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German Pages 224 [308] Year 2013
Christian Schäfer Thomas von Aquins gründlichere Behandlung der Übel
Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät
Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Band 57 Begründet von Michael Schmaus †, Werner Dettloff und Richard Heinzmann Fortgeführt unter Mitwirkung von Ulrich Horst Herausgegeben von Richard Heinzmann und Martin Thurner (federführender Herausgeber)
Christian Schäfer
Thomas von Aquins gründlichere Behandlung der Übel Eine Auswahlinterpretation der Schrift De malo
Akademie Verlag
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978-3-05-006076-7 978-3-05-006078-1
Vorwort
An einer berühmt gewordenen Stelle zitiert Augustinus die Bemerkung Sallusts, der ungeheuerliche Catilina habe bisweilen Übeltaten nur deswegen begangen, damit er darin nicht aus der Übung komme. Nun heißt es bekanntlich, ein langes Buch sei ein großes Übel, mega biblion mega kakon. Wenn das so stimmt, dann ist auch das Übel des vorliegenden, doch zu überraschendem Umfang angewachsenen Buchs ursprünglich vor allem, wenn schon nicht ausschließlich, darauf zurückzuführen, dass sein Verfasser im Schreiben von Büchern nicht aus der Übung kommen wollte. Denn anders als viele andere Dinge kann man das Bücherschreiben offenbar recht schnell verlernen – es gibt reichlich erschreckende Belege dafür. Tatsächlich ist dieses Buch als eine Etude zu Thomas von Aquins Werk über das Üble konzipiert, als eine Art Fingerübung für den Autor mit erhofftem Informationswert für den Leser. Zu danken habe ich dem Verlagslektor Manfred Karras und dem Chefherausgeber Martin Thurner für die Aufnahme dieser „Etude“ in die Reihe der Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts, und ich tue das sehr gerne. Gleiches gilt für die Abstattung der Dankesschuld an Marko J. Fuchs und Alexander Fischer von der Universität Bamberg, die das Manuskript korrekturgelesen und so manche Verbesserung angeregt haben, sowie an Manuel Gebhardt für die Hilfe bei der Formatierungsarbeit und Matthias Waha für die Erstellung der Indices. Dass mir in meinen Berufungsverhandlungen an die Universität Bamberg Druckkostenzuschüsse innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zugestanden wurden, hat die Veröffentlichung in jeglicher Hinsicht befördert, nicht zuletzt in zeitlicher. Die schwierigste Arbeit an diesem Buch war es gleichwohl, erst einmal die Zeit freizukämpfen, es zu schreiben. Da dies nicht immer in ausreichendem Maße gelingen wollte, gilt auch hier der berühmte Ausspruch Pascals: Das Buch ist dann doch so lang geworden, weil mir die Zeit fehlte, mich kurz zu fassen (ein sporadischer Beleg unter vielen für die These des Thomas von Aquin, dass auch ein mega kakon sich vollständig durch ein Fehlen erklären lässt). München, im Dezember 2012
Christian Schäfer
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ......................................................................................................................... 5 Inhaltsverzeichnis.......................................................................................................... 7 Einleitung ...................................................................................................................... 9 Teil 1: Ontologische Grundlegung .............................................................................. 31 Frage 1 Artikel 1: Ist das Üble überhaupt etwas? Übersetzung ...................................................................... 33 Interpretation..................................................................... 36 Frage 1 Artikel 2: Findet sich das Üble im Guten? Übersetzung ...................................................................... 51 De malo q.1 a.2: Interpretation ......................................... 54 Frage 1 Artikel 3: Ist das Gute die Ursache des Üblen? Übersetzung ...................................................................... 65 Interpretation..................................................................... 69 Teil 2: Ethische Diskussion ......................................................................................... 95 Frage 3 Artikel 3: Verursacht der Teufel die Sünden? Übersetzung ...................................................................... 97 Interpretation................................................................... 100 Frage 6: Wählt der Mensch seine Handlungen frei, oder wählt er aus Notwendigkeit? Übersetzung .................................................................... 115 Interpretation................................................................... 122
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Inhaltsverzeichnis
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Teil 3: Moraltheoretische Ausführung ...................................................................... 165 Frage 8 Artikel 3: Hat der Hochmut seinen Sitz im aufbegehrenden Vermögen? Übersetzung .................................................................... 167 Interpretation................................................................... 170 Frage 12 Artikel 1: Ist jeder Zorn von Übel? Übersetzung .................................................................... 191 Interpretation................................................................... 194 Teil 4: Sonderfalldiskussionen zum Bösen ............................................................... 215 Frage 16 Artikel 2: Sind die Dämonen von Natur aus böse oder willentlich böse? Übersetzung .................................................................... 217 Interpretation................................................................... 221 Schlusswort ............................................................................................................... 237 Anhänge .................................................................................................................... 239 Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie.............................................. 241 Anhang 2: Privation, Negation und „schlechthin Übles“ ............................... 277 Literaturverzeichnis................................................................................................... 285 Personenindex ........................................................................................................... 299 Sachindex .................................................................................................................. 301
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Einleitung
Es erübrigt sich beinahe zu sagen, dass das Werk des Thomas von Aquin über das Böse nicht die Aufmerksamkeit erfahren hat, die es verdient. Aber es erübrigt sich nicht zu sagen, dass es sich beinahe erübrigt, dies zu sagen – schließlich trifft diese Aussage zunächst einmal auf so gut wie jedes Werk der scholastischen Philosophie zu. – Um zu erklären, warum dies im Fall der betreffenden Schrift des Thomas von Aquin so ist, bedarf es also einer längeren Einleitung, die im Zuge des Erklärungsversuchs auch Auskunft über Absicht und Aufbau des vorliegenden Buchs geben soll.
Das Thema dieses Buchs: Die Schrift des Thomas von Aquin, die hier behandelt wird, hat den lateinischen Titel Quaestiones disputatae De malo, also in etwa: „Diskussionsfragen über das
Übel“. Dabei soll man sich aber nicht darüber täuschen, dass das lateinische Wort eine weit größere Bedeutungsvielfalt hat als das deutsche Wort „Übel“, und das gilt insbesondere für die philosophische Verwendung, in der das die Ausdrucksvarianten des griechischen Begriffs mitübernimmt. Belege aus den lateinischen Verwendungsweisen dieses Begriffs könnten im Einzelnachweis unschwer den Befund erbringen, dass der Begriff des unter anderem aktiv begangenes wie erlittenes Übel, Unbrauchbarkeit, qualitative Zustände und menschliche Schuld genauso wie ethisch indifferentes, zum Beispiel technisches Misslingen, Umstände, Objekte und Sachverhalte ebenso wie Handlungsvorsätze, und existenzbedrohendes Böses wie alltägliche Unannehmlichkeiten bezeichnen kann. wird schließlich generell als Gegensatz zu Wörtern, die oft primär das moralisch oder instrumentell Gute bezeichnen, gebraucht, zu Begriffen also, die jeder für sich bereits ein weites Bedeutungsfeld abstecken, und ist mit den deutschen Übersetzungsmöglichkeiten „das Schlechte“, „das Übel“, „das Negative“ oder „das Böse“ jeweils nur unzureichend wiedergegeben und
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10 keinesfalls zur Gänze abgedeckt.1 Es hat nicht an Stimmen gefehlt, die dies als Nachteil ansehen wollten – Immanuel Kant etwa ist ein prominenter Vertreter dieser Ansicht. Dem Begriff des Bösen würde von seiner Intensität und von seinem moralischen Ernst etwas genommen, so lautet hier der Einwand, wenn er in dieser Weise sprachlich in den Auffassungssog von bloß Üblem oder Negativem geriete oder vielleicht unter dem gemeinsamen Begriffsdeckel des einen Wortes ein2 unterscheidungsloses Mischmasch des Verständnisses solcher Negativa brodle. Wie andere steht Kant dabei einerseits, Thomas von Aquin nicht unähnlich, in einer Tradition, in der, wie Paul Ricoeur sagt, die These von der Radikalität des Bösen niemals in die falsche Annahme einer Ursprünglichkeit des Bösen umgeschlagen ist ; andererseits jedoch, ganz im Gegensatz zu Thomas, in einer Tradition, die das moralische Böse gerade in dieser Radikalität als vergleichs- und analogielos zu allen anderen Formen des Üblen oder Schlechten ansehen möchte, als einen isolierbaren Bereich sui generis im weiten Feld des Negativen. Dass derartige Bedenken tatsächlich auch philosophische Haltungen gegenüber dem Problem des malum/Bösen bedingen, soll im weiteren Verlauf noch einmal anhand dessen aufgezeigt werden, was ich einen „psychologischen Manichäismus“ oder „postulativen Manichäismus“ nennen werde. Zunächst muss aber der Verweis darauf genügen, dass für gewöhnlich die Bedenken, einen Begriff seiner Extensionalität oder Deckungsbreite wegen in Gefahr zu sehen, an unmittelbarer Auffassungsintensität zu verlieren oder weniger emphatisch zu sein, philosophisch vergleichsweise bedeutungslos sind. Solche Bedenken lassen zudem bisweilen die positiven Kehrseiten außer Acht: Mit der Unterscheidung von Übel, Einleitung
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Vgl. dazu und zu Einzelbelegen Christian Schäfer: Unde malum? Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius vom Areopag. Würzburg 2002, S. 16-28. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 104-105. Vgl. dazu ausführlicher Stefan Schick im Nachwort zu seiner Übersetzung der Quaestiones disputatae De malo: Thomas von Aquin, Vom Übel/De malo, S. 472. Paul Ricoeur: Symbolik des Bösen. Freiburg/München 1971, S. 181: „Wie radikal das Böse auch immer sein mag, es kann doch nicht so urgründig sein wie das Gute“
(Hervorhebungen im Original). Vgl. zu ähnlichen Überlegungen Helmut Holzey: Das Böse. Vom ethischen zum metaphysischen Diskurs. In: Studia philosophica 52 (1993), S. 7-27. Mit Recht gibt etwa Volker Gerhardt zu bedenken: „das Böse ist nicht die einzige Negation des Guten, selbst dann nicht, wenn wir das Gute ausdrücklich ethisch oder moralisch verstehen. Man kann auch von ‚üblen‘ Vorsätzen, ‚schlechten‘ Taten, ‚verkehrten‘ Zielen oder von einem ‚verfehlten‘ Leben sprechen. So zu reden hält die Basis der Bewertung bewusst und lässt den relativen Sinn der Negation nicht vergessen. Die Rede vom Bösen hingegen steht in Gefahr, als absolut verstanden zu werden“ (Volker Gerhard: Kann die Moralphilosophie auf die Kategorie des Bösen verzichten? In FIPH Journal 19 (2012), S. 24-15, hier S.14).
11 Bösem und Schlechtem gegenüber dem malum befindet sich die deutsche Sprache gegenüber dem Lateinischen in einem Differenzierungsvorsprung, der dem des Griechischen mit seiner für uns erstaunlich eindeutigen Unterscheidung von eros, agapê und philia gegenüber dem Deutschen mit seinem recht undifferenzierten Begriff „Liebe“ gleicht. Die vorwurfsvollen oder verdächtigenden Konsequenzen, die man gegenüber dem Begriff des malum in seiner undifferenzierten Breite hegt, würde man aber für den analogen Fall des Liebesbegriffs doch kaum ziehen wollen – sondern im Gegenteil die positiven und häufig genug augenöffnenden Konsequenzen der natürlichsprachlichen Verwendung des Begriffs herausstellen. Ähnliches gilt für den Fall des deutschen Wortes „Glück“, das ein vorphilosophisches und in kurioser Weise doch gänzlich aristotelisierendes Verständnis der Verwiesenheit von fortuna und beatitudo, von eutychê und eudaimonia, also von gehabtem, erlebtem und gelebtem Glück, natürlichsprachlich dokumentiert.6 Für Thomas ergibt sich unter diesen Vorzeichen die Möglichkeit, die verschiedenen Differenzierungen des malum als des Schlechten, Bösen oder Üblen unter einem gemeinsamen Raster abzuhandeln. Das erlaubt es ihm, die einer Interpretation des malum angemessene Gemeinsamkeit in der Grundstruktur der Erklärung festzustellen, um aufgrund der Gemeinsamkeit wie in einem aristotelischen Definitionsverfahren die spezifischen Differenzierungen in moralische, aktive und passive, technische oder qualitative Bedeutungen vornehmen zu können. Ähnlich wie im deutschen Vergleichsfall etwa Schelling in der Freiheitsschrift „Liebe“ als „Selbstheit, die von sich weg kann/geht“ bestimmt, woraus man dann auch die „griechischen“ Einzelvarianten dieser Grundbestimmung in erotischer, agapetischer oder philotischer Auffassung begreifen kann. Oder ähnlich wie beim bekannten Symbol des Bohrschen Atom-Modells die Bestimmung des Protonkerns aus den drei Kreisbahnen der umlaufenden Elektronen erschlossen werden kann, aber genauso gut diese vom Protonkern und seinen Eigenschaften aus. Somit erstreckt sich hier der Bedeutungsgehalt des malum, wie man ihn bei Thomas von Aquin vorfindet, in gleicher Weise über die Bereiche „des Übels und des Bösen, des Schlechten, Schlimmen, Schrecklichen, des Unvollkommenen, Einleitung
6
Einen weiteren Aspekt zeigt Robert Spaemann auf: „Thomas von Aquin verfügt sowenig wie Platon oder Aristoteles über eine Vokabel, um Böses von Schlechtem, oder von ‚Übeln‘, zu unterscheiden. Das sittlich Böse ist ein Übel, ein malum, wie die Stumpfheit von Messern oder die Krankheit von Lebewesen – freilich ‚der Übel größtes‘, wie es noch bei Schiller heißt, nicht jedoch, wie die Stoiker wollten, das einzige. Das neuzeitliche Denken schwankt zwischen dieser stoischen Ansicht und deren Gegenteil, also der Auffassung daß alle Übel naturalistisch interpretierbar sein müßten“ (Robert Spaemann: Einleitung zu Thomas von Aquin: Über die Sittlichkeit der Handlung. Übersetzung und Kommentar von Rolf Schönberger. Weinheim/New York 1990, S. vii-xvi, hier S. vii).
12 Mangelhaften, Defekten, Defizitären und Inferioren, des Unordentlichen, Dysfunktionalen, Widrigen, Kranken, Fatalen, des Ruchlosen, der Sünde und der Schuld, des Verkehrten, Irrigen, Lasterhaften, der Entfremdung, des Leides, des sonstwie Nichtigen und Negativen“.7 Auch der rätselhafte Neuplatoniker Dionysius Areopagita, auf den Thomas von Aquin in immer wieder zurückgreift, weist in einer ähnlichen Bestimmungsliste auf diesen weiten „Wortfeldcharakter“ hin: „das Böse/Schlechte/Üble ist also Privation, Defekt, Schwäche, Mißverhältnis, Verfehlung, Ziellosigkeit, Unedles, Lebloses, Vernunftloses, Sinnloses, Unvollkommenes, Haltloses, Ursacheloses, Unumgrenztes, Unfruchtbares, Untätiges, Kraftloses, Ungeordnetes, Ungleiches, Grenzenloses, Lichtloses, Substanzloses und das nie und nimmer etwas Seiendes“.8 Dennoch lässt sich das so verstandene , Wortfeldcharakter hin oder her, in seinen verschiedenen Seins- oder Wirkweisen, sozusagen in den vielfältigen Spielarten, in denen es phänomenal auftritt und als „Böses“ oder „Übel“ identifiziert werden kann, im Dienste einer rationalen Untersuchung gewinnbringend klassifizieren. Das heißt, wenn der Begriff schon nicht zur Gänze umgrenzt werden kann, so lassen sich doch immerhin innerhalb seines weiten Bedeutungsfelds unterscheidend Grenzen ziehen. Thomas wird diese Grenzziehung, so kann die Interpretation seiner Schrift an mehreren Stellen erbringen, gerade aufgrund des Umstands gelingen, dass er von einer einheitlichen Grundstruktur in der Erklärung des ausgeht. In der Erklärung und begrifflichen Klärung des , wohlgemerkt. Dass das selbst eine einheitliche Grundstruktur aufwiese, widerspräche dagegen der Auffassung, die Thomas erarbeitet, und auch das wird im Interpretationsverlauf deutlich zu sehen sein. Wie nach dem bekannten Wort Freges auf dem Begriff der Zugspitze kein Schnee liegen kann, sondern nur auf dem Berg, den dieser Begriff bezeichnet, so kann Thomas von Aquin (mit einer der Fregeschen nicht unähnlichen Unterscheidung aus Aristotelesʼ 429b10-15) umgekehrt sagen, dass der philosophischen Begriffsfassung des Üblen Einheitlichkeit und Einsichtigkeit der Erklärstrukturen zukommt, nicht aber dem Übel in seinem phänomenalen Auftreten. Für die deutsche Übersetzung ergeben sich aber aus diesem Befund der sprachlichen Verwendungsunterschiede und konzeptuellen Differenzierungen sehr ärgerliche Schwierigkeiten. Denn wie soll man den Begriff des wiedergeben, wenn doch gerade dieser Einheitsbegriff für die im Deutschen sprachlich klar auseinandergehaltenen Vorkommensweisen des Bösen, Schlimmen, Üblen, Schlechten und so weiter fehlt. Unter den mehreren Möglichkeiten, hier gedanklich richtig und sprachlich einigermaßen „elegant“ zu verfahren, fiel meine Einleitung
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Odo Marquard: Art. Malum. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Darmstadt 1980, S. 652-653, hier S. 653. Dionysius Areopagita: De divinis nominibus 732 CD (Übersetzung Suchla). Ähnlich hatte Plotin eine Bestimmung des griechischen kakon in Enneade I.8[51].3,12ff gegeben.
13 Entscheidung schließlich darauf, für malum durchgängig, besser gesagt: grundsätzlich, aber nicht unbeugsam, die Übersetzung „Übel“ zu gebrauchen (Analoges gilt für den Fall des Adjektivs malus/a/um und „übel“). Unter die Gründe dafür zählen unter anderen vor allem folgende: Zunächst, die verschiedenen substantivischen Wortformen „Übel“ und „Übles“ – und zusätzlich „das Üble“ – bieten flexible Möglichkeiten der Formulierung: Ohne den Bereich des „Üblen“ zu verlassen, wird doch mit den wichtigen Nuancen in der Unterscheidung von Übel und Üblem einiges vereindeutigend zum Ausdruck gebracht werden können. So lässt sich vieles darstellen, was andernfalls Probleme bereiten würde, etwa in der Unterscheidung dessen, was das Üble am Übel ist (also im Sinne eines Abstraktums: was das Üble alles ist), von dem, was das Üble am Üblen ist (das heißt in Unterscheidung des nomen agentis vom nomen (f)acti: von allem, was Übel ist). Sodann: Die Wendung „von Übel“ löst in vielen Fällen ärgerliche Übersetzungsprobleme und verhilft häufig dazu, die Ausdrucksweise im Text zu glätten. Schließlich, wenn auch nur zirkumstantiell motiviert: „Vom Übel“ ist auch der deutsche Titel von De malo in der bislang einzigen Gesamtübersetzung der Quaestiones disputatae des Thomas von Aquin (der „Regensburger Ausgabe“), der sich diese Arbeit in vielerlei Hinsicht verpflichtet fühlt.9 Thomas entwickelt in De malo eine Erklärung des Übels als Ermangelung oder Fehlen, als Ausbleiben oder Unwirklichkeit des Guten, also eine Variante der sogenannten Privationstheorie. Deren zentraler Gedanke ist die parasitäre Abhängigkeit des Üblen von einem logisch vorgängigen Guten, ähnlich wie Negationen nur als Bezugnahme auf bereits bestehendes Positives gedacht werden können, während das Positive als solches weder in Abhängigkeit noch überhaupt im Kontrast zu etwas anderem als solches konzipiert werden muss (oder kann). Es gelingt Thomas dabei, eine kompakte These zur Erläuterung des Übels vorzulegen: Einer geduldigen Interpretation stellt sich die von Thomas ausgearbeitete Darstellung der Privationstheorie erstens als in sich gut geschlossen dar; zweitens als robust und belastbar gegenüber den Einwänden und Zweifeln ihrer Gegner; drittens als vorbildhaft in der Art, wie moralisches Böses mit anderen Auftretensweisen von Üblem in eine gemeinsame theoretische Erklärung gebracht werden kann, ohne einerseits einen Fehlschluss vom einen aufs andere zu begehen, noch auch andererseits die gemeinsame theoretische Erklärung allzu breit und allzu aufnahmefähig werden lassen zu müssen. Schließlich ist für De malo noch ein weiteres Merkmal hervorhebenswert, weil Thomas auch hier die üblichen Vorwürfe gegen die Privationslehre von vornherein unterläuft: Eine Theodizee ist nicht der Fluchtpunkt der Erläuterung des Übels in De malo und diese nicht nur Einleitung
9
Thomas von Aquin, De malo/Vom Übel, Band 1 übersetzt von Stefan Schick, Hamburg 2009, Band 2 übersetzt von Christian Schäfer, Hamburg 2010 (= Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae. Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung. Herausgegeben von Rolf Schönberger. Bd. XI und XII).
14 ein Vorwand für eine Theodizee.10 Obwohl Thomas das Thema der Schuld Gottes für das Üble zum Beispiel in a.1 der q.3 durchaus behandelt und dann noch ein paar Male in verschiedenen Zusammenhängen streift (so in q.3 a.3). Die Ablehnung der Privationstheorie, wie sie seit dem 17. oder 18. Jahrhundert in der philosophischen Landschaft vorwaltet, hängt im Wesentlichen an einem Auffassungsgrundsatz, den man – je nachdem – als „psychologischen“ oder „postulativen Manichäismus“ bezeichnen könnte. Es handelt sich dabei im Fall des „psychologischen Manichäismus“ um die Lehre von der Äquipollenz, also der gleichen psychologischen Zugkraft oder Offenheit, die im Menschen bezüglich des guten und des bösen Handelns festzustellen sei; im Fall des damit genetisch verwandten „postulativen Manichäismus“ um die zum Grundsatz erhobene Auffassung, dass das Üble in seiner dem allgemeinen Empfinden und dem Blick auf die Welt und auf den eigenen Lebensvollzug nach sehr eigenwillig erscheinenden Kraft und in seinen zerstörerischen Auftretensvarianten, seiner unterjochenden Dynamik und schrecklichen Schlüssigkeit nicht als nur privativ eingefangen werden kann, sondern etwas Eigenständiges, eine Größe für11sich oder eine nicht mehr auf andere Vermögen rückführbare „Kraft“ sein muss. Eine Affiziertheit dieser Art verlangt demnach irgendwie ein „Ding an sich“ als Erklärung (und nicht nur ein „Etwas an anderem“, wie es die Privationslehre will), auch und gerade auch, wenn es der letzten Analysemöglichkeit und dem Erkennen entzogen bleibt (hier ergibt sich dann die Verbindung zur Variante des psychologischen Manichäismus: Auch dieser erklärt das Böse ja als eigenständig Offenes Menschen statt als Einbuße oder Unabgeschlossenheit Menschen).12 Und so steht oft genug am Ende dieser Entwicklung als Richtlinie für die philosophische Beschäftigung mit dem Thema, beim Bösen gar nicht erst danach zu fragen, was es sei, sondern
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Zum Verhältnis von Privationstheorien wie der thomasischen zu einer möglichen Theodizee und den Streit darum siehe Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung. Gütersloh 2002, S. 53-57. Beispiele für diese Auffassung im Sinne eines „Vorwurfs der Entwirklichung“ durch die Privationstheorie bringt unter der zusammenfassenden Kapitelüberschrift „untaugliche Einwände gegen die Privationslehre“ Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee, S. 52-53; im selben Buch allerdings bietet Hermanni selbst ein Beispiel für diesen postulativen Manichäismus auf S. 132: „Das Böse als solches ist keine Beraubung, es besitzt vielmehr eine Positivität, die nicht die Positivität des mit ihm verknüpften Guten, sondern seine eigene ist“. Thomas von Aquin kannte dieses Argument und behandelt es auch in Buch III der Summa contra Gentiles. Er hat solche Überlegungen allerdings nach eingehenderer Prüfung nicht für ausschlaggebend gehalten, da er eine bessere Erklärung zu entwickeln vermochte: Vgl. Rolf Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles. Darmstadt 2001, S. 131132, einen Parallelfall der dortigen Argumentation findet man in De malo q.12 a.1 [2.2].
15 nur, was es uns als leidenden oder handelnden Wesen antut. Gerade die erschreckende Wucht und Mächtigkeit des Bösen wiederum hat etwa Schelling in Formulierungen, die für den Angriff auf die traditionellen Positionen paradigmatischen Charakter gewonnen haben, zur Ablehnung der Privationstheorie geführt, denn Beraubung, Ermangelung und Fehlen seien „Begriffe, die der eigentlichen Natur des Bösen völlig widerstreiten“.14 Die Vertreter der Privationslehre selber, allen voran Augustinus, wissen um diesen existentiell motivierten Einwand, den nicht nur Schelling so emphatisch vorbringt. Thomas von Aquin bietet, das ist eine weitere Stärke der Abhandlung des Üblen in , durchaus eine plausible Erklärung an, um diese psychologische Reaktion auf die Privationstheorie zu erhellen und ihr somit argumentativ zu begegnen (vgl. die Deutung zu q.12 a.1 [2.2]). Dabei ist aber im Auge zu behalten, dass es Thomas in vordringlich um eine Behandlung des Üblen im Sinne einer theoretischen Erläuterung geht, nicht um eine erklärende Therapie für existentielle Einzelfragen, obwohl auch diese in gewissermaßen ihren Platz findet. Auch dort, wo er das Zustandekommen von menschlichem Bösem und von Lasterhaftem erklärt, zeigt Thomas zwar dadurch, wie es vermieden oder bekämpft werden kann, dass seine Theorie zur Handlungsanleitung, und viel mehr noch: zur Lebensleitung taugt; doch zeigt seine Schrift auch an diesen Stellen, dass es sich um eine Theorie handelt. Thomas vermeidet dabei immer den – – „pastoralen Sprung“ aus der Theorie und ihrem Eigenbereich hinein in die Tröstungsliteratur oder den Bereich der psychologisch annehmbaren, kasuistisch verwertbaren Bewältigungsinteressen. Die Tatsache, dass dem Blinden durch die theoretisch richtige Definition der Blindheit als Sekundärmoment der Wegnahme gegenüber dem natürlich vorrangigen Zustand der Sehfähigkeit zur Lebensbewältigung nicht geholfen ist,15hätte Thomas niemals leugnen können, und er macht auch keine Anstalten dazu. Es ist umgekehrt vielleicht eher eine Schwäche der Schrift , dass sie die ontologische Behandlung des Üblen zu schnell verlässt, um zügig zu moralischen Erwägungen fortzuschreiten. Einleitung
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Vgl. Susan Neiman: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Frankfurt 2004, S. 35. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Hg. Thomas Buchheim, Hamburg 1997, S. 40.
Zu Schellings Kritik und zur Widerlegung ihrer Anwendbarkeit auf Thomas von Aquin vgl. auch unten die Interpretation von q.12 a.1 [2.2] sowie Stefan Schicks Nachwort zu Thomas von Aquin, De malo/Vom Übel, Band 1, S. 469-471. Obwohl es andere Fälle gibt, in denen die Erklärung der Übel oder Leiden durchaus deren Erleichterung oder zumindest eine Erleichterung für den Leidenden bedeuten. Hierhin gehört Nietzsches bekannte Feststellung, dass wer ein Warum hat, fähig ist, fast jedes Wie zu ertragen: Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, im Kapitel „Sprüche und Pfeile“ Nr. 12 (Werkausgabe VI 3, S. 53-54).
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Aus dem Briefwerk des Augustinus erfahren wir, dass er einmal von einer verzweifelten Mutter, deren Kind gestorben war, um eine tröstende Deutung dafür angegangen wurde. Augustinus, der wohl wusste, dass er aufgrund seiner Schriften in der allgemeinen Auffassung als Experte für das Böse galt, erklärte sich zum falschen Adressaten für solch ein Ansinnen: Was er als Philosoph über das Böse gedacht und geschrieben hatte, ließ sich pastoral nicht „ausschlachten“. Kurz: Philosophie ist nicht Bewältigung. Philosophie ist Reflexion.16 Eine solche Sehnsucht nach Einzelanwendung philosophischer Grundeinsichten auf drängende partikuläre Probleme geht vielleicht auch zuweilen von einer falschen wissenschaftstheoretischen (und dabei doch recht folkloristischen) Auffassung aus. Philosophie hat es, anders als viele Einzelwissenschaften, als hauptsächliche Aufgabe nicht mit Problemstellungen und Problemlösungen im Einzelnen zu tun. Der Erkenntnisgewinn in der Philosophie geht vielmehr darum und kommt daher, einen Standpunkt definieren und einsichtig machen zu können, der es erlaubt, Aufschluss über die Wirklichkeit zu gewinnen, und bestenfalls über das Gesamt der Wirklichkeit. Auch aus der Vorlage einer Theorie des Üblen bei Thomas wird diese Haltung als plausibel ersichtlich. Die Interpretation des Übels als eines Zurückbleibens hinter den Erfordernissen des vollendeten Wirklichen kann geradezu als ein ontologisches Gesamtunternehmen ex negativo gelesen werden, das einen solchen positiven Aufschluss über die Wirklichkeit in Spiegelung ermöglicht. Diese Spiegelung ist, wenn sie philosophisch sein möchte, eine von ihrem Gegenstand vorsätzlich distanzierte Sekundärreflexion, die sich eben methodisch um des Erkenntnisgewinns willen des Direktzugriffs auf alle Einzelfälle des Lebensweltlichen enthält. Für die Theorie des Üblen bei Thomas gilt daher durchaus eine Bemerkung Heinrich Rickerts, die, weil sie in einem vergleichbaren Zusammenhang wie dem der hier verhandelten Frage so getroffen wurde, paucis mutatis mutandis für die Behandlungsweise des Üblen in De malo zunächst einmal ihre Richtigkeit haben dürfte: Denn es ist Erkennen ein Abrücken des zu Erkennenden vom Erleben, ein Verlegen in eine Sphäre, in der es kein unmittelbares Erleben mehr gibt. […] Es spottet als unmittelbares Erlebnis jedem Erkenntnisversuch. Schon dadurch, daß wir das, was wir unmittelbar erleben, ‚Leben‘ oder ‚Realität‘ nennen, hört es auf, unmittelbar Erlebtes zu sein. Jede verständliche Bezeichnung nimmt ihm seine unmittelbare Lebendigkeit. […] Diese Einsicht hat gewiß ihren Wert. Aber sie bringt uns doch nur zum Bewußtsein, wie ferne alle Erkenntnis dem Leben abliegt. […] Die Philosophie beginnt, ebenso wie alle alles
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Vgl. Friedrich Hermanni:
Metaphysik. Versuche über letzte Fragen. Tübingen 2011, S. 117-144, wo dieses Problem anhand der Unterscheidung der logischen Theodizeefrage von der empirischen Theodizeefrage vorgeführt wird (dazu dort vor allem die „Schlussbemerkung“ auf S. 144).
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anderen Wissenschaften, immer erst, wenn sie sich das Leben als etwas fremdes gegenüber stellt.17
Eine solche für die philosophische Bemühung kennzeichnende sekundärreflexive Distanzierung vom Betrachtungsgegenstand liegt der thomasischen Behandlung des malum durchgehend zugrunde. Das hat auch damit zu tun, dass Thomas in seiner Schrift nicht eigentlich eine Begründung des Üblen oder Bösen zu entwickeln oder darzutun vorgibt. Vielmehr geht es ihm um eine strukturierte Erklärung der formalen Gemeinsamkeiten in all dem, was man als Böses, Schlechtes oder Übles identifizieren kann, ja eigentlicher noch: Um eine Erklärung, die eine solche Identifizierung erst vernünftig ermöglicht. Ist dies erst einmal in der von Thomas entwickelten Weise begründet geschehen, so ergibt sich auch, dass es falsch wäre, nach einem materialen Grund und einer materialen Begründungsmöglichkeit für das Böse oder Üble selbst zu suchen. Thomas ist sich darin mit einer langen Tradition einig, in der Augustinus diesen Umstand in das lateinische Apophthegma gefasst hat, das Böse habe in diesem Sinne keine causa efficiens, sondern nur eine causa deficiens aufzuweisen, also keine Bewirkung, sondern nur ein Fehlen oder einen Wirklichkeitsausbleib. (Wer weiß, vielleicht steht dieser Gedanke auch im Hintergrund des für die meisten Interpreten so rätselhaften alten griechischen „Legomenon“ des Eumenes von Kardia: olethrou d’oudeis logos bei Plutarch, Eumenes 8.4.) Dies zu erkennen sei aber bereits so viel wie zu erkennen, worum es sich beim unbegründbaren Üblen oder Bösen im Grunde handle, meint Augustinus weiter. Man kann also mit guten Gründen eine strukturelle Erklärung für das Schlechte, Böse und Schlimme geben, auch wenn man einen ontologischen Realgrund dafür aus philosophischen Gründen in Abrede stellt. Damit verhält es sich für Thomas von Aquin mit dem Üblen und den Übeln in etwa so wie mit Paradoxa: Es ist im strengen Sinne undenkbar, dass es sich dabei um etwas handelt, was dem Zugriff der Vernunft derart entzogen wäre, dass es nicht in Erklärungen strukturell transparent gemacht werden könnte, und sei es nur im erklärenden Verweis darauf, dass die Verursachung hier als Fehlanzeige bewirkend erfasst wird. Eine Sinnhaftigkeit von Bösem wird damit gerade nicht unterstellt, sondern das Entbehren von Sinn, dies aber eben nicht als irrational stehen gelassen, sondern als vernünftig behandelbar auseinandergesetzt. Aus der sekundärreflexiven Betrachtung ergibt sich also nicht etwa das Ergebnis einer Sinnhaftigkeit des Üblen per se (obwohl es im Einzelfall eine solche Sinnhaftigkeit von Übeln je nachdem geben mag18). 17
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Heinrich Rickert: Lebenswerte und Kulturwerte. In: Ders.: Philosophische Aufsätze. Herausgegeben von Rainer Bast. Tübingen 1999, S. 37-72, hier S. 63 (Heraushebung im Orig-
inal). Vgl. Roderick M. Chisholm: The Defeat of Good and Evil. In: Marilyn McCord Adams/Robert Merrihew Adams (Hg.): The Problem of Evil. Oxford 1990, S. 53-6, mit dem
18 Einleitung Doch kann sich in dieser Betrachtung durchaus zeigen, dass eine sinnhafte Erklärung der Welt nicht am Problem des Üblen, Bösen und Negativen scheitern muss. Der Einwand, dass die sinnhafte Erklärung die Akzeptanz dieser Übel nicht erleichtere oder zu einer solchen verhelfe, ist keiner. Denn nicht die gebrauchsfertige Akzeptanz der Übel steht in dieser sekundärreflexiven und distanzierenden Betrachtungsweise im Vordergrund, sondern die Erklärung der Übel innerhalb einer sinnvollen Darstellung der Welt – und gerade diese könnte ja insbesondere solch eine faktische Nichtakzeptanz noch einmal erklären. Die Haltung aber eines „Es ist sinnvoll, doch ich akzeptiere es nicht“, ist keine philosophisch vertretbare. – Dies einerseits. Es gibt aber auch ein Andererseits, über das sich gerade Philosophen von der Ausrichtung Rickerts gerne hinwegschweigen und das trotzdem gerade mit dieser sinnvollen Darstellung der Welt aufs Innigste zu tun hat. Philosophie ist, anders als die Einzelwissenschaften, über die nur wissenschaftlichen Ergebnisse hinaus und dem wissenschaftlichen Weltbild, das sie wie die Einzelwissenschaften streng ihrer distanzierenden Methode verpflichtet gewinnt, auch 19 der Welt des Offenkundigen verpflichtet. Ein bedeutender Aspekt der eigentümlichen Wissenschaftlichkeit der Philosophie besteht nämlich darin, dass sie ihre methodisch gewonnenen Standpunkte an das Offenkundige und an die Alltäglichkeit unserer unmittelbaren Anschauungen über die Wirklichkeit zurückzubinden vermag oder diese bestenfalls nie aus den Augen verliert.20 Wissenschaftlichkeit im Sinne der Philosophie gehorcht einem diasôzein ta phainomena, einem Aufruf, die Erscheinungen zu wahren, sie innerhalb der wissenschaftlichen Darstellung erklärend noch einmal zu „retten“, wie das griechische Original dieses Gedankens es wörtlich ausdrückt. So hat, um ein berühmtes Beispiel zu nennen, im zwanzigsten Jahrhundert Elizabeth Anscombe gegen die seit Hume fast schon standardisierte und schließlich kaum mehr angetastete philosophische Auffassung von der Kausalität als Verstandeskonstrukt zur Wirklichkeitsordnung ohne Ent19
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berühmten Beispiel, wie sich bestehendes Schlechtes in der Mögliche-Welten-Theorie als Besseres herausstellt, ohne das die Welt schlechter wäre. Die Grundgedanken der folgenden Ausführungen zur Integration der offenkundigen Weltsicht gegenüber der wissenschaftlichen Weltsicht als Aufgabe der Philosophie sowie zur „stereoskopischen Weltsicht“ transponiere ich aus einem wissenschaftstheoretischen Vorschlag von Gabriele De Anna: Willing the Good. Empirical Challenges to the Explanation of Human Behavior. Newcastle 2012, S. ix-x. De Anna hat einige seiner diesbezüglichen Gedanken auch in einem Aufsatz zu Putnam veröffentlicht: Putnam on the Fact/Value Dichotomy and the Scientific Conception of the World. In: Humana.Mente Journal of Philosophical Studies 21 (2012), S. 205-211. Der Begriff des „manifest image“, das den philosophisch notwendigen Kontrast zum „scientific image“ bildet, wurde im allerdings durchaus etwas anders gelagerten Rahmen wissenschaftstheoretischer Erwägungen deutlicher entwickelt von Wilfrid Sellars: Philosophy and the Scientific Image of Man, In: Robert Colodny (Hg): Frontiers of Science and Philosophy. Pittsburgh 1962, S. 35-78.
19 sprechung in der Wirklichkeit selber, genau mit diesem Argument Stellung bezogen: Der Realismus des offenkundigen Wirklichkeitsbilds des menschlichen Weltzugangs fordere es unumgehbar ein, dass wir uns als Bewirkende innerhalb einer kausal beeinflussenden und beeinflussbaren Wirklichkeit verstehen.21 Aus der gleichen Grundsatzeinstellung zur Philosophie und ihrer Aufgabe hat Saul Kripke über eine Neuorientierung an fundamentalen Intuitionen über die Wirklichkeit der Wiedergewinnung einer philosophischen Haltung des „aristotelischen Essentialismus“ das Wort gesprochen, die es erlaubt, sinnvoll über Wesenseigenschaften von Dingen zu reden statt nur über unsere innermentalen, wissenschaftsinternen oder logisch-sprachlichen Umgangsweisen; und genauso haben die Werke Robert Spaemanns deutlich zu machen versucht, wie unabdingbar der Wert anthropomorphistischer Herangehensweise auch und gerade für die philosophische Weltdeutung ist. Ähnliches wie für die genannten Beispiele gilt schließlich auch in einem jeweils anderen Sinne für die Berechtigung der verschiedenen Arten analogen Denkens für die Wirklichkeitserschließung und das unmittelbare menschliche Selbstverständnis, denn gerade die Philosophie hat hier, also insbesondere bei anthropomorphistischer und analoger Interpretationsmöglichkeit, mehr als jede andere Wissenschaft, in der Rückfrage auf die Bedingungen ihrer Möglichkeiten das Potential, stets von neuem ins Auge zu fassen, dass die menschliche Erkenntnis als Erkenntnis eben genau das ist: eine menschliche, die unter den Bedingungen des Menschlichen steht, und das in positiver Weise. All dies bedeutet freilich noch lange nicht, sich einer diktathaft unreflektierten Dominanz des common sense zu ergeben – sonst hätte zum Beispiel auch der Einleitung
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eben erwähnte „postulative Manichäismus“ leichtes Spiel und es gäbe auch keine Möglichkeit, Metaphysik zu treiben, was ja aber gerade einer der großen Erfolge der genannten Rückbesinnungs-Ansätze bezüglich des Wirklichen ist: Das mittlerweile berühmte Bonmot, der Platonismus habe nie für sich in Anspruch genommen, eine Philosophie des gesunden Menschenverstands zu sein,23 besagt im Hinblick auf den common sense zunächst einmal nur das: Der Platonismus macht 21
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G.E.M. Anscombe: Causality and Determination. In: Ernest Sosa/Michael H. Tooley (Hg.): Causation. Oxford 1993, S. 88-104. Ein weiteres Beispiel ist die seit Leibniz schick gewordene und im zwanzigsten Jahrhundert mit Hingabe geführte Qualia-Debatte, in der ebenfalls vor allem die manifeste Seite des menschlichen Weltzugangs gegenüber anderen Positionen als Korrektiv einer Wirklichkeitsinterpretation geltend gemacht wird. Es bedarf keines Hinweises darauf, dass die Konvention „Essentialismus“ für das aristotelische Denken der philosophiehistorischen Konvention nach fragwürdig ist, auch wenn der Sache nach das Richtige gemeint ist. Zu Kripkes Ansatz ist für diesen Zusammenhang hilfreich: Bernard Linsky: Kripke on Proper and General Names. In: Alan Berger (Hg.): Saul Kripke. Cambridge 2011, S. 17-48.. Vgl.
So Kurt Flasch im Vorwort zu Kurt Flasch (Hg.): Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus. Festgabe für Johannes Hirschberger. Frankfurt a.M. 1965.
20 Einleitung mit der sekundärreflexiven Distanzierung als Erstleitung der Philosophie ernst, sehr ernst, und nimmt zur Welterklärung den reflexiven Umweg, den deuteros plous, von dem Sokrates im Phaidon spricht. Doch auch das Denken von Platonikern muss genau deswegen wohl die integrierende Hauptaufgabe der Philosophie darin sehen, die Ergebnisse der distanzierten Betrachtung mit dem manifesten Weltzugang des Menschen in Übereinstimmung zu bringen – gerade der Platoniker ist sich dessen bewusst, dass er in seiner Philosophie einen methodischen „Umweg“ nimmt. Dass aber etwa Aristoteles sich vom Platonismus abgewendet und dass sich zum Beispiel Thomas von Aquin dem Aristotelismus zugewendet hat, wird wohl mit dem Bedürfnis zu tun haben, das offenkundige Weltbild des unwissenschaftlichen menschlichen Wirklichkeitszugangs gegenüber der reflexiven Distanzierung noch besser, vielleicht kann man auch sagen „noch gleichberechtigter“ zur Geltung kommen zu lassen. Das Ziel ist eine „stereoskope“ Blickweise auf den Gegenstand, die Kurzsichtigkeit auf beiden Augen vermeidet, auf dem der wissenschaftlichen genauso wie auf dem der offenkundigen Sichtweise: Eine Blickweise, die es nicht zulässt, dass die Welterklärung an Stelle der Welt tritt, wie das insbesondere für eine philosophische Theorie des Üblen wichtig ist. Dies hat im Übrigen seine ganz eigene Brisanz in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Philosophie seit dem 14. Jahrhundert und dann insbesondere seit Descartes einem Vorgehen zu verschreiben droht, das sich in Darstellung und Selbstverständnis zunehmend an Ergebnisgewinnung in der Art der Einzelwissenschaften zu orientieren und mit ihren Ansprüchen zu konkurrieren wollen scheint. – Im Verlauf der nachstehenden Interpretationen zu De malo wird daher auch an verschiedenen Stellen der leichteren Einsehbarkeit wegen mit einer Unterscheidung argumentiert, die sozusagen als die subjektivistische Variante diese Frage nach dem Abgleich des aseptisch gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnisses mit der dem Menschen offenkundigen Wirklichkeit gut handhabbar imitiert: Es ist die Unterscheidung nach der Betrachtung eines Problems, einer Erklärung oder einer Fragestellung aus der Perspektive der (grammatischen) ersten Person („first-person-perspective“) und aus der Perspektive der dritten Person („thirdperson-perspective“). Es handelt sich um eine Unterscheidung, die insbesondere die Frage danach stellt, ob das, was sich uns wissenschaftlich als richtig darstellt, mit dem menschlichen Standpunkt auf die Wirklichkeit überhaupt so recht in Einklang zu bringen ist – oder, wie Thomas von Aquin vielleicht mit der breiten Tradition der Philosophie sagen würde: ob das Verstandesergebnis denn überhaupt vernünftig ist.24 24
Dies ist einer der vielen Gründe, warum Thomas den Verstand, , nur als eine Potenz der Vernunft anerkennt, nämlich als deren Abstraktionen leistendes Vermögen, während es zur Vernunft noch mehr braucht, nämlich zum Beispiel die Potenzen, die das rationale Lebewesen an die Einzelwirklichkeit verweisen und die Verstandestätigkeit mit dieser ins Verhältnis setzen: vgl. dazu unten die Ausführungen in q.6 [2.1], q.8 a.3 [2], intellectus
21 Für Thomas muss dies heißen, seine prima facie nicht ganz dem offenkundigen Wirklichkeitsverständnis der menschlichen Lebenswelt entsprechende Privationslehre an eben diesem Wirklichkeitsverständnis zu überprüfen und sie an dieses berichtigend zurückzubinden. Es sind ja (wie bereits angedeutet) auch immer gerade, und gerade berechtigterweise, die kritischen Anfragen an die Möglichkeit einer solchen Rückbindung, die zu den (wenn auch bisweilen sehr stereotypen) Verdächtigungen gegen die Privationstheorie geführt haben. Thomas gelingt die Lösung dieser Aufgabe aus mehreren Gründen ganz gut. Einige werden aus der Sichtung der Texte von De malo und ihrer Interpretation begreiflich werden. Andere Gründe lassen sich etwa mit der Quaestionenmethode erklären, die solche Bedenken gegenüber der lebensweltlichen Vermittelbarkeit gerne schon von selber in den einleitenden Vorabeinwänden formuliert und zum Thema macht, wieder andere zum Beispiel mit dem erkenntnistheoretisch leitenden Prinzip der ständigen Rückbindung des Gedankens an die Vorstellungsbilder, die conversio ad phantasmata. Dass Thomas sich an einer berühmten Stelle seiner Schriften für einen Interpretationsansatz gegenüber konkurrierenden möglichen entscheidet, weil er ihm als die dem offenkundigen Weltverständnis entsprechendere Deutungsart, die manifestior via, erscheint, kann auch als implizite Selbstvorgabe für andere seiner methodischen Grundentscheide angesehen werden. Nicht zuletzt orientiert sich Thomas aber auch immer wieder an der Auffassung vom Übel als „Schaden“, das heißt an etwas tatsächlich natürlicherweise als Beraubung Aufgefassten, zur Vermittlung mit einer lebensweltlich vereinbaren Interpretation philosophisch-wissenschaftlicher Art. Der Blick auf die oben etwas aperçuhaft angeführte Episode aus dem Leben des Augustinus und die Frage danach, ob ein Philosoph etwa das Leiden kleiner Kinder sinnvoll erklären (wollen) kann, vermag aber auch zu zeigen, dass diese Aufgabe eine zusätzliche moralische Bewandtnis hat: Das eben geschilderte Einerseits-Andererseits in der Aufgabe philosophischer Weltdeutung lässt philosophische Erkenntnis und ethische Reflexion in ein interessantes Spannungsverhältnis treten, das sich durch zwei Standpunkte gegenüber der Erklärungsmöglichkeit des Üblen bestimmen lässt. „Der eine Standpunkt […] besteht darauf, daß die Moral uns abverlangt, das Böse verständlich zu machen“ – so das Einerseits. Doch der Standpunkt des Andererseits betont mit einigem Recht, „daß wir es aus moralischen Gründen gerade nicht tun sollten“. Der Ausgleich zwischen dem Einerseits und dem Andererseits bei Einleitung
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q.12 a.1 [2.2] und öfter. Bezeichnenderweise haben philosophische Systeme, die sich diese „stereoskope“ Sichtweise und den Abgleich mit dem menschlicherseits Offenkundigen im Weltzugang nicht zu eigen machen wollten, dezidiert in die Nomenklatur eingegriffen und die Begriffe „Verstand“ und „Vernunft“ anders, und zwar häufig genug genau umgekehrt, gebraucht. Susan Neiman: Das Böse denken, S. 33.
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Einleitung
Thomas ist, soweit er gelingt, auch für diese Standpunkt-Debatte interessant und zeigt, dass diese Standpunkte nicht unvereinbar sein müssen.
Die Charakteristika der Schrift De malo: Als „philosophisch gründlicher“ im Vergleich zu den weitaus bekannteren Summen und Traktatwerken hat Kurt Flasch einmal die Quaestiones disputatae des Thomas von Aquin bezeichnet. Tatsächlich stellen diese akzentuiert andere und sicherlich meist „philosophischere“ Ansprüche an die Interpretation als etwa die Summa theologiae oder der Sentenzenkommentar. „Gründlichere“ Behandlung heißt für die Schrift De malo: Das Üble wird als Gegenstand der Betrachtung
herausgegriffen, um ihn in Ruhe zu entwickeln und wie eigenständig zu behandeln. Das Problem des Üblen hatte Thomas etwa auch im dritten Buch der Summa contra Gentiles traktiert und Einzelthemen wie die Frage nach den Lastern oder dem willentlichen Bösen in der Summa theologiae ausgeführt. All das stand aber in größeren, übergeordneten Gedankenzusammenhängen und diente als Baustein eines größeren Entwicklungsganzen. Nicht, dass dies zu augenfälligen inhaltlichen Unterschieden zwischen den Aussagen der Quaestiones disputatae de malo und den anderen genannten Texten geführt hätte. Doch widmet sich Thomas von Aquin in jenen ausführlicher etwa möglichen Einwänden zu seinen Thesen, er verwendet mehr Zeit darauf, zu argumentieren und das Thema des Üblen nach eigenen Gesetzlichkeiten der Darstellung herauszuarbeiten. Das wiederum heißt nicht, dass die recht voluminöse Schrift De malo die thomasische Lehre vom Üblen umfangreicher und kontextuell umfassender zu entwickeln versucht. Einige Aspekte, die andere Zeiten für ganz besonders interessant hielten, fehlen in De malo ganz oder sie finden sich stark in den Hintergrund gedrängt: So etwa die Behandlung des Schmerzes, zu dem Thomas zwar eine erklärende These zur Verfügung hat, der aber als Problem in De malo nur am Rande vermerkt auftaucht.26 Stattdessen ergreift Thomas die Gelegenheit, ein eigenständiges Kompendium von Diskussionsfragen zur Problematik des Üblen, Bösen oder Schlechten zu verfassen, und er gönnt es sich gleichsam, sie nicht als Versatzstück einer Großkonzeption einzupassen, sondern wie ein eigenes Ganzes unter einem unabhängig leitenden Gesichtspunkt auszuführen. Dazu gehört zum einen, dass Thomas es sich in den Quaestiones disputatae de malo tatsächlich leistet, „philosophisch gründlicher“ zu sein, was bedeutet, dass er wie gesagt theologische Interessenspunkte wie Theodizeefragen oder das malum poenae (trotz des interessanten Zusammenhangs mit der Erbsündenlehre) auch einmal unterbelichtet lassen kann, dafür aber länger und geduldiger bei ontologischen Fragen oder bei der 26
Vgl. dazu unten die Interpretation zu q.12 a.1 [2.2].
23 Handlungs- und Willenstheorie verbleibt sowie seine diesbezüglichen Überlegungen an ihren erkenntnistheoretischen Hintergrund zurückbindet. Auch die Anthropologie am Grunde der Lasterlehre von De malo scheint in vielerlei Hinsicht sehr viel aristotelischer akzentuiert zu sein als in anderen entsprechenden Passagen des Gesamtwerks. Es wird an gegebener Stelle der Interpretation von q.3 a.3 noch zu sehen sein, dass Thomas außerdem für die Frage nach der Möglichkeit, einen Menschen zum Bösen zu verleiten, auf den bereitliegenden „theologischen“ Begriff der „Versuchung“ verzichtet. Zum anderen lässt sich der unabhängige leitende Gesichtspunkt auch an der Architektur der Schrift De malo ablesen: Thomas geht das Thema von einer aus allgemeinen Grundlagen gewonnenen ontologischen Bestimmung des Üblen an, verlegt die Diskussion jedoch von Quaestio 2 an auf ethische Fragestellungen: Schuld, Schuldverursachung, willentliches Böses, menschliches Laster oder habituelles Schlechtes, um schließlich zu einer erkenntnistheoretisch, anthropologisch und kosmologisch hochinteressanten, sehr langen Quaestio darüber zu kommen, ob Dämonen zum Bösen verführen können, und wenn ja, in welchem Maße. Auch in dieser Quaestio fällt im Übrigen auf, wie sehr sie auf antiken philosophischen Tractanda aufbaut und unter dem eigentlich nur für das heutige Lesepublikum erstaunlichen Vorbehalt arbeitet, zur Wahrheit der christlichen Doktrin gehörten diese Dämonenfragen eigentlich nicht (so q.16 a.1). Die Quaestiones disputatae de malo geben tatsächlich ein recht schönes Beispiel dafür ab, wie die „gründlichere Behandlung“ des Themas des Übels oder Bösen gegenüber den einschlägigen ausführlichen Passagen etwa der Summa contra Gentiles aussieht und welche zusätzlichen Einsichten sie über die Psychologie von Schuld, freiem Willen und Handlungsentscheidungsabläufen gegenüber den Ausführungen der I-IIae der Summa theologiae beibringen kann. Insbesondere die Quaestio 6 („Über den freien Willen“) von De malo hat aus genau diesem Grund in der Thomas-Forschung und darüber hinaus stets große Beachtung gefunden. Diese Quaestio unterteilt das Werk auch gewissermaßen in zwei Teile: der erste, den sie abschließt, legt eine theoretische Behandlung des Phänomens des Üblen in verschiedenen Definitionen und Deutungen des moralisch Bösen, des ontologisch Schlechten und (wenn auch eher am Rande) des physisch Schlimmen vor – wobei sich alle Varianten der Erklärung freilich dem einen Grundmuster der „spezifizierten Privationstheorie“ zuordnen lassen; der zweite, zu dem die Quaestio 6 überleitet, bietet eine Behandlung des Übels ganz anderer Art, denn in einem Durchgang durch die traditionelle Todsündenliste stellt Thomas hier der lebensweltlichen Genese von moralisch falschem Verhalten, die er in Anlehnung an Aristoteles entwirft, eine ethische Askesis, also eine moraltheoretische Übungsanleitung entgegen, welche den Anspruch vertreten kann, anhand der theoretischen Einsichten in die Struktur des Bösen lebensanleitend für die praktische Vernunfttätigkeit zu sein. Der Titel des vorliegenden Einleitung
24 Buchs spielt mit diesem Doppelsinn von theoretisch erklärender und theoretisch therapeutischer „Behandlung“ des Üblen. Die Schrift ist dabei aber nicht die „Vollendung“ der Privationstheorie, anders als oft zu lesen ist und anders als die Bezeichnung als „philosophisch gründlichere“ Behandlung es nahelegen könnte. Eine verbreitete Meinung besagt tatsächlich, Thomas könne als „Vollender der Privationslehre“ gelten, „weil er ihr erstens eine fundamentaltheologische Begründung und zweitens eine schlüssige theoretische Form gab“.27 Diese These setzt neben anderen durchaus bezweifelbaren Dingen voraus, dass die vorangegangene Tradition der Privationslehre in einer Hinsicht oder mehreren Defizite aufwies, bevor es nach langen Zeitabläufen zu dieser letzten Selbstfindung der betreffenden Theorie kam. Das ist für die Geschichte der Privationslehre so nicht richtig. Solche Deutungsvoraussetzungen sind auch für die Geschichte der Philosophie im Allgemeinen nicht richtig. Vielmehr zeigt Thomas mit seiner Ausarbeitung der Privationstheorie etwas anderes, was auch für die Betrachtung der Philosophiegeschichte allgemein von exemplarischem Status ist. Denn die Darstellung, die Thomas bietet, ist als zusammenhängende Darlegung, die die ethischen Probleme und Konsequenzen einzubetten erlaubt, eine Schrift, die Anspruch erheben könnte, tatsächlich eine „exemplarische Behandlung“ des Themas (des Bösen/Üblen, nicht nur der Privationslehre) zu sein. Denn sicherlich ist die Philosophiegeschichte als ein System „exemplarischer Behandlungen“ bestimmter Themen und Probleme angemessener zu deuten als in Aszendenz- und Vollendungstheorien. Der Blick auf die Wahrnehmung philosophischen Denkens in seiner Geschichte kann das bestätigen: Was sich dem Betrachter hier auftut, ist weniger eine Abfolge von Theorien in stetiger gedanklicher Aufstockung, als vielmehr eine Konkurrenz von – es klang bereits weiter oben an – Positionierungen aufs Gesamt der Wirklichkeit ohne erkennbare lineare Anordnung. Innerhalb dieser Symphonie erfahren dann auch bestimmte Grundfragen herausstellenswerte Antworten, die man im bekannten Sinne von „dem, womit keine Epoche jemals fertig wird“ als „klassisch“ bezeichnen kann. Blickt man auf die Ausarbeitungen dieser „klassischen“ Antworten, so bietet sich wiederum der Begriff der „exemplarischen Vorlage“ an. „Exemplarisch“ ist dabei zum einen im Sinne von vorbildhaft zu verstehen, das heißt in dem Sinne, dass es genau diese Art der Ausarbeitung und Darlegung ist, die das Problem mustergültig traktiert und einen möglichen Vorschlag zur Bewältigung so erarbeitet, dass man ihn im genannten Sinne als klassisch verstehen darf. Andere solcher Vorschläge zum gleichen Problem werden dann ebenfalls ihre exemplarische Vorlage und damit ihre klassische Form finden und es spricht in solchen Fällen nichts dagegen, dass es solche anderen exemplarischen Vorlagen nicht nur in konkurrierenden Verfahren oder Ansätzen gibt, sondern auch innerhalb derselben: Es spricht
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Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee, S. 81.
