paix et du salut, sur les cimes de l’Ararat.» (p. 18). Bichsel, Peter, La Suisse du Suisse, trad. de l’allemand, Lausanne 1970, p. 35. Pour le débat historiographique sur le Sonderweg allemand, voir notamment Hartmut Lehmann (Hrsg.), Historikerkontroversen, Göttingen 2000 et aussi Faulenbach, Bernd, Ideologie des deutschen Weges: die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980. C’est l’opinion de Reszler, André, Mythes et identité de la Suisse, Genève 1986, p. 66.
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Lors de la fête organisée à Soleure en 1777 pour la signature de l’alliance entre la Suisse et la France, l’hôtel de l’ambassadeur de France, où se déroule une «illumination» (un spectacle pyrotechnique), est décoré de médaillons, de trophées et d’emblèmes. Parmi ces derniers, à ce que raconte un rapport diplomatique, une «roche tourmentée par la mer et par les quatre vents mais immobile» conformément à la devise «Unanimi Robore Perstat» qui s’y trouve gravée. D’après le témoin du spectacle, ce rocher représente la Suisse «assaillie autrefois de toute part mais se conservant contre tous ses ennemis par son unanimité».5 Une image analogue est reprise avec fierté par un patricien bernois en 1784. Ce notable explique par le repli du monde la réussite économique et politique de Berne, la république la plus prospère de l’Ancienne Confédération: «Telle une grande île au milieu d’un vaste océan, on te voit inébranlable, bien que les courants grondent autour de toi et que des vagues gigantesques assaillent tes côtes. La moitié de l’Europe est couverte de vapeurs et de fumées; les horreurs de la dévastation se sont répandues sur des pays entiers; des milliers et des milliers d’innocents sont transformés en dépouilles inertes et davantage encore plongés dans une misère sans fond, cependant que tes fils continuent de couler des jours heureux dans une sécurité absolue…».6 A fortiori, au XXe siècle, la situation exceptionnelle engendrée par la Première Guerre mondiale nourrit ce type de comparaison macabre sous forme iconographique cette fois-ci.7 L’exemple le plus extraordinaire est celui de la fresque votive de la chapelle du Ranft au cœur de la Suisse, lieu dédié au saint protecteur du pays, Nicolas de Flue, ermite du XVe siècle vénéré depuis des lustres – mais qui attendra 1947 pour être canonisé par l’Église. Ici, la Suisse est représentée comme une montagne-île avec des pâturages, des vaches, des colonnes de réfugiés qui arrivent vers elle. L’île émerge d’un vaste océan débordant de cadavres avec, dans le ciel, comme les chevaux de l’apocalypse, les trois empereurs qui ont perdu leur couronne dans la tourmente de 1914–18.8 Réalisée en 1920, cette œuvre monumentale du peintre Robert Durrer (1867–1934) ne fait que reprendre une représentation ancrée dans les mentalités par la guerre, ce dont témoigne la carte postale, mode d’expression populaire très prisé à l’époque (Ill. 1).
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Selon les termes d’une description de la fête conservée aux Archives du Ministère des affaires étrangères, Paris, Suisse 395 f°258 «Relation des solennités et réjouissances…» août 1777. Cité par Béla Kapossy in Flouck,f. [e.a.], De l’Ours à la Cocarde. Régime bernois et révolution en pays de Vaud (1536–1798), Lausanne 1998, p. 149. Il s’agit d’une forme d’iconographie nationale curieusement complètement ignorée par les spécialistes. C’est le cas par exemple de l’excellent livre de Tavel, Hans Christoph von, L’iconographie nationale, Disentis 1992. Voir l’article de Marchal, Guy P., Die alpine Friedensinsel: Robert Durrers grosses Votivbild im Ranft und der schweizerische Alpenmythos, in: Martin Körner/François Walter (Hrsg), Quand la Montagne aussi a une Histoire, Berne 1996, p. 409–426.
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Ill. 1: La Suisse épargnée par l’orage de la guerre. Carte postale 1914–1918. (Photo Musée national suisse, Zurich, LM-73693.46)
La Suisse comme «île de la paix» est même un motif récurrent, exploité durant tout le conflit mondial par le support de la carte postale. On y présente le petit État comme un phare au milieu d’un océan déchaîné (Ill. 2). Les faisceaux de lumière qui en émanent portent au loin les différents services humanitaires rendus aux belligérants (notamment les échanges de prisonniers et les rapatriements de blessés). Attester ainsi de la mission médiatrice du pays s’avère au demeurant un exercice de style plus qu’une réalité car, à côté d’authentiques preuves d’ouverture humanitaire, la diplomatie helvétique se montre encore très peu active et souvent fort maladroite dans ses interventions.
Ill. 2: La Suisse rayonne par ses activités humanitaires. Carte postale de X. Wehrli, 1917. (Photo Musée national suisse, Zurich, LM-73693.42)
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Le promontoire pacifique est également utilisé pour célébrer le jour de la fête nationale suisse (Ill. 3). Les enfants brandissent des palmes, symbole de la victoire, ici allusion à la supériorité d’un pays neutre comparativement aux fauteurs de conflits. D’autres éditeurs campent sur un écueil une figure féminine d’Helvetia, brandissant elle aussi une palme au milieu de la tempête.
Ill. 3: Carte postale de 1916 (Markwalder, Zurich) pour la fête nationale. (Photo Musée national suisse, Zurich, LM-73693.43)
Une dernière série de cartes postales confère un caractère insulaire au palais fédéral à Berne (bâtiment où siègent le gouvernement et le parlement). Fortement ancré sur un rocher, à l’abri des vagues, l’édifice symbolise le pays complètement isolé au milieu de l’Europe entouré de pays belligérants (Ill. 4). «Comme une île de paix au milieu des tempêtes/La Suisse à l’abri des horreurs de la guerre/Les États tout puissants qui bordent ses frontières/ont respecté ses droits et les promesses faites», proclame péremptoirement la légende.
Ill. 4: Le palais fédéral à Berne (résidence du gouvernement fédéral). Carte postale d’après une peinture de R. Weiss, 1916. (Photo Musée national suisse, Zurich, LM-73693.41)
Une telle imagerie lénifiante s’intègre sans aucun doute au plus profond de la culture politique suisse. Elle illustre l’idéologie du cas particulier (le Sonderfall), dont il convient de rappeler quelques-unes des composantes. La première est d’ordre institutionnelle. On en fait volontiers remonter l’origine à un mot de Bonaparte lorsqu’il intervient en médiateur pour ramener la paix civile dans le pays. «La Suisse ne ressemble à aucun autre État», déclarait-il aux
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députés suisses, convoqués à Paris le 19 frimaire an 11 (10 décembre 1802).9 La spécificité de la structure fédéraliste de la Suisse demeure ensuite un leitmotiv du discours des juristes, lesquels insistent aussi sur le multiculturalisme qui fonde la nation non pas sur une base ethnique mais sur une volonté de vivre ensemble. Johann Kaspar Blutschli (1808–1881) pointe l’«Eigenartigkeit» et les «Eigentümlichkeiten» de la nation helvétique.10 Quant à Max Huber (1874– 1960), il veut analyser la pensée politique en fonction de «la situation spéciale de notre nation au milieu des autres États», «nach der Eigenart unseres Staatswesens innerhalb der Staatengesellschaft».11 La deuxième expression de cette voie singulière est à chercher en relisant l’histoire d’un petit pays qui s’est maintenu contre toute logique au sein d’une Europe peu à peu façonnée par les grands États territoriaux et dynastiques. La conception d’une Suisse à part dans l’histoire revêt une importance grandissante pour l’idéologie du radicalisme libéral qui domine la culture politique suisse durant la seconde moitié du XIXe siècle. C’est ici qu’il faut citer Carl Hilty (1833– 1909), certainement le principal artisan au XIXe siècle de l’idéologie nationale, lorsque, dans ses leçons sur la politique de la Confédération publiées en 1875, il insiste sur la «historische Sonderexistenz» et la «Sonderpolitik der Schweiz».12 Hilty explique que ce n’est ni la race, ni la communauté de sang, pas plus que la langue, ni même la nature et l’histoire qui ont fondé l’État confédéral.13 Contrairement aux grandes puissances européennes, la Suisse serait née d’une «idée» politique, d’une pensée et d’une volonté. En effet, la Nature, la langue, le sang et la race sont des forces centrifuges pour les Suisses attirés par les communautés ethniques (Stammesgenossen) qui les avoisinent au Nord, au Sud et à l’Ouest. Ce qui constitue le lien social c’est avant tout «la conviction de former un État meilleur à maints égards, d’être une nationalité au-dessus des simples affinités de sang et de langue».14 Cette idée est répétée dans la contribution que cet auteur compose pour La Suisse au dix-neuvième siècle, vaste synthèse publiée en français et en allemand en 1899. «Die schweizerische Eidgenossenschaft ist in eigentümlicher Weise gleichzeitig ein alter und ein neuer Staat», ce que la version française rend en évoquant le «caractère particulier» de la constitution historique de l’État suisse.15 9
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«La Suisse ne ressemble a aucun autre État, soit par les événements qui s’y sont succédés depuis plusieurs siècles, soit par sa situation géographique et topographique, soit par les différentes langues, les différentes religions et cette extrême différence de moeurs qui existent entre ses diverses parties. La nature a fait votre État fédératif; vouloir le vaincre, ne peut pas être d’un homme sage.» Texte disponible en ligne sous: http://www.gutenberg.org/files/12893/ 12893.txt ( 20 septembre 2007). Bluntschli, Johann Kaspar, Die schweizerische Nationalität [1875], Zürich 1915, p. 16. Texte publié à l’origine dans Gegenwart n° 49 et 51, 1875. Huber, Max, Der schweizerische Staatsgedanke, Zürich 1916, p. 5 et aussi p. 28. Hilty, Carl, Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft, Bern 1875, p. 262. Hilty, Carl, Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft, Bern 1875, p. 28–29. Ibid. (Anm. 13), p. 29: „...das Bewusstsein, einen in vielen Hinsichten besseren Staat zu bilden, eine Nationalität zu sein, die hoch über der blossen Bluts- und Sprachverwandtschaft steht. “ Seippel, Paul (sous la dir. de), La Suisse au dix-neuvième siècle, tome premier, Lausanne 1899, p. 383; Paul Seippel (Hrsg.), Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert, Erster
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À la suite de Hilty, les historiens historisants qui dominent la tradition historiographique jusqu’au milieu du XXe siècle ne manqueront pas de répéter que certains aspects de l’histoire suisse présentent le caractère d’un «Sonderfall».16 Jusqu’à Edgar Bonjour (1898–1991) qui détaille les traits saillants propres à distinguer la Suisse des autres et conclut en rappelant: «Wir wissen, was wir für verteidigungswürdig halten: den schweizerischen Sonderfall.»17 Cette fois-ci, en 1981, l’expression canonique est bien utilisée. Elle est nouvelle et exprime la troisième composante de l’idéologie de l’exceptionnalité. Jamais convoqué au XIXe siècle, le terme provient précisément du contexte de la Première Guerre mondiale quand la Suisse, épargnée par la guerre, a pris conscience de son insularité fondamentale. Son contexte d’émergence doit être cherché dans la nouvelle politique de neutralité dite différentielle qui a permis à la Confédération d’intégrer la communauté internationale et d’adhérer en 1920 à la Société des Nations. À cette occasion, la diplomatie suisse a fait preuve de perspicacité, notamment en obtenant le siège de l’organisation qui s’installe à Genève et en négociant un statut particulier pour que la neutralité soit reconnue (Déclaration de Londres, 13 février 1920). Les puissances européennes ont officiellement admis «la situation spéciale de la Suisse» (selon les termes du ministre tchèque Edouard Benès au Conseil de la SDN). Dans les documents officiels suisses, l’une des premières occurrences de l’expression apparaît dans un procès-verbal du Conseil fédéral en 1924 où le pays est qualifié de «Sonderfall» et où l’on examine la «Sonderstellung der Schweiz».18 Tout naturellement, le retrait suisse de la SDN et le retour à la neutralité dite intégrale en 1938 amèneront à rejouer le scénario du «cas spécial de la Suisse», «Sonderfall» dans la version allemande du texte.19 C’est probablement à ce moment que l’expression s’est diffusée plus largement, comme en témoignent les utilisations qu’en font les historiens cités précédemment ou encore son emploi par le journaliste Bernhard Diebold (1886–1945), feuilletoniste à la Frankfurter Zeitung de 1917 à 1934. Dans un roman politique, avec pour toile de fond le chaos idéologique de l’Allemagne de l’entre-deux-guerres, il fait Band, Bern 1899, p. 409. 16 Nabholz, Hans, Muralt, Leonhard von, Feller, Richard, Bonjour, Edgar, Geschichte der Schweiz, zweiter Band, Zürich 1938, p. 118. Ici, c’est le développement de l’industrie du lin à Saint-Gall sous l’Ancien Régime qui est présenté comme „ein Sonderfall in der Wirtschaftsgeschichte “ . Dans le même ouvrage, il est question de la „Sonderstellung “ de la Suisse dans la Société des Nations (p. 663). Chez Gagliardi, Ernst, Geschichte der Schweiz von den Anfängen bis zu Gegenwart, Zweiter Band, Zürich 1934/37, p. 678, il est question du „Sonderfall “ que constitue, au sein du Corps helvétique, les Ligues grisonnes au XVII e siècle. Peu auparavant, tournant en dérision la conscience identitaire helvétique, le comte Hermann de Keyserling contestait violemment la conviction qu’auraient les Suisses d’être „exemplaires en tant que nation et en tant qu’idée “ . Voir Graf Keyserling, Hermann, Das Spektrum Europas, Berlin 1928. 17 Bonjour, Edgar, Gibt es noch einen Sonderfall Schweiz?, in: Schweizer Monatshefte, 61 (1981), Heft 9, p. 679–691. 18 Cité dans les Documents diplomatiques suisses, vol. 8, 1920–1924, Berne 1988, p. 939. 19 Rapport du Conseil fédéral à l’Assemblée fédérale sur la neutralité de la Suisse au sein de la Société des Nations (du 3 juin 1938), in: Feuille fédérale, 8 juin 1938, vol. 1, 1938, p. 847. Je remercie Irène Herrmann de m’avoir signalé cette occurrence.
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dire nommément à l’un de ses personnages: «Die Schweiz ist ein Sonderfall».20 Publié en 1938, le livre eut un certain écho. Par la suite, il ne semble pas que le discours politique ou journalistique ait recouru significativement à cette formule avant les années 1990. Dans les textes officiels, on attendra un rapport du Conseil fédéral sur la politique extérieure de la Suisse, rendu public en 1994, pour trouver une allusion au «Sonderfall Schweiz».21 C’est alors le débat sur l’adhésion manquée à l’Union européenne qui renforce l’audience de ceux qui préfèrent la stratégie de l’Alleingang – autre formule du vocabulaire politique suisse – à l’intégration. La réflexion sur les composantes de l’identité helvétique est à l’ordre du jour, au point que le Sonderfall est devenu, depuis une quinzaine d’années, un véritable genre littéraire prisé par les journalistes, les politiciens en vue, les sociologues et la science politique.22 Il n’empêche, sur les documents cartographiques qui rendent compte de la consolidation de l’Union européenne et de son extension, la Suisse demeure, et la chose frappe du fait de la situation du pays au cœur du continent, une tache blanche, une sorte d’île. Prenons encore le temps d’élargir le champ d’interprétation. Nous avons rapproché ailleurs la thématique du Sonderfall de la conviction d’appartenir à un peuple choisi élu de Dieu, présente à des degrés divers et selon des intensités variables en fonction des contextes dans toutes les traditions historiographiques nationales.23 Ce type de références peut être rattaché aux racines judéo-chrétiennes de la culture occidentale. Au gré de leur histoire, bien des peuples d’Europe ont pu prendre modèle sur le vieil Israël et la plupart des nations ont tôt ou tard exprimé le sentiment d’appartenir à un peuple choisi. Elles ont utilisé la Bible pour médiatiser leur rapport au territoire national. À ce titre, chaque pays se sent particulièrement protégé dans les vicissitudes de son devenir. La question de l’«exceptionalism» est au cœur de l’histoire américaine.24 En Europe, l’«exceptionnalité française», le «Sonderweg» germanique tout comme le «Sonderfall» suisse vont, d’une certaine manière, dans le même sens, celui d’une image providentialiste et d’une finalité téléologique du déroulement de l’histoire. Dans bien des cas, au-delà de la banalité apparente du thème de l’élection, la référence à la manifestation divine va plus loin qu’une sorte de rhétorique souvent implicite pour atteindre le degré plus élevé de l’analogie explicite. À défaut de concordances matérielles avec le modèle vétéro-testamentaire, ce sont plutôt des convergences mémorielles qui impliquent toute une image convenue d’un peuple attaché à une terre sacrée.25 20 Diebold, Bernhard, Das Reich ohne Mitte, Zürich & New York 1938, p. 179. Le contexte est un débat pour savoir qui l’emporte de la primauté de l’État ou de la liberté. 21 Feuille fédérale suisse, 1994, vol. 1, 25 janvier 1994, p. 209. 22 On trouvera les références à une littérature très importante sur ce thème depuis 1990 in: Thomas S. Eberle/Kurt Imhof (Hrsg.), Sonderfall Schweiz, Zürich 2007. 23 Voir Walter, François, Les figures paysagères de la nation: territoire et paysage en Europe (16e-20e siècle), Paris 2004, p. 390–403. 24 Par exemple les textes publiés par Conrad Cherry (Hrsg.), God’s New Israel: Religious Interpretations of American Destiny, Chapel Hill 1998. 25 Voir, parmi d’autres travaux remarquables du même auteur sur ce thème, l’article suivant: Piveteau, Jean-Luc, L’Ancien Testament a-t-il contribué à la territorialisation de la Suisse?, in:
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Le cas de la Suisse est de ce point de vue très révélateur. Dans une étude stimulante, Jean-Luc Piveteau a bien montré comment les références vétéro-testamentaires ont eu des résonances fortes dans le processus de territorialisation. 26 De nombreuses convergences frappantes donnent à l’Ancien Testament une valeur légitimante; il a servi à l’enracinement au territoire. «Référence et caution d’autant plus sensibles aux Confédérés, écrit Piveteau, qu’elles s’appliquaient à un gabarit et à une topologie (celui et celle de l’Israël biblique) très proches des leurs». 27 Aussi cet auteur repère-t-il des analogies paysagères (la montagne et le petit pays), une obsession commune de la satellisation (Babylone et les idolâtres dans un cas, l’Europe et les étrangers dans l’autre) et la conviction d’une exceptionnalité (la possession du Dieu unique pour Israël, celle d’un modèle politique susceptible d’être imité dans le cas suisse). Déjà aux XIVe et XVe siècles, le discours de légitimation des élites helvétiques a largement fait usage de ces rapprochements.28 Tout naturellement, les pères de la Réformation ont puisé dans le répertoire des analogies entre Israël et les premiers cantons de la Confédération, contribuant au renforcement de composantes identitaires qui se rattachent clairement à une expérience religieuse. Au XVIIIe siècle, là où nous avons repéré les premières références insulaires, se maintient parallèlement avec beaucoup de vitalité le paradigme de l’élection. Ainsi, pour un physiocrate en 1760, la Suisse est, comme la terre de Canaan biblique, «un pays découlant de vin, d’huile, de lait et de miel»!29 Sur ce registre, le XIXe siècle est le moment d’une désacralisation du mythe avec le développement d’une forme nouvelle d’élection, l’exceptionnalité, qui permet d’évacuer Dieu des références explicites.30 Parallèlement, survit toutefois l’idée ancienne de l’élection divine, associée nettement à une vision religieuse de l’histoire helvétique. On la trouve encore dans la presse à l’occasion du six centième anniversaire de la Confédération. Ainsi, au début août 1891, la Tribune de Genève peut écrire: «Il y a une analogie frappante entre l’histoire du peuple suisse et celle du peuple juif. Ces deux nations ont en effet ce caractère commun d’une conviction profonde et inébranlable de l’action permanente d’une Providence paternelle veillant sur elles, les conduisant comme par la main à travers mille dangers vers un but que Dieu seul connaît et qu’il a assigné comme destinée à ses peuples élus. Ce sentiment d’une mission spéciale au milieu des autres peuples est
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Jean-Luc Piveteau, Temps du territoire: continuités et ruptures dans la relation de l’homme à l’espace, Genève, 1995, p. 239–260. Il écrit avec pertinence à propos de la Suisse p. 255: «La convergence ne résidait pas dans la recherche éventuelle (et puérile) d’un concordisme entre les Pères fondateurs de l’Urschweiz et les Patriarches de Canaan, mais dans cette vibration permanente de la mémoire.» Piveteau (Anm. 25). Ibid. (Anm. 25), p. 256. Voir les textes significatifs dans Walter (Anm. 23). Citation d’un essai de Jean Bertrand paru dans le Recueil de Mémoires concernant l’oeconomie rurale par une société établie à Berne en Suisse, Zürich 1760, t. I, 1ère partie p. 112. Ce qu’observe très bien Piveteau (Anm. 25), qui va jusqu’à dire qu’on remplace l’action de la Providence par des principes politiques bénéfiques, le libéralisme, la neutralité, le fédéralisme.
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en effet un sentiment à la base aussi de nos institutions et de notre caractère national.»31 Cette conviction, qui utilise tantôt le registre laïc de l’exception tantôt celui à connotation biblique de l’élection, revient en force durant les deux guerres mondiales, face aux menaces extérieures.32 Le premier appartient aux élites politiques, le second est exploité par les autorités religieuses. Au moment du second conflit, le fait que la Suisse ait été épargnée est sans cesse ramené à une faveur toute spéciale de la Providence divine. Pour le théologien protestant Emil Brunner, c’est Dieu qui a confié au peuple suisse la charge de garder les sources des fleuves d’Europe. Cette mission le distingue parmi les autres peuples.33 Un catholique fondamentaliste comme Josef Konrad Scheuber (1905–1990) va jusqu’à comparer la Suisse épargnée par la guerre à un «Israël de la Nouvelle Alliance au milieu d’une Europe en train de sombrer».34 La Suisse, selon ce publiciste animateur de l’action catholique, est une nation qui «a conclu avec le Tout-Puissant une alliance particulière (…) comme Israël». Après la guerre, la Suisse aura la mission de porter au monde le message divin de la paix et de la libération. Ce serait selon Scheuber un des rôles de la Croix-Rouge. Dans d’autres textes, cet auteur rapproche Nicolas de Flue, le saint protecteur du pays, de Moïse sur la montagne. C’est pourquoi, à partir de la Suisse épargnée par la guerre, devrait se réaliser un programme de rechristianisation, de désécularisation de l’Europe et de lutte contre le bolchevisme.35 Le conseiller fédéral Philipp Etter, l’un des idéologues de ce qu’on appelle la «défense spirituelle» de la Suisse pendant les années de guerre va jusqu’à déclarer, dans un discours de 1939: «Le Créateur divin lui-même a produit l’unité de ce pays, et il l’a emmuré de robustes remparts de granit et de dur calcaire, afin qu’il soit en même temps une forteresse si vaste et si forte que seul le Seigneur luimême pouvait la construire, mais aussi pas plus grande qu’il ne le fallait, afin qu’un petit pays puisse défendre sur ces remparts une grande mission spirituelle.»36 Durant la phase récente de désenchantement face à toute l’histoire de la Suisse durant la guerre, c’est au contraire une indifférenciation généralisée qui domine. Les Suisses n’ont pas été meilleurs que les autres. Les compromissions du pays avec l’Allemagne nazie, bien plus que la main de Dieu, l’ont préservé du dé31 32 33 34
Patrie et religion , in: Tribune de Genève du 4 août 1891. Voir les textes significatifs, in: Walter (Anm. 23). Brunner, Emil, Schweizerfreiheit und Gottesherrschaft, Zürich 1939. Voir: Lang, Josef, Josef Konrad Scheubers religiös-patriotischer Beitrag zur Geistigen Landesverteidigung , in: Victor Conzemius (Hrsg.), Schweizer Katholizismus 1933–1945: eine Konfessionskultur zwischen Abkapselung und Solidarität, Zürich 2001, p. 429–460. La citation est à la page 431. 35 Le rapprochement avec le peuple élu se trouve notamment dans l’organe d’action catholique: Jungmannschaft n°10 du 4 mars 1943 (Scheuber en est le rédacteur). D’autres textes forts dans un programme pour l’action catholique en 1942/43. Tous ces documents sont cités par Lang (Anm. 34). 36 Discours intitulé „Reden an das Schweizer Volk gehalten im Jahre 1939 “, cité par Lasserre, André, La Suisse des années sombres: courants d’opinion pendant la Deuxième Guerre mondiale 1939–1945, Lausanne 1989, p. 20.
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sastre. Si cette dévaluation généralisée du passé a caractérisé la conscience historique des années 1970–1990, ce sont les excès d’autoflagellation critique et le sursaut de la conscience identitaire face aux attaques dont la Suisse a été l’objet durant les années 1990, en particulier lors de l’épineux dossier des indemnités aux victimes de l’holocauste, qui ont contribué à raviver la conscience du Sonderfall. La conviction de pouvoir, comme le dit joliment J.-L. Piveteau, «faire territoire à part»37 est sans doute aujourd’hui complètement sécularisée. Un processus identique a été observé pour l’Allemagne par Hartmut Lehmann, lequel a considéré l’histoire allemande comme perception explicite de l’histoire d’un peuple élu (ein auserwähltes Volk).38 Dans l’après-guerre, le thème de l’exceptionnalité est fortement lié aussi à celui de la culpabilité dans les événements tragiques du XX e siècle. C’est pourquoi l’histoire de la République fédérale, puis la réunification en 1989/90, ont parfois été vécues comme un retour à la normalité européenne, soit à la fin du Sonderweg. En Suisse aussi, depuis quelques années, le renforcement de l’idéologie insulaire suscite un débat contradictoire et certains se demandent si l’ouverture au monde que génère forcément la globalisation économique et culturelle ne marque pas la fin du Sonderfall.39 «Die Schweiz ist keine Insel im Europäischen Ozean», proclamait en 2007 la présidente de la Confédération, Mme Micheline Calmy-Rey, dans une interview. En se démarquant ainsi de la tradition séculaire, la présidente, sans le savoir, ouvrait un dossier tout aussi complexe que l’on peut réduire à l’interrogation suivante: «La Suisse pourra-t-elle supporter de devenir ordinaire quand toute son identité a reposé sur la conviction d’être unique?» Prof. Dr. François Walter, Professeur d´histoire générale, Université de Genève
37 L’expression est de Piveteau (Anm. 25), p. 255. 38 Voir par exemple Lehmann, Hartmut, „¸Es gibt zwei gelobter Länder in der Welt, das eine ist das Land Canaan oder Palästina, das andere ist Württemberg’. Christian Gottlob Barths württembergische Geschichte aus dem Jahre 1843“, in Beiträge zur Geschichte des württembergischen Pietismus. Festschrift für G. Schäfer und M. Brecht, Göttingen 1998, p. 271–285. 39 Voir les propositions de Jurt, Joseph, L’automne 2001: la fin du Sonderfall suisse?, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande, 35 (2003), n° 4, p. 547–558.
ZURÜCK IN FRANKREICH – NACH PARIS
BRENNPUNKTE DER PERIPHERIE ORTSBESICHTIGUNGEN IN LYON
(CLEMENS ZIMMERMANN)
Die „Jugendunruhen“ in französischen Vorstädten, die Akte des Protests und der Gewalt in den peripheren Großsiedlungen, wie sie in der Bundesrepublik 2005 ungemeines Interesse fanden, warfen unmittelbar die Frage nach deren Ursachen auf. Recherchen vor Ort brachten jedoch keine Ergebnisse, weil die Jugendlichen schwiegen, eine Auskunft verweigerten. So blieben die Bilder von zerstörten Bussen und „flammenden Nächten“ haften, beunruhigten die deutsche Öffentlichkeit. Sie hatte bislang keine Notiz genommen „von der beurs-Bewegung über die gewaltförmigen emeutes bis hin zur Islamisierung.“1 Experten wurden zur Hilfe gerufen und erklärten die Zusammenhänge: das hohe Ausmaß der Jugendarbeitslosigkeit, ethnische Diskriminierung im republikanischen Frankreich, während die Jugendlichen selbst den Anspruch auf „Freiheit“ und „Gleichheit“ ernst nahmen; der Konnex von arabisch geprägtem Milieu, Rollenzwängen und Jugendkultur, die Hilflosigkeit von Eltern und Sozialarbeitern, die harten Reaktionen einer Staatsund Polizeigewalt, die zudem nicht mehr in den Nachbarschaften verankert war. An all diesen Erklärungen ist etwas Richtiges, aber ihre Wertigkeit ist umstritten, und sie zeigen keine historische Tiefenschärfe. Letztlich laufen viele dieser Argumente auf eine Interpretation der Eigenschaften des Habitats hinaus. Diese Eigenschaften werden wiederum mit steigenden Mieten und Verdrängungsprozessen in Zusammenhang gebracht und als Segregation, Territorialisierung sozialer Praktiken in Quartieren und Peripherien und Entstehung ethnisierter Räume (nach 1975) charakterisiert.2 Auffallend wurden die Großsiedlungen selbst in diesem Diskurs jedenfalls nicht in Deutschland und kaum einmal ernsthaft thematisiert, schon gar nicht im Fernsehen. Man sah die gespenstisch von den Feuern erleuchteten riesigen Häuserfassaden, man sah viel Beton, die zerschlissenen Einrichtungen, doch die historische Genese der Siedlungen, wie es dazu kam, dass sich in ihnen ein besonderes Milieu herausbildete, war kein Thema. So hatte die Siedlungs- und Wohnungspolitik der vergangenen Jahrzehnte keinen Nachrichtenwert. Ganz anders die französische Debatte: Hier galten die grands ensembles schlechthin als absolute Problemgebiete, obwohl das noch heute je nach Stadtregion differenziert werden muss und obwohl die Großsiedlungen ja einmal nicht für eine bestimmte soziale Zielgruppe gebaut worden waren.3 Im Gegensatz dazu war das grand ensemb1 2 3
Loch, Dietmar, Jugendliche maghrebinischer Herkunft zwischen Stadtpolitik und Lebenswelt, S. 34. Burgel, Guy/Roncayolo, Marcel, Formes et paysages, in: Marcel Roncayolo, Hrsg., La ville aujourd´hui, Paris 2001, S. 781–802; Guilluy, Christophe/Noyé, Christophe, Atlas des nouvelles fractures sociales en France, Paris 2004 S. 10–23, 34f. Neumann, Wolfgang/Uterwedde, Henrik, Soziale und stadtstrukturelle Wirkungen der Wohnungs- und Städtebaupolitik in Frankreich am Beispiel der Groß-Siedlungen, Stuttgart 1993,
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le, trotz der Abstraktheit, der dem Begriff innewohnt, in den fünfziger bis siebziger Jahren noch ein positiv besetztes Synonym für modernistischen Städtebau, und im Nachhinein für die trentes glorieuses, die Aufschwungphase 1945–1975. Medien scheinen heute mehr zur Stigmatisierung der Vorstädte beizutragen als zur Aufklärung über Zusammenhänge, obwohl es auch hier Ausnahmen gibt und der Qualitätsjournalismus nicht gänzlich verschwunden ist.4 In der Perspektive Dietmar Hüsers nutzen die Jugendlichen die mediale Aufmerksamkeit, um einerseits Gleichaltrige für ihre Ziele zu mobilisieren, andererseits um sich Gehör zu verschaffen und staatliche Unterstützung einzuklagen. Insofern führt die für die Mehrheitsgesellschaft fremdartige Soziabilität der Vorstädte durchaus in „politische“ Aktion.5 Auf wissenschaftlicher Ebene ist, was die deutschsprachige Literatur betrifft, außerdem auf die Arbeit von Dietmar Loch zu verweisen, der das Thema der Jugendbewegung am Falle der Stadtregion Lyon in eine Stadtentwicklung hineinstellt, die letztlich auf großflächige Segregation hinausläuft. Diese betrifft heute auch die weniger gut verdienenden Mittelschichten und veranlasst sie dazu, in weiter entfernte suburbane Wohngebiete auszuweichen, während im Stadtzentrum von Lyon und teils auch den traditionellen, anschließenden Wohnquartieren deutliche Gentrifizierungsprozesse ablaufen.6 Auch Wolfgang Neumann hat sich mehrfach mit der Abwertung französischer Vororte beschäftigt. Er sieht einen Prozess im Gange, bei dem sich soziale Problemlagen in den Großsiedlungen immer stärker konzentrieren und deviante Entwicklungen gegenseitig verstärken, sodass diejenigen, die es sich noch leisten können, die Siedlungen verlassen, zumal man inzwischen sozial stigmatisiert sei, wenn man dort eine, d.h. die falsche Adresse, habe.7 So anregend dieser Ansatz auch sein mag, so ist doch deutlich, dass das Abheben auf Kriminalität und „Devianz“ viel zu kurz greift. Man muss historisch weiter aus- und zurückgreifen und sowohl die kulturelle Dimension der Sinnsuche, der Selbstbehauptung, aber auch der Selbstausgrenzung der heutigen Einwohner darstellen als auch die Logik der Entstehung der großen Sozialsiedlungen (mit ihren nicht antizipierten Folgen) thematisieren, um die heutigen Problementwick4 5
6 7
S. 77ff. Vgl. die umfangreiche Sammlung von Zeitungsartikeln des Jahres 2005 in: http://www.unikassel.de/fb13/su/seminar/pdf/05.06%20Textsammlung_Frankreich.pdf Hüser, Dietmar, Plurales Frankreich in der unteilbaren Republik, in: Frankreich-Jahrbuch 19, 2006. Zur Wahrnehmungsgeschichte der banlieue und ihrer eigenen kulturellen Produktion vgl. auch Kimminich, Eva, Citoyer oder Fremder? Ausgrenzung und kulturelle Autonomie in der französischen banlieue, in: Archiv für Sozialgeschichte 46, 1986; Zancarini-Fournel, Michelle Les Rébellions urbaines en France (1871–2005). Quels paradigmes explicatifs?, in: Archiv für Sozialgeschichte 46, 2006, S. 541–556. Zur Diskriminierungserfahrung bei Jugendlichen vgl. ebd. und Frey, Oliver, „Überforderte Nachbarschaften“, Technische Universität Berlin, Institut für Stadt- und Regionalplanung/Diplomarbeit D.E.S.S., Berlin/Paris 2001, S. 132–136. Loch (Anm. 1), S. 63f. Neumann, Wolfgang, Gesellschaftliche Integration gescheitert? Stadtpolitik in Frankreich vor Herausforderungen in einer neuen Dimension, Aktuelle Frankreich Analysen Nr. 21, Januar 2006, S. 6.
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lungen zu verstehen. Dieser letzte Ansatz soll hier in Form einer kurzen Skizze mit besonderem Augenmerk auf Lyon vorgestellt werden. SIEDLUNGSBAU IM GEIST DER TRENTES GLORIEUSES Bis zum Zweiten Weltkrieg setzte die französische Wohnungspolitik ganz vorrangig auf Eigenheimförderung mittels kleiner, individueller Vorstadtparzellen (pavillon). Dies brachte bereits in vielen Städten, vornehmlich in Paris, ein einzigartiges suburbanes Konglomerat der banlieue hervor, in das nach dem Krieg dann die neuen Siedlungen eingebaut wurden. Die empfindliche Wohnungsnot hatte der Aufbau eines Sektors des gemeinnützigen Wohnungsbaus aber nicht mildern können. Trotz des im internationalen Vergleich festzustellenden Rückstands, den man mit der allgemeinen Sozialstaatsentwicklung und dem relativ geringen Urbanisierungsgrad in Zusammenhang setzen muss, fasste die Idee der Gartenvorstädte Fuß, sehr eindrucksvoll gerade in der Region Lyon mit dem sehr großen, anspruchsvollen Projekt Villeurbanne von Tony Garnier. Es entwickelten sich generelle Ansätze staatlicher Wohnbauförderung, an die dann nach 1945 angeknüpft werden konnte.8 Von den trentes glorieuses, den dreißig glorreichen Jahren 1945–1975, einer Periode, als sich die Franzosen „reich fühlten und an die strahlende Zukunft (glaubten)“ 9 und die in der französischen Historiografie immer noch sehr positiv besetzt ist (wie in Deutschland das Wirtschaftswunder und die „Demokratisierung“ der sechziger Jahre) blieben in der gebauten Umwelt neben den Straßen vor allem die Wohnungen, Großsiedlungen und die seit den fünfziger Jahren erscheinenden villes nouvelles, die Trabantenstädte, die eine Integration von Wohnen, Leben und Arbeiten versprachen. Die Siedlungen schossen überall in kürzester Zeit an den Stadträndern empor. Es kam zu einer von „oben“, vom Zentralstaat her initiierten, geleiteten und überwiegend auch finanzierten fundamentalen Wende in der Wohnungsversorgung. Diese Wende ist nicht vorstellbar ohne die alles durchdringende Ideologie der Gestaltbarkeit, die Zukunftsgewissheit, den absoluten Glauben an Fortschritt und Rationalität, wie er den Führungskadern eigen war.10 Es ging nicht nur um den Sprung von Wohnungsnot zu bedürfnisgerechter Wohnversorgung, auch nicht nur um einen spezifischen französischen Urbanismus, sondern darum, den Übergang in eine urbane und industrielle Moderne materiell und über ein geografisch abgestuftes Planungsinstrumentarium zu steuern.11 So äußerte sich 1945 der Minister für Wiederaufbau, Raoul Dautry, „Die Stadtpla8
Meller, Helen, European Cities 1890–1930s. History, Culture and the Built Environment, Chichester 2001, S. 224f. und S. 244–251; zum groß angelegten Lyoner Sozialwohnungsprojekt „Etats-Unis“ als urbanistisches Laboratorium der 30er Jahre vgl. Berthet, Claire, Contribution à une histoire du logement social en France au XXe siècle. Des bâtisseurs aux habitants. Les H.B.M. des Etats-Unis de Lyon, Paris 1997, S. 35–84. 9 Altwegg, Jürg, Bonjour im Freizeitpark, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2004. 10 Meillerand, Marie-Clotilde, Le logement dans la politique urbaine de la région lyonnaise: des plan d´urbanisme au Schémas directeurs. Tagung „Du logement peut-on voir la ville“, Lyon 22.-23.6.2006, S. 1.
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nung gehört zur Renaissance des Landes, bedeutet materielle und moralische Wiedergeburt“ und 1960 der Bauminister Pierre Sudreau: „Die Wohnungsfrage ist mehr als die Notwendigkeit, Familien unterzubringen; ... die Stadtplanung, als schönste aller Tätigkeiten und zugleich Kunst und Wissenschaft, gibt den Menschen die Möglichkeit, ihren alten Traum der Beherrschung von Raum und Zeit zu verwirklichen.“12 Die Großsiedlungen sind also aus dem Traum der einmaligen Aufschwungphase der Trentes Glorieuses hervorgegangen, per Administration, auf der Grundlage perfekter Rationalität und im Kontext einer variierten internationalen Baumoderne. Mit dem Siedlungsbau sollte eines der zentralen sozialen Probleme, die Wohnungsfrage, gehört werden. 1954 wohnten 14 Millionen Franzosen in überfüllten Wohnungen, als endlich eine energische Neubaupolitik begann – mit einer Bauleistung von jährlich einer halben Million Wohnungen 1960–1980, nachdem man 1954 erst 162.000 geschafft hatte. Höhepunkt der industrialisierten Wohnungsproduktion waren die Jahre 1971–75, als 682.000 Sozialwohnungen, fast ausschließlich in Großsiedlungen und 1.856.000 Wohnungen im Bereich des privaten Marktes erstellt wurden. Aus den staatlich subventionierten Siedlungen der Vorstädte zogen indes die Mittelschicht- und Facharbeiterhaushalte, in die sie seit den 60er Jahren gezogen waren – so betrug in den grands ensembles der Region Paris der Anteil mittlerer und höherer Angestellter 1962 dreißig Prozent13 -, bald wieder fort; dies führte zu Einwohnerverlusten von 1975–82 von bis zu 25% (Les Minguettes/Vénissieux bei Lyon). Freiwerdende Wohnungen wurden von Armen und Einwanderern bezogen, die bislang vielfach in völlig elenden bidonvilles gelebt hatten. Für diese war eine Wohnung in einer Siedlung zunächst ein Aufstieg. Der Status dieser Quartiere hingegen sank. Bald waren sie Ort erster militanter ethnischer Konflikte. In den großen Komplexen entwickelten sich feine Unterschiede der Raumwahrnehmung, z.B. wurden in sozial gemischten Quartieren Tennisplätze mit Gittern gegen „Jugendliche“ geschützt. Bewohner hatten zunehmend das Gefühl, nur provisorisch mit den anderen sozialen Gruppen zusammenleben zu müssen, dies verwandelte sich in Frustration, als die Neuankömmlinge merkten, dass das Ende des Aufstiegs erreicht war.14 Den mittlerweile deklassierten, partiell proletarisierten Arbeiterschichten steht der Teil der französischen Gesellschaft gegenüber, der sich wach-
11 Zu Stadtplanung und Wohnungspolitik bis zum Zweiten Weltkrieg vgl. Hudemann, Rainer/Walter, François (Hrsg.) Villes et guerres mondiales en Europa au XX e siècle, Paris/Montréal 1997; Mengin, Christine, Wohnungspolitik in Frankreich 1919–1945, in: Günther Schulz, (Hrsg.), Wohnungspolitik im Sozialstaat. Deutsche und europäische Lösungen 1918–1960, Düsseldorf 1993, S. 339–356 und Mengin, Christine, H.B.M. et „Siedlungen“: étude comparative du logement social en France et en Allemagne (des débuts à la crise de 1929), in: Clemens Zimmermann, (Hrsg.), Europäische Wohnungspolitik in vergleichender Perspektive 1900–1939, Stuttgart 1997, S. 130–152. 12 Ministére de la reconstruction et de l´urbanisme 1944–1954, (Hrsg.), Une politique du logement, Paris 1998, S. 13. 13 Neumann/Uterwedde (Anm. 3), S. 90. 14 Burgel, Guy/Roncayolo, Marcel, Formes et paysages, in: Marcel Roncayolo, (Hrsg.), La ville aujourd´hui, Paris 2001, S. 358ff.
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send des Lebens im Wohneigentum erfreut.15 Die banlieue weist weiterhin sehr gemischte soziale und bauliche Strukturen auf, Wohngebiete unterschiedlicher Qualität finden sich, alte und neue Wohnbebauungen vermischen sich mit Strukturen von edge cities. In den Großsiedlungen fand indes seit den 1970er Jahren eine abgeschottete Gemeinschaftsbildung statt – Hintergrund für das Straßenleben der Jugendlichen.16 Zum Großsiedlungsbau ist es auch deshalb gekommen, weil man zeitgenössisch von einem weiteren ungebremsten Bevölkerungswachstum ausging, das auch sonst sozialstaatlich antizipiert und letztlich erfolgreich stabilisiert werden konnte. Immerhin gab es in Frankreich 1943–1965 einen Baby Boom, einen historisch einmaligen Geburtenüberschuss von fünf Millionen. Die demografische Zielperspektive bestimmt auch das Zukunftskonzept für Lyon enorm. Die Berechnung der voraussichtlichen Zuwanderung in die Stadtregion war ein Kernpunkt der Planung. Zusammen mit dem Ersatzbedarf für niedergelegte Wohnhäuser ergab sich 1954 für die Stadtregion Lyon ein Planungsziel von gewaltigen 148.000 Wohnungen bis 1975. Man glaubte an die Mathematik und an fortwährend hohe Geburtenraten. Tatsächlich stieg die Einwohnerzahl der städtischen Agglomeration Lyon mit ihren 56 Gemeinden von 1946 knapp 700.000 Einwohnern auf 1975 knapp 1,1 Millionen – mithin ein Wachstum von über 50%.17 Danach allerdings sank, besonders in Lyon selbst, das demografische Wachstum, wie in anderen europäischen Metropolen auch. Abwanderung und Deindustrialisierung zeitigten ihre sozialen Folgen.18 Auf regionaler Ebene ging es bei der historisch einzigartigen baulichen Expansion nicht nur um die Planung konkreter industrieller Siedlungsprojekte, sondern alle Maßnahmen mussten koordiniert, Interessen zwischen Beteiligten abgestimmt und gesetzliche Regeln an die örtlichen Bedingungen angepasst werden. Es waren nicht nur junge, technokratische Planer aus Paris, die mit Elan und als eine equipe vor Ort tätig wurden, sondern auch die erfahrenen und mächtigen Vertreter der klassischen Zentralverwaltung, die in und neben den offiziellen Planungsstäben agierten. In der praktischen Wohnungspolitik Lyons standen 1941– 1947 noch die Beseitigung der erheblichen Kriegsschäden und hygienische Verbesserungen der städtischen Bausubstanz im Vordergrund. 1950 bis 1965 wurde der Massenwohnungsbau außerhalb der bisherigen Stadt, ebenfalls noch stark unter hygienischem Vorzeichen, geradezu zu einer Obsession der Planer.19 Zunächst kam es zum Bau von relativ stadtnahen und im Umfang auf jeweils 2.000 Wohn15 Die Wohneigentumsrate stieg bereits von 1954 mit 35% auf 1975 47% (und 2003 56 %); Effosse, Sabine, La construction immobilière en France, 1947–1977. Le logement social, un secteur prioritaire?, in: Histoire et Societés Nr. 20, 2006, S. 27. 16 Loch (Anm. 1), S. 60–67, 120f. Zum Verhältnis von Jugendlichen und (knappem) öffentlichen Raum vgl. Frey (Anm.5), S. 130f. 17 Meillerand, Marie-Clotilde, La politique urbaine de la region lyonnaise pendant les Trentes Glorieuses: cadres, acteurs et principes. Arbeitspapier für die Tagung “Les trentes glorieuses” – Wirtschaftlicher Boom, Fortschrittsoptimismus und gesellschaftlicher Aufbruch 1950– 1975, Bielefeld, 27.5.2005–28.5.2005, S. 2. 18 Loch (Anm. 1), S. 125. 19 Meillerand (Anm. 10).
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einheiten beschränkten Projekten. In den 1950er Jahren fing man im Viertel BronParilly an. Danach schien man unter ständigem Zeitdruck zu stehen, – auch deshalb der Drang, in die freie Fläche hinein zu bauen. Am Ende der sechziger Jahre fassen hier die neuen urbanistischen Konzepte einer „ville nouvelle“ Fuß mit der Konzentration auf vier große und rasch hochgezogene Trabantenstädte: nordwestlich La Duchère, Les Minguettes im Süden, Rillieux-la-Pape und Vaulx-en-Velin am nördlichen Stadtrand. Lokale Konzepte und Einflüsse hatten bei all diesen Projekten kaum eine Chance, berücksichtigt zu werden.20 Zu Beginn der siebziger Jahre folgte die Planung für die Trabantenstadt L´Isle- d´Abeau 30 km östlich von Lyon, mit völlig neuer Infrastrukturausstattung und getragen von der Überzeugung der Planer, dass man in kurzer Zeit ein urbanes Milieu würde erschaffen können.21 Am Beispiel von La Duchère kann man die Karriere einer typischen Lyoner Großsiedlung exemplarisch nachvollziehen: Sie wird 1958 mit einem Bauprogramm von 5.500 Wohnungen angekündigt. Von den Architekten François-Régis Cottin und Franck Grimal geplant, ziehen die ersten Einwohner 1963 ein. Einzelne Blöcke wie La barre des 1000 werden zuerst realisiert, später kommt es zum Einbau von Geschäften und einigen sozialen Einrichtungen. Gemessen an den bisherigen Wohnverhältnissen ist die Ausstattung jeder Wohnung mit einem Parkplatz, privatem Badezimmer und Aufzug geradezu luxuriös. Nach etlichen „guten Jahren“ verschlechtern sich der Status und die bauliche Qualität des Quartiers nach 1990, gemeint ist damit auch, dass dort Immigranten einziehen. Die Stadtpolitik beginnt darauf zu reagieren und muss es auch aufgrund der Loi d´Orientation pour la ville (LOV) von 1991, die eine Gleichverteilung der Sozialwohnungen im Land und mehr soziale Mischung in Wohngebieten anstrebte; auch war die Stadt seit 2001 gehalten, die Loi d´Orientation et de programmation pour la ville et la rénovation urbain“ zu beachten, die konkrete Armutsbekämpfung und Sanierung von Wohnraum vorsah. Endlich kommt es, ähnlich wie in Ostdeutschland, 2005 zum Abriss einiger Großblöcke, wie auch der „Turm 67“ im Dealer-Viertel La Darnaise gesprengt wird, um die Bevölkerungsdichte zu senken, Brennpunkte zu entschärfen und dem grassierenden Leerstand zu begegnen. Dieser ist wiederum nur zu erklären, weil viele Mieter von „schwierigen Vierteln“ mit hoher Arbeitslosigkeit und Kriminalität lieber in die schöneren und sichereren Innenstadtgebiete ziehen möchten. Doch zumindest unter dem konservativen Stadtregiment des zweiten Bürgermeisters von Lyon, Bruno Gignoux, und angesichts des Widerwillens der vorhandenen Wohnbevölkerung gegen den Zuzug von „draußen“, wurden in Innenstadtgebieten kaum Sozialwohnungen neu gebaut. In La Duchère sollen die verbleibenden Wohnblöcke modernisiert werden, auf den Freiflächen einige Stadthäuser entstehen und durch Videokameras der öffentliche Raum gesichert werden. Dadurch wird jedoch sicherlich keine soziale Mischung erreicht werden können.22 20 Loch (Anm. 1), S. 116. 21 Meillerand (Anm. 17), S. 16–21. 22 Quellen: http://www.gpvlyonduchere.org/La-Duchere/histoire.php [29.8.07]; von der Brelie, Hans, Plattenbau à la lyonnaise, Lyon 2005 S. 1f.; Neumann, Wolfgang, Gesellschaftliche In-
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Konflikte zwischen den Vertretern der Stadt Lyon und den staatlichen Behörden kamen durchaus vor, so 1953/5 bei der massiven Neustrukturierung des Viertels Mermoz. 1961, als der Überbauung fortgesetzt wurde, lobte die Presse allerdings die großen Grünflächen und bemerkte nicht, wie im Vergleich zur früheren Gestaltung dieses Gebietes durch Tony Garnier die neuen Gebäude eine ungeheure Monotonie mit sich brachten. Die Planungen für Lyon zeigen die ungeheure Beschleunigung, die der Wohnungsbaus von den fünfziger zu den siebziger Jahren erfuhr. Massiv griff der Staat mithilfe seiner Subventionen in die kommunalen Belange ein, häufig mit verheerenden Folgen.23 Das ehemalige Reformprojekt Villeurbanne hat sich heute an die sozialen und politischen Strukturen von Lyon angepasst. Klassische Arbeitervororte der Zwischenkriegszeit wie Vénissieux und Vaulx-en-Velin bestanden als „rote Vorstädte“ auch in den trentes glorieuses fort, dort wurden Immigranten zunächst in die Arbeiterkultur integriert, in Lyon selbst wurden sie in das Viertel Croix Rousse abgedrängt, das sich aber heute als attraktives, sozial gemischtes Stadtviertel für Einwanderer, Kreative und Studenten gleichermaßen darstellt und wohl bald gentrifiziert wird.24 REGIONALE UND KOMMUNALE MACHTVERHÄLTNISSE IN LYON Der Aufbau der Siedlungen, die damit verbundenen sozialen Infrastrukturen, die Verkehrserschließung und weitere technische Infrastrukturmaßnahmen bedurften regionaler Absprachen. In Lyon schufen die Verantwortlichen 1959 einen district urbain, der unabhängig von den zentralen Planungsbehörden Stadt und Region miteinander verband. Der Maire von Lyon wurde Vorsitzender dieser Institution. Sie brachte zwar einiges auf den Weg, aber erst mit der Schaffung der communauté urbaine 1969 wurde sie effektiv tätig.25 Nicht ganz klar ist in der Forschung, welches Gewicht die Stimmen der Einzelgemeinden in diesem Gremium hatten, wie stark sie ihre Wünsche einbringen konnten. Wie es heute aussieht, wurden die nächstgelegenen, ihrer ganzen Dimension nach administrativ und funktionell wenig leistungsfähigen Vorortgemeinden bei der Siedlungsplanung übergangen. Um Einwände und Widersprüche von vorn herein auszuschließen, setzten die staatlichen Planer den ersten Besiedlungsring auf die grüne Wiese und stellten damit sogar die Großstadt Lyon vor vollendete Tatsachen. Die Planung in der Region Lyon war abhängig von einer das gesamte Staatsterritorium umspannenden Raumordnungspolitik. 31 dem Verband zugehörende Kommunen mussten zusammengehen, um essenzielle Infrastrukturpolitik durchtegration gescheitert ? Stadtpolitik in Frankreich vor Herausforderungen in einer neuen Dimension, Aktuelle Frankreich Analysen Nr. 21, Januar 2006, S. 7f.; Rudolph-Cleff, Anette, Wohnungspolitik und Stadtentwicklung. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel/Boston/ Berlin 1996, S. 134–142. 23 Delfante, Charles/Dally-Martin, Agnès, Cent Ans d´urbanisme à Lyon, Lyon 1994, S. 215– 220. 24 Loch (Anm. 1), S. 112ff.; von der Brelie (Anm. 22), S. 3. 25 Meillerand (Anm. 17), S. 4.
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zusetzen, angefangen bei den Feuerwehren, deren Einsatz koordiniert werden sollte, bis zu tiefen Eingriffen in das regionale Verkehrswesen – mit unterschiedlichen Erfolgen. In diesem Zusammenhang ist auch die Rolle der Präfekten in den Blick zu nehmen. Sie vertraten den Zentralstaat vor Ort – aber offensichtlich hatten sie auch Verbindungen zur Handelskammer in Lyon und agierten als Vermittler zwischen widerstreitenden kommunalen Interessen. Seit Anfang der 60er Jahre stieg das Gewicht regionaler Entscheidungen gegenüber den zuständigen Pariser Ministerien und den Präfekten, aber innerhalb der Region trat die Rolle der mit Notablen besetzten, beigeordneten „comités“ zurück, und die jungen und professionellen Planer gewannen im Rahmen der Planungsstäbe wie PADOG (1962, Plan d´aménagement et d´organisation générale) und OREAM, (1966, Organisme régional d´étude de l´aire métropolitaine) die Überhand.26 Erst in den 1980er Jahren erhielten die Kommunen mehr Selbständigkeit. Offiziell verfügten die Städte nun über wesentliche Kompetenzen für Stadtplanung und -entwicklung, jedoch behielt der Staat im sozialen Wohnungsbau Mitsprache und besaß erhebliche Steuerungsmöglichkeiten durch die Zuweisung von finanziellen Ressourcen. Als Ratgeber in strittigen Fragen und bei technischen Problemen blieben die Präfekten und die departementalen Baubehörden einflussreich, um so mehr, da die Kommunen keine abgestimmte Politik zu entwickeln vermochten.27 Seit 1969 spielte Lyon im nun offiziell eingerichteten Stadt-Umland-Verband die dominierende Rolle, dessen politische Vertreter indes nicht direkt gewählt wurden und in dem linke Parteien nur schwach repräsentiert waren. Positiv war sicherlich, dass man eine U-Bahn erhielt und damit eine direkte Anbindung zu Lyon. Allerdings sind einige der Vorstädte bis heute nicht an den Verkehrsverbund angeschlossen. Seit den siebziger Jahren reagierten die Verantwortlichen auf die sozialen Probleme in den Großsiedlungen. Vereine wurden gegründet, Sozialprogramme aufgelegt, freilich ohne dem ethnisch komplizierten Milieu der Vororte gerecht zu werden. Allein aus sprachlichen und sonstigen Gründen blieben auch Vermittlungsversuche und Aktivitäten der Wohnungsgesellschaften erfolglos.28 Heute gibt es in Frankreich 752 Problemgebiete (Zone Urbaine Sensible, ZUS), die hinsichtlich der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung, ihrer sozialen Lage und hinsichtlich des (sehr hohen) Anteils von Sozialwohnungen deutlich von der „normalen“ Raumstruktur abweichen.29 EIN VERGLEICH MIT DER BUNDESREPUBLIK Grundsätzlich war die Wohnungs- und Städtebaupolitik im Frankreich der Nachkriegszeit im Vergleich zur Bundesrepublik zwar wesentlich stärker zentralstaatlich geprägt und noch enger als hierzulande mit einem vehementen Modernisierungsparadigma verknüpft. Doch in beiden Ländern lassen sich übereinstimmende 26 27 28 29
Meillerand (Anm. 17), S. 10–15. Neumann/Uterwedde (Anm. 3), S. 63ff. Frey (Anm. 5), S. 128–146. Neumann (Anm. 7), S. 4ff.
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Entwicklungsphasen erkennen: Wohnungsnot unmittelbar nach dem Krieg mit dem Zwang zum raschen Wiederaufbau, infrastrukturelle Modernisierung später. Hier wie dort förderte der Staat den Wohnungsbau mit erheblichen finanziellen Mitteln, in Westdeutschland noch etwas länger als in Frankreich. Dies im deutschen Kontext propagierte Leitbild des „befreiten Wohnens“ (Giedeon) bzw. einer „aufgelockerten“, begrünten Stadt entsprach in Vielem französischen Vorstellungen. In den sechziger und siebziger Jahren gewann auch in der Bundesrepublik Planung an Bedeutung. Wissenschaft sollte den scheinbar willkürlichen politischen Entscheidungsprozess ersetzen und den Ausbau der Städte anleiten.30 Vor allem der Wohnungsbau kam in die Kritik, weil er unfähig sei, soziale Verelendung aufzufangen. Freilich gab es auch Unterschiede. In der Bundesrepublik befürwortete man eine allmähliche Liberalisierung der Wohnungspolitik und orientierte sich am Leitbild eines kontinuierlichen Stadtraums, auch gab es hier eine größere Vielfalt an konkurrierenden Planungskonzepten und ästhetischen Vorstellungen und es kam zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern, was ebenfalls zu höherer Diversität führte.31 Ein Hochhaus- und Großblockbau à la Corbusier in Marseille mit seiner zwischen 1947 und 1952 realisierten Unité d ´habitation kam für die westdeutsche Öffentlichkeit nicht in Frage; während der Bau der Blockensembles in Frankreich mit großem Enthusiasmus in Angriff genommen wurde.32 Doch prinzipiell waren in beiden Ländern große Bevölkerungsteile mit der modernistischen Lösung der Wohnungsfrage insgesamt einverstanden. Die politischen Akteure konnten sich auf einen Konsens gerade der breiten unteren Mittelschichten stützen, der Beamten- und Angestelltenhaushalte, die vom sozialen Wohnungsbau bzw. von der sozialen Wohnbauförderung überdurchschnittlich stark profitierten. Doch im Zeichen einer durch Bürgerinitiativen veränderten politischen Kultur nahm in den siebziger Jahren die Kritik an Vernachlässigung der alten Städte und an den Großsiedlungen massiv zu. Infrastrukturelle Defizite, bauliche Monotonie und steigende Preise führten trotz hohen Wohnkomforts zu Imageproblemen großer Neubausiedlungen wie Frankfurt-Nordweststadt, Hamburg-Steilshoop oder Berlin-Märkisches Viertel. Aufgrund der degressiven Förderungspraxis des Sozialen Wohnungsbaus stiegen die Mieten schneller als die Einkommen. Besser verdienende und gebildete Mieter begannen ins Eigenheim oder in sanierte Altbauviertel zu wechseln. Wohnungen standen leer. Dies war das Ende der „trente glorieuses“ im Siedlungsbau Westdeutschlands, wenn man diesen Begriff, was allerdings manche bezweifeln, auf die Bundesrepublik übertragen kann. In Frankreich endete die Planungseuphorie in der Mitte der siebziger Jahre, aber das alarmierte eher die Planereliten als breite Bevölkerungskreise: „Einerseits war der Regulierungsbedarf aufgrund der zurückgehenden Wachstumsraten der französischen Städte nicht mehr so hoch, andererseits entpuppten sich Planungs-
30 Harlander, Tilman, Wohnen und Stadtentwicklung in der Bundesrepublik, in: Ingeborg Flagge, (Hrsg.), Geschichte des Wohnens. Band 5, 1945 bis heute, Stuttgart 1999, S. 290f. 31 Neumann/Uterwedde (Anm. 3), S. 14–17, Zitat 14; Rudolph-Cleff (Anm. 22), S. 180–200. 32 Harlander (Anm. 30), S. 279; Rudolph-Cleff, (Anm. 22), S. 197.
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entscheidungen als Fehler (Entstehung sozialer Brennpunkte in Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an sozialem Wohnungsbau“).33 Inzwischen steht in der Bundesrepublik die Frage der Bewältigung von Stadtschrumpfungsprozessen an, und in Frankreich, wie für Lyon gezeigt, geht es um die Sanierung der Viertel des Sozialen Wohnungsbaus. Überhaupt hat sich das Interesse der Stärkung der Innenstädte und der kulturellen Infrastrukturen zugewandt. In Lyon, um das Beispiel aufzugreifen, wurden Universitätsinstitute wieder in der Stadt selbst untergebracht.34 Auch hier zeigen sich Parallelen der Entwicklung beider Länder. In der Bundesrepublik ist es bislang nicht zu emeutes in den Sozialquartieren gekommen. Unruhige Gebiete wie Berlin-Kreuzberg liegen innerstädtisch. Offensichtlich spielen für die geringere Militanz hierzulande die andere ethnische Zusammensetzung der Siedlungsbewohner und weitere kulturelle, soziale und politische Faktoren eine Rolle. Die niedrigere Jugendarbeitslosigkeit, die geringere Größe der Quartiere, ihre größere soziale Durchmischung und teils auch besserer Zustand machen Straßenunruhen wie in Frankreich unwahrscheinlich, doch ist es nicht die Aufgabe des Historikers, die Zukunft zu prognostizieren. Prof. Dr. Clemens Zimmermann, Professor für Kultur- und Mediengeschichte, Historisches Seminar, Universität des Saarlandes LITERATUR: Berthet, Claire, Contribution à une histoire du logement social en France au XXe siècle. Des bâtisseurs aux habitants. Les H.B.M. des Etats-Unis de Lyon, Paris 1997. Bonneville, Marc, Lyon: Métropole régionale ou euro-cité?, Paris 1997. von der Brelie, Hans, Plattenbau à la lyonnaise, Lyon 2005 (http://www.agkv.org/parisberlin/archives/n3/lyon.html. Burgel, Guy/Roncayolo, Marcel, Vers le XXIe siècle, in: Marcel Roncayolo, Hrsg., La ville aujourd´hui, Paris 2001, S. 697–835. Burgel, Guy/Roncayolo, Marcel, Formes et paysages, in: Marcel Roncayolo, Hrsg., La ville aujourd´hui, Paris 2001, S. 345–464. Delfante, Charles/Dally-Martin, Agnès, Cent Ans d´urbanisme à Lyon, Lyon 1994. Effosse, Sabine, La construction immobilière en France, 1947–1977: le logement social, un secteur prioritaire?, in: Histoire et Societés Nr. 20, 2006, S. 12–27. Frey, Oliver, „Überforderte Nachbarschaften“, Technische Universität Berlin, Institut für Stadtund Regionalplanung/Diplomarbeit D.E.S.S., Berlin/Paris 2001. Guilluy, Christophe/Noyé, Christophe, Atlas des nouvelles fractures sociales en France, Paris 2004. Harlander, Tilman, Wohnen und Stadtentwicklung in der Bundesrepublik, in: Ingeborg Flagge, Hrsg., Geschichte des Wohnens. Band 5, 1945 bis heute, Stuttgart 1999, S. 233–418. Hudemann, Rainer/Walter, François, (Hrsg.), Villes et guerres mondiales en Europa au XXe siècle, Paris/Montréal 1997.
33 Zessin, Philipp, Bericht über die Tagung „Les trentes glorieuses “, Bielefeld, 27.5.2005– 28.5.2007. In: H-Soz-uKult 30.6.2005, S. 2. 34 Bonneville, Marc, Lyon: Métropole régionale ou euro-cité?, Paris 1997, S. 158–165.
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VON VILLACOUBLAY NACH MOLSHEIM BON VOYAGE IM CITROËN AMI 6 EIN ESSAY ZUR GESCHICHTE DER FRANZÖSISCHEN AUTOMOBILINDUSTRIE
(HANS-C HRISTIAN HERRMANN)
DIE GRANDE NATION UND DIE ERSTEN 50 JAHRE DES AUTOMOBILS Bevor wir unsere fiktive Reise beginnen, ist ein Rückblick angebracht. Deutschland bezeichnet sich gerne als Erfinder des Automobils und Wiege der Automobilindustrie – an sich zutreffend und irgendwie ein Beispiel dafür, dass kollektive Selbstwahrnehmung nicht unbedingt den historischen Fakten entsprechen muss. In gewisser Hinsicht schuf die deutsche Industrie dieses Bild von sich selbst. Die Erfindungen von Carl Benz und Gottlieb Daimler1 sind bis heute in der Firmenbezeichnung Daimler-Benz allgegenwärtig. Der Konzern formte seine Tradition als Erfinder des Automobils und erkannte früh den Mehrwert eines professionellen History-Managements.2 Ein Blick in den „Sternenhimmel“ der Geschichte zeigt für die ersten 50 Jahre des Automobilbaus bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ein etwas anderes Bild. Zwar erhielten Carl Benz und Gottlieb Daimler unabhängig voneinander ein Patent für ein motorgetriebenes Fahrzeug; von den Anfangsjahren der Automobilgeschichte bis 1910 war Frankreich aber Automobilproduzent Nummer Eins und der dynamischste Automobilexporteur der Welt. Jedes zweite weltweit hergestellte Automobil kam aus Frankreich, gefolgt von den USA mit ca. 39 Prozent, weit abgeschlagen das industriell und wissenschaftlich hoch entwickelte deutsche Kaiserreich mit ca. 5 Prozent. Renault unterhielt seit 1900 ein breites Netz von Verkaufsagenten in Europa, USA und Russland.3 Henry Ford stieß Frankreich vom Thron, aber die Grande Nation mischte immer noch vorne mit. 1913 produzierte Ford das Modell T am Fließband und stellte das Gefüge der Automobilindustrie auf den Kopf. Die Fließbandfertigung war die Geburt der Massenproduktion und läutete Amerikas Massenmotorisierung ein. 1 2 3
1886 erhielt zuerst Carl Benz und einige Wochen später Gottlieb Daimler aus dem badischen Mannheim unabhängig voneinander ein Patent für einen motorgetriebenen Wagen. Niemann, Harry, Gottlieb Daimler, Fabriken, Banken und Motoren, Bielefeld 2000. Niemann, Harry/von Pein, Max Gerrit, Das Mercedes-Benz Archiv, Stuttgart 1993. Die Renault Frères Automobil AG wurde am 17. Oktober 1907 im Berliner Handelsregister eingetragen. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges kam sie 1914 unter staatliche Zwangsverwaltung und wurde aufgelöst. 1927 gründete Renault in Frankfurt/Main die Renault Automobilgesellschaft mbH, diese zog 1934 nach Berlin und wurde 1939 geschlossen. 1949 entstand in Baden-Baden die Renault Automobilgesellschaft, 1956 zog sie nach Brühl bei Köln um. Die Renault-Finanzgesellschaft DIAC soll zunächst ihren Sitz in Saarbrücken gehabt und dann nach Köln verlegt haben, www.renault.de.
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Die Innovation der Fließbandfertigung brachte eine Produktivitätssteigerung von 400 Prozent. Sie rechnete sich mit Blick auf die Größe des amerikanischen Marktes und machte Amerika zur Nummer Eins in der industriellen Automobilfertigung. Die US-Autoindustrie entwickelte sich zur Schlüsselbranche, 1929 verbuchten die USA mit 5,4 Mio. PKW und LKW einen Zulassungsrekord, der erst 1954 übertroffen wurde. Der Aufbau solcher Produktionskapazitäten verlangte aber enorm viel Kapital. Die europäischen Länder mit eigenen Automarken schotteten ihre kleinen Märkte mit hohen Einfuhrzöllen ab, in Frankreich betrugen sie 45 Prozent des Fahrzeugwertes. Das Verkaufsvolumen der jeweiligen nationalen Märkte konnte entsprechende Investitionen nicht amortisieren. 1924 führte Opel als erster Hersteller in Deutschland das Fließband ein, 1926 folgte Horch. Diese Fließbänder waren nicht mit denen von Ford-Amerika vergleichbar. Die erste Opel-Montagelinie umfasste nur 45 Meter, nach und nach wurde sie erweitert und der gesamte Produktionsablauf miteinbezogen.4 Im Vergleich zu Deutschland ging Frankreich früher und entschiedener zur Fließbandfertigung über, die französische Automobilindustrie orientierte sich am amerikanischen Erfolgsmodell. Es war André Citroën, der in seiner Zahnräderfabrik im Ersten Weltkrieg 28 Mio. Granaten herstellte und dabei auf die Fließbandproduktion von Henry Ford zurückgriff. Nach dem Krieg versuchte er diese Erfahrungen auf den Automobilbau zu übertragen. Citroën übernahm eine Vorreiterrolle bei der Ausrichtung der französischen Automobilindustrie in Richtung Massenfertigung. Diese Hinwendung beschleunigte in Frankreich den Wandel des Automobils von einem Spielzeug für reiche Leute, das es seinerzeit in Europa noch in hohem Maße war, zu einem für gehobene Schichten erschwinglichen Produkt. 1923 gab es das erste Fließband bei Citroën, 1926 liefen mehr als 100.000 Fahrzeuge vom Band. Citroën war der erste europäische Produzent, der nicht motorisierte Fahrgestelle, sondern komplette Fahrzeuge mit Karosserie anbot so wie Henry Ford. Das Engagement von Citroën, 1925 das größte Automobilunternehmen Europas, förderte das Interesse der Konkurrenten, ähnliche Wege zu gehen und wie etwa im Falle von Louis Renault das Vorbild sogar zu übertreffen. Die auf der Ile Seguin in Boulogne Billancourt Anfang der 30er Jahre in Betrieb genommene Renault-Fabrik galt mit als modernste Europas, sie verfügte außerhalb der USA über das größte Fließband. 5 Die Produkte von André Citroën, Sohn eines jüdischen Diamantenhändlers, der aus den Niederlanden nach Frankreich eingewandert war, genossen Weltruf. Auch mit seinen außergewöhnlichen Werbeaktivitäten machte er Schlagzeilen. Dazu zählt nicht nur das Eiffelturmspektakel anlässlich der Kunsthandwerksausstellung 1924, mit dem er seinen Namen um die halbe Welt trug, und das Flugzeug, das anlässlich des Pariser Automobilsalons 1922 seinen Namen an den Himmel schrieb. Citroën und Konkurrent Renault betrieben ein Netz von Omnibuslinien. An den Haltestellen platzierte Citroën 18.000 Schilder mit seinem Namen, au-
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Vom Hochard zur High-Tech, in: Opel-Oldies, Sonderheft 1/2005, S. 123ff. Loubet, Jean-Louis, Citroën, Peugeot, Renault et les autres. Histoire des stratégies d’entreprises, Paris 1995, S. 56ff.
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ßerdem 160.000 ovale, meist in den Citroënfarben Blau und Gelb gehaltene Emaille-Verkehrsschilder, die Einbahnstraßen und Sackgassen markierten.6 Der Rückstand Deutschlands in der Automobilproduktion hatte sich zwar in den zwanziger Jahren verkleinert, vergrößerte sich aber wieder in den dreißiger Jahren. Erst 1938 lag die deutsche Fahrzeugproduktion über der Französischen. Dabei ging es freilich nicht um Volksmotorisierung, sondern um die Vorbereitung eines beispiellosen Angriffskrieges. Auch deshalb nahm die NSDAP Pläne wie die Sanierung des Straßennetzes und den Bau von Autobahnen wieder auf, die bereits Jahre früher in ganz Europa und so auch in der Weimarer Republik entwickelt worden waren.7 Verteilung der Welt–Kraftwagenproduktion 1903 bis 19388 1903 1913 1925
1932
1938
USA
38,9%
80,0%
87,0%
69,5%
62,8%
Frankreich
48,5%
7,4%
3,6%
8,5%
5,7%
Großbritiannien
6,9%
5,6%
3,4%
12,1%
11,1%
Deutschland
5,0%
3,4%
1,3%
2,7%
8,6%
Italien
0,8%
1,1%
1,0%
1,5%
1,8%
Die höheren Produktionszahlen Frankreichs erklären sich in gewissem Umfang auch aus seiner verkehrsgeschichtlichen Entwicklung. Im deutschen Kaiserreich war während der Industrialisierung das Eisenbahnnetz systematisch ausgebaut worden. Die Eisenbahn transportierte Rohstoffe und Fertigwaren, vernetzte größere Industriestädte und beförderte Arbeiter. Verspätete Nationalstaatsbildung, Industrialisierung und Urbanisierung erklären die herausragende Bedeutung der deutschen Eisenbahn. Dem gegenüber verfügte Frankreich als industrieller Nachzügler mit geringerer Bevölkerungsdichte über ein nicht zuletzt seit Napoleon gut ausgebautes Straßennetz. Die Grande Nation besaß 1948 die höchste Straßendichte Europas. Dies trifft auch heute noch zu. Angesichts des dünnen Eisenbahnnetzes war Frankreich für LKW’s und Omnibusse ein interessanter Markt. Renault reagierte darauf und, nicht zu vergessen, Berliet. So erklärt sich der wesentlich höhere Motorisierungsgrad Frankreichs: auf 1.000 Einwohner kamen 1932 in Deutschland 38,1 Kfz und in Frankreich 64,4 Kfz.9 6 7 8 9
Meyer-Spelbrink, H.O., Meyers Reisen, o. Oa. 2007, S. 45. Böhme, Helmut, Motorisierung und Städtebau. Historische Aspekte zu einem größeren Thema, in: Harry Niemann/Armin Hermann (Hrsg.), Die Entwicklung der Motorisierung im Deutschen Reich und den Nachfolgestaaten, Stuttgart 1995, S. 237. Tabelle nach Reiner Flik, Automobilindustrie und Motorisierung in Deutschland bis 1939, in: Rudolf Boch (Hrsg.), Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie, Stuttgart 2001, S. 51. Pohl, Hans, Die Entwicklung des Omnibusverkehrs in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg, in: Niemann, Motorisierung, S. 39. Kirchberg, Peter, Die Motorisierung des Straßenverkehrs in Deutschland, in: Ebd., S. 17.Schweizer, Victor, Die französische Automobilindustrie, Diss.
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DESIGN BIZARRE – DIE VORSTELLUNG UNSERES TITELHELDEN 196110 Montag, der 24. April 1961: Auf dem Militärflugplatz Villacoublay bei Versailles präsentiert der „Directeur de la communication“ des französischen Autoherstellers Citroën das neueste Modell der Marke mit dem Doppelwinkel. Jacques Wolgensinger war besorgt, den Termin kurzfristig absagen zu müssen, erschütterte Frankreich doch die Nachricht vom Putsch in Algier; ein Einsatzbefehl lag förmlich in der Luft. Dennoch konnte die französische Presse das neue Modell in Viallacoublay bestaunen, das nun die Lücke zwischen dem kleinen 2 CV und der großen DS schloss. Intern trug das neue Fahrzeug in seiner Planungsphase das Kürzel „M“ für „milieu de Gamme“. Der 2 CV hieß intern Typ ‚A’ und so entstand mit Blick auf den Hubraum die Bezeichnung Ami6. Citroën-Chef Pierre Bercot wünschte ein Fahrzeug von maximal 4 Meter Länge mit Platz für eine Familie und großem Kofferraum. Technisch sollte sich der Neue aus Kostengründen am 2 CV orientieren. Die Lösung dieser Vorgaben lieferte Citroën-Designer Flaminio Bertoni mit der „Ligne Z“, der Verlauf der so genannten C-Säule vom Dach bis zum Kofferraum glich dem geichnamigen Buchstaben. Damit erregte das neue Auto Aufsehen und provozierte kritische Kommentare, es sehe aus, wie nach einem schlecht reparierten Unfall.
Aber nicht nur das Heck bot Anlass für böse Bemerkungen, auch die Frontpartie, sie wirke, als ob sich ein Elefant auf die Motorhaube gesetzt habe. Während sich der Sturm um die Ligne Z langsam legen sollte und als Ausdruck eines funktionellen Designs überzeugen konnte, wollte der Spott über die nach unten gewölbte Motorhaube nicht verstummen. Die Ami6 war aber in aller Munde, die Zahl von 40.000 Bestellungen nach einigen Wochen beweist, die Franzosen nahmen das Auto an. Zunächst hofften die Verkaufsstrategen auf gut situierte Ehepaare, wobei Zürich 1952, S. 20–22. Giesebrecht, Martin G., Die Bedeutung des Automobils im amerikanischen Sozialleben, Diss. München 1958, S. 29. 10 Pagneux, Dominique, Ami 6 & 8. Des Chevrons à succès, Boulogne-Billancourt 2006, S. 23, 26–28, 29, 31.
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die Ami6 zum Zweitwagen werden sollte. Auch Prominente entschieden sich für die „Ligne Z“ wie etwa de Gaulle, der bei seinem Besuch auf dem Pariser Salon 1961 mehr amüsiert als beeindruckt auf das neue Auto schaute. Aber schon kurze Zeit später bestellte der Präsident eine Ami6 für seine Ehefrau Yvonne, die das Fahrzeug über mehrere Jahre nutzte. Auch ein zweites Exemplar wurde beschafft, es diente den de Gaulles in La Boisserie weit über den Ruhestand des Präsidenten hinaus. Als 1965 Citroën eine Break-Version präsentierte, legten die Verkaufszahlen kräftig zu. 1965 wurden 110.493 Kombis und 47.574 Ami6–Limousinen gebaut. Der Ami6 Break wurde zum Renner. 1966 war er das meistverkaufte Auto in Frankreich vor dem Renault 4.11 Grundsätzlich war der Markt schwächer motorisierter Fahrzeuge in Frankreich größer als in Deutschland, 1958 entfielen 80 Prozent der Verkäufe in den Bereich bis 5 CV.12 ZUM GEBURTSORT DER AMI 6 PLANIFICATION UND VORBILD FÜR JAPAN Fahren wir nun in Gedanken mit dem Ami6 von Versailles in die Bretagne nach Rennes La Janais. Dazu nehmen wir eine alte Route auf der Nationalstraße 10 nach Chartres, von hier auf der N 23 nach Le Mans und von dort auf der N 157 nach Rennes. Die gut 350 km lange Strecke dürfte im Ami6 sechs bis acht Stunden erfordert haben. Im Automobilwerk des PSA-Konzerns in Rennes La Janais lief seinerzeit der Ami6 vom Band. 1959 hatte Citroën ein Grundstück erworben in der Nähe zur Eisenbahnlinie von Rennes nach Redon und des Flugplatzes Saint Jacques La Lande. Zuvor hatte Citroën 1953 in Rennes La Barre Thomas ein Werk für Räder und Achsen sowie für Gummiteile in Betrieb genommen. Der Autokonzern folgte der Planification und errichtete mit Rennes La Janais erstmals außerhalb von Paris ein großes Werk. Bis dato hatte sich die französische Automobilindustrie auf die Seine-Departements konzentriert, von wenigen Ausnahmen wie Peugeot und Bugatti abgesehen. Die alten Fabrikationsanlagen von Citroën am Quai de Javel und Levallois lagen im Herzen von Paris im XV. Arrondissement. Mitten in der Stadt liefen fast 3 Mio. 2 CV vom Band, am 29. Februar 1988 schloss das Werk seine Tore, das 1893 als Fahrradfabrik eröffnet worden war.13 Die Bretagne und die Planification passten bestens zusammen, ging es doch um eine Forcierung der Industrialisierung Frankreichs und um den Abbau der Unterschiede zwischen den agrarisch strukturierten Gebieten im Westen und den östlichen Industrieregionen.14 Auch vor dem Hintergrund der Kriegserfahrung forderte die Politik ein Ende der Konzentration auf den Großraum Paris. Zwar lag das Lohnniveau in den ländlichen Regionen deutlich niedriger, aber die einzelnen Werke standen in einem 11 12 13 14
Pagneux, Dominique, Citroen. Seiner Zeit voraus, Königswinter 2003, S. 106. Loubet (Anm. 5), S. 236. Auto Motor und Sport 5 (1988), S. 202. Schweizer (Anm. 9), S. 26ff.