25 unter diesem Gesichtspunkt also nichts dagegen, in den Schriften des Augustinus und in den des Thomas von Aquin gleichermaßen exemplarische Behandlungen der Privationslehre zu erblicken, wobei der zeitliche „Entwicklungsstand“ – wenn denn dieses Wort in der Philosophie überhaupt eine Bedeutung haben sollte – tatsächlich als irrelevant in den Hintergrund tritt. Dieser Umstand zeigt aber ebenso, dass diese Behandlungen „exemplarisch“ auch noch im anderen Sinne des Wortes sind: Sie sind nicht nur beispielhaft in ihrer klassischen Qualität, die sie gewissermaßen perpetuiert, sondern auch insofern, als sie lediglich Beispiele unter anderen sind. Wären sie das nicht, gäbe es auch nicht die Philosophiegeschichte als unermüdlichen Belegraum solcher im ersten Sinne exemplarischer und in dieser strengen Sinnvorgabe konkurrierender Varianten von Deutungen. Einleitung
Quaestiones disputatae de malo
Methode und Absicht der Interpretation:
In vorliegendem Buch sollen anhand von eingehenden Interpretationen ausgewählte Artikel von vorgestellt und miteinander systematisch in Verbindung gebracht werden, um das Gesamtbild, das Thomas in entwerfen möchte, greifbar werden zu lassen und die vorgeführten Einzelargumente dabei wiederum in und aus ihrem Gesamtzusammenhang verständlich machen. Dazu werden die ausgesuchten Passagen in der Übersetzung des jeweiligen Artikelcorpus vorgestellt, um sie dann in Einzelanalysen zu kommentieren und zu interpretieren.28 Der Übersetzungstext ist zur besseren Handhabbarkeit und zur Dienlichkeit für die Interpretation am Seitenrand mit Nummern in Sinnabschnitte der Argumentation unterteilt, auf die sich der Analyseteil durch Nummernverweis direkt zuordnend bezieht. So kann sich der Leser ohne langes Suchen im Text und in der Interpretationspassage orientieren und gewinnt zudem ein klares Bild der inneren Organisation, des Aufbaus und der Entwicklung der thomasischen Argumentation. Die Absicht hinter dieser Vorgehensweise ist, ein Verfahren in der Darstellung der Thomas-Deutung vorlegen zu können, das insbesondere (aber beileibe nicht nur) der Leserschaft zugutekommen soll, die mit den Idiosynkrasien des mittelalterlichen Philosophensprachstils und der eigentümlich scholastischen Darstellungs- und Argumentationsform der Quaestionen kaum oder gar nicht vertraut ist. (Dieses Darstellungsverfahren ist im Übrigen weder originell noch De malo
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Grundlage für den Text von ist die kritische Ausgabe der Leonina: S. Thomae Aquinatis Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P.M. edita, tomus 23: , Rom/Paris 1982. Der lateinische Text dieser Ausgabe wie aller anderen lateinischen Texte wurde beim Zitieren allerdings nach der Konvention der GeorgesSchreibart normalisiert. De malo
Quaestiones
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26 neu: In seinen Aristoteles-Kommentaren bedient sich Thomas von Aquin selbst genau dieses Darstellungsmittels zur Erklärung des ihm vorliegenden Textes.) Die philosophischen Schriften des Thomas von Aquin lassen ein monumentales System erstehen, in dem jedes einzelne Element in der Erklärung auf die anderen verweist und oftmals erst in der Zusammenschau mit diesen seine letzte Begründung erfährt. Ähnliches gilt für einzelne Schriften wie : Auch hier wird schnell deutlich, wie sehr die Aussagen und Diskussionsergebnisse der einzelnen Quaestionenartikel sich aus den Gedankengängen der anderen erhellen lassen, wie sie in diesen zusätzliche Stütze oder eine weitere Aspektbereicherung erfahren, und wie sich dann aus der Lektüre langsam ein schlüssiges Gesamtbild ergibt. Doch ist es eine der großen Leistungen des Thomas von Aquin, in der philosophischen Darstellung auch Einzelfragen und umgrenzbare Probleme einsichtig abhandeln zu können, ohne stets das Ganze seines Systems oder eine lange ununterbrochene Argumentationskette für ein zumindest grundsätzliches Verständnis voraussetzen zu müssen – eine Eigenart des Schreibens, die ihn von anderen scholastischen Autoren wie etwa Albertus Magnus wohltuend unterscheidet. Für eine Auswahlinterpretation von ergab sich daraus der Vorteil, diese beiden bemerkenswerten Vorzüge der Darstellung bei Thomas verbinden zu können: So gibt einerseits etwa die Diskussion von q.16 a.2 Gelegenheit, die Aussagen von q.12 a.1 nochmals nachzuschärfen, von einem anderen Standpunkt her noch einmal zu verdeutlichen und offengebliebene Schwierigkeiten auszuräumen und all dies gleichzeitig mit Verbindungen zu den Thesen von q.6 und q.3 a.3 als ein Beispiel dafür vorzuführen, wie sich bei Thomas die Kreise schließen, um ein Argument in einen Gesamtzusammenhang systematischer Weltsicht perfekt ergänzend einzubetten. Andererseits eröffnet die thomasische Darstellung in die Möglichkeit, bestimmte Einzelartikel einfach herauszugreifen und sie wie Eckpfosten der Gesamtargumentation dieser Diskussionsfragen über das Übel zu behandeln, ganz so, als werde hier etwas gesagt, was für die nächsten Artikel oder Quaestionen vorwegnehmend oder resümierend gelten darf, jedenfalls aber als tragend für den Duktus insgesamt. Die ausgewählten Artikel können also gewissermaßen wie ein Gerüst des Gesamttextes angesehen werden, aus dem sich, ähnlich wie bei einem Dinosaurierskelett, das nicht Gesehene so erschließen lässt, dass man sich eine bestimmte Vorstellung vom ursprünglichen Ganzen machen kann – und dann hoffentlich auch der lektürefördernden Verführung unterliegen wird, sich damit beschäftigen zu wollen, wie dieses ursprüngliche Ganze wohl aussieht (ein Verlangen, das der thomasische Textbestand, anders als ein Fossil aus dem Mesozoikum, vollauf stillen kann). Die Artikel sind also jeweils so ausgewählt, dass sie miteinander in einem inneren Zusammenhang stehen und in dieser Auswahl sozusagen die Wegmarken oder die tragenden Pfeiler der Argumentationsentwicklung des Werkes in seiner Gesamtheit vor Augen führen: In einem ersten Teil von der theoretischen Grundlegung der Privationstheorie in Quaestio 1 Artikel 1 und 2, über die
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27 Anfrage nach dem Grund des Bösen oder wenigstens der Ursache des bösen Tuns in Quaestio 1 Artikel 3 („Ob Gutes Ursache von Üblem sein kann“) und Quaestio 3 Artikel 3 („Ob der Teufel Ursache der Sünde ist“) bis zur Quaestio 6, die in einen einzigen Artikel gefasst daran anschließend das Problem der menschlichen Freiheit als Grund für böses Handeln zu lösen sich anschickt. In einem weiteren Teil wird auf den Ergebnissen von Quaestio 6 aufbauend anhand der exemplarischen Grundstruktur einer Todsünde, nämlich des Hochmuts, in Quaestio 8 Artikel 3 das Problem vorgestellt, wie sich wiederholtes willentliches Tun zum Habitus verfestigen und damit zur charakterdefinierenden Grundhaltung werden kann. Eine Betrachtung von Quaestio 12 Artikel 1 wird diesen innerpsychischen Mechanismus anhand der Todsünde des Zorns vorinterpretieren. Es ist ein Grundanliegen des Buches, die jeweils aus den Artikeldiskussionen gewonnenen Ergebnisse in die Interpretation der nachfolgenden Artikel „mit hineinzunehmen“, damit sich vor dem Auge des Lesers langsam ein stetig wachsendes Theoriegebäude erhebt, in dem alle neuen Abschnitte auf den vorhergehenden aufbauen und sie gleichzeitig voraussetzen und komplettieren. Thomas von Aquin hat seine Schrift mit einer langen, vielleicht ursprünglich als Einzelabhandlung konzipierten Quaestio über die Dämonen abgeschlossen. Artikel 2 dieser Quaestio stellt die Frage danach, wie rein geistige Wesen – im Kontrast zum Menschen als definitionsgemäß leiblichem Wesen – dem Bösen verfallen und eignet sich gut, um den exemplarischen Interpretationsdurchgang durch abzuschließen: Themen wie die Unterscheidung von Bösem „je nachdem“ und „einfachhin“, die Verursachung des Bösen, die Willensautonomie, der Zusammenhang von Wahl der Einzelhandlung und habitueller Konstanz und natürlich der Teufel aus Frage 3 Artikel 3 tauchen hier noch einmal auf und können wie eine Nachbetrachtung des Deutungsertrags aller bisher verhandelten Passagen aus den vorangegangenen Quaestionen und ihrer Einzelprobleme gelesen werden. – Dem Einzelproblem der Interpretation des „einfachhin Üblen“ wird sich auch ein kurzer Anhang widmen (Anhang 2: Privation, Negation und „schlechthin Übles“). Manches in der Argumentation einiger Artikel wird zusätzlich klarer, wenn man sich die Handlungstheorie vor Augen hält, die Thomas zugrundelegt und die er in der in geduldiger Analyse der inneren Vorgänge bei der Handlungsgrundlegung ausgeführt hat (eine Analyse, die in neuerer Zeit insbesondere in der angelsächsischen Fachdiskussion neue Fürsprecher und Gegner gefunden hat). Diese Grundstruktur der thomasischen Handlungstheorie lässt sich konzis ausführen und veranschaulichend in schematischer Übersicht darlegen. Dem wird sich ein erklärender Nachtrag widmen, dessen Lektüre dem einschlägiger interessierten Leser die Möglichkeit eröffnen wird, die Hintergrundtheorie zur thomasischen Lehre von moralischer Schuld und charakterlicher Selbstausrichtung einzusehen und mit den Aussagen von vertiefend in Verbindung zu bringen (Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie). Einleitung
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Insgesamt wird dieses Buch damit hoffentlich einen guten und – trotz aller Auslassungen – vollständigen Überblick über die Hauptthemen und die hauptsächlichen Lösungsvorschläge der Schrift bieten können, dazu einen unmittelbaren Eindruck vom thomasischen Originaltext in Übersetzung. – Noch eine abschließende Beobachtung zu diesem Text, gerade insofern er original „thomasisch“ ist: Thomas von Aquin ist ein bewundernswert klarer Denker. Anders als bei vielen anderen Philosophen hat man bei ihm immer den schönen und zugleich unaufdringlichen Eindruck, dass er stets weiß, was er schreibt, dass er seine Sache eingehend und geduldig durchdacht hat und dass er sich als Ergebnis langen Nachdenkens ihrer sicher ist. (Von einigen philosophischen Kollegen, die sich weltanschaulich mit Thomas keineswegs einig sind, ist mir freimütig eingestanden worden, dass sie, bevor sie sich an eine neue philosophische Fragestellung wagen, habituell erst einmal in die thomasischen Werke sehen, um sich einen Überblick und gesicherten Aufschluss darüber zu verschaffen, worum es im Kern überhaupt geht und wo die Hauptschwierigkeiten und Lösungsmög29 lichkeiten liegen. ) Die nüchterne Klarheit der schriftlichen Darstellungsweise von Thomas ist einerseits eines der erfreulichen Resultate dieser Sicherheit und Durchdachtheit. Andererseits ist die geradlinige Verständlichkeit seiner Texte aber durchaus selbst schon eine hervorhebenswerte philosophische Leistung: So zu formulieren, dass jeder Satz bereits eine grammatische und lexikalische Herausforderung darstellt, die den Leser allein schon sprachlich durch Tempo und Konstruktionsarbeit an seine Grenzen bringt, vermag fast jeder Doktorand der Philosophie, und dazu muss er in seinem Thema noch nicht einmal besonders heimisch sein. Doch den Gedanken in seiner ganzen Breite und Tiefe bis ans Ende zu führen und dabei nüchtern, transparent und jederzeit aufschlussreich im Ausdruck zu bleiben, ist eine seltene und ganz eigene Kunst, in der Thomas ein Meister ist. Zumal er es beherrscht, einfach zu bleiben, ohne simpel zu werden: Der komplizierte Gedanke wird durch seine Darstellung verständlicher, nicht verkürzend vereinfacht noch auch komplizierter, und das ist eine fast schon unerhörte Leistung. Doch wenn dem so ist: Wozu dann eigentlich noch eine Interpretation solch eines vorbildlich klaren Textes? Gerät man nicht – wie Michael Frede es einmal als grundlegendes Problem des Philosophiehistorikers formuliert hat – in die De malo
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Leider muss ich gestehen, dass ich selbst das nicht immer getan habe. Die nähere Beschäftigung mit De malo hat mir daher schmerzlich Anlass geboten einzusehen, dass ich etwa bezüglich der aristotelischen Willenslehre in früheren Veröffentlichungen nicht immer richtig gelegen habe, insbesondere was die Einschätzung des Willens als eines rationalen Vermögens angeht. So zum Beispiel in Christian Schäfer: ‘Freedom’ oder ‘Liberty’? Der freie Mensch in der (spät)scholastischen Deutung von Aristoteles’ De anima. In: Matthias Kaufmann/Robert Schnepf (Hg.): Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Spätscholastik. Frankfurt a.M. 2007, S. 85-105.
29 unglückliche Lage, einfach nur Dinge schlechter zu wiederholen, die bereits gut gesagt sind? – Unbestreitbar: ja. Der Grund, warum man diesen Preis bezahlen wollen wird, lässt sich vielleicht am besten so beschreiben: Im Zusammenhang mit seiner Differenzierung des islamisch-arabischen und lateinisch-christlichen Umgangs mit Traditionsübernahmen hat Rémi Brague zwei grundsätzliche Modelle herauszuarbeiten versucht. Er unterscheidet ein Modell der „inclusion“ von einem der „digestion“, ein Modell der Hereinnahme oder Einschließung von einem Modell der Einverleibung, so könnte man vielleicht vorsichtig deutend übersetzen.30 Die Vereinnahmung oder Einschließung behält das tradierte Gedankengut so unverändert wie nur möglich bei und behandelt es mitunter geradezu museal. Brague spricht hier illustrierend von einem Harzgussverfahren, das etwas Bewahrenswertes in einem möglichst transparenten Medium unverändert beibehält, ähnlich wie ein Bernstein einen Insektenkörper aus Urzeiten. Dieses Modell fügt das Tradierte der eigenen Betrachtung als unangetastetes Versatzstück (meist sogar als Grundstein einer Überlegung) oder als wörtlich und möglichst auch dem Sinn nach original belassenes Fundament des Späteren hinzu. Die Einverleibung dagegen greift das Traditionsgut jeweils sinngemäß auf und macht es sich geradezu stoffwechselartig verwertend und umwandelnd zu eigen (daher der physiologische Anklang bei „digestion“). Texten gegenüber verhalten sich diese beiden Aufgriffsvarianten wie Kommentar zu Paraphrase, gedanklich wie strikte Bewahrung und schützende Auslegung zum korrekten Textverständnis gegenüber freier Aktualisierung und weiterführender Interpretation. Vielleicht wäre es nicht falsch zu sagen, das eine Modell ziele auf das Verständnis des Textes ab, das andere auf das Verständnis des Lesers. Das vorliegende Buch nun versucht sich tendenziell eher in der zweiten Aufgabe; das Bemühen um ein Verständnis des Lesers und um eine Ausführung zum Text dominieren zumeist vor dem Verständnis des Textes und der damit verbundenen Auslegung des Textes, und somit geht es zumeist nicht um den Text in seinem Eigensein, sondern darum, sich den Text zu eigen zu machen. So zumindest die Absicht, die sich auch schlicht als „Bewältigung des Textes“ charakterisieren ließe. Denn in Bezug auf das Verdikt der schlechteren Wiederholung lässt sich anscheinend weder die „inclusion“ rechtfertigen (zuviel Wiederholung) noch die „digestion“ (zuviel des Schlechteren). Doch gibt es eben unter den verschiedenen Möglichkeiten, angesichts dieser Situation Rat zu schaffen, auch eine, die wichtige Züge beider verbindet und unter deren Aspekt man die vorliegende Interpretation des Thomas von Aquin lesen kann: Unabhängig davon nämlich, wie klar und gedanklich präzise ein Text geschrieben sein mag, er muss doch erst einmal bewältigt werden. Und das gilt zumal bei philosophischen Texten, solchen Schriftstücken also, die keine faktische Problemlösung für einzelne Anwendungsfragen als ihren Zweck und ihr leitendes Ziel ansehen müssen, Einleitung
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Rémi Brague: Au moyen du moyen âge. Paris 2006, S. 187-204.
30 sondern die dazu beitragen wollen, sich Aufschluss über die Welt zu verschaffen, einen Standpunkt auf die Wirklichkeit zu gewinnen. Textnahe – „inklusive“ – und zugleich ausführende – „verarbeitende“ – Interpretation solcher Schriften ist eine bewährte Möglichkeit solcher Bewältigung. So wird diese Bewältigung zum guten Teil auch eine schlichte Aufarbeitung sein: Der Versuch, einen Text, der für sich steht und keines Interpreten als Vormunds bedarf, aus verschiedenen Perspektiven, die er selbst eröffnet, aber nicht immer alle einnimmt, und in einigen neuen Anläufen, die er eher aufgibt als ausschreibt, im Hinblick auf seinen unerschlossenen Implikationsreichtum zu erschließen und in seinem intendierten, aber unausgesprochenen Potential in verschiedenen Hinsichten zu bedenken. Und das ist im Falle der Texte des Thomas von Aquin in sich schon ein lohnenswertes Unterfangen. Bei Thomas von Aquin tritt aber auch noch ein weiterer, für die Interpretationstheorie zunächst einmal eher zirkumstantieller Aspekt hinzu, der dieses Unterfangen bei seinen Schriften vielleicht zusätzlich lohnenswert erscheinen lässt. Seine Schriften bieten nämlich in enzyklopädischer Breite nicht nur irgendeine Theorie, wie man über die Welt gedanklich Aufschluss gewinnt. Vielmehr hat es diese Theorie als ein zusätzliches Spezifikum, möglicherweise sogar als Unikum aufzuweisen, dass sie von einer ganzen, heute noch bestehenden Religionsgemeinschaft als genuines Element der sekundärreflexiven, das heißt nicht nur als Reflexionsleistung verstandenen, sondern auch über diese Reflexionsleistung und ihre Voraussetzungen reflektierenden, also philosophischen Gesamtdarstellung ihres Standpunkts auf das Gesamt der Welt angesehen wurde und wird. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist eine „Bewältigung“ der thomasischen Texte eine reizvolle Aufgabe. Was diese Bewältigung zumeist nicht zu leisten oder auch nur anzubieten vermag, ist etwas anderes, was ich als Defizit des vorliegenden Interpretationsversuchs denn dann doch noch eingestehen möchte: Die besten Arbeiten zu Thomas von Aquin scheinen mir diejenigen zu sein, die neben der textlichen Lesart, der frappierenden Klarheit des Gedankens und der Systematik der Argumentation bei Thomas ein überraschendes und konventionssprengendes Moment philosophischer Genialität aufzudecken und mit großer Überzeugungskraft zu präsentieren imstande sind. Ohne die traditionelle „typisch scholastische“ Lesart dabei in Frage zu stellen, vermögen sie es somit, Thomas von Aquin als einen Denker zu erweisen, der vielschichtiger und variantenreicher, in mancher Hinsicht sicherlich auch sehr viel „tiefer“ gelesen und verstanden werden kann als es die gängigen Interpretationsschemata zu erahnen erlauben. Dieses in verschiedenen begnadeten Interpretationen immer wieder belegte Überraschende und abgründig Geniale des Thomas von Aquin ist zum Verständnis der thomasischen Philosophie vielleicht noch nicht einmal nötig, aber häufig genug in ungeahnter Weise bereichernd. – Von all dem wird im Folgenden aber wenig zu finden sein. Doch kann es auch an dieser Stelle immerhin als Lohn einer eingehenderen Beschäftigung mit Thomas von Aquin zuversichtlich in Aussicht gestellt werden.
Einleitung
Teil 1: Ontologische Grundlegung
Frage 1 Artikel 1: Ist das Üble überhaupt etwas? Übersetzung
Wie der Begriff „das Weiße“ wird auch der Begriff „das Übel“ in zweifacher Weise gebraucht. In einer Weise nämlich lässt sich unter dem „Weißen“ dasjenige verstehen, was dem Weißsein als Träger zugrunde liegt. In anderer Weise lässt sich unter dem „Weißen“ das Weiße verstehen, insofern das Weißsein selbst gemeint ist, also die austauschbare Eigenschaft selbst. Und ganz ähnlich kann man das Übel als das verstehen, was als Träger von Üblem auftritt, und das ist immer ein Etwas. Auf andere Weise kann man darunter das Üble selbst verstehen, und das ist dann kein Etwas mehr, sondern das Beraubtsein selbst an einem bestimmten Guten. [2] Um dies offensichtlicher zu machen, muss man sich vor Augen halten, dass das Gute im eigentlichen Sinne ein Etwas ist, und zwar insofern es erstrebenswert ist. Denn gemäß Aristoteles im 1. Buch der haben diejenigen, nach deren Aussage das Gute dasjenige ist, was alle erstreben, es ganz richtig definiert. Als Übel aber wird das bezeichnet, was zum Guten das Gegenteil bildet, und so kann man also sagen, es sei dasjenige, das dem Erstrebenswerten insofern es erstrebenswert ist, entgegengesetzt ist. Das aber kann selbst nicht etwas sein. Und dies ergibt sich auf dreifache Weise. [2.1] Erstens, weil das Erstrebenswerte wie ein Ziel aufgefasst werden kann, die Zielhinordnung aber wiederum einer inneren Anordnung entspricht, die der von Tätigen vergleichbar ist: Denn je höher und umgreifender ein Tätiges ist, desto mehr handelt es sich bei dem Ziel, um dessentwillen es tätig ist, um ein umfassenderes Gutes, ist doch alles Tätige eines Zieles wegen tätig und um irgendetwas Guten willen. So ganz offensichtlich in den menschlichen Angelegenheiten, wo etwa der Verwalter einer Stadt auf etwas für seine Stadt angemessenes Gutes aus ist, während ein König, der über diesem Verwalter steht, ein umfassenderes Gut zu betreiben hat, nämlich zum Beispiel den Friedenszustand des gesamten Königreichs. Da nun bei den bewirkend tätigen Ursachen nicht ins Unendliche fortzuschreiten ist, sondern man anzunehmenderweise auf ein Erstes stößt, das die umgreifende Ursache des Bestehens ist, so ist auch anzunehmen, dass es ein umgreifendes Gutes gibt, auf das sich alles andere Gute zurückführen lässt. Dieses wiederum kann nichts anderes sein als das erste und [1]
Nikomachi-
schen Ethik
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Frage 1 Artikel 1: Übersetzung
umgreifende bewirkend Tätige. Da nämlich das Erstrebenswerte die Strebensbewegung erst auslöst, das erste Bewegende aber selbst als unbewegt zu gelten hat, ist es notwendig so, dass das erste und umfassend Wirktätige das erste und umfassende Erstrebenswerte selbst ist, also das erste und umfassende Gute, da doch alles im Dienste des Strebens nach eben diesem vollführt wird. Was sich aber dem ersten und umfassenden Guten verdankt, kann nichts anderes sein als etwas bloß partikulär Gutes, genauso wie das, was sich der ersten und umfassenden Seinsursache verdankt, etwas partikulär Seiendes ist. Daher muss es so sein, dass alles, was es an bestehenden Wirklichkeiten (res) gibt, ein partikuläres Gutes darstellt. Daraus wiederum ergibt sich, dass nichts sein kann, was das Gegenteil zum Guten darstellt. Und daher bleibt nur die Annahme übrig, dass das Üble insofern es von Übel ist nichts aus der bestehenden Wirklichkeit (in rebus) sein kann, sondern ein Beraubtsein an einem bestimmten Guten darstellt, das zu einem partikulären Guten gehört. [2.2] Zweitens ergibt sich dasselbe daraus, dass was auch immer unter den bestehenden Wirklichkeiten vorzufinden ist, eine Ausrichtung und eine Strebensanlage auf das hin hat, was ihm zugute kommt, und was als erstrebenswert aufgefasst werden kann, kann auch als gut aufgefasst werden. Was auch immer unter den bestehenden Wirklichkeiten vorzufinden ist, hat daher eine innere Übereinstimmung mit etwas Gutem. Das Üble jedoch, insofern es von Übel ist, hat keine Übereinstimmung mit etwas Gutem, sondern ist diesem gerade entgegengesetzt, und daher ist das Üble nichts, was unter den bestehenden Wirklichkeiten vorfindbar wäre. Wenn es aber eine von diesen wäre, so würde es nichts erstreben noch auch von anderen erstrebt werden, und folglich hätte es keinerlei Tätigkeit und keinerlei Bewegung, da doch alles nur wegen eines zielhaften Strebens zur Tätigkeit oder in Bewegung kommt. [2.3] Drittens wird dies daraus ersichtlich, dass das Sein selbst schon im höchsten Maße als erstrebenswert aufzufassen ist, was daraus ersichtlich ist, dass alles, was immer es auch sei, wesensgemäß danach strebt, sich am Sein zu erhalten und alles zu fliehen und nach Kräften abzuwehren, was seinem Sein verderblich ist. Und so ist das Sein selbst, insofern es überhaupt ist, erstrebenswert und etwas Gutes. Daher ist es auch anzunehmen, dass das Üble, das dem Guten in einem umfassenden Sinne entgegensteht, auch all dem entgegensteht, was es bedeutet, zu sein. Was allerdings dem, was zu sein ausmacht, entgegensteht, kann nicht selbst etwas sein. [3] Daher ist festzuhalten, dass das, was ein Übel ist, nicht ein Etwas ist, sondern dasjenige, an dem etwas von Übel ist, ist etwas, und das gilt insofern, als das Üble nur eine Beraubung an dem darstellen kann, was ein partikulär Gutes darstellt, so wie ja auch das Blindsein nicht selbst etwas
Frage 1 Artikel 1: Übersetzung
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ist, sondern eigentlich nur derjenige, dem es zustößt, blind zu sein, etwas ist.
De malo q.1 a.1: Interpretation
Thema des einleitenden Artikels von De malo ist der Wirklichkeitsstatus des Bösen, Schlechten, Schlimmen oder Üblen, des malum eben. Näherhin geht es um die Frage, ob es sich beim Bösen oder Üblen um etwas eigenständig Seiendes handelt. Die Antwort, die Thomas darauf gibt, heißt: Das Üble oder Schlechte ist nichts ontologisch Selbständiges, kein eigener Bestandteil der Wirklichkeit, nicht „in rebus“, wie der Text sagt, also wörtlich „nichts unter den Dingen oder ‚Etwasen‘“. Vielmehr sei das Üble adäquat nur im Sinne einer Privation, also im Sinne einer Beraubung, Minderung, Abwesenheit oder Beeinträchtigung von Seiendem zu erklären, das heißt: gerade als das Gegenteil von eigenständig Wirklichem. Da dieses Wirkliche somit in noch deutlicher zu klärender Weise im Gegensatz zum Üblen steht, wird Thomas es auch als mit dem Guten austauschbar erläutern. Dies ist auch die klassische Formulierung der Privationsthese: Das Üble besteht in der Beraubung oder Abwesenheit eines bestimmten Guten, einer privatio oder absentia boni. – Thomas und die Tradition definieren übrigens gerne, dass das Üble eine Beraubung oder ein Mangel von Gutem „ist“. Es wird sich im Verlaufe der weiteren Überlegungen zeigen, dass dies eine abkürzende Redeweise für die korrektere Auffassung ist, dass das Übel in solch einer spezifischen Privation oder solch einem bestimmten Fehlensfehler „besteht“. Andernfalls ließen sich gewisse Fragestellungen und Problemlösungen – etwa bei der Annahme eines schlechthin Üblen, eines simpliciter malum – bei Thomas gar nicht richtig erklären. Dass das Übel in einer in diesem Sinne bestimmten Privation besteht, ohne schlicht mit der Privation identisch zu sein, ersieht man auch daraus, dass Thomas von Aquin die Privation in einer bestimmten Auffassungsweise durchaus als eines der identifizierenden Konstitutionsprinzipien alles einzelnen Seienden ansieht, ohne dass er deswegen diese Privation als von Übel ansehen müsste. Das wirkt angesichts der Erfahrungswelt zunächst ziemlich unplausibel und philosophisch gekünstelt. Thomas ist sich dessen und der auf der Hand liegenden Einwände gegen seine Auffassung durchaus bewusst. Eine der Hauptaufgaben, die er sich in der Schrift De malo stellt, wird deswegen darin bestehen, diese Einwände zu widerlegen oder wenigstens zu entkräften. Soweit jedoch die einleitende Definitionsfrage nach dem Seinsstatus betroffen ist, fasst er die entsprechenden Einwände in nicht weniger als zwanzig argumenta oder obiectiones, also Provokationsthesen gegen die eigene Lehrmeinung zusammen. Sie gehen alle aus verschie1
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So etwa sehr deutlich in De principiis naturae, cap. 1 und 2. Dort auch knapp und ohne viel Aufwand ersichtlich, warum die so verstandene Privation nicht, wie das (fälschlich) sogenannte malum metaphysicum bei Leibniz, schon als eine Form von Übel missverstanden werden muss.
37 denen Perspektiven gegen die These an, das Üble sei in sich nichts, sondern nur Ermangelung oder Beraubung von etwas eigenständig Seiendem, und sie lassen sich folgendermaßen thematisch ordnen: Frage 1 Artikel 1: Interpretation
-
Konträre Gegensätze befinden sich in derselben Gattung (= Seinsklasse); Gutes ist etwas Seiendes, also doch überzeugenderweise auch Schlechtes als dessen Gegensatz. (Einwände 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 19) Böses schadet und zerstört, also muss es sein (um schaden und zerstören zu können). (Einwände 8, 9, 17) Man kann doch Böses/Schlechtes auch anstreben („wollen“), also muss es etwas sein (man strebt ja nicht nichts an). (Einwände 10, 17, 18) Böses oder Schlechtes ist steigerungsfähig; nichts nicht (es gibt kein „nichtser“). (Einwand 13) Veränderung zum Schlechten heißt nicht Veränderung zum Nichtsein; also sind „schlecht“ und „nichtseiend“ nicht unter Beibehaltung des Wahrheitswerts einer Aussage austauschbar – und also nicht bedeutungsgleich. (Einwand 15) Böses kann nicht nur Interpretationssache sein, sondern es besteht objektiv (will sagen: als Element der Wirklichkeit) fassbar. (Einwand 20)
Die Antwortentwicklung:
Thomas sieht sich also vor die Aufgabe gestellt, zu erweisen, dass Böses, Übles und Schlechtes als Mangel an Gutem vollständig erklärbar ist. Er greift dafür diskussionseröffnend zum bewährten Mittel, das Problem durch eine Begriffsunterscheidung auf den Antwortweg zu bringen. Diese Begriffsarbeit am Beginn einer philosophischen Erörterung ist bei Thomas von Aquin wie bei anderen Scholastikern stets der Weg, sich der „Verhexungen“ des Verstands durch die Sprache zu erwehren und dabei dennoch die Mittel der Sprache in ihren positiven Möglichkeiten philosophisch ernst zu nehmen. [1] Der Begriff „das Übel“ oder „das Schlechte“ wird nämlich in zweifacher Weise gebraucht. Die geäußerten Einwände gegen die Privationstheorie des Üblen tragen dem nicht Rechnung und somit kommt es zu Verwechslungsfehlern, die der einen Bedeutungsvariante das anlasten, was der anderen entspricht (oder umgekehrt oder beide kombinierend), und somit argumentativ in die Irre führen. Thomas versucht, die Bedeutungsunterscheidung über den Vergleich mit dem Begriff „das Weiße“ zu veranschaulichen. Zum einen kann man unter „dem Weißen“ sprachlich ein beliebiges Etwas verstehen, dem die Eigenschaft zukommt, weiß zu sein, das, wie Thomas formuliert, „Träger von Weißsein“ ist. Wie wenn jemand aufs Meer blickend sich fragt, was denn wohl „das Weiße“ dort am Horizont ist: eine Klippe oder ein Segel? Die sprachliche Identifizierung von Träger
38 Frage 1 Artikel 1: Interpretation und substantivierter Eigenschaft wird noch deutlicher, wenn man diese Frage als echte Alternative auffasst und etwa eine Antwort der Art geben würde: Das Weiße ist ein Segel, das Schwarze dahinter ist die Klippe. Die Klippe oder das Segeltuch, auf die der Betrachter sprachlich als „das Weiße“ Bezug genommen hatte, 2 wären also (mögliche) Träger von Weißsein. Zum anderen kann der Begriff „das Weiße“ aber auch das Weißsein selbst meinen. Es handelt sich damit beim „Weißen“ um einen sogenannten konnotativen Term. Solche konnotativen Begriffe bezeichnen doppelt, einmal ein x, dem X-heit oder X-sein zukommt, und einmal diese X-heit selber. Aus verschiedenen Gründen sind konnotative Terme philosophisch von Bedeutung und die Überlegung bei Thomas zeigt einen dieser Gründe an, indem die doppelte Bezeichnungsfunktion zur erfolgreichen Lösung der Artikelfrage herangezogen wird.3 Für so einen Allgemeinbegriff wie „das Weiße“ im Sinne des Weißseins ist es schon wesentlich schwieriger, ein passendes alltagssprachliches Beispiel der Verwendung zu finden und das mag auch dazu beitragen, dass es zu solchen Begriffsverwechslungen kommt, wie sie aufzudecken Thomas sich hier anschickt. Doch ist klar, was gemeint ist: nämlich gerade nicht der einzelne Träger von weißer Farbgebung, sondern diese selbst, und zwar im allgemeinen Sinne. Thomas legt in diesem Zusammenhang Wert darauf, dass Weißsein eine austauschbare oder akzidentelle, das heißt dem als Träger identifizierten Ding nicht wesensgemäß zukommende Eigenschaft ist: Segel und Felsen können zum Beispiel unter Witterungseinfluss grau oder gelb werden und dennoch dieselben Segel und Felsen bleiben, obwohl sie die Farbeigenschaft ausgetauscht haben. Das wird für die Erklärung von Üblem noch von Bedeutung sein. Dieses kann nämlich nur dann angemessen begriffen werden, wenn man einsieht, dass es kein wesensgemäßes Übel für die Dinge der Wirklichkeit gibt. Die Übertragung dieser am „Weißen“ vorgeführten Begriffsunterscheidung auf das Problem des Üblen ist folgende: Wie man einen Träger weißer Farbgebung – wie im Beispiel von Segel und Klippe – als „das Weiße“ bezeichnet und das Weißsein selbst ebenfalls als „das Weiße“, so auch beim Üblen: Gemeint sein kann entweder ein Träger, also das „Übel“, verwendet in dem Sinne, in dem etwa Herodot sagt, Kriegswerkzeuge seien ein Übel für die Menschheit, oder Kallimachos, ein dickes Buch sei ein großes Übel; oder es kann die Schlechtigkeit selbst gemeint sein, im Deutschen dann vielleicht eher das „Üble“ als das „Übel“, und dann spricht aus der Verwendung keine Trägerauffassung, sondern 2 3
Diese „Trägerauffassung“ des Übels lässt sich auch bei Albertus Magnus (genauso wie bei Bonaventura) nachweisen: vgl. Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal. Paris 2009, S. 190. Zu den konnotativen Termen vgl. unter anderem Jos Decorte: Eine kurze Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. Paderborn/München/Wien/Zürich 2006, S. 290 (hier insbesondere auch zur Bedeutung konnotativer Terme im Rahmen der Substitutionsdiskussion bei Wilhelm von Ockham und der nominalistischen Tradition).
39 eine Abstraktionsauffassung des Schlechten.4 Im Fall der Trägerauffassung ist der Träger (das eigenständig Seiende) selbst aber gut und die obiectiones greifen hier also nicht. So etwa, um ein Beispiel vorwegzunehmen, das Thomas später noch des Öfteren von Avicenna entlehnt, wenn der Wolf für das Schaf ein Übel darstellt, selbst aber als Lebewesen kein Übel ist. Im Fall der Schlechtigkeit selbst hingegen liegt kein ontologisch eigenständiges Etwas vor, sondern man spricht vom Gegenteil von etwas gerade nicht Eigenständigem, nämlich von einem gewissen Mangel, einem Fehlen oder einer Beeinträchtigung, als schlecht. Ermangelung und Ähnliches ist per definitionem nie eigenständig, sondern setzt etwas voraus, das dann Mangel leidet – und zwar nicht am Mangel selbst, sondern an einem Gut/etwas Gutem.
Frage 1 Artikel 1: Interpretation
[2] Wenn ein Mangel per definitionem nichts Eigenständiges in der Wirklichkeit ist, dann also deswegen, weil er wie jede Negation auf etwas bereits vorhandenes Positives Bezug nehmen muss, also auf etwas, das negiert, beschädigt, vermindert oder mit einem Mangel versehen werden kann. Tatsächlich ist die Privationstheorie über diesen immer schon mitgegebenen formalen Aspekt des Negativen, stets auf etwas logisch Vorausliegendes als bereits Vorhandenes Bezug nehmen zu müssen, vielleicht am leichtesten nachzuvollziehen. Diese geradezu parasitäre ontologische Sekundarität des als Mangel, Beraubung oder Negation verstandenen Üblen eröffnet nun den Blick auf das ontologisch Primäre, auf die eigentlichen Konstituenten der Wirklichkeit. Wenn dieses Primäre identifiziert ist, lässt sich auch mit dem Begriff der Ermangelung oder Beraubung als Definitionsträger des Üblen besser umgehen. Was ist also dieses dem Üblen ontologisch zuvorliegende Primäre? Die Definition des Üblen nach seiner Abstraktionsauffassung hatte es bereits genannt. Thomas sagte dort, das Üble in dieser Auslegungsvariante sei „kein [eigenständiges] Etwas, sondern das Beraubtsein selbst (ipsa privatio) an einem bestimmten Guten“. Der nächste Schritt muss also die Klärung der Frage sein, was hier unter dem „Guten“ zu verstehen ist. Thomas stimmt Aristoteles zu, der in der Nikomachi-
(1094a) – nach der erweiterten Ausdeutung bei Thomas – sagt, das Gute sei im eigentlichen Sinne (proprie) ein Etwas, und zwar insofern dieses Etwas erstrebenswert ist. Gutes ist also ein Element der Wirklichkeit, auf das positiv Bezug genommen werden kann. In dieser Definition tut sich auf, worin der Gegensatz zwischen Gutem und Üblem besteht: erstens im ontologischen Aspekt, etwas Eigenständiges in der Wirklichkeit zu sein, und zweitens im tendenziellen Aspekt, als solches Gegenstand einer positiven Bezugnahme sein zu schen Ethik
4
Diese Unterscheidung von Träger- und Abstraktionsauffassung findet sich ähnlich, aber mit anderen Erklärungsnuancen, in der Summa contra Gentiles III cap. 9 ausgeführt. Zur Abstraktionsauffassung vgl. auch Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 190.
40 Frage 1 Artikel 1: Interpretation können. Aus dem ersten Aspekt für sich betrachtet ergibt sich schon eine Konsequenz, die durch den zweiten Aspekt bestätigt wird: Gut ist immer etwas Erstrebenswertes; daher muss schlecht das sein, was dem Erstrebenswerten entgegengesetzt ist.5 Das aber kann unmöglich etwas ontologisch Gehaltvolles ein. Gleich der erste Einwand, den Thomas in den obiectiones als zumeist intuitiv gegen die Privationslehre angeführt hatte, war ja folgender gewesen: Konträre Gegensätze finden sich in derselben Seinsklasse; Gutes ist etwas Seiendes, also plausiblerweise auch Übles als dessen Gegensatz. Die unmittelbare Gegensatzdeutung von gut und übel erweist sich nun aber in der Betrachtung der Abstraktionsauffassung des Üblen als falsch. Gutes und Übles sind nicht Gegensätze wie Süßes und Saures. Diese sind die Extrempunkte auf einer geschmacklichen Skala und befinden sich somit tatsächlich innerhalb derselben Gattung, nämlich der des Geschmacks. Sie sind damit tatsächlich konträre Gegensätze. Das zunächst Intuitive im Vergleich mit Gutem und Üblem ist, dass man diese beiden gerne wie von selbst ebenfalls als konträr einander gegenüberstehend anzusehen gewohnt ist. Und das mag für Gutes und Übles nach der Trägerauffassung auch so hingehen – Thomas wird sich das in den folgenden beiden Artikeln noch zum Gegenstand der Überlegungen machen. In der für die Definition des Üblen ausschlaggebenden Abstraktionsauffassung aber ist ein Übel keineswegs der Punkt des weitestmöglichen Abstands zum Guten auf ein und derselben Skala oder in ein und derselben Seinsklasse. Vielmehr gibt es hier keine gemeinsame Skala oder Gattung für Gutes und Übles. Das Üble ist nämlich nicht etwa ein Etwas als dem Guten Entgegengesetztes, sondern gar kein Etwas und die Verweigerung oder Wegnahme des Guten, also kein konträrer, sondern ein wegnehmender Gegensatz des Guten, so könnte man wohl formulieren. Thomas hat dabei die einschlägige Bemerkung aus der Kategorienschrift des Aristoteles (14a) im Sinn, wenn er ihr auch nicht in allem folgen wird. Der zweite oben genannte Aspekt – der „tendenzielle“, der auf das Gute als erstrebenswert Bezug nimmt – fordert Thomas zu einer weiteren Überlegung heraus. Diese befasst sich noch einmal von anderer Warte aus besehen damit, dass dasjenige, was dem Erstrebenswerten, insofern es überhaupt erstrebenswert ist (also nur in dieser Hinsicht), entgegengesetzt ist, gar nicht selbst etwas sein kann. Auf dreierlei Weise lässt sich das nach Thomas zeigen: 5
Wie noch zu sehen sein wird, heißt das nicht unbedingt, „daß nicht auch Schlechtes erstrebt werden kann, sondern lediglich: Es kann nicht als Schlechtes erstrebt werden. Wenn Schlechtes erstrebt wird, dann nur deshalb, weil es gut erscheint“ (Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung. Gütersloh 2002, S. 85-86, mit Bezug auf die Aussagen von S.th. I-IIae q.8 a.1 und Summa contra Gentiles III cap. 4-6).
41 [2.1] Das erste Argument eröffnet ein ganzes Wirklichkeitspanorama, das in seiner knappen Vorführung ganz offenbar voraussetzt, dass das Publikum dieser Disputationsfrage mit dem aristotelischen Argument vom ersten unbewegten Bewegenden vertraut ist. Es sei hier ohne lange Erklärung in der Form wiedergegeben, die Thomas ihm in den „fünf Wegen“ gegeben hat (S.th. I q.2 a.3): Frage 1 Artikel 1: Interpretation
Der zweite Weg wird aus der Begriffsauffassung der Wirkursache deutlich. In den körperlich fassbaren Dingen ist nämlich eine Ordnung bewirkender Ursachen zu erkennen, und dabei lässt sich nicht ausmachen, noch wäre das möglich, dass etwas seine eigene bewirkende Ursache ist; denn dann müsste es sich selbst logisch zuvorliegen, was unmöglich ist. Nun ist es aber auch nicht möglich, in der Reihe der bewirkenden Ursachen ewig zurückzuschreiten. Denn in der Anordnung von Wirkursachen ist es doch so, dass die erste Ursache der mittleren ist und diese wiederum der letzten, sei es, dass die mittlere nun eine ist oder mehrere. Sobald jedoch die Ursache wegfällt, so fällt auch die Wirkung weg. Gäbe es also kein Erstes in der Reihe der Wirkursachen, so auch kein Letztes und kein Mittleres. Ein ewiges Rückschreiten auf der Suche nach Wirkursachen würde aber bedeuten, dass es keine solche erste Wirkursache gibt, und also auch keine letzte Wirkung und auch keine mittlere bewirkende Ursache, was aber ganz offensichtlich falsch ist. […] Der fünfte Weg lässt sich aus der Begriffsauffassung von Zielursächlichkeit entwickeln. Es ist nämlich festzustellen, dass einiges, was der Erkenntnisfähigkeit entbehrt, also etwa die Naturdinge, sich zweckgebunden verhalten, was daraus ersichtlich ist, dass sie sich immer oder zumeist auf dieselbe Weise verhalten oder sich nach dem ausrichten, was am besten ist. Daraus erhellt, dass sie nicht aus Zufall, sondern einer Grundausrichtung wegen ihre Zielbestimmung erreichen. Was aber selbst erkenntnisunfähig ist, ist nur dadurch zielgerichtet, dass es von etwas Erkennendem oder Verstandesmäßigem seine Ausrichtung auf ein Ziel bekommt, ähnlich wie ein Pfeil durch einen Bogenschützen. Also gibt es etwas Verstandesmäßiges, von dem alle Dinge der Natur auf ihr Ziel ausgerichtet werden, und das nennt man Gott.
Thomas zieht nun in De malo eine Parallele zwischen diesen beiden Gedankengängen des zweiten und fünften Wegs, die in der achsensymmetrischen Struktur seiner „fünf Wege“ die zentrale Argumentation des für alle anderen paradigmatischen „dritten Wegs“ flankieren: Wie man bei den Wirkursachen für die Veränderungsbewegungen in der Welt erklärend immer weiter auf eine umfassendere oder grundlegendere weiterverweisen kann als die, welche man unmittelbar vorher angeben konnte, bis man schließlich zu der umfassendsten oder grundlegendsten gelangen muss,6 die alle anderen erklärt, ohne selbst noch erklärungsbe6
, bei Wirkursachen lässt sich in der Begründung nicht unendlich weiterverweisend verfahren, sentenziert Thomas im Anschluss an Aristoteles, 994 a1-4. Die formale Logik scheint dem Recht zu geben: Folgen könnten demnach – zumindest theoretisch – unendlich weitergehen, Bewirkungsrückgänge nicht. Aber auch wenn dem nicht so wäre, so folgt Thomas doch nur einer vernünftigen doppelten Voraussetzung für das, was philosophische Thesen um ihrer Geschlossenheit willen (und um überhaupt als philosophisch gelten zu dürfen) leisten […] in causis agentibus non est procedere in infinitum
Metaphysik
42 Frage 1 Artikel 1: Interpretation dürftig zu sein, so auch beim Erstrebenswerten, das heißt dem Guten als der Zielursache von solchen Bewegungen: Wie man also bei den Wirkursachen „auf ein Erstes stößt, das die umgreifende Ursache des Bestehens [von allem] ist, so ist auch anzunehmen, dass es ein umgreifendes Gutes gibt, auf das sich alles andere zurückführen lässt“. Den Sinn von „umfassender“ oder „umgreifender“ (universalius) erklärt Thomas im Zusammenhang des finalen Tätigseins, also des Ausseins auf etwas Erstrebenswertes, anhand des Beispiels des Stadtverwalters, der auf ein bestimmtes partikuläres Ziel aus ist, nämlich etwa den Wohlstand und den Frieden seiner Stadt, gegenüber dem König des Landes, der auf ein umfassenderes Ziel aus ist, nämlich Wohlstand und Frieden für sein Reich. In diesem umfassenderen Ziel fände sich dann das partikuläre fast schon im Hegelschen Sinne „aufgehoben“, das heißt in7 den Verstehensvarianten von „sublimiert“, „bewahrt“ und dadurch „annulliert“. Der Fortgang der Argumentation lastet dann darauf, dass dieses umgreifende Gute tatsächlich mit der ersten bewegenden Ursache des Bestehens aller Dinge identisch ist. Diese Identität ergibt sich daraus, dass das erste Bewegende selbst ja unbewegt ist, es kann somit nicht durch eigene Bewegung bewirken, also etwa durch Anstoß oder Ähnliches. Es muss einen weiteren Aspekt geben, unter dem es zu betrachten ist, und der den Anfang der Bewegung anders erklärt. Dieser andere Aspekt ist der des Erstrebenswerten, den die finalursächliche Betrachtung ins Auge fasst: Das erste Bewegende setzt unbewegt alles andere dadurch in Bewegung, dass es von allen anderen angestrebt wird. Es bewegt „wie ein Geliebtes“, hatte auch Aristoteles aus dem nämlichen Grund geäußert (Metaphysik 1072 b). Jetzt fehlt nur noch ein kleiner Baustein der Überlegung: Alles, was besteht, alles also, was „ist“, besteht aufgrund der ersten und umfassenden Seinsursache. Dies bedeutet: Alles das ist Seiendes (da ultimativ der Seinsursache verdankt), aber nur im partikulären Sinne (da nicht mit der umfassenden Seinsursache identisch) – der historischen Filiation nach ein neuplatonischer Gedanke. Ebenso gilt: Alles, was gut – oder, in anderen Worten: erstrebenswert – ist, das ist dies, weil es auf das umfassende erste Gute zurückgeführt werden kann. Und dies wiederum bedeutet: Alles das ist selbst Gutes (da ultimativ im umfassenden Guten „aufgehoben“), aber eben nur partikulär Gutes (da nicht mit dem umfassenden Guten identisch). Torten, Bücher, Handlungen, Men-
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können müssen: Sie dürfen keinen logischen Widerspruch aufweisen und sie sollen die skeptischen Tropen vom Zirkelschluss, dogmatischer Argumentation und eben von Regresswirbeln vermeiden. Dies ist die (konventionell so genannte) „schwächere“ Lesart des Ausschlusses vom Rückgehen ins Unendliche bei Thomas: Es gehört zum vernünftigen Sichnichteinlassen auf diese rationalem Denken entgegenwirkenden Tropen. Wenn man dies nicht einrechnet, kann die Deutung des teleologischen Wegs tatsächlich danebengehen, wofür Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee, S. 88-90, ein typisches Beispiel bildet.
43 schen und auch Wölfe sind also nur je nach der einen oder anderen partikulären Hinsicht (secundum quid) als Gutes anzusehen, aber nicht als das Gute im absoluten, das heißt im von allen Hinsichten gelösten Sinne. Dennoch wird dies alles mit Recht als „gut“ bezeichnet. Da nun aber der erste und umfassende Grund für das ontologische Bestehen der Dinge mit dem ersten und umfassenden Guten ineins fällt, „ergibt sich, dass nichts sein kann, was das Gegenteil zum Guten darstellt. Und daher bleibt nur die Annahme übrig, dass das Üble insofern es von Übel ist (malum secundum quod est malum) nichts aus der bestehenden Wirklichkeit (in rebus) sein kann, sondern ein Beraubtsein an einem bestimmten Guten darstellt“. Thomas zeigt also, dass Wirklogik und Ziellogik in einem Zusammenhang stehen und aufeinander abstimmbar sind, ein grundlegendes Kommensurabilitätsmuster zeigen. Solche Kommensurabilitäten oder Bemessungsübereinstimmungen wären aber nicht möglich, gäbe es nicht einen fixen Ausrichtungspunkt, der beiden gemeinsam ist. Thomas von Aquin hat dies im letzten seiner „fünf Wege“ zum Thema gemacht, aber auch in seinen Erwägungen zum Glück, die ganz ähnlich verlaufen wie diese hier in De malo: Gäbe es nicht eine gemeinsame Erfüllungsform oder einen alle Glücksarten umschließenden „Horizont“ von Glück, so wären einzelne Glücksmomente oder Glücksauffassungen nicht untereinander vergleichbar und in eine sinnvolle lebensleitende Ordnung zu bringen.8 Zusammengefasst lautet dieses erste Argument hier also: Der erste Seinsgrund (für alles) ist gleichzeitig der letzte Strebensgrund; das, was wirkursächlich alles hervorbringt, bringt auch finalursächlich alles Streben – und alle Strebensgüter – hervor. Was aber zum Erstrebenswerten in einem verneinenden Gegensatz steht, also nichts mit ihm gemein hat, ist auch dem Sein entgegengesetzt; es hat mithin nichts mit ihm gemein und kann somit nicht als seiend – und zwar „seiend“ zumindest im Sinne von: ontologisch eigenständig – angesehen werden.
Frage 1 Artikel 1: Interpretation
[2.2] Das zweite Argument lässt sich dann knapper beschreiben, da es auch intuitiv eingängiger ist: Alle Dinge sind in Veränderung, und zwar offenbar hin zu etwas, das ihnen zugute kommt oder – anthropomorphistisch gesprochen – wovon sie sich etwas versprechen. Was aber solch einen positiven Versprechenscharakter hat, kann getrost als gut bezeichnet werden. Es hat, wie Thomas sich ausdrückt, „eine innere Übereinstimmung mit dem Guten“. Gut aber ist nur etwas, was einem auch bekommt, weil man mit ihm in gewisser Weise übereinstimmt (convenit) – ohne Übereinstimmung keine Zuträglichkeit. Thomas operiert hier mit dem sibi simile-Prinzip, das anderswo in De malo auch noch ausführlicher besprochen wird. Es bezeichnet den Umstand, dass Dinge vor allem auf solches hin tätig werden, das ihnen Kongruenzmöglichkeiten, „Ähnliches“, auftut, denn 8
Vgl. Robert Spaemann: Glück und Wohlwollen. Stuttgart 21990, S. 35-37, S. 141 u.ö.
44 Frage 1 Artikel 1: Interpretation durch die Strukturähnlichkeit des Erstrebten bieten sich die besten Chancen der Anreicherung oder „Sättigung“ daran zur eigenen bestmöglichen Vervollkommnung. – Also haben alle seienden Dinge den Charakter des Guten: Sie stimmen ja mit ihrem zuträglichen Ziel (etwas Gutem also) überein. [2.3] Ein dritter Aspekt lässt sich folgendermaßen als Argument für das Gleiche darstellen: Das Sein selbst ist erstrebenswert, was man unter anderem daraus ersieht, dass alles sich, wie Thomas formuliert, im Sein erhalten möchte. Zu sein selbst sei schon etwas Erfreuliches, lautet ein Diktum des Augustinus, das die9 These abwehren soll, gut könne nur für ein so oder so Sein befunden werden. Dagegen zeigen alle Dinge, so Thomas weiter, eine Resilenz und Resistenz dem gegenüber, was sie in ihrem Sein beschädigen könnte. So ist das bloße Bestehen von Sein bereits als etwas Gutes zu werten: „Daher ist es auch anzunehmen, dass das Üble, das dem Guten in einem umfassenden Sinne entgegensteht, auch all dem entgegensteht, was es bedeutet, zu sein. Was allerdings dem, was zu sein ausmacht, entgegensteht, kann nicht selbst etwas sein“. Das Schlechte als dem Guten entgegengesetzt hat also mit dem Seienden nichts gemein. [3] Thomas gibt sich an dieser Stelle und für De malo mit diesen drei Überlegungen zufrieden und kommt damit zu seinem Fazit über den ontologischen Status des Üblen: Ein Übel ist nicht in jeder seiner Auffassungsformen ein selbständiges Etwas, ein eigener Bestandteil der Wirklichkeit. Oder genauer gesagt: in keiner seiner Auffassungsformen. Wenn man nämlich von Üblem im absoluten Sinne der Abstraktionsauffassung „das Üble“ spricht, so handelt es sich hier um eine Ermangelung oder Abwesenheit von Gutem – und zwar von Gutem in der einen oder anderen Hinsicht, wie zu spezifizieren ist. Ein typisches Beispiel für solch eine Spezifizierung lässt sich folgendermaßen beschreiben: Ohne Frage ist die Nase ein Gut für den Menschen (beziehungsweise die Tatsache, sie zu haben). Ihr Fehlen, ihre absentia, die privatio oder corruptio des Zustands, sie zu haben, hingegen würde sicherlich ein Übel bedeuten. Keineswegs aber würde man doch 10
zugeben, dass das Fehlen einer zweiten oder dritten Nase für den Menschen ein Übel bedeutet, obwohl doch zugegeben wurde, dass das „Nasehaben“ für Menschen ein Gut ist. Die privatio einer zweiten oder dritten Nase, die Tatsache ihres 9
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Vgl. Augustinus, De civitate Dei XI 27 (ipsum esse iucundum est). Vgl. zum Verständnis des Gedankengangs bei Thomas auch Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal. Paris 2009, S. 198. Übrigens unter anderem deswegen, weil Mehrnasigkeit nicht eo ipso mit besserer Riechfähigkeit zu tun hat, die dann unter Umständen etwas Erstrebenswertes sein könnte, falls man nicht (wie Thomas) davon ausgeht, der Geruchssinn des Menschen sei menschlich adäquat ausgebildet. Das Beispiel des Hundes zeigt, dass zur Steigerung des Geruchssinns keine weitere Nase vonnöten ist.