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Produktionszusammenhang und die Konzentration auf Paris ermöglichte kurze Wege. Die örtlichen Honoratioren standen der Ansiedlung von Rennes La Janais in der Planungsphase kritisch bis ablehnend gegenüber. Das 1961 eröffnete Werk erhöhte zwar die regionale Kaufkraft, Handel und Handwerk fürchteten aber, Arbeitskräfte zu verlieren.15 Bei der Planung von Rennes La Janais war die Idee bestimmend, die Produktion am Fließen und Unterbrechungen so gering wie möglich zu halten. Das großzügig gestaltete Werk galt als das Schönste und Modernste in Europa. Toyota-Präsident Shoichiro Toyoda bezeichnete es später als Vorbild für den japanischen Automobilbau.16 Rennes-La-Janais steht wie eine Vielzahl anderer nach 1945 errichteter Automobilwerke für die Politik der Dezentralisation. In den 60er und 70er Jahren sollten sie helfen, den Arbeitsplatzverlust im Bereich der Textil- und Montanindustrie auszugleichen.17 STAATLICHE PLANUNG UND ANARCHOSYNDIKALISMUS Dass der Staat so massiv in die wirtschaftlichen Belange eingriff, gerade in die der Automobilindustrie, hatte viele Gründe: Die Kollaboration ist zu nennen – deshalb wurde Renault verstaatlicht – aber auch der Wunsch, Frankreich aus jener wirtschaftlichen Lethargie herauszuführen. An „Reconstruction“ war ohne eine erfolgreich LKW-Fertigung gar nicht zu denken. Die Planer dachten bereits weiter. Mit dem Pons-Plan (benannt nach Paul-Marie Pons), der am 1. Januar 1946 in Kraft trat, legte der französische Staat die Entwicklung zu einer Zeit fest, in der Rohstoff- und Devisenmangel den Wiederaufbau noch behinderten. Renault sollte mit der Produktion des kleinen 4 CV eine Pilotfunktion für die Massenmotorisierung übernehmen und Autos fürs Volk bauen. Diese Konstellation förderte eine Polarisierung zwischen dem Staatskonzern und den privaten Herstellern, vor allem Citroën, denn die Marke mit dem Doppelwinkel hatte bereits 1935 Zeichungen für den 2 CV in der Schublade. Er wurde auf dem Pariser Salon im Oktober 1948 präsentiert, sollte aber erst ab 1957 seinen legendären Boom erleben. Dabei entsprach der Verzicht auf alles Entbehrliche noch den Zwängen des Rohstoffmangels. Wäre es nach dem Willen der Regierung gegangen, hätte sich Citroën auf größere Modelle konzentrieren sollen, um das untere Segment Renault zu überlassen. Die beiden privaten Automobilunternehmen, Peugeot und Citroën, standen der Einführung fordistischer Produktionsmethoden in den ersten Nachkriegsjahren noch zurückhaltend gegenüber. Sie setzten eher auf ein maßvolles aber beständiges Wachstum, auch weil sie unsicher in die Zukunft blickten. Citroën verfügte zudem über eine klare Vorstellung, wie das Unternehmen sich entwickeln sollte. Der Erfolg des Traction Avant bestärkte die Marke darin, unkonventionelle Wege 15 Pagneux, Ami 6 (Anm. 10), S. 28–30. 16 Loubet (Anm. 5), S. 77. 17 Ebd., S. 75 Man denke an Nordfrankreich (Renault-Werk in Douai, 1972; Motorenfertigung von Renault in gleichberechtigter Kooperation mit Peugeot und Volvo in Douvrin, 1971; Peugeot-Werk in Valenciennes, 1972; Citroen-Werk in Charleville, 1972, und in Metz-Borny und Tremery, 1969 und 1982).
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zu gehen und Produkte mit technischem Vorsprung anzubieten, die sich über lange Produktionszyklen rechneten. Citroën gehörte zu den Pionieren des Frontantriebs und war der erste Hersteller selbsttragender Karosserien. Der von Anfangsproblemen abgesehen ausgesprochen zuverlässige Traction Avant galt als „La reine de la route“ und blieb 23 Jahre in Produktion. Zwischen 1934 und 1957 wurden 760.000 Fahrzeuge von ihm gebaut. Das Familienunternehmen Peugeot setzte auf einen Mittelweg und wollte sich die Massenproduktion offen halten. Zur Tradition gehörte ein vorsichtiger Umgang mit Geld, beste Zahlungsmoral gegenüber Lieferanten und patronale Fürsorge gegenüber der Belegschaft. Ergebnis war die Konzentration auf ein Modell, den neuen 203.18 Neben staatlicher Kontrolle und Planung gehört zu den Startbedingungen für die französische Automobilindustrie bis in die 60er Jahre ein enorm hohes Lohnniveau, die Lohnkosten von Peugeot lagen 1955 über 60 Prozent von denen von Opel in Rüsselsheim.19 Frankreichs Automobilindustrie fürchtete in den ersten Nachkriegsjahrzehnten Investitionen amerikanischer Unternehmen. GM produzierte erfolgreich in Rüsselsheim, Ford in Köln und schon vor 1945 bei Mathis in Straßburg. Mit einer aggressiven Preispolitik machten es die amerikanischen Firmen den französischen Werken schwer. 1963 ließ Renault einen Ford 12 M in seine Einzelteile zerlegen, um den Preis des Fahrzeuges zu bestimmen. Die Regie stellte fest, dass der Wagen eigentlich 6 Prozent teurer hätte angeboten werden müssten. Die Furcht vor amerikanischer Konkurrenz in Frankreich war so stark, dass die traditionelle Polarisierung zwischen dem Staatskonzern Renault und den privaten Unternehmen endete und beide Seiten eine Kooperation anstrebten.20 PLEITEN PECH UND PANNEN – KEIN ERFOLG AUF DEM US-MARKT Neben Citroën errichtete auch Renault Fabrikationsanlagen in der Bretagne. Fahren wir von Rennes La Janais weiter nach Le Havre und besuchen das Werk Sandonville. Hier lief der legendäre Renault 16 vom Band. Dazu nehmen wir die N 12 nach Fougères und fahren weiter bis Mayenne, dann folgen wir der D 962 und der D 562 Richtung Caen. Von dort geht es über die N 13 nach Lisieux und weiter nach Thibeville, anschließend in nördlicher Richtung auf die D 28 und auf die D 810 bis Pont-Audemer. Um nach Le Havre zu kommen, nehmen wir die Brücke von Tancarville und fahren auf das rechte Seineufer und dort über die D 81 und die N 15 nach Le Havre. Heute läuft die gängige Verbindung von Caen nach Le Havre über die Seinebrücke bei Honfleur, sie bestand aber noch nicht im Geburtsjahr des Ami6. Vorher war die Brücke bei Tancarville zu benutzen, sie liegt weiter seineaufwärts als Honfleur und wurde 1959 dem Verkehr übergeben. Zur Zeit ihrer Fertigstellung war sie mit einer Länge von 1400 m die größte Hängebrücke Frankreichs, ihre Fahrbahn liegt 48 m über dem Wasserspiegel der Seine bei nor18 Loubet (Anm. 5), S. 55–58, 75. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 283.
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malem Wasserstand. Auf dieser 370 km weiten Fahrt kann man die komfortable Federung des Ami6 genießen, an den Geräuschpegel gewöhnt man sich im Lauf der Zeit. Le Havre war das maritime Tor Frankreichs in die neue Welt, dies gilt auch für Frankreichs Automobilindustrie. Die USA sind bis heute der größte nationale Automobilmarkt. Das Auto und auch der LKW zählen in den USA zu den herausragenden Verkehrsmitteln. Insofern entwickelte sich der US-Markt nach dem Zweiten Weltkrieg für die deutsche und schwedische Automobilindustrie zu einem wertvollen Exportmarkt und seit den 60er Jahren auch für die Japaner. Vor allem deutsche Marken wie Borgward, Volkswagen und Mercedes-Benz sowie der schwedische Hersteller Volvo konnten sich in den 50er Jahren fest in den USA etablieren.21 Die Exportquote bei Volkswagen lag im ersten Nachkriegsjahrzehnt bei knapp 60 Prozent, bis 1960 erwirtschaftete die VW-Ausfuhr gut 30 Prozent des gesamten deutschen Exportvolumens in die USA. Angesichts der Stärke des Dollars und der vergleichsweise schwachen DM klingelten die Kassen. Im Unterschied zu Deutschland war der Druck für Frankreichs Autoindustrie, sich in den USA zu engagieren, viel geringer. Unmittelbar nach Kriegsende lag die Exportquote der französischen Autoindustrie dennoch auf hohem Niveau. Ebenso wie die britische Konkurrenz profitierte Frankreich von seinen Kolonien. Zwischen 1946 und 1949 exportierten die französischen Hersteller zwischen 36 und 57 Prozent ihrer Produktion. Fast 53 Prozent des Citroën-Exportvolumens gingen 1956 in die Union française und nach Algerien, der Traction Avant galt als das Auto der kolonialen Bourgeoisie.22 Es war der Staat, der letztlich die französischen Hersteller bewegte, ihre Exportbemühungen nach Übersee zu verstärken. Angesichts der miserablen Außenhandelsbilanz erinnerte man sich an die Belle Epoque der französischen Autoindustrie, schließlich war Renault zu Beginn des 20. Jahrhunderts Exportfirma Nummer Eins gewesen. Die Regierung Ramadier sah in der Automobilindustrie eine Schlüsselbranche zur Verbesserung der Handelsbilanz, zwei Drittel ihrer Produktion sollten in den Export gehen.23 Vom Erfolg der Wolfsburger inspiriert, hoffte vor allem Renault auf Geschäfte in den USA. Schon 1948 exportierte die Régie das Modell 4 CV, von dem gut 300 Exemplare pro Monat in den USA zugelassen werden konnten. Eine Basis war also vorhanden.24 Im Kontext des sogenannten Ramadier-Plans von 1956 startet Frankreich seine Exportoffensive, an der sich Citroën und Peugeot nur zögerlich beteiligten. Der Staatskonzern Renault übernahm die Führungsrolle. Mit den so genannten „Liberty ships“ landeten die Dauphine-Modelle in den Staaten, jene Schiffe, die im Zweiten Weltkrieg die amerikanischen Soldaten in Europa versorgt hatten. 1956 setzte Renault in den USA 3.400 Modelle vom Typ 4 CV und 1.100 Dauphine ab,
21 Hökerberg, Jan, Der Kampf um Volvo, Riedstadt 2005, S. 36–48. Grunenberg, Nina, Die Wundertäter. Netzwerke der deutschen Wirtschaft 1942–1966, Hamburg 2006, S. 56. 22 Loubet (Anm. 5), S. 279. 23 Ebd., S. 292. 24 Ebd., S. 295.
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1958 waren es 57.000 Dauphine, 1959 knapp 102.000 Dauphine. Dann brach der Export wie ein Kartenhaus zusammen.25 Ursache des Debakels waren technische Unzulänglichkeiten und die Vertriebsschwächen. Der 1948 beauftragte Importeur Green in Kalifornien kümmerte sich nicht ernsthaft um den Aufbau eines Kundendienstnetzes, auch die später gegründete Renault Selling Branch tat sich schwer. Die 6 Volt-Anlage in den kleinen Renaults kollabierte im amerikanischen Stadtverkehr, vor allem wenn elektrische Verbraucher liefen und das Fahrzeug stop and go bewegt wurde. 1961 standen am Quai de Boston 45.000 Dauphine auf Halde, einige von ihnen hatten schon deutlich Rost angesetzt. Renault-Chef Dreyfuss gab schließlich seine ehrgeizigen Pläne auf.26 Dabei waren die französischen Autos technisch sicherlich nicht schlechter als die so erfolgreichen deutschen Automobile. Den Wolfsburgern war es aber gelungen ihr primitives und mit seinen Trittbrettern von gestern wirkendes Auto mit mickrigem Kofferraum und leistungsschwacher Maschine auf dem US-Markt als Importauto Nummer Eins zu platzieren. Der Käfer galt als „Anti-Auto“ in den USA und hob sich wie Mercedes und Volvo von der typischen Wegwerfmentalität amerikanischer Produkte ab. Die Amerikaner erinnerte das Öffnen und Schließen einer Käfertür an das Geräusch beim Öffnen und Schließen einer schweren Kühlschranktür mit Bügelverschluss. Auch „unseren“ Ami 6 exportierte Citroën in die USA. Aber dort ein Auto mit zwei Zylindern verkaufen zu wollen, bewies nur die Ferne der französischen Manager zu den amerikanischen Konsumenten. So blieb es beim Verkauf von einigen Hundert Ami 6. Die eigens für den US-Markt notwendigen Doppelscheinwerfer lagen bald auf Halde und wurden dann in den europäischen Versionen der Ausstattungsvariante Club verbaut. Citroën hätte es besser wissen können und müssen: Der bereits 1956 erfolgte Export der DS war spektakulär gescheitert. Im Unterschied zur Konkurrenz aus Deutschland und Schweden vertrugen die französischen Fahrzeuge die in den USA stärkeren Klimaschwankungen nicht.27 Die qualitativen Unzulänglichkeiten und das Desaster in der Vertriebsorganisation verhinderten ein gutes Image, die Qualitätsprobleme französischer Fahrzeuge schädigten nachhaltig das Ansehen französischer Industrieprodukte in den USA.28 FOLGEN DES DESASTERS IN DEN USA Hersteller wie Volvo oder Mercedes berücksichtigten bereits bei der Konstruktion ihrer Modelle die zulassungsrelevanten Normen des US-Marktes, dies betraf Sicherheit und Umweltschutz. Dabei setzten nicht die US-Fabrikate, sondern deutsche und schwedische Autos Maßstäbe. Frankreichs Autoindustrie bastelte dagegen daran, weitgehend serienreife Modelle, den US-Bedürfnissen anzupassen, so 25 Lesneur, Patrick/Pascal, Dominique, La Renault Dauphine de mon père, Boulogne Billancourt 2006, S. 42. 26 Lesneur/Pascal (Anm. 25), S. 42–48. 27 Loubet (Anm. 5), S. 296ff. 28 Ebd., S. 298ff.
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etwa Peugeot 1974 bei seinem Modell 604. Die eigens für den US-Markt veränderte Frontpartie sah unfertig aus und stieß bei potenziellen Kunden auf wenig Gegenliebe. 1978 musste Peugeot noch mal nachlegen, um amerikanische Sicherheitsnormen zu erfüllen. Gerade in den USA war der 604 ein Misserfolg, obwohl er mit seinem Sechszylindermotor schon eher amerikanischen Bedürfnissen entsprach und über einen ausgezeichneten Fahrkomfort verfügte. 1990 beendete Peugeot seinen Export in die USA.29 Das Desaster der französischen Automobilindustrie auf dem amerikanischen Markt bedeutete nicht nur entgangene Geschäfte bis in die Gegenwart. Durch die Nähe zum amerikanischen Markt profilierten sich vor allem Volvo und MercedesBenz weltweit als Hersteller von Fahrzeugen mit überdurchschnittlicher passiver Sicherheit, dasselbe gilt für die Umweltfreundlichkeit. Beide Eigenschaften entwickelten sich zeitversetzt auch zu den Herausforderungen des europäischen Automobilbaus. Ende der 60er Jahre begann in Deutschland und in Frankreich eine Sicherheitsdiskussion. 1970 setzte die EWG höhere Sicherheitsstandards. Alle europäischen Hersteller präsentierten nun Sicherheitsfahrzeuge, die sich an US-Standards orientierten. Durch die Energiekrise 1974 verlor das Thema für Frankreichs Automobilindustrie an Priorität, da Sicherheit das Fahrzeuggewicht und damit auch den Verbrauch erhöhte. Die am US-Markt starken deutschen und schwedischen Hersteller verbauten aber die für den US-Markt notwendige Sicherheit. Gerade mit Blick auf das Bemühen, das Fahrzeuggewicht nicht grenzenlos zu erhöhen, entwickelten sie zusammen mit der Robert Bosch GmbH in Stuttgart eine Vielzahl von Innovationen im Bereich der aktiven und passiven Sicherheit. So brachte Daimler-Benz das Antiblockiersystem und den Airbag als erster Hersteller der Welt zur Serienreife.30 Frankreichs schwache Stellung auf dem amerikanischen Markt führte langfristig auch auf den EG-Märkten zum Verlust einer respektablen Stellung der französischen Automobilindustrie im Segment der gehobenen Mittelklasse und der luxuriösen Fahrzeuge. Bis in die 70er Jahre erreichten die Peugeot-Modelle 404 und 504 und Citroën ID/DS respektable Stückzahlen, auch anfangs der CX. Die zweite Energiekrise 1979/80 veränderte aber das europäische Konsumentenverhalten grundlegend. Das Segment Kompaktklasse, das in der Bundesrepublik und in Skandinavien deutlich schwächer ausgeprägt war als in den romanischen Ländern, erhöhte sich zulasten der gehobenen Mittelklasse. Der Schrumpfungsprozess der Mittelklasse traf in Frankreich sämtliche heimischen Hersteller, in Deutschland vor allem die amerikanischen Töchter Opel und Ford. Ihre „Butter-und Brot-Autos“ Opel Rekord und die großen Fords (17 bis 20M/Consul und Granada) wurden nun zu „Auslaufmodellen,“ ihr Verkaufsvolumen brach unwiederbringlich weg. Dagegen blieben die deutschen Premiumhersteller von diesem Prozess verschont. Mit der 3er Reihe von BMW oder mit dem Baby-Benz (190er) entstanden Modelle, die sowohl preislich als auch bei Komfort- und Sicherheitsstandards der geho-
29 Pagneux, Dominique, La Peugeot 604 de mon père, Boulogne Billancourt 2000, S. 48. 30 Vgl. Hilse, Hans Günter, Verkehrssicherheit. Handbuch zur Entwicklung von Konzepten, Stuttgart u.a.O 1995.
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benen Mittelklasse entsprachen. 1985 verdrängte Daimler-Benz in der deutschen Zulassungsstatistik Ford von Platz 3.31 Der Schrumpfungsprozess dieses Segmentes, der auf allen europäischen Märkten zu beobachten war, traf den französischen Export in die Bundesrepublik besonders hart. In den 70er Jahren konnte Peugeot pro Jahr über 20.000 Peugeot 504 in der Bundesrepublik absetzen, sogar im Jahr der Energiekrise (1974) entfielen 47 Prozent aller deutschen Peugeot-Verkäufe auf den 504.32 Ganz anders dagegen die Entwicklung bei den deutschen Premiumherstellern. Insbesondere Audi konnte im gehobenen Segment zulegen und Daimler-Benz seine gesamte PKW-Produktion zwischen 1972 und 1985 trotz der beiden Ölkrisen um 38 Prozent erhöhen. Die Exportquote stieg auf 57 Prozent, dabei konnten die Stuttgarter ihre Position sogar ausbauen. Die Bemühungen des Herstellers um Qualität und Wertbeständigkeit bestimmten die Kaufentscheidung – diese Kriterien spielten im Kontext der beiden Energiekrisen eine wohl immer wichtigere Rolle.33 Die 1980 einsetzende Entwicklung scheint irreversibel. Dabei hat Frankreich vor 1945 eine breite Palette stark motorisierter Fahrzeuge hervorgebracht, man denke etwa an den 7–Liter-Motor im Renault La Reinastella. Die klangvollen Namen der französischen Marken mit Luxusprofil wie Facel Vega, Delage und Delaye gingen nach 1945 im Lauf weniger Jahre unter. Vergessen wir Bugatti nicht! Diese legendären Fahrzeuge begeisterten auch die USA, so dass die Gebrüder Schlumpf 1964 ganze Eisenbahnladungen von Bugattis nach Mühlhausen transportieren ließen34, die heute im Museum in Molsheim zu sehen sind. Von Le Havre nach Molsheim, ungefähr 725 km, diese anstrengende Etappe, steht als nächstes an, dafür sind zwei bis drei Tage zu rechnen: über die N 13 nach Evreux bis Paris. Zu Zeiten der Ami6 bestanden die Ringstraßen durch die Außenbezirke noch nicht. So fahren wir bis Neuilly und umfahren den Stadtkern von Paris nördlich, um bei Pantin auf die N 3 Richtung Meaux zu kommen, dann weiter nach Chârlons sur Marne (heute Châlons-en-Champagne), Epernay, Verdun, Metz bis St. Avold, dann geht es auf der N 56 nach Saverne, von dort auf die N 4 nach Wasselonne und nun auf der N 422 nach Molsheim.
31 Hofner, Herbert, Mercedes-Benz Automobile. Band 6:Vom 190 E 2.3–16 zum C 280 (1975– 1993), Augusburg 2000, S 8. 32 Autohaus 5/1979, S. 208 und 224. 33 Hofner (Anm. 31), S. 22. 34 Drehsen, Wolfram u. a., Die Automobile der Gebrüder Schlumpf, München 1979, S. 13.
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DAS ENDE DES „FRANZÖSISCHEN MODELLS“ Das strukturelle Defizit der französischen Automobilindustrie bestand in geringer Produktivität und einer hohen Streikbereitschaft ihrer Mitarbeiter, weil rivalisierende Gewerkschaften um ihre Mitglieder buhlten. In den fetten Jahren der Massenmotorisierung ließen sich diese Probleme noch meistern, etwa durch eine Ausweitung der Produktion, einen vergleichsweise hohen Personalbestand und Zugeständnisse in der Lohn- und Sozialpolitik. Mit der ersten Ölkrise und der verschärften Konkurrenzsituation seit den 70er Jahren erreichte das System, immer mehr und auf Halde zu produzieren, schnell seine Grenzen. Die Defizite weiteten sich zu einer Existenz bedrohenden Krise aus. Die deutsche Konkurrenz mit dem VW Golf besetzte weltweit erfolgreich ein Segment, das bisher Franzosen und Italienern gehörte hatte. Die Lage verschärfte sich angesichts der japanischen Offensive in Europa. Im Segment der Kleinwagen und unteren Mittelklasse nahmen die Japaner auch den französischen Marken Kunden weg, vor allem auf dem wichtigen deutschen Exportmarkt, aber auch in Benelux, der Schweiz und Großbritannien.35 Hart traf die Krise auch Citroën, dessen Kapitaldecke durch die Entwicklung des DS-Nachfolgers CX 1974 aufgebraucht war. Zugleich ging durch die Ölkrise die Nachfrage zurück. Über 100.000 Autos standen auf Halde. Der DS-Verkauf halbierte sich. Das Werk brauchte einen Zwischenkredit und bat den Staat um Unterstützung, dieser lehnte ab. Michelin verhandelte diskret mit Peugeot. Nicht zuletzt angesichts der vertrauensvollen Beziehungen zwischen beiden Familien konnte Peugeot Citroën schließlich aufkaufen.36 PSA – GENERAL MOTORS À LA FRANÇAISE Damit realisierte der Familienbetrieb einen Schritt auf dem Weg zu einem französischen General Motors. Starten wir zur letzten Etappe von Molsheim nach Sochaux, auf der N 422 geht es nach Séléstat, beim Blick durch die Fenster sehen wir die Vogesen, durch Winzerdörfer folgen wir auf der N 83 der Straße über Colmar bis nach Belfort, hier begegnet uns der erste Löwe und von dort nach Dorans auf der N 19 und weiter auf der N 437 nach Sochaux zur Heimat des heute ältesten französischen Automobilherstellers. Peugeot stornierte als Erstes alle extravaganten Projekte von Citroën. Der SM, die „Haute Future“ des französischen Automobilbaus und auch in der deutschen Motorpresse als „Superwagen“37 gefeiert, wurde eingestellt. Beim GS mit Wankelmotor wurden sogar fertig produzierte Fahrzeuge verschrottet.38
35 Mot-Autojournal, 18 (1973), S. 6. 36 Loubet (Anm. 5), S. 136. 37 Mot-Autojournal 19 (1971), S. 28. Im ersten Verkaufsjahr konnten in Deutschland immerhin 400 Fahrzeuge in Deutschland verkauft werden. 38 1968 hatte Citroën die Mehrheit der Maserati-Aktien übernommen und beauftragte die Italiener sogleich mir einer Motorenentwicklung, siehe: Motor Klassik 6 (2001), S. 42ff.
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Neue Citroënmodelle basierten auf alten Peugeot-Konstruktionen. Auf Basis des Peugeot 104 entstanden der Citroën LN (1977) und der VISA (1978). Diese Politik entsprach voll dem amerikanischen Modell des „badge engineering“ und brachte durch eine Gleichteilestrategie Kosteneinsparungen.39 Ähnlich lief es nach dem Aufkauf von Simca-Chrysler. Im Vergleich zu Deutschland zeigt sich in Frankreich eine deutliche horizontale Konzentration des Automarktes in den 70er Jahren. Akteur dieser Entwicklung war Peugeot. Die Geschichte der Löwenmarke fasziniert, wenn man bedenkt, dass Peugeot als ältester französischer Autohersteller sich bis 1965 auf zwei Baureihen konzentrierte und erst spät eine breite Modellpalette anbot. Parallel dazu fand schon seit Mitte der 60er Jahre eine vertikale Konzentration zwischen Peugeot und dem Staatskonzern Renault statt: gemeinsamer Vertrieb des Peugeot 403 in den USA, Montage des 404 im kanadischen Renault-Werk von Saint Bruno. Die Kooperation bezog auch die Komponentenfertigung bspw. bei den Motoren mit ein. Das alles erwies sich freilich in den siebziger Jahren als ungenügend. 1982 benötigten Citroën und Renault 8.000 Arbeiter für eine Tagesproduktion von 1.200 Fahrzeugen, Fiat brauchte 6.000 und die Japaner nur 4.000. Der PSA-Konzern entließ Anfang der 80er Jahre gut 15.000 Mitarbeiter, ein massiver Einschnitt, galt doch bis dahin ein Arbeitsplatz bei der Löwenmarke als Lebensstellung.40 In den achtziger Jahren übernahm der PSA-Konzern die Vorreiterrolle bei der Sanierung der französischen Automobilindustrie. Umfangreiche Entlassungen und Werksschließungen gepaart mit einem Ende des Fordismus, dem Neubau von Werken, der Orientierung an japanischen Produktionsformen, insbesondere Justin-Time, stehen für eine tief gehende Umstrukturierung, die vor allem mit PSAChef Jacques Calvet verbunden ist. Dazu kommen erfolgreiche Neuentwicklungen wie der Citroën BX und der kleine Peugeot 205.41 Zeitversetzt folgte die Sanierung von Renault, die politisch ein heißes Eisen war und den Auftakt der Privatisierungspolitik in Frankreich bildete. Gerade Renault kämpfte in den 80er Jahren nicht nur mit Produktivitätsschwächen, sondern auch mit schlechter Qualität. Französische Autos standen zwar nicht mehr im Ruf, zu rosten wie früher, aber verläßlicher waren sie auch nicht. „Grand maleur“ so titelte Auto Motor und Sport den 80.000 km Dauertest mit dem Renault 25. Industrieministerin Edith Cresson machte ihre eigenen leidvollen Erfahrungen mit dem Modell. Ausgerechnet im Hof der japanischen Botschaft in Paris blieb ihr Renault 25 mit einer Panne liegen: „Das war der schwärzeste Tag in meiner Laufbahn“.42 Dr. Hans-Christian Hermann, Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig
39 Loubet (Anm. 5), S. 193. 40 Ebd., S. 91 41 Vgl. Reichert, Nikolaus/Kirchberger, Michael, Peugeot. Fortschritt im Zeichen des Löwen, München 1992. 42 Auto Motor und Sport 20 (1985), S. 67.
ILLIERS-COMBRAY
(ETIENNE FRANÇOIS)
„Quand d’un passé ancien rien ne subsiste, après la mort des êtres, après la destruction des choses, seules, plus frêles mais plus vivaces, plus immatérielles, plus persistantes, plus fidèles, l’odeur et la saveur restent encore longtemps, comme des âmes, à se rappeler, à attendre, à espérer, sur la ruine de tout le reste, à porter sans fléchir, sur leur gouttelette presque impalpable, l’édifice immense du souvenir. Et dès que j’eus reconnu le goût du morceau de madeleine trempé dans le tilleul que me donnait ma tante (quoique je ne susse pas encore et dusse remettre à bien plus tard de découvrir pourquoi ce souvenir me rendait si heureux), aussitôt la vieille maison grise sur la rue, où était sa chambre, vint comme un décor de théâtre s’appliquer au petit pavillon donnant sur le jardin, qu’on avait construit pour mes parents sur ses derrières (ce pan tronqué que seul j’avais revu jusque-là) ; et avec la maison, la ville, la Place où on m’envoyait avant déjeuner, les rues où j’allais faire des courses depuis le matin jusqu’au soir et par tous les temps, les chemins qu’on prenait si le temps était beau. Et comme dans ce jeu où les Japonais s’amusent à tremper dans un bol de porcelaine rempli d’eau de petits morceaux de papier jusque-là indistincts qui, à peine y sont-ils plongés s’étirent, se contournent, se colorent, se différencient, deviennent des fleurs, des maisons, des personnages consistants et reconnaissables, de même maintenant toutes les fleurs de notre jardin et celles du parc de M. Swann, et les nymphéas de la Vivonne, et les bonnes gens du village et leurs petits logis et l’église et tout Combray et ses environs, tout cela qui prend forme et solidité, est sorti, ville et jardins, de ma tasse de thé.“1
Pourquoi avoir choisi dans ce tour de France de faire étape à Illiers-Combray? Parce que ce lieu occupe dans la géographie littéraire, imaginaire et mémorielle de la France une place à part. Situé dans le département d’Eure et Loire, à 25 kilomètres de Chartres, le bourg d’Illiers s’est en effet à ce point identifié au bourg recréé par Marcel Proust sous le nom de Combray grâce à la puissance de la mémoire retrouvée, qu’il en a pris le nom, accédant par là même à une forme de réalité d’un autre ordre qui attire des visiteurs du monde entier; Illiers-Combray est par ailleurs un lieu si riche d’évocations qu’on peut voir en lui un lieu emblématique de la «France profonde» de la fin du XIXe. Deux raisons expliquent principalement la célébrité de ce bourg situé sur le Loir, aux confins de la Beauce et du Perche, et qui comptait à la fin du XIXe siècle moins de 3.000 habitants, quelques belles maisons à colombage, une église du XIVe siècle à l’imposant clocher gothique placée sous la patronage de saint Jacques, et des ruines féodales. Illiers est d’abord le lieu de naissance du père de Marcel Proust (1871–1922), Adrien Proust (1834–1903) qui après des études de médecine s’installa à Paris à la fin du Second Empire, fit une brillante carrière médicale et administrative, épousa en 1870 Jeanne-Clémence Weil dont il eut deux fils, Marcel, né en 1871 et Robert, né en 1873, et termina sa vie comme membre de l’Académie de Médecine, inspecteur général des services sanitaires et professeur d’hygiène à la faculté de médecine de Paris. Or Adrien Proust était lui-même issu d’une famille de marchands et de notaires fixée à Illiers depuis le XVIe siè1
Proust, Marcel, A la recherche du temps perdu, Paris 1954, tome I, p. 47–48.