45 Fehlens also, ist keineswegs ein Übel, wohl aber die der ersten und einzigen: Das geht so weit, dass man doch sicherlich einem mit drei Nasen geborenen Kind so schnell wie möglich zwei Nasen operativ entfernen würde, um durch diese vorsätzliche und gewaltsame privatio zweier Nasen einen besseren Zustand herbeizuführen. Wieso eigentlich das? Die Antwort liegt nach dem bislang Gesagten auf der Hand: Die zweite oder dritte Nase entspricht nicht der species oder forma, das heißt der strukturellen Wesensbeschaffenheit eines Seienden von der Art eines Menschen, noch auch dem ordo naturalis, der wesensgemäßen Ordnung, die solche Beschaffenheiten aufeinander abstimmt und sinnvoll im Lot hält. Die erste Nase hingegen sehr wohl. Und ähnliches gilt für Schneckenhäuser, deren Fehlen nur bei einem ein Übel für die Schnecke darstellt, nicht aber beim zweiten oder dritten, bei Schwanzrasseln von Klapperschlangen, und Ähnlichem mehr. Es kann sich aus diesem Grund auch nur um ein partikuläres Gutes handeln, das einen Mangel oder eine Beeinträchtigung erfährt.11 Das absolute Gute oder das Gute an sich kennt keinen Mangel und somit auch kein striktes Gegenteil in einem „absoluten Bösen“ oder „absolut Üblen“, das nämlich genauso unmöglich ist wie ein absoluter Mangel. Dieser wäre nichts. In den weiteren Rahmen dieser Argumentation gehört auch die Unmöglichkeit der Totalberaubung einer Substanz: Eine gänzliche Beraubung an allem Positiven käme den vorangegangenen Überlegungen zufolge einem totalen Seinsverlust gleich. Das wäre strenggenommen, wie die scholastische Terminologie es für gewöhnlich ausdrückt, keine Beraubung mehr, sondern eine Vernichtung, keine privatio, sondern eine corruptio (totalis). Frage 1 Artikel 1: Interpretation
Spricht man hingegen vom Übel im Sinne der Trägerauffassung, nicht also vom abstrakten Üblen, sondern eher vom Übel, wie man es auch mit dem unbestimmten Artikel „ein Übel“ grammatisch verwenden kann, so bezieht man sich auf einen Mangel an etwas Gutem, also, ontologisch gefasst, auf einen Seinsausbleib an einem eigenständigen Etwas, das als solches begrüßenswert ist. Thomas erläutert dies nochmals am Standardbeispiel des Blind„seins“, das eben gar kein Sein in Aktualform ausdrückt, sondern gerade dessen Ermangelung.12 Er fährt
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privatio eius quod quis natus est et debet habere definiert Thomas zweimal in der Summa contra Gentiles III, cap. 7 und cap. 13, das Üble im Bereich natürlicher Umstände. Und nochmals, wiederum in cap. 7, ausführlicher und genauer: de ratione enim mali est privatio eius quod est alicui natum inesse et debitum ei. Malum igitur, cum sit eius quod est naturale privatio, non potest esse alicui naturale. Wenn „sein“ nicht den actus essendi, das heißt das Verwirklichtsein, ausdrückt, sondern Als
die grammatische Funktion der Kopula, ist „seiend“ dasjenige „was ein Gegenstand wahrer Aussagen ist (veritatives Sein), auch wenn dadurch kein positiver Gehalt gesetzt, sondern abgesprochen wird. So verstanden, besitzt auch das Schlechte ein Sein, dann man sagt beispielsweise: ‚Der Mensch ist blind‘ oder ‚Blindheit ist im Auge‘“ (Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee, S. 94, mit Verweis auf die einschlägigen Stellen bei Thomas).
46 Frage 1 Artikel 1: Interpretation fort: „Daher sage ich, dass das, was schlecht ist, nicht etwas ist, sondern dasjenige, an dem Schlechtes auftritt, ist etwas, und zwar nur insofern ihm durch das Schlechte ein partikuläres Gut ermangelt.“ Wiederum ergibt sich: Mangel erleidet man nicht am Mangel selbst, sondern an einem Gut, dessen Fehlen – nicht-Dasein – der Mangel bedeutet; so wie das Blindsein als solches nicht etwas ist, sondern dasjenige, an dem Blindheit auftritt.13 Diese Konsequenzen für die Gegensatzlehre von gut und übel sowie für die Sprachkonvention über das Übel werden in den Erwiderungen zu den obiectiones von Thomas noch einmal ausgedeutet – sie seien hier ausnahmsweise einmal für den Fall dieser ersten Artikelfrage der Reihe nach ausgeführt, um die Arbeitstechnik vor Augen zu bringen, die Thomas in der Quaestionenform anwendet (in den Interpretationen der folgenden Artikel wird darauf verzichtet werden können, da das Antwortcorpus die eigentlichen Fragen jeweils ausreichend durchgeht): - Gut und schlecht/böse/übel sind nicht konträre Gegensätze (wie weißschwarz), sondern privative, das heißt Schlechtes ersetzt Gutes nicht wie eine Farbe die andere an einem Ding ersetzt, sondern negiert und eliminiert es. Zudem ist zu bedenken, ob man von gut/böse je nachdem (secundum quid) oder an und für sich (secundum se) spricht. Als Wolf ist der Wolf kein privativer Gegensatz des Schafs (beide sind ja Lebewesen, also in einer Seinsklasse anzutreffen). In bestimmter Hinsichtnahme, secundum quid, aber, will sagen insofern er sich von Schafen ernährt und sie dafür reißt, ist er für das Schaf ein Übel, also im Sinne der Trägerauffassung des Schlechten/Übels. (Erwiderungen 1, 2, 3, 4, 5, 6 und öfter) - Ein Übel „an sich“ (nach der Abstraktions-Auffassung des Schlechten) schädigt nicht, das heißt, es fügt nicht aktiv bewirkend Schaden zu, sondern ist ein formaler Mangel oder Defekt, der am Guten auftritt und eher als Zustand denn als Schädigungsgeschehnis fassbar ist, etwa wie bei einem „Lack-Schaden“ am Auto. Allein daher ist das Üble schon nicht selbst eigenständig etwas, sondern tritt nur an etwas auf. Etwas, das schlecht oder „von Übel“ ist, also in der Trägerauffassung des Schlechten verstanden wird, schädigt durch ein NichtWirken – wie eine Bremse, die wegen eines Konstruktionsmangels versagt. Die lauernde Äquivokation im Wortgebrauch, die so häufig Fehldeutungen betreffs des Üblen hervorruft, ist schließlich auch noch in der Verwechslung von Agenten, also Handlungs-„Träger“, und Geschehnis gegeben, wenn beides mit 13
Die Blindheit ist das klassische Beispiel, das sich etwa auch bei Albertus Magnus findet, der seinerseits Augustinus und Anselm von Canterbury für dieses Exempel des Blinden ins Gedächtnis ruft: vgl. Albertus Magnus, Super Dionysii De divinis nominibus, Opera omnia, ed. Coloniensis (Ed. Auguste Borgnet), Bd. 37,1, S. 298, und Super Iohannem, Opera omnia (Ed. Auguste Borgnet), Bd. 24, S. 35a.
47 demselben Wort bezeichnet wird. Als Beispiel diene das (zugestandenermaßen seltsame) Wort „Parkrempler“, das man in Schadensberichten an Kraftfahrzeugen nach Zusammenstößen zwischen einem geparkten und einem ausparkenden Automobil finden kann. Nimmt man das Wort als nomen agentis, so bezeichnet es die Person, die als Fahrer eine Beule oder Schramme an einem anderen Fahrzeug verursacht. Als nomen (f)acti hingegen bezeichnet es die Beule oder Schramme selbst. – Beim Fall des aktiven Schädigens schließlich kommt die aktive Kraft aus dem Guten, die Schädigung aber aus einem Mangel: Beim Elephanten im Porzellanladen aus einer guten Verfassung der Körperkraft und der Imposanz der Größe – und dem Schaden bewirkenden Mangel an Feingefühl und Feinmotorik secundum quid. Ähnlich ist es für den Wolf gut, schnell, kräftig, listig und beißsicher zu sein – was jedoch für das Schaf desto schädlicher ist, je mehr er es ist. (Erwiderungen 8, 9) Niemand strebt Schlechtes an, weil es so schlecht ist, sondern man strebt es als gut an, was sich aber dann je nachdem, secundum quid, als schlecht erweisen kann. So strebt der Wolf nicht danach, das Schaf zu reißen, weil er das für möglichst schlecht hält, sondern weil er sich im Sein erhalten möchte, also, wie Thomas sagt, sub specie alicuius boni, unter der Hinsichtnahme von etwas Gutem. (Erwiderungen 10, 17) „Schlechter“ lässt sich ohne Wahrheitsverlust ersetzend definieren als „in höherem Maße des Guten beraubt“. Wer achtzig Prozent seiner Sehfähigkeit eingebüßt hat, sieht schlechter, ist – in freilich uneigentlicher Redeweise – eben „blinder“ als jemand, der immerhin noch über vierzig Prozent einer Sehkraft verfügt. (Erwiderung 13) In letzter Konsequenz ist Veränderung zum Schlechten sehr wohl Veränderung zum Nichtsein, dann nämlich, wenn der Mangel hundert Prozent wird, wie ein hundertprozentiger Mangel an Sehfähigkeit Blindheit ist. Man darf sich nur dadurch nicht täuschen lassen, dass man sprachlich für Zustände totaler Ermangelung auch affirmative Vokabeln wie „blind“ oder „nackt“ verwendet. Insgesamt gesehen ist es so, dass tatsächlich jedes Vorkommnis von Schlechtem irgendein Seiendes in seinem Sein aspektiv mindert, also zu seinem „Nichtsein“ oder seiner „Seinsabnahme“ hinsichtlich bestimmter Aspekte beiträgt. (Erwiderung 15) „Das Schlechte ist zwar in den Dingen, aber als Mangel, nicht als etwas Wirkliches [das heißt: als eigenständige Wirklichkeit oder Realität eigenen Rechts]; doch in der Vernunft ist es als etwas Erkanntes“ – ähnlich wie ein Loch in der Fensterscheibe: auf der Wirklichkeitsebene ist es nur ein Mangel, nämlich ein punktuelles Ausbleiben im Glaskontinuum des Fensters, an einem wirklich Seienden, der Glasscheibe. „A hole is nothing with something around it“, haben früher die Englischlehrer gerne gescherzt. Doch sobald wir es als ein solches Ausbleiben erkennen, bilden wir davon einen sachhaltigen Begriff, mit dem wir dann positiv umgehen. Tatsächlich ist es die Sprachgewohnheit zu
Frage 1 Artikel 1: Interpretation
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Frage 1 Artikel 1: Interpretation
sagen: das ist (!) ein „Loch“. Ausgedrückt wird also nicht ein ontologischer Status, sondern ein sprachlicher Abkürzungsbehelf, der die Ermangelung ökonomisch wie etwas Wirkliches bezeichnet, ähnlich wie man substantiviert „das Nichts“ sagen kann, ohne damit auf einen Bestandteil der Wirklichkeit Bezug zu nehmen oder nehmen zu können. (Erwiderung 20) Kurze Nachbetrachtung über den Status der Privationstheorie für die Welterklärung:
Das Übel und alles Üble in diesem Sinne als Beraubungsform des Wirklichen anzusehen, wurde und wird in den traditionellen Einwänden gegen die Privationstheorie immer wieder als unbefriedigend verzeichnet und die Privationslehre somit als im Ganzen inakzeptabel zurückgewiesen. Einige, vielleicht sogar die meisten dieser Einwände lassen sich unschwer als bestimmte Ausprägungen philosophischer Modeerscheinungen identifizieren, die, ähnlich den gängigen Stellungnahmen etwa gegen die Naturrechtslehre, nicht die argumentative Auseinandersetzung mit der betreffenden Theorie suchen, sondern diese eher mit Verweis auf die kontingenten Grundlagen der Gegenwartsdiskussion unbesehen ad acta legen: Dieses „man denkt heute nicht mehr so“ oder, stärker, aber prekärer, „man kann heute – zum Beispiel nach Descartes, nach Frege – nicht mehr so denken“, verkennt die innere Logik der Philosophiegeschichte genauso wie die für die Philosophie typische, vielleicht sogar definierende Polyphonie der Standpunkte auf die Welt, die jeden solchen historischen Regionalismus unschwer übertönt. Dazu gehört, dass die für solche Stellungnahmen notwendige Voraussetzung, dass es unanfechtbare Widerlegungen gibt, auf bestimmte Einzelprobleme und mitunter auch auf Problemkomplexe zutreffen kann, auf die begründeten Standpunkte auf die Welt jedoch (so gut wie) nie zutrifft. – Auf einige der theoriebezogenen Problemkonstellationen und Einzelargumente hinsichtlich der philosophischen Haltbarkeit der Privationsthese wird im Verlauf der folgenden Artikel jedenfalls noch näher eingegangen werden (wenn es auch wahr ist, dass sich Thomas innerhalb seines Absichtsrahmens nicht für alle gleichermaßen interessiert14): Die phänomenologisch spürbare aktive Macht des Bösen etwa, die sich angeblich doch nicht aus einem Fehlen erklären lasse, oder der Zweifel an der Auffassung, das Wirkliche sei auch gut, etc. Thomas kennt diese Argumente im Grunde alle, er sieht seine Position allerdings durch keines wirklich gefährdet. Was sich gleichwohl bereits aus dem Blick auf den ersten Artikel von De malo 14
So bleibt etwa die Frage nach dem physischen Leiden und dem körperlichen Schmerz für unseren heutigen philosophischen Geschmack deutlich unterbelichtet. Vgl. dazu unten die Interpretation zu q.12 a.1 [2.2].
49 ergibt, sollte nicht ohne nochmalige ausdrückliche Erwähnung festgehalten werden: Thomas bietet eine philosophisch konsistente Erklärung der phänomenalen Formen des Bösen an, die es nicht nur ermöglicht, sie alle mit einer Erklärfigur zu fassen und verständlich zu machen, sondern auch, den Zusammenhang der Wirklichkeit durch die Annahme nur eines Erklärungsprinzips für diese Wirklichkeit ökonomisch zu gewährleisten. Dies geschieht, indem sich das Üble mithilfe der Privationstheorie als in all seinen Auftretensformen ableitbar darstellen lässt. Als erstes Ergebnis können also alle diese Auftretensformen des Üblen durch eine Denkfigur so dargestellt werden, dass sie nicht mehr als Wirklichkeitsformen gedacht werden müssen. Die Länge der Quaestiones disputatae de malo ergibt sich unter anderem daraus, dass Thomas es auf sich nimmt, dies auch für die prima facie eher unplausiblen Fälle verschiedener Auftretensweisen von Üblem nachzuweisen. Den ontologischen Ausgangspunkt für diesen Ansatz thematisiert Thomas nicht ausdrücklich, doch wird er als Hintergrund seiner Argumentationsweise unschwer ersichtlich, und das in wünschenswerter Klarheit: Der ontologische „Grundzustand“ der Wirklichkeit lässt sich durchaus schlüssig und widerspruchsfrei als „gut“ verstehen, oder vielleicht besser: als guter. Anders gesagt: das, was hier als „gut“ ausgedrückt wird, ist eigentlich der Logos-Bestandteil in „Onto-logie“, oder nochmals anders gesagt: die vernünftige Voraussetzung, dass sich der Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit (des Seins) im Grunde nur unter dem Vorbehalt sinnvoller Abstimmung aller Konstituenten untereinander denken lässt. Dieses als bruchlos sinnvoll bestimmbare „gut“ unter dem Vorbehalt des „im Grunde“ lässt sich etwa am platonischen Gedanken der Ideenwelt nachvollziehen, auf die all das Gesagte geradezu emblematisch zutrifft. Darin liegt auch der Grund dafür, dass Platon diese Art der Welterkenntnis im Sinne einer bestmöglichen Verbindung des Ökonomie-Ideals mit der Prinzipienkonsistenz unter dem Zeichen der Forderung nach Widerspruchsfreiheit vorlegte. Doch braucht man kein Platoniker zu sein, um ebenfalls Folgendes für vernünftig zu halten: Dass eine prinzipielle Welterklärung unter diesem oben genannten Aspekt von „gut“ als vollständig gelten kann, lässt sich mit den zwei als möglich verbleibenden konkurrierenden Modellen folgendermaßen vergleichend ins Verhältnis setzen. Erstens liefe jede andere Annahme – das heißt jede Annahme, die auf einer Eigenständigkeit des Üblen beharrt und dieses nicht als aus einem Nichtüblen ableitbar ansieht – auf einen Prinzipiendualismus hinaus, also auf die Annahmevoraussetzung zweier nicht mehr weiter rückführbarer und mithin gleichberechtigter Wirklichkeitsprämissen. Dies ist die Konsequenz der Position, die ich weiter oben als „postulativen Manichäismus“ bezeichnet habe (und, ins Moralische übersetzt, auch der Position eines „psychologischen Manichäismus). Solch ein Prinzipiendualismus muss nicht von jedem von vornherein als störend empfunden werden – er wird es aber doch zum Beispiel dann, wenn man den Empfindungsboden verlässt und die Frage nach dem Status des üblen Prinzips vernünftige Frage 1 Artikel 1: Interpretation
50 Frage 1 Artikel 1: Interpretation Antwort heischt. Doch ist dieser Dualismus zumindest (das heißt unter Außerachtlassung aller anderen Schwierigkeiten) philosophisch weit unplausibler als eine Welterklärung aus nur einer Wirklichkeitsprämisse wie es die oben angedeutete ist. Die Annahme eines Zusatzes gegenüber der Prinzipieneinheit zeitigt also philosophisch ein Defizit. Zweitens lässt sich auch nicht mit gleicher argumentativer Stärke behaupten, Störungen oder ein Ausbleiben dieser sinnvollen Abstimmung seien als prinzipiell sinnvoll anzunehmen, geschweige denn, dass ein gestörtes prinzipielles „Grundlagenmuster“ der Wirklichkeit bessere Argumente zu seinen Gunsten aufwiese als ein ungestörtes. Denn die Annahme des Üblen im Prinzipiellen kämpft stets damit, dass Prinzipielles zwar einen logischen Primärstatus hat, Negatives einen Anspruch auf einen solchen Primärstatus allerdings nicht so recht einsichtig machen kann. Die Annahme, das Prioritätsverhältnis von Gut zu Böse habe keine vernünftigen Gründe für sich und sei geradezu als arbiträr aufzufassen, das Gute mithin genauso problemlos als Privation des Üblen zu bestimmen wie umgekehrt, war ja der Fehler Pierre Bayles, der Leibniz zu Recht mit seiner Neuauflage der Privationstheorie auf den Plan rief. Im Bereich philosophischer Begründungen lässt sich in dieser Hinsicht die Berechtigung des prima vista naiven, aber doch sehr belastbaren Arguments, dass Negatives logisch immer etwas voraussetzt, das negiert wird und das nicht wiederum nur eine voraussetzungslose Negation wäre, durch keine auch noch so kühne Deutung so ganz wegzaubern. Thomas zeigt mit seinen Überlegungen ein ums andere Mal, dass dieses Argument, das im Grundsatz für Negationen wie für Privationen gilt, nicht nur eine grammatische, sondern eine ernstzunehmende logische Überzeugungskraft besitzt.
Frage 1 Artikel 2: Findet sich das Üble im Guten? Übersetzung
Man muss ganz klar sagen, dass das Üble nirgendwo anders als im Guten sein kann. [1] Um dies auch als offenkundig einzusehen, muss man wissen, dass man für gewöhnlich auf zweifache Weise vom Guten redet: einmal als vom Guten in einem absoluten Sinne, und dann in einem anderen Sinne, in welchem man von diesem oder jenem Guten spricht, wie von einem guten Menschen oder einem guten Auge. [1.1] Spricht man daher vom Guten in einem absoluten Sinn, so hat das Gute eine sehr große Bedeutungsweite, sogar weiter als die von „Sein“, wie es etwa den Platonikern so zu behaupten richtig erschien. Da nämlich das Gute das ist, was erstrebenswert ist, ist dasjenige, was an sich erstrebenswert ist, auch an sich gut, und das ist der Endzweck. Weil aber daraus, dass wir einen Endzweck anstreben, folgt, dass wir auch das anstreben, was zu diesem Zweck hinführt, ergibt sich, das dieses, was auf den Zweck hinführend ausgerichtet ist, genau deswegen, weil es auf den Zweck und das Gute hinführend ausgerichtet ist, auch unter die Verständnisbestimmung des Guten fällt. Daher wird ja auch das Nützliche als Teilaspekt des Guten angesehen. Alles aber, was in Möglichkeitsweise zum Guten steht, ist genau deswegen, weil es in Ermöglichungserwartung zum Guten steht, auf das Gute hin ausgerichtet, da doch das der Möglichkeit nach Sein nichts anderes ist als eine Erwartungsausrichtung auf die Wirklichkeitsumsetzung. Daraus lässt sich ersehen, das dasjenige, was der Möglichkeit nach ist, aus eben dem Grund, dass es der Möglichkeit nach etwas ist, auch unter die Verständnisbestimmung des Guten fällt. Jedwedes Subjekt, und das gilt sogar für die erste Materie, fällt also insofern es in Ermöglichungserwartung zu irgendeiner Vervollkommnung steht, allein dadurch, dass es in einer Ermöglichungsweise befindlich ist, unter die Verständnisbestimmung des Guten. Da nun die Platoniker nicht zwischen der Materie und der Seinsberaubung unterschieden und die Materie unter das Nichtseiende zählten, sagten sie, dass sich das Gute auf mehr erstreckt als das Sein. [1.2] Diesem Weg scheint nun Dionysius in seinem Buch
Über die göttlichen
Namen
gefolgt zu sein, als er das Gute dem Sein vorordnete. Und obwohl
52
Frage 1 Artikel 2: Übersetzung
sich die Materie von der Seinsberaubung sehr wohl unterscheidet und nur in einem beiläufigen Sinn als nichtseiend gelten kann, so ist doch an dieser Überlegung etwas Wahres dran. Die erste Materie wird nämlich nur insofern sie ein Möglichsein bedeutet als seiend bezeichnet: Ein richtiges Sein hat sie allein durch die Form, die Möglichkeit dazu aber durch sich selbst. Da nun aber das Möglichsein wie eben gesagt unter die Verständnisbestimmung des Guten miteingerechnet wird, so folgt daraus, dass ihr das Gute durch sie selbst zukommt. [2] Obwohl nun aber jedwedes Seiendes, ob ein wirkliches oder ein mögliches, in diesem absoluten Sinne als G/gut bezeichnet werden kann, kann dennoch nicht jedes beliebige Etwas als gut in dieser oder jener Hinsicht bezeichnet werden. So mag jemand ein richtig guter Mensch sein, aber das heißt nicht, dass er auch ein guter Leierspieler ist, sondern das ist er nur dann, wenn er in der Kunst des Leierspielens eine gewisse Vollendung erreicht hat. Daher ist es auch so, dass ein Mensch allein daraus, dass er ein Mensch ist, etwas Gutes darstellen mag, doch besagt das allein ja noch lange nicht, dass er auch ein guter Mensch ist. Vielmehr ist es seine eigene Tugendhaftigkeit, die einen Menschen zu einem guten macht, ist doch gemäß der Aussage des Aristoteles in der Nikomachischen Ethik die Tugend dasjenige, was den, der sie hat, gut macht. Die Tugend aber ist die äußerste der Möglichkeiten von jedwedem Etwas, heißt es [bei Aristoteles] im ersten Buch von Über den Himmel. Daraus lässt sich ersehen, dass etwas dann in einem bestimmten Sinne als G/gut bezeichnet wird, wenn es seine ihm eigene Vollendung hat, wie der gute Mensch die dem Menschen eigene Vollendung aufweist und das gute Auge die dem Auge eigene Vollendung. [3] Nach all dem Gesagten stellt es sich folglich so dar, dass man vom Guten in drei verschiedenen Weisen spricht: [3.1] In einer Weise, in der die Vollendungsweise von etwas selbst als gut bezeichnet wird, wie etwa die Scharfsichtigkeit als das Gute beim Auge und die Tugendhaftigkeit als das Gute beim Menschen. [3.2] In einer zweiten Weise wird jedes Etwas, das die ihm eigene Vollendungsgestalt aufweist, gut genannt, wie der tugendhafte Mensch und das scharfsichtige Auge. [3.3] In einer dritten Weise wird das Subjekt selbst als gut oder Gutes bezeichnet, und zwar in Hinsicht darauf, dass es als Möglichkeit einen Vollendungszustand erhoffen lassen kann, so etwa die Seele die Tugend und das Auge die Scharfsichtigkeit. Da nun aber das Üble, wie oben gesagt, nichts anderes ist als die Beraubung an einem zu erwartenden Vollendungszustand, diese Beraubung jedoch wiederum nur in einem noch in Möglichkeitshaltung stehenden Seienden vorfindlich sein kann, da wir doch nur dasjenige als an etwas beraubt ansehen, was es seinem Wesen
53 nach haben sollte, aber nicht aufweist, so ergibt sich, dass das Üble im Guten ist, und zwar in dem, das als Gutes gilt, weil es ein Seiendes in Möglichkeitshaltung ist. Das Gute hingegen, das in der Vollendung selbst besteht, wird durch das Übel geschmälert und beraubt, weswegen das Übel in einem so aufgefassten Guten seinen Sitz nicht haben kann. Etwas Gutes aber, das sich aus einem Subjekt in Hinblick auf seine Vollendungsgestalt ergibt, wird durch das Übel verringert insofern es der Vollendung verlustig geht und das Subjekt bestehen bleibt, ganz so, wie die Blindheit die Sehkraft raubt und somit das sehende Auge beeinträchtigt, und so besteht es dann auch in der Substanz des Auges oder auch in dem Lebewesen selbst als in seinem Träger. Daraus ergibt sich dann auch, dass wenn etwas Gutes reine Verwirklichung ohne jede Beimischung von ergänzender Möglichkeitserwartung ist – und das trifft auf Gott zu –, dieses Gute auf keine Weise Böses oder Schlechtes aufweisen könnte.
Frage 1 Artikel 2: Übersetzung
[4]
De malo q.1 a.2: Interpretation Die Hauptthese des Artikels lautet: Schlechtes kann es nur in einem Guten geben (malum non potest esse nisi in bono), oder: was auch immer als schlecht bezeichnet wird, kommt nie für sich alleine vor, sondern immer nur an oder in Gutem. Dagegen erheben die Vorabeinwände der Quaestio Einspruch, wie bereits aus einer zusammenfassenden Auswahl dieser obiectiones ersichtlich wird: -
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Übles und Gutes sind Gegensätze, wie auch immer man sie bestimmt, und sei es, dass das eine als Privation des anderen bestimmt wird oder das eine als Nichtexistierendes und das andere als Entität. Ein Gegensatz befindet sich aber nicht in einem anderen (unum oppositum non est in alio), wie Kaltes
nicht in Feuer. Wenn sich also etwas Übles in einem Guten befände, so fände man Gegensätzliches in Gegensätzlichem. (Einwände 1, 2, 3, 4, 5) Falls aber angenommen würde, alles Gute sei zwar eine Entität, eine eigenständige Seinseinheit, das Üble hingegen sei ein Akzidens, eine bloße Eigenschaft am Guten, so bliebe doch einzuwenden: Je vollkommener ein Subjekt ist, desto intensiver seine Eigenschaften, wie beim Feuer, das je besser als Feuer, desto heißer. Dann folgte, je vollkommener ein Gutes, desto schlechter ist es. Das aber ist unsinnig. (Einwand 10) Falls Übel eigenschaftlich, Gutes hingegen als Subjekt und Eigenschaftsträger verstanden wird, so ergäbe sich, dass je intensiver die Eigenschaft des Subjekts ist, desto mehr das Subjekt Einbuße erleidet und vermindert wird, ist doch das Üble als Privation aufzufassen (umgekehrt gilt: desto besser sich das Subjekt als solches erhielte, desto schwächer würde seine Eigenschaft). Diese Vorstellung aber ist nicht plausibel. (Einwände 7, 9, 11) Prägnant ist Einwand 13: „Was gar nicht ist, ist auch nicht in irgendetwas. Das Üble aber ist nichts Seiendes. Also ist es nicht im Guten“. Gutes ist Vollkommenes, Vollkommenes aber Wirkliches, denn wenn ihm Wirklichkeit nicht eignete, wäre es (zumindest darin) nicht vollkommen. Schlechtes als Mangel hingegen betrifft nicht den Bereich des Wirklichen, sondern des Möglichen, des Potentiellen, also zur Wirklichkeit Fehlenden. Übles liegt mithin nicht im Guten, das ja vollkommen ist, sondern muss anderswo seinen Sitz haben. (Einwände 8, 14)
Die Antwort, die Thomas auf die kritischen Anfragen an seine Position gibt, zerfällt in zwei Teile. Zur Erklärung wichtiger ist der zweite [2], der erste schafft lediglich eine vorbereitende Klärung zur Einzelbeantwortung der kritischen Eingangseinwände [1].
55 [1] Thomas unterscheidet zunächst zum besseren Verständnis zwei Weisen, wie man über das Gute sprechen kann: In absoluter Weise (absolute loquendo), dann ist das Gute schlechthin gemeint und nicht irgendetwas Gutes oder irgendein Gut. Und davon abgesetzt das jeweilig Gute oder dieses oder jenes Gute (da), das bonum hoc, wie wenn man „gut“ prädikativ gebraucht in „ein gutes Auge haben“.
Frage 1 Artikel 2: Interpretation
[1.1] Wird Gutes als das absolut gesprochen Gute verstanden, so ist es auch das, wonach alles strebt oder worauf alles aus ist, denn das Gute ist das Erstrebenswerte (quod est appetibile). So1 sagt es auch Aristoteles an einer berühmten Stelle seiner Nikomachischen Ethik, die Thomas hier im Sinn hat. Für Thomas ergibt sich daraus folgender Kettenschluss: ! !
!
!
Was erstrebenswert ist, ist ein Ziel (finis); Was oder wer auch immer ein Ziel anstrebt, strebt auch das an, was auf dieses Ziel hingeordnet ist (was auf dieses Ziel also zuführt). So verlangt der Mensch nach Speise (ein bonum hoc), weil er ein Verlangen hat, den Hunger zu stillen, was dem Ziel der Selbsterhaltung entspricht; Speise und Sättigung werden also erstrebt, weil das Ziel der Selbsterhaltung erstrebt wird; Was daher auf ein solches Ziel, das als erstrebenswertes auch Gutes darstellt, hingeordnet ist, ist deswegen selbst etwas Gutes, oder, wie Thomas sagt, es bekommt dadurch die Bedeutung von Gutem (ratio boni) – daher sind Speise und Sättigung selbst etwas Gutes und nicht nur die Selbsterhaltung, der sie
nützen. Und „daher wird das Nützliche ja auch als etwas Gutes eingeordnet“ (unde utilia sub divisione bonu comprehenduntur).
Speise und Sättigung sind, um beim Beispiel zu bleiben, für den Hungernden aber auch dann etwas Gutes, wenn er sie noch nicht erlangt hat. Niemand würde dem Hungernden doch sagen können: Speise ist nichts Gutes für dich. Thomas drückt das so aus: Alles, was sich der Möglichkeit nach als Gutes erweist, ist auf das Gute hingeordnet und daher selbst – wie oben gezeigt – Gutes, denn Möglichkeit heißt dann nichts anderes als der Zustand, auf die Erfüllung hingeordnet zu sein, ordinari ad actum. Man kann sich das am Vergleichsbeispiel der Lust vor Augen führen: Die Lust auf etwas, das man noch nicht hat (was die Epikureer „kinetische Lust“ nannten), ist genauso Lust wie die erfüllte Lust (die Epikur „katastematische Lust“ nannte) an etwas, das man sehr wohl hat (sonst könnte man ja nicht seine Lust daran haben). 1
Aristoteles, Nikomachische Ethik 1094a: „Es scheint doch jede Kunstfertigkeit und jede Unterrichtung, genauso wie jedes Tun und Wollen etwas Gutes anzustreben, weshalb man das Gute zutreffend als das bezeichnet hat, wonach alles strebt“.
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Frage 1 Artikel 2: Interpretation
Was auch immer in einem Möglichkeitsverhältnis einer Erfüllung oder Vervollkommnung harrt (quod est2 in potentia respectu cuiuscumque perfectionis), darf als Gutes gewertet werden. Das gelte sogar für die „erste Materie“, das heißt für den hypothetischen (Un)Zustand der vollständigen Wirklichkeitslosigkeit oder bloßen Denkmöglichkeit, den es faktisch nicht gibt oder auch nur geben kann. Selbst hier sei nach der Logik des vorgehend Gesagten von Gutem zu sprechen, weil es ja um eine Möglichkeit geht (ex hoc ipso quod est in potentia habet boni rationem). [1.2] Nun hätten die Platoniker, so Thomas weiter, nicht zwischen Materie und Mangel unterschieden. – Eine philosophiegeschichtlich schwierige Behauptung, die man sich aber behelfsweise und ein wenig aristotelisierend im scholastischen Sinne folgendermaßen zurechterklären kann: Wenn die Platoniker von der Idee von etwas sprechen, etwa von der Idee des Pferdes, so sprechen sie von einem Urbild für alles, was Pferdsein ausmacht. Kein einzelnes Pferd kann dies alles zugleich sein, also zugleich Hengst und Stute, Rappe und Schimmel, Klepper und Ross, usw. Das jeweilige Pferd ist immer vereinzelt konkretisiert auf eine bestimmte Weise, Pferd zu sein und ermangelt damit der meisten anderen. Diese Konkretion im Einzelnen aber kommt durch die Teilhabe der Idee in den Raum der Abbildungsmöglichkeit hinein zustande, und dieser Möglichkeitsraum, der der Teilhabe von Vollkommenheit harrt, ist als die Materie zu denken. Sie macht aus Universalem Einzelnes.3 Nachdem jedoch damit das Sein der Dinge ganz in den Ideenbereich gehört, bleibt der Materie nur das Nichtsein, das , wie Thomas sagt. Die Materie stellt demnach dasjenige dar, das erst durch Teilhabe an den Ideen ins Sein „mit hineinkommt“. Da nun Materie als Möglichkeit durch ihr Ausgelegtsein, ihre Hinordnung auf Gutes selber als Gutes gelten darf, und sie nach den Platonikern doch etwas Nichtseiendes ist, so sagten sie, dass sich das Gute auch auf das Nichtseiende erstrecke, also über den Bereich des Seienden hat Thomas von Aquin hinaus.4 – Im Artikel 1 der Quaestio 21 von dieses Problem, ob das Gute dem Sein noch etwas hinzufüge oder über das Sein non ens
De veritate
3
Vgl. dazu die Bemerkungen bei Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 249. individuum autem est, quod est in se indistinctum, ab aliis vero distinctum, S.th. I q.29 a.4. Und: materia sensibus signata est individuationis et singularitatis principium. […] formae,
4
(De ente et essentia 2). Gedacht ist – via Dionysius – an Proklos, De malorum subsistentia 32-38. Vgl. Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 247.
2
quae sunt receptibiles, in materia individuantur per materiam, quae non potest esse in alio
57 hinaus ontologisch ausgreife, im selben Sinne mit größerer Ausführlichkeit beantwortet, übrigens auch dort mit besonderer Bezugnahme auf Dionysius.5 Thomas verliert im Aufgriff der obiectiones zur Hauptthese des Artikels auf dieser Grundlage einige Worte über die Lehre des Dionysius Areopagita, die in diesen Vorabeinwänden direkt als Argument ins Feld geführt worden war: Dionysius habe den (anderen) Platonikern soweit zugestimmt und das Gute dem Seienden übergeordnet (bonum praeordinans enti). Thomas sieht das ein, trifft aber wiederum eine Unterscheidung: Materie sei nicht dasselbe wie Mangel, man könne beide unterscheiden. Aristoteles habe außerdem Recht damit, dass die Materie 6 – Das muss man hier nicht nicht in jeder Hinsicht als Nichtseiendes gelten dürfe. vertiefen.7 Recht zu geben sei dem Dionysius aber immerhin in Folgendem, meint Thomas: Die Materie ist nichtseiend, weil sie ja einer Verwirklichung noch harrt, ins Sein gehoben wird sie erst, wenn sie durch Strukturmaßgabe zu etwas Bestimmtem geformt wird. Wenn man aber Möglichsein als eine – wenn auch noch so schwache und abhängige – Seinsweise anerkennt, so ist die Materie wie alles Mögliche in diesem schwachen Sinne „seiend“, und die Bestehensweise als Möglichkeit hat sie ja von sich selbst aus, also ohne eines anderen zu bedürfen. Deshalb ist es richtig, dass die Materie, auch die „erste Materie“ als unvorstellbare reine Möglichkeit, die sie ist, in den Bereich des Guten fällt, da Möglichkeit ja wie gesehen eine Ausrichtung auf Gutes bedeutet, und damit selber Gutes.8 Frage 1 Artikel 2: Interpretation
[2] Damit hat Thomas die Platoniker Revue passieren lassen und kann sich nach der historischen Richtigstellung in Bezug auf Dionysius, die bereits einige Vorabeinwände klärt, einer systematischen Beantwortung der übrigen offenen Fragen bezüglich des „Bösen im Guten“ widmen und die Behauptung des Augustinus verteidigen, dass Schlechtes/Übles/Böses nur im Guten sein kann (Enchiridion 4, 14). Dazu bedarf es zunächst einer nochmalig differenzierenden Bestimmung des „Guten“. 5
6 7 8
Zur Frage der Auffassung von Materie bei Dionysius und zu damit verbundenen Einzelproblemen, die hier nicht näher berührt werden können, vgl. auch Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal S. 66-67. Vgl. Aristoteles, Physik 192a4-5. Weiterverwiesen sei aber auf die gute Zusammenfassung bei Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 252-254. Generell und nicht nur für die Quaestiones disputatae de malo gilt bei Thomas, dass „sein Umgang mit der positio platonica sehr differenziert [ist], so unterscheidet er zwischen der positio an sich und ihrer ratio, also ihrer argumentativen Grundlage, und akzeptiert häufig
eine der beiden, auch wenn er die andere verwirft“ (Alexander Fidora/Andreas Niederberger: Von Bagdad nach Toledo. Das ‚Buch der Ursachen‘ und seine Rezeption im Mittelalter. Mainz 2001, S. 234). Immer noch grundlegend zum Umgang mit den Platonikern bei Thomas ist Robert J. Henle: Saint Thomas and Platonism. A Study of ‘Plato’ and ‘Platonici’ Texts in the Writings of Saint Thomas. Den Haag 1956.
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Frage 1 Artikel 2: Interpretation
Ohne Bezugshinsichten genommen (also absolute) ist jedes beliebige Seiende (etwas) Gutes, sei es nun verwirklicht oder als Möglichkeit auf Verwirklichung angelegt. Das heißt aber noch lange nicht, dass jedes solches Seiende auch ein bestimmtes Gutes ist, also gut in Bezug auf dieses oder jenes gesehen, ein bonum hoc. Thomas bietet folgendes Beispiel an: Angenommen, jemand ist schlicht ein guter Mensch; das heißt, dass er so ist, wie ein Mensch sein soll, wie man es also von einem Menschen in Bezug auf das spezifisch Menschliche erwartet, damit man ihn vorbehaltslos einen „guten Menschen“ nennt. Das heißt nun aber noch lange nicht, dass dieser gute Mensch auch in jeder beliebigen Beziehung als gut gelten muss, zum Beispiel, „dass er ein guter Leierspieler ist, sondern eben nur dann, wenn er eine perfectio in der Kunst des Leierspielens hat“.9 Dasselbe kann man auch im Rückgang auf die Bestimmung des „guten Menschen“ selbst übertragen, dessen also, der so ist, wie ein Mensch sein soll, wie man es also von einem Menschen erwartet. Denn auch hier gilt: Dass er ein Mensch ist, ist allein schon gut, und daher ist ein jedweder als Mensch schon etwas Gutes (quoddam bonum secundum hoc ipsum quod est homo). Doch ist nicht jedweder allein schon deswegen ein guter Mensch (bonus homo). Dass er dies ist oder wird, hängt an der propria virtus, der eigenen Vollkommenheitsgestalt oder Vortrefflichkeitsform des Menschenwesens, die der einzelne Mensch jeweils einlöst (und damit zum guten Menschen wird) oder nicht. Denn das, was ein jedes Ding zu einem guten solchen Ding macht, ist diese ihm eigentümliche „Vortrefflichkeit“, eben virtus. Die antiken Denker sprachen hier vom ergon der Dinge, ihrem „Werk“, das, womit sie sich identifizieren lassen, was sie tun, wenn sie das tun, was ihnen am meisten oder als definierend entspricht. Eingängig sind die von Platon und anderen gewählten Beispiele aus dem Bereich der Herstellung durch menschliche Kunstfertigkeit: Ein Messer ist dann ein gutes Messer, wenn es der einem Messer zukommenden Vortrefflichkeit nachkommt, also scharf ist und schneidet, spitz ist und sticht und bequem in der Hand liegt. Was den Menschen betrifft, so zitiert Thomas zustimmend die Lehre des Aristoteles (Nikomachische Ethik 1106a), dass die dem Menschen eigene Vortrefflichkeit, virtus, der Faktor also, der ihn zu einem „guten Menschen“ werden lässt, die „Tugend“ ist, im Lateinischen ebenfalls virtus. Tugend aber ist eine individuell identifizierend kennzeichnende Handlungsdisposition sowie Handlungsart, die das Gutsein des Einzelnen charakterisiert und es im Vollzug auch repräsentiert: Kurz, Tugend ist eine Bestform der Handlungsart, die einer Bestform, ein Handelnder zu sein, entspricht. Und so gibt 9
In den weiteren Umkreis dieser Überlegung gehört auch das Ausräumen des (Schein-) Problems, „das Gute sei der Träger seines Gegenteils. Denn das Schlechte ist nicht an dem ihm entgegengesetzten Guten, sondern an einem anderen Guten. Der Träger der Blindheit ist nicht die Sehfähigkeit, sondern das Lebewesen, das als solches gut ist, durch die Blindheit aber der Sehfähigkeit beraubt und daher in anderer Hinsicht zugleich schlecht ist“ (Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee, S. 99).
59 es für jede Handlungsart, aber auch für jede Art von Handelnden, eine solche Bestform, eben die oikeia arete, wie Aristoteles sagt, oder die propria virtus, wie Thomas sagt: die „eigene Bestform“ oder die „betreffende Optimalform“. Die Vorlage für diesen Gedanken entnimmt Thomas dabei10der gedrängten Darstellung in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (1098a). Aristoteles sagt zudem in seiner Schrift Über den Himmel (281a14-15), Vortrefflichkeit bestimme sich als der erreichte Endzustand (als das ultimum), oder, anders übersetzt, als der erreichbare Fluchtpunkt des Vermögens, das ein Ding aufweist. Auch ein stumpfes Messer weist, fernab davon, ein gutes Messer zu sein, unter Umständen die Möglichkeit auf, wieder scharf zu werden. Damit hätte es eine für ein Messer zu erwartende Vortrefflichkeit erlangt und kann – gegeben den Fall, dass es auch schön in der Hand liegt und spitz ist – als gutes Messer gelten. Thomas stellt fest, dass die Zuschreibung von „gut“ also auf einer jeweilig jedem Ding zugedachten Vollkommenheit (perfectio) lastet, einer einzeltypischen Norm, die bestimmt, wie etwas in seiner Vollendungsgestalt oder Vollkommenheitsform zu sein hat, und die wir begrifflich immer schon mitdenken, sobald wir wissen, wovon hier jeweils überhaupt gehandelt wird: „Daraus wird offenkundig, dass etwas dann (etwas) Gutes (bonum hoc) genannt wird, wenn es die ihm eigene Vollkommenheit aufweist, wie etwa ein guter Mensch, wenn er die dem Menschen zugehörige Vollkommenheit aufweist, und ein gutes Auge, wenn es die für ein Auge typische Vollkommenheit hat“. So lässt sich das damit Festgestellte folgendermaßen sortieren: Frage 1 Artikel 2: Interpretation
[3] Vom Guten lässt sich auf dreierlei Weise sprechen. [3.1] Erstens wird damit die Vollkommenheit von etwas bezeichnet „wie die Scharfsichtigkeit das Gute am Auge genannt wird und die Tugend das Gute am Menschen“ – das also, was ausmacht, dass 11von einem „guten Auge“ und einem „guten Menschen“ gesprochen werden kann. 10 11
Vgl. dazu Jörn Müller: Ergon und eudaimonia. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 57 (2003), S. 514-542. Max Scheler hat eingewendet, dass es in diesem Sinne dann auch ein „vollkommen Böses“ oder das „perfekte Verbrechen“ geben müsse – und das wäre dann also doch gut, weil vollkommen. Die dahinterstehende Frage, ob „vollkommen“ und „gut“ gleich extensional sind, soll hier nicht behandelt werden. Zu Schelers Problem lässt sich allerdings feststellen: „Im Rahmen der thomasischen Ontologie ist dieser Einwand […] leicht auszuräumen: Thomas unterscheidet nämlich zwischen der Vollkommenheit im engeren und eigentlichen Sinne und der Vollkommenheit im weiteren und uneigentlichen Sinne, die er auch als ‚perfectio in malita‘ bezeichnet. In der letzteren Bedeutung kann man Schlechtes, das in seiner Schlechtigkeit nicht mehr zu übertreffen ist, vollkommen nennen, nicht aber in der ersteren“ (Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee, S.92-93, mit Bezug auf den
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Frage 1 Artikel 2: Interpretation
[3.2] Zweitens bezeichnet man somit auch das als Gutes, das über diese genannte Vollkommenheit verfügt, also den Menschen und das Auge, so sie die besagten ihnen zukommenden Vollkommenheiten auch aufweisen, das heißt nicht mehr wie gerade unter [3.1] das Gute am Auge oder das gute am Menschen, sondern den Menschen oder das Auge selbst, an denen dieses Vollkommenheitsgute perfektionierend auftritt oder eintritt. Die jeweilige Vollkommenheit selbst und das, was sie vervollkommnet, wird gleichermaßen und mit Recht gut genannt. Mit Recht deswegen, weil auf beide ein Vollkommensein zutrifft, ähnlich wie weiße Farbe und das, was sie weiß färbt, weiß ist und beides gemäß der thomasischen Klarstellung in a.1 [1] (zum Beispiel also „das Weiße da“ am Horizont) ganz richtig als Weißes bezeichnet wird. [3.3] Drittens aber nennt man auch einen nur möglichen Träger von Vollkommenheit(en) gut. Um beim Beispiel zu bleiben: Es ist gut, ein Auge zu haben, auch wenn dieses Scharfsichtigkeit vermissen lässt. Wäre solch ein Auge etwas Schlechtes, so müsste es bekämpft, aus dem Wege geschafft oder ausgerottet werden wie alles Schlechte oder Üble. Doch niemand reißt sich ein Auge aus (geschweige denn beide), nur weil er damit nicht scharf sieht, wenn er nur überhaupt damit sieht oder sogar nur sehen könnte. Es hat also sein Gutes, dass er ein Sehorgan besitzt, auch wenn es hinter einer letzten Vollkommenheit zurückbleibt. Es ist und bleibt auch dann noch etwas Gutes. Oder, anders ausgedrückt: Auch das schlechte Auge ist so gesehen noch immer etwas Gutes.12 Genau das ist der Ansatzpunkt, den Thomas für seine Hauptthese in diesem Artikel gesucht hatte: Das Schlechte oder Üble befindet sich im Guten, wie das Beispiel vom schlechten Auge, das etwas Gutes ist, zeigt. Denn, so sagt er knapp zusammenfassend und unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Diskussion in a.1 [1] und [3]:
Da das Üble/Schlechte/Böse, wie oben schon gesagt wurde, nichts anderes ist als ein Mangel, ein Fehlen an einer erforderlichen Vollkommenheit oder Vollendung (privatio debiti perfectionis13), so ein Mangel aber nur in solchen Seienden stattfinden kann, die zu etwas in Ermöglichungserwartung stehen [wie das Auge zur Scharfsichtigkeit] – Sentenzenkommentar II d.44 q.1 a.1 ad 2, wo Thomas die zweite Bedeutungsauffassung als
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„zusätzlich übernommen“ bezeichnet). Auch diesen Gedanken hat Thomas – ein wenig anders begründet und eingeführt – bereits in der Summa contra Gentiles (III cap. 7) zum Thema gemacht: omne igitur quod est,
quocumquemodo sit, inquantum est ens, bonum est. Malum igitur non habet aliquam essentiam, etc. Von einer privatio boni debiti spricht Anselm von Canterbury an berühmter Stelle in De conceptione virginali 5 und liefert damit die Formel für eine spezifizierte Privationstheorie in ihrer klassisch gewordenen Fassung.
Frage 1 Artikel 2: Interpretation
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bezeichnen wir doch solches als einem Mangel unterworfen, was etwas wesensgemäß als Anlage aufzuweisen vorgegeben hat, aber eben nicht aufweist – folgt, dass das Schlechte/ Üble/Böse im Guten auftritt, und zwar insofern etwas Seiendes, das in Ermöglichungserwartung steht, ‚Gutes‘ genannt wird“;
wie ein Auge, das seine anlagegemäße und anlagegemäß zu erwartende Sehkraft nicht vollständig aufweist. Die Definition des Ermangelnden als desjenigen, das etwas seinem Wesen nach anlagegemäß vorgegeben ist, aber eben nicht vorweist, übernimmt Thomas Vollvon Aristoteles;14 sie hilft ihm, das Gute als jeweilige oder dinggemäße kommenheit zu präzisieren, als perfectio rei oder perfectio sua.15 Einen ähnlichen Gedanken, nämlich den der artgemäßen Vollkommenheit, der perfectio in genere suo, kannte Thomas aus der von Augustinus herkommenden Tradition. In genere suo, artgemäß, bedeutet, dass verschiedene Dinge im Sinnganzen der Gesamtwirklichkeit ihre jeweilige Vollkommenheit haben. Dass also schlicht gesagt der Maulwurf zum Erreichen, oder besser: zur Einlösung der in diesem Sinne eigenen Vollkommenheit als Maulwurf nicht die Sehschärfe des Adlers aufweisen muss. Sein mattes Augenlicht reicht für die 16artgemäße Vollkommenheit des Maulwurfs vollkommen und ohne Abstriche aus. Thomas sieht bei Maulwurf und Adlerauge eigentlich gar keine Möglichkeit mehr, von Privation zu sprechen, sondern bevorzugt es, diesen Zustand als pura negatio, ein bloßes Verneinen von etwas zu bezeichnen, das eigentlich kein Übel ausdrückt, da es nicht qualifiziert gegen ein artgemäßes Gut spricht. So ist das „Fehlen“ von Flügeln beim Menschen eigentlich gar nicht mehr als solches zu bezeichnen. Es verneint nur einen Zustand, der –
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Aristoteles, Metaphysik 1022b. Thomas knüpft häufig daran an. So zum Beispiel auch in der Summa contra Gentiles III cap. 5: malum quidem in substantia aliqua est ex eo quod deficit ei aliquid quod natum est et debet habere, etc. Vom Üblen als einer Unvollkommenheit, imperfectio, eines Dings gegenüber dem, was seiner definierenden Struktur wesensgemäß zukommt (id quod debitum est speciei suae secundum naturam), spricht Albertus Magnus in seinem De anima-Kommentar (Editio Coloniensis, Bd. 7,1, S. 230), und an gleicher Stelle vom debitum speciei, dem der definierend gestaltenden Struktur Geschuldeten. Vgl. Christian Schäfer: Augustine on Mode, Form, and Natural Order. In: Augustinian Studies 31 (2000), S. 59-77. Der aristotelische Entelechiegedanke, der ebenfalls eine nichtzeitliche Finalität voraussetzt, mag hier neben anderen Elementen seine neuplatonische Aufnahme gefunden haben, insbesondere aber auch Platons Gedanke des ergon, dass also eine Sache in ihrem Wesen erst an ihrem „Werk“, im Sinne der selbstverständlichen Präsenz ihrer selbsttätigen Verwirklichung, erkennbar sein soll (Politeia 477c, auch 352dff). Vgl. dazu die suggestiven Ausführungen von Arbogast Schmitt, Der Einzelne und die Gemeinschaft in der Dichtung Homers und in der Staatstheorie bei Platon. Stuttgart 2000, S. 42.
62 Frage 1 Artikel 2: Interpretation ohnehin kein „Verschmerzen“ kennt.17 Daran sieht man auch, wie weit die Konzeption bei Thomas von der des sogenannten malum metaphysicum bei Leibniz entfernt ist: Dieses besteht genau in der Differenz zum absoluten Guten, ja schlicht in der Endlichkeit oder Begrenztheit im Vergleich mit dem Absoluten, also just nicht in den Defizienzen zum artgemäß vollendeten Guten. Thomas hat Gründe, das soweit Gesagte noch weiter zu präzisieren: Das Gute im Verständnis von [3.1], das Gute also, das in der Vollkommenheit von etwas besteht (bonum quo est perfectio), wird durch das Übel oder Schlechte entzogen, geraubt (privatur) – ganz so, wie die vollkommene Sehschärfe, derer das Auge durch (entweder äußere oder strukturelle) Mangelfaktoren (teilweise) verlustig geht. „Daher kann in solch einem Guten (in tali bono) das Schlechte nicht sein.“ An der Scharfsichtigkeit des Auges selbst kann also der Mangel nicht liegen, denn die ist ja gerade der Vollkommenheitsfaktor, der uns von einem „guten Auge“ sprechen lässt. Wenn man daher eine „schlechte Sehschärfe“ der Augen beklagt, so spricht man im uneigentlichen Sinne, wie man – das Beispiel zur Erklärung dieser Sprechweise in Artikel 1 – von einem „Loch“ als von einem Etwas spricht, statt vom Fehlen von etwas. Richtig also beklagt man mit diesem unsachgerecht abkürzenden Ausdruck das Fehlen der Sehschärfe. Als sozusagen ein „an etwas Seiendem Nichtseiendes“ (non ens in ente) bestimmt Albertus Magnus daher an berühmter Stelle das Üble, um, genau wie Thomas, darauf hinzuweisen, dass das malum kein Nichtsein in einem (ohnehin unmöglichen) absoluten Sinne (simpliciter non ens) darstellt, sondern eben nur in spezifizierter Hinsicht des „Fehlens“ als solches aufgefasst werden kann.18 – Gutes jedoch, das, wie in den Aussageweisen von [3.2] und [3.3], als Gutes im Zusammenkommen von einem (möglichen) Vollkommenheitsträger und seiner Vollkommenheit bestimmt ist, wird durch Schlechtes oder Übel verringert, denn dann tritt der Fall ein, dass die Vollkommenheit – das Gute im Sinne von [3.1] – vermindert wird und zu fehlen beginnt, doch nicht der Träger, der weiterhin bestehen bleibt und durch dieses Fehlen von der Erfüllung oder Erlangung seiner wesensgemäßen Vollkommenheit weiter distanziert ist. Wendet man das Gesagte noch einmal auf das Beispiel des Auges an, so lässt sich sagen, dass ein Mangel an Sehvermögen zwar die des Auges beeinträchtigt oder – im Falle der Blindheit, den Thomas hier anführt – gänzlich raubt, also das Gute im Sinne von [3.1] mindert oder wegnimmt; doch raubt oder vermindert es deswegen noch nicht den Träger selbst, also das Auge und das Lebewesen, das Augen hat, also Gutes in der Auffassung perfectio sua
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Vgl. zum Beispiel S.th. I q.48 a.3. Anderswo (wie in Summa contra Gentiles III cap.6) spricht Thomas dann auch davon, dass man hier auch von einer Privation sensu stricto und sensu lato sprechen könnte. Albertus Magnus, Metaphysikkommentar, Opera omnia (Ed. Coloniensis, Bd. 16,1, S. 206).
63 von [3.2] und [3.3]. Das Schlechte (definiert als Privation von Gutem im Sinne von [3.1]) tritt hier also im Guten (definiert im Sinne von [3.3]) auf.19 Und noch etwas anderes Interessantes ergibt sich somit: In seiner Entgegnung auf den zehnten Vorabeinwand macht Thomas darauf aufmerksam, dass folglich dasjenige natürliche Wesen, das seinem Vermögen nach das vollkommenste sein könnte – und das ist für ihn der Mensch –, im Falle der fehlenden Verwirklichung seines positiven Potentials gemäß der Trägerauffassung des Übels das Subjekt größten Übels sein wird. Wesen dagegen, die ihrer natürlichen Aufmachung nach in ihrem Vermögen beschränkt sind (und das heißt: so, wie sie jetzt sind, bereits zu hohem Grade verwirklicht und kaum20 mehr perfektionierbar sind), kommen als Träger größter Übel kaum in Betracht.
Frage 1 Artikel 2: Interpretation
[4] „Daraus ergibt sich“, so fügt Thomas wie als Epilog an, „dass wenn etwas Gutes reine Verwirklichung ohne jede Beimischung von ergänzender Möglichkeitserwartung ist, dieses Gute auf keine Weise Böses oder Schlechtes aufweisen könnte“. Thomas lässt sein Lesepublikum auch nicht im Unklaren darüber, dass Gott solch ein Gutes in reiner Verwirklichung ist, das keiner Vervollkommnungsmöglichkeit mehr harren muss: cuiusmodi est deus, schließt er.21
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Als privatio in subiecto definiert Albertus Magnus in einem vergleichbaren Gedankengang das Böse und insistiert gleichzeitig darauf, dass das befallene Subjekt selbst gut ist und sein muss: Albertus Magnus, Super Dionysii De divinis nominibus (Opera omnia, Ed. Coloniensis, Bd. 37,1, S. 260). Vgl. dazu das Nachwort von Stefan Schick zu Thomas von Aquin, De malo/Vom Übel, Band 1, S. 471-572. Vgl. dazu ausführlicher Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du male, S. 259-260.
Frage 1 Artikel 3: Ist das Gute die Ursache des Üblen? Übersetzung
Man muss ganz klar sagen, dass die Ursache des Üblen das Gute ist, und zwar in der Weise, in der Übles überhaupt eine Ursache haben kann. [1] Dazu muss man wissen, dass das Üble keine Ursache an und für sich haben kann. Und das zeigt sich auf dreifache Weise. [1.1] Erstens einmal, weil dasjenige, das eine Ursache an und für sich hat, von seiner Ursache angestrebt wird. Denn was außerhalb des Bestrebens eines Handelnden liegt, ist keine Wirkung an sich, sondern als Wirkung nur akzidentell zustandegekommen. So, wie das Ausheben eines Grabes nur die beiläufige Ursache davon sein kann, dass man dabei auf einen Schatz stößt, denn dazu kommt es außerhalb der Absicht des Grabenden. Das Üble aber, insofern es schlecht ist, kann nie angestrebt sein, und genauso wenig gewollt oder begehrt. Denn alles, was erstrebt wird, wird doch als etwas Gutes erstrebt, und dem steht das Üble als solches eben entgegen. Daraus ersieht man, dass niemand etwas Übles tut, es sei denn, dass er damit etwas in seinen Augen Gutes anstrebte, so wie es einem Ehebrecher als etwas Gutes erscheint, sich des sinnlichen Genusses zu erfreuen und er deshalb Ehebruch begeht. Es bleibt daher nur zuzugeben, dass das Üble keine ihm eigene Ursache hat. [1.2] Dasselbe zeigt sich zweitens auch, weil jede für sich hervorgebrachte Wirkung irgendein Ähnlichkeitsmoment mit ihrer Ursache aufweist, entweder in gleicher Hinsicht, wie bei eindeutig Wirktätigem, oder in abgestufter Hinsicht, wie bei uneindeutig Wirktätigem. Jede bewirkende Ursache bewirkt doch nämlich gemäß ihrer eigenen Wirklichkeit, und die ist etwas Gutes. Daher weist das Üble, insofern es übel ist, keine Übereinstimmung mit einer bewirkenden Ursache auf, insofern sie bewirkende Wirklichkeit ist. Es bleibt daher nur zuzugeben, dass das Üble keine ihm eigene Ursache hat. [1.3] Dasselbe zeigt sich drittens auch daraus, dass jede an sich bewirkende Ursache eine sichere und festgelegte Hinordnung auf ihre Wirkung aufweist. Was aber einer Ordnung gemäß geschieht, ist nichts Übles, sondern das Üble entsteht durch eine Ordnungsverfehlung. Daher hat also das Üble, insofern es übel ist, keine ihm eigene Ursache. [2] Dennoch muss es eine Verursachung irgendeiner Art aufweisen. Denn es ist doch offensichtlich, dass, weil das Üble nichts ist, was etwas Daseien-
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[2.1] [2.2] [2.3] [2.3*] [3] [3.1]
[3.2]
Frage 1 Artikel 3: Übersetzung
des für sich darstellt, sondern nur etwas, das, wie eine Beraubung, die ja nur ein Fehlen von etwas darstellt, das wesensgemäß vorhanden sein sollte, es aber nicht ist, an etwas anderem auftritt, das Üble nicht wesensgemäß an dem auftritt, an dem es auftritt. Wenn nämlich so ein Fehlen einem Ding wesensgemäß ist, kann man nicht sagen, dass dies für es von Übel sei, so, wie es für den Menschen kein Übel darstellt, keine Flügel zu haben, noch für einen Stein, keine Sehkraft zu besitzen, da ihnen dies doch so in ihrer Wesenskonstitution entspricht. Was auch immer aber an anderem nicht wesensgemäß auftritt, muss eine Ursache haben. Wasser ist ja auch nicht heiß, es sei denn, dass ein Grund dafür besteht. Es bleibt daher nur, dass alles Üble irgendeine Ursache hat, aber eben eine akzidentelle, weil es ja an und für sich keine Ursache haben kann. Was auch immer nun akzidentell ist, verweist zurück auf das, was an und für sich ist. Wenn aber das Übel wie gezeigt keine Ursache für sich hat, so bleibt nur, dass allein das Gute eine Ursache für sich aufweist. Die Ursache an und für sich für etwas Gutes kann wiederum nur Gutes sein, da eine Ursache solcher Art nur etwas ihr Gleiches verursacht. Es bleibt daher nur, dass für alles nur erdenkliche Übel eben das Gute die akzidentelle Ursache darstellt. Es kann allerdings auch geschehen, dass ein Übel, das ein fehlerhaftes Gutes ist, den Grund für ein Übel bildet. Dennoch wird es auch hier darauf hinauslaufen, dass die erste Ursache für Übles eben nicht Übles, sondern etwas Gutes ist. Das Üble wird also auf zweifache Weise vom Guten verursacht. In einer Weise ist dieses Ursache des Üblen, insofern es eben fehlerhaft ist. In einer anderen Weise aber, insofern es akzidentell wirkt. Das lässt sich in den natürlichen Dingen leicht nachvollziehen. Die Ursache des Übels nämlich, das die Vernichtung von Wasser darstellt, ist die eigentlich begrüßenswerte Wirkkraft des Feuers. Diese ist aber keineswegs in erster Linie und an und für sich darauf angelegt, dass es kein Wasser gebe. Vielmehr ist sie in erster Linie darauf aus, die Wesenseigenschaft des Feuers an Materielles weiterzugeben, und damit ist nun einmal notwendig mitgegeben, dass dort das Wasser nicht mehr sei. Und so kommt es akzidentell zustande, dass das Feuer bedingt, dass Wasser verschwindet. Die Ursache des Übels aber, das in einer Missgeburt besteht, ist ein Fehlen in der Wirkkraft des Samens. Wenn aber nun jemand nach der Ursache jenes Fehlens forschte, das etwas von Übel im Samen darstellt, so wird er letztlich zu etwas Guten gelangen, das dieses Übel akzidentell hervorruft und nicht insofern es durch ein Fehlen von etwas bedingt ist. Denn die Ursache dieses Fehlensfehlers im Samen ist ein veränderndes
67 Prinzip, das eine Veränderung im Sinne einer Eigenschaft herbeiführt, die der Eigenschaft, die für die gute Beschaffenheit des Samens benötigt wird, entgegensteht. Und diese verändernde Kraft wird umso vollkommener sein desto mehr sie diese entgegenarbeitende Eigenschaft weitergibt, und somit die daraus entstehende Schädigung des Samens. Deshalb wird das Übel für den Samen nicht von einem Guten verursacht insofern es selbst schadhaft oder fehlerhaft wäre; vielmehr wird es von einem Guten verursacht gerade insofern dieses vollkommen ist. [4] Bei willentlich handelnden Wesen verhält es sich ähnlich, aber nicht in jeder Hinsicht. Denn offenkundig ist, dass das sinnlich Erfreuliche den Willen des Ehebrechers in Bewegung setzt und ihn dazu anreizt, sich an einem solchen Vergnügen zu ergötzen, das doch die Anordnung der Vernunft und des Gesetzes Gottes ausschließt. Es stellt also ein moralisches Übel dar. Wenn es nun so wäre, dass der Wille in gleicher Weise notwendig den Eindruck von verlockend Vergnügen Bereitendem erführe wie der Körper notwendigerweise dem Eindruck einer Wirkung auf ihn erliegt, wäre bei den willentlich handelnden Wesen in dieser Hinsicht alles genauso wie bei den bloß natürlichen Wesen. Doch dem ist nicht so, denn wie stark der von außen herantretende Sinnesreiz auch verlocken möge, so bleibt es doch in der Macht des Willens, das anzunehmen oder nicht anzunehmen. Deshalb ist nicht das als Erfreuliches in Bewegung Setzende die Ursache für das Böse, das dadurch zustande kommt, dass man es annimmt, sondern sehr viel eher der Wille selbst ist dafür ursächlich. Und dieser ist dann die Ursache des Üblen in beiden oben besprochenen Weisen, das heißt sowohl akzidentell, als auch in der Weise eines Fehlens von Gutem. [4.1] Und zwar akzidentell, insofern der Wille sich hier auf etwas verlegt, das bloß ein je nachdem Gutes ist, das aber etwas schlicht Übles mit sich bringt. [4.2] In der Weise eines Fehlens von Gutem aber insofern, als es dem Willen obliegt, sich über einen möglichen Fehler im Vornherein klar zu werden, bevor er dann eine wiederum fehlerhafte Wahl begeht, die darin besteht, ein je nachdem Gutes wählend zu verfolgen, das aber schlicht genommen ein Übel darstellt. Und dies ergibt sich wie folgt: In allen Dingen, deren eines die Regelvorgabe oder das Richtmaß eines anderen ist, besteht das Gute darin, dass der Regelvorgabe und dem Richtmaß nachgekommen wird, das Üble hingegen darin, der Regelvorgabe und dem Richtmaß nicht nachzukommen. Nehmen wir also einen Handwerker, der ein Stück Holz mithilfe eines Richtmaßes gerade absägen soll. Wenn er den Schnitt nicht gerade ausführt, der Schnitt also übel missrät, wird dieser schlechte Schnitt darauf zurückzuführen sein, dass dem Handwerker Regel und Maß gefehlt haben. Ähnlich muss das Vergnügungsempfinden und was Frage 1 Artikel 3: Übersetzung
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Frage 1 Artikel 3: Übersetzung
auch immer sonst in den menschlichen Dingen durch die Regelvorgabe und das Richtmaß der Anordnungen von Vernunft und Gottes Gesetz bestimmt werden. Deswegen hat der Wille durchaus ein Vorverständnis davon, dass er von Vernunftanordnung und der Anordnung des göttlichen Gesetzes keinen Gebrauch macht, bevor er eine von dieser vorgegebenen Ordnung abweichende Wahl trifft. Was aber das betrifft, das es ausmacht, dass von dieser gerade dargelegten Regelvorgabe nicht Gebrauch gemacht wird, so ist es müßig, auch dafür noch nach einer Ursache zu forschen. Denn zu dieser Begründung bedarf es nur der Freiheit des Willens, die es erlaubt, entweder zu handeln oder nicht zu handeln. Dass man sich aber nicht ständig tatsächlich diese Regelvorgabe für sich betrachtet zur Selbstausrichtung vor Augen hält, ist weder von Übel noch schuldhaft noch als Strafe zu sehen, denn die Seele kann nicht immer in Vollzugsdurchführung an diese Regel gehalten sein noch sie ständig vor Augen schweben haben. Doch das Ganze erhält zunächst dadurch den Charakter des Schuldhaften, dass sie zu einer Wahl für eine Handlung fortschreitet, ohne in der Überlegung dazu die maßgebliche Richtlinie in sich wachzurufen – ähnlich wie ein Handwerker ja nicht dadurch einen Fehler begeht, dass er sich ans Sägen macht, ohne den Schnittplan noch einmal als Maßgabe seines Tuns einzusehen. Ganz ähnlich findet sich die Schuld des Willens nicht darin, dass er nicht ständig auf die Richtlinie der Vernunft und des göttlichen Gesetzes Acht gibt, sondern darin, dass er ohne solch eine Richtlinie in Anwendung zu bringen sofort zur Handlungswahl übergeht. Daher sagt Augustinus im 12. Buch von Die Gottesbürgerschaft, dass der Wille die Ursache der Sünde ist, insofern er selbst einen Fehlensfehler aufweist, den Augustinus dann mit dem Schweigen oder der Dunkelheit vergleicht, da dieser Fehlensfehler sozusagen nur in einem Ausbleiben besteht.
De malo q.1 a.3: Interpretation Der Artikel widmet sich der Frage, ob das Gute Ursache des Üblen sein kann, oder, in der grundsätzlicheren Wiedergabemöglichkeit des lateinischen causa, ob, und wenn, wie, das Gute der Grund für das Üble ist (utrum bonum sit causa mali). Die Einwände gegen die Lehre, dass das Gute Ursache des Bösen sein kann, gruppieren sich um folgende Grundgedanken, die sich in den argumenta auch durchaus ergänzen und vermengen können:
Jede Ursache bringt nur etwas ihr Ähnliches hervor; zwischen Üblem und Gutem aber besteht keine solche Ähnlichkeit. (Zum Beispiel Einwände 1, 2, 3) - Gegensätze gehen nicht auseinander hervor und Gutes und Übles sind Gegensätze. (Einwand 4) - Auch fehlerhaftes Gutes kann nichts Schlechtes hervorrufen, es sei denn gerade deswegen, weil es wirklich oder möglicherweise fehlerhaft ist, nicht aber, weil es gut ist. Das aber ist fast schon eine Nullaussage, denn welches Gut ist schon ganz ohne Fehler? (Zum Beispiel Einwände 6, 7, 8, 9, 10) - Moralisches Böses kommt nur durch einen Vernunftdefekt, einen Willensfehler oder ein Fehlen an Ausführungsvermögen zustande. Irrtum und Ausführungsschwäche sind aber eigentlich kein Verschulden, und Ähnliches gilt für den Willen, der meist entweder zu schwach ist oder gar nicht frei. (Einwände 12, 13)
-
Daneben gibt es noch eine Anzahl von Vorabeinwänden gegen die (dann von Thomas tatsächlich favorisierte) These, das Gute sei zwar vielleicht nicht per se Ursache des Üblen, könnte aber nur akzidentell oder beiläufig dessen Ursache sein: - Das geht nicht an, denn nichts kann nur beiläufig gewollt sein; des Weiteren, was nur beiläufig oder nur sporadisch verursacht wird, entsteht nicht regelmäßig und generell, doch Fehlerhaftes und Übles entsteht zuhauf und regelmäßig, wie man aus der großen Zahl von Dummköpfen in der Species „vernunftbegabtes Lebewesen“ ersehen kann. (Einwände 15, 17) - Es kann aus demselben Grund nicht sein, dass Gutes nur beiläufig und unregelmäßig Ursache von Übeln ist, denn viel Negatives kommt von Natur aus und regelmäßig vor, wie etwa Alter und Verwelken. (Einwand 18)
70 Frage 1 Artikel 3: Interpretation Als Argumente gegen die Vorabeinwände führt Thomas zwei Autoritätsbelege an: Augustinus, der sagt, Schlechtes könne nur aus Gutem entstehen (Enchiridion 4, 14), und Dionysius Areopagita, der lehrt, dass das Gute Anfang und Ziel aller Übel ist (De divinis nominibus cap. 4 §31). Thomas beantwortet das Problem, ob das Gute Ursache oder gar Grund des Bösen oder Üblen sein kann, in einem mehrschrittigen Vorgehen. Zuerst [1] betrachtet er den Umstand, ob das Üble überhaupt eine Ursache haben kann. Sodann [2] behandelt er die Verursachungsmöglichkeiten des Guten allgemein. Auf dieser Grundlage wendet er sich anschließend [3] zuerst diesen Verursachungsmöglichkeiten in der Natur und dann [4] dem Willen als Verursacher zu. [1] Übles oder Schlechtes kann, so Thomas im Vorgriff auf seine Schlussthese, keine eigene oder eigentliche Ursache haben, keine causa per se – und schon gleich keinen Grund (lateinisch ebenfalls causa), wie man im Hinblick auf das 1 Kommende ergänzen sollte. Eine Ursache ist ein unmittelbarer, auch vereinzelter, Wirkfaktor, ein Grund ist ein Erklärfaktor, der ein Geschehen vollständig positiv bedingt und somit begreifbar macht.2 Auf drei Weisen lässt sich dieses Fehlen einer Kausalität per se beim Üblen ersichtlich machen: [1.1] Zum einen aus der Überlegung, dass alles, was eine Verursachung per se aufweist, durch diese Verursachung auch angestrebt wurde. Das „per se“, was für gewöhnlich in den Übersetzungen als „an sich“ oder auch „wesentlich“ wiedergegeben wird, zeigt sich hier also im etymologisch engeren Sinne von „für sich“: Was auch immer für sich beanspruchen kann, eine eigene Verursachungsraison aufzuweisen, das wurde als solches vom Verursachenden auch intendiert, auf das war das Verursachende aus oder in seiner Tätigkeit angelegt. Im zweiten Buch der Physik geht Aristoteles im Rahmen seiner Diskussion des Zufälligen auch auf dieses Phänomen des Geschehens ohne eigene Verursachungsraison „für sich“ 1
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Zur Kriteriologie der per se-Verursachung und den aristotelischen Vorgaben dafür vgl. Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 303-304. Von Interesse ist hier zunächst insbesondere das Verständnis der Ursache im eigentlichen Sinne, der causa proprie dicta, da sie im Folgenden von Fall zu Fall der Bestimmung der causa per se nahekommt. Die causa proprie dicta beschreibt Thomas mehrmals, zum Beispiel so: „eigentliche Ursache von etwas ist dasjenige, ohne welches jenes nicht sein könnte“, illud est proprie causa alicuius, sine quo esse non potest, S.th. III q.86 a.6; sowie, in De malo selbst, „im eigentlichen Sinne Ursache nennt man das, woraus sich etwas anderes aus Notwendigkeit ergibt“, proprie causa dicitur, ad quam ex necessitate sequitur aliquid, De malo q.3. a.3 ad 3.
71 ein. Diese Passage und ähnliche mögen Thomas vor Augen gestanden haben und passen jedenfalls gut zur hier verhandelten Frage nach einem (Verursachungs-) Geschehen, „das aus anderen Gründen eintritt als aus den für es selbst relevanten Sachgründen“ – und somit gehört das Üble zu dem, was „aus einem sachfremden 3 Grund“ eintritt. Die Argumentation fasst somit die finale Kausalität ins Auge und nennt zur Illustration entsprechende eingängige Belege aus der Welt intentionalen menschlichen Handelns. Um das gleichermaßen aristotelische wie biblische Beispiel4 zu behandeln, das Thomas hier bemüht: Der Umstand, dass jemand ein Grab ausheben möchte und dabei einen just an dieser Stelle verborgenen Schatz findet, hat zwei Resultate oder Folgeumstände, von denen jedoch nur einer eine Verursachung für sich in Anspruch nehmen darf – also eine Ursache per se hat: Der Umstand nämlich, dass sich jetzt ein beträchtlich großes Loch im Boden ausgehoben befindet. Das zweite Resultat, das Auffinden des Schatzes also, ergab sich ohne darauf zielgerichtete Verursachung nur als nicht berechenbares Nebenprodukt einer Verursachungshandlung, zu deren Erklärung dieses Resultat nichts zur Sache tut. Der Beurteilungsumstand, dass das Auffinden eines Schatzes zumeist wesentlich erfreulicher ist als das Loch im Boden, ändert nichts daran, dass dieses erfreuliche Resultat nur beiläufig, zufällig, ohne eigene Verursachungsraison und ohne jeden Begründungsanspruch für das Verursachungsgeschehen des Grabens zustande kam. Thomas nennt das daher in Abgrenzung von der Verursachung5 per se, die eine „gemäß ihrer selbst und als solche angestrebte Wirkung“ zeitigt, eine akzidentelle Verursachung (non est effectus per se sed per accidens), da das Akzidentelle das Beiläufige, Nichtnotwendige und letztlich Abdingbare bezeichnet. Frage 1 Artikel 3: Interpretation
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Arbogast Schmitt: Leben ist Denken (Metaphysik 1072b). Versuch der Erklärung einer Aristotelischen Lehrmeinung. In: Sabine Föllinger (Hg.): Was ist Leben? Aristoteles’ Anschauungen zur Entstehung und Funktionsweise von Leben. Stuttgart 2010, S. 189-224,
hier Anm. 8 zu S. 190. Vgl. Aristoteles, Metaphysik 1025a, der biblische Bezug geht auf Matthäus 13,44. Johannes Damascenus bringt das Beispiel vom Grabenden und dem Schatz zur Darstellung seiner Freiheitslehre, die Thomas gerne heranzieht, in De fide orthodoxa 956 AB, seine Quelle ist Nemesius, De natura hominis. Vgl. dazu Christian Schäfer: Johannes Damascenus und die Ökonomie der Leidenschaften in der Tradition hellenistischer Philosophenschulen. In: Christian Schäfer/Martin Thurner (Hg.): Passiones animae. Die Leidenschaften der Seele in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie. Berlin 2009, S. 29-48, insbesondere S. 35-37. So Schütz’ Thomas-Lexikon sub voce „effectus (per accidens)“; weitere Thomas-Stellen zur Unterscheidung einer Bewirkung per accidens und per se sind S.th. I q.116 a.1; I-II q.20 a.5 ad 1; II-II q.95 a.5; De veritate q.28. a.2 ad 3, und andere; in den Quaestiones disputatae de potentia q.3 a.6 ad 6 wird der Unterschied zwischen den beiden Bewirkungsarten ähnlich wie hier in De malo, jedoch ausführlicher und etwas geduldiger dargestellt.
72 Frage 1 Artikel 3: Interpretation Einer der frühesten Belege für diesen Begriff (im Griechischen symbebêkos) unterstreicht das. Man findet diesen Beleg in Platons Gorgias (479c), wo Sokrates seinen Gesprächsgegner Polos darauf aufmerksam macht, dass sie im Laufe des Gesprächs nun unter der Hand und ohne es zu bemerken auf eine gar nicht gesuchte Lösung für ein Problem verfallen seien, während doch das Thema ihrer Unterredung ein ganz anderes war.6 Dies sind Beispiele von lediglicher Mitverursachung ohne eigenen Begründungsausweis „für sich“ oder „durch sich“, per se. Doch warum ist das Schlechte oder Üble durch diese Mitverursachungsüberlegung in seiner Entstehung zu erklären? Grundlage dafür ist, dass alles, was eine Verursachung per se aufweisen kann, als ein Ziel angesehen werden muss, auf das diese Verursachung angelegt ist. Anders gesagt: Verursachungen per se, eigentliche und nichtbeiläufige Verursachungen, sind nur durch den Zielcharakter des Verursachungsendpunktes erklärbar, der vollendeten Wirkung, wie Thomas sagt. Wo es kein hinreichendes Um-willen gibt, dort kommt gar keine Verursachungsbewegung per se in Gang, höchstens eine akzidentelle, denn das Vollmaß der Bewirkung, das aus dem per se in Abgrenzung zum per accidens spricht, ist nach Thomas nur als Einlösung einer Zielvorgabe verständlich. Woran, wenn nicht am Vergleich der erfolgten Wirkung zum Ziel, sollte sonst dieses volle Maß bemessen werden? Eine solche Verursachung gehorcht also einem Strebensziel und dieses kann nur Gutes sein und nichts Schlechtes, „denn alles, was erstrebt wird, wird doch als etwas Gutes erstrebt, und dem steht das Üble als solches eben entgegen“. So mag es durchaus sein, dass es einen unerfreulichen biographischen Hintergrund hat, dass man ein Grab aushebt (auch die Diskussion zwischen Polos und Sokrates ist ja ein wenig erfreulicher Hintergrund der Akzidentien-Bemerkung dort). Dennoch ist eine positive Ursache dafür vonnöten, etwa, dass man einen teuren Verstorbenen nicht unbestattet lassen möchte (oder, wie im Fall des Sokrates, dass man den Gesprächsaustausch über Grundfragen der Lebensführung sucht). Daraus ergibt sich insbesondere im Hinblick auf die Welt der menschlichen Handlungen, „dass niemand etwas Übles tut, es sei denn, dass er damit etwas in seinen Augen Gutes anstrebte, so wie es einem Ehebrecher als etwas Gutes erscheint, sich des sinnlichen Genusses zu erfreuen und er deshalb Ehebruch begeht“. Als per accidens verursachte Wirkung kommt das Üble somit als „Kollateralschaden“ in die Welt, ganz so, wie man das Wort insbesondere aus der militärischen Berichterstattung kennt. Denn als Schaden, Privation und Mangel behandelt Thomas das Üble oder Böse weiterhin, während die strikte Charakterisierung 6
Dort sagt Sokrates: „Polos, merkst du übrigens, was sich jetzt aus unserem Gespräch nebenher ergeben hat (symbainonta ek tou logou)?“. Dionysius Areopagita, auf den Thomas hier und anderswo in De malo wiederholt Bezug nimmt, sagt, das Böse habe sein „Sein“ auf akzidentelle Weise erhalten: De divinis nominibus 732 C.
73 als Begleitumstand die Entstehung dieses Schadens erläutert, ohne ihm jemals eine eigene raison d’être zuzusprechen. Diese Beschreibung des Zustandekommens von Üblem, Schlechtem und kurzum allem Negativen am Paradigma des Bösen, also insbesondere des willentlich herbeigeführten Negativen, fügt der bisherigen Betrachtung des Problems nun aber eine neue, dynamische Komponente hinzu, welcher die beiden vorhergehenden Artikel keine oder nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatten (Thomas folgt hier der vernünftigen Maßgabe des Augustinus, zuerst das Was, dann das Woher zu klären7): Das Schlechte und Üble wird nun als resultativ ausgeleuchtet, und das heißt als Zustand genauso wie als Zustandsverursachung. Das Böse, Üble oder Schlechte als „Schaden“ ist im Sinne dieser erweiterten Perspektive daher genauso als der resultative Umstand zu verstehen wie als Faktor, der das Resultat bedingt. Also ähnlich wie das deutsche Wort „Biss“ sowohl eine Verursachung bezeichnet, etwa die Tätigkeit einer Schlange mit Kiefern, Zähnen und Giftdrüse, als auch ein zuständliches Resultat, wie etwa die Wunde, von der der herbeigerufene Arzt konstatiert, das sei ein „Schlangenbiss“ – oder wie das eine Wort „Schnitt“ genauso die Tätigkeit des Schneidens wie die sichtbare Stelle der Durchtrennung oder Abtrennung, die an einem Gegenstand durch den Schnitt als die Tätigkeit des Schneidens zustande kommt.
Frage 1 Artikel 3: Interpretation
[1.2] Zum anderen erweist sich das Fehlen einer Verursachung – geschweige denn die Möglichkeit einer Begründung – des Bösen aus dem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Thomas entwickelt diesen Gedankengang näherhin mit dem Hinweis darauf, dass zwischen Ursache und Wirkung ein Ähnlichkeitsverhältnis besteht, ohne das Verursachung nicht möglich wäre, denn irgendeine Art von Vereinbarkeit, von Übereinkommen in einem bestimmten Punkt, muss dazu vorliegen. Anders als die erste Überlegung [1.1], kreist dieses Argument also vor allem um die effiziente Verursachung und nicht mehr um die finale. Mit Aristoteles8 lässt sich diese Ähnlichkeit, wie Thomas sie als grundlegend konstatiert, entweder als bestimmen, das heißt als Gleichheit (jedoch ohne Identität des Verglichenen). Dies liegt bei univoker oder „eindeutiger“ Verursachung vor, wenn also Gleiches Gleiches hervorbringen. Das per se
secundum eandem rationem
7
8
So in der Methodenvorgabe von De natura boni 4: „Bevor also gefragt wird, woher das Böse sei, muss zuerst nachgefragt werden, was denn das Böse sei“ (Proinde cum quaeritur unde sit malum, prius quaerendum est quid sit malum). Vgl. Aristoteles, Metaphysik 1034a, nach der lateinischen Fassung des Wilhelm von Moerbekke übersetzt: „Es ist daraus auch ersichtlich, dass in gewisser Weise alles aus etwas eindeutig entsprechend Zuzuordnendem (ex univoco) hervorgeht, wie das in den natürlichen Entstehungsabläufen so ist, oder aus einem eindeutig als entsprechend zuzuordnenden Aspekt, so dass etwa ein Haus aus einem anderen entsteht oder aus der Maßgabe des Verstandes [des Architekten]“, etc.
74 Frage 1 Artikel 3: Interpretation Schulbeispiel dafür ist, dass Menschen im Zeugungsakt einen Menschen, das heißt einen ihnen Gleichen, hervorbringen. Oder die zur Verursachung vorauszusetzende Ähnlichkeit sei secundum deficientem rationem zu verstehen, „in gegenüber dem Verursachenden zurückstehender Weise“ oder „in abgestufter Hinsicht“, wie man vielleicht übersetzen könnte. Man bezeichnet das als äquivoke, „uneindeutige“ Verursachung, die den Fall beschreibt, dass etwas Bewirkendes für etwas Bewirktes kausal verantwortlich ist, ohne dass das Bewirkte oder das Objekt, auf das Wirkung ausgeübt wird, dem Bewirkenden (in allem) gleich wäre. Das Standardbeispiel dafür ist die Erwärmung eines Steins durch die Sonne. Die Sonne verursacht hier also keineswegs eine weitere Sonne, sondern sie bewirkt mit ihrer eigenen Temperatur die Erwärmung des Steins, der aber ein Stein bleibt, auch wenn er jetzt warm ist, was er vorher nicht war; auch die im Stein verursachte Wärme ist dem Bewirkenden hier nicht in allem gleich, fehlen ihr doch wichtige Eigenschaften der Sonne.9 Hier liegt der Fall vor, dass die Ursache ontologisch höher steht als das Verursachte, sie ist, wie Descartes später sagen wird, eine „eminente Ursache“, während für univoke Verursachung eine „formale Ursache“ genügt,10 um eine ihr (auch an Seinshöhe oder Seinsfülle) gleiche Wirkung hervorzurufen, oder besser: etwas ihr Gleiches als Wirkung hervorzurufen. 9
10
Es gibt die causa aequivoce agens, die causa analogice agens und die causa univoca sive univoce agens (vgl. die Belegstellen S.th. I q.6 a.2, und Summa contra gentiles I cap. 29 und cap. 31); Schütz’ Thomas-Lexikon erläutert dies sub voce „causa“ als „die Ursache,
welche eine ihr ungleichartige, diejenige, welche eine ihr verhältnismäßig gleiche, und diejenige, welche eine ihr gleichartige Wirkung hervorbringt“. Zu den Verursachungsarten vgl. auch die Ausführungen bei Jörg Tellkamp: Sinne, Gegenstände, Sensibilia. Leiden 1999, S. 190: „(i) Eine Ursache ist univok, wenn von Ursache und Wirkung dasselbe formale Prinzip prädiziert werden kann. […] Die in das patiens eingeprägte Form muß von derselben Form sein wie die Form des agens. (ii) Von causae aequivocae spricht Thomas dann, wenn die Wirkung im patiens eine nur entfernte Ähnlichkeit zur Form des agens aufweist“. Vgl. auch Thomas Litt: Les corps celestes dans l’univers de Saint Thomas d’Aquin. Louvin 1963, S. 149-151, mit Diskussion verschiedener Belegstellen aus dem Werk von Thomas. Als „formal“ gleich bezeichnet Descartes in Verursachungsverhältnissen dasjenige, das denselben Realitätsgrad aufweist, während die Definition von „eminent“ in dem Axiom vorliegt, dass alles, was sich an Verwirklichung oder Vollkommenheit (perfectio) in etwas vorfindet, in noch höherem Maße (eminenter) in dessen erster und hinreichender Ursache sein muss. Vgl. Descartes, Meditationes III 13-14 (AT VII 40-41), wozu Andreas Schmidt erläutert: „Da nun alles eine Ursache hat und die Ursache nichts geben kann, was sie nicht selbst besitzt, muß die Ursache mindestens soviel ‚Realität’ in sich enthalten wie ihre Wirkung. Die zu übertragende Realität kann in der Ursache aber ‚entweder auf formale oder eminente Weise‘ […] enthalten sein. Ist sie darin formal enthalten, dann hat die Ursache dieselbe Eigenschaft wie die, die als Wirkung auftaucht; ist sie darin eminent enthalten, reicht es, daß die Ursache etwas Vollkommeneres ist, das die Kraft hat, eine weniger vollkomenere Eigenschaft hervorzubringen […]“ (Andreas Schmidt: Gott und die
75 Als Ergebnis des unmittelbar vorangegangenen Artikels 2 kann Thomas an dieser Stelle einbringen, dass sich Schlechtes nur als im Distanzbereich von Möglichkeit und Verwirklichung vorfindbar erklären lässt. Daran schließt er folgende Überlegung: Jede bewirkende Ursache (causa agens) kann nur dann tätig sein, wenn es sie auch wirklich gibt. Wenn es sie nicht wirklich gibt, dann kann sie auch nicht in Aktion treten. Nun ist verwirklicht zu sein, wie Artikel 2 gezeigt hat, etwas, das dem Guten zukommt und nicht dem Schlechten: Verwirklichung ist nämlich eine Art Vollkommenheit. Mehr noch: Verwirklichtsein gehört11 nachgerade zur Verständnisbestimmung des Guten (pertinet ad rationem boni). Damit hat Thomas leichtes Spiel für seine Schlussfolgerung: „Deswegen weist das Üble, insofern es übel ist, keine Übereinstimmung mit einer bewirkenden Ursache auf, insofern sie bewirkende Wirklichkeit ist. Es bleibt daher nur, zuzugeben, dass das Üble keine ihm eigene Ursache aufzuweisen hat“. Will sagen: In allem, was die Ursache formal ist, nämlich wirklich und bewirkend, hat sie keine Ähnlichkeit mit dem Schlechten oder Üblen. Eine solche Ähnlichkeit aber ist Voraussetzung, dass man von einer Verursachung per se ausgehen kann, sei sie nun univok oder äquivok. Wenn daher zwischen Verursachtem und Ursache keine solche Ähnlichkeit besteht, so kann auch nicht von einer Verursachung per se ausgegangen werden – also einer Verursachungsraison, die nur auf dieses Verursachte zutrifft und „für es“ da ist. Wenn man trotzdem davon ausgehen will, dass es ein Verursachungsverhältnis gibt, so darf es nicht ein solches der Verursachung per se sein, sondern es muss eine Verursachung per accidens gemäß dem Schema des Kollateralschadens angenommen werden, und das ist ja das Beweisziel dieses Artikels. – So findet Thomas auch zu seiner – vielleicht etwas enttäuschenden – Antwort auf den Vorabeinwand 18, dass es nicht sein könne, dass Gutes nur beiläufig und unregelmäßig Ursache von Übeln ist, da doch viel Negatives von Natur aus und regelmäßig vorkomme, wie etwa Alter und Verwelken. Frage 1 Artikel 3: Interpretation
11
Idee des Unendlichen. In: Andreas Kemmerling (Hg.): René Descartes, Meditationen über die Erste Philosophie. Berlin 2009, S. 55-80). Vgl. dazu auch ausführlicher Dominik Perler: Descartes. München 1998, S. 188-193.
Damit unterscheidet sich die ontologische Bestimmung des Üblen bei Thomas wie bereits einige Male angedeutet ganz akzentuiert von der klassischen Auffassung eines „metaphysischen Übels“ bei Leibniz und schließt dieses geradezu aus. Für Leibniz gilt: „das metaphysische Übel besteht in der einfachen Unvollkommenheit“ (Essais de théodicée I §21) und mithin in einem Mangel, einer schlichten Unvollkommenheit in der Anlage alles Kontingenten, also letztlich darin, nicht absolut und nicht in jedem Sinne alles Gute zu sein. Ganz anders Thomas, der seine spezifizierte Privationstheorie auf ein jeweils anders zu denkendes bonum debitum und eine perfectio nur in genere suo aufbaut. Der Bereich des Üblen wird damit allein einer noch offenen Möglichkeit zwischen den bereits verwirklichten Möglichkeiten und den noch ausfüllbaren Möglichkeiten, die jedes Ding von seiner wesensgemäßen, aber das heißt eben auch: relativen Vollkommenheit trennen, zugewiesen.
76 Frage 1 Artikel 3: Interpretation Thomas wird in der Einzelentgegnung darauf (ad 18) ins Feld führen, dass Altern und Verwelken als gut angesehen werden müssen insofern sie in solchen natürlichen Zusammenhängen vorkommen, in denen sie wie alles Vergehen neues Entstehen und Generieren ermöglichen, also nur als per accidens bedauerlich zu 12 gelten haben. [1.3] Das dritte Argument will dasselbe (idem, also die Überlegungen von [1.2] in puncto Wirkursache) noch einmal unter einem ergänzenden Gesichtspunkt verdeutlichen. Und so ist dieses Argument [1.3] wohl tatsächlich nur als zusätzlich stützend zu interpretieren. Thomas führt das Argument wahrscheinlich unter anderem deswegen ein, weil es unausgesprochen auf den Vorabeinwand 17 antwortet. In diesem hieß es: „Was akzidentell in Vorschein tritt, tut dies nur in vereinzelten Fällen. Das Üble aber tut es in der Regelmäßigkeit mehrerer Fälle (ut in pluribus), steht doch auch im Buch Kohelet (1,15): ‚Die Anzahl der Dummköpfe ist unendlich groß‘. Daher hat das Üble eine eigene Ursache (causa per se) und nicht nur eine akzidentelle (per accidens)“. Thomas wendet hier ein, dass das Negative nicht der Regelfall der Vorgabe gegenüber dem Positiven sein kann – was sich ja aus den Artikeln 1 und 2 schon ergeben hatte – und dass dies auch auf die Verursachungsüberlegung Einfluss hat. Schlecht denkbar also, dass man einen Grund per se finden könnte, der erklärt, warum Dummheit der Regelfall der menschlichen Geistbetätigung sein muss. Anders und etwas plakativ formuliert: Selbst ein sich durchsetzendes „Dummheits-Gen“ müsste eigentlich auf irgendeine wie auch immer positive Erklärung für das Menschengeschlecht zurücklaufen und bereits damit könne man dann schon nicht mehr davon sprechen, dass es Schlechtes ist, was hiermit eine Ursache per se, also eigenständig „für sich“, reklamieren darf. Also zum Beispiel in Abwandlung einer etwas eindeutiger formulierten Gassenweisheit, dass dumme Menschen, sagen wir: erfreulich geschickter beim Zeugungsvorgang sind. Thomas selbst urteilt natürlich vorsichtiger und allgemeiner: Jede Ursache per se „weist eine sichere und ganz bestimmte Hinordnung (ordo) bezüglich ihrer Wirkung auf“. Solche Kausalitätszusammenhänge per se legen eine Stabilität an den Tag, die eine Ordnung der Verursachungsverhältnisse eindeutig erfassen lässt, selbst wenn punktuelle Ausnahmen, auch in größerer Zahl, zunächst einmal dagegen zu sprechen scheinen. Ähnlich wie bei der Feststellung von Naturgesetzen in der Physik lassen sich also Konstanten erkennen, ohne die eine Fassung von solchen Zusammenhängen – wie eben in formulierbaren Gesetzmäßigkeiten – gar nicht möglich wäre, und der Bruch mit den Konstanten ist eher als eine Ausfallerscheinung zu charakterisieren (und nur so überhaupt adäquat zu fassen). 12
Vgl. dazu auch Rolf Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, S. 126.
77 Was Thomas als Wertung anschließt, lässt sich wohl nur unter Verweis auf das in [1.1] in der finalursächlichen Argumentation Erarbeitete richtig deuten: Die erwähnte stabile und bestimmte Hinordnung ist Garant dafür, dass das, was ihr gemäß geschieht, nicht schlecht sein kann, sondern gut ist. Nur mit „Ordnung“ statt „Hinordnung“ übersetzt, wäre das von Thomas hier gebrauchte Wort ordo wohl unterdeterminiert und für die Argumentation zu zahm, da der Finalitätsaspekt im Deutschen nicht von selbst mitgegeben ist. Schlechtes tritt auf oder „stößt zu“ (accidit), wenn der Hinordnungslogik nicht Folge geleistet wird (in praetermittendo ordinem). Die kritischen Ausgaben von De malo verweisen für diese Erklärung des Schlechten bei Thomas als Autoritätsnachweis auf Augustinus, De natura boni 4, was auch zutreffend ist. Deutlicher ist aber vielleicht noch der Bezug auf Dionysius Areopagita, der diesen Finalaspekt und den Aspekt der verfehlten Hinordnung deutlicher zutage fördert, wenn er sagt, das Böse sei eine parhypostasis (De divinis nominibus 732C-732D), etwas, das an eigenständiger Existenz vorbeiläuft, und die mittelalterlichen lateinischen Übersetzer haben recht, wenn sie das Präfix para- hier mit praeter, also „daneben“, „vorbei an“ wiedergeben. Dionysius gibt Thomas auch das Vorbild darin, dass er das Übel generell mit derselben Präposition para als am Guten, an der Realisierung und am Sinnvollen „vorbeigehend“ und es „verfehlend“ bezeichnet, und Thomas damit vorgibt, die praetermissio, das „Danebengeraten“, zu einem Bestimmungskriterium des Bösen zu machen. Thomas jedenfalls schließt genauso wie zu Argumenten [1.1] und [1.2]: „Also hat das Schlechte, insofern es Schlechtes ist, keine ihm eigene Ursache“. Frage 1 Artikel 3: Interpretation
[2] Und doch tritt Schlechtes, Übles oder Böses in der Welt schadend, beraubend oder als Mangel allenthalben auf und ist in solchen Auftretensweisen auch im Hinblick auf seine möglichen Ursachen erklärungsbedürftig. Auf irgendeine Weise (aliquo modo) wird es doch hervorgerufen, auch wenn es nichts ist, was für sich existierte (non aliquid per se existens), sondern nur ein Mangel, der etwas anderem als „an seinem Wesen vorbei“, also nicht naturentsprechend innewohnt (praeternaturaliter inest). Thomas legt nochmals Nachdruck auf bereits in den Vorläuferartikeln Gesagtes: „Wenn nämlich irgendetwas von Natur aus ein Fehlen (defectus) aufwiese, so lässt sich davon eigentlich nicht behaupten, dass ihm das ein Übel darstellt, genausowenig wie es ein Übel für den Menschen darstellt, dass ihm Flügel fehlen, oder ein Übel für den Stein, des Sehsinns zu entbehren, da das so doch wesensentsprechend ist“. Zustände jedoch, die über die wesensgemäße Bestimmung, die „natürliche Definition“ von etwas hinausgehen oder von ihr nicht schon einschließend miterklärt werden, was diesem Etwas also nicht von Natur aus innewohnt, haben alle eine Ursache. Und so wäre etwa Wasser nicht warm, wenn es dafür nicht eine Ursache gäbe, meint Thomas, und zwar eine, die sich nicht schon aus dem Wassersein selbst ergibt. Denn dieses verhält sich gegenüber warm und kalt indifferent. Auch das Schlechte muss eine Ursache
78 Frage 1 Artikel 3: Interpretation in diesem Sinne haben, weil es in diesem Sinne eben akzidentelle Verursachung gibt, und diese ist wie gesehen die einzige, die zur Erklärung des Schlechten in Frage kommt. Dies einmal zugestanden, ergibt sich das Nächste in schöner Kadenz: [2.1] Alles, was per accidens ist, lässt sich (in seiner Erklärung) auf solches zurückführen, was per se ist, was es also für sich selbst und nicht nur an einem anderen gibt. – Das ist formal die gleiche Grundüberlegung, die schon bei der Inhärenzlehre des Negativen im Positiven in Artikel 1 begegnet ist. Das lässt sich am einfachsten in der Umkehr der Darstellungsrichtung veranschaulichen: Natürlich kann es zu keinen (ontologischen) Bestimmungen von Dingen kommen, und schon gar nicht zu beiläufigen oder zufälligen, wenn es das Ding, das solchermaßen akzidentell bestimmt wird, nicht gibt. Dass es die Bestimmung von „Rotsein“ oder von „Blondsein“ in welchem Sinne auch immer „gibt“, dass wir sie als Aspekt der Wirklichkeit anerkennen, fußt notwendigerweise darauf, dass es etwas ontologisch Eigenständiges als Bestimmungsträger gibt, also etwa einen Apfel oder ein Mädchen – eine Substanz, wie man im Hinblick auf die aristotelische Tradition sagen könnte, in der Thomas steht. Dasselbe gilt nun wie gesehen in eigener Weise für das „Schlechte“. [2.2] Das Schlechte hat, wie gezeigt (oben unter [1]), keine Ursache „für sich“. Daraus ergibt sich, dass nur das Gute eine Ursache per se hat. – Thomas folgert richtig mit dem Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten: In Artikel 1 hatte er gezeigt, dass „gut“ und „schlecht“ kontradiktorische oder privativ ausschließende Gegensätze sind und daher (anders als konträre, skalierbare Gegensätze) die Welt gleichsam in zwei schneiden ohne eine dritte Möglichkeit außer ihnen zuzulassen. [2.3] Zu sehen war im zuvor Gesagten auch (oben [1.2]), dass per seVerursachungen in Ähnlichkeitsverhältnissen fassbar sind und das Verursachte also dem Verursachenden in einer der beiden Weisen der univoken oder äquivoken Gleichheitsübertragung (Mensch zu Mensch, Sonnenwärme zu Wärme des Steins) ähnlich ist. Daher kommt als per se-Ursache von Gutem nur Gutes in Betracht. Und so schließt Thomas durch ein einfaches Eliminationsverfahren: „Es bleibt daher nur, dass für alles nur erdenkliche Schlechte eben das Gute die akzidentelle Ursache darstellt“. [2.3*] Allerdings bedarf dieser Schluss noch einer Präzisierung, wenn auch bloß einer sprachlichen, um Missverständnissen vorzubeugen: In Artikel 2 war davon die Rede, dass es durchaus solches Gutes gibt, das wegen eines erlittenen Defekts auch schon mal sprachlich als „Schlechtes“ oder „Übles“ abgekürzt wird. Dieses
79 fehlerhafte Gute, wie etwa das schlechte Auge, hört aber deswegen doch lang nicht auf, etwas Gutes zu sein und darüber kann der Sprachgebrauch auch nicht hinwegtäuschen. Dieses fehlerhafte Gute kann ebenfalls Schlechtes hervorrufen, und zwar per accidens, und so sagt man gerade in diesen Zusammenhängen abkürzend, „das Schlechte“ oder „Schlechtes“ habe etwas ursächlich bewirkt, etwa wenn man jemanden fragt: „hast du denn etwas Schlechtes gegessen?“, um der Ursache für eine körperliche Übelkeit auf die Spur zu kommen. Man soll sich durch die Redeweise jedoch nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass es sich bei Essbarem um etwas Gutes handelt, das aber von Mal zu Mal auch – ganz nach der Privationsthese – verdorben sein kann, und so muss es für Thomas hier „darauf hinauslaufen, dass die erste Ursache des Üblen eben nicht das Üble ist, sondern etwas Gutes“. Frage 1 Artikel 3: Interpretation
[3] Auf zwei Weisen kommt es nach Thomas zur solchermaßen festgestellten Verursachung des Schlechten aus dem Guten (ex bono). Er diskutiert sie zunächst anhand der natürlichen Abläufe (in rebus naturalibus). [3.1] Zum einen ist es so, dass Gutes akzidentell Schlechtes bedingt, also im Sinne des Beispiels vom Kollateralschaden.13 Das geschieht etwa, wenn Feuer und Wasser zusammenkommen und das eine dabei zum Schaden des anderen wird, doch ohne, dass dies der definitorischen Bestimmung des jeweiligen Elements unbedingt entsprechen müsste. Das Feuer „strebt ja nicht hauptsächlich und an und für sich danach, dass es kein Wasser gebe“, wie Thomas recht nett formuliert. Nur ist es eben so, dass das Feuer als etwas an sich Gutes und durch seine an und für sich gute Wirkkraft „in akzidenteller Weise bedingt, dass Wasser verschwindet“. Mit dem Wirken des Feuers steht also in Zusammenhang, dass das Wasser 14 gemindert wird oder verschwindet – und umgekehrt. Da Thomas dieses Beispiel bereits in Artikel 1 angeführt und es dann um das Beispiel vom Wolf und dem Schaf ergänzt hatte, lädt diese Stelle ebenfalls zum Vergleich mit diesen beiden Repräsentanten der natürlichen Dinge ein: Es ist dem Wolf in akzidenteller Weise mitgegeben, dass er, als Lebewesen unzweifelhaft gut und in seinem Sein durchaus erfreulich, zum Verderben des als Lebewesen guten und in seinem Sein durchaus erfreulichen Schafes wird, für das Schaf also ein Übel ist. 13
14
Für die folgenden Interpretationen derjenigen Quaestionen, die innerhalb ihres Themenbereichs auch die moralische Mittelerwägung zum Gegenstand haben, sei auf den Unterschied zwischen solchen kollateralen mala und den in Kauf genommenen Mitteln für eine Handlung hingewiesen, wie ihn Stephen L. Brock: Action and conduct. Thomas Aquinas and the theory of action. Edinburgh 1998, S. 201, herausarbeitet. Vgl. dazu näher Stephen L. Brock: Action and conduct, S. 205 (mit einer interessanten Übertragung auf die Mittel-Rationalität in der Moraltheorie, eine Übertragung, die Thomas selbst auch noch einmal in De malo q.16 a.2 [2] ins Spiel bringt).
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Frage 1 Artikel 3: Interpretation
[3.2] Zum anderen kann Gutes etwas Schlechtes bedingen, weil es als Gutes fehlerhaft ist. Thomas wählt zur Veranschaulichung in den natürlichen Abläufen das Beispiel eines Fehlers oder Fehlens im Erbgut des Samens, was dem aus diesem Samen entstehenden Lebewesen zum Übel ausschlägt, also zu Missbildungen oder Ähnlichem. Doch Thomas beharrt in Anbetracht seiner bisher gewonnenen Ergebnisse erstens darauf, dass auch schadhaftes Gutes eben genau das ist, nämlich Gutes, und zwar substantiell (wie im Beispiel von Artikel 2 das Auge, das auch als trübes immer noch etwas Gutes ist), während der Schaden ihm ganz entgegen seiner zu erwartenden Wesenskonstitution nur akzidentell anhaftet – und genau das ist ja die These des Aquinaten: Schlechtes kommt nur akzidentell verursacht zustande. Zweitens deutet Thomas hier ein Prinzip an, das erst in der längeren Diskussion des moralischen Bösen in De malo, dann jedoch häufig und mit Autorenbeleg angeführt, so recht zum Tragen kommen wird: Das Schlechte kann nur virtute boni, das heißt dank der Kraft des Guten, zustande kommen. Dieser Gedanke entspricht einem in der Scholastik verbreiteten Adagium aus dem Werk des Dionysius Areopagita (De divinis nominibus 732C). Darauf wird später noch ausführlicher zu sprechen zu kommen sein.15 Hier sei lediglich darauf hin-
gewiesen, dass Thomas auch anderswo diese Erklärung des moralischen Bösen und seiner Kraft mit dem Beispiel des defekten Erbguts beim Wachsen einleitet. So in der Summa contra Gentiles, wo die formale Übereinstimmung zwischen natürlichem und moralischem Übel durch die Austauschbarkeit von „Tätigkeit“ und „Handlung“ bei der Übersetzung des lateinischen actio und von „Kraft“ und „Tugend“ bei der Übersetzung von virtus vielleicht besonders auffällig ist: Der Defekt in einer Wirkung oder Tätigkeit/Handlung ist Folge eines Fehlers in den Tätigkeitsprinzipien, ähnlich wie aus einer Beeinträchtigung im Samen eine Missgeburt geschieht, und aus einer Krümmung des Beinknochens das Hinken. Das Tätige aber ist tätig gemäß dem, was es an tätigkeits/handlungsbedingender Kraft/Tugend besitzt, und nicht gemäß dem Aspekt des Fehlens an dieser Kraft/Tugend.16
Das Üble selber ist also kein Agent, nichts selbst korrumpierend oder privativ Tätiges, sondern schlicht der Fehlenszustand eines Beraubtseins, eines Ausblei15
16
Vgl. dazu auch Christian Schäfer: El adagio “el mal no actúa sino en virtud del bien” en la filosofía medieval: Su aparición en Dionisio el Areopagita, Tomás de Aquino y Meister Eckhart. In: Carlos Ruta (Hg.): El mal. Buenos Aires 2013, S. 56-78. Defectus in effectu et actione consequitur aliquem defectum in principiis actionis: sicut ex aliqua corruptione seminis sequitur partus monstruosus, et ex curvitate cruris sequitur claudicatio. Agens autem agit secundum quod habet de virtute active, non secundum id quod defectum virtutis patitur (Summa contra Gentiles III cap. 4). Zur Auffassung von monstrositas bei Thomas bemerkt Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 311: “un ef-
fet qui est lui-même déficient par rapport à ce qu’il devrait normalement être“.
81 bens oder Verdorbenseins. Für den vorliegenden Zusammenhang muss jedoch folgende kurzgefasste Besprechung des Textes bei Thomas genügen: Jedwede Veränderung im Erbgut des Samens, also auch jene, die zu der für Missbildungen im daraus hervorgehenden Lebewesen verantwortlichen akzidentellen Fehler- oder Fehlensstelle führt, verdankt sich einer bewirkenden Ursache. Doch heißt bewirken immer, dass etwas Wirkliches seine ihm eigene Tätigkeit ausführt – etwas Unwirkliches kann das nämlich nicht. Nun gilt, wie Thomas feststellt: Was als Tätiges vollkommener ist, also „mehr es selbst ist“, bewirkt auch mehr. Was als Tätiges unvollkommener ist, das wird auch in seiner Wirkkraft als Tätiges unvollkommener ein. So hängen Wirklichkeit und Wirken nach Thomas eng zusammen. Das Wirkliche ist aber wie gesehen (in q.1 a.1 [2]) nur Gutes. Mehr noch: Etwas, das in seinem Wirklichsein höhere Vollkommenheit aufweist, ist a fortiori als etwas Gutes anzusehen. Was auch immer die Wirkkraft hat, eine qualitative Veränderung – zum Beispiel also im Samen – herbeizuführen, ist daher etwas Gutes oder sogar sehr Gutes, wenn man davon ausgeht, dass gerade diese Veränderung großer Wirkkraft bedarf. Dass im Erbgut dann ein Fehler entsteht, ist dagegen der Art und Weise anzulasten, wie diese Wirkkraft darauf Einfluss ausübt, nämlich etwa an einer bestimmten Ordnung vorbei; damit ist auch das Zustandekommen von Fehlern in der Vererbung auf den akzidentellen Bereich verwiesen, auf das „Wie“, das „Wann“ oder „Wo“ usw. Die Veränderung des Erbguts durch Sonneneinstrahlung in großer Höhe tut also der Auffassung, dass die Sonne etwas Gutes ist, keinen Abbruch. Der akzidentelle Umstand des Wo und Wie oder Wann ein Lebewesen sich ihren Strahlen aussetzt kann dagegen als Fehlerquelle sehr wohl namhaft gemacht werden und damit auch als Entstehungsursache der Fehlerhaftigkeit, die als Schaden oder Übel verbucht werden muss. Hält man sich dieses Beispiel vor Augen, so versteht man, dass Thomas für diesen Fall der Verursachung des Schlechten schließt: „Deshalb wird das Übel für den Samen nicht von einem Guten verursacht insofern es selbst schadhaft oder fehlerhaft wäre; vielmehr wird es von einem Guten verursacht gerade insofern dieses vollkommen ist“.