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cle. Son père, François Proust (1801–1855) avait épousé en 1827 Catherine Torcheux (1808–1889) et tous deux tenaient, en face de l’église, au n° 11 de la place du marché, l’épicerie Proust-Torcheux («fabrique de cire, miel et chandelle, fabrique de chocolat de santé et à la vanille»). Et quelques maisons plus loin, au n° 14, se trouvait le magasin de nouveautés de Jules Amiot (1816–1912), «propriétaire» et négociant, qui avait épousé en 1847 Elisabeth Proust (1826–1886), soeur aînée du père de Marcel Proust. Mais Illiers est plus encore le lieu où Adrien Proust, son épouse et leurs deux fils, installés depuis 1873 au boulevard Malesherbes à Paris, venaient en vacances, à Pâques et durant l’été, régulièrement d’abord jusqu’en 1881, puis de manière irrégulière jusqu’en 1886. Jusqu’en 1876, date de la construction de la gare d’Illiers, sur la ligne Paris-Bordeaux, la famille Proust prenait le train jusqu’à Orléans, puis allait de là en voiture à cheval jusqu’à Illiers. Et lors de ces séjours de vacances, tous logeaient dans la maison des Amiot, rue du Saint-Esprit. Illiers est par ailleurs le lieu qui, revenu à l’esprit de Marcel Proust par la mémoire involontaire dans l’épisode célèbre de la madeleine – «celle que chaque dimanche matin (parce que ce jour là je ne sortais pas avant l’heure de la messe), quand j’allais dire bonjour à ma tante Léonie dans sa chambre, elle m’offrait après l’avoir trempée dans son infusion de thé ou de tilleul» – est recréé et métamorphosé sous le nom de Combray. Dans le premier volume de la Recherche du temps perdu, Du côté de chez Swann, qui lui est plus précisément consacré, c’est Illiers tout entier qui, sous des noms fictifs ou réels, revit. Si bien qu’en parcourant les rues de ce bourg qui a aujourd’hui pour nom Illiers-Combray, dans un surprenant jumelage entre réalité et imaginaire, on se met soi-même à la recherche des reliques proustiennes, superposant en permanence la réalité de la mémoire à l’apparence des lieux. Cela vaut en premier pour la «maison de tante Léonie» et son petit jardin, si précisément évoqués dans Jean Santeuil et surtout dans Swann, et qui sont conservés dans l’état où Marcel les a connus, enfant, par les soins de la Société des amis de Proust et des amis de Combray. Dans ce jardin où tout le monde restait ensemble, s’il faisait beau le soir, autour de la table de fer, on entre soit par la porte de la rue dans le jardin, mettant en branle la clochette d’entrée avec son «grelot profus et criard qui arrosait au passage de son bruit ferrugineux, intarissable et glacé, toute personne de la maison qui le déclenchait en entrant ‘sans sonner’», soit, comme le faisait Swann, par la grille de la petite place Lemoine, avec le «tintement timide, ovale et doré de la clochette pour les étrangers». A l’intérieur, la cuisine est restée telle qu’elle était au temps des Amiot et le visiteur se plaît à retrouver l’arrière-cuisine de Françoise qui «avait l’air d’un petit temple de Vénus: elle regorgeait des offrandes du crémier, du fruitier, de la marchande de légumes, venus parfois de hameaux assez lointains pour lui dédier les prémices de leurs champs. Et son faîte était toujours couronné du roucoulement d’une colombe». La salle à manger qui la jouxte a gardé sa «grosse lampe à suspension». La chambre de la tante Léonie a été reconstituée dans l’état où elle était quand Madame Amiot trempait pour le petit Marcel une madeleine dans la tasse de thé. D’un côté, on y voit la «commode jaune en bois de citronnier et une table qui tenait à la fois de
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l’officine et du maître-autel où au-dessus d’une statuette de la Vierge et d’une bouteille de Vichy-Célestins, on trouvait des livres de messe et des ordonnances de médicament, tout ce qu’il fallait pour suivre de son lit les offices et son régime, pour ne manquer l’heure ni de la pépsine, ni des vêpres». De l’autre côté a été replacé son lit qui «longeait la fenêtre» et faisait qu’elle «avait la rue sous les yeux et y lisait du matin au soir, pour se désennuyer, à la façon des princes persans, la chronique quotidienne mais immémoriale de Combray, qu’elle commentait ensuite avec Françoise». De l’autre côté de l’étroit couloir, le visiteur retrouve la chambre où l’enfant trop sensible pleurait, le soir, quand sa mère n’était pas venue l’embrasser. Dans cette chambre a été placée une lanterne magique semblable à celle décrite dans Swann, avec les plaques de verres qui permettaient de projeter sur le mur l’histoire «qui semblait émaner d’un passé mérovingien» de la «pauvre Geneviève de Brabant et de l’affreux Golo». Et tout en haut de la maison, à côté de la salle d’études, sous les toits, «une petite pièce sentant l’iris, et que parfumait aussi un cassis sauvage poussé au dehors entre les pierres de la muraille et qui passait une branche de fleurs par la fenêtre entr’ouverte. Destinée à un usage plus spécial et plus vulgaire», ajoute le narrateur, «cette pièce, d’où l’on voyait pendant le jour jusqu’au donjon de Roussainville-le-Pin, servit longtemps de refuge pour moi, sans doute parce qu’elle était la seule qu’il me fût permis de fermer à clef, à toutes celles de mes occupations qui réclamaient une inviolable solitude: la lecture, la rêverie, les larmes et la volupté». Le même jeu d’emprunts et de renvois se retrouve dans la majorité des toponymes de Combray. L’église Saint-Hilaire de Combray a le même imposant clocher que l’église Saint-Jacques d’Illiers. «Qu’on le vît à cinq heures, quand on allait chercher les lettres à la poste, à quelques maisons de soi, à gauche, surélevant brusquement d’une cime isolée la ligne de faîte des toits; que, si au contraire on voulait demander des nouvelles de Mme Sazerat, on suivît des yeux cette ligne redevenue basse après la descente de son autre versant en sachant qu’il faudrait retourner à la deuxième rue après le clocher; soit qu’encore, poussant plus loin, si l’on allait à la gare, on le vît obliquement, montrant de profil des arêtes et des surfaces nouvelles comme un solide surpris à un moment inconnu de sa révolution; ou que, des bords de la Vivonne, l’abside musculeusement ramassée et remontée par la perspective, semblât jaillir de l’effort que le clocher faisait pour lancer sa flèche au coeur du ciel: c’était toujours à lui qu’il fallait revenir, toujours lui qui dominait tout, sommant les maisons d’un pinacle inattendu, levé devant moi comme le doigt de Dieu dont le corps eût été caché dans la foule des humains sans que je le confondisse pour cela avec elle». Du côté de chez Swann, le village de Méséglise vers lequel on se dirige à l’Ouest, dans un paysage de plaines, reprend le nom du village de Méréglise; le nom de Tansonville donné à la propriété de Swann est celui d’un manoir qui se trouve au sud d’Illiers. Du même côté, le nom de Montjouvain donné à la maison de Vinteuil, est à une lettre près celui du moulin de Montjouvin qui se trouve à moins de deux kilomètres au sud-ouest d’Illiers. Mais dans la description qu’il en donne, Proust semble s’être inspiré non du moulin réel, mais de la maison de Mi-
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rougrain qu’on peut voir à la sortie nord d’Illiers, «située au bord d’une grande mare et adossée à un talus buissonneux», avec «la petite cahute recouverte en tuiles où le jardinier de M. Vinteuil serrait ses instruments». Pour décrire le parc de Tansonville, Proust reprend le jardin du «Pré Catelan» aménagé par l’oncle Amiot à la sortie même du village, près du Loir (devenu la Vivonne): on y retrouve la pièce d’eau artificielle décrite dans le roman, des allées fleuries, la «petite maison en tuiles appelée maison des archers». En bordure du parc, un raidillon des aubépines conduit à une barrière blanche. De là se découvre un grand espace plat où, comme il est dit dans la première version de Swann, le vent «ne rencontre aucun accident de terrain depuis Chartres». Les habitants de Combray, enfin, empruntent eux aussi de nombreux traits à ceux d’Illiers. La soeur aînée du père du romancier, Elisabeth Amiot, a servi largement de modèle à la tante Léonie. Ernestine Gallou, qui est restée 33 ans au service des Amiot, a fourni quelques traits à la Françoise du roman. Quant au curé de Combray, grand amateur d’étymologies, il évoque le chanoine Marquis, auteur d’une monographie sur Illiers. Mais s’il est vrai que tout Illiers revit dans Combray, Combray est infiniment plus qu’Illiers, ne serait-ce que parce que Proust l’a enrichi d’éléments en provenance d’autres lieux ou nés de son imagination. Combray emprunte de nombreux traits à Auteuil; la maison et le jardin de tante Léonie s’inspirent tout autant de ceux de Jules Amiot que de ceux où habitait à Auteuil le grand-oncle maternel de Marcel Proust, Louis Weil (1816–1896). Guermantes n’est pas dans la géographie de la région, mais vient probablement d’un château en Seine-et-Marne, près de Lagny. Les «jardins de nymphéas» qui, dans les petits étangs que forme la Vivonne, du côté de Guermantes, sont le symétrique des aubépines du côté de chez Swann, sont repris directement des tableaux de Monet. Les livres lus par le jeune Proust ne l’ont pas été à Combray, mais soit à Paris, soit à Auteuil, soit à Salie de Béarn (autre lieu de vacances familiales), l’ «authentique madeleine de tante Léonie» proposée par les pâtissiers d’Illiers n’a jamais existé et si le clocher de l’église d’Illiers se retrouve bien dans l’église de Combray, Proust n’en a pas moins prêté à Saint-Hilaire bien plus de richesse et d’art qu’il n‘y en eut jamais dans Saint-Jacques d’Illiers. Parlant à Jacques de Lacretelle de l’église de Combray, Proust avouait à ce dernier: «Il n’y a pas de clefs pour les personnages de ce livre; ou bien il y en a huit ou dix pour un seul; de même pour l’église de Combray, ma mémoire m’a prêté comme «modèle» beaucoup d’églises. Je ne saurais plus vous dire lesquelles». Comment mieux dire que la réalité «au second degré» que tout visiteur un peu familier de l’oeuvre de Proust retrouve à Illiers, est une réalité d’un autre ordre? Pour l’historien de la France du XIXe siècle, Illiers-Combray offre, enfin, un concentré incomparable de la réalité sociale et culturelle de la France d’alors. Je ne connais pas en effet de reconstitution plus vivante et plus convaincante de la société française du temps que les deux cents premières pages du côté de chez Swann, et plus précisément de la première partie, intitulée précisément Combray. La société que, grâce à Proust, nous voyons revivre, est d’abord la société du bourg, faite d’artisans et de commerçants, de rentiers et de domestiques, et plus
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généralement de toutes ces personnes qui vivent avec la tante Léonie et qu’elle voit passer depuis sa fenêtre – le curé, le docteur Piperaud, Théodore qui est à la fois chantre et garçon épicier, Madame Sazerat et Madame Goupil, Madame Imbert et la mère Callot, l’épicier Camus et le pâtissier Galopin, Françoise, la cuisinière, «qui possédait à l’égard des choses qui peuvent ou ne peuvent pas se faire un code impérieux, abondant, subtil et intransigeant» et qui «avait en elle un passé français très ancien, noble et mal compris», Eulalie, «une fille boîteuse, active et sourde, qui s’était ‘retirée’ depuis la mort de Mme de la Bretonnerie où elle avait été placée depuis son enfance», bref tout une société aussi variée que fortement structurée, «composée de castes fermées, d’où rien, à moins les hasards d’une carrière exceptionnelle ou d’un mariage inespéré, ne pouvait vous tirer pour vous faire pénétrer dans une caste supérieure», une société régie par la réputation et où «on connaissait tellement bien tout le monde, bêtes et gens», précise le narrateur, «que si ma tante avait vu par hasard passer un chien ‘qu’elle ne connaissait pas’, elle ne cessait d’y penser et de consacrer à ce fait incompréhensible ses talents d’induction et ses heures de liberté». Mais ce que fait aussi revivre Proust, c’est une société semi-urbaine profondément enracinée dans la ruralité, vivant en symbiose avec la campagne, dont la structure était toujours largement déterminée par la propriété foncière (d’où la place essentielle tenue par les notaires), pour qui la cuisine était un grand art et qui vivait, comme Françoise au rythme des saisons: «Au fond permanent d’oeufs, de côtelettes, de pommes de terre, de confitures, de biscuits qu’elle ne nous annonçait même plus, Françoise ajoutait – selon les travaux des champs et des vergers, le fruit de la marée, les hasards du commerce, les politesses du jardin et son propre génie, et si bien que notre menu, comme ces quatre-feuilles qu’on sculptait au XIIIe siècle au portail des cathédrales, reflétait un peu le rythme des saisons et des épisodes de la vie -: une barbue parce que la marchande lui en avait garanti la fraîcheur, une dinde parce qu’elle en avait vu une belle au marché de Roussainville-le-Pin, des cardons à la moelle parce qu’elle ne nous en avait pas encore fait de cette manière-là, un gigot rôti parce que le grand air creuse et qu’il avait bien le temps de descendre d’ici sept heures, des épinards pour changer, des abricots parce que c’était une rareté, des groseilles parce que dans quinze jours il n’y en aurait plus, des framboises que M. Swann avait apportées exprès, des cerises, les premières qui vinssent du cerisier du jardin après deux ans qu’il n’en donnait plus, du fromage à la crème que j’aimais bien autrefois, un gâteau aux amandes parce qu’elle l’avait commandé la veille, une brioche parce que c’était notre tour de l’offrir». Combray fait également revivre la société des notables, avec d’un côté le monde de l’aristocratie (toutes les personnes qui se pressent à Combray pour le mariage de la fille de Madame de Guermantes), et de l’autre celui des familles de la bourgeoisie (tels les Legrandin, les Vinteuil, les Swann, mais aussi la famille du narrateur), qui toutes ont en commun de vivre à la fois à Combray et à Paris (y compris le grand-père du narrateur, qui ne bouge plus guère, mais à qui la lecture régulière du Figaro permet de garder le contact avec la capitale). Combray permet enfin de sentir les valeurs et la culture d’une société marquée à la fois par la terre, l’histoire – des livres lus par le narrateur au plaques de verre de lanterne magique – et le catholicisme, qui rythme le temps et dont
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l’expression la plus accomplie est l’église, «édifice occupant, si l’on peut dire, un espace à quatre dimensions – la quatrième étant celle du Temps -, déployant à travers les siècles son vaisseau qui, de travée en travée, de chapelle en chapelle, semblait vaincre et franchir, non pas seulement quelques mètres, mais des époques successives d’où il sortait victorieux». De l’histoire, Michelet voulait qu’elle fût une «résurrection intégrale du passé». Tous, historiens que nous sommes, nous nous efforçons de faire nôtre ce programme – même si nous savons qu’il reste utopique. Mais l’exemple de Proust et la métamorphose d’Illiers en Combray le prouvent d’évidence: ce qui est impossible à l’histoire en tant que discipline, la mémoire et la littérature le peuvent. «La réalité», comme l’écrit Proust dans les dernières pages de Combray, «ne se forme que dans la mémoire, car la vrai vie, c’est la littérature». Et c’est pour cela qu’il faut faire étape à Illiers et sans cesse reprendre la lecture de la Recherche du temps perdu. Prof. Dr. Etienne François, professeur d’histoire à la Freie Universität Berlin, directeur du Frankreich-Zentrum, professeur (ém.) d’histoire à l’Université Paris-I (Panthéon-Sorbonne)
BRUÈRE-SUR-CHER – CENTRE DE LA FRANCE UN TÉMOIN DE LA GÉOPOÉTIQUE FRANÇAISE
(JEAN-CLAUDE ALLAIN)
Dans son Essai sur la France, le professeur de littérature française Ernst-Robert Curtius1 relève que la France est «le seul pays moderne qui possède le mythe d’un ‘point central’», à avoir donc recherché son centre géographique et à l’avoir consacré par un monument qu’il situe à Bruère-sur-Cher où il aurait été érigé en 1799. A vrai dire, ce n’était pas, à cette date, le souci du duc de Charost qui n’effectuait qu’une restauration archéologique. La stèle qu’on voit à Bruère-Allichamps, sur un socle réaménagé depuis son érection, est une borne milliaire romaine du IIIe siècle, convertie en sarcophage et exhumée en 1757 dans le cimetière d’Allichamps; à partir de l’inscription qu’elle porte, un ingénieur des ponts et chaussées détermina l’emplacement où elle avait dû être élevée et où elle fut réinstallée en 1799.2 Le changement de sa signification s’accomplit au fil du XIX e siècle dans le cadre du développement du sentiment national, de la culture de l’État-Nation, recherchant des spécificités qui caractériseraient une identité française, qu’on ne qualifiait pas encore d’«exception». Chercher un centre géographique à l’espace politique de la France en Europe est, en effet, une originalité. Elle semble apparaître d’abord dans l’érudition régionale: dans ses Chroniques populaires du Berry Pierre Vermond, en 1830, localise ce centre dans le village de Vesdun, (que retrouvera un autre calcul, effectué en 1957). Elle prend une tout autre ampleur dans la seconde moitié du siècle et surtout pendant la III e République avec le déploiement dans la vie politique de l’esprit patriotique, par ailleurs enseigné à tous les niveaux de la scolarité. Le centre de la France s’inscrit pour une longue durée dans une géographie nationale, qui prolonge son étude physique du territoire par une appréciation esthétique, comme on le verra ci-après. La détermination du lieu est fort aléatoire mais l’intégration de Nice et de la Savoie, la mise entre parenthèses de l’Alsace-Moselle, la prise en compte de tout ou partie des îles côtières maintiennent toujours ce centre à l’ouest de Saint-Amand-MontRond et, en ajoutant la Corse, un peu plus à l’est, à Vallon-en-Sully ou à Nassigny. En 1923, une méthode dite expérimentale et scientifique établit le centre de gravité d’une carte de France, suspendue aux points de Lille et de Bordeaux, en traçant les verticales suivant un fil à plomb: leur croisement se situe près de Saulzais-le-Potier.3 Ces lieux théoriques – que plus tard une plaque signalera localement – séduisent moins qu’un monument existant, même si ce n’était pas sa finalité. C’est, 1 2 3
Traduit en français par Jacques Benoist-Méchin et édité par Grasset en 1932, p. 71. Suivant l’article d’E. Bouant, „Détermination de la position du centre de la France “, dans Larousse mensuel, n° 197, juillet 1923, p. 174–175. Ibidem. Ce site est confirmé en 1938 par l’abbé Moreux, astronome et directeur de l’observatoire de Bourges.
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sans doute, ce qui explique la préférence de géographes vulgarisateurs, comme Onésime Reclus ou Ardouin-Dumazet,4 pour la tour de Malakoff, à quelques kilomètres au nord de Saint-Amand-Mont-Rond, érigée en 1859 et, comme son nom le suggère, en souvenir de la guerre de Crimée.5 Mais, dans le même genre éditorial, Paul Joanne, auteur d’une collection de guides départementaux, retient Bruère dans son Dictionnaire géographique et administratif de la France et de ses colonies, en 1904.6
4 5 6
Reclus, Onésime, Le plus beau royaume sous le ciel (1899) et Victor-Eugène Ardouin-Dumazet dans sa série de Voyage en France, publiée à partir de 1895, t. XXVI, 1901. Son initiateur, le général duc de Mortemart, avait choisi ce lieu, parce que le plus élevé et le plus proche de son château de Meillan. Ibid. 1ère édition en 1898. Paul Joanne (1847–1922) poursuit, parallèlement aux livraisons de son Itinéraire général de la France (y compris pour les cyclistes …) l’édition ou les rééditions des Guides départementaux d’Adolphe Joanne (1813–1881).
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En paraphrasant Curtius, on peut dire que la France est le seul pays à avoir inventé un discours symbolique et esthétique sur sa forme et ses dimensions géographiques et à l’avoir introduit dans la mémoire collective, formée par l’extension de la scolarisation, en particulier après 1882 quand l’école primaire devint obligatoire. L’enseignement comportant l’histoire et la géographie de la France, les rédacteurs des manuels de géographie, destinés aux enseignants, aux élèves ou aux candidats aux concours de la fonction publique, promeuvent une image pédagogique de la représentation de la France: l’hexagone dans lequel elle peut s’inscrire et se dessiner; cette figure de géométrie est alors indiquée comme approximative mais, à la fin des années 1880, sa formulation gagne progressivement en régularité: «aux côtés régulièrement disposés» (Belin, 1889), hexagone «assez régulier» (École universelle par correspondance, 1911), «régulier» (Hachette, 1923, 1939).7 Cette figuration, d’abord choisie autant par commodité pédagogique que pour l’affirmation d’une spécificité française, s’assortit peu à peu de qualifications esthétiques, naturellement positives pour souligner affectivement l’originalité nationale. Il s’agit d’inculquer aux élèves un concept de beauté, issu de la culture gréco-romaine qui le fonde sur l’équilibre et la symétrie des formes comme de leur insertion dans une figure géométrique. La description des contours de la France, retracée dans cette perspective, crée une disposition mentale, subconsciente, favorable à 7
Levasseur, E., Géographie de la France et des cinq parties du monde, Paris 1882, (pour les écoles normales d’instituteurs); Fic, Cours supérieur de géographie pour l’enseignement primaire (catholique), Paris 1884. H. Pigeonneau, Cours complet. Géographie physique et politique de la France …,Paris 1889; Carquille,f.H. et Floraud, L.A., Cours complet de géographie à l’usage des candidats.. aux concours et examens, Paris 1911; Gallouedec, L. et Maurette,f., Cours de géographie (enseignement primaire supérieur, 3ème année), Paris 1923 et 1927, Géographie de la France (Classe de Première A et B), Paris 1939.
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l’amour de la «doulce France» et à la défendre contre l’étranger, naturellement différent. Ce glissement vers la subjectivité doit certainement beaucoup aux géographes de renom, à la plume aisément littéraire et lyrique, quand ils veulent souligner «l’harmonie» des reliefs. Élisée Reclus qui voit même «un comble de régularité» dans l’orientation «parfaite» de la France par rapport au pôle et à l’équateur (n’est-elle pas traversée par le 45e parallèle?), écrit, dans la préface du dictionnaire, précité, de Joanne qu’elle «se distingue entre toutes les contrées d’Europe par l’élégance et l’équilibre de ses formes»; il reprend les mêmes idées dans l’introduction du tome II de la Géographie universelle mais, entre les deux versions contemporaines l’une de l’autre, il hésite sur la forme géométrique la plus appropriée: «un grand octogone» pour la première, «un grand hexagone» pour la seconde … L’usage a finalement fait prévaloir cette dernière. Un autre maître de la géographie, Emmanuel de Martonne, avait suggéré une forme au «contour grossièrement pentagonal»8 mais le Pentagone ne trouvant sans doute pas un écho favorable dans la sensibilité française, l’hexagone se maintint, quasiment sans réserves, jusqu’aux années 1950 dans le discours pédagogique exprimé dans les manuels de géographie des principaux éditeurs.9 Il est mentionné, parfois cartographié (on indique alors la longueur de ses diagonales mais rarement celle de ses côtés!), de moins en moins qualifié de «régulier» ou d’«harmonieux». Un commentaire quelque peu substantiel dans le style de la Belle Époque est une survivance exceptionnelle: «Les géographes s’accordent pour louer les formes harmonieuses et équilibrées de la France métropolitaine. L’observation de la carte confirme cette impression […] Les contours, dont on a maintes fois signalé qu’ils s’inscrivent dans un hexagone presque régulier, présentent des saillies et des rentrants qui se répondent presque symétriquement. La régularité de ses contours, l’alternance de ses limites continentales et maritimes lui donnent d’heureuses proportions».10 Au début des années 1960, les programmes d’histoire et de géographie reflètent, après la décolonisation de l’empire et lors de la construction économique de l’Europe occidentale, le renouvellement de la situation géopolitique française et la réorientation de la politique extérieure par les présidents et les gouvernements de la Ve République. Le recentrage de la France sur elle-même et sur l’Europe se traduit par une rationalisation croissante de la description géographique du territoire et, parallèlement, par une médiatisation du symbole de l’hexagone. Les manuels édités suivant les nouveaux programmes, abandonnent le vocabulaire qualificatif et esthétique dans la description des formes générales du territoire et s’ils évoquent l’hexagone, c’est en précisant que cette figure, fort approximative, avait été 8
Introduction au tome VI-1 „La France physique “ de la Géographie universelle, Paris 1942 (p. 6). 9 Éd. Hatier: Troisième, Paris 1951, La France métropolitaine et l’Union française (H. Boucau, J. Petit, A. Leyritz), Première, Paris 1954, L’Union française (H. Boucau, J. Petit). Éd. Magnard: Première, Paris 1956, La France et l’Union française (E. Baron). Éd. Nathan: Troisième, Paris 1954, Nouveau cours de géographie (J.P. Moreau,f. Lentacker, Y. Pasquier), Première, Paris 1956, Nouveau cours de géographie (J.P. Moreau, M. Ozouf, Y. Pasquier). 10 Nathan, Première, Paris 1956, cf. ci-dessus. Mots soulignés par nous.
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longtemps traditionnelle.11 Les éditions des années 1980, rédigés pour les programmes revus en 1977, pour moitié d’entre elles ne citent plus l’hexagone, les autres associent cette référence à un repère facilitant la reproduction du dessin cartographique,12 un manuel le citant dans un raccourci fort ironique: «[La France] est une personne (Michelet) qui a pris figure d’hexagone».13 Presque paradoxalement, alors que cette figure s’éclipsait dans le récit éducatif, elle resurgissait dans le discours politique et se vulgarisait dans le langage courant des medias, puis du public, surtout par l’adjectif qui en dérivait, ‘hexagonal’, pris comme équivalent de ‘strictement français’, gallocentrique donc et de meilleure résonance que ‘franco-français’. L’interrogation sur la conformité ou non de l’hexagone avec la géographie des frontières est ainsi dépassée car cette figure géométrique est promue symbole de l’espace français en Europe et sa référence dans le débat politique renvoie à une option nationale, au besoin nationaliste, privilégiant l’identité, les valeurs et les intérêts français: le gaullisme et la droite gaulliste en font usage, dès la première élection présidentielle au suffrage universel en 1965, puis lors des élections législatives de 1967; l’hexagone compose le logo englobant le sigle de la formation de l’Union démocratique pour la V e République qu’un projet, non retenu, remplaçait par un autre symbole, la croix de Lorraine. Aux élections de mars 1986, l’affiche de la coalition de l’opposition de droite libérale et du gaullisme reprend ce logo hexagonal, – dans lequel se trouve le sigle UDF -, composé avec les trois couleurs nationales et situé au centre de l’affiche. Une médiatisation plus large et plus durable qu’une publicité électorale est atteinte en 1988, pour commémorer le 30ème anniversaire de la Ve République, avec la frappe d’une pièce de monnaie de 1 Franc, cette valeur étant indiquée au centre d’un hexagone, et le verso reproduisant le profil du général de Gaulle: même si elle attira les collectionneurs, son émission fut assez importante pour qu’elle circule dans les échanges courants pendant plusieurs années et sans doute le destinataire et des lecteurs de cette communication, qui ont connu les monnaies nationales, s’en souviennent-ils encore… Le centre géographique localisé, en revanche, a survécu. Comparé à l’hexagone, il est d’une ressource médiatique fort limitée et ne peut qu’exceptionnellement avoir quelque utilité pratique: quand la France, dans sa politique d’indépendance stratégique, acheta à Boeing en 1987 quatre avions Awacs, pour ne pas dépendre dans la surveillance de ses frontières uniquement de l’Otan, elle les basa à Avord, à l’est de Bourges, mais à quelque 30 kilomètres au nord de Bruère: est-ce par hasard qu’ils se trouvaient au centre de l’espace aérien du territoire? Cette finalité n’eut guère le temps de se réaliser.14 Dès lors, le centre géographique reste un site 11 Éd. Colin: Première, Paris 1963 (R. Blanchon, A. Labaste, R. Oudin); Troisième, 1963 et 1964 (A. Labaste). Éd. Nathan: Première, Paris 1964 (R. Guglielmo, Y. Lacoste, M. Ozouf); Troisième, Paris 1963 (Y. Lacoste, M. Ozouf). Éd. Hatier: Troisième, Paris 1962 (G. Toussaint). Éd. Masson: Première, Paris 1961 (J. Pelletier, J. Virlogeux). 12 Dans la première catégorie, par exemple pour la classe de Première: Éd. Bordas, Hatier, Hachette, 1982; dans la seconde, Éd. Belin, 1982, Hatier, 1981, Hachette, 1986. 13 Éd. Magnard: Première, Paris 1982 (Dupâquier), p. 6. 14 La première livraison eut lieu en mars 1991 et la «menace» soviétique disparut en décembre suivant.
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du domaine des curiosités touristiques: Bruère-sur-Cher est annoncé comme tel sur l’aire de repos de Farges-Allichamps sur l’autoroute A 71; mais il faut choisir d’aller le visiter, à la différence des lignes géographiques, les parallèles en particulier, que traversent les routes ou autoroutes et qui peuvent être illustrées par un panneau, signalant ces lignes virtuelles, comme le cercle polaire (par exemple, en Norvège), l’équateur15 (au Gabon) ou le 45ème parallèle en France (avec une aire à ce nom sur l’autoroute A 7). La recherche du centre géographique a été étendue à l’Europe par l’Institut géographique national: le centre de l’Europe des Douze était à Noireterre dans la commune de Saint-Clément, dans l’Allier, puis après la réunification de l’Allemagne, à Pagnant dans la commune de Saint-André-le-Coq, dans le Puy-de-Dôme; celui de l’Europe des Quinze se situait plus au nord et plus à l’est, soit en Belgique, à Viroinval, entre Namur et Charleville-Mézières, 16 et il glissera toujours vers l’est avec les élargissements suivants mais ces derniers calculs qui visent la plus grande précision possible, notamment en prenant en compte l’exacte superficie des îles européennes, comprennent aussi les espaces de souveraineté, situés hors d’Europe comme les départements français d’outre-mer ou les Açores portugaises. On change de registre et de dimension; on passe de la géographie physique à la géopolitique abstraite, et la géopoétique de naguère, civique et éducative à la française, est bien révolue. Prof. Dr. Jean-Claude Allain, Professeur émérite d’histoire contemporaine à la Sorbonne nouvelle – Paris 3
15 Sur mer, le «passage de la ligne» était l’occasion de festivités pour le baptême de ceux qui la franchissaient pour la première fois. 16 «Le nombril de l’Europe est belge», Jean-François Augereau, Le Monde, 9 juin 1995.
LE CRI, L’ÉCRIT DAS DENKMAL AN SKLAVENHANDEL, SKLAVEREI UND ABOLITION IM LUXEMBOURG-GARTEN ALS ERGEBNIS VON ERINNERUNGSFORDERUNGEN DER „DESCENDANTS DE L’ESCLAVAGE“ (SVEN KORZILIUS)
Le cri c’est la marque de l’abolition de l’esclavage mais aussi la mise en garde contre l’esclavage moderne Le cri est de peur, de larmes, mais aussi de joie Le cri est une métaphore de cet asservissement qui a été aboli par les textes. Le cri c’est un dessin dans l’espace: pour le jardin devant le Sénat, il fallait un écrit ! L’abolition de l’esclavage c’est l’anneau de chaine ouvert, l’anneau fermé c’est que tout peut recommencer et le piétement c’est le retour aux racines, c’est aussi la Terre que est un boulet...1
Am 10. Mai 2007 weihte Staatspräsident Jacques Chirac im Beisein seines Nachfolgers Nicolas Sarkozy im Jardin du Luxembourg eine Skulptur von Fabrice Hyber ein. Sie soll den Betrachter an den Sklavenhandel erinnern, Sklaverei und an deren Abschaffung, die im Französischen mit dem Begriff „Abolition“ beschrieben wird.2 Blicken wir, um die Bedeutung des Festaktes zu erfassen, rund zwanzig Jahre zurück: In Pierre Noras Lieux de mémoire3 haben weder die Sklaverei selbst, noch ein konkreter räumlicher Ort zur Erinnerung an sie einen Eintrag gefunden. Die Gesamtkonzeption der Lieux de mémoire ist eine Ursache dafür. Aus Sorge, das Marginale zu bevorzugen, riskierte Nora lieber, die „lieux de mémoire majoritaires“ ganz besonders hervorzuheben. Doch erklärt dies allein die Auslassung nicht. Vieles spricht dafür, dass noch Ende der 1980er Jahre in Frankreichs Öf-
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Fabrice Hyber 2007, Text des Denkmals. An dieser Stelle danke ich meinem Kollegen im Trierer DFG-Graduiertenkolleg „Sklaverei – Knechtschaft und Frondienst – Zwangsarbeit“, Adrien Poncin, für die Anfertigung der Fotografie, sowie für zahlreiche Anregungen. Für einen Überblick zur Geschichte von Sklavenhandel, Sklaverei und Abolition vgl. Larcher, Silyane, Bibliographie sommaire, in: Cités 25 (2006), S. 190f., sowie Roland Desné/Marcel Dorigny (Hrsg.), Yves Benot. Les lumières, l’esclavage, la colonisation, Paris 2005. Zur Abolitionsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Jennings, Lawrence C., French Anti-Slavery. The Movement for the Abolition of Slavery in France, 1802–1848, Cambridge 2000. Vgl. Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire, Bd.1: La République, Paris 1984, Bd.2/I-III: La Nation, Paris 1986, Bd.3/I-III: Les Frances, Paris 1992.
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fentlichkeit ein trou de mémoire das Gedenken unmöglich machte.4 Ist die HyberSkulptur dazu angetan, diese Erinnerungslücke zu schließen? Sind Sklaverei und Abolition nun lieux de mémoire, die im Jardin du Luxembourg eine räumlich-begehbare Entsprechung gefunden haben?5 Für eine Beantwortung der Frage ist die Zeit nicht reif. Darstellen lässt sich in diesem Beitrag allerdings die Entwicklung der Erinnerung an die Sklaverei von 1848 bis heute.6 Die aktuellen Erinnerungsansprüche tragen Betroffenen- und Interessengruppen. Doch sie bleiben nicht gruppenintern, sondern sollen sowohl in die mémoire historique nationale7 als auch in die kanonisierte Nationalgeschichte Eingang finden und zum Gegenstand von öffentlichen Gedenkakten werden.8 Bei dem Versuch, eine mémoire historique in die nationale mémoire historique und Geschichte einzuschreiben,9 also aus einer mémoire faible eine mémoire forte zu machen,10 bieten sich die politische Öffentlichkeit und die Geschichtswissenschaft als Partner an. Beide Felder werden im Folgenden angesprochen. Wie fand die Erinnerung an die Sklaverei den Weg in die Öffentlichkeit? Das Bild, das sich für die französischen Kolonien nach der Abolition 1848 ergibt, ist nach Cottias das einer Übereinkunft des Vermeidens zwischen den Vertretern der ehemaligen Sklavenhalter und der ehemaligen Sklaven.11 Staatlicherseits war das Vergessen wichtig für die Genese des „récit de la Nation unie et glorieuse“.12 Die politische Elite der Freigelassenen wollte 1848 als Stunde Null einer Gesellschaft 4
Vergès, Françoise, Esclavage, citoyenneté, crime contre l’humanité, in: Cités 26 (2005), S. 170–173, hier S. 171: „Plus rares qu’on ne le croit sont les Français qui savent que [...] leur pays fut une grande puissance esclavagiste“. 5 Nach der Konzeption Noras ist es gerechtfertigt, sowohl esclavage und traite négrière als auch die konkreten Erinnerungsorte daran als lieux de mémoire anzusehen. 6 Vgl. Rainer Hudemanns Studien zur Erinnerungskultur, ders. (Hrsg.), Stätten grenzüberschreitender Erinnerung. Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert/Lieux de la mémoire transfrontalière. Traces et réseaux dans l’espace Sarre-LorLux aux 19e et 20e siècles, 2. Auflage, Saarbrücken 2004, als CD-Rom oder im Internet unter :http://www.memotransfront.uni-saarland.de. 7 Zur Abgrenzung von mémoire collective, mémoire historique und histoire vgl. Halbwachs, Maurice, La Mémoire collective, Paris 1950, S. 68. Etwas abweichend von Halbwachs wird aber hier unter mémoire historique eine gruppengetragene, noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitete Erinnerung an Ereignisse verstanden, deren Zeitgenossen nicht mehr leben. 8 Zur Unterscheidung von mémoire und commémorer vgl. Candau, Joël, Mémoire et identité, Paris 1998, S. 142–147. 9 Gut ausgedrückt bei Dulucq, Sophie/Zytnicki, Colette, Penser le passé colonial français. Entre perspectives historiographiques et résurgences des mémoires, in: Vingtiéme Siècle 86 (2005), S. 59–69, hier S. 66: „La lente inscription de la mémoire des groupes dans la mémoire collective est l’aboutissement de luttes entre des institutions et des acteurs antagonistes“. 10 Zu den Begriffen Candau (Anm. 8), S. 40f. 11 Vgl. Cottias, Myriam, L’oubli du passé contre la citoyenneté:. Troc et ressentiment à la Martinique (1848–1946), in: Fred Constant/Justin Daniel (Hrsg.), 1946–1996, Cinquante ans de Départementalisation outre-mer, Paris 1997, S. 293–313. 12 Bonniol, Jean-Luc, Échos politiques de l’esclavage colonial, des départements d’outre-mer au cœur de l’État, in: Claire Andrieu/Marie-Claire Lavabre/Danielle Tartakowsky (Hrsg.), Politiques du Passé. Usages politiques du passé dans la France contemporaine, Aix-en-Provence 2006, S. 59–69, hier S. 60.
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sehen, welche die Chance auf Anerkennung und Gleichheit in Aussicht stellte.13 Vergessen war notwendig auf dem Weg zum citoyen Français.14 Es wurde als thérapeutique de l’oubli anempfohlen: „Amis, ne nous occupons plus du passé“, forderte Bissette. Für ein äußerliches Befrieden der Gesellschaft war ein Ruhenlassen der Vergangenheit durchaus eine mögliche Strategie. Doch war der Konsens oberflächlich. Die Spuren der Sklaverei konnte politischer Wille nicht tilgen.15 Eine hiérarchie raciale prägte die postabolitionistische Gesellschaft.16 Statt Vergessen blieb Mißtrauen übrig, unterschwelliges bis offenes Ressentiment.17 Die Bevölkerungen der Antillen und Guayanas vergaßen die Sklaverei nie wirklich.18 Sie schwiegen, und sie erinnerten sich doch in ihren mémoires silencieuses.19 Doch blieb auf der Ebene eines offiziellen politischen Erinnerns die Sklaverei ausgeblendet.20 Auch für die Republik-Nation à la Renan war es wichtig, vergessen zu können. Dies änderte sich in der Zwischenkriegszeit. Es entstand in Frankreich ein halbautonomer „espace public noir“, in dem sich in den dreißiger Jahren die négritude-Bewegung formte. Schriftsteller wie der in Paris studierende Aimé Césaire trugen so erstmals die Erinnerung in die Metropole, wobei es ihnen vor allem um die aktuelle Politik ging, in die gerade Césaire involviert war, etwa als Berichterstatter des Gesetzes für die départementalisation 1946.21 Deutlich wird die Verwendung der Erinnerung zur Begründung politischer Kritik am Beispiel der Konferenz vom 27. April 1948 zum Centenaire der Abolition.22 Césaire schlug hier den Bogen zu seiner Gegenwart, indem er auf die schlechten Verhältnisse auf den Antillen und den Rassismus hinwies. 13 Konkret erhielt der männliche Teil sofort das allgemeine Wahlrecht, das Recht auf bezahlte Arbeit, Schulbesuch und auf Landeigentum wurden ebenfalls proklamiert. 14 Vgl. Cottias (Anm. 11), S. 300f., auch im Folgenden. 15 Vgl. Bonniol (Anm. 12), S. 59. Speziell zur Hautfarbe vgl. Bonniol, Jean-luc, La couleur comme maléfice. Une illustration créole de la généalogie des Blancs et Noirs, Paris 1992. 16 Vergès (Anm. 4), S. 172. 17 Cottias (Anm. 11), S. 304ff. Périna, Mickaëlla, Construire une identité politique à partir des vestiges de l’esclavage? Les départements français d’Amérique entre héritage et choix, in: Patrick Weil/Stéphane Dufoix, L’esclavage, la colonisation, et après..., Paris 2005, S. 509–531, hier S. 526, weist darauf hin, daß die Pflanzer von Martinique die ehemaligen Sklaven abwertend als „Français par décrets“ bezeichneten, sich selbst als „Français de sang“. 18 Giraud, Michel, Les enjeux présents de la mémoire de l’esclavage, in: Weil/Dufoix (Anm. 17), S. 533–558, hier S. 547. 19 Vgl. Vergès, Françoise, La mèmoire enchaînée. Questions sur l’esclavage, Paris 2006, S. 58; Candau (Anm. 8), S. 124; Larcher, Syliane, Les errances de la mémoire de l’esclavage colonial et la démocratie française aujourd’hui, in: Cités 25 (2006), S. 153–163, hier S. 159. 20 Wenn Vergès (Anm. 4), S. 171, feststellt: „Les historiens s’accordent à reconnaître l’existence d’un long silence sur la traite négrière et l’esclavage“, so gilt dies allerdings nur zum Teil. Schon die erste Debatte, der wir uns hier zuwenden wollen, kreist um die Realität des troude-mémoire. 21 Wilder, Gary, Césaire, Fanon et l’héritage de l’émancipation, in: Weil/Dufoix (Anm. 17), S. 469–508, hier S. 471, 476. 22 Vgl. Monnerville, Gaston/Sédar-Senghor, Léopold/Césaire, Aimé, Commémoration du centenaire de l’aboliton de l’esclavage. Discours prononcés à la Sorbonne le 27 avril 1948, Paris 1948.
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Einen neuerlichen Schub erhielt die Debatte während der Entkolonialsierung. Nationalistische Bewegungen aus den Überseeregionen erinnerten die französische Gesellschaft an ihre sklavenhalterische Vergangenheit.23 Im Hexagon selbst wurde der Boden für eine Aufarbeitung bereitet. Gründe dafür liegen in der gaullistischen Außenpolitik, die den ehemaligen Kolonien wichtige strategische Bedeutung beimaß, aber auch in der Arbeitsmarktsituation jener Jahre, die zu einer verstärkten (Im-)Migration führte, so dass in der Metropole neuartige Meinungsgruppen entstanden, die das Thema immer wieder an die Öffentlichkeit brachten. Weitere Impulse für eine historische Auseinandersetzung mit diesem Teil der Vergangenheit gingen von den internationalen Kodifikationen des Sklavereiverbots aus (UNO, IAO), aber auch von NGO’s wie der seit 1807 bestehenden Anti-Slavery Society.24 So wurden seit den 1960er Jahren Forderungen nach einer Erinnerung vor allem auch an den Sklavenwiderstand lauter.25 Ein Einfluss der 68–er-Bewegung ist ebenfalls nicht zu leugnen.26 Die französische Regierungspolitik war allerdings noch immer von einem „assimilationisme universaliste“ geprägt, also von einem Konzept der Integration durch Anpassung, die konkurrierende mémoires historiques einzelner Gruppen nicht zuließ.27 Das änderte sich in den folgenden Jahrzehnten: In den Regionen verlangten politische Gruppen mehr Autonomie, die Frauen- und Homosexuellenbewegungen forderten eine Anerkennung ihrer Lebensformen – sie alle verbanden politische Forderungen mit einer Wiederaneignung der Geschichte „von unten“.28 In diesen Jahren erfolgte eine stärkere öffentliche Hinwendung zur Kolonialvergangenheit. Ein Gesetz vom 30. Juni 1983 sah Gedenktage an die Abolition in den départements d’outre-mer vor:29 Die Betonung lag auf der Abolition, nicht auf der Sklaverei, Feiertage gab es nur für die überseeischen Departements, nicht für die Metropole. In den achtziger Jahren läßt sich ein Bruch im französischen Erin23 Zur besonderen Problematik der Erinnerung an innerafrikanische Sklaverei und die afrikanische Mitverantwortung am (transatlantischen) Sklavenhandel vgl. Gueye, Matar, Les mémoires oublieuses de l’esclavage, in: Marie-Christine Rochmann (Hrsg.), Esclavage et abolitions. Mémoires et systèmes de représentation, Paris 2000, S. 83–98, sowie Borgomano, Madeleine, La littérature romanesque d’Afrique noire et l’esclavage. „Une mémoire de l’oubli“?, ebd., S. 99–112. 24 Seit 1990: Anti Slavery International. 25 Pulvar, Olivier, Des limites de la mémoire historique française de l’esclavage, in: Cités 25 (2006), S. 186–189, hier S. 187. 26 Autour du „devoir de mémoire“. Ein Gespräch mit der französischen Soziologin Marie-Claire Lavabre zur aktuellen Debatte über den „richtigen“ Umgang mit der Vergangenheit in Frankreich, von Nina Leonhard, in: Zeitgeschichte-online international, 31.01.2006, S. 3. 27 Andrieu, Claire, Le traitement des traumatismes historiques dans la France d’après 1945, in: Weil/Dufoix (Anm. 17), S. 599–621, hier S. 604f., beobachtet dieses Phänomen auch für die Aufarbeitung der Judenverfolgung auf französischem Boden in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten. 28 François Hartog/Jacques Revel, Note de conjoncture historiographique, in: dies. (Hrsg): Les usages politiques du passé, Paris, 2001, S. 13–24, hier S. 17–18. In den achtziger Jahren wurde das Recht auf Verschiedenheit sogar ein gewisses politisches Leitmotiv: vgl. Andrieu (Anm. 27), S. 609. 29 Loi n° 83–550, Journal officiel de la République française, 1. Juli 1983, S. 1995.
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nerungsdiskurs feststellen: Vichy wurde nicht länger verschwiegen,30 des Algerienkrieges gedacht,31 mit der Anerkennung als „Krieg“ durch die Assemblée nationale im Juni 1999 als Höhe- und Wendepunkt. Der Begriff des „devoir de mémoire“ fand Eingang in der Medienöffentlichkeit. Inzwischen war der Übergang „d’une politique universaliste à une politique particulariste d’intégration“32 fortgeschritten und die „Nachfrage“ nach Aufarbeitung von Sklavenhandel und Sklaverei erstarkt.33 Einschlägige Interessengruppen erreichten nun ausreichendes politisches Gewicht,34 sahen sich aber einer mehrfachen Krisensituation gegenüber. Nach 1989 sank die strategische Bedeutung der ehemaligen Kolonien, gleichzeitig machte die Massenarbeitslosigkeit die Migration wirtschaftlich weniger attraktiv und politisch schwieriger. Die Nachfahren der Migranten sahen sich konfrontiert mit nationaler Ausgrenzung, sozialen Ungleichheiten, rassistischen Diskriminierungen und wohnräumlicher Gettoisierung.35 Die Aussichten auf (attraktive) Arbeitsplätze sanken.36 Schließlich ist die Forderung nach Erinnerung an Sklavenhandel und Sklaverei in eine globalere „Welle der Erinnerung“ und juristischen Aufarbeitung staatlichen Unrechts einzuordnen.37 Die neunziger Jahre boten als „Jahrzehnt der Jahrestage“ Gelegenheit, Erinnerungspolitik zu betreiben, auch auf lokaler Ebene. Das Jahr 1992 eröffnete mit den Fünfhundertjahrfeiern zur „Entdeckung“ Amerikas den Reigen. 1994, im Jahr des zweihundertsten Jahrestages der ersten französischen Abolition, lancierte die UNESCO „La Route de l’esclave“. 1998 legte Frankreichs Regierung den Schwerpunkt des Erinnerns auf die Abolition. Dies schon durch die Organisation der zentralen Feiern in Fessenheim, dem Geburtsort Victor Schoelchers, und in Champagney, dem ersten Ort, der in seinem Beschwerdebuch 1789 die Abolition forderte.38 Gefeiert wurde „la patrie des droits de l’homme qui a montré l’exemple au reste du monde“.39 Es sollte die schmerzhafte 30 Dazu Rousso, Henry, Le syndrome de Vichy 1944–198..., Paris 1987. 31 Stora, Benjamin, La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie, Paris 1991; ders., Les aveux les plus durs. Le retour des souvenirs de la guerre d’Algérie dans la société française, in: Weil/Dufoix (Anm. 17), S. 585–598. 32 Andrieu (Anm. 27), S. 612. 33 Constant, Fred, Le débat public autour de l’esclavage: conflits de mémoires et tensions sociopolitiques, in: Cités 25 (2006), S. 174–177, hier S. 174: „pression d’une demande sociale croissante“. 34 Vgl. Bonniol, Jean-Luc, Comment transmettre le souvenir de l’esclavage? Excès de mémoire, exigence d’histoire..., in: Cités 25 (2006), S. 181–185, hier S. 183. 35 Larcher, Syliane, Présentation. L’esclavage colonial: „un passé qui ne passe pas“?, in: Cités 25 (2006), S. 151f.; ähnlich Vergès (Anm. 19), S. 37. 36 Frank, Robert, Editorial, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps n°85 (2007): Usages publics de l’Histoire en France, S. 4: „Or, la mémoire actuelle de l’esclavage nous dit beaucoup sur le malaise social et le mal identitaire de ceux à qui l’on propose de s’identifier à des ancêtres esclaves.“ 37 Hartog, François, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003, S. 16, 132. 38 Chivallon, Christine, L’usage politique de la mémoire de l’esclavage dans les anciens ports négriers de Bordeaux et Bristol, in: Weil /Dufoix (Anm. 17), S. 559–584, hier S. 560, 565, 578. 39 Pulvar (Anm. 25).