Frage 1 Artikel 3: Interpretation
[4] Der Satz, der nach der Diskussion des Entstehens von Übeln in den natürlichen Dingen die Überlegungen zur Frage nach der Ursache des Bösen im Guten bezüglich des Willens einleitet, kann als programmatisch für viele Distinktionen in De malo gelten (vgl. weiter unten die Ausführungen zu q.3 a.3 und q.6). Er bezieht sich auf das Verhältnis des Tätigseins natürlicher nichtwillentlich agierender Dinge zu dem willentlicher Ausübung fähiger Wesen und lautet: „Im Bereich willentlich tätiger Wesen (in voluntariis) verhält es sich ähnlich, aber nicht in jeder Hinsicht (non quantum ad omnia)“. Die Unterscheidung der zwei Typen von Tätigkeit, durch die Natur und aus dem Willen des Handelnden, hatte Thomas schon früher getroffen. Sie taucht
82 Frage 1 Artikel 3: Interpretation etwa im dritten Buch der Summa contra Gentiles auf, und es scheint, dass diese Unterscheidung ein original thomasischer Beitrag zur Privationstheorie des Übels darstellt. „Thomas führt, so hat es im Hinblick auf die zeitgenössische Diskussion des 13. Jahrhunderts den Anschein, diese Unterscheidung ein. Er tut dies jedoch 17 ziemlich geräuschlos“ – wie es generell so seine Art ist. Die Ausführungen von De malo beziehen sich also in diesem Abschnitt eindeutig auf den Bereich des Moralischen, indem sie sich auf den Bereich des Nichtnotwendigen in der Tätigkeitsverursachung verlegen, dessen also, das – anders als im naturgesetzlich festgelegten einsinnigen Ablaufsverhalten der bisher besprochenen natürlichen Dinge – so oder auch anders geschehen kann, wobei der erklärende Grund dafür, dass es so oder so geschieht, in einer ungezwungenen und selbstursprünglichen, „spontanen“ inneren Regung eines dazu fähigen Subjekts liegt.18 Zum Verständnis ist dafür zweierlei im Auge zu behalten, auch, wenn einiges davon erst später (insbesondere in q.6) von Thomas erklärend nachgereicht wird: Es geht erstens bei den willentlich verursachten Tätigkeiten um solche, die allein im Selbstanstoß des Tätigen ihre letzte Begründung haben und auf keinen weiteren Grund zur vollständigen Erklärung ihres Zustandekommens weiterverweisen (– noch Kant sagt, eine Begründung sei allein „das, was mit Gewissheit ausreicht, eine Sache so und nicht anders zu begreifen“).19 Zweitens, die Unterscheidung von natürlichen Dingen, , und willentlich begabten Wesen ist nicht von vornherein eine Unterscheidung Handlungssubjekten, aber auch nicht ausnahmslos eine solche Handlungssubjekten. So sind zwar Gott und Engel keine und trotzdem willentlich tätig; Menschen aber sind natürliche Wesen und als solche in bestimmten Hinsichten tätig wie gerade beschrieben – etwa in Reflex- oder Stoffwechselabläufen oder insofern sie der Schwerkraft gehorchen, genau wie ein Stein in seiner „Tätigkeit“ zu fallen. Doch sind Menschen eben auch willentlich tätig und können in bestimmter Hinsicht anders als Naturdinge tätig sein. Von Bedeutung ist hier die Unterscheidung von Handlung und Tätigkeit, die sich wiederum recht eingängig res naturales
von
in
res naturales
17 18
19
Rolf Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, S. 127. Zum Spontaneitätsbegriff bei Thomas vgl. Yul Kim: Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin. Berlin 2007, S. 149-173. Einen guten Einblick in die Diskussionslage um die Spontaneität des Willens und das Spannungsgefüge von aristotelischen und augustinischen Standpunkten bezüglich dieses Problems im 13. Jahrhundert liefert Rolf Schönberger: Rationale Spontaneität. Zur Theorie des Willens bei Albertus Magnus. In: Walter Senner/Henryk Anzulewicz (Hg.): Albertus Magnus. Berlin 2001, S. 221-234. Davon zu unterscheiden sind verhindernde oder ermöglichende Ursachen für die faktische Ausübung der Tätigkeit, etwa der biologische Sonderumstand der Dextrokardie – dass also jemand das Herz auf der „falschen“ rechten Seite hat –, wenn ich jemanden aus dem Willen, ihn zu töten, mit einem Dolch links in die Brust stoße und er überlebt, da ich sein Herz aus Unwissenheit verfehle.
83 anhand des Menschen als natürlichem Wesen und Willenswesen deutlich machen lässt. Die scholastischen Philosophen unterschieden demgemäß nämlich den actus humanus, das menschliche Handeln, von actus hominis, der Tätigkeit des Menschen.20 Nach S.th. I-II q.1 a.3 besteht folgender Unterschied zwischen dem actus hominis und dem actus humanus. Der actus hominis bezeichnet all das, was Menschen tun können, ohne dass das spezifisch menschlich wäre. Auch unbewusste, vegetative, beurteilungsindifferente Akte können actus hominis im Sinne von eines von einem Menschen Getanen sein: Husten, Bart streichen, laufen, etc. All dies ist nicht spezifisch menschlich, da – wie Thomas sich ausdrückt – es nicht ex voluntate deliberativa, das heißt: nicht der geistigen Entscheidung(sgewalt) des Menschen entspringt. Der actus humanus meint demgegenüber das spezifisch menschliche Handeln, das mehr ist als ein bloßes Tun und bewusst vollführt wird, auf Überlegung, Wahl, Planen und bestimmten und bestimmenden geistigen Möglichkeiten beruht. Es ist dies ein Akt, dessen Herr der Mensch ist, und wo sich bestenfalls zeigt, dass der Mensch Herr seiner selbst ist. Dazu gehören etwa der Hausbau (ein Lieblingsbeispiel des Aristoteles, und nicht dasselbe wie der instinktive Nestbau bei Vögeln), Musizieren, fürsorgliches Handeln und anderes mehr. Dabei ist aber nicht jede Tätigkeit im Sinne eines actus humanus auch unmittelbar ethisch relevant. Es gibt zum einen die traditionelle Annahme von Adiaphora wie Kopfrechnen, Einparken, Malen etc. Ethisch relevant sind zum anderen nur solche menschlichen Tätigkeiten, die als actus humanus in einer bestimmten Weise als richtig oder verkehrt gelten können. Handeln und Tätigsein unterscheiden sich also letztlich darin, dass man für sein Handeln „etwas kann“,21 für die bloße Tätigkeit aber nicht, da sie nicht allein dem zustimmenden Einsatz eines erkennenden Subjekts für das Ziel der vorauserkannten Tätigkeit entspricht und somit kein „qualifiziertes Tätigsein“ darstellt. Ein Vergleich mit anderen Lebewesen kann das verdeutlichen: Niemand wird bestreiten, dass etwa auch Tiere bestimmten Neigungen folgend das vollführen, was sie tun, genauso wie Menschen (– was allerdings in der Ethik bisweilen dann doch gerne bestritten wird; darin, dass er den Neigungen moralisch erklärende Frage 1 Artikel 3: Interpretation
20
21
Vgl. dazu auch Martin Rohnheimer: Praktische Vernunft und Vernüntigkeit der Praxis. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik. Berlin 1994, S. 180-186.
Zu vergleichen ist hier wie bei vielen anderen Aspekten der Willens- und Handlungstheorie von De malo die entsprechende Lehre des Johannes Damascenus in De fide orthodoxa: Da (und wenn) der Mensch vernünftig handelt, leitet er die Natur im Unterschied zu den vernunftlosen Lebewesen viel mehr, als er von ihr geleitet wird. Deshalb hat der Mensch auch durch den vernünftigen Willensentschluss die Macht, die natürlichen Begierden im Zaum zu halten oder ihnen nachzugeben. Das ist der Grund, warum die vernunftlosen Wesen für ihr Tun weder gelobt noch getadelt werden, der Mensch hingegen sehr wohl (PG 960 C - 962 D).
84 Frage 1 Artikel 3: Interpretation Bedeutsamkeit zuweist, grenzt sich Thomas von bestimmten Ethikmodellen dieser Art ab). Thomas führt daher dieselbe Überlegung, um die es hier geht, in einer anderen der Quaestiones disputatae, nämlich De veritate q.22, damit ein, dass er sich Gedanken über das Streben (appetitus) aktiv selbstbewegter Wesen Gedanken macht. Er tut dies dort, indem er das Strebensprinzip, den appetitus, tätiger Wesen differenziert in eine „aktive Selbstbewegung“ und eine „passive Fremdsteuerung“.22 Die Selbstbewegung setzt voraus, dass es eine vernünftige Erfassung des Ziels von Seiten des Handelnden gibt und dass diese geistige Erfassung für das sich in Bewegung Setzen konstitutiv wirkt. So ist das beim menschlichen Handeln, dem actus humanus, der Fall. Vernunftlose Naturdinge dagegen haben zwar ein inneres Bewegungsprinzip, das ihr Tätigsein im Sinne ihres appetitus aus ihnen heraus und nicht etwa von außen angestoßen oder von einem anderen durchgeführt in Gang bringt – hätten sie dies nicht, so handelte es sich um den Fall, dass etwas nur durch Wirkanstoß von außen in Bewegung gerät, etwa wie ein Stein, der geworfen oder ein Holzstück, das gerollt wird. Dies alles geschieht im Sinne einer inclinatio violata, wie Thomas in De veritate sagt, also einer Bewegungsdisposition zur Zwangsführung, wie man vielleicht übersetzen könnte. Und er grenzt diese sogleich von der inclinatio naturalis ab, einer wesensgemäßen Bewegungsdisposition, „welche zwar keine eigene Erkenntnis seitens des Strebenden wie im Falle der bewussten Selbstbewegung, wohl aber die Existenz eines inneren Prinzips der Bewegung erfordert und insofern ein zwar gelenktes, aber dennoch von eigener Kooperation getragenes Streben darstellt“. Daher gilt: Obwohl ein Lebewesen also sowohl im Fall einer inclinatio violata als auch im Fall einer inclinatio naturalis insofern etwas ‚erleidet’, als es auf einen bestimmten Reiz gemäß seiner spezifischen Form reagiert, liegt die entscheidende Differenz darin, dass beim Zwang der Bewegungsursprung gänzlich außerhalb des betreffenden Lebewesens liegt, während bei der natürlichen Neigung ein innerer Bewegungsursprung vorauszusetzen ist.23
So lässt sich vorläufig als Arbeitsgrundlage für die Betrachtung des Problems in De malo sagen: Tiere und Pflanzen sind natürliche Dinge, die zwar – anders als Steine oder Wasser etwa – ein inneres Bewegungsprinzip haben, das ihre Tätigkeit ursächlich ermöglicht. Den Grund dafür, dass dieses innere Bewegungsprinzip es dann tatsächlich zur Tätigkeit kommen lässt, oder besser: zur Tätigkeit gebracht wird, liegt allerdings nicht in ihnen selbst. Das ist ihnen vielmehr – zum Beispiel artspezifisch – vorgegeben und somit aktuiert dieses innere Bewegungsprinzip die Umsetzung eines Verhaltens, das nicht das jeweils ihrige als Einzelwesen ist, sondern das jeweils art- oder gattungsgemäße. Man spricht daher auch 22
23
So Franz-Josef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin. Stuttgart/ Berlin/Köln 1999, S. 81. Franz-Josef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 81 mit Anm. 222.
85 davon, dass jedes einzelne Tier in dem, was es tut, immer alles ist, was seine Tierart ist – vom Menschen ließe sich das nicht so sagen. Der Wolf reißt das Schaf, nicht weil er dieser oder jener Wolf ist und von einem anderen Wolf ein ganz anderes selbstgewähltes Verhalten zu erwarten wäre. Sondern, weil er ein Wolf ist und der Erklärgrund für das, was er vollführt, außerhalb seiner selbst als dieser oder jener Wolf liegt und auf ihm übergeordnetes Anderes zurückläuft, über das er keine Entscheidungsgewalt hat. – Wobei also auf den Wolf tatsächlich das zuträfe, was weiter oben ([1.3] und [2]) über das fehlerhafte Gute gesagt wurde: Der Wolf, der keine Schafe reißt, ist damit also kein „lieber“ oder „guter“ Wolf, sondern durchaus ein „schlechter Wolf“, weil er eben nicht das tut, was des Wolfes ist – den „bösen Wolf“ gibt es nämlich gar nicht. Oder vielmehr: Ein Wolf, der Schafe oder auch andere Tiere reißt und frisst, ist ein „guter Wolf“ im Sinne von [3.2], weil er genau das tut, was ein Wolf tut, ähnlich wie im berühmten platonischen Beispiel ein Messer dann ein gutes Messer ist, wenn es das tut, was 24ein Messer tut: schneiden, griffig und ausbalanciert in der Hand liegen, usw. Und das führt nun zurück zum Text von q.1 a.3 und zur Thematik der willentlich handelnden Wesen in dem, was ihre Tätigkeiten den natürlichen Tätigkeiten ähnlich macht und an welchem Punkt die Ähnlichkeiten versagen. Es verhält sich also, was die Ursachen des Üblen oder Bösen betrifft, nach Thomas im Bereich des Willens zwar so ähnlich wie bei den natürlichen Dingen, aber eben nicht in jeder Hinsicht. Der Ehebrecher tut etwas Übles und um der Ursache dafür gewahr zu werden muss man wissen, dass er das, was er tut, im Hinblick auf das delectabile secundum sensum, das Lustvolle im Sinnlichen, tut. Allerdings ist es doch so: Ehebruch kann überhaupt nur als etwas moralisch Schlechtes (malum morale) angesehen werden, weil es ja nicht dazu kommen musste. Thomas argumentiert: Wenn der Lockreiz des sinnlichen Vergnügens sich dem Willen des Ehebrechers alternativelos, Thomas sagt: aus Notwendigkeit (ex necessitate), aufgedrängt hätte, ähnlich wie bei den natürlichen Körpern der „Eindruck eines Wirktätigen“ (impressio agentis) keine Alternative zulässt, dass also etwa Wachs durch die Wirkung von Feuer weich oder flüssig wird und es nicht nicht werden kann – dann also dürfte man dem Ehebrecher keinen Vorwurf machen und auch das, was er tut, nicht als verwerflich, als moralisch schlecht bewerten. Eigentlich wäre es dann moralisch überhaupt nicht bewertbar. „Dem ist aber nicht so“, fährt Thomas fort, „denn wie stark der von außen herantretende Sinnesreiz auch verlocken möge, so bleibt es doch in der Macht des Willens, es anzunehmen oder nicht anzunehmen“. Moral als Bereich des Nichtnotwendigen und das grundlegende Vermögen des Willens, sich einem einzelnen Strebensgut Frage 1 Artikel 3: Interpretation
24
Dies ist ja Platons Beispiel in Politeia 353ab: Ein Messer ist dann ein gutes Messer, wenn es das vollführt, wozu es als Messer gedacht ist, also schneiden, sägen, stechen oder Ähnliches.
86 Frage 1 Artikel 3: Interpretation zu verschließen, seine „negative Freiheit“ also, sind damit markiert. Und damit ist dann auch der für die Frage des Bösen bedeutendste Unterschied zwischen dem Verhalten der natürlichen Dinge und der willentlich tätigen Wesen am Beispiel vorgeführt. „Deshalb ist nicht das als Erfreuliches in Bewegung Setzende (ipsum delectabile movens) die Ursache für das Böse, das dadurch zustande kommt (accidit), dass man es annimmt, sondern sehr viel eher der Wille selbst ist dafür ursächlich“.25 Die strukturelle Ähnlichkeit zum Vorgang der Verursachung von Üblem in den natürlichen Dingen wird aus diesen Worten genauso klar wie der entscheidende Punkt, an dem diese Ähnlichkeit aufhört. Das Böse, also auch das moralisch Schlechte, hat keineswegs das substantiell Gute zur Ursache insofern es substantiell Gutes ist – das ipsum delectabile movens steht dafür, dasjenige, was als selbständiges Etwas seiner Erfreulichkeit wegen Ziel einer Bewegung auf es hin sein kann. Denn das ist tatsächlich Gutes, sonst würde es nicht angestrebt, und auch die Sinnesfreuden, die den Ehebrecher zu seinem Tun bewegen, sind das also, von der Frau, mit der er den Ehebruch begeht, ganz zu schweigen, da sie ja auf jeden Fall substantiell Gutes darstellt. Vielmehr ist es so, dass Böses ohne Notwendigkeit zustande kommt: accidit sagt Thomas, womit eben das Akzidentelle, also Nichtnotwendige des Zustandekommens mitausgesagt ist. Der Wille, der selbst etwas Gutes ist, zeichnet für das Entstehen des Bösen verantwortlich. Darin liegt der Unterschied zu den res naturales, und doch kann Thomas auch hier wieder eine Parallele zur Entstehung des Üblen bei diesen ziehen: Denn der Wille lässt sich als Ursache des Bösen auf zwei Arten bestimmen, und es sind dies formal gesehen die gleichen wie unter [3] zu den natürlichen Dingen ausgeführt: [4.1] Zum einen akzidentell, und das dann, wenn sich der Wille auf etwas verlegt, das ihm – wenigstens in einer Hinsicht – als gut erscheint, also auf ein bonum secundum aliquid, ein Gutes je nachdem, doch dabei billigend, in Kauf nehmend oder unvergegenwärtigt etwas mitverfolgt oder auch nur geschehen lässt, das nun einmal schlecht ist, ein simpliciter malum. Das Verfolgen und Erstreben des Gu-
ten in einer Hinsicht bringt also einen Schaden oder eine Minderung oder ein verringerndes Missverhältnis in anderer Sache mit sich, den typischen „Kollateralschaden“. [4.2] Zum anderen, indem man vom Willen als einem schadhaften Guten ausgeht – wie unter den natürlichen Dingen das Erbgut des Samens als Beispiel. Dann 25
Der lateinische Text ist wieder einmal klarer als jede deutsche Wiedergabemöglichkeit: unde mali quod accidit ex hoc quod recipit, non est causa ipsum delectabile movens, sed magis ipsa voluntas.
87 muss man allerdings annehmen, dass es vor der schlechten, das heißt fehlerhaften Wahl, die der Wille für die eine oder andere Handlungsmöglichkeit trifft, im Willen selbst einen erklärenden Schaden oder Fehler für die falsche Wahl und damit für die Verursachung des Bösen gibt. Die Wahl selbst aber hat in diesem Fall ihre Fehlerhaftigkeit wieder darin, dass – ähnlich wie bei [4.1], aber eben nicht ganz – etwas in bestimmter Hinsicht Gutes zum Strebensziel erkoren wird, das aber in dieser konkreten Handlungszielsetzung nun einmal schlecht ist – das ist die unterscheidende Nuance zu [4.1] und zeigt, was gemeint ist: Nämlich die Situation, die im Beispiel vom Ehebrecher beschrieben wurde, der ja auch etwas Gutes – die sinnliche Lusterfüllung – anstrebt, doch dabei, das heißt in der bestimmten Einzeltatumsetzung, willentlich etwas schlicht Übles vollführt. Thomas spricht hier und anderswo von einem simpliciter malum, also von etwas schlicht oder einfachhin oder schlankweg Üblem. Die Wahl des adverbialen Qualifikativs simpliciter ist interessant und durchaus sachgemäß, denn es bildet das aristotelische haplôs nach, was ebenfalls „einfachhin“ oder „schlechtweg“ aussagt. Dieses haplôs bedeutet bei Aristoteles den Unterschied zu pros ti, „in Bezug zu (etwas)“ oder „relativ zu etwas anderem“, bei Thomas heißt es dann (annähernd zumindest) secundum quid. Das pros ti gebraucht Aristoteles als Gegensatz zu physei, „der (eigenen) Natur nach“, „wesensgemäß“, was Thomas hier in De malo mit Wendungen wie naturaliter oder secundum naturam wiedergibt. Bei solchen Dingen, die keine eigene Natur aufweisen, denen kein eigenes Sein in dem Sinne zukommt, dass man ihnen eine eigene Essenz oder eine Rolle als essentielle Eigenschaft zuschreiben könnte, sondern die, wie das Böse oder die Übel, in einer Privation und einem Nichtsein bestehen, kann Thomas nicht „wesensgemäß“ sagen und bedient sich daher des Gegenbegriffs simpliciter, um das relative Übel vom Übel schlechthin zu unterscheiden, ohne unangemessenerweise von einem „wesensgemäßen Übel“ oder ähnlichem sprechen zu müssen.26 Ein „schlechtweg“ Übles ist also etwas, das nicht wesensgemäß Übel ist, aber doch ein solches Übel, das auch dann noch ein solches bleibt, wenn man die Umstände oder den Bezugspunkt oder auch die Absichten dahinter ändern würde, ein Übel, das sich weder durch Erklärung seiner Ziele noch durch Anführung von Umständen noch durch Hinweis auf die Beteiligten als Gutes deuten ließe. Das Qualifikativ „schlechtweg“ als „unbezüglich“ oder „nicht relativ zu anderem“ erläutert daher, dass es sich um ein Übel handelt, dessen verschiedene Bezüglichkeiten irrelevant für seine unzweifelhafte Bestimmung als Übles sind. Etwas Erhellendes wird dadurch auch für die ontologische Diskussion des Üblen deutlich. Denn zunächst einmal könnte es so scheinen, dass die Annahme von etwas schlicht Üblem der inneren Logik der Privationslehre im Sinne einer Erklärung des Übels als bloßer Ermangelung oder Beraubung strikt zuwiderläuft: In Frage 1 Artikel 3: Interpretation
26
Vgl. dazu auch Arbogast Schmitt: Leben ist Denken, S. 191-193.
88 Frage 1 Artikel 3: Interpretation q.1 a.2 [3.3] hatte Thomas ja herausgearbeitet, dass das malum kein Nichtsein in einem absoluten Sinne (simpliciter non ens) darstellen, sondern nur in spezifizierter Hinsicht des „Fehlens“ von etwas gefasst werden kann. Dass Thomas nun innerhalb seiner privationstheoretischen Rahmenbedingungen von einem simpliciter malum sprechen kann, zeigt mithin, dass das Üble (malum) für ihn nicht „Nichtsein“ (non ens) bedeutet. Das Üble „ist“ eigentlich auch kein Fehlen oder Mangel, denn beides kann nicht strikt unbezüglich gedacht werden. Vielmehr besteht das Üble in einem solchen Fehlensfehler oder einer solchen Ermangelung, und weil es vollständig darin – das heißt nur darin – bestehen kann, lässt sich auch von einem schlechterdings Üblen, einem malum simpliciter sprechen, und das ist das genaue Gegenteil von etwas „wesensgemäß Üblem“, dessen Annahme nach Thomas unmöglich ist. – In q.16 a.2 [2] wird er dies noch weiter ausführen. Es geht also – um zu q.1 a.3 zurückzukehren – in diesem Gedankengang um die Situation, dass etwas Gutes angestrebt wird, doch in der konkreten Ausführung oder Einzeltat willentlich etwas schlicht Übles vollführt wird. Wie es genau dazu kommt und wie genau es dazu kommt, bleibt Thomas noch zu erklären. Er muss also begründen, welcher Fehler im Willen der Fehlentscheidung des Willens vorausliegt. (Was Thomas dabei allerdings nach den Ausführungen von q.1 a.1 [1] nicht mehr erklären muss,28 ist, dass ein schlechtes Wollen die Tatsache des Willens nicht schlecht macht. ) Thomas muss dazu weiter ausholen. Grundsätzlich gelte, so beginnt er diese Überlegung, bei allen Dingen, bei denen eines als die Regelvorgabe oder das Richtmaß eines anderen angesehen wird, also sagen wir: Y für Z, Folgendes: Was auch immer in Z als gut vollführt und zustandegekommen angesehen werden darf, lässt sich aus korrektem Maßnehmen und Ausrichten an Y so ansehen. Thomas bietet das Beispiel vom Handwerker, der ein Brett sägt und für den geraden Schnitt ein Lineal benutzt. Missrät nun der Sägeschnitt nach der einen oder anderen Seite, so liege das daran, dass die Richtlinie nicht beachtet und beim Sägen auf die eine oder andere Seite überkreuzt wurde, oder dass der Handwerker ohne irgendein Maß – schlimmstenfalls weder ein Maßinstrument noch Augenmaß – gesägt hat, und dann eben schief. Thomas überträgt nun den damit (vielleicht nicht eben besonders geschickt) veranschaulichten Grundsatz auf das menschliche Handeln und die Willensfrage: Lust, Freude und Ähnliches im Leben des Menschen ist so anzusehen, dass es zu seiner korrekten Ausrichtung einer Regelvorgabe oder eines Richtmaßes bedarf. Diese Ausrichtungsvorgabe übernimmt hier die Vernunft ( ) und das Gesetz Gottes ( ). Dieses Gesetz 27
ratio
27
28
lex divina
Vgl. zum Problem des simpliciter malum auch unten den Anhang 2: Privation, Negation und schlechthin Übles. Dazu ausführlicher nochmals Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 318.
89 Gottes wird Thomas anderswo in De malo als jedermann vernünftig einsehbare Grundforderungen des menschlichen Verhaltens identifizieren. Tatsächlich bestimmt Thomas „Gesetz“ (lex) allgemein als Regel und Maßstab der Handlungsanleitung mit Verpflichtungscharakter.29 Dazu passt das, was er hier in De malo über Regelvorgabe (regula) und Richtmaß (mensura) sagt. Dass dieses Gesetz von Gott kommt, bezieht sich nicht so sehr auf den Charakter des geoffenbarten Gesetzes, etwa des Dekalogs, dessen Vorschriften und wörtliche „Gebote“ hier direkt angesprochen sind, sondern auf das allgemeinvernünftige Charakteristikum des Inhalts dieses als Regel und Maßstab zur Handlungsanleitung erkannten Gesetzes. Die regula rationis et legis divinae, die Richtlinie der Vernunft und des göttlichen Gesetzes, ist also fast wie ein Hendiadyoin zu verstehen, wie ein Ausdruck, der mit zwei Begriffen im Grund ein und dasselbe bezeichnet. So lautet dann das Zwischenfazit, das Thomas zieht: Der Fehler im Willen, auf den die fehlerhafte Wahl zurückzuführen ist, besteht in der Missachtung, dem Nichtinbetrachtziehen oder dem Übergehen der Richtlinie, welche die Vernunft und das göttliche Gesetz vorgeben. Dafür, dass besagte Richtlinie nun nicht eingehalten oder beibehalten wird, bedarf es nach Thomas keiner weiteren Angabe von Gründen, der Verweis auf die Freiheit des Willens genügt. Diese begründet, dass man eine Handlung ausführt oder eben nicht, und als Freiheit eines spontanen, sich selbst in Bewegung setzenden Vermögens verweist sie auf nichts anderes vor ihr – in q.6 [5.2.1] wird Thomas eingehender darauf zurückkommen. Und Thomas präzisiert noch etwas: Wenn der Mensch nicht ständig auf die Richtlinienvorgabe der Vernunft achtet noch sich ständig das göttliche Gesetz vor Augen30hält, so ist das selbst zunächst einmal auch nicht schlecht und auch kein Übel. Das vermöchte der Mensch Frage 1 Artikel 3: Interpretation
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Mit den Worten lex quaedam regula est et mensura actuum, secundum quam inducitur aliquis ad agendum vel ab agendo retrahitur, definiert Thomas in S.th. q.90 a.1 das Gesetz; vgl. zur Anwendung dieser Definition auch S.th. I-II q.95 a.1 und a.2. Vgl. auch Maximilian Forschner: Thomas von Aquin. München 2008, S. 122-125. Nec culpa, nec poena, fügt Thomas hinzu, also „weder als Schuld noch als Strafe“ aufzufassen, und spielt ohne Zweifel auf die bekannte Unterscheidung von Übel als getanes und Übel als erlittenes aus der Schrift De libero arbitrio (I 1) des Augustinus an. Thomas geht darauf ausführlich in den Artikeln 4 und 5 der Frage 1 von De malo ein. Er kommt dort zu dem Ergebnis, dass Schuld und Strafe die beiden Grundformen von Übel im menschlichen Handeln sind, die Schuld als das getane Übel, die Strafe als das erlittene. Das getane ist dabei das Übel, das den Menschen böse werden lässt; das gilt aber nicht für das erlittene, das durchaus auch den Charakter des Guten annehmen kann (vgl. Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 452-457). Was Thomas hier im Zusammenhang des Artikels 3 sagen will, ist: Wenn der Mensch nicht ständig auf die Richtlinienvorgabe der Vernunft achtet noch sich ständig das göttliche Gesetz vor Augen hält, so ist das weder böse getan noch eine Folge der dem Menschen als Strafe nach dem Sündenfall eingetretenen Verderbnis seiner Natur. Das malum culpae und das malum poenae können in Überein-
90 Frage 1 Artikel 3: Interpretation nämlich gar nicht und deswegen ist er auch nicht dazu verpflichtet. Ähnlich also, wie ein Schüler nicht fortwährend die zweite binomische Formel oder den Satz des Pythagoras präsent und bewusst vor Augen haben muss, sondern nur dann, wenn er die Formel oder den geometrischen Satz zur Lösung einer Rechenaufgabe heranzuziehen hat, in der Lage sein muss, sie sich zu vergegenwärtigen, zum richtigen Gebrauch zur gegebenen Zeit parat zu haben und sich gleichsam ad hoc vor Augen zu stellen. Thomas bemüht zum zweiten Mal sein Beispiel vom Handwerker, um den Sinn des Gesagten für den Willenseinsatz zu verdeutlichen: Die geistige Tätigkeit des Menschen beim Wollen „erhält zufürderst dadurch den Charakter des Schuldhaften, dass sie zu einer Wahl für eine Handlung fortschreitet, ohne sich in der Überlegung dazu die maßgebliche Richtlinie in sich wachzurufen – ähnlich wie ein Handwerker ja nicht dadurch einen Fehler begeht, dass er sich ans Sägen macht, ohne den Schnittplan noch einmal als Maßgabe seines Tuns einzusehen“. Die Übertragung auf die Willenstätigkeit lautet dann: „Ganz ähnlich findet sich die Schuld des Willens nicht darin, dass er nicht ständig auf die Richtlinie der Vernunft und des göttlichen Gesetzes Acht gibt, sondern darin, dass er ohne solch eine Richtlinie in Anwendung zu bringen sofort zur Handlungswahl übergeht.“ Somit sei auch Augustinus (De civitate Dei XII 7) darin zuzustimmen, dass der Wille schuldhaftes und sündiges Handeln verursacht, aber eben nur insofern, als der Wille selbst einen Fehler aufweist. Dieser Fehler aber sei ja nichts in sich selbst Bestehendes, sondern dem Schweigen oder der Dunkelheit zu vergleichen, also einem Ausbleiben oder einer Ausfallstelle in einem eigentlich aufs Gute angelegten Regelablauf, ein Fehlensfehler. Der Wille übergeht etwas oder, um der Metapher von Dunkelheit zu folgen, er blendet etwas aus, nämlich seine ihm zuvorliegende Richtlinieninstanz, er überhört, um metonymisch der Metapher vom Schweigen zu folgen, die Stimme der Vernunft. Was hier anlautet, ist neben der grundlegenden Mangeltheorie auch eine Erkenntnis aus Artikel 2: Der Platz stimmung damit bei Thomas von Aquin aber mutatis mutandis auch terminologisch das „moralische Übel“ vom „physischen Übel“ abgrenzen (vgl. aber einige der berechtigten Einschränkungen bei Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee, wo die Präzisierung auf S. 97 dann heißt: „Bezogen auf vernünftige Wesen und ihre willensbestimmten Tätigkeiten, indentifiziert Thomas das Malum in actione mit dem Schuldübel (Malum culpae) und das Malum in substantia mit dem Strafübel“). Dabei ist jedoch auch zu beachten, dass Thomas von Aquin durchaus den Ausdruck malum morale gebraucht. Beim malum culpae ist von Mal zu Mal neben dem „moralischen Übel“ auch das „Üble an der Schuld“, also das, was moralisch qualifizierbar in der Schuldhandlung als von Übel gelten muss, zu begreifen und mit in Rechnung zu stellen. Deutlich wird der Unterschied – wie so oft – erst in einer Fassung unter dem Negativaspekt: das malum poenae beschreibt danach das Fehlen dessen, was das „Gute der Natur“ oder „wesensentsprechende Gute“ (bonum naturae) bezeichnet, das malum culpae ein Fehlen an „sittlich Gutem“ (bonum moris).
91 des Schlechten ist, und das gilt auch für die Frage seiner Entstehung, im Differenzbereich von Wirklichem (hier: der tatsächlichen Handlungsentscheidung durch die Willenswahl) und Vollendungsgestalt (hier: der vernunftgeleiteten Willenswahl) zu suchen, das heißt im Bereich der Möglichkeit zur Vollendung. Dieser Bereich definiert bei Thomas gleichzeitig das Spielfeld der menschlichen Willensfreiheit. Die formale Vergleichbarkeit dieser Argumentationsstruktur aus dem Differenzbereich zwischen Wirklichkeit und Vollendungsgestalt in De malo mit der Erklärung von theoretischen Fehlern (errores) und praktischem Fehlverhalten (peccatum) in den cartesischen Meditationen dürfte auch nach dem überzeugenden Aufweis des häufigen Rückgriffs auf patristisches und mittelalterliches Denken bei Descartes durch Étienne Gilson31 so manchen Thomas-Experten dennoch überraschen. Die Ausführungen von Descartes seien im Folgenden zum Vergleich des bei Thomas Gesagten und zu dessen Abschluss kurz gegenübergestellt: In der Meditatio 4 stellt sich Descartes nach seinem Gottesbeweis in der vorhergehenden Meditation die durchaus nachvollziehbare weitergehende Frage32: Wenn Gott vollkommen ist und alles, was ich bin, aus diesem vollkommenen Ursprung stammt, wieso kommt es dann dazu, dass ich irre und fehle? Dürfte man bei einem vollkommenen Schöpfer denn nicht davon ausgehen, dass er fehlerfreie, und also auch irrtumslose, Wesen schafft? Descartes ringt sich nach einigen längeren Überlegungen zu folgender Antwort durch: Der Irrtum liegt nicht im Menschen insofern er vom vollkommenen Gott geschaffen ist, sondern darin, dass er gewissermaßen etwas nicht ist. Es liegt also an einem Mangel, an einer privatio oder carentia. Es ist eher ein Fehlen als ein Sein, das die ratio falsitatis, den Erklärgrund für das Falsche und Fehlerhafte, darstellt. Das greift die klassische Privationstheorie auf, wie sie Artikel 1 vorge33 führt hatte. Frage 1 Artikel 3: Interpretation
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Vgl. dazu vor allem Étienne Gilson: La liberté chez Descartes et la théologie. Paris 21982, und Ders.: Études sur le rôle de la pensée médiévale dans la formation du système Cartésien. Paris 31967. Zum Folgenden vgl. Anthony Kenny: Descartes on the Will. In: Ronald J. Butler (Hg.): Cartesian Studies. Oxford 1972, S. 1-31; Brian Calvert: Descartes and the Problem of Evil. In: Georges J.D. Moyal (Hg.): René Descartes. Critical Assessments IV. London/New York 1991, S. 396-405; sowie Christian Schäfer: „Et fallor et pecco“: Ethischer Intellektualismus bei Descartes? In: Philosophisches Jahrbuch 108 (2001), S. 232-244.
Die Interpretation der Stelle fordert geradezu eine en passant-Erklärung der Privationstheorie heraus: „A defect is not pure nothingness, not a mere negation. A defect presupposes some property normally belonging to one’s nature, which one should have as a thing characterized by this particular set of capacities. […] In calling error a privation Descartes describes it as the lack of knowledge that he ought to have or that is due to him” (Lilli Alanen: The Metaphysics of Error and Will. In: Andreas Kemmerling (Hg.): René Descartes, Meditationen über die Erste Philosophie. Berlin 2009, S. 81-100).
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Frage 1 Artikel 3: Interpretation
Eine Betrachtung der geistigen Konstitution endlicher Wesen liefert Descartes die Bestätigung dafür: Von Gott haben diese die Erkenntnisfähigkeit und die Fähigkeit zu Wollen erhalten. Diese Fähigkeit zu Wollen sei dabei zu verstehen als das freie Vermögen, sich bejahend oder verneinend, befolgend oder meidend auf etwas zu beziehen, was der Verstand vorlegt – Thomas wird dies in der Quaestio 6 von De malo ähnlich sehen. Nun wäre es doch vollkommen unplausibel, anzunehmen, so Descartes weiter, die Erkenntnisfähigkeit oder der Wille sei ein Mangel, der für die ratio falsitatis, den einsehbaren Grund für das Falsche, verantwortlich stehen könne. Vielmehr ist doch sowohl die Tatsache, Verstandesvermögen (intellectus, also die Fähigkeit zu erkennen) und Willensbegabung (voluntas, also die Fähigkeit freien Wählens und freier Bezugnahme) zu besitzen, gut und bejahenswert. Mehr noch, auch die Art und Weise und das Ausmaß, wie menschliche Wesen beides besitzen, ist vollkommen zustimmungswürdig: Der Wille ist ja (so Descartes) schier unbegrenzt und kann sich auf alles beziehen, die menschliche Erkenntnisfähigkeit ist zwar nicht unbegrenzt wie die göttliche, aber doch immerhin erstaunlich groß und bei rechtem Gebrauch mehr als ausreichend für die Belange des Menschen und eines vollkommenen Urhebers keineswegs unwürdig. Bernard Williams hat diese Defektlosigkeit des Verstands bei Descartes richtig beschrieben: Natürlich hat Gott „mir einen begrenzten Verstand gegeben, aber das ist einem geschaffenen Wesen völlig angemessen und beinhaltet darüber hinaus [...] nicht von selbst die Neigung zum Irrtum“.34 Weder in Bezug auf den Willen noch auf das Verstandesvermögen lässt sich also von einem irrtumsbedingenden Mangel sprechen. Irrtümer und Fehler kommen vielmehr in unangebrachten Zuordnungen dieser beiden an und für sich guten Prinzipien zustande. Solche Zuordnungen sind nun allerdings niemand anderem als dem Vollzugssubjekt dieser beiden Vermögen zuzuschreiben und liegen tatsächlich im autonomen Vollzugsbereich dieser beiden guten Fähigkeiten durch das freie und geistbegabte Subjekt. Näherhin entsteht jeder Fehler wie bei Thomas in Artikel 3 der Quaestio 1 tatsächlich nur in einem Differenzbereich zweier guter Faktoren. Nämlich so, dass sich der für sich gute Wille, der sich auf alles beziehen kann, auf solches bezieht, was die für sich gute Einsichtskraft nicht oder (noch) nicht genügend erfasst hat. Der Irrtum liegt deshalb im Feld der Differenz zwischen der Erstreckungskraft des Willens, die unendlich ist, und der Erstreckungskraft des Erkenntnisvermögens, die es trotz seiner ungeheueren Reichweite nicht ganz ist. Fehler entstehen also beim Urteilen, das Descartes als bejahenden oder verneinenden, befolgenden oder meidenden Bezug des Willens auf die Vorlagen des Verstands bestimmt. Genauer: Die Privationen und Mängel, 34
Descartes. A Project of Pure Enquiry. Hammondsworth 1978, S. 169; Übersetzung nach der deutschen Ausgabe Descartes. Das Vorhaben der reinen philosophischen Untersuchung. Weinheim 31996.
Bernard Williams:
Frage 1 Artikel 3: Interpretation
93
als die Descartes die Fehler ja definiert hatte, entstehen beim Urteilen in dem Differenzbereich, in dem diese Vorlagen oder Einsichten nicht hingelangen und der Wille trotzdem den Urteilsbezug herstellt. Descartes resümiert35: da das Betätigungsfeld des Willens sich weiter erstreckt als der Verstand, schließe ich ihn nicht in dieselben Grenzen ein, sondern betätige ihn auch in Dingen, die ich nicht verstehe. Weil er sich hiergegen gleichgültig verhält, weicht er leicht vom Wahren und Guten (a vero et bono) ab, und auf diese Weise also täusche ich mich und sündige (atque ita et fallor et pecco).
35
Meditatio IV 9 (AT VII 58), nach der Übersetzung von Artur Buchenau: René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Hamburg 1972; vgl. dazu Dominik Perler: Descartes, S. 162.
Teil 2: Ethische Diskussion
Frage 3 Artikel 3: Verursacht der Teufel die Sünden? Übersetzung
Es ist zunächst festzuhalten, dass die Ursache für die Bewegung von etwas auf vielfache Weise bezeichnet wird: So wird bisweilen das als Ursache angesehen, was vorbereitend, beratend oder gebietend wirkt. Bisweilen aber auch das, was vollendend wirkt. Dieses nun wird im eigentlichen und wahrhaften Sinne als Grund für etwas bezeichnet, da doch ein Grund das ist, woraus eine Wirkung erfolgt. Auf die Tätigkeit von etwas Vollendendem folgt nun stets eine Wirkung, nicht aber auf die von etwas Vorbereitendem oder Beratendem oder Gebietendem: „Denn ein Ratschlag zwingt keinen wider Willen“, wie Augustinus in seinem Buch der sagt. Und daher lässt sich schon einmal festhalten, dass der Teufel zwar in der Weise des Vorbereitens, Ratens und innerlich oder äußerlich Überredens ursächlich für die Sündenhandlung des Menschen sein kann, oder selbst auch in der Weise des Gebietens, wie es bei denen zu sein scheint, die sich dem Teufel ganz offenkundig ergeben haben. Doch kann er nicht in der Art und Weise eines Vollendenden die Ursache des Sündigens sein. Wie es nämlich bei der Hervorbringung durch Formmaßgabe die vollendende Ursache ist, aus deren Wirksamkeit unmittelbar die Formung erfolgt, so ist es bei der Handlungswahl die vollendende Ursache, durch deren Wirksamkeit ein Handelnder unmittelbar zum Handeln angeregt wird. Nun ist die Sünde ja keine Form, sondern eine Handlung. Es kann also nur das an sich eine Ursache für das Sündigen bilden, was den Willen unmittelbar zur sündhaften Handlung bewegen kann. [2] Allerdings ist zu bedenken, dass man auf zwei verschiedene Weisen sagen kann, der Wille verlege sich auf etwas. Einmal von innen und einmal von außen angeregt. [2.1] Von Äußerem wie von einem wahrgenommenen Gegenstand, denn man sagt doch, das als gut Wahrgenommene setzt den Willen in Bewegung. In dieser Weise bezeichnet man das in Bewegung Setzen als zuratend oder überredend, nämlich insofern hier etwas als gut hingestellt wird. [2.2] Von etwas Innerlichem hingegen wird der Wille wie von dem in Bewegung gebracht, was die Willenstätigkeit selbst hervorruft. Der dem Willen vorgesetzte Gegenstand bewegt den Willen jedoch nicht mit Notwen[1]
Dreiundachtzig Fragen
98 [2.2.1] [2.2.2]
[2.2.2]
[2.3] [2.3.1]
[2.3.2]
Frage 3 Artikel 3: Übersetzung
digkeit, auch wenn der Verstand bisweilen einer ihm vorgehaltenen Wahrheit mit Notwendigkeit zustimmt. Der Grund für diesen Unterschied ist darin zu finden, dass sowohl der Verstand wie der Wille mit Notwendigkeit auf das aus sind, worauf sie von Natur aus hingeordnet sind, da es doch natürlich ist, auf eines hin seine Ausrichtung zu haben. Daher stimmt der Verstand mit Notwendigkeit den ersten natürlicherweise erfassten Denkprinzipen zu und kann seine Zustimmung nichts von dem geben, was ihnen entgegensteht. Der Wille wiederum möchte natürlicherweise und mit Notwendigkeit das Glück und niemand kann sein Unglück wollen. So kommt es, dass es beim Verstand so zu sein pflegt, dass alles, was in notwendigem Zusammenhang mit den ersten natürlicherweise erfassten Denkprinzipien steht, den Verstand auch mit Notwendigkeit in Tätigkeit versetzt, wie zum Beispiel bewiesene Schlussfolgerungen, wenn sich herausstellt, dass man durch ihre Leugnung gegen die ersten Denkprinzipien, aus denen sie mit Notwendigkeit folgen, verstoßen müsste. Was hingegen andere Schlussfolgerungen betrifft, die keine solche notwendige Verbindung mit den ersten natürlicherweise erfassten Prinzipen aufweisen, so steht der Verstand unter keinem Zwang, ihnen zuzustimmen, wie das der Fall bei Zufälligem und bei Meinungen ist. Und ganz ähnlich stimmt er den notwendigen Folgerungen, die in notwendigem Zusammenhang mit den ersten Denkprinzipien stehen, nicht eher aus Notwendigkeit zu, als er einen solchen notwendigen Zusammenhang erkannt hat. Genauso würde es nun auch um den Willen stehen und er würde auf nichts mit Notwendigkeit anspringen, was nicht in einem herausstellbar notwendigen Zusammenhang mit dem natürlicherweise gewollten Glück steht. Es ist aber offensichtlich, dass Einzelgüter von dieser Art keinen notwendigen Zusammenhang mit dem Glück vorweisen können, da der Mensch auch ohne jedwedes von ihnen glücklich sein könnte. Wieviel auch immer daher von diesen Dingen dem Menschen als Gut vorgestellt wird: der Wille wird sich nicht mit Notwendigkeit darauf verlegen. Das vollendete Gute, das Gott ist, hat zwar freilich einen Zusammenhang mit dem Glück des Menschen, da der Mensch ohne ihn nicht glücklich sein kann, doch liegt die Notwendigkeit dieses Zusammenhangs dem Menschen in diesem Leben nicht offen zutage, da er nicht imstande ist, Gott dem Wesen nach zu erkennen. Darum verlegt sich auch der Wille des Menschen in diesem Leben nicht mit Notwendigkeit auf Gott. Der Wille derer aber, die in Anschauung des Wesens Gottes klar erkennen, dass er auch das Wesen des Guten und des Glücks des Menschen dar-
99 stellt, kann nicht anders als Gott anzuhängen, ganz so, wie unser Wille jetzt nicht anders vermag, als das Glück zu wollen. Daraus ersieht man also, dass der Gegenstand des Wollens den Willen nicht mit Notwendigkeit in Bewegung setzt, und darum veranlasst auch keine Überredung den Menschen mit Notwendigkeit zur Handlung. So bleibt nur übrig, dass die vollendende und eigentliche Ursache der Willensakte nur das sein kann, was innerlich am Werk ist. Das aber kann nichts anderes sein als der Wille selbst als Zweitursache und Gott als Erstursache. Der Grund dafür ist folgender: Ein Willensakt ist nichts anderes als die Neigung des Wollens hin zum Gewollten, genauso wie das wesensgemäß natürliche Streben nichts anderes darstellt als die Neigung der Wesensnatur hin zu etwas. Nun kommt aber die wesensgemäß natürliche Neigung aus der natürlichen Formgebung und von dem, was diese Formgebung durchgeführt hat. So sagt man ja auch, dass die Bewegung des Feuers nach oben seiner Leichtigkeit zu verdanken ist und dem Hervorbringer, der die natürliche Verhaltensform von dieser Art geschaffen hat. Ebenso kommt eine Willensbewegung unmittelbar aus dem Willen zustande und aus Gott, der die Hervorbringungsursache des Willens ist, und der allein im Willen tätig ist und den Willen auf was auch immer ihm beliebt richten kann. Gott ist aber nicht die Ursache der Sünde, wie vorgehend1 gezeigt wurde. So bleibt also nur, dass nichts anderes als der Wille die unmittelbare Ursache der menschlichen Sünde ist. Und somit ist gezeigt, dass der Teufel nicht im eigentlichen Sinne Ursache der Sünde ist, sondern dies nur in der Art und Weise von Überredung sein kann.
Frage 3 Artikel 3: Übersetzung
[3]
[4]
1
In q.3 a.1, Antwortcorpus.
De malo q.3 a.3: Interpretation Im Artikel 3 der dritten Quaestio von De malo stellt sich Thomas von Aquin der beunruhigenden Frage, ob der Teufel nicht als eine der möglichen Ursachen für das schuldhafte Handeln des Menschen gelten könne (utrum diabolus sit causa
). Thomas verwendet in diesem Zusammenhang zwar bevorzugt das Wort „Sünde“, , doch wird bald ersichtlich, dass es sich hier vor allem um eine generelle Auffassung von ethisch bewertbarer Schuld handelt, von , wie Thomas am Anfang der Quaestio, in a.1, auch angegeben hatte.1 Überhaupt ist es seltsam auffällig, wie strikt Thomas in diesem Zusammenhang wie in anderen Fragen Vokabular zu vermeiden scheint, das man als „theologisch“ einzuordnen geneigt sein könnte. So würde man für die „überredende“ oder „nahelegende“ Tätigkeit des Teufels, wie sie Thomas im Folgenden zum Thema macht, fast wie selbstverständlich das Wort „Versuchung“ als Etikette erwarten. Es fällt aber weder hier noch in anderen zu erwartenden Zusammenhängen von . Es ist eine richtige, aber keineswegs allgemein gebilligte Ansicht, dass man von einer eigenständigen philosophischen Ethik bei Thomas von Aquin zu sprechen hat, die unabhängig von moraltheologischen Erwägungen einen vernünftigen normativen Zusammenhang für das menschliche Handeln erläutert2 – und mitunter auch empfiehlt (es ist im Bereich dieser Empfehlungen, in dem Thomas dann von mal zu mal den Verbindungsschritt zu moraltheologischen Kriterien tut; die Ausführungen zu den Hauptlastern und Todsünden in den Quaestionen 8 bis 15 von bieten ein schönes Beispiel für den Weg vom aristotelischen Ausgangspunkt bis zur moraltheologischen Handlungsempfehlung). Die Beantwortung des Problems einer möglichen Ursacheverschiebung der Schuld im menschlichen Handeln auf den Teufel, die dann in Quaestio 16 noch einmal auf der ganzen Länge von elf teilweise mühselig umfangreichen Artikeln peccati
peccatum
peccatum
morale
De malo
De malo
1
2
De malo q.3 a.1: ex propria ratione peccati, quod dicitur culpa, ähnlich, aber ausführlicher, q.2 a.2: Die Sünde hat den Charakter, die innere Logik von Schuld (ratio culpae). Zum Thema der Sünde bei Thomas von Aquin vgl. zum Beispiel William J. Hoye: Sünde und Gottesliebe nach Thomas von Aquin. In: Albert Zimmermann (Hg.): Die Mächte des Guten und des Bösen. Berlin/New York 1977, S. 206-234; Edward Cook: The Deficient Cause of Moral Evil According to Thomas Aquinas. Washington D.C. 1996, S. 35-36, sowie Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 319. Vgl. dazu auch die Einleitung zu Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de malo – Untersuchungen über das Böse, qq. I-XVI, auf der Grundlage der Leonina übersetzt und eingeleitet von Claudia und Peter
Barthold, Mülheim 2009, S. xxi-xxiv. Dies herauszustellen ist das Anliegen des aus diesem Grund auch zu recht bekannt gewordenen Buchs von Wolfgang Kluxen: Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin. Hamburg 1998.
101 aufgegriffen und en detail durchgegangen wird, trumpft, weit jenseits des zu Erwartenden, mit einer Skizze willentlicher Verursachung auf, die im Folgenden dann den hauptsächlichen Untersuchungsgegenstand der thomasischen Argumentation bilden wird. Die angesprochene Skizze zur Willensaktuierung ist im Übrigen auch ein Vorgriff auf die berühmte Quaestio 6 derselben Schrift, welche die thomasische Theorie der Wahlfreiheit des Willens entwickelt. Mit diesen Themen haben die Disputationsfragen über das Übel die Problematik des Übels als Schuld erreicht, man könnte auch sagen: die Frage nach dem Bösen. Die einleitenden Überlegungen der Quaestio 1 hatten dem Problem des ontologischen Status des Üblen gegolten. Die Privationstheorie hatte diesen bestimmt als ein „an etwas Fehlen“, zu verstehen sowohl umfassender im idiomatisch eingebürgerten Sinne dieser Wendung („es fehlt allenthalben an Geld“) wie enger im wörtlichen Sinne eines „Fehlens an etwas“, das heißt als privatio in subiecto verstanden wie in „es fehlt etwas an dieser Statue“ – sei dies nun ein Arm oder die von einem bestimmten Künstler zu erwartende Anmut des Werkes oder Ähnliches. Die Frage nach dem schuldhaften moralischen Übel, auch gerne malum in actione genannt, wendet diese Lösung nun an im Sinne eines „an etwas fehlen Lassens“, so etwa, wie man vorwurfsvoll sagt, jemand habe es an Respekt,3 Anstand, Sorgepflicht, Selbstkontrolle oder Verantwortungsgefühl fehlen lassen. Die Vorabeinwände möchten diese Sicht der Dinge in Frage stellen, indem sie den Teufel ins Feld führen und behaupten, Vorwürfe in dieser Richtung liefen dadurch ins Leere, dass der Mensch womöglich das Böse gar nicht selbst tue oder das Gute gar nicht selbst lasse, sondern auf Veranlassung böser Mächte falsch handle. Frage 3 Artikel 3: Interpretation
Die Vorabeinwände lassen sich unter diesem einenden Gesichtspunkt gliedernd zusammenfassen wie folgt:
3
Diese Differenzierung soll auch zum guten Teil die Unterscheidung einfangen, die Rolf Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, S.130-131, aufgrund der aristotelischen Gegensatzlehre einführt – eine Interpretationsmöglichkeit, die ich hier aber nicht weiter verfolge, auch weil die Konsequenz „[d]ie Privationstheorie bleibt das grundlegendere Konzept; sie hört aber auf, die universelle Theorie für alle Wirklichkeitsregionen zu sein“ (S. 131) nicht zwingend erscheint. Eher schon die zweite Formulierung, die Schönberger an gleicher Stelle nachreicht, dass die Privationstheorie für die natürlichen und ontologischen Erklärungen des Üblen die unmittelbarer geltende Theorie darstellt, während ihre Anwendbarkeit auf moralische Belange also mittelbarer gedacht werden muss – und Vergleichbares will meine Unterscheidung von „fehlen“ und „fehlen lassen“ für Thomas als korrekt und gleichzeitig als ökonomischer für die Erklärung erweisen.
102 Frage 3 Artikel 3: Interpretation - Schuld entsteht aus ungeordneten Emotionen und es gibt Autoritätzitate und auch allgemein beobachtbare Indizien, dass Emotionen – Affekte – von Dritten angeregt und in Unordnung gebracht werden können, und so doch sicherlich auch von einem so mächtigen Wesen wie einem Teufel. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Affekte ja vom menschlichen Geist gesteuert werden können – um wieviel eher dann also von einem dem menschlichen überlegenen Geist. (Einwände 2, 3, 4, 8, 9, 10) - Dies trifft analog auch auf das Denken zu. Die Schuld einer Handlung kommt ja im Denken zustande. Das Denken des Menschen ist aber an den Körper gebunden. Der Geist hat nun seinerseits Zugriff auf das Körperliche und kann es leiten und somit kann das wohl auch und gerade ein so mächtiger Geist wie der Teufel. (Einwand 7) - Und das Gleiche trifft schließlich analog auch auf den menschlichen Willen zu: Damit er eine freie Entscheidung treffen kann, ist er nicht etwas Festgelegtes, sondern wesenhaft labil. Dadurch kann er leicht in Bewegung auf etwas hin gebracht werden. Und dies wiederum durch Fremdbestimmung: zum Beispiel durch die geistige Wirkmacht des Teufels. (Einwände 5, 6) Thomas von Aquin geht auf diese Einwände so ein, dass er die ersten beiden Anfrageblöcke in seiner Erwiderung auf den dritten miteinrechnet und fast schon nur implizit und beiläufig berücksichtigt. Dies ist sein Argumentationsgang zum Nachweis, dass keinem Teufel oder Dämon die Verursachung des bösen Tuns des Menschen zugerechnet werden kann: [1] Dass der Wille in Bewegung gebracht wird, dass also ein Willensakt überhaupt erfolgt, scheint zunächst auf zwei verschiedene Ursachenkandidaten schließen zu lassen, so Thomas. Zum einen richte sich der Blick unwillkürlich auf den einen Kandidaten der „vorbereitenden, beratenden oder gebietenden“ (disponens vel consulens vel imperans) Anreize, die den Willen auf sich hin in Bewegung setzen können. Diese aber bewegen den Willen nur indirekt. Tatsächlich verhalte sich ja der menschliche Wille diesen Anreizen gegenüber zwar nicht indifferent, aber eben auch nicht gezwungen. Man kann aus freien Stücken die gebietende Ursache der roten Fußgängerampel ignorieren und die Straße dieser als gebietend auch durchaus anerkannten Vorgabe an den Willen zum Trotz überqueren. Und ähnlich verhält es sich im Falle, dass der Mensch trotz dringenden Anratens sogar solcher Personen, die als Autoritäten oder aus Erfahrung oder Einsicht als kompetent gebietend anerkannt werden, einem Ratschlag nicht nachkommt, sondern anders handelt. Das hebt den Status von Ratschlägen, Inaussichtstellungen und Verboten als Anreizursachen nicht auf. Doch weist Thomas hier zu Recht darauf hin, dass die Wollensakte des Menschen auf diese Ursachen (Thomas spricht auch von moventia, „Bewegungsanlässen“) nur indirekt zurückzuführen sind. Sie
103 haben nicht den Charakter von hinreichenden Gründen, und wohl nur selten den von notwendigen Ursachen für die Erklärung der Willensakte. Zum anderen gibt es die „vollendende Ursache“ (causa perficiens) für das in Bewegung Setzen des Willens, und das nimmt Bezug auf dasjenige, was ausreicht, um eine Verursachung der Bewegung des Willens vollständig zu erklären, auch wenn diese auf ein indirektes Verursachungsobjekt im Sinne des Beratenden, Gebietenden, Vorweisenden Bezug nehmen mag. Durch die Wortwahl (sponte, directe, per se potest movere) zeigt Thomas unmissverständlich an, dass hier als Grund der Aktuierung die Spontaneität des Willens im Sinne einer nicht mehr vor sich zurückweisenden Selbstaktuierung angesetzt wird. Der Wille hat also (als einziges Vorkommnis der geschöpflichen Welt) die Macht, sich als Wille selbst in Tätigkeit bringen zu können.4 Das Fazit dieser ersten Distinktion, mit deren Hilfe Thomas die Frage nach der Verursachung von schuldhaftem Handeln durch den Teufel beantwortet, lautet daher: Schuldhaftes Handeln kann nur im Willentlichen liegen (darauf hatte er bereits in q.1 a.3 hingewiesen), die Willensakte aber verweisen nur auf die Fähigkeit der Selbstaktivierung des Willens zurück, daher kann niemand, auch nicht der Teufel, durch indirekte Verursachung den Willen gegen diese Fähigkeit des Wollenden (oder an ihr vorbei) ursprünglich in Bewegung setzen. Frage 3 Artikel 3: Interpretation
[2] Strukturierungsvorgabe für das weitere Vorgehen in der Beantwortung der Frage ist die Unterscheidung von innerer und äußerer Anregung des Willens. Diese Unterscheidung bringt eine nötige Verschärfung des Problems der Handlungsmotivation zum Bösen mit sich. Ohne damit deckungsgleich zu sein, entspricht die Argumentation bei Thomas dabei in weiten Teilen der sehr viel später zu einem Hauptdiskussionsfeld der Handlungstheorie erhobenen Frage nach der Antriebskraft und moralischen Aussagefähigkeit von äußerlichen Begründungen (external reasons) 5und innerlichen Begründungen (internal reasons) von Handlungsmotivationen. [2.1] Schon die Kürze der Behandlung der von außen angeregten Willensbewegungen zeigt, dass hier von solchen Motivationen die Rede ist, die gänzlich in den Bereich dessen fallen, was einleitend als lediglich vorbereitend, anratend oder 4
5
Im lateinischen Original ganz knapp: ab interiori autem movetur voluntas sicut ab eo quod producit ipsum voluntatis actum. Vgl. Yul Kim: Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin. Berlin 2007, S. 137-143. Vgl. die „Klassiker“ dieser Diskussion: Bernard Williams: Internal and External Reasons. In: Ders.: Moral Luck. Cambridge 1981, S. 101-113; Christine Korsgaard: Skepticism about Practical Reason. In: The Journal of Philosophy 83 (1986), S. 5-25; Donald Davidson: Actions, Reasons, and Causes. In: The Journal of Philosophy 60 (1963), S. 685700.
104 gebietend in seinem Bezugsverhältnis auf den Willen bezeichnet wurde: Thomas führt in seiner Erkenntnistheorie des Öfteren aus, dass der Mensch sich der Wahrnehmung äußerer Gegenstände gegenüber zwar passiv verhält, was heißt: er kann sie nicht nicht haben. Doch ist es ihm – oder seinem selbstursprünglichen vernünftigen Tätigwerden – unterstellt, ob er diese Wahrnehmungen auch als Ausrichtungsgegenstand seiner Handlungen annimmt und hernimmt. Wäre es nicht so, dann wäre jeder Mensch etwa auch seinen Traumgesichten oder unreflektierten Phantasien oder anderen inneren Wahrnehmungen, denen gegenüber man 6sich passiv verhält, ausgeliefert und müsste unweigerlich nach ihnen handeln. Vorbereiten, anraten oder gebieten heißt also soviel wie: auf die Aufnahmebereitschaft von etwas einwirken; nicht aber: die Annahme von etwas als unumgänglich handlungsgebietend für den Willen festsetzen. Im Gegensatz zu vielen anderen Theorien, die bis zu einem gewissen Punkt ähnlich argumentieren, schließt Thomas die motivationale Kraft solcher äußerer Faktoren nicht aus, noch verwirft er sie als moralisch bedenklich.7 Er ordnet sie allerdings in eine handlungstheoretische Sicht ein, die ihrer Motivationskraft das Zwingende nimmt.
Frage 3 Artikel 3: Interpretation
[2.2] Anders verhält es sich mit der von innen angeregten Willensbetätigung. Hier wird der „Wille wie von dem in Bewegung gebracht, was die Willenstätigkeit selbst hervorruft“. Dass wir innerlich einer bestimmten objektgerichteten Handlung zustimmen – sie also für gut erklären und zur Grundlage einer Ausführung machen – ist jedoch ebenfalls nicht notwendig. Thomas erläutert dies im Vergleich zur Tätigkeit des Verstandes, wenn er einen bestimmten Gedanken oder Vorstellungsinhalt für richtig erklärt. Dabei stützt sich Thomas auf die Überzeugung, dass beide, Wille und Verstand, Fähigkeiten der sind, beide am Handratio
6
7
Vgl. zum Beispiel Quaestiones quodlibetales q.8 a.1.: “Bezüglich des möglichen Intellekts lassen sich die Dinge hingegen wie nicht hinreichend Tätiges einordnen. Die Einwirkungstätigkeit der sinnlich erfahrbaren Dinge bleibt nämlich nicht einmal bei der Vorstellungskraft stehen, sondern die [aus ihnen erwachsenen] Vorstellungsbilder üben darüber hinaus ihren Einfluss auf den passiven Intellekt aus. Es ist aber nicht so, dass sie dazu von sich aus imstande wären, da sie nur der Möglichkeit nach Gedankeninhalte sind, der Intellekt aber nur auf wirkliche Gedanken anspringt. Es ist daher erforderlich, dass ein Eingreifen des tätigen Intellekts dazukommt, durch dessen Erhellung aus den Vorstellungsbildern erst tatsächliche Gedanken entstehen, ähnlich wie aus der Erleuchtung durch das Licht die Farben erst tatsächlich sichtbar werden. Daher ist es offensichtlich, dass der tätige Intellekt hier das hauptsächlich Tätige ist, der die gedanklichen Abbilder der Dinge im möglichen Intellekt hervorruft. Die von den äußeren Dingen hervorgerufenen Vorstellungsbilder hingegen haben hier die Rolle von werkzeughaft Tätigem“. Zum Beispiel Bernard Williams: Internal and External Reasons, S. 111.
105 lungsentscheid in Verwiesenheit aufeinander beteiligt sind,8 und also zumindest insofern parallelisierbar, als sie beide als genuin vernunftförmig zu gelten haben:
Frage 3 Artikel 3: Interpretation
[2.2.1] Zur Erklärung des Gemeinten zieht Thomas also eine weitausgreifende Parallele zwischen den beiden rationalen Vermögen des Menschen, Wille, voluntas, und Verstand, intellectus. Diese Passage wurde, wie gesagt, vorbereitet durch den frühen Hinweis bei der Unterscheidung beratend-gebietender (Anreiz)Ursachen von der vollendenden Ursache oder dem (eigentlichen) Grund der Aktuierung des Willens. Thomas hatte bei dieser Gelegenheit bereits darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Diskussion für eine sachgemäße Erfassung der Vollendungsursache vom Gegenstandbereich der theoretischen Vernunft mit ihrem Vermögen des deskriptiven Erfassens der Wirklichkeit und ihrer Ausrichtung auf Ablaufsnotwendiges lösen und sich auf den Bereich des kontingenten Auch-anders-sein-Könnens in der präskriptiven Tätigkeit des praktischen Vernunftsvermögens zu verlegen habe. Im Gefolge der getroffenen Differenzierungen macht sich Thomas nun im Sinne seines Vorhabens an die Aufgabe, die Unterschiede der Zustimmungsfreiheit von Verstand (intellectus) und Wille zu untersuchen. Er kommt dabei auch auf den Unterschied von Ablaufsnotwendigkeit und Anders-sein-Können zu sprechen. Anders als bei der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft durch ihre Bezugsbereiche eröffnet sich jetzt durch eine Aspektverlagerung hin zu den Ablaufsregeln der Vernunfttätigkeiten eine Unterscheidung von Kontingenz und innerer (Zwangs)Notwendigkeit in den Vollzugsarten der beiden rationalen Grundvermögen selber.9 Es ergibt sich für Thomas in einer herausfordernd mit Worten kargenden, gedrängten Darstellung dabei Folgendes: Die Tätigkeit des Verstandes gehorcht den grundlegenden Verstandesprinzipien, die Thomas hier als „erste Prinzipien“ (principia prima) bezeichnet. Es sind dies die an sich bekannten Prinzipien, die principia per se nota, die aus anderen Thomasstellen als unabdingbare Erstregulierungen der Verstandestätigkeit hinlänglich bekannt sind: Das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch und das
8
9
Die Stellen dafür sind Legion; als Beispiel sei lediglich De malo q.8 a.3 [1] genannt: „In uns gibt es nun zwei Prinzipien willentlichen Handelns, nämlich die Vernunft im Sinne des Verstandesvermögens und das Strebevermögen. Denn diese beiden können bewegungsverursachend wirken, wie [bei Aristoteles] im 3. Buch von Über die Seele steht, und das insbesondere sofern man die eigentlich menschlichen Handlungen betrachtet“. Vgl. Jean Porter: Nature as Reason. Grand Rapids 2005, S.249: “I refer to ‘practical reason’ for simplicity’s sake, but Aquinas does not regard practical reason as a distinctive capacity. Rather, he holds that there is one and the same potency, the intellect, which functions speculatively or practically”.
106 Frage 3 Artikel 3: Interpretation Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten etwa.10 Sobald der Verstand etwas erfasst, das unmittelbare Rückbindung (Thomas spricht von einer necessaria coherentia oder auch einer necessaria connexio) an diese Prinzipien erlaubt, in denen diese Prinzipien also gleichermaßen evidenterweise in Anschlag gebracht werden können und daher sozusagen gebietend die Verstandestätigkeit in eine eindeutige Richtung auf ein eindeutiges Ergebnis hin regulieren, ist der Verstand bezüglich des Erfassten nicht frei. Er muss es so denken, wie die Prinzipien es unausweichlich einfordern. Wer also die evidente Tatsache erfasst hat, dass ein Kreis eine geometrische Figur ohne Ecken ist, kann den Satz, dass ein Kreis ein Dreieck ist, nicht tatsächlich denken, da dies gegen das Widerspruchsprinzip verstoßen würde, dass also ein und dasselbe nicht zu gleicher Zeit und in gleicher Hinsicht A und non-A sein kann, dreieckig und ohne Ecken. Der Verstand ist hier in seiner Tätigkeit nicht frei, und zwar wegen der unmittelbaren Präsenz seiner ersten Prinzipien in seinem Vollzug. Diese unmittelbare Präsenz muss dabei im übrigen keine ausdrücklich thematische sein. Das Widerspruchsprinzip ist offenbar auch dann tätig, wenn es nicht ausdrücklich gewusst wird. Das ändert jedoch nichts an der Unmittelbarkeit seines für die Verstandestätigkeit unabdingbaren Gewusstwerdens, und darauf kommt es an. [2.2.2] Anders verhält es sich bei Überlegungen zu Kontingentem und bei Meinungsbildungen (contingentia et opinabilia), also etwa bei Prognosen über zukünftige Dinge, bei im Verstand gebildeten Ansichten über Dinge, die nicht eindeutig im Bereich von Evidentem oder auch nur von gesichertem Wissen liegen, bei wissenschaftlichen Spekulationen, Induktionsschlüssen usw. Hier tritt in der Verstandestätigkeit nicht der unmittelbar zwingende Anspruch der ersten Prinzipien eben dieser Verstandestätigkeit auf. Auf dem offenen Feld dieser „labilen“ Tätigkeitsbereiche des Verstands gibt es keine unmittelbare Rückbindung und keine Eindeutigkeitsansprüche aufzwingende regulative Präsenz der principia per se nota. Die Ergebnisse der Verstandestätigkeit stehen hier unter dem Vorzeichen des Auch-anders-sein-Könnens. Das heißt nun wiederum nicht, dass diese Art der 10
Das principium primum als das unumgängliche anfänglich normativ Grundlegende, sei es im erkenntnistheoretischen Sinne, sei es im ontologischen Sinne, definiert Thomas immer wieder und immer wieder neu in seinen Werken. Belegstellen dafür sind Summa Theologiae I q.4 a.1; q.7. a.1; q.18 a.3; q.85 a 6; q.94 a.3; I-II. q.94 a.2; Summa contra Gentiles I cap. 1, cap. 20 und cap. 61, II cap. 83; u.ö., insbesondere aber zahlreiche Definitionsvorschläge in den Aristoteleskommentaren. Die ersten Prinzipien der Erkenntnis, die principia per se nota oder naturaliter nota, als das immer schon ohne Voraussetzungswissen Bekannte und der durch sich selbst evidente erklärende und regulierende Ursprung für die Denkvollzüge, werden zum Thema in der Summa Theologiae I q.17 a.3 ad 2; II- II q.47 a.6; Summa contra Gentiles I cap. 7 und cap. 11.
107 Verstandestätigkeit keine Regeln kennte und selbst wiederum irrational in dem Sinne wäre, dass sie keine Rückbindung an die ersten Verstandesprinzipien mehr aufwiese. Diese sind im Gegenteil für die Vollzüge auch dieser Verstandestätigkeit weiterhin unhintergehbar und regulativ. Nur ist ihre Unmittelbarkeit und die durch Evidenz zwingende Präsenz bezüglich der Gegenstände, auf die sich die Verstandestätigkeit hier verlegt, in diesen Fällen des Umgangs der Verstandes mit contingentia et opinabilia nicht in gleicher zwingender Weise mehr gegeben. Es ist hier gleich vorweg ein Unterschied zur nachfolgenden Gegenüberstellung von Verstandes- und Willensausübung zu machen: Thomas sucht für sein Vorhaben die ersten Prinzipien des Verstands und des Willens. Diese sind nicht dieselben wie die der „theoretischen“ und der „praktischen Vernunft“. Zwar sind die ersten Prinzipien des Verstandes dieselben wie die der „theoretischen Vernunft“ (nämlich die oben aufgeführten des logischen Grundvollzugs). Doch die ersten Prinzipien des Willens und der „praktischen Vernunft“ sind keineswegs dieselben noch auch deckungsgleich. Das erste Prinzip der „praktischen Vernunft“ ist nämlich das formale Moralprinzip bonum est faciendum (et prosequendum), malum vitandum, das Gute ist zu tun und anzustreben, das Üble zu (ver)meiden.11 Das regierende Erstprinzip des Willens hingegen ist das Glücklichsein. Was dies zu bedeuten hat, wird im Folgenden zu sehen sein. Frage 3 Artikel 3: Interpretation
[2.3] Thomas schließt seine Diskussion von Freiheit und Zwang in der Willensausübung unmittelbar an die soeben ausgeführte Variante der ungezwungenen Ausübung des Verstandesvermögens gegenüber den an. Auch der Wille hat sein erstes Prinzip, und dieses ist, wie es dem Willen als selbstursprünglich rational strebendem sich Verlegen auf etwas entspricht, sein letzterklärendes Movens. Thomas identifiziert es als das Glücklichsein ( ). Denn niemand könne sein eigenes Unglück – – wollen, ergänzt er den aristotelischen Gedankengang vom Glück als Lebensziel im Hinblick auf Augustinus ( XIII 3,6). Dieses ist Motivationsgrund für alles menschliche Handeln, nicht nur für das willentliche, aber eben insbesondere für dieses. Die formale Festlegung des Willens ist dabei also zunächst der antiken, insbesondere der aristotelischen Tradition geschuldet, in die sich Thomas einmal mehr und sehr nachdrücklich einordnet. Doch ist es keine bloße ideengeschichtliche contingentia
beatitudo
miseria
De
trinitate
11
So Thomas zum Beispiel. in S.th. I-II q.94 a.2: Sicut autem ens est primum quod cadit in apprehensione simpliciter, ita bonum est primum quod cadit in apprehensione practicae rationis, quae ordinatur ad opus, omne enim agens agit propter finem, qui habet rationem boni. Et ideo primum principium in ratione practica est quod fundatur supra rationem boni, quae est, bonum est quod omnia appetunt. Hoc est ergo primum praeceptum legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum. Et super hoc fundantur omnia alia praecepta legis naturae, ut scilicet omnia illa facienda vel vitanda pertineant ad praecepta legis naturae, quae ratio practica naturaliter apprehendit esse bona humana.
108 Übernahme, denn Thomas macht durchaus auf den überzeugenden Gedanken im Hintergrund des Ganzen aufmerksam: Beim Verweis auf 12das Glück endet jedes sinnvolle Fragen nach dem Wozu willentlichen Handelns. Auf jede Frage nach dem Wozu einer Handlung lässt sich ein Weiterverweis auf ein weiteres handlungsmotivierendes Wozu geben. Niemand jedoch kann offenbar sinnvoll die Frage stellen (oder gar beantworten), wozu man glücklich sein möchte.
Frage 3 Artikel 3: Interpretation
[2.3.1] Der Wille nun hat es in seiner Ausrichtung fast ausschließlich mit solchen Objekten zu tun, die ohnehin in den Bereich des Kontingenten gehören, da der Wille seiner ganzen Verfasstheit nach keine eindeutige Festlegung kennt – außer eben die auf das Glücklichsein. Thomas nimmt entsprechend in Umkehrung der Reihenfolge bei der Betrachtung der Verstandestätigkeit zuerst diejenigen Dinge in den Blick, die aus dem Bereich des Kontingenten und Partikulären kommen und dem Willen mögliche, und zwar im strengen Sinne eben nur mögliche, nicht notwendige, Ausrichtungsobjekte bieten. Es sind dies die Einzelgüter, die man willentlich anstreben kann (dass das Gute das Erstrebenswerte ist, hatte Thomas in q.1 a.1 [2] und auch sonst öfter immer wieder hervorgehoben). Dass der Wille auf keines dieser Einzelgüter mit Notwendigkeit festgelegt ist, ergibt sich aber allein schon daraus, dass keines dieser Einzelgüter unumgänglich garantieren kann, dass sich durch sein Erreichen das Glücklichsein einstellt. Anders gesagt: Das Glück des Menschen geht in keinem der Einzelgüter allesabdeckend auf und man könnte auch ohne jedes beliebige dieser Güter glücklich sein oder werden ( ). Es nimmt sich geradezu so aus, als wolle Thomas hier zeigen, wie gerade die verschiedenen selbstgewählten Wege des Menschen, glücklich zu werden, just durch ihre Verschiedenheit, welche immer die Abdinglichkeit aller anderen Optionen miteinschließt, den Anspruch auf Letztgültigkeit jedes Einzelguts plastisch vor Augen geführt in Frage stellen. Thomas wird später im Verlauf der Quaestionen über die Hauptlaster den Gedanken noch weiterentwickeln, dass das Glück sich nicht über Einzelgüter erreichen lässt. Diese nämlich haben nur Verweischarakter, sie sind Mittel zum Zweck des Glücklichwerdens, mehr noch: des Glücklichseins. Thomas stellt dementsprechend fest, dass der Wille durch die Einzelgüter, die ihm in Aussicht stehen, nicht gezwungen wird. Es ist formal ähnlich wie bei der Tätigkeit des Verstandes im Bereich des Nichtnotwendigen: Auch hier, in der Willensausübung hinsichtlich der Einzelgüter, tritt kein unmittelbar zwingender Anspruch der ersten Prinzipien der Willenstätigkeit auf und es gibt dort keine unmittelbare Rückbindung und Eindeutigkeitsansprüche aufzwingende regulative quia sine quolibet eorum potest homo esse beatus
12
Vgl. zu diesem Gedankengang Robert Spaemann: Glück und Wohlwollen, S. 32-39, insbesondere S. 38.
109 Präsenz des Glücklichkeitsprinzips.13 Und auch hier gilt das bezüglich des Verstandes bereits Herausgestellte: Es ist keineswegs so, dass deswegen die Willenstätigkeit keine Regeln kennte und selbst wiederum irrational in dem Sinne wäre, dass sie keine Rückbindung an ein erstes vernünftiges Prinzip aufwiese. Das erste Movens des Glücklichseins ist im Gegenteil für die Vollzüge des Willens unhintergehbar und regulativ. Nur ist ihre Unmittelbarkeit und die durch Evidenz zwingende Präsenz bezüglich der Gegenstände, auf die sich das Wollen dabei jeweils verlegt, in keinerlei unumgänglicher Weise gegeben. Es ist ein offener Bereich, der zwar durch die Ausrichtung aufs Glücken des Lebens eingegrenzt und allgemein orientiert wird, doch viele Einzelgüter bereithält, die als Mittel für das letzte Ziel mittelbar taugen, jedoch keine unmittelbare Erfüllung desselben bieten können. Die Rückbindung an das letztregulierende Prinzip ist deswegen nicht unmittelbar mit den Objekten mitgegeben, es ist in keinem von ihnen unmissverständlich da, in keinem geht es gänzlich auf und keines repräsentiert es ungebrochen. Man kann hier also stets von einer „Restunsicherheit“ ausgehen. Und dies schließt aus, dass hier notwendigerweise etwas vorgegeben wird und eindeutig reguliert, dass hier irgendetwas zwingt und keinen Platz für alternative Entscheidung lässt. Thomas fasst auch hier ganz ähnlich wie vordem zur Verstandestätigkeit bezüglich Nichtnotwendigem die Ungezwungenheit des Willens zusammen: „Daraus ersieht man also, dass der Gegenstand des Wollens den Willen nicht mit Notwendigkeit in Bewegung setzt, und darum veranlasst auch keine Überredung den Menschen mit Notwendigkeit zur Handlung“. Frage 3 Artikel 3: Interpretation
[2.3.2] Es gibt nun aber eben auch ein Ausrichtungsgut, in dem das Glücklichwerdenwollen jedes Vernunftwesens sein Ende findet. Es ist kein Einzelgut, sondern das umfassende Gut, nach dem sich alles Bewegte (das heißt alles Veränderliche und Veränderbare), nicht nur die Bewegung des Willens, ausrichtet. Thomas hatte bereits in q.1 a.1 [2.1] von De malo in einer geradezu waghalsigen Verknappung seines „kosmologischen Gottesbeweises“ gezeigt, dass der aus der Kontingenz ableitbar erkennbare Seinsgrund alles Wirklichen gleichzeitig das letzte Gut alles Wirklichen ist, das, worauf hin alles strebt und worin alles seine Erfüllung findet. Die Frage, die sich für Thomas damit aufdrängt, ist folgende: Ist dieses umfassende Gut denn dann nicht das zwingende Regulativ des Willens? Ist
13
Thomas verwendet in diesem Zusammenhang an anderer Stelle das Vergleichsbeispiel eines Reisenden, der sich auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho befindet, den Weg also gehen kann, ohne sich stets das Ziel Jericho bewusst fokussierend vor Augen zu halten. Sollte er aber über das Ziel seiner Reise Auskunft geben müssen, so könnte er das selbstverständlich. Vgl. dazu auch Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/ Christina Van Dyke: Aquinas’s Ethics. Metaphysical Foundations, Moral Theory, and Theological Context. Notre Dame 2009, S. 77.
110 hiermit das unmittelbar aufleuchtende erste Prinzip der Ausrichtung der Willensausübung gefunden? Thomas meint nein. Der Seinsordnung nach verhält es sich zwar tatsächlich so, dass dieses letzte Gut die ausschließliche teleologische Ursache des Strebens aller Dinge ist. Der Erkenntnisordnung nach aber ist das letzte Gut nur indirekt zu erschließen und dem Willen auch nur mittelbar gegenwärtig. Das erste Prinzip ist hier also, anders als die ersten Prinzipien bei der Verstandestätigkeit, nicht in unmittelbarer Rückbindung präsent. Zur Erinnerung: Der Verstand ist, so hat Thomas herausgestellt, darauf abgestimmt, in jeder Erfassung, die unmittelbare Rückbindung an seine ersten Prinzipien erlaubt, in der also diese Prinzipien als evident aufscheinen und damit gebietend die Verstandestätigkeit in eine eindeutige Richtung festlegen, diesen Prinzipien auch unausweichlich zu gehorchen.15 Der Verstand ist hier in seiner Tätigkeit nicht frei, sondern festgelegt reguliert, indem er so denken muss, wie die Prinzipienmaßgabe es unausweichlich einfordert. Grund dafür ist die unmittelbare Präsenz der ersten Prinzipien im Vollzug der so gearteten Verstandestätigkeit. Die für dieses Gezwungensein unabdingbare Komponente der unmittelbaren Evidenz der ersten Prinzipien fällt nun im Vergleich mit dem ersten Prinzip der Willenstätigkeit weg. Gemäß der Auffassung bei Thomas lässt sich ein Wissen um Gott und von Gott nämlich nur indirekt gewinnen. Ein präsentes Wissen um Gott in der Form, dass es aus seiner Evidenz heraus regulativ wirken könnte, wie das die ersten Prinzipien der Verstandestätigkeit in ihrer unmittelbaren Präsenz und bruchlosen Rückbindungsfähigkeit tun, gibt es nicht.
Frage 3 Artikel 3: Interpretation
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[3] Eingangs (unter [1]) hatte Thomas festgestellt, dass nur die vollendende Ursache eine einsichtige Begründung für die Handlungsmotivation bietet, nicht aber eine wie auch immer vorbereitende oder anratende Ursache. Der prüfende Durchlauf durch die von innen wirksamen Bewegungsinitiativen des Willens führt nun zu dem Schluss, dass sie es sind, die als vollendend für die Handlungsausführung und somit als eigentlicher Grund für unser willentliches Agieren angesehen werden müssen. Was hier initiativ am Werk ist, ist aber der Wille selbst als unmittel14
15
Diese und ähnliche Überlegungen bei Thomas zeigen auch, dass, wie Alasdair MacIntyre mit Hinweis auf Aristoteles gezeigt hat, „teleologisch“ nicht als „folgenorientiert“ missverstanden werden darf. Vgl. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Frankfurt a.M. 1995, S. 202. Vgl. zu dieser Lehre von den principia per se nota die kurzgefasste Darstellung von Scott MacDonald: Theory of Knowledge. In: Norman Kretzmann/Eleonore Stump (Hg.): The Cambridge Companion to Aquinas. Cambridge 1993, S. 160-195, auf S. 178-179. Es gelingt MacDonald in seiner konzisen Erklärung der gnoseologischen Prinzipienlehre dabei auch, mögliche Einwände aufzugreifen und sie mit überzeugenden Argumenten zu entkräften.
111 bare Zweitursache und Gott als mittelbare Erstursache. Damit erwähnt Thomas ein Thema, das in De malo ansonsten eine eher beigeordnete, wo nicht gänzlich untergeordnete Rolle spielt: nämlich die Theodizeefrage im Rahmen seiner Behandlung des Üblen. Seine Ausführungen wollen zeigen, dass die Wahlfreiheit des Willens und die Allmacht Gottes auch angesichts des Bösen bei richtiger Differenzierung des Ursachebegriffs zusammengedacht werden können. Sie wollen gleichzeitig widerlegen, dass, wie Albert Camus es ausgedrückt hat, „alle scholastischen Spitzfindigkeiten der16 Schärfe dieses Paradoxons nichts hinzugefügt und nichts genommen“ hätten. Die Einordnung der Zweitursache als unmittelbar und der Erstursache als mittelbar ergibt 17sich aus der Gegenläufigkeit von Erkenntnisordnung und Wirklichkeitsordnung : Was erkennbar unmittelbar initiativ in unseren Willensregungen wirkt, ist ontologisch nur Zweitursache, weil es sich in seiner Existenz und Wesensbestimmung einer weiteren Ursache verdankt, die sie hervorgebracht hat. Diese Erstursache wiederum ist im Willensakt nicht unmittelbar erkennbar, sie muss der menschlichen Erkenntnis erst erschlossen werden (diese nur mittelbare Erkennbarkeit Gottes ist ja auch der Ausgangspunkt der „fünf Wege“ zur rationalen Gotteserkenntnis bei Thomas18). Unmittelbar ist nur die initiative Kraft des Willens zu fassen. Ein häufig herangezogenes Bild kann dieses umgekehrte Verhältnis verdeutlichen: Wer ans Ufer eines Flusses gelangt, erkennt zuerst den Fluss und erst anschließend, wenn er ihn gegen die Strömungsrichtung abgeht, seine Quelle. In der ontologischen, also seinserklärenden, Ordnung ist es genau umgekehrt: Die Quelle ist zuerst da, dann der Fluss.19 Frage 3 Artikel 3: Interpretation
16 17
18
19
Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Reinbek 1995, S. 75. Die Grundsatzentscheidung über die Gegenläufigkeit beider Ordnungsrichtungen oder ihrer Gleichgerichtetheit scheidet auch in unhintergehbarer Weise die Geister über die Möglichkeit einer Akzeptanz der thomasischen Theorie der aspektuellen Konvertibilität von „Sein“ und „Gut“ überhaupt (klassisch formuliert etwa in Summa contra Gentiles III cp.7). Die Konvertibilität, welche sich aus einer Sicht als einander notwendig ergänzend im positiv erklärenden Sinne ergibt, erscheint dann aus der anderen als zirkulär im schlechten Sinne. Zu einer solchen Ablehnung aus dieser Gegenposition der transzendentalphilosophischen Grundentscheidung vgl. Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee, S. 86-87, S. 90 und öfter. Zu Thomas vgl. auch Jan Aertsen: The Convertibility of Being and Good in St. Thomas Aquinas. In: New Scholasticism 59 (1985), S. 449-470, und John F. Crosby: Are Being and Good Really Convertible? A Phenomenological Inquiry. In: New Scholasticism 57 (1983), S. 465-500. Vgl. Summa contra Gentiles I cap.10 und 11, sowie S.th. I q.2 a.1: quia nos non scimus de Deo quid est, non est nobis per se nota [scil. propositio „Deus est”, CS], sed indiget demonstrari per ea quae sunt magis nota quoad nos, et minus nota quoad naturam, scilicet per effectus.
Das von den Scholastikern gerne bemühte Beispiel illustriert die Lehre des Aristoteles aus der Zweiten Analytik 71b, 72b und öfter, dass was das für uns – für unsere Auffassungs-
112 Thomas vergleicht diesen Gedankengang von unmittelbarer und mittelbarer hierarchisierter Ursache mit dem Feuer, das nach oben steigt. Diese Bewegung lässt sich aus der Wesensbeschaffenheit des Feuers erklären, näherhin aus der relativen Leichtigkeit seiner materiellen Bauart gegenüber dem schwereren Medium. Diese Bauart aber lässt sich mit Hinweis auf den Erschaffer dieser Bauart erklären. Interessant an diesem Hinweis ist, dass sich für eine Erklärung physikalischer Vorgänge wie beim Feuer ein Weiterverweis auf den Hervorbringer verschmerzen lässt, wenn man tatsächlich nur eine physikalische Erklärung der Welt sucht – diese intrinsische Erklärweise wird gerne als das Projekt oder das Merkmal moderner Wissenschaftlichkeit verstanden und als selbständiger Legitimierungsversuch des Denkens einer ganzen Epoche seit dem 14. Jahrhundert. Es ist eine interessante Frage, ob dies gleichermaßen für moralische Erklärungen möglich ist. Wenn ja, hätte sich Thomas seinen folgenden Hinweis sparen können: Dass Gott nämlich nicht die Ursache schuldhaften Handelns sein kann, obwohl er als Hervorbringer des Willens gewissermaßen doch Zugriffsrechte auf den Willen hat, den Willen „auf was auch immer ihm beliebt richten kann“. Dass Gott jedoch nicht schuldhaft handeln oder auch nur tätig sein kann, hatte Thomas in q.3 a.1 daraus erläutert, dass es zwei Ursachen falscher Tätigkeit geben kann: Dass man das, was man will, nicht richtig umsetzt, oder dass man im Willen selber vom rechten Ziel abkommt.20 Auf Gott kann aber beides nicht zutreffen, da er doch als Allmächtiger alles umsetzen kann, wie er will, und sein Wille, wie jeder Wille, das eigene Sein will, was aber im Falle Gottes mit dem Guten identisch ist: „Er ist doch selbst das höchste Gut(e). Daher kann er nicht die Ursache einer Abkehr des Willens vom höchsten Gut sein, worin doch die Schuld besteht“ (q.3 a.1). In diesem Zusammenhang fragt sich, inwiefern die Annahme eines „Herstellerdeterminismus“ angesichts der von Thomas erarbeiteten Struktur des Willens überhaupt sinnvoll ist oder vielmehr: ob es der Diskussion darüber tatsächlich bedarf. Vieles daran erinnert doch sehr an die absurden Rechtsfälle, von denen man kopfschüttelnd lesen kann, wenn sie zum Beispiel zur Verurteilung einer Herstellerfirma von Mikrowellenherden führen, weil Käufer ihre Katzen dadurch zu Tode brachten, dass sie die Tiere nach dem Bad darin trocknen wollten und das Verschulden des Herstellers dafür gerichtlich darin gesehen wurde, dass auf der Verpackung des Geräts kein Warnhinweis stand, dass man dies mit lebenden Tieren nicht tun
Frage 3 Artikel 3: Interpretation
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fähigkeit – Erste ist, der Natur nach das Letzte ist, und umgekehrt das der Natur nach Erste das für uns Letzte. Der Blick auf die genannten Aristotelesstellen kann auch den Verdacht ausräumen, hier sei ein naiver erkenntnistheoretischer Realismus am Werk. Alle anderen Formen von Fehlverhalten wie die „Verstandessünden“ und die Sünden aus Leidenschaft identifiziert Thomas dagegen als moralisch unmaßgeblich, insofern sie nicht als relevant für die Willenswahl angesehen werden können: vgl. zur Begründung, Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/Christina Van Dyke: , S. 96109. Aquinas’s Ethics
113 dürfe. Oder Verurteilungen von Herstellern dafür, dass auf den Bechern für das Produkt „Heiße Schokolade“ nicht noch einmal nachdrücklich und sichtbar gewarnt wurde, dass das Produkt heiß ist. Frage 3 Artikel 3: Interpretation
[4] Kann also dann der Teufel den Willen ersetzen? Die Argumentation, die Thomas in q.3 a.3 entwickelt, soll ja dem Nachweis dienen, dass der Teufel in seiner Tätigkeit nicht an die Stelle der Selbstverfügung des Willens treten kann, ja noch nicht einmal die Macht besitzen kann, den Willen des Menschen am Grunde seiner Selbsttätigkeit zu annullieren. Die Antwort darauf kann Thomas nun schnell und abschließend vorlegen: Als eigentliche Ursache für eine Willensbewegung mit Handlungsfolge kommen nur der Wille als Hervorbringer der Bewegungen oder der Hervorbringer des Willens selbst in Betracht. Alles andere, der Teufel eingeschlossen, hat nicht die Macht, anders als überredend, vor Augen stellend, anratend oder auf welche ähnliche Weise auch immer auf die dem Willen vorbehaltene Handlungsmotivation Bezug zu nehmen. In gleicher Weise gilt das für die beiden anderen Anfragen der Vorabeinwände, nämlich nach der möglichen Einflussnahme eines Dämons auf die Emotionen und das Denken. Die von Thomas erarbeitete Lösung schließt diese beiden Anfragen nämlich schon mit ein, insofern Emotionen und Denken selbst nicht in zwingender Weise auf den Willen einzuwirken vermögen – selbst im Falle, dass ein Dämon die menschlichen Emotionen und das menschliche Denken zu usurpieren imstande wäre.21
21
Vgl. dazu Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/Christina Van Dyke: , S. 88 und 103 (für den Fall der Leidenschaften/Emotionen).
Aquinas’s Ethics
Frage 6: Wählt der Mensch seine Handlungen frei, oder wählt er aus Notwendigkeit? Übersetzung
[1]
Es ist festzuhalten, dass einige behauptet haben, der Wille des Menschen werde mit Notwendigkeit dazu bewegt, etwas zu wählen. Dennoch behaupteten sie deswegen aber nicht, dass der Wille auch gezwungen werde. Nicht alles Notwendige ist nämlich auch gewaltsam erzwungen, sondern nur dasjenige, dessen Anfangsursache von außen her kommt. Daher liegt auch in den natürlichen Bewegungen etwas von Notwendigkeit, jedoch nicht von gewaltsam Zwingendem. Das nämlich verträgt sich mit dem natürlich Wesensgemäßen genauso wenig wie mit dem Willentlichen, da bei diesen beiden das Wirkprinzip von innen kommt, bei jenem aber von außen. Diese behauptete Meinung ist nun aber häretisch. Sie hebt nämlich den Grundgedanken bezüglich Verdienst und Schuldstrafe in den menschlichen Handlungen auf. Denn es hat ja offenkundig nichts von Verdiensthaftem oder Schuldhaftem an sich, dass jemand solcherart aus Notwendigkeit handelt, dass er es gar nicht verhindern kann. Auch muss diese Meinung unter die der Philosophie fremdartigen gerechnet werden, da sie ja nicht nur den Glaubensinhalten zuwiderläuft, sondern auch die Grundsätze jeglicher Moralphilosophie untergräbt. Wenn es nämlich nichts in uns ist, wodurch wir zum Handeln gebracht werden, sondern wir von außen gezwungen sind, so hebt dies auch jede Überlegung, Ermunterung, Vorschrift auf, genauso wie jede Bestrafung, jedes Lob und jeden Tadel, worin doch alles in der Moralphilosophie besteht. Lehrmeinungen dieser Art aber, welche die Grundsätze irgendeines Teils der Philosophie zerstören, werden als fremdartige Meinungen bezeichnet. Wie im Fall der Meinung, es gebe keine Bewegung, was die Grundsätze der Naturphilosophie auflösen würde. Dazu, solche Lehrmeinungen aufzustellen, sind einige Menschen teils sicherlich aus Übermut verleitet worden, teils aber auch deswegen, weil sie nicht imstande waren, einige vertrackte Theorien einer Lösung zuzuführen, wie [bei Aristoteles] im 4. Buch der steht. Metaphysik
[2]
Zur Einsicht in die Wahrheit bezüglich dieser Fragestellung muss man zuerst bedenken, dass es so wie bei den anderen Dingen auch beim Men-
116
Frage 6: Übersetzung
schen ein Prinzip der jeweils eigentümlichen Tätigkeiten gibt. Dieses Tätigkeits- oder Bewegungsprinzip bilden bei den Menschen im eigentlichen Sinne der Verstand und der Wille, wie es [bei Aristoteles] im 3. Buch von Über die Seele heißt. Dieses Prinzip stimmt teilweise mit dem Tätigkeitsprinzip in den Naturdingen überein, teilweise weicht es von ihnen ab. [2.1] Und zwar weicht es folgendermaßen ab: In den natürlichen Dingen gibt es eine Formvorgabe, die den Ausgangspunkt der Handlung darstellt, sowie eine Neigung, die dieser Formvorgabe folgt und natürliches Streben genannt wird. Aus beidem erfolgt die Tätigkeit. Genauso gibt es beim Menschen eine verstandesmäßig erfasste Form und eine Willensausrichtung auf eine erfasste Formvorgabe, aus denen die Tätigkeit erfolgt. Der Unterschied zwischen beiden Fällen besteht nun darin, dass die Formvorgabe in den natürlichen Dingen eine solche ist, die in der Materie individuiert ist, weshalb auch die dieser Formvorgabe folgende Neigung auf nur eines hin festgelegt ist; die verstandesmäßig erfasste Form ist allgemein und Vieles kann darunter eingerechnet werden. Da sich nun Handlungen auf etwas Einzelnes beziehen und unter solchen Einzelnen keines ist, dem das Vermögen eignete, Allgemeines zu umschließen, bleibt festzustellen, dass sich die Neigung des Willens unbestimmt gegenüber einer Vielzahl von Möglichkeiten verhält. Das ist so, wie wenn ein Baumeister die Formgebung eines Hauses im Allgemeinen entwirft, wobei unter dieser noch verschiedene konkrete Ausgestaltungsmöglichkeiten von Häusern zusammengefasst sind, und sein Wille dann dazu neigen kann, ein bestimmtes Haus von viereckiger, runder oder irgendeiner anderen Gestalt zu bauen. [2.2] Das Tätigkeitsprinzip bei den Tieren steht nun in der Mitte zwischen diesen beiden Varianten. Die von den Sinnen wahrgenommene Form ist genauso auf Einzelnes bezogen wie die Formgebung der natürlichen Dinge, woraus sich eben auch genau wie bei diesen eine Neigung zu nur einer Tätigkeitsumsetzung ergibt. Und dennoch: die Formauffassung der Sinneswahrnehmung ist nicht immer dieselbe, was ja bei der Formvorgabe der natürlichen Dinge so ist, weil etwa das Feuer immer heiß ist, sondern mal so, mal so. Und so mag die Formauffassung einmal zu Vergnügen, einmal zu Trauer führen, und daher einmal gemieden und ein anderes Mal gesucht werden. Und darin stimmt das mit dem Handlungsprinzip beim Menschen überein. [3] Zum anderen ist aber auch zu bedenken, dass ein Vermögen auf zweierlei Weise in Bewegung gesetzt werden kann: einmal von Seiten des Subjekts und einmal von Seiten des Objekts. Von Seiten des Subjekts etwa wie in dem Fall, dass der Gesichtssinn durch eine Veränderung der Disposition des Sehorgans dazu gebracht wird, deutlicher oder weniger deutlich zu
117 sehen; von Seiten des Objekts hingegen wie im Falle, dass der Gesichtssinn einmal Weißes, einmal Schwarzes ausmacht. Die erstgenannte Veränderung betrifft nun freilich die Ausübung der Tätigkeit selbst, ob also etwa überhaupt etwas getan wird oder nicht, oder ob es besser oder weniger energisch getan wird, während die zweite die Bestimmung der Art der Tätigkeit betrifft, denn die Tätigkeit wird durch das Bezugsobjekt artgemäß bestimmt. [4] Es ist aber zu bedenken, dass die Artbestimmung der Tätigkeit bei den natürlichen Dingen zwar aus der Formvorgabe kommt, die Tätigkeit selbst aber vom Tätigen, das die Bewegung in Gang setzt. Was bewegt, tut dies aber eines Zieles wegen. Es bleibt daher nur übrig, festzustellen, dass der erste Ausgangspunkt von Bewegung bei den Tätigkeitsausübungen als durch ein Ziel gesetzt zu verstehen ist. [4.1] Betrachtet man aber die Bezugsgegenstände des Willens und des Verstandes, so stellt sich heraus, dass der Gegenstand des Verstandes das Erste und Vordringlichste in der Klasse der formalen Ursachen ist, denn der Gegenstand des Verstands ist das Seiende und das Wahre. Der Bezugsgegenstand des Willens hingegen ist das Erste und Vordringlichste in der Klasse der Zielursachen, denn sein Gegenstand ist das Gute, worunter alle Ziele und Zwecke fallen, genauso wie unter das Wahre alle erfassten Formen. Daher kann man das Gute selbst als ein bestimmtes Wahres unter das Wahre einrechnen, und zwar insofern es eine bestimmte erfassbare Form ist. Umgekehrt ist das Wahre selbst, insoweit es Ziel einer verstandesmäßigen Handlung ist, unter dem Guten als ein bestimmtes Gut enthalten. [4.2] Wenn wir also die Bewegung der Seelenvermögen von Seiten des tätigkeitsbestimmenden Gegenstands her betrachten, so entsteht das Bewegungsprinzip aus dem Verstand, denn auf diese Weise setzt das Gute, wenn es verstanden ist, den Willen selbst in Bewegung. [4.3] Betrachtet man die Bewegung der Seelenvermögen von Seiten der Tätigkeitsausübung, dann kommt das Bewegungsprinzip aus dem Willen. Denn es ist immer so, dass das Vermögen, das auf das übergeordnete Ziel aus ist, dasjenige Vermögen zum Tätigwerden in Bewegung setzt, das nur auf die Mittel zum Erreichen des Ziels aus ist, ganz so, wie das Kriegshandwerk als Ziel die Tätigkeit der Zaumzeugherstellung bedingt. Genau auf diese Weise bringt der Wille sowohl sich selbst wie alle anderen Vermögen in Bewegung, denn ich verstehe, weil ich will, und auf vergleichbare Weise mache ich von allen anderen Vermögen und Habitus Gebrauch, weil ich will. Daher bestimmt Averroes den Habitus in seinem Kommentar zum dritten Buch von [Aristotelesʼ] Über die Seele auch so, dass ein Habitus das ist, was jemand gebraucht, wann immer er will.
Frage 6: Übersetzung
118 [5]
Frage 6: Übersetzung
Um nun zu zeigen, dass der Wille nicht mit Notwendigkeit in Bewegung gesetzt wird, wird es gut sein, die Willensbewegung sowohl hinsichtlich der Handlungsausübung als auch hinsichtlich der Handlungsbestimmung zu bedenken, die vom Gegenstand her geschieht. [5.1] Was nun die Ausübung der Tätigkeit betrifft, so ist zuallererst hier offenkundig, dass der Wille sich selbst in Bewegung setzt. Wie er nämlich die anderen Vermögen in Bewegung versetzt, so auch sich selbst. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass der Wille in gleicher Hinsicht nur tätigkeitsoffen möglich und schon in Tätigkeit wirklich ist. Genauso nämlich wie der Mensch in seiner Verstandestätigkeit durch neues Entdecken zum Wissen gelangt insofern er von etwas von ihm tatsächlich Gewusstem auf etwas Unbekanntes kommt, das für ihn bis dahin nur als der Möglichkeit nach Gewusstes war, so bewegt sich der Mensch dadurch, dass er etwas tatsächlich will, dahin, auch etwas anderes tatsächlich zu wollen. Ähnlich, wie der Mensch sich etwa dadurch, dass er seine Gesundheit will, anschickt, einen Trank trinken zu wollen: Da er nämlich die Gesundheit will, beginnt er, mit sich selbst zu Rate zu gehen, ob dieser wohl zuträglich ist, und aus der Überlegung trifft er dann die Entscheidung, dass er den Trank einnehmen will. Dem Willen, den Trank zu sich zu nehmen, geht also eine Beratschlagung voraus, und das wiederum geht aus dem Willen des Wollenden hervor, mit sich zu Rate zu gehen. Da der Wille sich also aufgrund eines Zurategehens in Bewegung setzt, eine Beratschlagung aber keineswegs einen eindeutigen Hinweis, sondern eine Befragung darstellt, die nach der einen oder der anderen Seite offen ist, so bringt sich der Wille nicht mit Notwendigkeit selbst in Bewegung. Da nun aber der Wille nicht immer erst Rat halten wollen wird, so ist es notwendig so, dass er von irgendetwas dazu bewegt wird, Rat halten zu wollen; und wenn er dazu nur von sich selbst gebracht würde, so ist es dann wiederum nötig, dass wieder ein Zurategehen vorgängig ist und ein Zurategehen der Willenstätigkeit vorausgeht; und da dies nicht unendlich so weitergehen kann, so ist notwendig anzunehmen, dass insofern der erste Bewegungsanstoß des Willens betroffen ist, dieser Wille bei einem jeden, der ja nicht immer aktuell im Wollen begriffen ist, von etwas ihm Äußerlichem in Bewegung gebracht wird, durch dessen Antrieb der Wille zum Wollen gebracht wird. Nun haben einige vorgebracht, dass dieser Antrieb von den Himmelskörpern herrührt. Das aber kann nicht sein. Da der Wille nämlich seinen Sitz in der Vernunft hat, wie Aristoteles im 3. Buch von Über die Seele sagt, die Vernunft wie der Verstand jedoch keine körperliche Kraft ist, so ist es unmöglich, dass die Kraft eines Himmelskörpers den Willen unmittelbar bewegt. Vorzubringen, dass der Wille der Menschen vom Einfluss der Himmelskörper in einer Weise in Bewegung gesetzt wird, in der auch der
119 Instinkt der wilden Tiere bewegt wird, hieße dieser Meinung zufolge, dass der Verstand sich nicht von den Sinnen unterscheidet. Auf solche Leute bezieht sich Aristoteles in seinem Buch Über die Seele mit dem Ausspruch einiger, die behaupten, der Wille der Menschen sei von der Art, dass er „am Tage vom Vater der Menschen und Götter geführt wird“, das heißt vom Himmel und der Sonne. Und so bleibt nur, dass, wie Aristoteles im Kapitel Über das Glück sagt , dasjenige, das den Willen und den Verstand zuerst in Bewegung versetzt, etwas dem Willen und dem Verstand Übergeordnetes ist, nämlich Gott. Da dieser alles nach der Art und Weise zu sein der bewegbaren Dinge bewegt – wie das Leichte nach oben und das Schwere nach unten – so bewegt er auch den Willen gemäß der eigenen Verfasstheit oder Bauart des Willens, das heißt nicht aus Notwendigkeit, sondern als etwas, das sich festlegungslos auf vieles hin ausrichten kann. Es ist also offenkundig, dass solange man die Bewegung des Willens im Hinblick auf die Ausübung der Tätigkeit betrachtet, der Wille nicht mit Notwendigkeit bewegt wird. [5.2] Wenn man jedoch die Willensbewegung von Seiten des Gegenstands betrachtet, der die Willenstätigkeit dazu bestimmt, dieses oder jenes zu wollen, so ist zu bedenken, dass ein Ausrichtungsgegenstand, der den Willen in Bewegung bringt, ein angemessenes erfasstes Gut ist. Wenn einem daher irgendetwas Gutes vorgesetzt wird, das zwar auch als Gutes erfasst wird, nicht aber als angemessen oder tauglich, so wird das den Willen nicht in Bewegung bringen. Da jedoch beratschlagende Überlegungen und Wahlentscheidungen Einzelnes betreffen, worauf sich eine Tätigkeit bezieht, so ist es erforderlich, dass das, was als Gutes und Angemessenes wahrgenommen wird, auch als Gutes und Angemessenes im Einzelnen wahrgenommen wird und nicht nur ganz allgemein. [5.2.1] Wenn nun etwas hinsichtlich aller zu bedenkenden möglichen Einzelvorkommnisse als gut und als zuträglich erfasst werden sollte, so würde dies den Willen mit Notwendigkeit in Bewegung setzen. Deswegen strebt der Mensch mit Notwendigkeit nach dem Glücklichsein, das nach Boethius „der vollkommene Zustand im gleichzeitigen Zusammensein all dessen, was gut ist“ darstellt. Mit Notwendigkeit aber insofern die Bestimmtheit der Tätigkeit gemeint ist, da man das Gegenteil nicht wollen kann, nicht aber insofern die Ausübung der Tätigkeit gemeint ist, weil jemand ja durchaus nicht an das Glücklichsein denken wollen kann, da auch die Tätigkeiten des Verstandes und des Willens selber wiederum einzelne sind.
Frage 6: Übersetzung
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Es handelt sich um ein Stück der Eudemischen Ethik, das als lateinische Übersetzung unter dem Namen Liber de bona fortuna kursierte.
120 [5.2.2] Handelt es sich aber um ein Gut von der Art, dass es nicht hinsichtlich aller zu bedenkenden möglichen Einzelvorkommnisse gut ist, so wird es nicht mit Notwendigkeit bewegen, und zwar auch nicht, was die Bestimmtheit der Handlung betrifft. Es könnte ja jemand das Gegenteil davon wollen, zumindest als Gedankenspiel, weil es sich vielleicht um etwas Gutes oder Zuträgliches handelt, wenn man irgendeinen anderen Einzelaspekt in Betracht zieht. Ähnlich wie das, was etwas Gutes für die Gesundheit darstellt, nichts Gutes für die Freudenempfindung darstellt, und genauso auch bei anderen Dingen. Dass der Wille sich eher aus einer als aus einer anderen Einzelbedingung auf das verlegt, was sich ihm darbietet, kann auf dreifache Weise geschehen. [a] Auf eine Weise, insofern eine Möglichkeit mehr Gewicht für sich in Anspruch nehmen kann, und so wird in diesem Fall der Wille vernunftgemäß in Bewegung versetzt: Wenn also zum Beispiel der Mensch das der Gesundheit Zuträgliche dem vorzieht, was dem Lustfrönen dient. [b] In anderer Weise hingegen, insofern er an einen bestimmten Umstand denkt, aber nicht an einen anderen; dass ihm dieser und nicht jener einfällt, geschieht dabei zumeist aus irgendeinem von innen oder von außen auftretenden Anlass. [c] In einer dritten Weise geschieht dies wegen der menschlichen Einzelveranlagungen. Denn „von der Art, wie ein jeder ist, so erscheint ihm auch sein Ziel“, sagt Aristoteles. Daher wird der Wille des Zornentbrannten und der Wille des Gemütsruhigen jeweils in anderer Weise bewegt, denn es ist nicht so, dass beiden ein und dasselbe angemessen wäre, ähnlich wie ja auch Speise von einem Gesunden ganz anders angenommen wird als von einem Kranken. Wenn daher die Einzelveranlagung, derentsprechend jemandem etwas gut oder angemessen erscheint, natürlich und dem Willen nicht unterworfen sein sollte, so würde der Wille diesem aus natürlicher Notwendigkeit den Vorzug geben, ähnlich wie alle Menschen wesensgemäß natürlicherweise wünschen zu sein, zu leben und zu verstehen. Handelte es sich dabei aber um eine Veranlagung, die nicht in dieser Weise wesensgemäß natürlich, sondern dem Willen unterworfen ist, wenn also jemand zum Beispiel durch eingeschliffene Gewohnheitsübung oder eine Leidenschaft dazu hinneigte, dass ihm etwas gut oder übel in diesem Einzelfall erschiene, so wird sich der Wille nicht mit Notwendigkeit bewegen. Er könnte dieses Hinneigen nämlich auch erfolgreich bekämpfen, damit ihm etwas dann nicht mehr so erschiene, wie zum Beispiel wenn jemand den Zorn in sich beruhigte, um nicht im Zorn über etwas zu urteilen. Allerdings wird eine Leidenschaft sehr viel eher erfolgreich zurückgedrängt als eine eingeschliffene Gewohnheit.
Frage 6: Übersetzung
Frage 6: Übersetzung
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So setzt sich daher der Wille zu einigem von Seiten des Ausrichtungsgegenstands mit Notwendigkeit in Bewegung, nicht aber zu allem; von Seiten der Tätigkeitsausübung selbst aber setzt sich der Wille nicht mit Notwendigkeit in Bewegung.