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Auseinandersetzung mit Sklavenhandel und Sklaverei umgangen und nahtlos an die republikanische Geschichtstradition angeknüpft werden.40 Angesichts der schwelenden Gesellschaftskrise und aus Besorgnis vor zunehmendem communautarisme41 im Land stand der damalige Premierminister Jospin mit seiner Rede vom 26. April nicht zufällig in direkter Kontinuität zu 1848: „Nous sommes tous nés en 1848“. Präsident Chiracs Rede am 23. April hatte einen vergleichbaren Grundton.42 Anders als die Politiker 150 Jahre zuvor erzielten die Nachfolger von 1998 damit keinen Konsens. Die fehlende Auseinandersetzung mit dem Sklavenhandel und der Sklaverei wurde als Affront empfunden. Ein Komitee organisierte am 23. Mai 1998 einen Marsch von der Place de la Nation zur Place de la République mit 40.000 Teilnehmern. Die Forderung nach Einschreiben dieses Kapitels in die Nationalengeschichte ließ sich kaum mehr überhören.43 Es handelt sich, zumindest in groben Zügen, um die Vorgeschichte des Gesetzesentwurfs, den die Abgeordnete von Guyana, Christine Taubira, 1998 ins Parlament einbrachte,44 und der am 10. Mai 2001 in zweiter Lesung im Senat verabschiedet wurde.45 Auf dieses Gesetz geht die Gründung des Comité pour la mémoire de l’esclavage (CPME) zurück. Inzwischen wurden per Dekret die ersten zwölf Komitee-Mitglieder für einen ersten Fünfjahreszyklus ernannt. Einer seiner Aufgaben46 hat sich das Gremium bereits entledigt, und zwar durch die Entscheidung, den 10. Mai als jährlichen Gedenktag im metropolitanen Frankreich zu benennen.47 Weitere Aufgaben bestehen darin, Erinnerungsorte zusammenzustellen, 40 Vgl. Chivallon (Anm. 38), S. 562. 41 Hier den deutschen Begriff Kommunitarismus zu verwenden, birgt die Gefahr von Missverständnissen, denn der aus den USA stammende Kommunitarismus-Begriff ist von seinen dortigen Urhebern durchaus nicht negativ belegt. Vielmehr werden dort Gemeinschaften gegenüber einer neoliberalen Gesellschaft durchaus positive Eigenschaften und Problemlösungskompetenzen zugebilligt. Der französische Communitarisme-Begriff ist hingegen nahezu vollständig negativ konnotiert, vgl. Lévy, Laurent, Le spectre du communautarisme, Paris 2005, S. 10. 42 Vgl. Chivallon (Anm. 38), S. 578. 43 Vgl. Larcher (Anm. 19), S. 154. 44 Die erste Lesung fand am 18. Februar 1999 statt; vgl. Chivallon (Anm. 38), S. 568. 45 Der Taubira-Entwurf ist eine Weiterentwicklung und Zusammenfassung von älteren Entwürfen, welche die kommunistische Fraktion eingebracht hatte. Nach der ersten Lesung in der Assemblée Nationale am 18.02.1999 traf der Entwurf im Senat auf Widerstände. Die Assemblée nahm dessen Änderungsvorschläge aber in zweiter Lesung (06.04.2000) nicht auf und blieb beim ursprünglichen Entwurf, der dann auch vom Senat unverändert akzeptiert wurde. Vgl. Vergès (Anm. 19), S. 117. 46 Comité pour la mémoire de l’esclavage (Hrsg.), Mémoires de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions, Paris 2005, in Kurzform: Vergès, Françoise, Le Comité pour la mémoire de l’esclavage, in: Cités 25 (2006), S. 167–169. Auf diese beiden stützt sich der gesamte Absatz. 47 Die Départements d’outre-mer begehen ihre Gedenktage jeweils an anderen Tagen. Der 4. Februar, Datum der Abolition 1794, schied aus, weil dann die Wiedereinführung der Sklaverei durch Napoléon zu sehr im Schatten geblieben wäre, aber auch der 27. April (Abolition 1848) schied aus, weil bei diesem Datum das Schwergewicht des Erinnerns zu stark auf der Abolition, nicht aber auf Handel und Sklaverei liegen würde. Gleiches sprach gegen den 23. August, den internationalen Gedenktag an die Abolition. Hier spielte auch die praktische Er-
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Möglichkeiten zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit zu erarbeiten, einen Überblick über Forschung, Lehre und Schulunterricht zu entwerfen und Verbesserungsvorschläge in diesen Bereichen zu machen. Eine erste Sichtung ergab: Das Thema war in der französischen Geschichtswissenschaft noch vor nicht allzu langer Zeit fast tabu, ein blinder Fleck.48 Yves Benot wies 1987 auf den „miroir truqué des historiens“ zur Französischen Revolution hin und stellte fest, dass in fast allen Standardwerken des 19. und 20. Jahrhunderts ein Kapitel zur Revolution in den Kolonien, insbesondere auf Saint-Domingue, fehlt.49 Von Michelet bis Renan, über Augustin Thierry, Guizot und Mignet, bleibt die Bedeutung der colonies antillaises in der Französischen Revolution unberücksichtigt. Lavisse schweigt komplett, und bei Seignobos wird die französische Nation „au sein d’un territoire hexagonal uniquement et d’une «race» blanche exclusivement“ definiert.50 Eine Ausnahme bildet Jean Jaurès.51 Auch die Wiedereinführung der Sklaverei durch Napoléon 1802 fand keinen Platz in der mémoire nationale,52 ebenso wenig die haitianische Revolution von 1804.53 Lexikonartikel zur politischen Philosophie befassen sich zum Teil nur mit der antiken, nicht mit der modernen Sklaverei.54 Auch die Annales trugen zunächst nicht zur Verbreitung des Themas bei. Ihre Hinwendung zu Wirtschaft und Gesellschaft unter Beachtung der longue durée blieb oft auf das Hexagon beschränkt. Allerdings rief Lucien Febvre 1952 in seinem Vorwort zu Gilberto Freyres Maîtres et esclaves dazu auf, sich stärker mit dem Themenkomplex zu beschäftigen. Schüler von Charles-André Julien, Jean Dresch, Georges Balandier und Jean Chesnaux erforschten lediglich Effekte der Kolonialisierung.55 Damit fand aber die Geschichte der Sklaverei im engeren Sinne noch keine Zuwendung. Die Quellenproblematik, vor allem das nahezu vollständige Fehlen von Selbstzeugnissen der Sklaven und Freigelassenen,56 bietet nur einen unzureichenden Grund. Wie die anglo-amerikanische oder auch die brasilianische Forschung zeigen, lassen sich trotzdem fruchtbare wissenschaftliche Ergebnisse er-
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wägung der französischen Sommerferienzeit eine Rolle. Auch der 23. Mai, Tag des Marsches der 40.000 in Paris 1998, schied aus. Bonniol, Jean-Luc, Les usages publics de la mémoire de l’esclavage colonial, in: Matériaux de l’histoire de notre temps 85 (2007), S. 14–21, hier S. 15; Desné/Dorigny, S. 13. Desné, Roland/Dorigny, Marcel, Présentation. Un homme, une œuvre, in: dies. (Anm. 2), S.13. Cottias, Myriam, Sur l’histoire et la mémoire de l’esclavage, in: Cité 25 (2006), S. 178–180, hier S.179. Desné/Dorigny (Anm. 49). Dorigny, Marcel, Traites négrières et esclavage. Les enjeux d’un livre récent, À propos d’un livre plébiscité par les médias: Les traites négrières d’Olivier Pétré-Grenouilleau, in: Hommes et Libertés, September 2005, hier zitiert nach: http://lmsi.net/article.php3?id_article=460. Trouillot, Michel-Rolph, Silencing the Past. Power and the Production of History, Boston 1995. Vergès (Anm. 4), S. 171. Vgl. Liauzu, Claude, L’histoire de la colonisation: pour quoi?, in ders./Gilles Manceron (Hrsg.), La colonisation, la loi, et l’histoire, Paris 2006, S. 91–98. Dazu Chauleau, Liliane, Quelle histoire possible de l’esclavage? Quelle parole de l’esclavage?, in: Rochmann (Anm. 23), S. 21–32.
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zielen. Frankreich ist dagegen im Rückstand, „notamment parce que l’histoire coloniale reste marginalisée“.57 In der schulischen Vermittlung spielten die Sklaverei und der Sklavenhandel bis heute ebenfalls so gut wie keine Rolle und waren bislang in Schulbüchern quasi inexistent.58 Liauzu konstatiert seit den 1960er Jahren sogar ein Verschwinden der Kolonialisierung und der „Dritten Welt“ aus dem Schulunterricht.59 Allerdings waren die Bemühungen der letzten zwanzig Jahre nicht erfolglos. Einen Aufbruch bedeutete der Arbeitskreis zur Erforschung der Zusammenhänge zwischen der Revolution in Frankreich und in den Kolonien am Institut de l’hisoire de la Révolution française (Paris 1) unter Michel Vovelle, der sich 1993 unter Yves Benot in die Association pour l’étude de la colonisation européenne 1750– 1850 (APECE) umwandelte. In den letzten zehn Jahren sind in Frankreich nicht wenige Dissertationen und andere Monografien zur Sklaverei-Thematik erschienen, außerdem zahlreiche Tagungsbände und Aufsätze. Weitere Impulse gehen vom CPME aus. Das Komitee hat die Gründung eines „laboratoire de recherches interdisciplinaire, intra-universitaire et à dimension européenne et comparative“ vorgeschlagen, daneben die Gründung eines „Centre national d’histoire et de mémoire“ sowie einen entsprechenden Forschungspreis.60 Auch in ersten Neuauflagen von Schulbüchern sowie in den Lehrplänen von 2002 für die école élémentaire sind erste Veränderungen sichtbar.61 Wenden wir uns damit wieder den Erinnerungsorten im öffentlichen Raum zu. Bereits in den achtziger und neunziger Jahren entstanden in den ehemaligen Kolonien, z.B. auf Guadeloupe, lokale Gedenkorte.62 Erst in jüngster Zeit zeichneten sich ähnliche Trends in Frankreich ab, insbesondere in den mit der traite négrière eng verbundenen Städten. Oft bildeten Gruppen afrikanischer oder westindischer Herkunft die Motoren der Entwicklung.63 Am 10. Mai 2006, als Frankreich zum 57 Vgl. Vergès (Anm. 46), S. 169. 58 Vereinzelt wurde das Thema in Schulbüchern vom Beginn des 20. Jahrhunderts erwähnt, vgl. Bonniol (Anm. 48), S. 16. Daneben Larcher (Anm. 19), S. 156. Eine kritische Analyse der Behandlung der Kolonialgeschichte in den aktuellen französischen Lehrplänen bietet Esclangon Morin, Valérie, Quelle histoire de la colonisation enseigner?, in: Liauzu/Manceron (Anm. 55), S. 99–110, hier S. 100–102. 59 Liauzu (Anm. 55), S. 95. 60 Vergès (Anm. 46), S. 169. 61 Mesnard, Éric, Quelques réflexions pour contribuer à l’enseignement de l’histoire de la traite et de l’esclavage des noirs dans les colonies françaises, in: Liauzu/Manceron (Anm. 55), S. 131–138. Für die Sekundarschulen stand dies, jedenfalls 2006, noch aus. 62 Bonniol, Jean-Luc, De la construction d’une mémoire historique aux figurations de la traite et de l’esclavage dans l’espace public antillais, in: ders./Maryline Crivello (Hrsg.), Façonner le passé. Représentations et cultures de l’histoire (XVIe-XXe siècles), Aix-en-Provence, 2004. Einen besonderen Aufschwung erfuhr dieses lokale Erinnern nochmals 1998. Nun entstanden vielerorts Monumente und Stelen, auch Straßennamen wurden als Träger der Erinnerung entdeckt. Vgl. Vergès (Anm. 19), S. 90. 63 Chivallon (Anm. 38), S. 569ff. Sie zeigt die Entwicklung dieser Gruppen seit deren Engagement zur Zweihundertjahrfeier 1989 zur Französischen Revolution nach. Im Verlauf der neunziger Jahre wurde nach ihrer Feststellung nur wenig Öffentlichkeit erreicht; das Bemühen um eine „mémoire officielle de la traite négrière“ wurde erst zur Jahrtausendwende intensiver und systematischer.
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ersten Mal den Gedenktag an Sklavenhandel, Sklaverei und Abolition beging, kündigte Chirac die Errichtung eines zentralen Denkmals in Paris an. Provisorisch im Jardin du Luxembourg eingeweiht wurde ein Kunstwerk von Léa de Saint-Julien, die aus Guadeloupe stammt. Die damals gewählte Gleichung „1794, 1848: la République, c’est l’abolition“ bewegte sich zwar noch sehr in traditionellen Bahnen.64 Zugleich aber wurde nun nicht mehr 1848 als „Stunde Null“ als geeigneter Weg zur erstrebten gesellschaftlichen Kohäsion empfohlen, sondern auch das Aufarbeiten der Schattenseiten der Vergangenheit.65 Genau ein Jahr später dann, am 10. Mai 2007, versuchte Chirac bei der Denkmalseinweihung, das Kapitel „Sklaverei“ wieder in die nationale Meistererzählung der Nation des droits de l’homme einzubinden, indem der Kampf gegen Menschenhandel und sklavereiähnliche Verhältnisse als Aufgabe Frankreichs definiert wurde. Es galt die befleckte Ehre wieder herzustellen: „l’honneur de la France, c’est d’être à la pointe de ce combat.“
Unter Verweis auf die loi Taubira ließ sich Frankreich wieder als Vorreiter in Sachen Menschenrechte präsentieren, denn es sei der erste Staat „à avoir reconnu que l’esclavage est un crime contre l’humanité“.66 Nicht auf das anfechtbare Beanspruchen des „ersten Platzes“ kommt es dabei an, vielmehr auf das erneute rheto64 http://www.lefigaro.fr/france/20060510.FIG000000010_la_france_s_essaie_a_celebrer_l_ abolition_de_l_esclavage.html. 65 Hier zitiert nach: Charaffoudine, Mohamed R. T., Chirac et Sarkozy face à l’histoire, in: Rahachiri l’actualité de mayotte, http://rahachirimayotte.oldiblog.com /? page=lastarticle&id=1413069. 66 http://www.assemblee-martinique.com/joomla/news-225/commemoration_de_labolition_de_l-esclavage__mm._chirac_et_sarkozy_cote_a_cote.html.
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rische Ausweichmanöver, das damit einherging und nicht unerkannt blieb. Der Fußballer Liliam Thuram, der bei der Einweihung des Denkmals zugegen war, kritisierte die entsprechende Haltung: „Notre pays vit dans le souvenir de la «Grande France». Cela veut dire qu’on n’a pas réalisé que cette grandeur reposait sur des massacres, sur la négation de l’autre, sur sa chosification ... Aujourd’hui, il y a urgence de déboucher sur quelque chose de plus intelligent ...“67
Während die Kritik an einer solchen, politisch motivierten Geschichtsdeutung nicht unberechtigt ist, weist das Denkmal im Jardin du Luxembourg als solches erinnerungspolitisch in die richtige Richtung, auch wenn derzeit noch nicht gesagt werden kann, ob es das Zeug zu einem häufig besuchten, von der Öffentlichkeit angenommenen Erinnerungsort hat. Durch das politisch-offizielle Festschreiben von Erinnerungs-Punkten wie dem 10. Mai im Kalender oder dem Denkmal im Jardin du Luxembourg sind jedenfalls die Chancen gestiegen, das Kapitel „Sklaverei“ zu einem lieu de mémoire zu machen. Daneben haben die descendants de l’esclavage durch die erreichte Öffentlichkeit weitere Erfolge erzielt. Denn es ist gelungen, diese Erinnerung mit der Diskussion über die gegenwärtige französische Gesellschaft zu verbinden und auf mehrere Forschungslücken aufmerksam zu machen: einmal auf den Sklavenhandel, die Sklaverei, die Abolition und PostAbolition, dann auf die aktuelle soziale Benachteiligung der „issus de l’immigation“, schließlich auf die historischen Kontinuitäten und Zusammenhänge beider Phänomene. Eine bessere historische Kenntnis und eine soziologische Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse sollten die Grundlage für politisch-juristische und gesellschaftlich-kulturelle Maßnahmen zum Abbau von Benachteiligungen bilden, wenn es darum geht, das Verfassungsideal der Gleichheit zu verwirklichen und nicht nur zu postulieren. Verfehlt ist es dagegen, die descendants de l’esclavage vorschnell unter communitarisme-Verdacht zu stellen oder wegen zunehmender Erinnerungs-Ansprüche gleich eine zum Gedenk-Bürgerkrieg ausartende Opferkonkurrenz zu beschwören.68 Dr. Sven Korzilius, Jurist und Historiker, Trier
67 Interview auf: http://www.liberation.fr/actualite/politiques/elections2007/250799.FR.php. 68 Auf diese Diskussionen kann hier nicht tiefer eingegangen werden. Siehe dazu ausführlicher demnächst Korzilius, Sven, Die Erinnerung an Sklaverei, Sklavenhandel und Abolition in der französischen Debatte, in einem von Dietmar Hüser herauszugebenen Sammelband.
QUAI BRANLY, PARIS, 7ÈME EIN ALGERIENKRIEGSDENKMAL UND (K)EIN ENDE DES GEDENKSTREITS? (DIETMAR HÜSER)
Dem aufmerksamen Spaziergänger, der im Schatten des Eiffelturms zwischen der Pont d‘Iéna und der Pont de l‘Alma die Seine entlang schlendert, kann es passieren, dass sein Blick recht unvermittelt auf drei eckige Säulen fällt. Ebenerdig in Reih und Glied gestellt, fast sechs Meter hoch und mit bunten elektronischen Lichtbändern versehen, die endlos von oben nach unten laufen, wirkt das Ensemble wie ein misslungenes Werbekonzept an einem ungeeigneten Ort. Erst wenn unser Flaneur auf dem engen rechteckigen Platz ein paar Schritte nach vorn wagt, auf dem Boden die eingravierten Zeilen entziffert, schließlich dicht und frontal vor den Säulen steht, erschließt sich, dass es sich doch um etwas anderes handeln muss. Um einen Ort, der Geschichtsträchtiges ausstrahlt. Ein modernes Ehrenmal: durch das Gedenken an Kriegsopfer mit der Ewigkeit verbunden, zugleich durch modernste Technologie in der Gegenwart verortet.
Das Algerienkriegsdenkmal am Quai Branly1
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http://paris.7.evous.fr/Monument-national-de-la-guerre-d,938.html [14.1.08]
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WER SUCHET, DER FINDET EIN DENKMAL ... Außen rechts, fast über die gesamte Länge der rechten Säule, findet sich ein präzisierender Schriftzug: „MÉMORIAL NATIONAL DE LA GUERRE D’ALGÉRIE (1952–1962)“ heißt es dort in hohen Lettern, dann etwas kleiner darunter: „ET DES COMBATS DU MAROC ET DE LA TUNISIE“. Die Bodentafel nennt die Opfer beim Namen: „À LA MÉMOIRE DES COMBATTANTS MORTS POUR LA FRANCE LORS DE LA GUERRE D’ALGÉRIE ET DES COMBATS DU MAROC ET DE LA TUNISIE ET À CELLE DE TOUS LES MEMBRES DES FORCES SUPPLÉTIVES, TUÉS APRÈS LE CESSEZ-DE-FEU EN ALGÉRIE, DONT BEAUCOUP N'ONT PAS ÉTÉ IDENTIFIÉS“. Auf einer flachen, oben angeschrägten Stele links neben den Säulen wird der zivilen Opfer gedacht: „La nation associe les personnes disparues et les populations civiles victimes de massacres ou d’exactions commises durant la guerre d’Algérie et après le 19 mars 1962 en violation des accords d’Évian, ainsi que les victimes des combats du Maroc et de la Tunisie, à l’hommage rendu aux combattants morts pour la France en Afrique du Nord“. Doch zurück zu den Säulen. Die Lichtbänder in der Endlosschleife liefern dem Passanten die letzen Mosaiksteinchen für ein Gesamtbild des Denkmals. Chronologisch und alphabetisch geordnet läuft auf der linken Säule eine unvollständige, aber ergänzbare Namensliste ab: knapp 23 Tausend gefallene französische Soldaten und deren algerische „Hilfskräfte“, die sog. „harkis“. Auch bei der rechten handelt es sich um eine „Opfersäule“, in diesem Fall mit interaktivem Charakter. Über ein Tastenfeld auf einem etwas nach hinten versetzten Sockel besteht die Möglichkeit, den Namen eines bestimmten Toten einzugeben, der sodann auf dem Lichtband erscheint. Die Mitte bleibt einer „Infosäule“ vorbehalten. Schlagwortartig laufen zentrale Ereignisse aus der Zeit des Algerienkrieges ab, Daten und andere Materialien werden präsentiert, z. B. die Anzahl involvierter Wehrpflichtiger, Reservisten, Berufsmilitärs und „Hilfskräfte“. Historisches Grundwissen soll das Damals im Heute präsent halten und den Kolonialkonflikt einordnen helfen. Ein Zentralrechner im Verteidigungsministerium speist die Informationen ein, kann bei Bedarf Neues hinzufügen und Veraltetes löschen. Dass die Lichtbänder in „bleu-blanc-rouge“ gehalten sind, darf niemanden wundern. Als „MÉMORIAL NATIONAL“ fungiert das Monument. Es geht um nationales Gedenken der einen und unteilbaren französischen Republik an den Entkolonialisierungsprozess in Nordafrika und besonders in Algerien. Seit nunmehr fünf Jahren hat es seinen Platz am Pariser Quai Branly und damit im nationalen Gedenkkalender. Die Initiative ging vom Staat aus. Höchstpersönlich weihte der damalige Präsident Jacques Chirac das Denkmal am 5. Dezember 2002 ein und sprach ausdrücklich von einer „devoir de mémoire“, der sich Frankreich und die Republik vollends zu stellen habe.2 Es handelte sich um den bisherigen Höhepunkt offizieller Versuche einer Konsensstiftung in Algerienkriegsfragen. Ziel war, vier Jahrzehnte nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzung eine 2
Vgl. Chambon, Frédéric, A Paris, M. Chirac rend hommage aux „soldats d’Afrique du Nord“, in: Le Monde, 7.12.02.
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solche Stätte überhaupt erst zu schaffen und damit die disparaten Erinnerungsbrocken in kollektives nationales Gedenken zu überführen. Ein heikles Unterfangen, schien sich doch die langjährige schmerzhafte Fehde in Nordafrika nur sehr bedingt dafür zu eignen. KOLLEKTIVES KRIEGSBESCHWEIGEN Denn in Erinnerungsfragen ähnelt der Algerienkrieg mehr dem Zweiten als dem Ersten Weltkrieg. Anders als Indochina, ein Konflikt außer Reichweite, ohne Wehrpflichtige und massenhafte Anteilnahme, reiht sich Algerien ein in die „guerres franco-françaises“, die das Land eher spalten als einen. Vergangenheitsbewältigung fand nicht statt. Jedenfalls nicht von offizieller Seite. Das erklärt die generösen Amnestiegesetze, nach 1962 noch rascher auf den Weg gebracht als nach 1944/45, die rigiden Zensurmaßnahmen in Radio und Fernsehen. In den Lehrplänen für die Schulen kam der Algerienkrieg nicht vor und die Archive blieben den Forschern versperrt. Bis weit in die frühen 1990er Jahre prägte das staatliche Vergessen und Verdrängen das politische Klima. Der Algerienkrieg wurde kein Thema öffentlicher Debatten.3 Erschwerend kam hinzu, dass konkrete Anknüpfungspunkte für ein kollektives Gedenken fehlten. Kein konsensfähiger Held wie Jean Moulin, keine mythenträchtigen Schlachten wie Bir-Hakeim weit und breit. Es gab keine unumstrittene Chronologie, kein präzise zu datierendes Kriegsende, lange nicht einmal eine angemessene Sprache, nur „Ereignisse“, „Befriedung“ oder „Operationen“. Und es fehlte an einer sinnstiftenden Botschaft. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich diese Niederlage kaum noch in einen Erfolg, geschweige denn in einen einheitsstiftenden Mythos ummünzen. Mehr als eine nationale markierte der Algerienkrieg eine gruppenspezifische oder eine generationelle Identitätskrise. Die meisten Menschen in der Metropole erlebten den Konflikt weniger als Trauma denn als Anachronismus und Hemmschuh für das lang ersehnte Eintreten in die kriegsfreie Konsumgesellschaft der „trente glorieuses“.4 Nicht nur Staat und Gesellschaft taten sich schwer im Umgang mit dem kolonialen Gestern in Nordafrika. Auch unter den besonders betroffenen Großgruppen erwies sich ein Erinnerungskonsens als chancenlos. Viel zu unterschiedlich waren die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen, politisch zu fragmentiert die involvierten Kräfte selbst, zu tief die Gräben und zu groß die Streitlust zwischen den einzelnen Verbänden. Gedächtnisunternehmer im Sinne von Halbwachs brachten im Nachhinein weder die damals eingesetzten Wehrpflichtigen und Reservisten hervor, noch die in Algerien lebenden Franzosen, die sog. „pieds-noirs“, oder die erwähnten „harkis“. Niemand verfügte über ein Konzept, das individuelle Lebenserfahrungen gebündelt, versachlicht und an das gruppenspezifische Milieu rückge3 4
Dazu schon Grosser, Alfred, Le crime et la mémoire, Paris (Flammarion) 1990, S.173–184. Vgl. Jean-Pierre Rioux (Hrsg.), La guerre d’Algérie et les Français, Paris 1990, v.a. ders., La flamme et les bûchers, in: ebd., S.497–508; Frank, Robert, Les troubles de la mémoire française, in: ebd., S.603–607.
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koppelt hätte. Übrig blieb ein buntes Mosaik aus kaum zusammenpassenden Erinnerungssteinchen.5 EIGENSINNIGE OPFERGESCHICHTEN Gedenken an den Algerienkrieg: Das meinte jedenfalls kein nationales, bestenfalls gruppenspezifisches Gedenken nach dem Motto „à chacun son histoire oubliée“6. Als besonders strittig sollte sich seit Kriegsende die Datumsfrage erweisen. Neben dem seit 1922 als Gedenk- und Feiertag etablierten 11. November standen vor allem der 16. Oktober und der 19. März zur Debatte. Der 16. Oktober bezog sich auf das Jahr 1977, als Vertreter der „anciens combattants“ gemeinsam mit Staatspräsident Giscard d’Estaing die sterblichen Überreste eines unbekannten Soldaten aus dem Algerienkonflikt in Notre-Dame-de-Lorette bei Amiens bestatteten. Der 19. März betraf den Waffenstillstand 1962. Einen militärischen Akt, am besten dazu angetan – wie Befürworter betonten – dem Kriegsende und der Toten zu gedenken. Andere, häufig stramm rechts orientierte Veteranenverbände wie auch „pied-noir-“ und „harki“-Vertretungen lehnten das Datum entschieden ab: als Tag einer Niederlage, mehr noch als Schande und Betrug. Eine regelrechte „Gedenktagsguerilla“ entwickelte sich vielerorts. Immer wieder kam es zu Störungen der Pariser 19. März-Zeremonien auf den Champs-Elysées. Mehr denn je prägten Zwistigkeiten das Erinnern an den Krieg, und dies bis hinein in die lokalen Erinnerungsräume überall im Hexagon.7 Dies umso mehr, als sich bald ganz andere Stimmen in die Debatte einzumischen begannen. Migrantenkinder algerischer, manchmal auch anderer „kolonialer“ Herkunft ergriffen das Wort und stellten einen Zusammenhang her zwischen latenter Xenophobie in lebensweltlich spürbarer wie parteipolitisch verfestigter Form und unverdauten Algerien- und Kolonialerfahrungen der Franzosen.8 Der Tabubruch begann in der populären Musikszene und er zwang zur Änderung der schulischen Lehrpläne. Einen eigenen Gedenktag zu finden, war ein Leichtes: den 17. Oktober, im Jahre 1961, der Tag des Pariser Protestmarsches tausender Algerier, bei dem mehr als zehntausend Menschen festgesetzt und malträtiert worden waren, und bei dem Dutzende, wenn nicht mehr, durch polizeiliche Übergriffe den Tod fanden. Wieder eine neue Gedenkbaustelle, die es erschweren musste, zersplittertes Erinnern in nationalen Gleichklang zu überführen. Denn dass der 17. Oktober keine konsensstiftende Alternative zum 19. März oder zum 16. Oktober darstellte und die 5 6 7 8
Ausführlich Hüser, Dietmar, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen in Frankreich – Vom zersplitterten Gedenken an den Algerienkrieg seit 1962, in: Frankreich-Jahrbuch 13 (2000) S.107–128. Vgl. Branche, Raphaëlle, La guerre d’Algérie. Une histoire apaisée?, Paris 2005, S.55. Vgl. Mauss-Copeaux, Claire, Appelés en Algérie. La parole confisquée, Paris 1998, S.48. Dazu nun Stora, Benjamin, Le transfert d’une mémoire. De „l’Algérie française“ au racisme anti-arabe, Paris 1999, S.77–82, 103–119; Liauzu, Claude, Mémoires croisées de la guerre d'Algérie, in: Anny Dayan Rosenman/Lucette Valensi (Hrsg.), La guerre d’Algérie dans la mémoire et l’imaginaire, Saint-Denis 2004, S.161–172 (165ff.).
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Kontroversen um einen gemeinsamen Gedenktag für alle zusätzlich erschwerte, das stand von vornherein außer Frage: Für Veteranen, „pieds-noirs“ und „harkis“ war es unmöglich, sich in dem Ereignis wiederzufinden. Um die Einwandererfamilien sollte es gehen, um das offizielle Anerkennen staatlicher Verantwortung für die damaligen Untaten und – in einem weiteren Sinne – für koloniale Verbrechen im Namen der Französischen Republik. GENERALISIERTE GEDÄCHTNISKONJUNKTUR Der Streit um einen Erinnerungstag für den Algerienkrieg fiel in eine ohnehin schon schwierige Zeit für das kollektive Gedenken. An die Stelle des lange unantastbaren Kanons der französischen Nationalgeschichte trat in den 1980er und 1990er Jahren ein deutlich offenerer und kritischerer Umgang mit der französischen Geschichte. Konkurrierende Geschichtsbilder fanden Gehör und verdrängten summarische Entwürfe „patriotischen Gedenkens“. Die Geschichte als Kollektivsingular schien in einen Plural von Geschichten zu zerfallen, die jeweils eigenen Logiken gehorchten und beanspruchten, mit gleichem Recht im öffentlichen Raum präsent zu sein und erzählt zu werden. Bislang verschüttete Aspekte des historischen Geschehens traten zutage und schufen Raum für breit gefächerte Opfer- und Minderheitengedächtnisse, die nun das eigene Erinnern, die eigenen Erfahrungen in den Vordergrund rückten. Ihnen half die neue „Gedächtniskonjunktur“9, das erwachte Interesse an der Geschichte und das Fragen nach den Ursprüngen der Gegenwart. Politisch war das gemeint, nicht geschichtswissenschaftlich, und deshalb musste die Öffentlichkeit darauf öffentlich reagieren, mit Jubiläen, Erinnerungsfeierlichkeiten usw. Eine hochmediatisierte und kommerzialisierte Jubiläumskultur entstand, die Gedenken zur Pflicht erklärte, das Gestern als Ware nutzte und die Grenzen zwischen Erklären, Erinnern und Erheitern verflüssigte.10 Die langen 1990er Jahre mit der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution dürfen wohl als Hochzeit dieser Entwicklung gelten, die bis zur Stunde andauert. Neuerlich verstärkte sich der Rückgriff auf die Geschichte. Erst recht ging das Institutionalisieren des Gedenkens unaufhörlich seinen Gang, mit weiteren Museen und Ausstellungen, mit zusätzlichen Gedenk-Orten und Gedenk-Zeiten. Nur als Spitze des Eisbergs erscheint die mittlerweile kaum mehr einzudämmende Flut imposanter Veranstaltungen offizieller Art. Für das Erinnern an den Algerienkrieg zeitigten der Geschichtsboom und die Kritik am überlieferten Nationsbild mehrere Konsequenzen: ein stures Beharren auf die eigene, die einzig korrekte Sicht der Dinge bei den einzelnen Opfergruppen; ein sprunghaft ansteigendes mediales und öffentliches Interesse an mehr oder weniger Neuem zu einem kolonialen Trauma und Tabu; eine staatliche Kehrtwen-
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Vgl. Nora, Pierre, Gedächtniskonjunktur, in: Transit – Europäische Revue n°22 (2002), hier zit. nach www.iwm.at/t-22txt7.htm [14.1.08]. 10 Vgl. Rousso, Henry, La hantise du passé. Entretien avec Philippe Petit, Paris 1998, S.35ff.
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de, weg vom Vergessen und Verdrängen des Krieges, hin zum kontrollierten Behandeln und Bewältigen.11 ÖFFENTLICHER AUFMERKSAMKEITSSCHUB 1990 kehrte der „Algerienkrieg“ ins Bewusstsein Frankreichs zurück. Während staatliche Aktivitäten darauf abzielten, aus dem Flickenteppich schlecht vernähter Erinnerungsfetzen einen passenden Anzug nationalen Gedenkens zu schneidern, ging es zivilgesellschaftlich wie massenmedial überhaupt erst einmal darum, dem Thema höheren Stellenwert und breitere Resonanz zu verleihen. Bedeutsam für den Weg vom „Geschwür und Vergessen“ des Algerienkrieges zum „Ende des Gedächtnisschwundes“12 war der 30. Jahrestag des Kriegsendes 1992. Anders als zuvor bestand an öffentlicher und medialer Nachfrage kein Mangel. Erstmals gelang es, den Algerienkrieg in den öffentlichen Raum kritisch einzubringen. Damals, noch im Schatten leidenschaftlicher Vichy-Debatten, entwickelte das Thema mehr und mehr Eigendynamik. Die Geschichtswissenschaft stellte sich der Herausforderung nicht nur mit Arbeiten zur Erinnerungskultur, sondern auch mit quellengesättigten Studien zu strittigen Kernpunkten des Krieges.13 Nach und nach war der Zugang zu den Archiven erweitert worden. Das zahlte sich jetzt aus. Die Medien entdeckten das Thema und brachten es mit ganz anderen Themen in Zusammenhang: Islamismus, Republik, Laizität, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Immigration, Integration und „la France au pluriel“; der Prozess gegen Maurice Papon 1997/98 ließ das französische Trauma erneut wach werden, dazu kamen Schilderungen von Folteropfern und die Bekenntnisse französischer Generäle. Jeden Staatsbesuch in Frankreich und Algerien begleiteten die Medien mit einer ausführlichen Berichterstattung.14 Auf der Ebene der Veteranenverbände verjüngten sich die Vorstandsetagen, sukzessive lösten ehemalige Nordafrikakämpfer diejenigen aus dem Zweiten Weltkrieg ab. Die jenseits des Mittelmeers ausgetragenen Konflikte gewannen an Gewicht und an Sichtbarkeit. Algerienveteranen in der Führungsspitze der Verbände, das meinte zugleich einen veränderten Politikstil und einen unmittelbareren Zugang zur „Großen Politik“, zu Regierenden und Mandatsträgern auf allen Ebenen des politischen Lebens. Denn auch dort hatte der Generationswechsel sei11 Aspekte des Umbruchs beleuchtet nun Christiane Kohser-Spohn/Frank Renken (Hrsg.), Trauma Algerienkrieg – Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Frankfurt/ New York 2006. 12 Vgl. zwei Buchtitel, die in erinnerungskultureller Perspektive zentrale Pflöcke dieses Weges markieren: Stora, Benjamin, La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie, Paris 1991; Benjamin Stora/Mohammed Harbi (Hrsg.), La guerre d’Algérie 1954–2004. La fin de l’amnésie, Paris 2004. 13 Dazu die „Chronologie de l’écriture de l’histoire de la guerre“ bei Branche (Anm. 6), S.393– 405. 14 Dazu Stora, Benjamin, 1999–2003 – Guerre d’Algérie. Les accélérations de la mémoire, in: ders./Harbi, La guerre d’Algérie 1954–2004, S.501–514, a.i.f.
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ne Folgen gezeitigt, ehemalige Kriegsteilnehmer bekleideten nunmehr höchste Staatsämter, standen an der Spitze politischer Parteien, besetzten zu Dutzenden die Parlamentsbänke beider Kammern. STAATLICHE KONSENSMÜHEN Dass seit Mitte der 1990er Jahre manch wichtiger Impuls für eine konsensuelle Geschichte und ein nationales Gedenken von staatlicher Seite ausging, überrascht deshalb kaum. Jacques Chirac, gerade ins höchste Staatsamt gewählt, empfand die Pflege der „mémoire nationale“ als Privileg und Pflicht zugleich. Nachdem der Präsident mit seiner Vel’d’hiv-Rede am 16. Juli 1995 versucht hatte, den VichyQuerelen seiner Vorgängergeneration beizukommen, ging er zügig daran, die Wunden seiner eigenen Generation, des Algerienkrieges, zu heilen. Chirac war es, der bereits im September 1996 in der symbolträchtigen Begriffsfrage dafür warb, die französische Amtssprache in Einklang mit der Alltagssprache zu bringen. Deputierte und Senatoren zogen nach und verabschiedeten im Juni bzw. Oktober 1999 einstimmig ein Gesetz, das künftig die Wortwahl „Algerienkrieg“ in offiziellen Texten vorschrieb. Bis dahin hatte die Administration nur schönfärberisch von „Ereignissen in Nordafrika“ oder von „Operationen zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung“ sprechen dürfen. Vordergründig zumindest schien es, als habe Frankreich einen Weg gefunden, um mit der Last der Vergangenheit umzugehen. Selbst bei der Frage, wann des Algerienkrieges gedenkt werden solle, deutete sich ein Kompromiss an. Der Auseinandersetzungen zwischen den Verbänden überdrüssig, hatten die regierenden Sozialisten zunächst ganz darauf verzichten wollen, einvernehmlich ein Datum festzulegen. Amtsträger beteiligten sich künftig gleichermaßen sowohl an den Veranstaltungen des 19. März wie an denen des 16. Oktober. Als mit Blick auf den 40. Jahrestag des Waffenstillstandes die damalige Linksregierung dann doch noch ein Gesetzesvorhaben präsentierte, das den 19. März als nationalen Gedenktag in Aussicht nahm, verfehlte es deutlich den angestrebten parteiübergreifenden Rückhalt in der Nationalversammlung. Die knappe Mehrheit von 75 Stimmen machte ebenso wenig Mut für das weitere parlamentarische Verfahren wie die harschen Wortgefechte im Palais Bourbon. Die Vorlage wanderte zurück in die Schublade, eine Diskussion und Abstimmung im Senat war damit obsolet. Nicht nur zwischen den Verbänden, auch in der „Großen Politik“ stieß eine einhellige Grundhaltung in der Gedenktagsfrage rasch an enge Grenzen. Nach jahrelangen Konsensfindungsmühen war der erste Anlauf gescheitert, den Streit per Gesetz beizulegen.15 Der nächste Versuch oblag Staatspräsident Chirac selbst. Das Einweihen des Nationalen Algerienkriegsdenkmals am Quai Branly Ende 2002 ließ sich problemlos einreihen in die vergangenheitspolitischen Ansinnen des französischen 15 Dazu Renken, Frank, Die neue Debatte um den Algerienkrieg. Oder: Von der Unmöglichkeit nationaler Aussöhnung, in: Grenzgänge – Beiträge zur modernen Romanistik 9 (2002) S.102– 116 (115f.).
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Staates, den Konsens zu diktieren: mit dem Quai Branly als Ort, vor allem mit dem 5. Dezember als Datum. Dies unterstrich jedenfalls die genau ein Jahr später begangene „journée commémorative“ im Beisein höchster Regierungsvertreter bis hin zu Premierminister Jean-Pierre Raffarin. Eine Erinnerungsfeier, die fortan jährlich an diesem Tag stattfinden sollte. Ganz so, wie es zwischenzeitlich eine Kommission unter Vorsitz des Mediävisten und ehemaligen Leiters der Nationalarchive Jean Favier empfohlen hatte. Nicht etwa einer der seit Jahren und Jahrzehnten im Raum stehenden, kontrovers diskutierten Vorschläge für einen nationalen Gedenktag fand Berücksichtigung. Stattdessen der 5. Dezember, regierungsamtlich festgelegt, per Dekret erlassen.16 Dass dem 5. Dezember dauerhaft „Erfolg“ beschieden sein wird, darauf lassen die Reaktionen auf das Erinnerungsdebut 2002/2003 kaum schließen. Fest steht: Kulturelle Praxis blieb auch im neuen Jahrtausend ein zersplittertes Erinnern an den Algerienkrieg. Und selbst manch staatliches Unterfangen – so löblich es nach all dem Beschweigen und Beschönigen seit 1962 sein mochte – konnte nicht konsequent in Richtung eines nationalen Gedenkens weisen: zu komplex die historische Realität, zu legitim auch die gruppenspezifischen Bedürfnisse, zu einhellig mittlerweile die dominanten Diskurse, die solche Anliegen unterstützten. Nichts belegt dies besser als das Einrichten einer speziellen „journée nationale d’hommage aux harkis“, die seit 2001 jährlich am 25. September begangen wird. Andere Gedenkaktivitäten lagen im Trend, erwiesen einzelnen Persönlichkeiten oder kleineren Personengruppen die Ehre, die erinnerungskulturell bislang nur in bestimmten Milieus eine Rolle spielten, nun aber als Betroffene finsterer Zeiten und furchtbarer Taten ins Rampenlicht rückten. PARISER QUERSCHÜSSE Gerade der Pariser Stadtrat und sein sozialistischer Bürgermeister Bertrand Delanoë haben sich in den letzten Jahren beim Aufbau einer Erinnerungslandschaft in der französischen Hauptstadt hervorgetan. Dazu zählt der Place Maurice Audin, 2004 im V. Arrondissement eingeweiht, einem jungen Antikolonialisten gewidmet, den französische Militärs 1957 verhaftet, gefoltert und umgebracht hatten.17 Sein Körper war nie mehr aufgetaucht, nach offizieller Lesart hatte der damals 25–jährige eine Jeepfahrt zur Flucht genutzt. Dann der Place du 8 février 1962 im XI. Arrondissement in der Nähe der Metrostation Charonne, Symbol der Algerienkriegserinnerung der Linken, wo im U-Bahnschacht am 8. Februar 1962 nach brutaler Polizeiintervention neun Menschen während einer Anti-Kriegsdemonstration zu Tode gedrückt worden waren.18 Nicht zu vergessen der Carrefour Général Jacques Pâris de Bollardière, ganz in der Nähe der École Militaire, zu Ehren des 16 Vgl. Bernard, Philippe, Le 5 décembre devient journée nationale d’hommage aux morts d’Afrique du Nord, in: Le Monde, 19.09.03. 17 Vgl. Garin, Christine, Quelques tortures après – L’hommage à Maurice Audin, in: Le Monde, 29.5.04. 18 Vgl. Moussaoui, Rosa, Une place à la mémoire des martyres de Charonne, in: L’Humanité, 8.2.07.
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einzigen hochrangigen Militärs, der sich im Algerienkrieg von Beginn an offen gegen die Folterpraktiken ausgesprochen hatte, seines Postens enthoben und zu 60 Tagen Haft verurteilt worden war.19 Auch in der Gedenktagsfrage hat die linke Mehrheit im Pariser Stadtrat seit 2001 eine offensive Vergangenheitspolitik betrieben, die in mancherlei Hinsicht quer liegt zu den Bestrebungen des französischen Staates. Ausdrücklich richtete sich das Einweihen des Place du 19 mars 1962 im Jahre 2004 gegen ein Datum „von oben“, das – wie der 5. Dezember seit 2002/2003 – ohne jedweden Bezug zu den Kriegsereignissen selbst war.20 Die Ortswahl fiel in Absprache mit der Fédération Nationale des Anciens Combattants en Algérie, Tunisie et Maroc auf einen Platz gut 200 Meter nordöstlich vom Gare de Lyon, für zehntausende junge Wehrpflichtige und Reservisten zentraler Ausgangspunkt eines Kriegseinsatzes, der über Marseille nach Algerien weiterführte. Schon knapp drei Jahre zuvor war der 17. Oktober 1961 in Paris zu seinem „Gedenkrecht“ gekommen, während ein solcher Akt auf staatlicher Ebene noch aussteht und es dort auch künftig schwer haben wird. Das Anbringen einer Plakette zu Ehren der damals umgekommenen algerischen Arbeiter durch Bürgermeister Delanoë am 17. Oktober 2001 auf dem Pariser Pont-Saint-Michel traf keineswegs auf einhellige Zustimmung. Rechtsextreme, aber auch einige gaullistische und liberale Politiker reagierten mit heftigen Protesten.21 Deutlich wird, dass zwar die politische Debatte in Bewegung geraten ist und vergangenheitspolitische Anstrengungen des französischen Staates nicht zu leugnen sind. Kollektive Gedächtnisorte sind aber nur mit Mühe zu finden, von Gedächtniszeiten ganz zu schweigen. Denn gerade die Aussichtslosigkeit, ein für alle akzeptables Datum im Erinnerungskalender zu bestimmen: 19. März? 16. Oktober? 17. Oktober? 5. Dezember?, offenbart die hohen Hürden auf dem Weg vom privaten Schmerz zum kollektiven Gedenken. Dass sich die Kräfte, die den Algerienkrieg bewusst erlebten und maßgeblich die Folgen zu tragen hatten, auch künftig eher als Nur-Opfer denn als Auch-Akteure begreifen, lässt sich absehen. Vielfach fehlen Kraft und Wille, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, damaliges Handeln und Leid in größere Zusammenhänge einzuordnen. Und vielfach hat sich über die Jahre das eigene Opfersein zur wichtigsten Grundlage der eigenen Identität entwickelt. Womöglich obliegt es erst den Nachgeborenen und damit der Generation nach Chirac, im Gedenken an den Algerienkrieg über vordergründige Ökumene hinaus für mehr Klarheit zu sorgen. Vielleicht aber bleibt der ehemalige „Krieg ohne Namen“ kollektiv schlicht immemorabel und bestätigt damit, dass es künftig mehr noch als früher ein doppeltes Spannungsverhältnis auszuhalten und produktiv um19 Vgl. die Meldung „Un carrefour Général-de-Bollardière inauguré à Paris“, in: Le Monde, 1.12.07. 20 Vgl. Zappi, Sylvia, Polémique à Paris autour de la „place-du-19–mars-1962“ dédiée aux morts d’Algérie, in: Le Monde, 22.4.04. 21 Vgl. Bernard, Philippe/Garin, Christine, Le massacre du 17 octobre 1961 obtient un début de reconnaissance officielle, in: Le Monde, 17.10.01; Bozonnet, Jean-Jacques/Garin, Christine, Les controverses politiques sur la guerre d’Algérie marquent la commémoration du 17 octobre 1961, in: Le Monde, 19.10.01.
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zuwerten gilt: das zwischen Nationalgeschichte und Pluralgeschichten auf der einen Seite, das zwischen nationalem Konsensgedenken staatlicher Stellen und einem generations-, milieu- oder gruppenspezifischen Gedenken auf der anderen.22 WER FINDET, DER SUCHET EINE BOTSCHAFT ... Ein Besuch am Nationalen Algerienkriegsdenkmal kann helfen, sich ein konkretes Bild zu machen, ob wir es eher mit staatlicher Hilflosigkeit, grenzenloser Naivität oder vergangenheitspolitischer Interessendurchsetzung zu tun haben. Wofür steht es? Wer soll es sich aneignen? Was soll es vermitteln? Noch dazu gekoppelt an einen 5. Dezember, der für niemanden unter den Betroffenen auch nur die geringste lebensweltliche Relevanz besitzt. Da das Ereignis selbst nichts Einheitsstiftendes hergibt, da ein fast acht Jahre währender Kolonialkrieg keinen Anknüpfungspunkt bietet für kollektives Gedenken der französischen Nation zu einem allseits akzeptierten Zeitpunkt, zaubert die „Große Politik“ einen Termin aus dem Hut, der für sämtliche Betroffenen gleichermaßen ein „historisches Undatum“23 darstellt. Staatliches Erfinden von Tradition? Oder doch eher eine vergangenheitspolitische Realsatire? Der Ort, das Nationale Algerienkriegsdenkmal am Pariser Quai Branly, und der Tag, der 5. Dezember, mögen in den kommenden Jahren für die „journée commémorative“ feststehen. Doch nationaler Konsens durch staatlichen Oktoy: Das dürfte sich auch für die nähere Zukunft als utopisch erweisen. Bislang sind noch an jedem 5. Dezember seit dem Einweihen der Gedenkstätte vor gut fünf Jahren heftigste Zwischenrufe verschiedenster Seiten laut geworden, die das ganze Ausmaß der Wut und Kritik offenbaren und Zweifel daran nähren, dass der Algerienkrieg jemals für eine einheitsträchtige Botschaft taugt. Ein kollektives Gedenken an alle Toten der Konflikte in Nordafrika zu gewährleisten, das einerseits jedem Opfer einen Sinn gibt und die ganze Nation eint, das andererseits davon absieht, Mitverantwortung für Vergangenes und Mithaftung für Zukünftiges dieser wie jener Akteure zu vernebeln, das wird wohl auch mittelfristig am Quai Branly kaum gelingen. Gerade deshalb sollte es der „Tour de France“ ein Etappenziel wert sein. Prof. Dr. Dietmar Hüser, Professor für die Geschichte Westeuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Historisches Institut, Universität Kassel
22 Allgemein Nora, Pierre, Commémorer, in: Jean-Pierre Bacot (Hrsg.), Travail de mémoire 1914–1998. Une nécessité dans un siècle de violence, Paris 1999, S.147–149. 23 Vgl. Renken, Frank, Frankreich im Schatten des Algerienkrieges. Die Fünfte Republik und die Erinnerung an den letzten großen Kolonialkonflikt, Göttingen 2006, S.321.
DIE ERFINDUNG DES MONARCHISCHEN PRINZIPS JACQUES-CLAUDE BEUGNOTS PRÄAMBEL ZUR CHARTE CONSTITUTIONNELLE (VOLKER SELLIN)
I. LOUIS, par la grâce de Dieu, ROI DE FRANCE ET DE NAVARRE, A tous ceux qui ces présentes verront, SALUT.1 II. La divine Providence, en nous rappelant dans nos États après une longue absence, nous a imposé de grandes obligations. La paix était le premier besoin de nos sujets: nous nous en sommes occupés sans relâche; et cette paix si nécessaire à la France comme au reste de l’Europe, est signée. Une charte constitutionnelle était sollicitée par l’état actuel du royaume; nous l’avons promise, et nous la publions. Nous avons considéré que, bien que l’autorité toute entière résidât en France dans la personne du Roi, nos prédécesseurs n’avaient point hésité à en modifier l’exercice, suivant la différence des temps; que c’est ainsi que les communes ont dû leur affranchissement à Louis-le-Gros, la confirmation et l’extension de leurs droits à SaintLouis et à Philippe-le-Bel; que l’ordre judiciaire a été établi et développé par les lois de Louis XI, de Henri II et de Charles IX; enfin, que Louis XIV a réglé presque toutes les parties de l’administration publique par différentes ordonnances, dont rien encore n’avait surpassé la sagesse. III. Nous avons dû, à l’exemple des Rois nos prédécesseurs, apprécier les effets des progrès toujours croissans des lumières, les rapports nouveaux que ces progrès ont introduits dans la société, la direction imprimée aux esprits depuis un demi-siècle, et les graves altérations, qui en sont résultées: nous avons reconnu que le vœu de nos sujets pour une charte constitutionnelle était l’expression d’un besoin réel; mais en cédant à ce vœu, nous avons pris toutes les précautions pour que cette charte fût digne de nous et du peuple auquel nous sommes fiers de commander. Des hommes sages, pris dans les premiers corps de l’État, se sont réunis à des commissaires de notre Conseil, pour travailler à cet important ouvrage. IV. En même temps que nous reconnaissions, qu’une constitution libre et monarchique devait remplir l’attente de l’Europe éclairée, nous avons dû nous souvenir aussi que notre premier devoir envers nos peuples était de conserver, pour leur propre intérêt, les droits et les prérogatives de notre couronne. Nous avons espéré qu’instruits par l’expérience, ils seraient convaincus que l’autorité suprême peut seule donner aux institutions qu’elle établit, la force, la permanence et la majesté dont elle est elle-même revêtue; qu’ainsi, lorsque la sagesse des rois s’accorde librement avec le vœu des peuples, une charte constitutionnelle peut être de longue durée; mais que, quand la violence arrache des concessions à la faiblesse du Gouvernement, la liberté publique n’est pas moins en danger que le trône même. Nous avons enfin cherché les principes de la charte constitutionnelle dans le caractère français, et dans les monumens vénérables des siècles passés. Ainsi, nous avons vu dans le renouvellement de la pairie une institution vraiment nationale, et qui doit lier tous les souvenirs à toutes les espérances, en réunissant les temps anciens et les temps modernes.
1
Text der Präambel nach: Bulletin des Lois du Royaume de France, 5.e série, t. 1, no. 17/133 (1814), S. 197–199. – Die römischen Ziffern zu Beginn jedes Absatzes wurden zur Erleichterung der Orientierung hinzugefügt.
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Volker Sellin V. Nous avons remplacé, par la chambre des députés, ces anciennes assemblées des Champs de Mars et de Mai, et ces chambres du tiers-état, qui ont si souvent donné tout-à-la-fois des preuves de zèle pour les intérêts du peuple, de fidélité et de respect pour l’autorité des rois. En cherchant ainsi à renouer la chaîne des temps, que de funestes écarts avaient interrompue, nous avons effacé de notre souvenir, comme nous voudrions qu’on pût les effacer de l’histoire, tous les maux qui ont affligé la patrie durant notre absence. Heureux de nous retrouver au sein de la grande famille, nous n’avons su répondre à l’amour dont nous recevons tant de témoignages, qu’en prononçant des paroles de paix et de consolation. Le vœu le plus cher à notre cœur, c’est que tous les Français vivent en frères, et que jamais aucun souvenir amer ne trouble la sécurité qui doit suivre l’acte solennel, que nous leur accordons aujourd’hui. VI. Sûrs de nos intentions, forts de notre conscience, nous nous engageons, devant l’assemblée qui nous écoute, à être fidèles à cette charte constitutionnelle, nous réservant d’en jurer le maintien, avec une nouvelle solennité, devant les autels de celui qui pèse dans la même balance les rois et les nations. VII. A CES CAUSES, NOUS AVONS volontairement, et par le libre exercice de notre autorité royale, ACCORDÉ ET ACCORDONS, FAIT CONCESSION ET OCTROI à nos sujets, tant pour nous que pour nos successeurs, et à toujours, de la Charte constitutionnelle qui suit.
Die Wiener Schlussakte (WSA) vom 15. Mai 1820 schrieb den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes für die Gewährung und die Auslegung von Verfassungen die Beachtung des sogenannten monarchischen Prinzips vor. Da der Deutsche Bund, „mit Ausnahme der freien Städte“, heißt es dort in Artikel 57, „aus souveränen Fürsten“ bestehe, müsse „dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben“; „der Souverän“ könne „durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden“.2 Das monarchische Prinzip war die Antwort der Gegenrevolution auf den zuerst in Frankreich im Jahre 1789 von der Versammlung des Dritten Stands erhobenen Anspruch der Nation auf die verfassunggebende Gewalt. Im Besitz dieser Gewalt fühlte sich die Nation frei, über die Staatsform nach Gutdünken zu entscheiden. Im Jahre 1789 entschied sie sich in Frankreich zunächst für die Monarchie. Während die Monarchie nach dem demokratischen Prinzip nur kraft der Verfassung existiert, erscheint in einer Monarchie nach dem monarchischen Prinzip umgekehrt die Verfassung als eine freie Konzession des Monarchen, und den Vertretern der Nation stehen nur diejenigen Rechte politischer Mitwirkung zu, die in der Verfassung ausdrücklich aufgezählt sind. Auf diesen Grundsätzen beruhte die konstitutionelle Entwicklung in Deutschland bis zum Ende der Monarchie im Jahre 1918. Wesentlich hierdurch unterschied sich der deutsche Verfassungsstaat am Vorabend des Ersten Weltkriegs von den parlamentarischen Regimen Großbritanniens, Frankreichs und Italiens. Um so wichtiger erscheint es, daran zu erinnern, dass das monarchische Prinzip nicht in Deutschland, sondern in Frankreich erfunden wurde. Niedergelegt wurde das monarchische Prinzip zuerst in der Präambel zur charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. vom 4. Juni 1814. In der Mitte von Ab2
WSA, Art. 57, in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 31978, S. 99.
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satz II findet sich eine Formulierung, die den Wortlaut des Artikels 57 WSA fast wörtlich vorwegnimmt: Nous avons considéré que, bien que l’autorité toute entière résidât en France dans la personne du Roi, nos prédécesseurs n’avaient point hésité à en modifier l’exercice, suivant la différence des temps. L’autorité toute entière entspricht der „gesamten Staatsgewalt“, und die „Mitwirkung“ Dritter an „der Ausübung bestimmter Rechte“ findet sein Gegenstück in der Bereitschaft des Königs à en modifier l’exercice. Ganz offensichtlich hat die charte constitutionnelle die deutsche Verfassungsentwicklung beeinflusst. Schon deshalb erscheint es nützlich, die Entstehungsgeschichte der charte und die Einbettung der zitierten Formel in den Gesamttext der Präambel noch einmal in den Blick zu nehmen. Nachdem die Verbündeten mit Zar Alexander I. an der Spitze am 31. März 1814 in Paris eingezogen waren, erklärte der französische Senat Napoleon am 2. April für abgesetzt.3 Am 6. April verabschiedete er eine Verfassung nach dem Grundsatz der Volkssouveränität. Tags darauf wurde die Verfassung auch vom corps législatif angenommen. In Artikel 2 dieser Verfassung wurde der damals im englischen Exil weilende Bruder Ludwigs XVI., der Graf von Provence, unter seinem bürgerlichen Namen Louis-Stanislas-Xavier de France auf den Thron Frankreichs berufen. Nach Artikel 29 wurde seine Thronbesteigung allerdings unter die Bedingung gestellt, dass er die Verfassung beschwöre. Den demokratischen Charakter der Monarchie zeigte auch der Titel an, der für den König vorgesehen war: Nicht als roi de France, sondern als roi des Français sollte er regieren. Mit diesen Bestimmungen knüpfte die Verfassung des Senats an die erste Verfassung der Revolution an, die Ludwig XVI. am 14. September 1791 beschworen hatte. Schon dieses Detail beweist, dass die Absetzung Napoleons und die Berufung des Grafen von Provence auf den Thron nicht in der Absicht erfolgt waren, die Monarchie des Ancien régime zu restaurieren. Ziel des Senats und des Vorsitzenden der provisorischen Regierung, des Fürsten Talleyrand, war im Gegenteil, die durch die Revolution und Napoleon geschaffenen Institutionen in die nachfolgende Epoche hinüberzuretten. Wie ein enger Mitarbeiter Talleyrands, Dominique de Pradt, sich ausdrückte, wollte die Verschwörergruppe zwei Dinge erreichen: être délivré d’un joug devenu intolérable, et continuer l’ordre établi.4 Das erklärt, warum für den Sturz Napoleons die Absetzung Jakobs II. von England zum Muster gewählt wurde. Dem Vorbild der Glorreichen Revolution von 1688 folgend, konstruierte der Senat die Absetzung Napoleons als einen Akt zur Verteidigung der Institutionen gegen die Rechtsbrüche des Herrschers, und genauso wie Wilhelm von Oranien und Maria Stuart erst nach dem Eid auf die Declaration of Rights zu Königen erhoben wurden, so sollte auch der aus dem Exil zurückgerufene Bourbonenprinz vor seiner Thronbesteigung die Verfassung beschwören, die den Fortbestand der aus der Revolution und dem Kaiserreich überkommenen politischen und gesellschaftlichen Ordnung garantierte. 3 4
Für den historischen Zusammenhang und die Entstehungsgeschichte der charte constitutionnelle verweise ich auf meine ausführliche Darstellung in: Sellin, Volker, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001. De Pradt, Dominique, Récit historique sur la restauration de la royauté en France le 31 mars 1814, Paris 1816, S. 38.
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Hätte der Graf von Provence die vom Senat gestellten Bedingungen akzeptiert, dann hätte er damit zugleich die Revolution und das demokratische Prinzip sanktioniert. Er hätte im Sinne des Abbé Sieyès anerkannt, dass die verfassunggebende Gewalt nicht beim Monarchen, sondern bei der Nation liege. Dazu war er nicht bereit. In seinen Augen war er seit dem Tod des Dauphins 1795 König von Frankreich unter dem Namen eines Ludwig XVIII.5 Eine andere Position wäre mit dem Gedanken monarchischer Legitimität, die nur im Wege der Vererbung weitergegeben werden konnte, nicht vereinbar gewesen. Den Anspruch des Senats, ihm die königliche Würde im Namen der Nation zu übertragen, betrachtete Ludwig daher als eine unerhörte Anmaßung. Da er jedoch nicht auf den Thron verzichten wollte, musste er einen Weg finden, um seinen dynastischen Standpunkt durchzusetzen, ohne den Senat und die Nation zum offenen Widerstand zu provozieren. In der Bewältigung dieser Aufgabe bewies Ludwig XVIII. eine beispiellose Kaltblütigkeit und großes Geschick. Während sich in Frankreich in Erinnerung an die großen Könige der Vergangenheit wie Ludwig den Heiligen und Heinrich IV. die Hoffnungen zunehmend auf die Rückkehr der Bourbonen konzentrierten, gab Ludwig XVIII. wochenlang nicht zu erkennen, ob er die Verfassung des Senats beschwören werde. Seine Ankunft in Frankreich zögerte sich hinaus. Erst am 24. April betrat er in Boulogne wieder französischen Boden. Eine öffentliche Stellungnahme gab er erst am 2. Mai, dem Vorabend seines Einzugs in die Hauptstadt, von Saint-Ouen am Stadtrand von Paris aus ab. In der Erklärung von Saint-Ouen trat er als Louis, par la grâce de Dieu, Roi de France et de Navarre auf.6 Schon damit bekannte er sich offen zur monarchischen Legitimität. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er sich bereits als König betrachte, ohne dass er die Senatsverfassung beschworen hätte, und mit dem Titel eines Roi de France griff er sogar hinter die Verfassung von 1791 zurück. Insofern ignorierte er nicht nur weiterhin den Sturz der Monarchie im Jahre 1792, sondern auch die Inanspruchnahme der verfassunggebenden Gewalt durch die Nation seit 1789. Dennoch wies er die Verfassung des Senats nicht rundweg zurück. Vielmehr erklärte er, ihre Grundlagen seien gut (nous avons reconnu que les bases en étaient bonnes); allerdings sei eine große Zahl von Artikeln von der Übereilung (précipitation) geprägt, mit der sie redigiert worden seien.7 Daher könne die Verfassung des Senats in ihrer gegenwärtigen Form nicht zum Grundgesetz des Staates erhoben werden. In diesen Aussagen verbirgt sich das Dilemma, in dem Ludwig sich befand. Ohne Zweifel gehört die Bestimmung des Inhabers der verfassunggebenden Gewalt zu den Grundlagen einer Verfassung, und gerade in diesem Punkt wollte Ludwig die Senatsverfassung nicht anerkennen. Dass er deren Grundlagen in der Erklärung von Saint-Ouen trotzdem „gut“ nannte, zeigt, dass er sich scheute, diese 5 6 7
Den Sohn Ludwigs XVI. selbst zählte er als Ludwig XVII. und fingierte dessen Regierung für die Jahre 1793 bis 1795. Text der Erklärung von Saint-Ouen in: Bulletin des Lois du Royaume de France, 5.e série, t. 1, no. 8/89 (1814), S. 75f. Ebd., S. 75.
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fundamentale Differenz deutlich zum Ausdruck zu bringen. Dazu passt auch, dass er das Gewicht seiner Kritik an der Verfassung betont herunterspielte, indem er die von ihm identifizierten Mängel lediglich auf die Übereilung zurückführte, mit der einzelne Artikel formuliert worden seien. Obwohl er mit dem Anspruch auftrat, längst König von Frankreich zu sein, erweckte seine Erklärung mit derartigen Formulierungen den Eindruck, als stimme er mit den Intentionen des Senats grundsätzlich überein und als wolle er im Wesentlichen an den durch die Revolution und das Kaiserreich geschaffenen Institutionen festhalten. Genau in dieser Erwartung war er vom Senat für den Thron vorgeschlagen worden. Hätte er sie in diesem Augenblick zurückgewiesen, hätte er die Geschäftsgrundlage seiner Berufung und damit seine politische Zukunft aufs Spiel gesetzt. Um die angeblichen Mängel der Verfassung zu beheben, berief Ludwig eine Kommission, in der Senat und corps législatif mit je neun Mitgliedern vertreten waren. Durch die Arbeit dieser Kommission entstand aus der Senatsverfassung die charte constitutionnelle. Zahlreiche Artikel der Senatsverfassung wurden ohne substanzielle Änderungen in die charte übernommen. Dazu gehörten die Bestätigung des code civil, die Anerkennung des Verkaufs der Nationalgüter, die Übernahme der Staatsschuld und der Verzicht auf politische Säuberungen. Zu den wichtigsten Neuerungen zählten die Stärkung der Exekutivgewalt und die Beschränkung der Gesetzesinitiative auf den König. Geradezu revolutionär dagegen war die Umwandlung der Senatsverfassung, die auf der Volkssouveränität beruhte, in eine Verfassung nach dem monarchischen Prinzip. Diese Umwandlung fand ihren Niederschlag in der ersatzlosen Streichung von drei zentralen Artikeln: von Artikel 1, der die erbliche Monarchie zur Staatsform und damit zu einer Schöpfung der Verfassung erklärte; von Artikel 2, der Louis-Stanislas-Xavier auf den französischen Thron berief und damit zu einem bloßen Funktionsträger des Staates machte; und von Artikel 29, der vor der Übertragung der königlichen Würde den Eid auf die Verfassung verlangte.8 Dass das von Ludwig gewünschte Ergebnis in der Kommission tatsächlich erzielt wurde, erklärt sich zunächst aus deren Zusammensetzung – die je neun Mitglieder aus den beiden Häusern des Parlaments waren nicht von diesen entsandt, sondern vom König ausgewählt worden, – sodann aus der geschickten Regie, mit der die Beauftragten des Königs die Beratungen lenkten. Nur ein einziges Mal – in der zweiten Sitzung – wurde der gesamte Verfassungsentwurf im Zusammenhang vorgelesen. Später wurde jeweils nur derjenige Artikel verlesen, der gerade zur Beratung stand. Trotz wiederholter Mahnung erhielten die Mitglieder den Entwurf niemals als ganzen schriftlich vorgelegt. Außerdem wurde die Kommission unter großen Zeitdruck gesetzt: Die Sitzungen begannen am 22. und endeten am 28. Mai. Als die Revisionsberatungen abgeschlossen waren, vereinbarten die Vertreter des Königs in der Kommission, dass einer von ihnen, Jacques-Claude Beugnot, unter Napoleon zuletzt kaiserlicher Kommissar im Großherzogtum Berg und inzwischen Generaldirektor der Polizei, die Schlussredaktion des Textes überneh-
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Constitution française (6.4.1814), in: Bulletin des Lois du Royaume de France, 5.e série, no. 1/13 (1814), S. 14–18.
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men solle.9 Dazu gehörte neben der Bestimmung des Namens der Verfassung und der Datierung der Regierungsjahre des Königs die Abfassung einer Präambel. Die Präambel der Senatsverfassung hatte lediglich einen knappen Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Textes enthalten. Als Urheber der Verfassung war darin der sénat conservateur bezeichnet worden. Seitdem die französische Nationalversammlung am 17. Juni 1789 der Nation die verfassunggebende Gewalt zugesprochen und damit das Prinzip des demokratischen Konstitutionalismus begründet hatte, war es zur Selbstverständlichkeit geworden und bedurfte keiner näheren Erläuterung, dass Verfassungen von Vertretungskörperschaften verabschiedet werden. Dass aber ein Monarch Verfassungen erließ, dafür hatte in Frankreich allein Napoleon Vorbilder geliefert; allerdings waren dessen Verfassungsgesetze anschließend durch Plebiszite bestätigt worden. Auch die Verfassung des Senats hatte in Artikel 29 ein Referendum vorgesehen. Da sich jedoch weder die Verabschiedung einer Verfassung durch eine Versammlung noch die anschließende demokratische Bestätigung mit Ludwigs monarchischem Konstitutionalismus hätten vereinbaren lassen, bedurfte es einer besonderen Rechtfertigung für die in der Tat neuartige Form der Verfassungsstiftung. Diese Rechtfertigung musste die Präambel leisten. Beugnot bat zunächst Louis de Fontanes, die Präambel an seiner Stelle zu entwerfen. Fontanes, ein Dichter, war im Kaiserreich Mitglied des Senats gewesen und hatte unter dem Titel eines grand maître zuletzt an der Spitze des französischen Universitätssystems gestanden. Erst gegen zehn Uhr am Abend vor Verkündung der charte will Beugnot den Text von Fontanes erhalten haben. Er las ihn durch und fand ihn ungeeignet: Das Stück enthalte sur le sujet de hautes pensées revêtues de formes éloquentes; mais ces pensées étaient trop générales, ces formes avaient trop d’éclat. C’était une belle page, mais ce n’était pas un préambule.10 Daher blieb Beugnot nichts anderes übrig, als die Präambel selbst zu schreiben. Wie er in seinen Memoiren berichtet, war sein Text nach weniger als zwei Stunden fertig.11 Beugnots Präambel ist erheblich länger als der Entwurf Fontanes’, und sie stellt sich weit stärker als dieser der delikaten politischen Aufgabe, nach einem Vierteljahrhundert, in dem unangefochten das Prinzip des demokratischen Konstitutionalismus gegolten hatte, die Wahrnehmung der verfassunggebenden Gewalt durch den König zu rechtfertigen. Beugnot hat einzelne Sätze von Fontanes übernommen, sie jedoch in einen kohärenten Argumentationsgang eingefügt, der bei diesem fehlt. Obwohl die Senatsverfassung und die Rückberufung Ludwigs XVIII. aus dem Exil mit keinem Wort erwähnt werden, hat Beugnot gleichwohl den Versuch unternommen, die sogenannte Restauration – ein Wort, das nur bei Fontanes einmal vorkommt – historisch zu rechtfertigen. Die größte Herausforderung bei diesem Unterfangen war naturgemäß die Einordnung der Revolution und des Kaiserreichs. Sie werden zusammengefasst in die Ausdrücke funestes écarts und maux (V), während derer Ludwig XVIII. selbst une longue absence 9 Beugnot, Jacques-Claude, Mémoires, Bd. 2, Paris 1866, S. 218. 10 Ebd., S. 224; der Entwurf Fontanes’ in: Archives nationales Paris, 40 AP 7, fol. 108r-109v. 11 Beugnot, Mémoires, Bd. 2 (Anm. 9), S. 225.
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auferlegt gewesen sei (II). „Abwesenheit“ bedeutet hier soviel wie „bloße“ Abwesenheit und nicht etwa die Nichtexistenz seiner monarchischen Würde. Daher wurde die Publikation der charte auch in das neunzehnte Jahr der Regierung des Königs datiert, gerade als ob er seit 1795 ununterbrochen regiert hätte. 12 Die Deutung der Revolution in der Konstruktion des aus der Sicht Beugnots politisch korrekten Geschichtsbilds erschöpft sich nicht in ihrer Kennzeichnung als eine Folge von „unheilvollen Verirrungen“ und „Übeln“. Die Forderungen, die zur Revolution geführt hatten, werden zumindest teilweise als berechtigt anerkannt. Sie werden zurückgeführt auf les effets des progrès toujours croissans des lumières, les rapports nouveaux que ces progrès ont introduits dans la société, la direction imprimée aux esprits depuis un demi-siècle, et les graves altérations, qui en sont résultées (III). Wenn die Forderungen jedoch berechtigt waren, dann konnte die Monarchie ihre Legitimität nur bewahren, wenn sie sich als fähig erwies, ihnen angemessen nachzukommen. Zu eben diesem Zweck stifte er die charte constitutionnelle, lässt Beugnot den König erklären. Damit dieser Schritt nun aber nicht als eine durch die Revolution erzwungene Konzession erscheine, stellt Beugnot ausführlich dar, dass die Könige Frankreichs schon immer von sich aus auf die Bedürfnisse reagiert hätten, die sich von Mal zu Mal entwickelt hätten. Im zweiten Absatz nennt er zur Erläuterung eine Reihe von Königen aus der französischen Geschichte, die sich durch ihre Reformen ausgezeichnet hätten. Dabei wählt er die Beispiele geschickt aus solchen Materien, die auch in einer modernen Verfassung im Vordergrund stehen: die Gewährung politischer Mitwirkungsrechte, wenn nicht an einzelne Untertanen, so doch an Städte und Gemeinden; die Schaffung einer Gerichtsorganisation; und die Einrichtung einer öffentlichen Verwaltung (II). Die in der charte vorgesehene Deputiertenkammer wird in die Tradition des März- und Maifelds und der Versammlungen des Dritten Stands gestellt (V). Im Lichte dieser historischen Rekonstruktion erscheint die Revolution nicht nur als unheilvolle, sondern auch als unnötige Verirrung. Die Geschichte wird zum Beweis dessen bemüht, dass die Monarchie stets am besten in der Lage gewesen sei, die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Voraussetzung sei allerdings, dass la sagesse des rois s’accorde librement avec le voeu des peuples; nur dann könne auch eine charte constitutionnelle von langer Dauer sein (IV). Wenn aber einer schwachen Regierung Konzessionen mit Gewalt entrissen würden, dann gerate nicht nur der Thron, sondern auch die liberté publique in Gefahr. Die Rede von der schwachen Regierung ist eine kaum verhüllte Kritik an Ludwig XVI., die Rede von der gewaltsamen Erzwingung von Konzessionen eine entschiedene Verurteilung des demokratischen Konstitutionalismus. Im Gegenzug wird der monarchische Konstitutionalismus nicht nur praktiziert, sondern an einer entscheidenden Stelle auch gerechtfertigt. Die Erfahrung habe gelehrt, heißt es dort, dass nur die oberste Gewalt, also der Monarch, den Institutionen, die sie schaffe, la force, la permanence et la majesté verleihen könne, die sie selbst besitze (IV). 12 Die charte constitutionnelle trug das Datum: Donné à Paris, l’an de grâce 1814, et de notre règne le dix-neuvième; nach: Bulletin des Lois du Royaume de France ( Anm. 1), S. 207.
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Offenbar sollte man glauben, dass die charte aus dem freien Zusammenspiel der Weisheit des Königs mit dem Wunsche des Volkes hervorgegangen, mithin auf dem Wege der Vereinbarung zustande gekommen sei. Zum Beleg lässt Beugnot den König auf die Arbeit der Verfassungskommission verweisen. Um sicherzustellen, dass die charte sowohl des Königs als auch des Volkes würdig sei, hätten sich des hommes sages, pris dans les premiers corps de l’État mit commissaires de notre Conseil zusammengetan, um gemeinsam an diesem important ouvrage zu arbeiten (III). Dass der König und seine Beauftragten die Verfassungskommission massiv manipuliert und unter Druck gesetzt hatten, um das gewünschte Ziel zu erreichen, erwähnt Beugnot natürlich nicht. Als nach Abschluss der Beratungen der Verfassungskommission im corps législatif die Forderung nach Ratifizierung der charte durch die Kammern oder das Volk und damit nach einer demokratischen Legitimation des Verfassungswerks erhoben wurde, zweifelte der König für einen Augenblick an der Durchführbarkeit seines strikt dynastischen Kurses. Da stärkte Beugnot ihm mit einem Brief vom 2. Juni 1814 den Rücken und setzte ihm auseinander, worin der wesentliche Unterschied zwischen einer Monarchie nach demokratischem und einer Monarchie nach monarchischem Konstitutionalismus bestehe. Nach den Grundsätzen des monarchischen Konstitutionalismus, auf denen die charte constitutionnelle beruhe, werde die Revolution in der Monarchie, nach den Grundsätzen des demokratischen Konstitutionalismus aber, wie sie der Verfassung des Senats zugrunde gelegen hätten, würde die Monarchie in der Revolution aufgehen.13 Da es dazu nicht kommen dürfe, müsse ungeachtet der revolutionären Veränderungen seit 1789 das historische Recht der Monarchie die ausschließliche Quelle aller politischen Legitimität bleiben. Dieser Legitimitätsanspruch duldete keine Unterbrechung der monarchischen Herrschaft und schloss daher die Anerkennung des Sturzes der Monarchie in der Revolution aus. Wäre die monarchische Herrschaft mit der Absetzung Ludwigs XVI. beseitigt worden, hätte sie nur eine über der Monarchie stehende Instanz wieder ins Leben rufen können. Das aber wäre mit dem monarchischen Legitimitätsanspruch nicht vereinbar gewesen. Aus der Sicht des Königs war seine Rückkehr auf den Thron daher auch keine Restauration: Von Restauration hätte man sprechen können, wenn er die Senatsverfassung beschworen hätte, nur dass diese Form der Wiedereinsetzung nichts Restauratives an sich gehabt hätte. Aus der Sicht des Senats dagegen und des von ihm verkörperten Grundsatzes der Nationalsouveränität waren die Inanspruchnahme der königlichen Gewalt durch Ludwig XVIII. und ihre Ableitung aus dem dynastischen Eigenrecht seines Hauses ein Staatsstreich, eine Usurpation.14
13 Beugnot, Jacques-Claude, Rapport au Roi, le 2 juin 1814, Archives nationales Paris 40 AP 7, fol. 114r-v; vgl. dazu Sellin, Volker, Restauration et légitimité en 1814, in: Francia 26 (1999), S. 124f. 14 Vgl. Sellin, Die geraubte Revolution (Anm. 3), S. 269; ders., La restauration de Louis XVIII en 1814 et l’Europe, in: Lucien Bély (Hrsg.), La présence des Bourbons en Europe, XVI eXXIe siècle, Paris 2003, S. 266f.