De malo q.6: Interpretation Thema der Quaestio 6 von De malo ist die Wahlfreiheit (electio) des menschlichen Willens.1 Was über den Willen in q.3. a.3 gesagt wurde, erfährt hier eine
Einordnung und eine Klärung. Es wird noch zu sehen sein, dass Thomas von Aquin die Freiheit des Willens tatsächlich in dieser Wahlfähigkeit grundgelegt sieht. Unversehens geht die Diskussion der Wahlfreiheit in dieser Quaestio aber in Bereiche über, die das umfassendere Thema des betreffen, also der Möglichkeit der freien Bestimmung des Menschen im Handeln überhaupt. Darauf wird am Ende der Betrachtung dieser Quaestio noch einmal einzugehen sein. Es darf aber in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden, dass Thomas im Antwortcorpus der Quaestio den Ausdruck nicht verwendet und die Beschränkung des Diskussionsgegenstands auf die Wahlfreiheit des Willens durchzuhalten bemüht ist.2 Dass das umfassendere Thema der freien (Selbst)Bestimmungsgewalt (um eingedenk der gleichberechtigten finalen, definitorischen und gebietenden Verständnisweisen von „Bestimmung“ einmal so zu übersetzen) dabei den Hintergrund bildet und die Wahlfreiheit des Menschen als ihr vielleicht wichtigstes Element umschließt und trägt, kommt jedoch durch die Vorabeinwände zur Sprache, die zwei Mal die Frage nach dieser freien Bestimmungsgewalt generell stellen, doch auch sie immer im Zusammenhang mit der Willenswahl. Nach dem Eindruck der Vertreter der Vorabeinwände kann es mit dieser Wahlfreiheit am Grunde der menschlichen Handlungsfähigkeit jedenfalls nicht allzu weit her sein – wenn es sie denn überhaupt geben sollte: liberum arbitrium
liberum arbitrium
liberum arbitrium
- Der Mensch hat seine Fähigkeit zu wählen von Gott, das ermöglichende Prinzip seiner Wahlfähigkeit liegt also nicht in ihm selbst – denn nichts ist sein ei1
2
Im Folgenden wird zumeist das „Wollen“ als konkreter Akt vom „Willen“ unterschieden, und von diesem wird dann gesprochen, wenn eher von der Befähigungsinstanz, der Ausrichtungs- oder der Ausübungsanlage des einzelnen Wollens die Rede ist. Freilich lässt sich diese terminologische Unterscheidung vielleicht von Fall zu Fall nicht ganz sauber durchhalten. Generell zum Verständnis der aristotelisch geprägten Willensproblematik bei Thomas von Aquin vgl. Anthony Kenny: Aristotle’s Theory of the Will. London 1979, sowie ders.: Will, Freedom, and Power. Oxford 1975. Eine nähere Bestimmung dessen, was unter „Willen“ als rationalem Strebensvermögen zu verstehen ist, erschließt sich aus q.8 a.3 [2]. Vgl. die Bemerkung von Daniel Westberg: Right Practical Reason. Aristotle, Action, and Prudence in Aquinas. Oxford 1994, S. 89-90: “the topic of discussion is election and not liberum arbitrium, which allowed Thomas to discuss more freely the aspect of the will in choice without entering into the discussions of intellect and will”.
123 genes Prinzip – und daher wird der Mensch in seinem Wollen letztlich notwendig von Gott her bewegt.3 (Einwände 2, 3, 4, 5, 17, 20) Ähnlich wäre es denkbar, dass der Mensch in einem biologisch ererbten Großzusammenhang der natürlichen Welt steht, dem er seine Fähigkeit zu wollen verdankt und der seine Fähigkeit zu wollen festlegend normiert – die Macht der Gestirne als schicksalslenkend auch für das menschliche Leben und Handeln sind ein populärer Kandidat dafür. (Einwände 17, 20, 21) Jede Verwirklichung oder Einlösung eines Vermögens ist auf ein bestimmtes Objekt hin ausgerichtet. Das Objekt des Wollens aber ist das Gute, auf welches das Wollen unweigerlich ausgerichtet ist. Der Wille ist also nicht frei, und das gilt auch für die Festlegung allen menschlichen Strebens auf das Glück und jede Form von Vollendung so. (Einwände 6, 7, 8, 10, 11, 12)4 Wer aber sagt, der Wille sei zwar in Bezug auf sein Objekt festgelegt, nicht aber hinsichtlich der Mittel und Wege, dieses zu erreichen, irrt: Die Notwendigkeit des Strebens auf das Objekt hin bringt auch eine Notwendigkeit in der Wahl und Akzeptanz der Wege mit sich. (Einwände 8, 9) Wenn keine solche Festlegung des Willens bestünde, käme es auch gar nicht zur willentlichen Handlung, denn ohne Festlegung wäre der Wille vollkommen unentschieden und damit entschlusslos und handlungsunfähig. (Einwände 15, 16, 19) Die Akrasia, also das Handeln nicht gemäß besserer und als besser eingesehen eigentlich gewollter Erkenntnis, sondern gemäß dem, was man kühl betrachtet gar nicht möchte, ist ein starkes empirisches Argument der psychologischen Selbstbeobachtung gegen die menschliche Willensfreiheit: Manchmal tut man , obwohl man weiß und zustimmt, dass man eigentlich tun sollte und auch möchte. Man handelt dabei also offenbar nicht frei. (Einwand 22) Dies gilt ganz ähnlich für die knechtende Macht der Gewohnheit, wie man sie im Leben oft genug erfährt und die die Freiheit des Willens doch offenbar unterjocht und zumeist verunmöglicht. (Einwände 23, 24)
Frage 6: Interpretation
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-
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a
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3
4
b
Vgl. die konzise Zusammenfassung dieses Gedankens etwa in dem bereits einmal kurz anzitierten Passus bei Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos, S. 75: „Wir kennen die Alternative. Entweder sind wir nicht frei, und der allmächtige Gott ist für das Böse verantwortlich. Oder wir sind frei und verantwortlich, aber Gott ist nicht allmächtig. Alle scholastischen Spitzfindigkeiten haben der Schärfe dieses Paradoxons nichts hinzugefügt und nichts genommen“. Im siebten Einwand hat Thomas die Fragen und inkriminierten Einstellungen der sogenannten Lehrverurteilungen von Paris des Jahres 1270 zusammengefasst – und damit die mögliche Identifizierung mit diesen von sich gewiesen. Vgl. dazu etwa Daniel Westberg: Right Practical Reason, S. 90.
124
Frage 6: Interpretation
Erstes Hauptargument:
[1] Thomas beginnt seinen Antwortteil in der langen Quaestio 6 von – eine Quaestio ohne Artikeleinteilung und ins Zentrum der gesamten Schrift gesetzt – mit einer zunächst vielleicht etwas überraschenden Einordnung einer bestimmten wissenschaftlichen Position bezüglich der Frage nach der Freiheit des Willens. Es geht um die Häresie und philosophische Untauglichkeit der Meinung, der Wille würde mit Notwendigkeit bewegt: In seiner Behandlung der Frage, ob der Teufel die Ursache des schuldhaften Handelns des Menschen sein könnte (q.3 a.3), hatte Thomas von außen anstiftende und von innen bewegende Ursachen der Willensbetätigung besprochen und gezeigt, dass nur die letztgenannten einen echten Grund für die Willenstätigkeit darstellen können. Äußere Einflussnahmen können den Willen also nicht zwingen, sich selbst auf dieses oder jenes hin in Bewegung zu setzen. Dies geben auch solche Leute zu, die sagen, der Wille sei nicht frei, sondern determiniert, er wähle also mit Notwendigkeit. Etwas mit Notwendigkeit vollführen zu müssen heißt nämlich noch nicht, es unter Zwang zu vollführen. Vielmehr ist unter Zwang genau die „Gewaltsamkeit“ zu verstehen, aufgrund äußerer Faktoren nicht anders handeln zu können, als diese es bedingen.5 Thomas bezeichnet diese Meinung, dass der Wille nicht nur gegenüber äußeren Faktoren, sondern auch gegenüber inneren Motivationsstrukturen nicht frei sei, als häretisch. Welche diese „inneren“ Motivationen wohl sind (Thomas hätte sie auch als „seelisch“ oder „innerseelisch“ bezeichnen können), ergibt sich für heutige Betrachter erst nach und nach, obwohl damit eigentlich ein uraltes ewig neues Problem benannt wird: Es sind Emotionen, charakterliche Anlagen, Gewohnheiten und Ähnliches. Es sind solche Motivationsursachen, die man durchaus als die eigenen oder „meine“ bezeichnen wird (insofern sind sie in einem starken Sinne „von innen“), für die man aber „nichts kann“, da sie temperamental, aus Erziehung oder sozial vorgegeben sind. Genau darin liegt für Thomas der Grund, diese genannte Einstellung als häretisch zu bezeichnen: Sie verhindert es nämlich, dem Menschen sein Handeln als schuldhaft oder verdienstvoll anzurechnen, da sie die Gründe für sein Handeln auf die biologische Bauart, die Gesellschaft, die Erziehung oder anderes dem Einzelnen nicht Anrechenbares verschiebt. Der Wille des Menschen wäre somit nur das Umsetzungsmedium dieser überindividuellen Vorgaben im Einzelnen in Einzelhandlungen durch den EinzelDe malo
5
So unterscheidet sich das Erzwungene vom Natürlichen, dem man sich ja auf den ersten Blick auch zu beugen hat, da man „auf einen bestimmten Reiz gemäß seiner spezifischen Form reagiert“, vor allem dadurch, dass „beim Zwang der Bewegungsursprung gänzlich außerhalb des betreffenden Lebewesens liegt, während bei der natürlichen Neigung ein innerer Bewegungsursprung vorauszusetzen ist“ (Franz-Josef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 8).
125 nen. Thomas zeigt dadurch, dass es mit der Innerlichkeit solcher in dieser Weise angesetzten Wirkursachen für unser Handeln nicht weit her ist: Es sind eigentlich von außen kommende Strukturen, und als solche behandelt er sie auch in seinen anschließenden Überlegungen zur moralphilosophischen Unbrauchbarkeit dieser Lehrmeinung. Denn genau dies ist auch der Grund, warum diese Meinung als „für die Philosophie fremdartig“ (opinio philosophiae extranea) bezeichnet werden muss, das heißt als ein Gedanke, der zum philosophischen Denken nicht passt und in ihm keinen Platz finden kann. Die Vorstellung vom solcherart gezwungenen Willen macht nämlich das, worauf es in der Moralphilosophie ankommt, obsolet oder gänzlich zunichte: Die Überlegung darüber, was das Richtige zu tun sei, jede Aufforderung oder Vorschrift, so zu handeln statt so, auch jeden Vorwurf und jede Strafe für eine Handlung. Kurz: Es gäbe dann keinen Sinn mehr, jemanden für etwas zu loben oder ihm etwas vorzuwerfen, da er ja als er selbst dafür, wie er handelt, gar nicht letztverantwortlich ist. Der Bereich des Lobenswerten und Tadelnswerten, des laudabile et vituperabile, ist aber genau der Gegenstandsbereich der Moralphilosophie, wie Thomas im Anschluss an Aristoteles feststellt.6 Der Fall der Entmachtung des einzelnen Menschen zur Entlastung von Traumata der Schuld und Gelingensdruck durch Lob hat allerdings auch Konsequenzen für die nicht unbedingt moralischen Fälle, in denen wir uns ganz als ungesteuerte Subjekte verstehen möchten. Nehmen wir den Fall eines Hals über Kopf verliebten jungen Mannes, dem man wissenschaftlich nachweist, alle seine inneren Regungen seien nur synaptische Entladungen, hormonelle chemische Reaktionen oder Ähnliches aufgrund einer schlüssig erklärbaren evolutionsbiologischen Funktionsgeschichte. Ähnliche Überlegungen tauchen in der moralphilosophischen Diskussion immer wieder auf und sie sind denen, die hier bei Thomas zugrundeliegen, durchaus vergleichbar. Christine Korsgaard etwa unterscheidet dabei eine „first-person-perspective“ von einer „third-person-perspective“ und argumentiert mit guten Argumenten, dass zur Einsicht in die moralischen Handlungsmotivationen eine rein äußerliche, wenn auch schlüssige, Beschreibung und Erklärung nicht ausreichend ist: Frage 6: Interpretation
Suppose someone proposes a moral theory which gives morality a genetic base. Let’s call this the ‘evolutionary theory’. According to the evolutionary theory, right actions are those which promote the preservation of the species, and wrong actions are those which are detrimental to that goal. [...] But now ask yourself whether, if you believed this theory, it would be adequate from your own point of view. Suppose morality demands that you yourself make a serious sacrifice like giving up your life, or hurting someone that you love. Is it really enough for you to think that this action promotes the preservation of the species?7
6 7
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1112a. Vgl. Christine Korsgaard: The Sources of Normativity. Cambridge 1994, S. 14-15.
126 Frage 6: Interpretation Doch zurück zu Thomas. Die genannte Lehrmeinung verunmöglicht also jede Moralphilosophie. Meinungen aber, die eine philosophische Disziplin von vornherein durch Verneinung von Grundsätzen ausschließen, nenne man eben fremdartig für die Philosophie. Dies sei ähnlich wie im Fall, dass jemand die Meinung vertrete, es gebe keine Veränderung in der Welt. Thomas beruft sich hier auf die Metaphysik des Aristoteles, der dabei wiederum die Lehre des Parmenides und anderer vor Augen hat: Durch die Grundannahme einer solchen Bewegungslosigkeit wäre jede naturphilosophische Überlegung von vornherein verunmöglicht und sie ist daher für die Philosophie artfremd.8 Man sieht, wie das genannte Problem die in q.3 a.3 verhandelte Frage aufgreift, ob man denn schuldhaftes Handeln nicht auf einen Agenten oder Faktor außerhalb des Handelnden verschieben könne ‒ also zum Beispiel auf den Teufel. Das Problem taucht auch in der abschließenden Quaestio von De malo, die in zwölf Artikeln von den Dämonen handelt, noch einmal in Ausführlichkeit auf. Die Antwort, die Thomas hierauf in q.3 a.3 gegeben hatte, hat diejenige, die Thomas nun in q.6 geben wird, in vielen Aspekten vorbereitet und in einigen sogar vorweggenommen. Interessant an der Behandlung der Willenfreiheit sind nun aber insbesondere diejenigen Aspekte, auf die das nicht zutrifft. Ihnen soll im Folgenden daher vor allem das Augenmerk gelten. [2] Es ist hilfreich, sich zum Einstieg in die Argumentation den Passus noch einmal wörtlich vor Augen zu führen, den Thomas ihr voranstellt: Zur Einsicht in die Wahrheit bei dieser Fragestellung muss man zuerst bedenken, dass es so wie bei den anderen Dingen auch beim Menschen ein Prinzip der jeweils eigentümlichen Tätigkeiten gibt. Dieses Tätigkeits- oder Bewegungsprinzip bilden bei den Menschen im eigentlichen Sinne der Verstand und der Wille, wie es im 3. Buch Über die Seele heißt. Dieses Prinzip stimmt teilweise mit dem Tätigkeitsprinzip in den Naturdingen überein, teilweise weicht es von ihnen ab.
teils“ von Übereinstimmung und Abweichung strukturiert die Anfangspassage dieser berühmtesten Quaestio von De malo. Thomas geht zur Beantwortung der Frage nach der Wahl- und Handlungsfreiheit des Menschen so vor: Dieses „teils-
[2.1] Das Tätigkeitsprinzip im Menschen stimmt in Folgendem mit dem in den Naturdingen überein: Bei den Naturdingen findet man eine (natürliche) Konstitution – eine „Form“ (zu sein) – vor, die für ihr Tätigsein verantwortlich ist. Sie 8
Der Verweis auf Aristoteles ist recht allgemein und nimmt eigentlich mehr Bezug auf die Diskussion in Metaphysik 1008 und 1009, wo Aristoteles nachzuweisen versucht, dass es sich bei solchen Fällen wie der Leugnung von Bewegung oder vermeintlichen Verstößen gegen das Widerspruchsprinzip um Sophismen handelt.
127 drückt sich aus in einer Neigung, einem „natürlichen Streben“ (wie zum Beispiel bei den Tieren der Instinkt, bei Pflanzen die Lichtausrichtung, bei schweren Dingen, zu fallen, bei leichten, zu steigen, etc.), und daraus geht die Tätigkeit dieses Dings hervor. Beim Menschen gibt es dieses Zusammenspiel von Form und Neigung ebenfalls, und zwar ist hierbei die Formvorgabe Sache des Verstands, die Neigung Sache des Willens.9 Die Neigung zu 10etwas hin setzt beim Menschen nämlich voraus, dass etwas erkannt worden ist, und auf dieses richtet sich dann die dem Willen zuzuschreibende Neigung, aus der eine Handlung erfolgt. Was der Verstand erkennt, ist eine allgemeine Form (eine forma intellecta). Dadurch, dass Thomas der Willenstätigkeit den Verstand vorordnet, vermeidet er einen Voluntarismus. Im Folgenden wird er noch zu zeigen haben, warum die Verstandesvorgabe den Willen nicht festlegt und damit unfrei macht, warum also die Vermeidung des Voluntarismus nicht in einen Determinismus führen muss. In Folgendem liegt nun aber der Unterschied zwischen dem Tätigkeitsprinzip bei den Naturdingen und beim Menschen: Bei den Naturdingen handelt es sich immer um Formen zu sein, die materiell gebunden sind; beziehungsweise: Formen, die immer schon eindeutig („materiell“) verwirklicht sind. Das ist auch der Grund dafür, dass sich solche Dinge immer eindeutig festgelegt verhalten (Sonnenblumen drehen sich stets zum Licht, Helium steigt im Medium von Luft immer nach oben, usw.). Die eindeutig festgelegte Art der Tätigkeit fällt hier mit der eindeutig festgelegten Form zu sein ineins. Beim Menschen gibt die vom Verstand erfasste allgemeine Form dem Willen jedoch keine eindeutige einzelne Festlegungsvorgabe. Der Verstand erfasst die Dinge nämlich sozusagen ohne Formverwirklichung (wir haben ja nicht ein materielles Haus im Kopf, wenn wir ein Haus denken; Thomas erklärt dies recht deutlich etwa in den Quaestiones quodlibetales q.8 a.1 ad 2). Handlungen, wie sie aus dem Willensvermögen hervorgehen, sind aber Einzelvollzüge, „Einzelakte“, nichts Allgemeines. Menschen handeln also konkret ihrem Willen gemäß, ohne durch die entsprechende Formvorgabe (durch den Verstand) auf genau diese oder jene Einzelhandlung festgelegt zu sein. (Es ist ähnlich, wie in q.3 a.3 [2.2]-[2.3.2] mit dem Glücklichsein gesehen: „Glücklichsein“ ist eine allgemeine Begriffsbildung des Verstandes, die nichts Konkretes, einzeln Verwirklichtes notwendig vorgibt und dennoch Ausrichtungsmaßstab des menschlichen Handelns ist – jeder Frage 6: Interpretation
9
10
Sache des Willens, wohlgemerkt. Dass Neigung und Wille hingegen nicht gleichzusetzten sind, zeigt Thomas von Aquin an mehreren Stellen. Vgl. hierzu auch Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/Christina Van Dyke: Aquinas’s Ethics, S. 62, sowie FranzJosef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 82-88. Vgl. Augustinus: De trinitate VIII 4,6: nil volitum, nisi cognitum. Jede davon abweichende Annahme würde eine inakzeptable extreme Variante des Voluntarismus voraussetzen (vgl. unten „Ein Nachtrag zur Quaestio 6 und zum Problem ihrer Bedeutung“).
128 wird „nach seiner Façon“ glücklich. Während sich der Verstand jedoch den abstrakten Allgemeinbegriff „Glück“ formen kann, vermag es der Wille, der Einzelakte hervorbringen soll, nicht, das Glücklichsein als allgemein Abstraktes auch anzustreben – zumindest nicht unmittelbar. Der Mensch kann sich hier also auf vieles verlegen, was das Potential hat, der allgemeinen Form des Glücks nachzukommen, das heißt: was das Vermögen besitzt, das Gelingen des Lebens zu befördern oder einzulösen.) Daher: Der Mensch ist als handelndes Willenswesen, anders als die Naturdinge, nicht durch eine Formvorgabe eindeutig bestimmt, genau dieses oder jenes Einzelne zu tun. Es gehört also auch zu den funktionsermöglichenden Vorgaben des Verstehens an den Willen, dass die Natur und das Ziel menschlichen Daseins erst einmal erfasst wird und somit ein Verständnis des Verhältnisses der verschiedenen möglichen Güter mit dieser Natur und diesem Ziel des Lebens gewährleistet wird. Das moralische Handeln, das sich als Umsetzung des Willens im Hinblick auf diese Vorgaben deuten lässt, läuft also auf eine11Selbsterkenntnis des Menschen zurück, auf eine reflexive Tätigkeit der Vernunft. Und so ergibt sich:
Frage 6: Interpretation
Da sich nun Handlungen auf etwas Einzelnes beziehen und unter solchen Einzelnen keines ist, dem das Vermögen eignete, Allgemeines zu umschließen, bleibt festzustellen, dass sich die Neigung des Willens unbestimmt gegenüber einer Vielzahl von Möglichkeiten verhält. Das ist so, wie wenn ein Baumeister die Formgebung eines Hauses im Allgemeinen entwirft, wobei unter dieser noch verschiedene konkrete Ausgestaltungsmöglichkeiten von Häusern zusammengefasst sind, und sein Wille dann dazu neigen kann, ein bestimmtes Haus von viereckiger, runder oder irgendeiner anderen Gestalt zu bauen.
Exkurs: Der metaphysische Hintergrundgedanke in [2.1]:
Welchen theoretischen Hintergrund hat der bis hierher entwickelte Gedanke bei Thomas? Die Dinge (res) der sinnenfälligen Wirklichkeit – Realität – teilen gruppenweise eine gemeinsame Form im Sinne einer gemeinsamen Wesensbestimmung. – Weswegen Thomas in De ente et essentia (und genauso anderswo) auch von forma sive essentia, also von „der Form oder auch Wesenheit“ als gleichextensional und für die meisten Fälle gleichbedeutend reden kann (es gibt gleichwohl aspektuelle Verschiedenheiten zwischen beiden). Die Form ist also eine definierende Struktur, kein äußerer Umriss (figura), obwohl dieser von Mal zu Mal tatsächlich ein manifester Ausdruck der Form und für deren Begreifen aussagekräftig sein kann (aber eben nicht muss). Forma dat esse, sagt Thomas daher
11
Vgl. dazu ausführlicher Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 318.
129 mit der aristotelischen Tradition,12 was aber nur so weit richtig sein kann, wie man bei „Form“ unterscheidet, dass etwa ein Hirsekorn zwar die figura eines Pferdes haben kann, niemals aber als Hirsekorn die forma eines Pferdes. Denn diese würde bedingen, dass das Hirsekorn laufen, wiehern und zur Fortpflanzung mit anderen Pferden fähig sein könnte, kurzum: dass es kein Hirsekorn mehr wäre, sondern ein Pferd.13 So teilen die verschiedenen Einzelexemplare von Menschen die gemeinsame „Form“ oder Wesensbestimmung „Mensch“. Dies ist die forma rei naturalis, von der Thomas spricht, und er nennt sie individuata per materiam, als durch Materie vereinzelt zum individuell Einzelnen gemacht. Tatsächlich ist „der Mensch“ in seiner universalen, allgemeinen Form nirgends verwirklicht, sondern nur in der materiellen Einzelausprägung wirklich: als diese Frau oder dieser Mann, als dieser Greis oder dieses Kind etc. Mensch ist also immer nur ein Einzelner als konkretes menschliches Individuum, ohne alles das sein zu können, was „der Mensch“ als allgemeines Wesen oder als universale Form aussagt. Und so gilt das auch von Steinen, Gasen, Tieren, Sonnenblumen, und was dergleichen mehr ist. Diese durch Materie als Einzelnes individuierte Form ist also das eine Tätigkeitsprinzip der Naturdinge. Denn: Ein Prinzip ist das, woraus etwas anderes auf welche Weise auch immer hervorgeht, sentenzieren die Scholastiker. Und das ist hier der Fall: Die Naturdinge verhalten sich („vollziehen ihr Tun“) also gemäß ihrer Wesens- oder Formvorgabe. Mit all den Konsequenzen der dadurch festgelegten Neigung und der daraus erwachsenden eindeutigen Tätigkeitsfestlegung, wie sie oben besprochen wurden. Soweit trifft das Gesagte ja nun auch auf den Menschen zu, insofern auch er ein „Naturding“ ist. Und insofern er das ist, verhält er sich auch wie ein Naturding und übt natürlich festgelegte Tätigkeiten aus. Doch hat der Mensch im Unterschied zu den anderen bekannten Naturdingen auch die rationalen Vermögen von Verstand und Wille, und diese bilden noch einmal ein eigenes Tätigkeitsprinzip.14 Auch dieses besteht aus einer Formvorgabe und einem entsprechenden Frage 6: Interpretation
12
13 14
So stellt die Form die Vollendung des Seienden dar und seine eigentliche Wesensart: forma vel est ipsa natura rei [...] vel est constituens ipsam rei naturam (Thomas von Aquin, Summa theologiae III q.13 a.1). Das Beispiel vom Hirsekorn findet sich bei Walter Burleigh: Tractatus de formis. Prima pars. Herausgegeben von Frederick J. Down Scott. München 1970, S. 13-14. Das spezifisch menschliche Handeln ergibt sich also aus „a congruent input of cognition and volition“ (Daniel Westberg: Right Practical Reason, S. 131). Besser sollte man im Hinblick auf den Text und den Argumentationszusammenhang bei Thomas sagen, dass es sich bei Verstand und Wille um zwei Ausprägungen oder Kehrseiten von einem Vermögen der ratio handelt, nicht um zwei getrennte Vermögen. Das Grundvermögen beider ist übrigens, jeweils in anderer Weise, die Fähigkeit der Reflexion. Dies wird unten in Abschnitt [5.1] noch ausgeführt werden.
130 Frage 6: Interpretation Vermögen zu streben, einer Neigung, in der dann eben die Tätigkeit gründet. Die Formvorgabe geschieht hier jedoch durch eine Operation des Verstandes: Der nämlich vermag, die allgemeinen Formen, die sich in den Dingen durch das Individuationsprinzip der Materie einzeln konkretisiert vorfinden, aus eben diesen 15 Dingen zu abstrahieren. Der Verstand also, der intellectus, erfasst die Wesensbestimmung oder allgemeine Form der Dinge post rem durch eine ihm eigentümliche Leistung. Post rem bedeutet, dass der Verstand aus den (Sinnes)Wahrnehmungen der Dinge (res) einen Abstraktionsbegriff ihrer allgemeinen Wesensform zustandebringt, eine Tätigkeit, die eine konkrete und wahrnehmbare Wirklichkeit dieser Dinge voraussetzt, um danach (post) aus deren Wahrnehmung die allgemeine Form geistig aktiv zu isolieren. Was der Verstand da bildet, ist die forma intellecta, das ist die der Verstandestätigkeit eigene allgemeine Form der konkret in den und von den Einzeldingen wahrgenommenen einzelnen Wesensausprägungen, den formae apprehensae. Deshalb behandelt Thomas an dieser Stelle die forma intellecta wie einen verstandesgemäßen Spezialfall der forma apprehensa: Auffassen (apprehendere) kann man nämlich die konkrete Seinsform der Einzeldinge durch die Sinneswahrnehmung, doch in einem elaborierteren Sinne kann man eben auch die allgemeine Form, die ihnen gruppenweise innewohnt, geistig wahrnehmen. Aus dieser Fähigkeit des Verstandes, allgemeine Formen aus der immer nur individuierten Realität gleichsam herauszuarbeiten, zu extrahieren, resultiert also die Formvorgabe an die zweite Komponente des spezifisch menschlichen Tätigkeitsprinzips, den Willen.16 Dieser als das zweite rationale Grundvermögen des Menschen würde nun nie in Tätigkeit übersetzt werden können, anders: er würde sich selbst als solches rationales Vermögen nie in Bewegung setzen, hätte er nicht die Möglichkeit zur Auswahl ohne eine eindeutige, individuelle Festlegungsvorgabe. Der Wille muss also – und sonst könnte der Mensch überhaupt nicht spezifisch menschlich handeln – ein Vermögen sein, das eine handlungsgebietende Ausrichtung auf spezifisches Einzelnes aufgrund der unspezifischen Formvorgaben des Verstandes gewährleisten kann. Dies wäre ohne das Vermögen zu wählen 15
16
Zur dadurch ermöglichten ordnungsstiftenden Operation des Verstandes in diesem Kräftefeld von Neigungen bemerkt Jean Porter: Nature as Reason, S. 252: “Reference to a proper ordering implies that there is some criterion to which desires can be evaluated apart from the concatenation of desires that we just happen to have, even understood comprehensively to take into account the relative strength of desires, their compatibility, and the like. Clearly, this is Aquinas’s view. He claims that reason orders our diverse aims in accordance with some consideration of what counts as true good, comprehensively considered”. Für diesen Gedanken der Zielvorstellung an den Willen durch den Verstand gibt es bei Thomas zahlreiche Belege: S.th. I q.64 a.2, q. 82 a.2 ad 2, q.82 a.4, etc. Vgl. dazu Anthony Kenny: Thomas von Aquin über den Willen. In: Wolfgang Kluxen (Hg.): Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch. Freiburg 1975, S. 101-131, vor allem S. 119-122.
131 unmöglich. Gleichfalls unmöglich ist, dass diese Wahl gänzlich der Notwendigkeit unterworfen und somit gänzlich unfrei ist. Denn die forma intellectiva als Vorgabe an den Willen legt nicht auf etwas Einzelnes fest, sondern definiert nur allgemein ein Feld in Frage kommender Ausrichtungsobjekte, die dieser allgemeinen Vorgabe als Einlösungskandidaten oder Einlösungsfaktoren entsprechen könnten.17 – Wie also etwa in q.3 a.3 ([2.3] und [2.3.1]) beim Glücklichsein gesehen,18und mit diesem Hinweis mag es auch für diesen Exkurs sein Bewenden haben. Frage 6: Interpretation
[2.2] Es folgt dann noch der Sonderfall der „vernunftlosen Lebewesen“ – was Thomas hier ausführt, legt nahe, dass damit Tiere gemeint sind, der Fall der Pflanzen, wie etwa der Sonnenblume und ihres Verhaltens einer Lichtquelle gegenüber, lässt sich dagegen besser unter seine Ausführungen zu den „natürlichen Dingen“ einordnen. Thomas sieht bei den „vernunftlosen Lebewesen“ Elemente sowohl des physikalischen wie des willentlichen Verhaltens gegeben. Was Ersteres anlangt, so sind die vernunftlosen Lebewesen – Tiere – ebenso wie die natürlichen Gegenstände in einem einförmigen Verhalten auf das bezogen, worauf sich ihre Tätigkeit richtet. Also etwa, um das Standardbeispiel zu bemühen: Der Wolf wird sich dem Schaf gegenüber natürlicherweise immer so verhalten, wie sich ein Wolf einem Schaf gegenüber verhält. Er wird es als Beute ansehen und als nichts anderes und darauf aus sein, es zu erjagen und zu reißen. Es gibt beim Wolf also, wie Thomas sagt, nur „eine Neigung zu nur einer Tätigkeitsumsetzung“ bezüglich des Schafs, das ergibt sich aus der Wesensart, der „Form“ des Wolfseins. 17
18
Der Verweis auf die Ausrichtungsobjekte ist von Bedeutung, denn die Offenheit der Vorgabe an den Willen, dass der Verstand also dem Willen ein Feld in Aussicht stellt, statt ihn auf ein einziges Einzelnes festzulegen, ist gemäß seiner aristotelisch geprägten Erkenntnistheorie für Thomas „kein psychologisches, sondern ein ontologisches Problem. Das heißt: Das Seiende selbst ist ein seiner Mannigfaltigkeit im Hinblick auf seine Einheit unbestimmt“ (Gustav Siewerth: Thomas von Aquin. Die menschliche Willensfreiheit. Düsseldorf 1954, S. 27). Vgl. dazu auch Daniel Westberg: Right Practical Reason, S. 7172. Dieses gegenseitige Bedingungsverhältnis von Wille und Vernunft ist bei Thomas hier wie anderswo als bedeutsam hervorgehoben. Vgl. Jean Porter. Nature as Reason, S. 259: „Aquinas certainly holds that the will never operates except on the basis of some rational judgment or other. […] Just as the will depends on reason to present it with its objects, so reason (together with every other human power) is only activated through the will, which moves the other powers to action. What this means, practically, is that reason and will are always in a process of dynamic interaction”. Das muss im Übrigen nicht ausschließen (sondern setzt sogar bis zu einem gewissen Punkt voraus), dass der Wille einen Aspekt des eigenen Zustandekommens aufweist: vgl. dazu etwa Stephen Brock: Action and Conduct: Thomas Aquinas and the Theory of Action, S. 186-189, und Robert Pasnau: Thomas Aquinas on Human Nature. Cambridge 2002, S. 221-253.
132 Und dennoch: Wie beim Menschen gibt es für das Tier Fälle, in denen sich solche eindeutigen Bezugnahmen jeweils anders auswirken können. Während Helium im Luftmedium immer nach oben steigt und das keiner ihm selbst zuzuschreibenden Ursache wegen nicht nicht kann, gibt es beim Wolf die Möglichkeit, dass er, obgleich seine natürliche Neigung dem Schaf gegenüber stets die gleiche bleibt, davon Abstand nehmen wird, es zu tun. Etwa in dem Fall, dass er sich bereits mehrmals an einem Schaf den Magen verdorben hat. Dann wird er das Schaf eher meiden als suchen, und ähnlich verhält es sich ja bei einigen anderen Caninen, etwa Hirtenhunden, denen man antrainieren kann, Schafe zwar zu jagen, sie aber nicht zu erlegen. Auch hier bleibt die in der Wesensart oder „Form“ gegebene natürliche Neigung bestehen, doch sie wirkt sich modifiziert aus. Die Ähnlichkeit zu den natürlichen Dingen ist also darin zu sehen, dass Tiere die Formvorgabe für das Verhalten natürlicherweise parat haben, die Ähnlichkeit – zumindest äußerliche – zum menschlichen Verhalten besteht darin, dieser Formvorgabe so oder so19 nachkommen zu können – im Fall der Tiere freilich in eingeschränktem Maße. Insbesondere in dem rationalen Vermögen, für sein eigenes Verhalten selbst formgebend sein zu können, ist also der Mensch als willentlich handelnder vom Tier verschieden. Tatsächlich kann man ja erst dann von „eigenem Verhalten“ sprechen. (Vgl. dazu Schema 1). Die Gemeinsamkeiten zwischen den Tätigkeiten von Menschen und natürlichen Dingen liegen also im formalen Ablauf, der (wie im Schema) parallelisierbar ist. Der Unterschied liegt demgegenüber in der Festlegung durch Formvorgabe. Im Fall des Menschen nämlich ist der Wille Entscheidungsträger für das Zustandekommen der Handlung. Natürliche Dinge verhalten sich gemäß ihrer Wesensform. Sie tun das, was Dinge von dieser Art eben tun (es handelt sich um ein „stupid is as stupid does“Prinzip). Die Verhaltensform ist von der Wesens(Soseins-)form daher nicht zu trennen, vielmehr ergibt sie sich unausweichlich mit ihr, gemäß der aristotelischen Lehre vom /Akt, was dann lehrgemäß sowohl die Wirklichkeit wie die ihr entsprechende Tätigkeit einer Entität bezeichnet. Die Wesensform des Menschen als Vernunftwesen aber schließt Abstraktions-, Denk-, Vorstellungsvermögen ein. Demgemäß verhält sich also der Mensch (auch): nach abstrakter, nicht einzeldingeindeutig festlegender Formvorgabe (zum Beispiel der Inaussichtstellung von Zukünftigem). Der Unterschied des rational begabten natürlichen Lebewesens gegenüber dem nicht rational begabten ergibt sich somit aus Folgendem: Freiheit heißt bei jenem nicht nur Lizenzfreiheit, heißt nicht nur der
Frage 6: Interpretation
ergon
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Zu Wölfen, Schafen und anderen Tieren in diesem Zusammenhang vgl. auch Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270-1670. Frankfurt a.M. 2011, S. 70-72.
Frage 6: Interpretation
133
Raum, der dem Verhalten gemäß Formvorgabe eingestanden wird (libertas avium oder „negative Freiheit“), sondern Entwurfsfreiheit („positive Freiheit“).20
Schema 1: Quaestiones disputatae De malo, q.6, erstes Hauptargument:
Natürliche Dinge:
Mensch:
Formvorgabe:
Formvorgabe:
Wesensart/form
abstrakte Vorgabe, der nichts in den verwirklichten Einzeldingen entspricht und die daher auch nicht eindeutig auf Einzelnes festlegt)
forma intellecta
(als spezifisch eindeutig festlegend)
entsprechende Neigung (ergibt sich formspezifisch, ist mit der Wesensart mitgegeben)
Akt („Tätigkeit“)
„zwei Vermögen“
entsprechende „Neigung“ (Wille, der aus den Einzeldingen angesichts der Formvorgabe auswählt)
(freie) Handlung
Die Gemeinsamkeiten zwischen den Tätigkeiten von Menschen und natürlichen Dingen liegen also im formalen Ablauf, der (wie im Schema) parallelisierbar ist. Der Unterschied liegt demgegenüber in der Festlegung durch Formvorgabe. Im Fall des Menschen nämlich ist der Wille Entscheidungsträger für das Zustandekommen der Handlung. 20
Zur Deutung des Textes vgl. für diesen Zusammenhang auch Albert Zimmermann: Thomas lesen. Stuttgart 2000, S. 201-212, sowie Yul Kim: Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin, S. 156-167.
134 Frage 6: Interpretation Natürliche Dinge verhalten sich gemäß ihrer Wesensform. Sie tun das, was Dinge von dieser Art eben tun (es handelt sich um ein „stupid is as stupid does“Prinzip). Die Verhaltensform ist von der Wesens(Soseins-)form daher nicht zu trennen, vielmehr ergibt sie sich unausweichlich mit ihr, gemäß der aristotelischen Lehre vom ergon/Akt, was dann lehrgemäß sowohl die Wirklichkeit wie die ihr entsprechende Tätigkeit einer Entität bezeichnet. Die Wesensform des Menschen als Vernunftwesen aber schließt Abstraktions-, Denk-, Vorstellungsvermögen ein. Demgemäß verhält sich also der Mensch (auch): nach abstrakter, nicht einzeldingeindeutig festlegender Formvorgabe (zum Beispiel der Inaussichtstellung von Zukünftigem). Der Unterschied des rational begabten natürlichen Lebewesens gegenüber dem nicht rational begabten ergibt sich somit aus Folgendem: Freiheit heißt bei jenem nicht nur Lizenzfreiheit, heißt nicht nur der Raum, der dem Verhalten gemäß Formvorgabe eingestanden wird (libertas avium oder „negative Freiheit“), sondern Entwurfsfreiheit („positive Freiheit“).21 Zweites und drittes Hauptargument: [3] Vermögen – wie das zur Tätigkeit – werden nun auf zweifache Weise gesteuert22: Zum einen von Seiten der vermögensausübenden Instanz, des Subjekts (ex parte subiecti, sagt Thomas), wie beim Sehen das Auge als das tätige Organ dafür „verantwortlich“ ist,23 ob man etwas besser, schärfer, klarer sieht oder schlechter, unschärfer oder trüber. Am Subjekt hängt es also, ob es zunächst überhaupt zu 21
22
23
Zur Deutung des Textes vgl. für diesen Zusammenhang auch Albert Zimmermann: Thomas lesen. Stuttgart 2000, S. 201-212, sowie Yul Kim: Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin, S. 156-167.
Teilweise anders gewichtet – und je nachdem in größerer Ausführlichkeit oder in stärker gedrängter Form – hat Thomas die hier folgenden Unterscheidungen auch in anderen seiner Werke entwickelt. Für den ergänzenden Vergleich mit De malo bieten sich etwa die Artikel 5 und 6 der Quaestio 21 von De veritate an, wo es in Differenzierung dreier Aspekte ebenfalls um die Unbestimmtheit des Willens geht. Der Artikel 6, bei dem es darum geht, „ob der Wille mit Notwendigkeit das will, was er will“, endet mit der Bemerkung: „Daher sagt man auch, dass das Wollen des Üblen weder die Freiheit darstellt noch einen Teil von ihr, obgleich es ein Zeichen für sie ist“. Das Thema der anthropomorphen Sprechweise in dieser Sicht der Dinge ist oft thematisiert worden. Eine gute Verteidigung, oder besser, da es einer Verteidigung eigentlich nicht bedarf, eine konzise Erklärung der anthropomorphen Sprache im erklärenden Umgang mit der Welt bietet Robert Spaemann/Reinhard Löw: Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. Stuttgart 2005, zum Beispiel S. 51-54 (hier insbesondere auf die aristotelische Philosophie hininterpretiert): „,Reden über‘, das ist ja das Anthropomorphste, was wir tun können. Nur ist es kein Vorwurf, sondern die spezifische Dimension menschlichen Umgangs mit der Natur“ (Anm. 27 zu S. 52).
135 einer Tätigkeit kommt (ob also das Auge die Sehtätigkeit ausübt), oder in welcher Intensität. Thomas wird diesen Fall vorerst noch zurückstellen, um ihn später [5] eingehend zu behandeln. Zum anderen von Seiten des Gegenstands, welcher der Tätigkeit das Zielobjekt hergibt ( ), ähnlich wie beim Sehen der angeblickte Gegenstand dafür24 „verantwortlich“ ist, ob etwas Weißes oder Schwarzes wahrgenommen wird. Am Objekt hängt es also, wie die Tätigkeit des Sehens spezifiziert wird. „Denn die Tätigkeit wird durch das Bezugsobjekt artgemäß bestimmt“. Diesen Fall [4] hat Thomas nun zuerst im Auge: Frage 6: Interpretation
ex parte obiecti
[4] Bei den reinen Naturdingen (das heißt bei allen nicht vernunftbegabten natürlichen Einheiten) lässt sich beobachten, dass bei ihnen die Bestimmtheit, die Art und Weise, ihrer Tätigkeit aus der je eigenen Wesensform der Beteiligten (Subjekt und Objekt) erfolgt. Wie der Wolf mit dem Lamm umgeht, hängt eben genau daran, welche Art von Wesen Wolf und Lamm sind. Die Ausübung der Tätigkeit hingegen, also die Initiative, dass es überhaupt zu einem Tätigsein oder einer Bewegung kommt, bedarf einer Bewirkung. Dass es zu so etwas kommt, kann aber nicht ohne ein Zielobjekt geschehen. Ohne verursachende Zielvorgabe keine Bewegung. Der letzte Verursacher der Bewegung (der Tätigkeit), das also, worauf es zurückzuführen ist, dass es zu einer Tätigkeitsausübung kommt, ist in den damit angesprochenen Fällen mithin das Ziel. Der Wolf reißt das Lamm, weil der Anblick des Lamms ihn eben dazu veranlasst, das zu tun, was Wölfe mit Lämmern nun einmal so tun. Wie er handelt, ergibt sich aus seinem Wesen; dass er handelt, von seinem Ziel her: dem Lamm. Man könnte nur wenig übertreibend sagen, dass es sich beim Lamm und dem seinem Wesen gemäß auf das Lamm abgestimmten Wolf, der beim Anblick des Lamms in darauf abgestimmte Bewegung kommt, ähnlich verhält wie beim Magneten und dem seinem Wesen oder seiner Bauart gemäß auf den Magneten abgestimmten Stück Eisen, das durch den Magneten in Bewegung kommt. Ein Unterschied ist nur darin zu sehen, dass die Bewegungsausübung beim Wolf eben beim Wolf liegt. Thomas zeigt dadurch, dass Bewegungsausübung noch lange nicht dasselbe ist wie die Verursachung von Bewegung. [4.1] Form und Ziel als bewegungs- oder tätigkeitsverursachend finden sich auch bei vernunftbegabten natürlichen Wesen. Denn der Gegenstand, mit dem sich der 24
Für die hier von Thomas zugrunde gelegte Unterscheidung vgl. ergänzend zusätzlich S.th. q.1 a.4, wo die Differenzierung einer unterschiedlichen Prinzipienpriorität anhand der Gegenläufigkeit von Absichtsordnung (ordo intentionis) und Ausführungsordnung (ordo executionis) dargelegt wird.
136 Frage 6: Interpretation Verstand vorzüglich25 beschäftigt, ist die höchste und grundlegende aller Wesensoder Formursachen, nämlich „was überhaupt ist und was wahr ist“ (ens et verum). – Die Formursache ist also dasjenige, was dafür verantwortlich ist, ob etwas so oder so ist, anders gesagt: ob es wahr ist, dass es das ist und nicht etwas anderes. Der Gegenstand, um den es der Vernunftinstanz des Willens zu tun ist, ist das Gute, also die vorrangige aller Zielursachen (– das Gute ist ja, wie aus q.1 a.1 [2] zu erfahren war, bei Thomas gleichbedeutend mit dem Erstrebenswerten). Allerdings könnte Gutes als solches (nämlich als gut) gar nicht wahrgenommen werden ohne Verstandeserkenntnis des Wahren (dass es also wahrhaft überhaupt als gut gelten kann). Wahres als Zielvorgabe einer Handlung muss dagegen unter dem Gesichtspunkt des Guten gesehen werden, sonst ließe es sich nicht als Erstrebenswertes betrachten und es käme nie eine Handlung in Gang; denn Handlungen wie alle Tätigkeiten gehorchen dem Grundsatz: Ohne verursachende Zielvorgabe keine Bewegung – wie Thomas sagt: „Das Wahre ist, insoweit es Ziel einer verstandesmäßigen Handlung ist, unter dem Guten als ein bestimmtes Gut 26 enthalten“. Man kann das mit den Worten eines Interpreten zusammenfassen, der damit eine ähnliche Stelle aus dem ersten Teil der Summa contra Gentiles kommentiert: „Das Gute ist als erkanntes der eigentümliche Gegenstand des Willens. Daher (!) ist es notwendig, dass das Erkannte als solches gewollt wird“.27 Dies mag auf den ersten Blick immer noch merkwürdig erscheinen, doch lässt sich im Hinblick auf andere zahlreiche Stellen im Werk des Thomas von Aquin, und nicht zuletzt aus der schon besprochenen Unterscheidung in De malo q.1 a.1 und a.2, ausmachen, dass er zwei Auffassungsweisen des Guten unterscheidet: als erstes ein bestimmtes Gutes, auf das sich das Streben auch gezielt ausrichten und verlegen kann. Für vernünftige Wesen ist sodann aber auch „ein solches Einzelgut gegen einen Horizont des Guten überhaupt abgehoben. Das Gute ist aber nun für den Verstand nur einer unter mehreren Inhalten. Sein Formalobjekt ist das Wahre“ – dies ist das Problem, bei dem die Diskussion in q.6 von De malo jetzt auch angekommen ist. Die Lösung lautet dann: „Es bliebe also vom Guten etwas 25
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Zu bedenken ist hierbei und für das Folgende, dass „Thomas distinguishes between intellect as a nature and intellect as intellect. As a nature, intellect is determined to the truth […]. As intellect it has a more variable object: it can fall into falsity. It needs to perform lengthy discursive acts to arrive at a given truth. So too will as a nature is ordered and determined to the good as such – determined. Will as will is ad opposita, free” (Ralph McInerny: Aquinas on Human Action. A Theory of Practice. Washington 1992, S. 59). Deutlicher im Original: et ipsum verum, in quantum est finis intellectualis operationis, continetur sub bono ut quoddam particulare bonum. Rolf Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, S. 68, im Hinblick auf Summa contra Gentiles I cap.72: „Als erkannt wird es [das Gute, CS] bezeichnet in Bezug auf den Erkennenden. Es ist also notwendig, dass der, der das Gute als solches erkennt, wollend ist“.
137 ganz Wesentliches ausgeblendet, wenn sein Charakter des möglichen Formalobjektes nicht erfasst würde. Der zum Erkannten Guten angemessene Bezug ist nicht der der Erkenntnis, sondern der des Wollens“.28 In der Summa theologiae (I q.16 a.4 ad 1) schreibt Thomas daher, dass Verstand und Wille sich in dieser Betrachtungsweise gegenseitig einschließen (mutuo se includunt): Was man so formuliert geradezu ein definitorisches Inhärenzverhältnis von Wille und Verstand nennen möchte, zeigt schlicht an, dass das Gute vom Verstand erfasst und das Wahre vom Willen gewollt werden muss, um überhaupt für das geistige Leben eine Rolle zu spielen.29 Frage 6: Interpretation
Hieran anschließend lassen sich im Weiteren zwei Möglichkeiten der Betrachtung unterscheiden: [4.2] Erste Betrachtungsperspektive: Wenn man das Augenmerk auf das Objekt richtet, das die Tätigkeit in ihrer Umsetzungsweise spezifiziert, also in ihrer Art bestimmt – wie oben unter [4] –, dann ist primär der Verstand ursächlich dafür anzusehen, dass es überhaupt zu Bewegung (im Sinne von Willenstätigkeit) kommt: Es ist nämlich das als wahr aufgefasste Gute, das als Zielvorgabe wirkt – das nur augenscheinliche und nicht irgendwie für wahr genommene Gute bewirkt dagegen gar nichts. [4.3] Zweite Betrachtungsperspektive: Richtet man das Augenmerk jedoch auf das, was die Tätigkeit nicht nur veranlasst, sondern auch ausübt – vgl. unter [5] –, so ist primär der Wille für die Bewegung als ursächlich anzuerkennen (dies ist auch der Fall, den q.3.a.3 ins Auge fasst). Es ist nämlich so, dass Tätigkeiten, die vollführt werden, um ein Mittel einzulösen, das selbst einem Ziel dienen soll, eben letztlich nur von diesem Ziel her motiviert sind. Die Kunst zur Kriegsführung sei es etwa, die die Technik der Zaumzeugfertigung zum Tätigsein bringt, zitiert Thomas in einem etwas archaisierenden Beispiel den Aristoteles.30 Ähnlich wird Thomas später (in q.13 a.4, aber auch sonstwo des Öfteren) Aristoteles mit der Bemerkung wiedergeben: Jemand, der einen Ehebruch begeht, um einen Diebstahl zu vollführen, sei (auch übrigens, wenn es dann letztlich gar nicht zum 28 29
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Rolf Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, S. 68. Vgl. Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/Christina Van Dyke: Aquinas’s Ethics, S. 62: “Thus, our intellect involves the capacity to cognize being and to understand it as good; the will is the appetite specifically directed toward what the intellect presents to it under the description of ‘good’”. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a: Zaumzeugfertigung und andere solche Fertigkeiten seien der Reitkunst untergeordnet und diese als militärische Fertigkeit der Feldherrnkunst usw.
138 Frage 6: Interpretation Diebstahl kommt) eher ein Dieb als ein Ehebrecher.31 So sehr scheint also ein Ziel die Mittel umgreifen und durchdringen zu können, die es für sich zum Einsatz bringt. – Jedenfalls: Auf eben diese Weise bewegt der Wille nach Thomas durch die Erfassung und Inaussichtstellung des Guten, also der vornehmlichsten Zielursache, alle anderen seelischen Vermögen (wie den Verstand) – und auch sich selbst (movet voluntas et seipsam et omnes alias potentias): „Ich erkenne nämlich, weil ich will“, fasst Thomas diese finale Priorität zusammen. (Ähnlich sagt er in der Summa contra Gentiles I 72: „Wir erkennen nämlich, weil wir wollen und betätigen unsere Vorstellung, weil wir wollen, und genauso bei allem anderen“.32) Was später noch deutlicher werden wird, ist: ‚ich könnte mich ja auch willentlich einer Erkenntnis schlicht verschließen‘. Man könne das auch daran erkennen, so Thomas weiter, wie sich der Mensch dem Habitus gegenüber verhält: nämlich, indem er sich des Habitus bediene, wenn und wann er wolle. „Daher bestimmt Averroes den Habitus in seinem Kommentar zum dritten Buch von [Aristoteles’] Über die Seele auch so, dass ein Habitus das ist, was jemand 33 gebraucht, wenn er will“. Hannah Arendt hat dies geradezu als den psychologischen Fixpunkt jeder philosophischen Erklärugng des Willens verstanden: „Denn […d]er Geist wird nicht bewegt, wenn er nicht bewegt werden will“. Was vorher schon im Hinblick auf die Frage des gegenseitig bedingenden Verhältnisses von Verstand und Wille deutlich zutage trat, tut dies hier in der Darstellung des Willens als Bewegkraft aller anderen spezifisch menschlichen Vermögen nur noch umso deutlicher: Es ist eine Lehre vom Willen als universaler Ursache und als unabdingbarem Begleitvermögen aller Vermögen, die sich Thomas hier zu eigen macht. Das blickt philosophiegeschichtlich auf Augustinus und die ihm nachfolgende Tradition zurück und weist auch unmittelbare Berührungspunkte mit derjenigen Tradition auf, die diese „voluntaristische“ Sichtweise später als Reaktion gegen eine als allzu „intellektualistisch“ bekämpfte Willenstheorie der aristotelischen Denkrichtung vorbrachte,35 der ja auch gemeinhin Thomas zugerechnet wird. Man ersieht aus diesem wie aus zahlreichen anderen 34
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Aristoteles, Nikomachische Ethik 1134a, mit dem Fazit: „Es ist also möglich, dass einer stiehlt, ohne ein Dieb zu sein, oder die Ehe bricht, ohne ein Ehebrecher zu sein“. Diese Priorität des Willens als eigentlich bewegendes Vermögen im Reigen der anderen psychischen und geistigen Vermögen findet sich auch in S.th I q.82 a.4 und anderswo. Eine kurze Übersicht von Stellen aus dem Werk von Thomas’ Lehrer Albertus Magnus, die diesen Gedanken (zu Recht) mit Augustinus und Anselm von Canterbury in Verbindung bringen, bietet Rolf Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, Anm. 52 zu S. 69. So schreibt Thomas auch in seinem Kommentar 18 zu Aristotelesʼ De anima III: habitus est quo quis utitur cum voluerit. Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München/Zürich 2006, S. 104. Vgl. dazu Rolf Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, S. 69.
139 Beispielen, dass philosophiehistorische Etikettierungen dieser und ähnlicher Art kaum jemals sinnvoll angewendet werden können.
Frage 6: Interpretation
[5] Nun möchte Thomas ja zeigen, dass der Wille nicht mit Notwendigkeit in Bewegung versetzt wird. Dazu wird es angeraten sein, das intrikate Phänomen der Willensbewegung sowohl hinsichtlich der Ausübung der Tätigkeit – wie oben als erste Alternative vor der Betrachtung von Seiten des Objekts genannt – zu untersuchen, deren Subjekt er ist [5.1], als auch hinsichtlich der spezifizierenden Formung der Tätigkeit, wie sie vom Objekt her geschieht, ins Auge zu fassen [5.2]. [5.1] Der Wille ist als vernünftiges Vermögen eine Singularität innerhalb der natürlichen Welt: Denn er kann nicht nur, wie eben gezeigt, andere Vermögen in Bewegung bringen, sondern er bringt – das ist nun sein Alleinstellungsmerkmal – auch sich selbst in Bewegung: voluntas movetur a se ipsa. Das heißt nun keineswegs, dass der Wille in Bezug auf ein und dasselbe in Möglichkeit verharrt und gleichzeitig verwirklicht ist, das heißt dadurch, dass er sich selbst bewegt, in Hinsicht auf ein und dasselbe in Potenz und aktual ist. Bewegung ist nämlich nichts weiter als die Überführung einer Potenz in einen Akt, einer Möglichkeit in eine Wirklichkeit. Ein Selbstbeweger wäre dann strenggenommen etwas, das zu seiner eigenen Verwirklichung in Potenz steht, was aber nicht angeht. Vielmehr setzt der Mensch dadurch, dass er etwas schon tatsächlich – aktuell – will, sich selbst auf etwas anderes hin in Bewegung. Zu diesem anderen verhält er sich also potentiell und möchte diese Möglichkeit in Wirklichkeit überführen. Thomas führt dies beispielhalber anhand des Trinkens bitterer Medizin aus: 36
Ähnlich, wie der Mensch sich etwa dadurch, dass er seine Gesundheit will, anschickt, einen Trank trinken zu wollen: Da er nämlich die Gesundheit will, beginnt er, mit sich selbst zu Rate zu gehen (incipit consiliari), ob dieser wohl zuträglich ist, und trifft aus der Überlegung dann die Entscheidung, dass er einen Trank einnehmen will.
Die Abfolge im Willensentschluss ist also: Der Mensch will Gesundheit – hier entspricht der Wille noch einer allgemeinen natürlichen Tendenz. Deswegen beginnt er zu überlegen, was der Gesundheit zuträglich ist. Das Ergebnis der Überlegung erzeugt den Willen, einen bestimmten Trank einzunehmen. Also geht der Wille, der überlegen will (der nämlich zur Gesundheit oder Gesundheitserhaltung), der Überlegung voran (welches die Mittel und Risiken dazu sein könnten),
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Was hier genau was aktiviert und was im Willen genau die Vorlage bilden muss, damit es zur eigentlichen Willenstätigkeit des Wählens kommt, wird bei Thomas dann vor allem im Abgleich mit seiner Handlungstheorie deutlich. Vgl. dazu den Anhang 1.