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Beugnots Präambel suchte dem Vorwurf der Usurpation dadurch die Spitze abzubrechen, dass sie bei aller Betonung des Vorrangs der Monarchie auch der Revolution ihr Recht einräumte und sie, weit entfernt, ihre Forderungen pauschal zurückzuweisen, vielmehr, wie Beugnot formulierte, in der Monarchie aufhob. Eben diese Aufhebung aber bildet den Kern des monarchischen Prinzips. Das monarchische Prinzip war der Vorbehalt der Monarchie in der Entwicklung des Konstitutionalismus und eine Formel, die es ermöglichte, die Monarchie durch Anerkennung revolutionärer Grundsätze zu stärken, ohne sie der Revolution auszuliefern. Sowohl die Wahrung des monarchischen Vorbehalts als auch die Stärkung der Monarchie durch den Oktroi einer Verfassung hat Ludwig XVIII. im Jahre 1814 historisch vorgelebt. Das ist der Grund dafür, dass die charte im Laufe des Jahrhunderts zum Muster einer großen Zahl von Verfassungen und das in der Präambel entwickelte monarchische Prinzip zur Grundlage des monarchischen Konstitutionalismus in Europa werden konnte. Wesentlich für die Glaubwürdigkeit des monarchischen Prinzips war die Fiktion der Freiwilligkeit des Oktroi, da nur unter dieser Voraussetzung der Anspruch der vollen und uneingeschränkten Souveränität des Königs aufrechterhalten werden konnte. Nicht zufällig endet Beugnots Präambel mit der Versicherung, dass diese Verfassung volontairement, et par le libre exercice de notre autorité royale gewährt werde (VII). Als Beugnot dem König am Morgen des 4. Juni den Entwurf der Präambel zur Zustimmung vorlegte, befand der sich schon im Aufbruch zur séance royale, auf der die charte verkündet werden sollte, und konnte sie nicht mehr prüfen. Nous avons confiance en vous, meinte er zu Beugnot, et je sais que vous êtes passé maître en ce point.15 So hat Ludwig XVIII. den Text vor der öffentlichen Verlesung nicht mehr gesehen. Im Zuge der Revision der charte in der Julirevolution wurde Beugnots Präambel gestrichen. Das entsprach der Umwandlung der charte in eine Verfassung nach demokratischem Prinzip. Prof. Dr. Volker Sellin, Professor für Neuere Geschichte, Universität Heidelberg
15 Beugnot, Mémoires, Bd. 2 (Anm. 9), S. 229.
DER ÉLYSÉE-VERTRAG
(EDGAR WOLFRUM)
„Die Versöhnung von Galliern und Germanen“ – so lautete die Überschrift eines Artikels in „Le Monde“ vom 21./22. Januar 1973 anlässlich des zehnten Jahrestags, an dem der Élysée-Vertrag unterzeichnet worden war. Alles habe mit Charles de Gaulle und Konrad Adenauer begonnen; davor war offenbar nichts Wesentliches, und danach nie mehr etwas Vergleichbares.1 Soviel ist wahr: Beide alten Männer hegten aufrichtigen gegenseitigen Respekt füreinander, und in einer kongenialen Art und Weise entwarfen sie den Gedanken einer deutsch-französischen Union, aus dem schließlich der am 22. Januar 1963 unterzeichnete Élysée-Vertrag hervorgehen sollte.2 Dieser Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit ist zu einer tragenden Säule des Selbstverständnisses der beiden Nachbarn am Rhein geworden, und, gespeist von dem Topos der Verständigung, dem Ende der „Erbfeindschaft“ sowie dem Beginn des Tandems Paris-Bonn umrankt ihn ein regelrechter Mythos; er wurde zu einem deutsch-französischen „Erinnerungsort“.3 Der Weg lief offenbar geradewegs von der Erbfeindschaft zur Erbfreundschaft. Das Bild des Bruderkusses zwischen dem beinharten General de Gaulle und dem eingefleischten Zivilisten Adenauer nach der Vertragsunterzeichnung im Élysée-Palast gehört zur Ikonografie des „rapprochement franco-allemand“ – welch emotionaler, welch ergreifender Augenblick. Der Deutsch-Französische Vertrag gilt heute als das Fundament eines vereinten Europas. Diese Sicht ist, auf die Länge gesehen, nicht falsch, aber man darf die Streitigkeiten, enttäuschten Erwartungen und den Richtungskampf in der Zeit seiner Entstehung nicht ausblenden. Man kann, ja man muss sagen: Fast wider Erwarten wurde aus dem Vertragswerk eine Erfolgsgeschichte. Es fing schon damit an, dass die Motive nicht ganz so idealistisch, edelmütig und großherzig waren, wie gemeinhin angenommen, sondern dass durchaus Interesse und Eigennutz eine Rolle spielten – wie immer in (außen-) politischen Dingen. De Gaulles Motive für einen engen „Zweibund“ mit der Bundesrepublik Deutschland nicht einmal zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg entsprangen zunächst seiner europäischen Vision, und er stellte sich die wirtschaftlich mächtige Bundesrepublik als Juniorpartner Frankreichs vor. Sie sollte der franzö1
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Dazu die einzelnen Beiträge in: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Adenauer und Frankreich. Die deutsch-französischen Beziehungen 1958 bis 1969, Bonn 1985; Legoll, Paul, Charles de Gaulle et Konrad Adenauer. La cordiale entente, Bern 1989; Linsel, Knut, Charles de Gaulle und Deutschland 1914–1969, Sigmaringen 1998. Vgl. Lappenküper, Ulrich, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963: Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“, 1949–1963, München 2001. Frank, Robert, Der Élysée-Vertrag: Ein deutsch-französischer Erinnerungsort?, in: Corine Defrance/Ulrich Pfeil (Hrsg.), Der Élysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945–1963–2003, München 2005, S. 237–249.
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Edgar Wolfrum
sischen Grandeur4 dienen und dafür auch ein wenig vom Glanz abbekommen – nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Natürlich: Beide, de Gaulle und Adenauer, verband die Völker versöhnende Absicht, die deutsch-französische Aussöhnung bildete einen wichtigen Eckpunkt ihres gesamten Wirkens. Zu diesem grundsätzlichen Motiv kamen bei Adenauer noch weitere: die dramatische Abkühlung des Verhältnisses zu Washington seit dem Bau der Berliner Mauer 1961, die Furcht vor der Sowjetunion und vor einem entspannungspolitischen Arrangement der Supermächte, auch die Sorge vor einem Wiederaufleben der traditionellen französisch-russischen Allianz – man traute de Gaulle ab einem gewissen Punkt halt doch nicht ganz – schließlich seine innenpolitische Isolierung. Adenauer, dessen Kanzlerschaft in den letzten Jahren von Affären und Krisen überschattet wurde und der allmählich auch in den eigenen Reihen an Rückhalt verlor, wollte – bevor er die politische Bühne verlassen musste – seine Politik mit diesem Vertrag krönen. Aber stellte er am Ende seiner Laufbahn mit einem solchen exklusiven bilateralen Bündnis nicht alles in Frage, was sein Projekt der Westbindung bisher ausgezeichnet hatte? Wenn Charles de Gaulle mit mächtigem Gestus von der großen Aufgabe der Nationalstaaten sprach, ja predigte – wie sollte der westdeutsche Teilstaat da mithalten können? Was wollte das „ewige Frankreich“ mit dem „provisorischen Staat“ anfangen?5 War dies nicht ein völlig ungleiches Paar? Wären Liebesschwüre und Hochherzigkeit auch so groß gewesen, wenn Deutschland wiedervereinigt gewesen wäre, es die DDR, das zweite Deutschland, nicht gegeben hätte? Kam es für die im Kalten Krieg exponierte Bundesrepublik nicht in erster Linie auf einen engen Schulterschluss mit den USA an, in zweiter mit Großbritannien und erst in dritter mit Frankreich? So sahen es jedenfalls die Kritiker aus den Reihen der „Atlantiker“, etwa Adenauers Parteifreunde Außenminister Gerhard Schröder, der um das deutsch-amerikanische Verhältnis bangte und selbst Unterstützung vom deutschen Botschafter in Paris, Herbert Blankenhorn, erhielt, oder Ludwig Erhard, der aus wirtschaftspolitischen Gründen gegen eine „kleineuropäische Politik“ auftrat. SPD und FDP wünschten eine Aussöhnung mit Frankreich; lehnten aber mehrheitlich ein enges, andere Verbündete diskriminierendes Zusammengehen mit de Gaulle ab. Publizistisch geriet Adenauer vor allem in der Wochenzeitung Die Zeit ins Kreuzfeuer, die sich als Sprecherin der transatlantischen Bindungen profilierte. Die „Gaullisten“, unter ihnen Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier und besonders Franz Josef Strauß, wie überhaupt eher süddeutsche Politiker und Intellektuelle, blieben harte Antikommunisten, misstrauten der amerikanisch-sowjetischen Entspannungspolitik und erhofften sich, so vor allem der erst kurz zuvor im Zuge der „Spiegel-Affäre“ zurückgetretene Verteidigungsminister Strauß, im Zusammenwirken mit Frankreich eine aktive Mitsprache im Militärischen, sogar im atomaren Bereich. Sie wollten keinesfalls einen Bruch mit den Vereinigten Staaten oder der NATO, hielten aber eine gewisse Distanzierung 4 5
Vgl.Vaisse, Maurice, La grandeur. Politique étrangère de general de Gaulle 1958–1969, Paris 1998. Hildebrand, Klaus, Der Provisorische Staat und das Ewige Frankreich. Die deutsch-französischen Beziehungen 1963 bis 1969, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 283–311.
Der Élysée-Vertrag
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Europas von den USA für angebracht; ihr „Sprachrohr“ war besonders der Rheinische Merkur. Wie schön doch alles im Vertrag formuliert war.6 Er gliederte sich in drei Teile: Organisation, Programm – das seinerseits wiederum in auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung sowie Erziehungs- und Jugendfragen unterteilt war – und Schlussbestimmungen. Im organisatorischen Teil wurde bestimmt: Die Staatsund Regierungschefs sollten sich mindestens zweimal jährlich treffen, die Außenminister mindestens alle drei Monate, Direktoren anderer Ministerien monatlich. Als zentrale Bestimmung im programmatischen Teil wurde die Konsultationspflicht in allen wichtigen Fragen der Außenpolitik genannt, „um soweit wie möglich zu einer gleichgerichteten Haltung zu gelangen“. Diese Konsultationen sollten vor allem folgende Gegenstände betreffen: „Fragen der Europäischen Gemeinschaft und der europäischen politischen Zusammenarbeit“; „Ost-West-Beziehungen sowohl im politischen wie auch im wirtschaftlichen Bereich“; „Angelegenheiten, die in der Nordatlantik-Vertragsorganisation und in den verschiedenen internationalen Organisationen behandelt werden (…), insbesondere im Europarat, in der Westeuropäischen Union, in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in den Vereinten Nationen und ihren Sonderorganisationen“. Ferner sollte die auf dem Gebiet der Informationspolitik bereits bestehende Zusammenarbeit ausgebaut, die Entwicklungshilfe koordiniert und die Kooperation im Rahmen des gemeinsamen Marktes verstärkt werden. Im Bereich der Verteidigung vereinbarten beide Seiten, sich sowohl um die Annäherung ihrer Auffassungen hinsichtlich der Strategie und der Taktik als auch um die Ausarbeitung geeigneter Rüstungsvorhaben zu bemühen. Verstärkt werden sollte der Personalaustausch zwischen den jeweiligen Streitkräften. Im Erziehungswesen sollten sich die Bemühungen richten auf eine Verstärkung des Sprachunterrichts und darauf, dass Diplome anerkannt und die Zusammenarbeit im wissenschaftlichen Bereich gefördert würden. Um die Bande zwischen der französischen und der deutschen Jugend enger zu gestalten, wurde vereinbart, ein Austausch- und Förderungswerk zu errichten. In den Schlussbestimmungen war die laufende Unterrichtung der übrigen EG-Mitgliedstaaten vorgesehen. So weit, so schön. Was war das Problem? Warum „bockte“ der Deutsche Bundestag? Warum schlugen selbst Regierungsmitglieder entsetzt die Hände zusammen? Der Bundesregierung, besonders dem Kanzler, musste daran gelegen sein, ein möglichst einstimmiges Votum aller Parteien für den Deutsch-Französischen Vertrag im Deutschen Bundestag zu erhalten. Die Außenwirkung wäre verheerend und die Häme unermesslich gewesen, wenn ein Vertragswerk, das eine dauerhafte Freundschaft zwischen zwei so lange verfeindeten Nachbarn begründen wollte, „durchgefallen“ wäre. Andererseits hatte General de Gaulle in der ihm eigenen apodiktischen und wichtigtuerischen Art noch eine Woche vor der Unterzeichnung des Vertrags lautstark gegen Großbritannien, die USA und die NATOIntegration polemisiert und gewettert. Damit erhielt das Abkommen gleichsam eine neue Qualität. Es konnte leicht als Zustimmung der Bundesrepublik zu den 6
Text u.a. in: Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Vom Kalten Krieg zum Frieden in Europa. Dokumente 1949–1989, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Bonn 1990, S. 253–256.
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fragwürdigen Plänen des Generals gedeutet werden: Großbritannien den Weg in die EG mit Macht zu versperren und sich von den USA abzusetzen. Fieberhaft suchte man parteiübergreifend nach einem Ausweg. Der Bundestag ratifizierte den Vertrag im Mai 1963 schließlich erst, nachdem er mit einer Präambel versehen worden war, die es in sich hatte und beispiellos war in der jüngeren deutschen Diplomatiegeschichte. Sie war nichts anderes als eine subtile Form der Ablehnung, weil sie alle Themen aufführte, gegen die sich de Gaulle aussprach. Aussöhnung mit Frankreich – ja, aber der Vertrag stelle die Partnerschaft mit den USA nicht in Frage, auch nicht die NATO-Integration, eben sowenig die Einigung Europas durch die EWG und den Beitritt Großbritanniens. Der Vertrag, so hieß es wie in einer Litanei, sollte eingebettet sein in die großen bestehenden Ziele der Bundesrepublik, „nämlich die Erhaltung und Festigung des Zusammenschlusses der freien Völker, insbesondere einer engen Partnerschaft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für das deutsche Volk und die Wiederherstellung der deutschen Einheit, die gemeinsame Verteidigung im Rahmen des nordatlantischen Bündnisses und die Integrierung der Streitkräfte der in diesem Bündnis zusammengeschlossenen Staaten, die Einigung Europas auf dem durch die Schaffung der Europäischen Gemeinschaften begonnenen Wege unter Einbeziehung Großbritanniens und anderer zum Beitritt gewillter Staaten und die weitere Stärkung dieser Gemeinschaften, den Abbau der Handelsschranken durch Verhandlungen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika sowie anderen Staaten im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens“.7 In einem Satz: Es war dies tatsächlich eine politische Ohrfeige für de Gaulle, weil er nichts anderes als ein politisch-militärisch unabhängiges Europa ohne die Briten anstrebte, den Einfluss der USA und der NATO beschneiden wollte und wenig von der Wiedervereinigung sprach. Der General tobte und bezeichnete den Vertrag als Totgeburt; zu anderer Gelegenheit meinte er, die so hoffnungsvoll eingeleitete Ehe sei nicht vollzogen worden. Einer Brüskierung nur knapp entkommen war der deutsche Bundeskanzler. „Am Ende stellte der Vertrag nur noch eine Art Abschiedsgeschenk an Adenauer dar“,8 der ihn seinerseits jedoch das Hauptwerk seiner gesamten Kanzlerschaft nannte. War dieses Adenauersche Hochjubeln nicht zu viel des Guten? War der Vertrag, besonders im kulturellen Bereich eine „Begegnung der Völker“;9 wären sich die beiden Völker diesseits und jenseits des Rheins ohne ihn nicht begegnet? War der Élysée-Vertrag wirklich der „Dreh- und Angelpunkt der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945“?10 Oder war er genau das Gegenteil, nämlich ein 7 8
Ebd. (Anm.6), S. 257. Besson, Waldemar, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Erfahrungen und Maßstäbe, München 1970, S. 313. 9 Baumann, Ansbert, Begegnung der Völker? Der Élysée-Vertrag und die Bundesrepublik Deutschland. Deutsch-französische Kulturpolitik von 1963 bis 1969, Frankfurt/M. 2003. 10 Mazzucelli, Colette, Der Élysée-Vertrag: Dreh- und Angelpunkt der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945, in: Corine Defrance/Ulrich Pfeil (Hrsg.), Der Élysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945–1963–2003, München 2005, S. 249–279.
Der Élysée-Vertrag
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ganz und gar „überflüssiger Vertrag“? So urteilte mit der ihm eigenen Schärfe Gilbert Ziebura: großer Aufwand, kleines Ergebnis. Der Vertrag selbst schien „größere diplomatische Aufregung kaum zu rechtfertigen. Frankreich und die Bundesrepublik übernahmen mit ihm keinerlei bindende Verpflichtungen, die über eine regularisierte Form der gegenseitigen Konsultationen hinausgegangen wären.“11 Andererseits: Er provozierte Proteststürme. So waren die sowjetischen Führer überzeugt, dass der Vertrag geheime militärische Klauseln enthalte, besonders im Nuklearbereich und de Gaulle musste sich von der „Iswestija“ sagen lassen, dass er „den Hals jener Flasche erweitert hätte, aus dem das schlechte Genie des deutschen Revanchegeistes zu entweichen sucht“.12 Dass der Élysée-Vertrag überhaupt zustande kam, grenzte also fast an ein Wunder, dass er sich mit Höhen und Tiefen,13 aber insgesamt sehr erfolgreich entwickelte, nicht minder. Er schrieb, wie erwähnt, zweimal jährlich stattfindende Konsultationen der Staats- und Regierungschefs beider Länder fest, daneben regelmäßige Konsultationen auf Ministerebene, und regelte die Zusammenarbeit in der Bildungs-, Kultur- und Jugendpolitik. Das wenige Monate später gegründete Deutsch-Französische Jugendwerk hat seither über 200.000 Austauschprogramme aufgelegt, an denen sich insgesamt über 6 Millionen Jugendliche beteiligten. Im Laufe der Jahre stieg die Zahl der kooperierenden Institutionen kontinuierlich an. An die Seite der zuerst rein kulturellen Beziehungen traten nun auch Fragen aus den Feldern Wirtschaft, Verteidigung und Sicherheit. Die Beziehungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik zeichnen sich somit durch eine im internationalen Vergleich ganz beispiellose Intensität und Diversität aus. „Le couple“ ParisBonn entwickelte sich zur Lokomotive der europäischen Integration, die bald auch Impulse aus der Gesellschaft heraus erhielt, welche die sozialen Beziehungen weiter festigten.14 Schließlich entfaltete der Freundschaftsvertrag, als seine umstrittene und holprige Entstehungsgeschichte zu verblassen begann, eine im Politischen nicht zu unterschätzende symbolische Wirkung. Es war wie so oft bei solchen Dingen: Das Ereignis wirkte umso strahlender und edler, je weiter man sich zeitlich von ihm entfernt hatte. Prof. Dr. Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte, Historisches Seminar, Universität Heidelberg
11 Ziebura, Gilbert, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Pfullingen 1970, S. 109 und S. 115. 12 Zit. nach ebd. (Anm.11), S. 117. 13 Steinkühler, Manfred, Der deutsch-französische Vertrag von 1963. Entstehung, diplomatische Anwendung und politische Bedeutung in den Jahren von 1958 bis 1969, Berlin 2002. 14 Vgl. Kaelble, Hartmut, Die sozialen und kulturellen Beziehungen Frankreichs und Deutschlands seit 1945, in: APuZ B 3–4, 2003, S. 40–46.
EIN POLITISCHER HÄFTLING IM REPUBLIKANISCHEN FRANKREICH DER ACHTUNDVIERZIGER CARL SCHURZ IN PARIS
(WINFRIED BECKER)
I. BIOGRAFISCHE NOTIZ Carl Schurz wurde als Sohn des Lehrers und Kleinhändlers Christian Schurz am 2. März 1829 auf der Burg Gracht in Liblar bei Köln geboren. Sein Großvater, bei dem die Eltern wohnten, war Pächter (Burghalfe) auf diesem Stammsitz der Grafen von Wolff-Metternich zur Gracht. Der Vater legte großen Wert auf die Bildung seiner Kinder. So besuchte Carl nach der Dorfschule die Elementarschule in Brühl und machte 1847 ein glänzendes Abitur am Marzellengymnasium in Köln. Dort erfreute er sich an den sonntäglichen Wachtparaden auf dem Neumarkt und an der „musikalischen Hochmesse“ im Dom. Mit einer stillen Menge wohnte er aber auch einer öffentlichen Hinrichtung bei, die gemäß dem im linksrheinischen Preußen weiter geltenden Code Napoleon vollstreckt wurde. Schon als Schüler konnte er den Umbruch von der alten zu einer neuen Welt erahnen. Der neue Majoratsherr stellte einen auf Gewinnsteigerung erpichten Rentmeister ein und entließ seinen Großvater, während eine „vornehme patriarchalische Einfachheit“ und Gegenseitigkeit, darüber hinaus die „gemeinsame Erinnerung an die ‚schwere französische Zeit‘ “ den alten Grafen und seinen Burghalfen noch miteinander verbunden hatten.1 Ein unbedarfter Religionsunterricht, zudem ein „freisinniger Zeitgeist“, den seine männliche Lebensumwelt aus französischen Einflüssen aufgenommen hatte, leiteten Schurzens Entfremdung von der katholischen Konfession ein, obwohl er „eine tiefe Achtung vor dem religiösen Gedanken“ behielt.2 Das Gymnasium vermittelte ihm „ideale Maßstäbe“ und das Kulturerbe des Studiums der klassischen Sprachen. Prägend wurden dann allerdings die ersten Studienjahre in Bonn. Carl Schurz trat der Burschenschaft Frankonia bei und fand engen Anschluss an den Professor Gottfried Kinkel (1815– 1882), der seit 1846 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Neuere Kunst-, Literatur- und Kulturgeschichte lehrte. Die von Paris herüberschwappende Februarrevolution veränderte schlagartig die schläfrige Universitätsstadt, machte Bonn auf einige Zeit zur wohl unruhigsten Kommune der preußischen Rheinprovinz. Schurz wurde über Nacht der rührigste und bekannteste Agitator der revolutionären Studentenbewegung und des auf das flache Land übergreifenden Demokratischen Vereins. Im August 1848 nahm er in Köln am Treffen der rheinischen und westfälischen Demokraten teil. Im September 1
2
Schurz, Carl, Lebenserinnerungen, 3 Bde., Bd. 1: Bis zum Jahre 1852, Berlin 1906; Bd.2: Von 1852 bis 1870, Berlin 1907; Bd. 3: Briefe und Lebensabriß, Berlin 1912 (darin Beitrag von Bancroft, Frederic, über Schurz‘ politische Laufbahn 1869–1906, S. 339–488); hier Bd. 1, S. 34–37, S. 2f., S. 15f. Schurz (Anm. 1), Bd. 1, S. 30–34, S. 71f.
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1848 entsandten ihn seine Bonner Freunde, alle „geschworene Republikaner“, doch dies „mit Maß und Überlegung“3, auf den allgemeinen Studentenkongress in Eisenach. Schurz bereicherte die dort stattfindende Debatte über die Finanzierung der Universitäten mit dem noch heute beherzigenswerten Formulierungsvorschlag: „Die Nation ist verpflichtet, die Universitäten zu erhalten“. Zu dem hier früh offenbar werdenden politischen Talent gesellte sich das mit jugendlichem Elan ergriffene Ethos, das Eintreten für die Grund- und Menschenrechte und für eine republikanische Verfassung. Schurz musste nach Frankreich und in die Schweiz fliehen, nachdem er aktiv am Aufstand in Baden teilgenommen hatte. Aber er kehrte bald nach Deutschland zurück, um mit einem Bravourstück besonderer Art international bekannt zu werden. In der Nacht vom 6. auf den 7. November 1850 befreite der Student seinen verehrten Professor Kinkel aus der schwer bewachten Zitadelle in Spandau. Auch konservativ gesinnte Kreise empfanden damals die lebenslängliche Zuchthausstrafe für den bekannten Gelehrten als zutiefst ungerecht. Schurz, der es nicht ertragen konnte, Kinkels Frau Johanna (1810–1858) und dessen Familie auf immer ins Unglück gestürzt zu sehen, ging hoch konspirativ vor. Dabei griff er auf ein bedachtsam und geschickt geknüpftes Netz von gleich gesinnten Geldgebern und Helfern zurück, ohne deren Mithilfe der Coup schwerlich gelungen wäre. Der Befreite und sein Befreier flohen nach Rostock und von dort auf die britische Insel. London war ihr Ziel, der Treffpunkt und Zufluchtsort vieler europäischer Revolutionäre, aber auch des großen Gegners der Revolution, des ehemals österreichischen Staatskanzlers Klemens Wenzel Fürsten von Metternich (1773–1859). Im Dezember 1850 unternahm Schurz mit Kinkel einen Abstecher nach Paris. Kinkel wollte dort seine Frau wieder sehen. Für Schurz endete die Reise mit Haft und faktischer Abschiebung im Juni 1851. Am 6. Juli 1852 heiratete Schurz Margarethe Meyer, die Tochter eines Hamburger Fabrikanten, deren Familie den Schwiegersohn noch lange finanziell unterstützen sollte. Kennen gelernt hatten sich die beiden über Margarethes ältere Schwester Bertha: Sie war im August 1851 die Ehefrau des früheren katholischen Kaplans Johannes Ronge, des Gründers der Deutsch-Katholischen Kirche, geworden. Inzwi3
Zitiert nach Keßler, Walter, Carl Schurz. Kampf, Exil und Karriere, Köln 2006, S. 20–23, 130–13 (Literatur und Archivalien). Vgl. an Untersuchungen: Draeger, Marianne/Draeger, Otto, Die Carl Schurz Story. Vom deutschen Revolutionär zum amerikanischen Patrioten, Berlin 2006; Reinhardt, Stefan, Die Darstellung der Revolution von 1848/49 in den Lebenserinnerungen von Carl Schurz und Otto von Corvin, Frankfurt a. M. 1999; Schicketanz, Frank Michael, The „Lebenserinnerungen“ of Carl Schurz. A critical reading, Konstanz 1987; Camp, Helen C., Carl Schurz, in: Alden Whitman (Hrsg.), American Reformers. An H.W. Wilson Biographical Dictionary, New York 1985, S. 726–729; Lovett, Clara M., Carl Schurz 1829–1906. A biographical essay and a selective list of reading materials in English, Washington D.C. 1983; Trefousse, Hans Louis, Carl Schurz 1829–1906. A biography, University of Tennessee Press, Knoxville 1982; Braubach, Max, Bonner Professoren und Studenten in den Revolutionsjahren 1848/49, Köln Opladen 1967; Erkelenz, Anton; Mittelmann, Fritz, Carl Schurz. Der Deutsche und der Amerikaner. Zu seinem 100. Geburtstage am 2. März 1929 herausgegeben im Auftrag der Vereinigung Carl Schurz (Berlin), Berlin 1929. Die Historical Society of Pennsylvania in Philadelphia verwahrt die Carl Schurz Papers Collection, übernommen aus der 1930 gegründeten Carl Schurz Memorial Foundation.
Ein politischer Häftling im republikanischen Frankreich
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schen hatten sich Pläne zur Finanzierung einer europaweiten Revolution zerschlagen. Die Londoner Emigrantenzirkel waren untereinander zerstritten. So fiel der Entschluss zur Auswanderung in die USA. Am 16. September 1852 betrat das Ehepaar Schurz in New York amerikanischen Boden. Die ersten Impressionen waren vielfältig und aufregend. Schurz fand New York, Philadelphia und Washington D.C. zwar von Europa nicht so verschieden, aber „fremd“ und „geheimnisvoll“ genug. Er verfiel zeitweise in düsteres Grübeln. Daraus half ihm der Gedanke, „dass, um in Einklang zu kommen mit dem geschäftigen Leben hier, ich selbst davon ein Teil werden müsse – und je eher, umso besser.“4 Er lernte perfekt Englisch, hielt Vorträge, betätigte sich als Notar, Versicherungsagent und Rechtsanwalt. Die junge Familie zog nach Watertown in Wisconsin zu deutschen Verwandten und Bekannten. Doch hielt es den gebildeten Landwirt, den „lateinischen Farmer“, nicht lange auf der neu erworbenen Scholle. Er setzte sich im Wahlkampf von 1859/60 energisch für den Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, Abraham Lincoln, ein. Gemeinsam mit jenen deutschen Landsleuten, die nun in beträchtlicher Zahl aus Ablehnung der Sklaverei für die Republikaner stimmten, trug er zum überraschenden Sieg dieses prinzipienfesten Politik-Neulings bei. Von Juli 1861 bis Januar 1862 übernahm er den Posten des US-Gesandten beim Königreich Spanien, warb dort für die Sache der Nordstaaten. Im Bürgerkrieg stieg Schurz zu einem der „politischen Generäle“ auf. Er bewährte sich auf dem Schlachtfeld, von den militärischen Lektionen zehrend, die ihm geflüchtete preußische Offiziere im beschäftigungslosen Züricher Exil 1850 erteilt hatten. Indes musste er unbegründete Anfeindungen wegen seiner deutschen und zivilen Herkunft hinnehmen. Eine Existenzsicherung schien ihm 1866 die Stelle des Chefredakteurs bei „The Detroit Post“ zu bieten. 1867 wurde er Miteigentümer und Redakteur der deutschsprachigen Tageszeitung „Westliche Post“ in St. Louis. Sein politischer Ehrgeiz fand erstmals volle Erfüllung, als er 1869 in das hohe Amt eines Senators für den Staat Missouri gewählt wurde. 1871 kamen im Repräsentantenhaus Erwägungen auf, ob für den liberalen Republikaner Schurz, weil er für das Präsidentenamt geeignet schien, nicht die für Präsidenten-Kandidaten geltende Indigenatsregel geändert werden könne. Von 1877 bis 1881 wurde Schurz Innen-Staatssekretär unter dem republikanischen Präsidenten Rutherford Birchard Hayes (1822–1893). Er unterstützte dessen Kurs der Bekämpfung der Korruption und der Aussöhnung mit dem Süden. Feinde machte er sich mit der entschieden angegangenen, doch kaum realisierten Reform des öffentlichen Dienstes, die darauf hinauslaufen sollte, das herkömmliche Beutesystem durch eine leistungsorientierte Behandlung und Besoldung der Beamten zu ersetzen. Ab 1889 erhielt er als Generalvertreter der deutschen HAPAG in den USA endlich ein sicheres und hohes Einkommen. Von 1892 bis 1898 schrieb er Leitartikel für „Harper’s Weekly“. Er wandte sich gegen das imperialistische Ausgreifen der USA und den 1898 geführten Krieg mit Spanien. Nach innen plädierte er dafür, die Tugend der Selbstkritik zu üben. Den Eingewanderten riet er, bei aller notwendigen Amerikanisierung die guten Eigenschaften und Sitten, die sie aus der alten Heimat mitgebracht hätten, zu bewahren. Am 14. Mai 1906 starb Carl Schurz 4
Draeger/Draeger, (Anm. 3) S. 165.
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nach kurzem Krankenlager, in seiner neuen Heimat auf das Höchste angesehen. Der amtierende Präsident, Theodore Roosevelt (1858–1919), kondolierte den Hinterbliebenen. Nach diesem kurzen biografischen Überblick gilt es, die Zeit des französischen Exils in den Blick zu nehmen. Die Motive des ersten, vierwöchigen Paris-Aufenthalts von Schurz scheinen die gleichen gewesen zu sein wie die des längeren, zweiten. Im Frühjahr (April) 1850 betritt Schurz nach schlaflos verbrachter nächtlicher Bahnfahrt aus Köln erstmals Pariser Boden. In Köln ist ihm, dem unerkannten Flüchtling und Rückkehrer aus der Schweiz, der Boden zu heiß geworden, zumal der Prozess gegen Kinkel vor der Tür steht. Nun sieht er sich „auf dem Schauplatze“ der bekannten „großen revolutionären Aktionen“ angekommen, „in denen die Elementarkräfte der Gesellschaft in wilder Entfesselung das Alte gestürzt und dem Neuen die Bahn geöffnet hatten.“5 Begierig liest er die Straßennamen, die vom Geschehen der großen Revolution künden: darunter den Platz der Bastille, das Faubourg St. Antoine, das Hôtel de Ville. Er will die jüngste Geschichte Frankreichs, mit der er theoretisch wohl vertraut ist, durch den Augenschein besser verstehen lernen, eventuell zur Verwendung für eigene historische Arbeiten. Noch scheint ihm hier der revolutionäre Elan nicht erlahmt zu sein, jedenfalls will er Korrespondenzen über das Tagesgeschehen nach Deutschland richten. Dies tut er dann auch während des ersten und des zweiten, längeren Aufenthalts in der französischen Hauptstadt, der von Dezember 1850 bis 12. Juni 1851 dauert. Ansprechpartner ist sein „besonderer Beschützer und Vertrauter“, Dr. Hermann Heinrich Becker (1820– 1885), Jurist, 1849/50 Leiter der demokratischen „Westdeutschen Zeitung“.6 „Der rote Becker“ wird nach Verurteilung und Festungshaft später für die Fortschrittspartei Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (1862–1872) und des Reichstages (1867–1874) werden und sogar zum Oberbürgermeister von Dortmund (1871) und Köln (1875) aufsteigen.7 Mit seinen Korrespondenzen kann sich Schurz „etwa 180 Franken den Monat“ verdienen und sich bei strikter Ausgabenbeschränkung und frugaler Ernährung einigermaßen durchschlagen.8 Das erste Frühstück besteht aus einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein mit Wasser und einem Stück Brot. Abends isst er reichlich zu sehr auskömmlichem Preis in einem Restaurant des Quartiers Latin in der Rue St. Germain L’Auxerrois nahe dem Louvre. Dort pflegt man republikanischen Gleichheitsstolz. Aufwärter, Köche und Gäste reden sich mit dem Titel „Citoyen“ an; Trinkgelder sind verpönt. Das gemeinsame Zimmer mit seinem ehemaligen politischen Mitstreiter, dem Literaturstudenten Adolf Strodtmann aus Bonn, gibt er im gegenseitigen Einvernehmen auf, weil beide für eine Wohngemeinschaft zu wenig ordnungsliebend sind. Er zieht in das Haus Quai St. Michel Nr. 17 zu der stillen, korrekten Madame Petit mit ihren unverheirateten ältlichen Töchtern, wird dort wegen seines 5 6 7 8
Schurz (Anm. 1), Bd. 1, S. 267–272. Schurz (Anm. 1), Bd. 1, S. 265f., S. 269. Jansen, Christian (Bearb.), Nach der Revolution 1848/49. Verfolgung, Realpolitik, Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten 1849–1861, Düsseldorf 2004, S. XXIIIf. Schurz (Anm. 1), Bd.1, S. 353ff.
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unauffälligen und anständigen Verhaltens zum Tee eingeladen. Sonst ist sein Umgang auf einen kleinen Salon, einige deutsche Flüchtlinge, Studenten und junge Künstler beschränkt. Aber er gewinnt Madame la Princesse de Beaufort als Sprachlehrerin. Es heißt, diese Angehörige einer alten hochadligen, durch die Revolution verarmten Familie müsse sich nun durch Stundengeben ihr Brot verdienen. Sie fügt sich sofort der modernen, effizienten Lernmethode, die Schurz ihr vorschlägt: Seine Aufsätze oder Briefe über ihn interessierende Themen, die er ihr einreicht, gibt sie ihm korrigiert zurück – bis sie ihm nach einiger Zeit versichert, es gebe nichts mehr zu korrigieren. Noch mehr lernt Schurz aus den Unterhaltungen mit der gebildeten, einen „feinen Geist“ versprühenden Aristokratin. Englisch wird er auf ähnliche Weise, wenn auch ohne eine charmante Lehrerin, lernen, nachdem die Schulkenntnisse im fremden Land sich als unzureichend erwiesen. Enttäuscht zeigt sich Schurz von den „hochtönenden Reden“ und stürmischen Szenen in der Nationalversammlung. Er misst sie an seinem Idealbild oratorischer Meisterleistungen, die die Große Revolution hervorgebracht habe. Statt einen „ernsten Gedankenkampf bedeutender Männer“ meint er die „würdelose Zänkerei eitler Phrasendrescher“ zu erleben, die sich in „schauspielerischen Äußerlichkeiten“ gefallen.9 Er nimmt Anstoß an der „Liederlichkeit des Studentenlebens“. Der Besuch eines Kostümballs im Opernhaus entsetzt ihn geradezu, endet er doch im „Pandämonium“ des letzten Tanzes, des sog. „Höllengalopps“, den er tatsächlich als solchen empfindet. Die Wahrnehmung von Mentalitätsunterschieden, die recht drastischen Ausdruck findet, verbindet sich mit der politischen Desillusionierung über die heraufziehende bonapartistische Diktatur. Diese sieht der erst 22jährige Beobachter durch propagandistische Machenschaften und andere Manipulationen vorbereitet, denen er die eigentliche Schuld an seiner Ende Mai 1851 erfolgten Festnahme, der Beschlagnahmung seiner Papiere und seiner Ausweisung gibt. Zwar habe dies alles die preußische Gesandtschaft veranlasst, wie er einem Freund schreibt.10 Aber in London willfahrt man der Gesandtschaft des reaktionär gewordenen Preußen offenbar nicht, wenn sie denn ähnliche Insinuationen überhaupt versucht. Schurzens Blick erfasst die Realität. Tatsächlich ist bereits durch Gesetz vom 31. Mai 1850 die Anzahl der Wahlberechtigten von 9,6 auf 6,8 Millionen Wähler reduziert, durch Gesetz vom 8. Juni 1850 die Pressefreiheit eingeschränkt worden. Die Polizei stellt den daraufhin entstehenden oppositionellen „Geheimgesellschaften“ nach. Die Minister, die Polizeipräfekten und die Armee sind offenen Zugriffen des Präsidenten ausgesetzt. „A certains égards, le coup d’État perpétré par le président Bonaparte est le prolongement logique de la politique des mois précédents.“11 Für Schurz bleibt der Staatsstreich des 2. Dezember 1851 kein aus der Entfernung registriertes Ereignis, sondern er bewegt ihn endgültig dazu, für sich, seine Frau und seine Mitstreiter „als Partei und als Individuen“ von London aus den „einzigen Stützpunkt in Amerika“ zu suchen.12 Später wird er die vorausgeahnte Stärke des 9 Schurz (Anm. 1), Bd.1, S. 361–364. 10 Keßler (Anm. 3), S. 52. 11 Agulhon, Maurice, 1848 ou l’apprentissage de la République 1848–1852, Paris 1992, S. 183, S.167–182. 12 Zitiert nach Keßler (Anm. 3), S. 55; damit übereinstimmend Schurz (Anm. 1), Bd. 1, S. 416.
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nordamerikanischen Staatswesens auf das Zusammenwirken der in ihm gebündelten multinationalen Kräfte zurückführen und dort „die alte germanische Freiheitsidee“13 am besten aufgehoben wissen. Damit bringt Schurz historisierend das Programm auf den Begriff, dass nationale Einheit nicht auf Kosten der innerstaatlichen Freiheit verwirklicht werden dürfe. II. AUS DEN MEMOIREN: DAS ENDE DES PARISER AUFENTHALTS14 Bereits der in „McClure’s Magazine“ Ende 1905 beginnende Abdruck der „Lebenserinnerungen“ fand großes öffentliches Interesse. Der erste, von Schurz auf deutsch verfasste Band der Memoiren erschien in Berlin bei Reimer 1906, der zweite, englisch geschriebene, in Berlin auf Deutsch 1907. Der dritte Band, den Schurz nicht vollenden konnte, enthielt Briefe und einen Lebensabriss aus der Feder des Historikers Frederic Bancroft. Er war schon 1912 in deutscher Sprache ebenfalls im Verlag Reimer greifbar.15 „Eines Nachmittags begleitete ich die Frau meines Freundes und Mitflüchtlings Reinhold Solger,16 der später im Dienste der Vereinigten Staaten eine angesehene Stellung einnahm, auf einem Spaziergange. Wir waren in der Nähe des Palais Royal,17 als mir ein unbekannter Mann in den Weg trat und mich ersuchte, mit ihm einen Schritt auf die Seite zu gehen, da er mir etwas Vertrauliches mitzuteilen habe. Sobald wir von Frau Solger weit genug entfernt waren, daß sie unser Gespräch nicht hören konnte, eröffnete er mir, er sei ein Polizeiagent und habe den Auftrag, mich zu verhaften und sofort zur Polizeipräfektur zu bringen. Er erlaubte mir, zu Frau Solger zurück zu treten, der ich, um sie nicht zu beunruhigen, mit möglichst unbefangener Miene sagte, sie müsse mich entschuldigen, da ich von diesem Herrn zu einem sehr dringenden Geschäft abgerufen worden sei. Der Agent führte mich zuerst zu einem Polizeikommissar, der mich über meinen Namen, mein Alter, meine Herkunft usw. befragte. Zu meiner großen Verwunderung fand ich, daß die Polizei, die meinen Namen zu kennen schien, nicht wußte, wo ich wohnte. Ich erklärte dem Kommissar, ich habe durchaus keine Ursache, irgend etwas zu verheimlichen und gab ihm nicht allein meine Wohnung an, sondern auch den Platz darin, wo man die Schlüssel zu meiner Kommode und meinem Koffer finden werde. Dafür wünschte ich zu wissen, aus welchem Grunde ich denn verhaftet worden sei. Der Kommissar machte ein geheimnisvolles Gesicht, sprach von höherem Befehl und meinte, ich werde bald genug alles erfahren. Ein anderer Polizeiagent führte mich dann zur Polizeipräfektur. Dort wurde ich, nachdem ich mein Taschenmesser und was ich an Geld bei mir führte, abgeliefert hatte, einem Gefängniswärter übergeben, der mich in eine Zelle brachte und die Tür hinter mir abschloß. Auf die Frage, ob man 13 14 15 16
Keßler (Anm. 3), S. 91. Schurz (Anm. 1), Bd. 1, S. 368–376. Vgl. Keßler (Anm. 3), S. 111. Reinhold Solger, (1820 Stettin – 1866 Washington D.C.), bis 1841 Studium der Philosophie und Geschichte in Halle und Greifswald, ein Jahr im preußischen Staatsdienst, dann in England und Frankreich, 1848/49 Teilnahme am badischen Aufstand, floh darauf in die Schweiz, nach Frankreich und England, 1853 in die USA, trat dort publizistisch und in Vorträgen für die Republikaner ein, unter Präsident Abraham Lincoln (1861–1865) im Schatzamt tätig, Schriftsteller, Erzähler, Lyriker, Satiriker, schrieb unter anderem: Anton in Amerika, 2 Bde., 1862. Hierzu: Walther Killy/Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Bd. 9, München 1998, S. 364. 17 Auch Palais Cardinal (nach Kardinal Richelieu), Stadtpalast in der Nähe des Louvre, 1627– 1629 erbaut, heute zum großen Teil Regierungsgebäude.
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mir nicht sogleich den Grund meiner Verhaftung mitteilen werde, erhielt ich keine bestimmte Antwort. Meine Zelle war ein kleiner kahler Raum, von einem engen, hoch oben in der Wand befindlichen vergitterten Fenster spärlich beleuchtet. Es standen zwei schmale, nicht besonders reinliche Betten darin, zwei hölzerne Stühle und ein kleiner Tisch. Ich erwartete jeden Augenblick, zu einem Verhör abgerufen zu werden, denn ich dachte, in einer Republik, wie Frankreich damals war, werde man doch niemanden einsperren, ohne ihm sofort den Grund zu sagen, aber vergeblich. Es wurde Abend, und der Schließer teilte mir mit, daß ich ein aus gewissen Gerichten, die er aufzählte, bestehendes Souper haben könne, wenn ich imstande und willens sei, dafür zu bezahlen. Sonst würde ich mit der gewöhnlichen Gefangenenkost, die er mir in durchaus nicht lockender Weise beschrieb, vorlieb nehmen müssen. Ich ließ mir ein bescheidenes Mahl geben und dachte dabei mit melancholischer Sehnsucht an meine braven Citoyens in der Rue St. Germain l’Auxerrois. Spät abends, als ich mich schon zum Schlafen niedergelegt hatte, wurde noch ein zweiter Gefangener in meine Zelle gebracht, dem der Schließer das andere Bett anwies. In dem matten Lichte der Laterne des Schließers sah ich in dem neuen Ankömmling einen noch jungen Mann in ziemlich schäbigen Kleidern, mit glatt rasiertem Gesicht und dunkeln, rastlosen Augen. Er begann sofort ein Gespräch mit mir und teilte mir mit, man klage ihn an, er habe gestohlen, und deshalb sei er eingesteckt worden; die Anklage sei durchaus unbegründet, aber da man ihn früher auf ähnlichen Verdacht hin verhaftet habe, so glaube die Obrigkeit nicht an seine Unschuld. Ich hatte also einen gemeinen Dieb zum Gesellschafter und Schlafkameraden. […] Während der stillen Nacht überdachte ich meine Lage. Hatte ich in Paris irgend etwas getan, das mich in irgendeiner Weise hätte strafbar machen können? Ich durchforschte alle Winkel meiner Erinnerung und fand nichts. Natürlich konnte die Verfolgung, der ich ausgesetzt war, nur eine politische sein. Aber wie sehr auch meine Gesinnungen der Regierung des Präsidenten Louis Napoleon18 mißfallen mochten, so hatte ich mich in Frankreich doch an keiner politischen Bewegung beteiligt. In Paris war ich nur ein Beobachtender und Studierender gewesen. Ich hatte keinen Zweifel, daß, während ich auf der Präfektur gefangen saß, die Polizei meine Papiere in meiner Wohnung durchsuchen werde. Aber das konnte mich nicht beunruhigen, denn ich wußte, daß man dort nichts finden werde als historische Notizen, einige literarische Entwürfe und freundschaftliche Briefe harmloser Natur. Was ich an Papieren besaß, die irgendwie hätten verfänglich scheinen können, und auch die Pistolen, die ich bei der Befreiung Kinkels geführt, war ich vorsichtig genug gewesen, einem meiner Freunde in Verwahrung zu geben. Der Gedanke blieb übrig, daß ich auf Betreiben der preußischen Regierung verhaftet worden sei. Aber würde die französische Republik sich dazu herbeilassen, mich an Preußen auszuliefern? Das schien mir nicht möglich, und so beruhigte ich mich über mein Schicksal. Aber es überkam mich ein Gefühl der Erniedrigung darüber, daß man mir die Schmach hatte antun können, mich mit einem gemeinen Dieb zusammenzusperren. Es empörte mein innerstes Gefühl. Und das in einer Republik! Meine Entrüstung stieg am folgenden Morgen, als man mich noch immer nicht von dem Grunde meiner Verhaftung unterrichtete. Der Dieb wurde früh aus der Zelle abgeholt, und ich blieb allein. Ich ließ mir Schreibzeug bringen und verfaßte in dem besten Französisch, das mir zu Gebote stand, einen Brief an den Präfekten, in dem ich im Namen der Gesetze des 18 Charles-Louis-Napoléon Bonaparte (1808–1873), Sohn von Napoleons Bruder Louis, unternahm 1831 in Italien, 1836 in Straßburg, 1840 in Boulogne Aufstandsversuche, seit 1838 wieder in England, im Juni 1848 in die Nationalversammlung gewählt, am 10. Dezember 1848 nach furioser Wahlkampagne mit 74 % der abgegebenen Stimmen zum Präsidenten der Republik gewählt, der Staatsstreich vom 2. Dezember 1951 wurde legitimiert durch das Plebiszit vom 21./22. Dezember 1851, 1852 neue Verfassung mit Einführung dreier das politische Leben einschläfernder Pseudo-Repäsentationen, des Corps législatif, des Senats und des Conseil d’Etat, Kaiserproklamation bestätigt durch Plebiszit. Hierzu: Jean Tulard (Dir.), Dictionnaire du Second Empire, Paris 1995, S. 882–902.
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Winfried Becker Landes verlangte, daß mir kundgetan werde, warum ich meiner Freiheit beraubt worden sei. Der Schließer versprach, den Brief zu besorgen, aber der Tag verging ohne Antwort; und so noch einer und noch einer. Auch von meinen Freunden empfing ich kein Lebenszeichen, und ich scheute mich, an einen von ihnen zu schreiben, weil ich ihn dadurch hätte in Verlegenheit bringen können. In jenen Tagen, obgleich ihrer nur wenige waren, lernte ich etwas von den Stimmungen kennen, die das Gemüt des Gefangenen martern – ein Gefühl bittern Zornes gegen die brutale Gewalt, die mich gefangen hielt; das Bewußtsein der Ohnmacht ihr gegenüber, das wie ein Hohn auf mich selbst in mir aufstieg; eine fieberhafte Phantasie, die mich mit einem endlosen Wechsel von häßlichen Bildern quälte; eine rastlose Ungeduld, die mich trieb, wie ein wildes Tier in seinem Käfig, stundenlang in der Zelle auf und ab zu rennen; dann eine öde Leere in Geist und Gemüt, die endlich in ein dumpfes Brüten ohne bestimmte Gedanken ausartete. Am Morgen des vierten Tages richtete ich ein zweites Schreiben an den Präfekten, noch ungestümer und pathetischer, als das erste, und wirklich kündigte mir der Schließer bald darauf an, daß ich nach dem Bureau des Präfekten geführt werden solle. In wenigen Minuten fand ich mich denn in einer behaglich eingerichteten Amtsstube einem stattlichen Herrn gegenüber, der mich freundlich zum Niedersitzen aufforderte. Er machte mir dann ein Kompliment über das in Anbetracht meiner deutschen Nationalität merkwürdig gute Französisch meiner Briefe und sprach in höflichen Redensarten sein Bedauern darüber aus, daß man mir durch meine Verhaftung Unbequemlichkeiten verursacht habe. Es liege eigentlich gar keine Anklage gegen mich vor. Nur wünsche die Regierung, daß ich mir einen Aufenthalt außerhalb der Grenzen Frankreichs wählen und zu diesem Ende Paris und das Land baldmöglichst verlassen möge. Vergebens suchte ich den Herrn zu einer Angabe der Gründe zu bewegen, die meine Entfernung aus Frankreich so wünschenswert erscheinen ließen. Mit immer steigender Höflichkeit versicherte er mich seines Bedauerns, daß es höheren Orts so beliebt werde. Endlich suchte ich seine Sorge um mein verletztes Gefühl durch die Bemerkung zu beschwichtigen, daß mich in Wirklichkeit das Belieben der Regierung nicht weiter genieren werde, da ich doch beabsichtige, nach London überzusiedeln, und daß meine Verhaftung mich nur in meinen Vorbereitungen zur Abreise unterbrochen hätte. Der freundliche Herr war ganz entzückt über diese glückliche Übereinstimmung meiner Absichten mit den Wünschen der Regierung und bat mich schließlich, mich mit meinen Vorbereitungen zur Abreise nur nicht zu beeilen; er werde sich freuen, wenn ich mich von jetzt an unter seinem speziellen Schutz fühlen und mich noch zwei, drei, vier, ja sechs Wochen in Paris amüsieren wollte. Es werde mir dann ein Paß ins Ausland zur Verfügung stehen; aber nach meiner Abreise hoffe er, daß ich ihn nicht durch eine Rückkehr nach Paris ohne spezielle Erlaubnis in Verlegenheit setzen werde. Dann wünschte er mir Lebewohl mit einer an Wärme grenzenden Freundlichkeit, und ich verließ ihn mit dem Eindruck, daß ich hier mit dem höflichsten, angenehmsten Polizeityrannen der Welt Bekanntschaft gemacht habe. Ich eilte nach meiner Wohnung und fand die Familie Petit meinetwegen in großer Besorgnis. Madame und die beiden ältlichen Töchter erzählten mir in dreistimmigem Chor, wie vor einigen Tagen zwei Polizeiagenten mein Zimmer durchstöbert und meine Papiere gemustert, dann aber alles in bester Ordnung zurückgelassen hätten; auch hätten die Polizeiagenten sich bei der Familie Petit über meinen Lebenswandel erkundigt, und ich könne mir wohl vorstellen, ein wie glänzendes Zeugnis die Familie Petit mir ausgestellt habe; dann aber habe die Familie sich sehr um mein Schicksal beunruhigt und meine Freunde, die mich hätten besuchen wollen, von all diesen Vorgängen unterrichtet und sie gebeten, alle ihnen zugänglichen Einflüsse für mich in Bewegung zu setzen. Ich fand denn auch, daß verschiedene meiner Freunde sich sehr um mich bemüht hatten, und es ist wahrscheinlich, daß dadurch meine Freilassung beschleunigt worden war. Die Ursache meiner Verhaftung wurde mir erst später klar. Louis Napoleon hatte schon längst die Vorbereitungen zu dem Staatsstreich begonnen, der die republikanische Regierungsform aus dem Wege räumen und ihn selbst in den Besitz monarchischer Gewalt bringen sollte. Während die Republikaner sich selbst über die heraufsteigende Gefahr täuschten, indem sie
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den Prätendenten als einen hirnlosen Affen seines großen Onkels19 lächerlich zu machen suchten, setzte dieser alle Mittel in Bewegung, um die Armee und die Massen des Volkes für sich und seine Pläne zu gewinnen. In allen Teilen des Landes wurde die napoleonische Propaganda in den mannigfaltigsten Formen organisiert, und diese Agitation fiel besonders bei der bäuerlichen Bevölkerung auf einen fruchtbaren Boden. Die Legende des Kaiserreichs mit seinen Kriegen und Siegen und seinem tragischen Ende war das Heldengedicht des Landvolkes, in dessen Glanz jede Bauernfamilie sich sonnte und sich groß fühlte – denn jede von ihnen wußte von einem Vorfahren zu erzählen, der bei Rivoli, bei den Pyramiden, bei Marengo, bei Austerlitz, bei Jena, bei Wagram, bei Borodino, bei Waterloo unter den Augen des Gewaltigen gekämpft. Und in diesem Heldengedicht stand die Kolossalfigur des großen Kaisers, vom Mythos umwoben, wie die eines Halbgotts, unerreicht in seinen Taten, riesenhaft noch in seinem Untergange. Jede Hütte war mit seinem Bilde geschmückt. Und nun trat ein Neffe des großen Kaisers dem Volke gegenüber, der den Namen des Halbgottes trug und mit diesem Namen jenen zauberhaften Glanz der Vergangenheit zu erneuern versprach. Und zahllose Agenten durchschwärmten das Land, zahllose Flugblätter gingen von Haus zu Haus und von Hand zu Hand, um die Botschaft zu verkünden von dem Neffen und Nachfolger des großen Kaisers, der die alte Herrlichkeit wieder heraufzuführen bereitstehe. Selbst die Drehorgel wurde in den Dienst der Agitation gezogen, indem sie Lieder vom Kaiser und seinem Neffen vor den Schenken der Dörfer und Marktflecken mit ihrer Musik begleitete. Bei der intelligenteren Stadtbevölkerung wurde freilich der napoleonischen Legende nicht eine so naive Verehrung bewahrt, aber sie war, schon lange ehe der Neffe des Onkels als Prätendent seine Agitation begonnen, auch dort in einer kaum weniger wirksamen Weise gepflegt worden. Bérangers20 Lieder und Thiers‘21 Geschichte des Konsulats und Kaiserreichs hatten den Napoleonkultus lebendig erhalten, und selbst die Regierung Louis Philippes22 hatte dem Idol ihre Huldigung dargebracht, indem sie sich dazu verstand, Napoleons Überreste mit großem Pomp von St. Helena überführen und im Invalidendom beisetzen zu lassen. Das so vorbereitete Feld wurde nun, seitdem Louis Napoleon als Präsident an der Spitze der Exekutivgewalt stand, unablässig beackert. Wie auf dem Lande die Drehorgel, so wurde in der Stadt das Theater zu Hülfe genommen. Ich erinnere mich eines Spektakelstückes, das mit großer Pracht und ergreifender Realität in Paris auf einer der Vorstadtbühnen zur Aufführung kam. Es hieß „La Barrière de Clichy“ und stellte den Feldzug von 1814, die Verbannung Napoleons nach der Insel Elba und seine Rückkehr nach Frankreich im Jahre 1815 dar. [...]
19 Napoleone Buonaparte, Napoleon I. (1769–1821), 1794 Brigadegeneral, 1796 Oberbefehlshaber der Italienarmee, 1799 nach Staatsstreich Erster Konsul, 1804–1814/15 erblicher Kaiser der Franzosen, 1805 König von Italien. 20 Pierre Jean de Béranger (1780–1857), Lyriker und populärer Chansonnier (mehrere ChansonSammlungen 1815–1833); er wandte sich gegen die Restauration der Bourbonen, 1848 Mitglied der Nationalversammlung, Staatsbegräbnis auf Veranlassung Napoleons III. 21 Louis Adolphe Thiers (1797–1877), zunächst liberaler Journalist, 1830 Mitglied der Deputiertenkammer, 1830–1831 Unterstaatssekretär der Finanzen, 1832–1834 Ministre du Commerce et des Traveaux publics, 1832, 1834 und 1834–1836 Innenminister, 1936 und 1840 Ministerpräsident und zugleich Außenminister, 1848 Anwalt des „parti de l’ordre“ in der Nationalversammlung, förderte er, sich selbst überschätzend, die Kandidatur von Louis Napoléon, nach dem Staatsstreich von 1851 verhaftet, kurz im Exil, 1863 Mitglied des Corps législatif und Anführer der Opposition, 1871–1873 Präsident der 3. Republik, 1876 erneut Abgeordneter. Von 1845 bis 1862 erschien in Paris seine sogleich ins Deutsche übersetzte Histoire du Consulat et de l’Empire faisant suite à la Révolution française in 20 Bänden. Hierzu: Benoît Yvert (Dir.), Dictionnaire des ministres de 1789 à 1989, Paris 1990. 22 Louis Philippe (1773–1850), 1793 Herzog von Orléans, ging nach Dienst in den Revolutionsarmeen zu den Österreichern über, Aufenthalte in der Schweiz, den skandinavischen Ländern, den USA, in London und Sizilien (seit 1809), 1830–1848 König der Franzosen (Roi Citoyen).
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Winfried Becker Die Armee suchte sich der „Prinzpräsident“ zu gewinnen, indem er bei Paraden und Manövern in Generalsuniform erschien, den Soldaten alle möglichen Begünstigungen zuwandte und die abenteuerlichen Geister unter den Offizieren durch allerlei Bevorzugungen an sich zog. Im Frühling 1851 begann er nun auch ernstlich, das voraussichtliche Schlachtfeld des geplanten Staatsstreichs für die entscheidende Aktion vorzubereiten. In den Pariser Spießbürgern wurde die Besorgnis geweckt, daß die Hauptstadt von gefährlichen Elementen voll sei, von denen man jeden Augenblick den Versuch eines Umsturzes der ganzen gesellschaftlichen Ordnung zu befürchten habe; die Gesellschaft sei in Gefahr und müsse gerettet werden. Der Präsident sei zu dieser Rettung bereit, aber der parlamentarische Teil der Regierung suche ihm die Hände zu binden. Er tue jedoch, was er könne, und unternehme es vorerst, die Hauptstadt von gemeingefährlichen Elementen zu säubern. Eine der zu diesem Ende ergriffenen Maßregeln bestand in der Entfernung von Fremden, die man im Verdacht haben mochte, daß sie sich an dem Widerstande gegen den beabsichtigten Staatsstreich tätig beteiligen würden. Zu dieser Kategorie wurde auch ich gerechnet. Ein Polizeiagent, der in einem Pamphlet die drohenden Gefahren beschrieb, um den Bourgeois in den geeigneten Schrecken zu setzen, erwies mir sogar die Ehre, mich als einen besonders verwegenen Umstürzler zu bezeichnen, der sich schon in seinem Vaterlande die unerhörtesten Dinge habe zuschulden kommen lassen. Zur Begründung erzählte er die Befreiung Kinkels, eines ungewöhnlich verabscheuenswerten Staatsverbrechers, mit den fabelhaftesten Ausschmückungen. Diese Umstände waren es, denen ich, trotz meiner bescheidenen und zurückgezogenen Aufführung in Paris, meine Verhaftung und Ausweisung aus Frankreich zu verdanken hatte. So ganz Unrecht hatte man übrigens darin nicht. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß, wäre ich zur Zeit des Staatsstreiches in Paris gewesen, ich in dem Widerstande gegen die napoleonische Usurpation den Entscheidungskampf um die Freiheit Europas gesehen, eine Muskete ergriffen und auf den Dezemberbarrikaden mitgekämpft hätte. So kann es sein, daß, wäre es sonst meine Absicht gewesen, in Paris zu bleiben, die polizeiliche Ausweisung mich von der Teilnahme an einem hoffnungslosen Unternehmen und vielleicht einem elenden Ende gerettet hat.“
Prof. Dr. Winfried Becker, Professor (em.) für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau
MAISON SUGER IN PARIS, 16–18 RUE SUGER, 75006 PARIS
(HARTMUT KAELBLE)
Kaum ein Tourist kennt in Paris die rue Suger. Sie trägt zwar den Namen des berühmten Abtes Suger von St. Denis. Aber sie ist eine völlig unbedeutende, schmale, kurze, stille, mittelalterliche Straße ohne jede Sehenswürdigkeit. Viele Fassaden in dieser Straße sind noch mittelalterlich krumm. Nur eine Plakette für den Schriftsteller Georges Marie Charles Huysmans (1848–1907) findet man an einem Haus, seinem Geburtshaus. Nur aus diesem Grund ist die rue Suger in dem dickleibigen Guide bleu von Paris erwähnt. Das berühmte Lycée Fénélon besitzt in dieser Straße ein Nebengebäude. Das Einzige, was dieser Straße wirklich Leben gibt, sind die Schüler dieses Lycées zu ganz bestimmten, kurzen Zeiten des Tages. Sie sitzen dann, plaudern, lachen, lärmen ein wenig. Die rue Suger lebt für eine Stunde auf und fällt dann wieder in ihre Stille zurück. Diese Stille und Abgelegenheit der rue Suger ist erstaunlich, denn die rue Suger liegt mitten im quirligen, überlaufenen Quartier Latin. Sie mündet in den belebten Platz Saint-André-des-Arts. Der Ausgang der Metrostation Saint Michel spuckt täglich viele Touristen aus, die sich in den Cafes und Restaurants am Platz drängeln, nur ein paar Schritte entfernt von der berühmten und viel besuchten fontaine Saint Michel und der pont Saint Michel. Gleich neben der rue Suger verläuft die rue Saint-André-des-Arts, voll gepackt mit kleinen, preisgünstigen Restaurants für Touristen, aber auch mit hocheleganten, spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Palais. Sie mündet in die tags und nachts belebte rue Buci, in der sich Pariser und Touristen mischen und von der aus man in die belebtesten und liebenswertesten Straßen, Plätze und Hinterhöfe des Quartier Latin kommt, die rue de la Seine, die rue Dauphine, die rue de l’Ancienne Comédie, natürlich auch zum boulevard Saint-Germain-des-Prés. Fast jedes Haus könnte hier eine oder viele Plaketten mit berühmten Namen tragen. Nur fünf Minuten von der rue Suger braucht man zum Procope, einem der ältesten Cafés Europas, dem Café der Aufklärung, in dem Rousseau, Voltaire und Beaumarchais, später Robbespierre und Danton verkehrten und dem gegenüber damals noch die Comédie française lag. Gleich daneben der cour du Commerce-Saint-André, in dem Marat seinen „Ami du peuple“ gedruckt haben soll. Um die Ecke, in der rue Buci, wohnte Arthur Rimbaud in einem billigen Hotel. Wenige Schritte entfernt logierte in der rue de la Seine Anfang der 1920er Jahre Antoine de Saint-Exupéry im Hotel „La Louisianne“. Zwanzig Jahre später lebten in dieser Strasse während der deutschen Besatzung Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Gleich daneben in der rue Dauphine hauste Julliette Gréco, existierte das berühmte „Tabou“ der Existentialisten, in dem auch Camus, Prévert und Genet verkehrten. Nur ein paar hundert Meter entfernt von der rue Suger liegt in Richtung der Seine die rue des Grands-Augustins und das Haus, in dem Picasso „Guernica“ malte. Mitten in dieser Geschichtsträchtigkeit also die abgelegene, unbedeutende rue Suger!
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Es gibt allerdings einen Grund, warum diese Straße trotzdem weltweit bekannt ist: Die Maison Suger, ein Gästehaus für Wissenschaftler, die nach Frankreich kommen. Die Maison Suger ist von außen völlig unscheinbar, fast etwas schwer zu finden. Man kommt auch nicht ohne weiteres in die Maison Suger hinein. Man muss den Code wissen. Selbst wenn man damit die Tür geöffnet hat, landet man in einem kleinen, abgeschlossen Vorraum. Man sieht durch eine Glastür in den Innenhof der Maison Suger, kommt aber nicht weiter. Nur wenn man Jemanden im Hause kennt, kann man an einem roten Telefon anrufen und sich abholen lassen. Auch für Wissenschaftstouristen ist deshalb die Maison Suger sehr spröde. Aber jedes Jahr wohnen viele Wissenschaftler aus aller Welt in der Maison Suger, manchmal nur eine Woche, manchmal Monate. Die Erinnerung an die Maison Suger verbindet daher Wissenschaftler auf der ganzen Welt. Jede Woche wird im Eingangsfoyer die Liste der Besucher, ihr Land und ihr aktuelles Thema ausgehängt und man hat die Wahl, wen man anrufen und zu einem Rendez-vous einladen will. Wenn nur ein Prozent dieser vielen Bewohner der Maison Suger wirklich berühmt werden, wird man eines Tages die Fassade der Maison Suger mit Denkplaketten so voll pflastern müssen wie wenige andere Häuser in Paris. Bisher ist das Haus als Erinnerungsort sehr spröde. Eine nüchterne Plakette in der Eingangshalle der Maison Suger erinnert an die Stifter, die die Maison Suger finanziert haben, darunter auch die Stiftung Volkswagenwerk und auch zwei deutsche Professoren, der Historiker Rudolf Vierhaus und der Soziologe Burkart Lutz. Die Maison Suger ist das Werk eines der bedeutendsten Wissenschaftsmanager Europas, der bis in die 1990er Jahre in die Maison des Sciences de l’Homme leitete: Clemens Heller. Er stammte aus Wien, war dort 1917 als Sohn von Otto Heller, dem Verleger von Sigmund Freund, geboren, musste vor dem NS-Regime in die USA emigrieren und hat nach seiner Rückkehr aus den USA nach Europa zwischen den 1950er und 1990er Jahren zahllose internationale Geistes- und Sozialwissenschaftler zusammengebracht. Clemens Heller hat die Maison Suger erfunden und ließ sie bauen. Er bekam einige alte Gebäude fast geschenkt unter der Bedingung, sie in einen internationalen Begegnungsort zu verwandeln. Er schaffte es, von Stiftungen aus ganz Europa die enormen Finanzierungsmittel für den Umbau in ein internationales Gästehaus für Geistes- und Sozialwissenschaftler aufzutreiben. Er fand einen Architekten, der es verstand, in diese gewundenen, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Häuser rund dreißig originelle, stilvolle und gleichzeitig praktische Appartements einzubauen. Jedes Appartement hat seinen eigenen, unverwechselbaren Charakter. Von manchen kann man die Flèche von Notre Dame im Sonnenaufgang bewundern. Von anderen aus erlebt man eine stille Pariser Innenstadtstraße. Andere Wohnungen gehen auf den schönen Innenhof. Im Erdgeschoss der Maison Suger liegen angenehme Tagungsräume. Die Computerarbeitsplätze liegen im mittelalterlichen Keller. Im schönen, glasüberdachten Innenhof können die Wissenschaftler ausliegende Zeitungen lesen, ihre Besucher empfangen und sich treffen. Vollendet in die Maison Suger integriert sind die alten, angenehm ausgetretenen Steintreppen und die alten Balken und Holzpalisa-
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den, an denen man die Zimmermannskunst der vergangenen Jahrhunderte ablesen kann. Die Maison Suger ist Teil der Maison des Sciences de l’Homme. Auch diese Institution wurde von Clemens Heller seit ihrer Gründung 1963 mitgeprägt. Der Bau des vielstöckigen Wissenschaftsgebäudes am Boulevard Raspail, in dem die Maison des Sciences de l’Homme seit 1964 zusammen mit der Ecoles des Hautes Etudes en Sciences Sociales residiert, wurde vor allem mit Hilfe seiner außergewöhnlichen Organisationsbegabung finanziert. Zusammen mit Fernand Braudel bis zu dessen Tod 1985 hat Clemens Heller die Maison des Sciences de l’Homme gesteuert. Fernand Braudel prägte in dieser Zeit das wissenschaftliche Konzept des Hauses. Clemens Heller prägte die Organisation. Er wurde 1985 als Nachfolger von Fernand Braudel «administrateur» der Maison des Sciences de l’Homme. In dieser Zeit, und zwar 1990, gründete er die Maison Suger. Er musste allerdings schon 1992 aus gesundheitlichen Gründen von einem Tag auf den anderen aufhören und zog zu seiner Familie nach Lausanne. Er starb 2005. Man bekommt ein Bild von ihm, wenn man die Reden zu seiner Trauerfeier 2005 auf der Webseite der Maison des Sciences de l’Homme liest. Wer war Clemens Heller? Clemens Heller war kein Mann, der schriftliche Spuren hinterließ. Er hat keine großen Bücher geschrieben, keine großen Reden gehalten, keine großen Memoranden verfasst. Sein Büro sah völlig chaotisch aus, und vermutlich wird er als geschichtsträchtige Figur für Historiker schwer zu untersuchen und zu fassen sein. Er wirkte vor allem auf drei Weisen: durch das Telefon, durch das intensive persönliches Gespräch und durch den Restaurantbesuch meist in einem der Restaurants der rue Cherche Midi. Er war ein Wissenschaftsunternehmer, der mit Finanzen souverän umzugehen verstand. Er war auch ein Wissenschaftsdirigent, der Begegnungen von Wissenschaftlern arrangierte und orchestrierte. Seine Perspektive war global. Wissenschaftler aus der ganzen Welt wurden von ihm zusammengebracht, eben auch in der Maison Suger. Er war völlig unbürokratisch. Er hat mir nie ein Formular gegeben. Einladungen nach Paris bestanden aus seiner berühmten Frage: «Vous venez quand et pour combien des mois?». Er war ein Vulkan an Energie. Ich hatte bei ihm immer den Eindruck, einen großen Mann mitzuerleben. Ich habe ihn deshalb zwar im Französischen meist geduzt, weil er mich meist duzte. Aber im Deutschen, unserer gemeinsamen Muttersprache, konnte ich ihn nicht duzen. Dazu war er mir zu bedeutend. Was ihn zu diesen enormen Leistungen antrieb, ist mir bis heute letztlich nicht klar. Aber ich hatte den Eindruck, dass ihn drei Motive bewegten: Die Wissenschaft war für ihn kein Nachdenken und Schreiben in der Einsamkeit. In seiner Vorstellung entstanden neue Ideen vor allem in der Begegnung, dem Austausch und der Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftlern. Die persönliche Begegnung war für ihn entscheidend. Sehr oft verließ man ihn mit einem Geschenk, das etwas ausdrückte, was ihn sehr bewegte und wozu er die Meinung des Anderen erwartete: ein Buch, das ihn beschäftigte. Das Persönliche, Unverwechselbare an einer Begegnung war für ihn wichtig. Er beteiligte sich fast nie an wissenschaftlichen Diskussionen. Als mächtiger Organisator respektierte er immer penibel die Autonomie der Wissenschaftler.
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Hartmut Kaeble
Clemens Heller entwickelte darüber hinaus auch eine sehr persönliche Philosophie von der Organisation der Wissenschaften. Es war erstaunlich, dass in diesem mehrstöckigen Wissenschaftspalais „Maison des Sciences de l’Homme“ mit ihrer Vielzahl von Arbeitsgruppen ein Leiter saß, der keine Komitees, keinen institutionalisierten bilateralen Austausch, keine gut geregelten, aber seelenlosen Wissenschaftsorganisationen, keine durchinszenierten, förmlichen Wissenschaftlerbegegnungen mochte. Als ich ihm einmal Vorschläge zu einem bilateralen Komitee von Historikern machte, war er wenig begeistert. Er unterstützte die Sache nur, weil er – wie er sagte – mir vertraute. Darüber hinaus erhoffte er sich von den wissenschaftlichen Begegnungen auch eine politische Wirkung: Der im Ersten Weltkrieg geborene Clemens Heller, der die Zerstörung Europas durch die beiden Kriege erlebt hatte, war kein Friedensbewegter, aber er erwartete von internationalen Wissenschaftlerbegegnungen ohne große Illusionen mehr internationale Offenheit, weniger nationale oder westliche Selbstüberschätzung und mehr Widerständigkeit gegen Chauvinismus. Ich denke, dass er deshalb auch den Ort ausgewählt hat, an dem die Maison des Sciences de l’Homme steht: Sie wurde an der Stelle eines früheren Gestapo-Gefängnisses gebaut. Ein Denkmal erinnert daran. Sie steht auch gegenüber dem Hotel Lutétia, dem Sitz der Gestapo während der deutschen Besatzung. Clemens Heller erwartete von Wissenschaftlern eine Verantwortung, nicht unbedingt im Sinn des Engagements von Intellektellen, die Manifeste unterschreiben, Zeitungen gründen und sich in sozialen Bewegungen engagieren, sondern im Sinn einer Verantwortung für die res publica. Er schätzte die puren Spezialisten nicht, die sich ganz in ihrem Spezialgebiet einschlossen und, wenn sie erfolgreich waren, von internationalen Einladungen verwöhnt waren. Er wünschte sich den verantwortlichen Wissenschaftler, der sich wenigstens für sein Fach, für die Qualität der Forschung, für die jungen Forscher, aber auch darüber hinaus verantwortlich fühlte. Der letzte Satz von ihm, an den ich mich erinnere, auf dem Balkon seiner Wohnung in Lausanne, drehte sich um diese Verantwortung des Wissenschaftlers. «Vous et votre génération, vous êtes responsables pour ce projet de la construction européenne, et vous êtes coupables, si ce projet soit raté.». Die Maison Suger ist wie ein Denkmal für Clemens Heller, für seine Erfolge, für deren Grenzen, auch für einen prägenden Charakterzug von Clemens Heller: Er drängte sich nie in den Vordergrund. Er wollte Wissenschaft dienen. Nirgends in der Maison Suger findet man seinen Namen, nicht einmal auf der Plakette der Stifter im Eingangshof. Selbst der damalige Präsident der französischen Republik, der die Maison Suger einweihte und vielleicht nicht mehr als eine Stunde im Gebäude war, ist erwähnt. Clemens Heller nicht. Prof. Dr. Hartmut Kaelble, Professor für Sozialgeschichte, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität Berlin
TABULA GRATULATORIA Gerd Ames, Saarbrücken Christian J. Autexier, Saarbrücken Pierre Ayçoberry, Strasbourg Jean-Pierre Azéma, Paris Jacques Bariéty, Paris Sigrid Barmbold, Sarreguemines Ansbert Baumann, Tübingen Irmgard-Christa Becker, Saarbrücken Josef Becker, Neusäß Wolfgang Behringer, Saarbrücken Uta Birkemeyer, Berlin Katharina Böhmer, Kassel Heinz-Günther Borck, Vallendar Dominique Bourel, Paris Peter Brandt, Hagen Wolfgang Brücher, Saarbrücken Günter Buchstab, Sankt Augustin Heike Bungert, Münster Eric Bussière, Paris Jean-Paul Cahn, Paris Christophe Charle, Paris François Cochet, Metz Eckart Conze, Marburg Olivier Dard, Metz Corine Defrance, Paris Peter Dörrenbächer, Saarbrücken Elisabeth Do Lam, Amsterdam Sandra Duhem, Saarbrücken Michael Erbe, Mannheim Nathalie Faure, Paris Elisabeth Fehrenbach, Köln Andreas Fickers, Maastricht Stefan Fisch, Speyer Armin Flender, Essen Annie Fourcaut, Paris Patrick Fridenson, Paris Gudrun Gersmann, Paris Jean-Pierre Goubert, Paris Alfred Grosser, Paris
Anne & Marcus Hahn, Saarlouis Heiko Haumann, Basel Heinz-Gerhard Haupt, Florenz Peter Heil, Bonn / Berlin Roland Höhne, Kassel Renate & Kurt-Ulrich Jäschke, Saarbrücken Joseph Jurt, Freiburg Brigitte Kasten, Saarbrücken Heike Kempf, Neustadt a. d. Weinstraße Ingo Kolboom, Dresden / Montréal Peter Krüger, Marburg Barbara Lambauer, Paris Alain Lattard, Paris Stefan Leiner, Saarbrücken Thomas Lindenberger, Potsdam Antoinette Lorang, Luxemburg Annette Maas, Saarbrücken Reiner Marcowitz, Metz Stefan Martens, Paris Jean-Marie Mayeur, Paris Gilbert Merlio, Paris Horst Möller, München Monique Mombert, Strasbourg Karl-Heinz Ohlig, Saarbrücken Werner Paravicini, Kronshagen Jens Petersen, Buchholz Ulrich Pfeil, Saint-Etienne Emmanuelle Picard, Paris Nicole Piétry, Neuilly-sur-Seine Bernard Poloni, Paris Thomas Raithel, München Rainer Riemenschneider, Braunschweig Ilse-Marie Riepe, Berlin Jean-Pierre Rioux, Paris Anne-Marie Saint-Gille, Lyon Hanne Samsel-Tischleder, Köln Antje Schlamm, London Heinrich Schlange-Schöningen, Saarbrücken Manfred Schmeling, Saarbrücken
520 Johannes Schmitt, Schmelz Ute Schneider, Essen Peter Schöttler, Paris / Berlin Reinhard Schreiner, Sankt Augustin Peter Schuster, Saarbrücken Klaus Schwabe, Aachen Georges-Henri Soutou, Paris Torsten Stein, Saarbrücken André Steiner, Potsdam Fritz Taubert, Paris Peter Thorau, Saarbrücken Gilbert Trausch, Luxemburg Hans-Peter Ullmann, Köln
Hartmut Ullrich, Kassel Jérôme Vaillant, Lille Danièle Voldman, Paris Hans Wassmund, Berlin Klaus Wenger, Baden-Baden Michael Werner, Paris Niels Wilcken, Saarbrücken Andreas Wirsching, Augsburg Stefanie Woite-Wehle, Stuttgart Werner Zettelmeier, Paris Joachim Ziegler, Colmar Moshe Zimmermann, Jerusalem
Die Kulturgeschichte hat mit dem „spatial turn“ den Raum neu entdeckt: als lokale Folie konkreter Handlungsvollzüge und als imaginierte Bezugsgröße umstrittener Bedeutungszuschreibungen. Insofern ist der vorliegende Band dem „spatial turn“ verpflichtet. Wie ein Fernsehzuschauer bei der „Tour de France“ entdeckt der Leser Landschaften, sieht Gebäude aufscheinen, Denkmäler vorbeiziehen. Verständige Experten bieten Erläuterungen, erzählen spannende Geschichten oder betten das Gesehene in den größeren historischen Zusammenhang ein. So entsteht ein Mosaik franzö-
sisch-deutscher Geschichte, ein Kaleidoskop der „merkwürdigen“ Artefakte. Nicht die großen Erinnerungsorte interessieren, sondern die beiläufigen Funde, etwa ein altes Kino in St. Ingbert, eine zeitgenössische Karikatur aus Kassel, ein Gedenkstein in Bagnoles-de-l’Orne, ein altes Schulbuch oder eine Villa in Fréjus. Mehr als 50 ausgewiesene Historiker und Historikerinnen haben in dieser Festschrift für Rainer Hudemann eine europäische Landeskunde Frankreichs entworfen, die zum Weiterstudium anregt, doch auch als Führer zu unbekannten Orten „französischer“ Geschichte genutzt werden kann.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-09234-0