140 Frage 6: Interpretation die einen Willensentschluss ermöglicht (in diesem Fall: einen heilkräftigen Trank einzunehmen).37 Mit anderen Worten: Der Wille aktiviert auf dem Weg beratschlagender Überlegung38 den Willensentschluss selbst. Das ist auch der Grund dafür, warum Thomas sagen kann, dass sich der solcherart selbstbewegende Wille nicht aus Notwendigkeit bewegt (non ex necessitate voluntas se ipsam movet). Denn der Wille setzt sich ja durch ratholende Überlegung (consilio) in die Tätigkeit um, die man den Willensentschluss nennen könnte. Eine solche Überlegung ist aber keine Entschlussgewinnung, die aufgrund von Beweiskraft zu einem Ergebnis zwingen würde. Vielmehr lässt das überlegende zu Rate Gehen als eine Befragung von Möglichem gerade auch einen anderen und sogar gegensätzlichen Weg erkennen, der ebenfalls im Bereich des Denkbaren und Umsetzbaren liegt und gleichfalls erwägt werden kann (consilium autem est inquisitio quaedam non demonstrativa, sed ad opposita viam habens – was es mit der ratschlagenden Überlegung als Selbstbefragung auf sich hat, erläutert Thomas näher in S.th I-II q.14 a.1). Der Wille hat also ein freies Feld der Wahl zwischen dem, was die Überlegung auf dem Weg zu ihrem Ergebnis bietet. Und er kann zugreifen, wo er möchte.39 Thomas hat anderswo darüber gehandelt, dass das zu Rate Gehen mit sich selbst in diesen Wahlüberlegungen sich insbesondere auf die Wahl der Mittel bezieht, darauf also, wie man es bewerkstelligen kann und soll, diese oder jene Handlungsmöglichkeit bevorzugt auszuführen. Dies ist nicht nur, aber auch als Prozess zu sehen, der ungeeignete40Möglichkeiten auf verschiedenen Durchgangsstufen der Überlegung aussortiert. Interessant ist dabei aber unter anderem, dass sich in diesem Prozess die reflexive Struktur des Willens bei Thomas fassbar machen lässt, und damit – da Reflexivität das exklusive Merkmal des Vernünftigen ist – der Erweis erbracht wird, dass es sich beim Willen41um ein rationales Vermögen handelt, worauf Thomas wiederholt viel Wert legt. In der Wahl der Mittel macht nämlich der Wille sein eigenes Vermögen, eine Wahl zu treffen, zum Gegenstand seiner Wahl, er kann also nur dann wählen, wenn er wählt, zu 37
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Eine detaillierte Darstellung dieser Abfolge in einem lesenswerten Kurzabriss der Handlungstheorie bei Thomas liegt vor in Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/Christina Van Dyke: Aquinas’s Ethics, S. 84. Vgl. dazu auch die ausführlichen Erläuterungen bei Stephen L. Brock: Action and conduct. Thomas Aquinas and the theory of action, S. 202-203, und Daniel Westberg: Right Practical Reason., S. 74. Zum consilium vgl. vor allem Daniel Westberg: Right Practical Reason, S. 165-174. Vgl. Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/Christina Van Dyke: Aquinas’s Ethics, S. 83, zur Rolle von consilium und electio bei Thomas. Vgl. dazu Ralph McInerny: Aquinas on Human Action, S. 54 und 64. So etwa S.th. I-II q.6 a.2 ad 1: voluntas nominat rationalem appetitum. Zu weiteren Belegstellen und deren Diskussion vgl. zum Beispiel Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 82-88.
141 wählen. Dies ist das erste Vermögen zu wählen, das dem zweiten Vermögen, nämlich dank dieses ersten Vermögens nun an eine qualifizierte Wahl der vom Verstand vorgelegten Formvorgaben zu gehen, zugrunde liegt. In der Wahl der Wahl bezieht sich der Wille also in seiner Eigenschaft als rationales Vermögen als Verursachungsvermögen auf sich selbst, nimmt sich selbst in diesem Vermögen wahr und fällt in Anbetracht seiner Funktion und Tätigkeit ein Urteil über seine Vollzüge.42 Dass dieses Urteilen in Selbstwahrnehmung dabei selbst schon einer dieser Vollzüge ist, macht als eine der Tätigkeiten des Willens seine reflexive Struktur deutlich. Diese wiederum erklärt, wie und warum der Wille als wählender sowohl eine konstitutive wie eine regulative Rolle hat, warum er ein rationales Vermögen darstellt, das in zweierlei Hinsicht wirken kann: (a)43überhaupt aktiv oder inaktiv zu sein, und (b) dieses oder jenes aktiv zu betreiben. Der Wille kann sich also auf vieles verlegen, nicht nur auf die „äußeren“ Gegenstände seines Strebens. Dass sich der Wille auch auf sich selbst verlegen kann, ist eine bemerkenswerte Ergänzung, die in De malo q.6 die Liste der Bezugsobjekte des Willens erweitert und verdeutlicht, welche man in der Summa theologiae findet. Dort heißt es: Frage 6: Interpretation
Wesensgemäß will der Mensch nicht allein den Gegenstand seines Wollens, sondern auch anderes, das anderen Vermögen zukommt: So die Erkenntnis der Wahrheit, die zum Verstand gehört, sowie das Sein und das Leben und anderes von der Art, was dem Selbsterhaltungstrieb zugehört; all diese gehören genauso zum Bereich, auf den sich der Wille verlegt, und zwar als einzelne Güter des Willens.44
Es ist auf den ersten Blick nicht ganz einfach, sich das Spiel zwischen Formvorgabe durch den Verstand und willentlicher Behandlung dieser Vorgabe durch den Willen in einer Weise plausibel vor Augen zu halten, die gleichzeitig einrechnet, dass es sich bei Verstand und Wille um zwei Vermögen ein und derselben Vernunft handelt. Was sich anbietet, ist vielleicht ein Vergleich mit einem Schema politischer Gewaltenteilung als zweier konstitutiver Instanzen innerhalb ein und desselben politischen Systems45: Die Verstandesvorgabe würde dabei bis zu ei42
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Der Zusammenhang (oder Parallelismus?) von Freiheit des Willens und Entscheidungsfreiheit im Urteilen wurde bereits des Öfteren festgestellt. Tatsächlich ist der Grund der Entscheidungsfreiheit im reflexiven Vermögen des Menschen zu sehen, über seine Urteile urteilen zu können: Vgl. Yul Kim: Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin, S. 8794 (mit Belegstellen aus den Werken des Thomas von Aquin). Vgl. dazu Daniel Westberg: Right Practical Reason., S. 75-76. S.th. I-IIae q.10 a.1: naturaliter homo vult non solum obiectum voluntatis, sed etiam alia quae conveniunt aliis potentiis; ut cognitionem veri, quae convenit intellectui; et esse et vivere, et huiusmodi alia, quae respiciunt consistentiam naturalem; quae omnia comprehendentur sub obiecto voluntatis sicut quaedam particularia bona.
Das liegt auch deshalb nahe, weil Thomas selbst gerne innerpsychische Vorgänge mit politischen Vergleichen verdeutlicht: “it is worth noticing from the outset how many of the
142 Frage 6: Interpretation nem gewissen Vergleichsgrad einer legislativen Verordnung entsprechen, die der judikativen Gewalt zur Umsetzung in bestimmten zu entscheidenden Fällen vorliegt. Wobei es hier, ähnlich wie bei gerichtlichen Verfahrenseröffnungsverhandlungen, in der Überlegung auch zunächst einmal darum geht, ob überhaupt ein Verfahren eröffnet wird, das heißt ob etwa die allgemeine gesetzliche Vorgabe (oder eben die Verstandesvorgabe) auf diesen einzelnen Fall in irgendeiner Weise zutrifft. Wenn ja, so46hat die judikative Instanz (genauso wie im Vergleichsumsetzungsfall der Wille ) den Entscheid für diesen Einzelfall im Rahmen der fallunspezifischen gesetzlichen Vorgabe zu treffen, indem die Überlegung um Fragen kreist wie, was und ob Umstände, Motive, Handlungsergebnisse, Billigkeitserwägungen, der „Geist des Gesetzes“ und anderes mehr für diesen Fall eine Bedeutung haben, um dann zu einem Urteil in diesem Einzelfall zu kommen und eine entsprechende Aktion anordnend festzusetzen. (Falls man das Beispiel trotz aller seiner Vergleichsdefekte weiterspinnen wollte, so würde sich für die Rolle der Exekutive in der Theorie politischer Gewaltenteilung auch bei Thomas ein Pendant in der Handlungstheorie finden, nämlich der usus, was hier eher „Ausführung“ als „Gebrauch“ meint, da Thomas in seiner Zentralpassage zur Handlungstheorie in der Summa Theologiae wörtlich sagt: „Der Gebrauch von etwas bedeutet die Anwendung davon auf eine Tätigkeit, weshalb 47auch die Tätigkeit, die wir etwas zuschreiben, dessen Ausführung genannt wird“. – Aber das führt bereits vom Thema ab.) Hatte Thomas bis hierher schon einen recht gedrängten Gedankengang geboten, so ist das, was darauf folgt, eine geradezu schmerzhafte Zusammenfassung eines schwer verständlichen Argumentausbaus. Dieser zeigt immerhin, wie sich Thomas nicht damit zufrieden gibt, ein Argument nur vorläufig in einen sicheren Hafen zu bringen. Er möchte es ganz offenbar nach Hause einfahren. – Der Wille, so hebt diese weitere Argumentausführung im Anschluss an den Passus zur ratschlagenden Überlegung im Entschlussprozess an, möchte aber gar nicht ständig
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elements in the analysed structure are named, by Aquinas but following ordinary language, with terms of which are central to political discourse. Plato’s guiding thought, that the polis is the human being writ large, and each of us a polis writ small, here finds some commonsense confirmation” (John Finnis: Aquinas. Moral, Political, and Legal Theory. Oxford 1998, S. 63). Auch hier – und hier ganz besonders – ist darauf zu achten, dass diese Umsetzung nur bis zu einem bestimmten Vergleichsfall sinnvoll ist. So kann der hier angebotene Vergleich ja nicht einfangen, dass der Wille nach den Worten von Thomas das initiative Vermögen schlechthin ist, das alle anderen in Bewegung zu setzen imstande ist. S.th. I-II q.16 a.1: usus rei alicuius importat applicationem rei illius ad aliquam operationem, unde et operatio ad quam applicamus rem aliquam dicitur usus eius. Dazu Daniel Westberg: Right Practical Reason, S. 175-183 (Westberg handelt – wohl mit Recht – imperium und usus bei Thomas unter dem zusammenfassenden Begriff der “execution of the act” ab).
143 überlegen. Vielmehr müsse er dazu angehalten werden, die Überlegung vorzunehmen. Er muss im Sinne eines qualifizierten Ergebnisses der Wollenshandlung ständig dazu bewegt werden, überlegen zu wollen. Aber: bewegt wovon? Nun, der Wille bewegt sich ja selbst, wie weiter oben ausgeführt, und seiner freien Wahl liegt in einem bestimmten Sinne und in anderer Hinsicht sein Vermögen zuvor, frei zu wählen. Er wird also von sich selbst dazu bewegt, bei sich beratend überlegen zu wollen. Das setzt nun, wie alle Bewegung des Willens durch sich selbst nach der eben gezeigten Funktionsweise dieser Selbstaktivierung, voraus, dass dieser willentlichen Bewegung wieder ein Zurategehen vorgängig ist und ein Zurategehen der Willenstätigkeit vorausgeht; und da dies nicht unendlich so weitergehen kann (dass das eine das andere voraussetzt und dieses wiederum das eine usw.), so ist notwendig anzunehmen, dass insofern der erste Bewegungsanstoß des Willens betroffen ist, dieser Wille bei einem jeden, der ja nicht immer aktuell im Wollen begriffen ist, von etwas ihm Äußerlichem in Bewegung gebracht wird, durch dessen Antrieb der Wille zum Wollen gebracht wird.48 Frage 6: Interpretation
Wer möchte, könnte dies nun tatsächlich als einen „intellektualistischen“ Vorbehalt bei Thomas verbuchen. Jedenfalls wird hier der weiter oben stark herausgestellte Primat des Willens innerhalb der psychischen Vermögen wieder im ausgleichenden Hinblick auf das menschliche Verstandesvermögen gesehen. Es ist ja typischerweise Sache des Verstandes, zu erkennen, und eben auch, wie gesehen, zu erkennen, was gut ist, also das Ausrichtungsobjekt des Wollens erst einmal geistig zu erfassen. Hier lauert nur auf den ersten Blick die Gefahr eines vitiösen Zirkels. Vielmehr kann Thomas die Verursachungsweisen der beiden beteiligten Vermögen erklärungsdienlich unterscheiden: Der Wille bewegt die Verstandestätigkeit als Wirkursache, der Verstand den Willen dagegen final, zweckursäch49 , die auch hier wieder passende Ergänzungslich. In der Summa contra Gentiles
und Vergleichsstellen zu den Gedankengängen von De malo bietet, wird daraus ein Argument dafür, dass jedes verstandesmäßig tätige Wesen auch einen Willen haben muss, und jedes willentlich handelnde einen Verstand (I 72). 48
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Cum ergo voluntas se consilio moveat, consilium autem est inquisitio quaedam non demonstrativa, sed ad opposita viam habens, non ex necessitate voluntas seipsam movet. Sed cum voluntas non semper voluerit consiliari, necesse est quod ab aliquo moveatur ad hoc quod velit consiliari; et si quidem a seipsa, necesse est iterum quod motum voluntatis praecedat consilium, et consilium praecedat actus voluntatis; et cum hoc in infinitum procedere non possit, necesse est ponere, quod quantum ad primum motum voluntatis moveatur voluntas cuiuscumque non semper actu volentis ab aliquo exteriori, cuius instinctu voluntas velle incipiat. Vgl. zur Veranschaulichung das Schema der Selbstbewegung des Willens im Zusammenspiel mit der Verstandesvorgabe bei Yul Kim: Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin, S. 154.
144 Frage 6: Interpretation Die formale Struktur dieses Gedankens ist die eines Gottesbeweises, und eigentlich handelt es sich ja auch um einen solchen, nämlich um den „ersten Weg“ des Erweises von Gottes Dasein in der S.th (I q.2 a.3), der aus der Bewegung in der Welt argumentiert, aus der Vollendung einer Möglichkeit, wie Thomas aristotelisch den Bewegungsbegriff fasst. Hier wird nun für die Diskussion um den Willen in Absehung von der äußeren Welt nur die innere Bewegung zum Ausgangspunkt genommen, also die innerliche Selbsterfahrung des Menschen als Ansatz desselben Argumentgangs gewählt, was einen recht unkosmologischen Argumentationsgang ergibt. Tatsächlich kommt Thomas unter Berufung auf Aristoteles50 zu dem Schluss, dass das, was das Wechselspiel von beratschlagender Überlegung und Willen in Bewegung bringt, etwas den Willen und den Verstand Übersteigendes sein muss, nämlich Gott. Dieser kann als eine gegenüber Verstand und Wille „eminente“ Ursache angesehen werden (wie Descartes sagen würde,51 und zwar an nicht unähnlicher Argumentationsstelle seiner Meditationen). Als eine Ursache also, in der selber nicht nur gleichviel, sondern mehr enthalten ist als im Verursachten.52 [5.1.1] Dagegen hatte Thomas unter Berufung auf (nicht nur) antike Ansichten, die zum Beispiel auch in der Schrift des Aristoteles Über die Seele dargetan werden,53 die Frage gestellt, ob es denn nicht etwa unter den Dingen des körperlichen Kosmos so einen Erstbeweger für den Willen geben könne. Das aber könne nur jene überzeugen, die meinten, der Verstand unterscheide sich letztlich in nichts 50 51 52
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Vgl. Aristoteles, Eudemische Ethik 1248a. Vgl. Descartes, Meditationen III 14-16; dazu Dominik Perler: Descartes, S. 190 u.ö. Vgl. dazu oben die Ausführungen zur äquivoken Verursachung in q.1 a.3 [1.2], und den Verweis auf Jörg Alejandro Tellkamp: Sinne, Gegenstände, Sensibilia. Zur Wahrnehmungslehre des Thomas von Aquin. Leiden/Boston/Köln 1999, S. 190. Vgl. dazu als Hauptbeleg vor allem Aristoteles, De anima 427a, wo etwa Empedokles als Kronzeuge zitiert wird; Thomas äußert sich dazu in seinem Kommentar zur Stelle (In de anima III lectio 4 § 617 und 621). Er führt hier des Näheren aus, wie und warum sich durch das simile simili-Prinzip die falsche Ansicht zu ergeben scheint, dass das Denken etwas Körperliches sei, da es doch eine Auffassungskette von den extramentalen Objekten her über die Sinne und die Wahrnehmung bis zum Denken gebe. Wenn hier aber das Prinzip des „Gleichen durch Gleiches“ gilt, so scheint es sich zu ergeben, dass das körperliche Objekt als „Gleiches“ auf die ebenfalls körperlichen Sinne wirke, diese auf die ihnen gleiche (also körperliche) Wahrnehmung, diese wiederum auf das ihr gleiche (also körperliche) Denken. Wenn das Objekt also im kosmischen Großzusammenhang von den Gestirnen beeinflusst wird, dann auch das Denken. Die Ablehnung dieser Ansicht bei Thomas weicht hier in De malo übrigens von Aristoteles ab und beschreitet einen anderen Weg (auch wenn Thomas der aristotelischen Begründung im Kommentar zu De anima durchaus zustimmt).
145 von den Sinnen, so Thomas.54 Denn dann wäre die Erstbeeinflussung rein auf der Ebene von Körperanstößen. Dass aber eine materielle Bewegung eine (viel höhere) Verstandes- oder Willensbewegung als Erstprinzip bedingen könne, ist für Thomas unplausibel. Nemo dat quod non habet, das Körperliche kann das Unkörperliche nicht hervorbringen oder bedingen. Nicht in dieser Weise zumindest. Frage 6: Interpretation
[5.1.2] Gott aber als eminente Ursache könnte das sehr wohl. Und er kann das unter gleichzeitiger Beibehaltung der Freiheit des Willens. Denn da Gott „alles nach der Art und Weise zu sein der bewegbaren Dinge bewegt – wie das Leichte nach oben und das Schwere nach unten – so bewegt er auch den Willen gemäß der Verfasstheit oder Bauart des Willens (etiam voluntatem movet secundum eius conditionem)“. Und das heißt, wenn man sich die Verfasstheit des Willens ansieht: „nicht aus Notwendigkeit, sondern als etwas, das sich festlegungslos auf Vieles hin ausrichten kann (non ex necessitate, sed ut indeterminante se habentem ad multa)“. Thomas zieht hier offenbar die Schöpfungslogik zu Rate: Wie Gott als einzige Ursache von allem alles hervorbringt, dieses Hervorgebrachte dabei allerdings real unterschieden von Gott bleibt und etwas Substantielles, ontologisch Eigenes, wenn auch Geschöpfliches darstellt (ein esse in se, ohne ein esse a se zu sein), so ist auch der Wille nach dem Willen Gottes in Erstbewegung 55
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Das war für den hier interessierenden Bereich aber allein schon durch den spezifischen Unterschied der forma intellecta gegenüber der forma apprehensa dargelegt worden; die Textstelle lautet im Ganzen und mit Verweis auf Aristotelesʼ De anima: ad evidentiam ergo veritatis circa hanc quaestionem primo considerandum est, quod sicut in aliis rebus est aliquod principium propriorum actuum, ita etiam in hominibus. Hoc autem activum sive motivum principium in hominibus proprie est intellectus et voluntas, ut dicitur in III de anima. Quod quidem principium partim convenit cum principio activo in rebus naturalibus, partim ab eo differt. Convenit quidem, quia sicut in rebus naturalibus invenitur forma, quae est principium actionis, et inclinatio consequens formam, quae dicitur appetitus naturalis, ex quibus sequitur actio; ita in homine invenitur forma intellectiva, et inclinatio voluntatis consequens formam apprehensam, ex quibus sequitur exterior actio: sed in hoc est differentia, quia forma rei naturalis est forma individuata per materiam; unde et inclinatio ipsam consequens est determinata ad unum, sed forma intellecta est universalis sub qua multa possunt comprehendi.
Dass dies formal möglich sein muss, zeigt der Vergleich damit, dass ja sonst auch die Freiheit der formal bestimmende Grund sowohl des freien wie des unfreien Handelns sein würde, was aber so kaum akzeptabel sein dürfte, oder nur unter Inkaufnahme einer gravierenden Beugung des Freiheitsbegriffs. Denn: Da der Mensch als freies Wesen handelt, kann er gar nicht anders als unter der Maßgabe der Freiheit handeln – und so kommt er der Freiheit nie aus (selbst wenn er sich entschiede, nicht frei zu handeln), er wäre somit und zumindest in dieser fundamentalen Hinsicht gerade und nur als freier gegenüber der Freiheit und aufgrund der Freiheit unfrei. Und somit wäre die Freiheit ursächlich dafür, dass der Mensch unfrei ist, weil er frei ist, wofür wiederum dieselbe Freiheit ursächlich ist.
146 Frage 6: Interpretation gesetzt, bewegt sich aber eigenständig und seiner eigenen Verfasstheit gemäß nach eigener Überlegung und eigenem Willensentschluss.56 Thomas schließt: „Es ist also offenkundig, dass solange man die Bewegung des Willens im Hinblick auf die Ausübung der Tätigkeit betrachtet, der Wille nicht mit Notwendigkeit bewegt wird (non movetur ex necessitate)“. [5.2] Die Initiative zum Tätigsein des Willens lässt sich aber auch von Seiten des Objekts betrachten, das den Willen wie ein Ziel in Bewegung versetzt. Thomas weist zunächst darauf hin, dass nur ein angemessenes oder entsprechendes und auch wahrgenommenes Gut(es), ein bonum conveniens apprehensum, dem Willen solch ein zielhaftes Objekt, einen in Bewegung versetzenden Ausrichtungsgegenstand, bieten kann. Was nicht wahrgenommen wird, und sei es nur als Vorstellung, das setzt den Willen auch nicht in Aktion. Doch auch das wahrgenommene Gute wird den Willen nicht in Bewegung versetzen, wenn es jetzt gerade oder je nach Situation für das Willenssubjekt bezugslos, indifferent oder belanglos ist. So ist Speise sicherlich etwas Gutes, das den Menschen am Leben erhält, ihn erfreut und anderes mehr. Dem vollkommen Satten aber wird dieses Gute als in seiner Situation bedeutungslos erscheinen, und genauso etwa einem zutiefst Trauernden. Es ist für beide eben kein angemessenes oder entsprechendes Gutes, und es bleibt daher in Bezug auf die Initiative zur Willensbewegung seltsam steril und bedeutungslos, die Willenstätigkeit wird in diesen Fällen also gar nicht angestoßen, da sich der Wille durch dieses Gute gar nicht angesprochen fühlt. Das bedeutet nicht, dass ein solches Gutes, wie etwa im hier gegebenen Beispiel, aufhört, etwas Gutes zu sein – auch der Satte würde so etwas ja als Allgemeinbehauptung genauso wenig vertreten wie der Trauernde. Doch verliert das unbestreitbar Gute hier seine in Bewegung versetzende Kraft als Ausrichtungsgegenstand des Willens. Wie Thomas zusammenfasst:
Wenn einem daher irgendetwas Gutes vorgesetzt wird, das zwar auch als Gutes erfasst wird, nicht aber als angemessen oder tauglich (non in ratione convenientis), so wird das den Willen nicht in Bewegung bringen. Da jedoch Überlegungen und Wahlentscheidungen Einzelnes betreffen, worauf sich eine Tätigkeit bezieht, so ist es erforderlich, dass das, was als Gutes und Angemessenes wahrgenommen wird, auch als Gutes und Angemessenes im Einzelnen wahrgenommen wird und nicht nur ganz allgemein.57
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Das Thema wird von Thomas in den Einzelentgegnungen zu den Vorabeinwänden noch einmal näher diskutiert: zum Beispiel in De malo q.6 ad 3, ad 4 und ad 17. Vgl. dazu auch Franz-Josef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 96-97.
…unde si aliquod bonum proponatur quod apprehendatur in ratione boni, non autem in ratione convenientis, non movebit voluntatem. Cum autem consilia et electiones sint circa particularia, quorum est actus, requiritur ut id quod apprehenditur ut bonum et conveniens, apprehendatur ut bonum et conveniens in particulari, et non in universali tantum.
147 [5.2.1] Die Erfassung des Allgemeinen ist dabei wie gesehen die Verstandesvorgabe an den Willen. Der Aspekt des Angemessenen rechnet demgegenüber die Variation mit ein, dass der Wille sich ja nur an Einzelnem ausrichtet, auf das er sich unmittelbar verlegt. Dieses Einzelne steht dann, so besagt diese Stelle, unter der Maßgabe des Jenachdem, das den Handelnden und seine jeweils andere Situation, Bedingtheit oder Verfasstheit miteinbezieht. Gutes wie etwa Speise wird also je nachdem, oder „bezüglich der Einzelheiten“ (secundum particularia), wie Thomas hier sagt, vom Willen auch von mal zu mal als Gutes selbstinitiativ angesteuert. Ließe sich nun ein Gut ausmachen, das „bezüglich aller Einzelheiten“ oder „hinsichtlich aller Einzelvorkommnisse“ (secundum omnia particularia), das heißt: in jeglichem erdenklichem Einzelfall und – nicht unabhängig von, sondern – in jeder Situation, vom Willen als Gutes ausgemacht und angenommen würde, also immer und unter jedem Aspekt angemessen wäre, so ergäbe sich Folgendes: Dieses außergewöhnliche Gute würde den Willen als Ausrichtungsgegenstand ohne Ausnahmefall in Bewegung bringen, oder, was dasselbe ist: mit Notwendigkeit. Deswegen, so Thomas mit Bezug auf Augustinus (De Trinitate XIII 3), „strebt der Mensch mit Notwendigkeit nach dem Glücklichsein (beatitudo), das nach Boethius ‚der vollkommene Zustand im gleichzeitigen Zusammensein all dessen, was gut ist‘ darstellt“.58 Diese Eigenart des Glücks, die volle Palette alles unter allen Umständen Guten zu bieten, macht es also aus, dass das Glück den Willen unausweichlich bewegt, denn es kann dann keine dem Glück entgegenstehende Einzelentscheidung geben – ganz anders als bei Speise und anderen Gütern im Einzelnen eben. Unter diesem Aspekt 59 Frage 6: Interpretation
ist das Glück also ein (wohlgemerkt letzter, letztbedeutender! ) Ausrichtungsgegenstand, dem gegenüber als Ausrichtungsgegenstand sich der Wille unfrei verhält: Er kann gar nicht anders, als ihn anzustreben, als sich auf ihn hin in Bewe-
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Das von Thomas angeführte Boethius-Zitat stammt aus De consolatione philosophiae III pr.2. In S.th. I-II q.3 a.2 beruft sich Thomas auf diese Boethius-Stelle, um eine eigene, stärker aristotelisierende Bestimmung von beatitudo zu geben als „letzter Vollendungsvollzug des Menschen“ (ultima hominis perfectio, wobei perfectio dann eben ausdrücklich als esse in actu, als Sein im Vollzug, spezifiziert wird). An selber Stelle präzisiert Thomas auch, dass eine Vollendung insbesondere als eine Tätigkeit aufzufassen ist, als operatio. Das wiederum zeigt, wie die Rede von „Gütern“ bei Boethius zu verstehen sein soll: nicht (nur) als externe Besitzgüter, sondern als Vollzugsgüter, wie etwa das Gut der Dankbarkeit eines ist. Dass und wie dieses Glück nicht mehr begründend hintergehbar ist, stellt Thomas in eine alte Traditionsreihe, die spätestens seit Platon feststellt: „es kann gar keine weitere Frage mehr sein, warum denn jemand glücklich sein will, der es sein will, vielmehr scheint damit eine abschließende Antwort gegeben zu sein“ (Symposion 205e).
148 Frage 6: Interpretation gung60zu versetzen. Hier also steht der Wille tatsächlich unter einer Notwendigkeit. Thomas hatte damit aber eigentlich nur genauer erläutert, was er im Verlauf der q.6 schon (mehrmals) gesagt hatte: Der Wille folgt einer Vernunftmaßgabe. Doch betont Thomas jetzt noch einmal zusätzlich die Unterscheidung der Hinsichten, die er im Vorlauf argumentdienlich vorgenommen hatte: Diese Notwendigkeit, unter der der Wille hier steht, betrifft diesen nur insofern, als das Gegenteil des Glücklichseins nicht gewollt werden kann, oder, wie Thomas sagt, „hinsichtlich der Bestimmtheit der Tätigkeit“ (quantum ad determinatione actus), also ähnlich – wenn auch nicht ganz genauso – wie das Auge im eigens von Thomas angegebenen Vergleichsbeispiel nicht weiß sehen kann, wo nur Schwarzes ist. Das aber sagt noch nichts über die Ausübung der Tätigkeit – das exercitium actus – aus. Diese bleibt frei und ist nicht derselben Notwendigkeit unterworfen – so wie jemand, der nicht hinsieht, auch nicht gezwungen ist, Schwarzes zu sehen. Der Wille nämlich bleibt in seinem Vermögen, sich selbst ins Tätigsein zu versetzen, auf sich selbst und die eigene initiative Maßgabe dazu verwiesen. Der Wille kann die Wollenstätigkeit ausüben oder nicht, und zwar lediglich in der Selbstverwiesenheit darauf, ob er will und wann er will. Der Wille ist also, wenn er sich in Tätigkeit begibt, an die formalen Vernunftmaßgaben gebunden. Doch ist er gegenüber der Vernunftmaßgabe soweit unabhängig, dass er sie gar nicht erst annehmen kann, um sich überhaupt mit ihr zu beschäftigen. Ähnlich wiederum wie – im bereits hilfsweise konstruierten modernen Vergleichsbeispiel – die Unabhängigkeit der Judikative gegenüber der Legislative nicht darin besteht, sich über die Maßgabe der Gesetze hinwegsetzen zu können. Sondern eben darin, sie im Einzelfall erst überhaupt nicht zur Anwendung kommen zu lassen, etwa, wenn ein Gerichtsverfahren gar nicht erst eröffnet wird. Und dies gilt nun tatsächlich auch für den extremen Fall des situationsunabhängig in der Vollständigkeit aller Hinsichten und Belange Guten, also des Glücks – weil nämlich jedermann, nach Thomas, zu jedem gegebenen Zeitpunkt „nicht an das Glücklichsein denken wol60
Es wird noch zu sehen sein, warum dieses Glücksstreben, obwohl notwendig, die Freiheit nicht aufhebt. Dass Notwendigkeit im Einzelaspekt Freiheit und damit die Möglichkeit moralischen Handelns nicht von Vornherein aufheben muss, ersieht man etwa daran, dass sonst auch die Wesensvorgabe, ein moralisch handlungsfähiges Wesen zu sein, die dem Menschen die Notwendigkeit vorgibt, entweder moralisch, unmoralisch oder nichtmoralisch zu handeln, ihm somit eine freie Wahl gegenüber dem Moralischen wegnähme und gerade die freie Wahl im Moralischen ihn unfrei gegenüber dem Moralischen machte: Er wäre unfrei, weil er der Freiheit nicht aus kann (siehe auch oben Fußnote 52). Vgl. zum Verhältnis von Wesensbestimmung und Freiheit in Bezug auf Thomas von Aquin auch Franz-Josef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 90-91.
149 len kann, da auch die Tätigkeiten des Verstandes und des Willens selber wiederum einzelne sind“.61 Im Hintergrund solcher Überlegungen stehen bei Thomas unter anderem auch formal vergleichbare und mit der gerade beschriebenen Auffassung in Zusammenhang stehende Modelle wie sie seiner Lehre von dem unterliegen, was man im Deutschen undifferenziert als „Gewissen“ bezeichnet und wofür Thomas mit der scholastischen Tradition synderesis und conscientia unterscheidet, also grob gesprochen: das für alles Moralische grundlegende Gewissen und das davon abhängige situative Gewissen für jeweilige moralische Fragen. Während das erstgenannte über die Prinzipien moralischen Handelns keinen Zweifel lässt (also etwa darüber, dass man Gutes tun und Böses lassen soll) und stets normativ präsent ist, handelt es sich beim zweiten um ein „erwägendes“ Gewissen der Anwendung auf einen Einzelfall, das im Handlungsanspruch und durch ihn aktiviert wird und für die moralische Erwägung in Kraft tritt. Hier insbesondere ist der „Gewissensspruch“ zu suchen, denn, so sagt das scholastische Adagium, omnis operatio est circa particularia, jede Tätigkeit betrifft Einzelnes (nicht Universelles). Während man in den Prinzipien des Handelns überhaupt als Mensch dank der synderesis gar nicht fehlgehen kann, ist die conscientia eher Ausbildungssache und kann von Mensch zu Mensch und von Handlungsfeld zu Handlungsfeld an Intensität variieren.62 Tatsächlich hat das Gewissen als conscientia die spezifische Glücksauffassung der aristotelischen Ethik als Kriterium: Das Gewissen „meldet sich“ dort, wo im Handlungsvollzug eine Inkongruenz zwischen dem gerade bewusst Verrichteten und dem Gelingen des Lebens aufscheint.
Frage 6: Interpretation
[5.2.2] Das erreichte Glück – oder die „Glückseligkeit“, beatitudo – ist nun aber ein Intensivfall, eine Singularität. Für gewöhnlich hat es der Wille qua Einzel61
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Das alles mag historisch gesehen seinen Bezug auf die Diskussion um die Pariser Lehrverurteilungen des Intellektualismus im Jahr 1270 haben, ist aber auch ohne die interpretative Zuhilfenahme dieses historischen Rückbezugs sachlich einwandfrei erklärbar; Näheres dazu lässt sich in guter Zusammenfassung nachlesen bei Daniel Westberg: Right Practical Reason, S. 89-91. Ähnlich Yul Kim: Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin, S. 147f. Für eine gute Zusammenfassung der auch für Thomas bedeutsamen Freiheits- und Willensdebatten vor 1277 vgl. die lesenswerte Zusammenfassung bei Jörn Müller: Heinricht von Gent, Quaestiones quodlibetales/Ausgewählte Fragen zur Willensund Freiheitslehre. Freiburg 2011, S. 11-30. Zur Gewissensfrage bei Thomas vgl. vor allem S.th. I q.79 a.12 und a.13, sowie Scriptum super libros Sententiarum II d. 24 q.2 a.2 und a.3. Über der vieldiskutierten Frage, ob bei Thomas das „irrende Gewissen“ verpflichtend sein kann, steht methodisch, dass Thomas in S.th. q.19 a.5 klar macht, der Wille sei immer böse, wenn er von der Vernunft abweiche, egal ob diese richtig liege oder irre. Weitere treffende Ausführungen bezüglich dieser Frage finden sich bei Robert Spaemann: Einleitung zu Thomas von Aquin: Über die Sittlichkeit der Handlung, S. xiv-xvi.
150 Frage 6: Interpretation vollzug mit solchem Guten und mit solchen Gütern zu tun, die keineswegs hinsichtlich aller Einzelheiten und Partikularfälle als gut gelten können, das heißt, die als Gut je nachdem, secundum quid, gelten müssen und je nach Einzelfall als angemessen gut zu werten sind oder nicht. Man ersieht daraus, dass der Aspekt der Angemessenheit streng genommen unter den des Guten eingerechnet werden kann, was der Text und die Formulierung bei Thomas hier auch anzeigen. Wirklich und unmissverständlich gut ist nur das, was jeweils auch angemessen in particulari ist. Hier ist von einer Notwendigkeit der Willensentscheidung für gerade dieses bestimmte Gute gar nicht auszugehen. Was nicht in allen Einzelentscheidungen als gut anzuerkennen ist, bewegt also auch nicht notwendig hinsichtlich der Bestimmtheit des Aktes, der determinatio actus. Der Wille wird hier nämlich eine abwägende, aus dem inneren Zurategehen mit sich selbst, dem consilium, entspringende Entscheidung je nachdem treffen und etwa feststellen, dass „was etwas Gutes für die Gesundheit darstellt, nichts Gutes für die Freudenempfindung darstellt“. So ist oftmals ein weiteres Bier schlecht für die Gesundheit, wenn man das zu erwartende Kopfweh an nächsten Morgen in Betracht zieht, es ist jedoch von Fall zu Fall für die weiterhin gute Stimmung am Abend in geselliger Runde durchaus sehr gut. Das trifft aber noch keine Vorentscheidung, ob nun ein weiteres Bier getrunken wird oder nicht, und es bedingt schon gar nicht einen notwendigen Bedingungsablauf des Wollensentscheids des Zechers. Der Entscheid wird zum Beispiel davon abhängen können, wie launig genau die Runde ist, wie wichtig ein klarer Kopf am nächsten Morgen, wie gut der Tag verlaufen ist oder ähnlichen inneren Zuständen und äußeren Umständen. – Für Thomas und viele andere ist dies übrigens nur die aufs Negative, das heißt eigentlich auf die Erklärung des Üblen, gemünzte Variante eines Gedankens, der die Kommensurabilität der menschlichen Handlungen garantiert und somit ein tragender Pfeiler der ethischen Theorie überhaupt ist. Die westliche Tradition benennt diesen Gedanken mit dem Terminus ordo amoris, also „Liebesordnung“ oder „Zuneigungsordnung“. Dieser „ordo amoris erhebt die natürlichen, endlichen Verhältnisse der Nähe und Ferne auf die Ebene sittlicher Verhältnisse“.63 Dieser ordo ergänzt den ordo rationis, die Vernunftordnung, von der Thomas wie gesehen ausgeht, so, dass man als solcher oder solcher Mensch moralisch unter Einrechnung seiner individuellen Parameter richtig handelt. Und so ist es zwar grundlegend richtig, dass unter einem universalisierten Vernunftaspekt jedes Menschenleben gleich viel wert ist und der Mensch dies auch erkennen kann – und muss; dass es aber gleichzeitig unter dem Aspekt des Menschlichen richtig ist (und dies ist eben der Erklärungsbeitrag des ordo amoris), dass es unbeschadet dessen gut und lobens63
Robert Spaemann: Einleitung zu Thomas von Aquin: Über die Sittlichkeit der Handlung, S. xiii. Zur Frage der Kommensurabilität zur richtigen Erklärung des moralischen Bösen vgl. auch Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, S. 96 – 97.
151 wert ist, etwa in einer Konkurrenzsituation das einem Nähere zu wählen – wenn es also zum Beispiel darum geht, dass man von zwei Ertrinkenden nur einen retten kann und einer von beiden das eigene Kind ist: Dann ist es nicht64nur erlaubt, sondern sogar moralisch geboten, und das heißt: gut, dieses zu retten. Dasselbe Beispiel vom Zecher und dem Kopfweh lässt sich nun aber auch gezielter auf die Frage nach der schlechten Handlung und ihren Gründen in der Wahlfreiheit hin betrachten: Diese liegen nach Thomas nämlich darin, dass einem höheren Gut ein geringeres vorgezogen wird – weil es ein Gut ist (sonst würde es nicht frei gewählt werden); aber ein Gut, das nur aus einem Fehler in der Wahl bevorzugt gewählt wurde, und genau aus dieser fehlerhaften Konstellation von „gut“ und „bevorzugt“ wird Thomas dann auch seine Erklärung der bestürzenden Macht des Üblen oder Bösen geben können.65 Dass der Wille sich dagegen strikt gegen das Gute statt nur für ein irgendwie konkurrierendes Gut entscheiden und sich damit gleichsam zielgerichtet auf das Böse verlegen könnte, ist für Thomas nicht einsichtig (genauso wenig, wie Thomas wie gesehen daran rüttelt, dass es intrinsisch Böses gibt, das auch kein ordo amoris relativieren kann). Thomas stellt sich damit in eine gedankliche Tradition, die spätestens von Platon herkommend mit starken Gründen dafürhält, dass Schlechtes nur unter dem Aspekt des Guten gewollt werden kann.66 Und Thomas stützt seine Ansicht mithilfe seiner anthropologischen Grundthese: Das Strebevermögen des Menschen ist weFrage 6: Interpretation
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Thomas selbst hat ein anderes Beispiel, um das Miteinander von allgemein richtiger Regel gemäß dem ordo rationis und dem Einzelwesen entsprechender Handlungswahl gemäß dem ordo amoris zu illustrieren, und er macht dabei klar, dass es sich bei beidem um ein Gut handelt. Gleichzeitig zeigt er in diesem Beispiel mit der Einbeziehung des Standpunkts des Richters in beide ordines, dass der ordo amoris keineswegs eine affektiv motivierte Erklärung darstellt: „Thomas hält es für die Pflicht einer Ehefrau oder eines Sohnes, den kriminell gewordenen Mann oder Vater nach Möglichkeit dem Gericht zu entziehen, um das bonum privatum familiae nicht zu gefährden. Der Richter hingegen […] muß darauf bedacht sein, des Verbrechers habhaft zu werden. Platon hatte den Sokrates sagen lassen, der Gerechte müsse um des Seelenheils seiner Angehörigen willen diese vor den Richter bringen, wenn sie Strafe verdient haben (vgl. Gorgias 480b-c). Das ist für Thomas schon zu universalistisch gedacht“ (Robert Spaemann: Einleitung zu Thomas von Aquin: Über die Sittlichkeit der Handlung, S. ix). Ähnlich argumentiert Christian Illies: Was Kant von Darwin lernen kann. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 61 (2007), S. 27-50: Es müsse bei der moralischen Bewertung der Handlungsentscheidung „[d]ie Rolle des Handelnden bei den Gründen berücksichtigt“ werden (Anm. 21 zu S. 34). Zur Problematik des Vorziehens geringerer Güter und der daraus erwachsenden Frage danach, ob man Böses auch wissentlich anstreben kann, vgl. Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/Christina Van Dyke: Aquinas’s Ethics, S. 104-106. So zum Beispiel Platon, Menon 77de: „Es ist doch ganz offensichtlich so, dass diejenigen, die das nicht wissen, gar nicht das Üble wollen, sondern vielmehr das, was sie für gut halten, was aber eigentlich schlecht ist. Weil sie nun etwas Übles verkehrterweise für etwas Gutes halten, ergibt sich doch, dass sie etwas Gutes wollen, nicht wahr?“
152 Frage 6: Interpretation sentlich auf das Glücklichsein hin ausgelegt und glücksförmig sind nun einmal die Güter als Strebensobjekte, seien es nun externe Besitzgüter oder moralische Vollzugsgüter. Sich willentlich und wissentlich auf das Nicht-Gute als nicht Gutes zu verlegen, würde den unmöglichen Zustand unterstellen, sein eigenes Unglück wollen zu können. Unmöglich jedenfalls, wenn67man die deutungsgemäße Definition von „Glück“ und „Unglück“ verstanden hat. Der Wille strebt also im Fall von je nachdem und nicht bezüglich aller Einzelhinsichten Gutem etwas an, was sich ihm anbietet (quod sibi offertur), und er tut das, indem er sich an den Einzelbedingungen (conditiones particulares) mitorientiert, die ihm mit dem Einzelfall gegeben sind. Thomas bündelt die möglichen Bestimmungsparameter für den Wollensentscheid und ordnet sie in einer Dreierliste: [a] Erstens kann es aus der Wertigkeit der Sache selbst geschehen, dass eine qualifizierte Willenswahl zugunsten dieser oder jener Möglichkeit der Willensausübung ausfällt. Das setzt die Kommensurabilität, eine ausschlaggebende unterschiedliche Gewichtungsmöglichkeit im Abgleich der Alternativen, voraus. In diesem Fall wird der Wille der Verstandesmaßgabe folgen, der er die Feststellung verdankt, welche Option den vernünftigen Vorrang hat oder welcher mehr Gewicht zukommt (praeponderare ist das Wort, das Thomas dafür gebraucht). „Wenn also zum Beispiel der Mensch das der Gesundheit Zuträgliche dem vorzieht, was dem Lustfrönen dient“ (cum homo praeeligit id quod est utile sanitati eo quod est utile voluntati), so Thomas. [b] Zweitens kann es ja sein, dass man zwar etwas Bestimmtes berücksichtigt und anderes nicht und aufgrund dieses Inbetrachtziehens oder Außerbetrachtlassens die Handlungsentscheidung so oder so ausfällt. So könnte jemand vielleicht in Anbetracht einer günstigen eigenen Finanzlage und günstiger Zinsen ein Haus kaufen wollen, ein anderer finanziell ähnlich gestellter jedoch angesichts der instabilen allgemeinen Marktlage oder eines Misstrauens in derart günstige Zinsen gerade nicht. Thomas sagt, dass hier bestimmte Umstände (circumstantiae) den Ausschlag geben, dass diese jedoch mit irgendwelchen Gelegenheiten oder Anlässen (occasiones) zu tun haben, die gänzlich kontingenten inneren oder äußeren Charakters und Zuschnitts sein können. Tatsächlich spielt die Umstände-
oder Zirkumstanzenlehre auch sonstwo bei Thomas eine gewichtige Rolle, insbesondere auch für die moralische Wertung von Handlungen, und sie hängt eng mit seiner Lehre von der ratschlagenden Überlegung, consilium, im moralisch relevanten Willensentscheid zusammen. Mit der Einrechnung der Umstände zeigt Thomas, dass menschliche Handlungen keine nur theoretischen Abläufe darstellen, sondern in einem bestimmten Rahmen stattfinden, der sie in Zusammenhang 67
Vgl. weiterführend dazu auch Colleen McCluskey: Happiness and Freedom in Aquinas’s Theory of Action. In: Medieval Philosophy and Theology 9 (2000), S. 69-90.
153 mit einer Vielzahl einzelner Möglichkeiten jeweiliger Verwirklichung stellt.68 Dieser Zusammenhang kann von Fall zu Fall durchaus mitentscheidend dafür sein, ob die Handlung, sei es in der Durchführung oder im Ergebnis, mit dem Guten, das ihr als69menschliche den Sinn gibt, überhaupt in Kongruenz steht, oder auch in welcher. Das bekannte Beispiel, das Thomas an anderer Stelle gibt, ist das der unrechtmäßigen Entwendung von Eigentum unter verschiedenen Umständen: Findet diese an einem profanen Ort statt, handelt es sich um Diebstahl; findet sie in einem Gotteshaus statt, um ein Sakrileg. Die Änderung der Umstände hat hier also mehr als nur eine Intensitäts- oder Qualitätsveränderung der unmoralischen Handlung mit sich gebracht: Die Art (species) der unmoralischen Handlung ist durch diese Änderung eine andere geworden.70 Dieser zweite Bestimmungsparameter für den Wollensentscheid ist also keineswegs zu unterschätzen.71 [c] Der dritte Parameter nimmt auf die natürliche menschliche Einzelveranlagung oder auch die charakteristische Verfassung des Einzelnen (dispositio hominis) Rücksicht. „Von der Art, wie ein jeder ist, so erscheint ihm auch sein Ziel“ (qualis unusquisque est, talis finis videtur ei), zitiert Thomas zustimmend Aristoteles aus der Nikomachischen Ethik72 und fährt mit einem Beispiel fort: Der Wille eines Menschen, der leicht in Zorn aufbraust und überhaupt ein ungestümes Gemüt hat, wird auf ganz andere Weise angeregt als der Wille eines gleichmütigen oder gedämpfteren Menschen, „denn es ist nicht so, dass beiden ein und dasselbe angemessen wäre, ähnlich wie ja auch Speise von einem Gesunden ganz anders angenommen wird als von einem Kranken“. Vielleicht könnte hier der Hinweis auf Interesse stoßen, dass der Zornmütige von Thomas an dieser Stelle und auch in anderen Zusammenhängen keineswegs von vornherein als schlecht oder unzurechnungsfähig angesehen wird. In q.12 von De malo wird Thomas ausführen, Frage 6: Interpretation
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Vgl. zu diesem “relevant environment” der Handlung Nicholas Rescher (Hg.): The Logic of Decision and Action. Pittsburgh 1966, den “Appendix II: Aspects of Action”, S. 215-219, insbesondere S. 217. Vgl. dazu etwa auch Stephen L. Brock: Action and conduct. Thomas Aquinas and the theory of action, S. 210. Zu diesem Beispiel und seiner Einordnung für die moralische Theorie des Thomas von Aquin vgl. S.th. I-IIae q.18 a.10 sed contra. Maßgeblich für viele Fragen der Zirkumstanzenlehre ist immer noch die umfangreiche und fleißig belegte Arbeit von Johannes Gründel: Die Lehre von den Umständen der menschlichen Handlung im Mittelalter. Münster 1963, zu Thomas interessant dort vor allem S. 611-646, sowie Thomas Nisters: Akzidentien der Praxis. Thomas von Aquins Lehre von den Umständen menschlichen Handelns. Freiburg 1994. Gut belegt auch Duarte SousaLara: A especificação moral dos actos humanos segundo são Tomás de Aquino. Rom 2008, S. 365-381. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1114a. Diese Aristoteles-Stelle zitiert Thomas mit Häufigkeit: Schütz’ Thomas-Lexikon zählt zehn direkte Zitate und etliche sinngemäße Wiedergaben im Gesamtwerk.
154 dass Zorn einer gesunden natürlichen Grundanlage entspricht, nämlich dem leidenschaftlichen Impuls des entrüsteten und tätigen Ausgleichs von Verstößen gegen die Gerechtigkeit, durch die sich der redliche Mensch beleidigt sieht. Zorn ist also eine heftige menschliche Reaktion auf eine Verfehlung gegen die Gerechtigkeit. Und mehr noch: Dadurch, dass der Zorn eine leidenschaftliche Reaktion darstellt, dient er dem Guten insofern, als er den Menschen zur Tätigkeit anheizt, der, würde er den Gerechtigkeitsverstoß nur im Verstand registrieren, nie mit nötigem Elan zum Tätigsein schreiten würde. Zorn ist also das schnelle und zugstarke Vehikel für die Umsetzung einer Bestrafung angesichts des Ungerechten. Lasterhaft wird Zorn erst, wenn er nachgerade zur Lebenseinstellung kultiviert wird und die Leidenschaft, die eigentlich eine Funktion zur schwungvolleren Umsetzung von Verstandeserkenntnis sein soll, sich zum Selbstläufer entwickelt und die Verstandesmaßgabe zurückdrängt oder gar völlig überspült.73 So ergibt sich für Thomas noch eine letzte Unterscheidung im Antwortcorpus der q.6: Diese Unterscheidung wird innerhalb der letzten geschilderten Möglichkeit getroffen, also der einer Handlungswahl in Rücksicht auf die Veranlagung als Ursachenmoment. Kurz gesagt macht Thomas hier einen Unterschied zwischen „erster Natur“ und „zweiter Natur“, zwischen dem Menschen als allgemeinnatürlichem Wesen und dem Mensch als habituellem Wesen, als „Gewohnheitstier“. Das lässt sich gut an den kleinen Exkurs eben über den Zorn als natürliche Allgemeinanlage und als selbstkultivierte Haltung anschließen. Natürliche Dispositionen können es mit sich bringen, dass einem Menschen etwas gut und angemessen (oder zuträglich: ) erscheint, auch ohne, dass es hier zu einer willentlichen Beurteilung einer solchen Disposition gekommen ist. In diesem Fall wählt der Wille im Grunde immer richtig, und zwar aus einer ganz natürlichen Notwendigkeit heraus, „wie alle Menschen von Natur aus begehren zu sein, zu leben, und sich zu ernähren“ (im Original eleganter:
Frage 6: Interpretation
conveniens
si ergo
dispositio, per quam alicui videtur aliquid bonum et conveniens, fuerit naturalis et non subiacens voluntati, ex necessitate naturali voluntas praeeligit illud, sicut omnes homines naturaliter desiderant esse, vivere et intelligere). Dies betrifft das Allgemeine der natürlichen Verfasstheit, das, was allen Menschen gemeinsam als urwüchsig zukommt. Anders steht die Sache bei solchem, was nicht in dieser Allgemeinheit natürlich ist. Hier unterliegt die urwüchsige Einzelveranlagung eines jeden dem Zugriff des eigenen Willens (subiacens voluntati). Dies gilt für Leidenschaften und für antrainierte Grundhaltungen wie etwa für Laster. Diese langsam anerworbenen und durch wiederholtes Tun im Einzelnen gleichsam eingefleischten Grund-
73
Vgl. Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270-1670, S. 98-103, sowie 115-116.
155 haltungen sind die habitus.74 Sie stehen hier bei Thomas gleichsam wie für eine „zweite Natur“, ganz so, wie man das von besonders hartnäckigen Angewohnheiten sagt: dass man sie wie eine zweite Natur hat und angeblich nicht mehr losbekommt. Thomas jedoch legt den Finger darauf, dass sowohl Leidenschaften als auch habitus den Willen keineswegs mit Notwendigkeit bewegen. Die Handlungsentscheidung für den jeweiligen Einzelfall wird man daher nicht auf die „zweite Natur“ oder die einzelne Landschaftsanwandlung abwälzen können. Vielmehr muss man hier eine Zugriffsmöglichkeit des Willens zugeben, und diese nicht allein als vermindernd oder korrigierend im konkreten Einzelfall. So ist der Wille sogar in der Lage, den schlechten habitus beizulegen, die Angewohnheit oder anerworbene „zweite Natur“, die durch wiederholtes Handeln entstanden ist, durch (insbesondere wiederholtes) willentliches Handeln auch wieder zu beseitigen – was es dann mit sich bringt, dass einem auch im Einzelfall das Gute und Angemessene anders erscheinen wird als noch unter Maßgabe der zuletzt unwillkürlich arbeitenden „zweiten Natur“. Genauso, wie wenn „zum Beispiel jemand den Zorn in sich zur Beruhigung kommen lässt“ – ein Kraftakt der Willensaufbietung – „und kein Urteil über etwas im Zorne fällt“. Thomas spricht hier also über den Zorn als eine einzelne Leidenschaftsaufwallung, nicht so sehr über den Zorn als habitus. Deshalb folgt die Warnung gleich auf dem Fuße: „Es ist nur so, dass eine Leidenschaft eben leichter unterdrückt oder abgelegt wird (removetur) als ein Habitus“.75
Frage 6: Interpretation
[6] Nach all diesen Überlegungen der q.6 zur Wahlfreiheit des Willens steht ein recht nüchternes und knapp gehaltenes Fazit: „So setzt sich daher der Wille zu einigem von Seiten des Ausrichtungsgegenstands mit Notwendigkeit in Bewegung, nicht aber zu allem; von Seiten der Tätigkeitsausübung selbst aber setzt sich der Wille nicht mit Notwendigkeit in Bewegung“ (sic ergo quantum ad aliqua voluntas ex necessitate movetur ex parte obiecti, non autem quantum ad omnia; sed ex parte exercitii actus, non ex necessitate movetur).
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Zur Habituslehre des Thomas von Aquin vgl. insbesondere Rolf Darge: Habitus per actus cognoscuntur. Die Erkenntnis des Habitus und die Funktion des moralischen Habitus im Aufbau der Handlung nach Thomas von Aquin. Bonn 1996. Der ganze Passus lautet im Original: si autem sit talis dispositio quae non sit naturalis, sed subiacens voluntati, puta, cum aliquid disponitur per habitum vel passionem ad hoc quod sibi videatur aliquid vel bonum vel malum in hoc particulari, non ex necessitate movetur voluntas; quia poterit hanc dispositionem removere, ut sibi non videatur aliquid sic, ut scilicet cum aliquis quietat in se iram, ut non iudicet de aliquo tamquam iratus. Facilius tamen removetur passio quam habitus.
Frage 6: Interpretation
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Ein Nachtrag zur Quaestio 6 und zum Problem ihrer Bedeutung:
Worin die Freiheit des menschlichen Willens besteht, zeigt die Diskussion von q.6 gegen alle anfänglichen Verdachtsmomente und in Einklang mit der offenkundigen Selbstwahrnehmung des handelnden Menschen im Handlungsvollzug und in der Selbstbetrachtung seiner Haltung zu dieser Handlung. Ein Blick auf die Handlungstheorie des Thomas von Aquin wird dies zusätzlich noch bestätigen und mit weiteren Argumenten sättigen können. Die Wahlfreiheit des menschlichen Willens besteht nach Thomas von Aquin also darin, dass 76
- die Ausführung eines Willensaktes in der Verfügungsgewalt des Einzelnen steht: Der Wille vermag zu wählen zu wollen; - die Mittel zum Erreichen eines Handlungsziels zwanglos gewählt werden können; - die Indeterminiertheit des wählenden Willens auch bezüglich falscher Auffassungen, wie das Gelingensstreben rationaler Lebewesen eingelöst werden soll, zu verstehen ist – sonst würde der Mensch ja immer und ausnahmslos das zum Glück Richtige tun. Bestandsaufnahmen dieser Willenstheorie in De malo versuchen gerne, hier eine doktrinale Verschiebung oder77sogar eine Kehrtwende gegenüber früheren Werken bei Thomas zu konstatieren. Lehrverurteilungen eines überzogenen Intellektualismus in Paris seien dafür nicht nur der Anlass gewesen, sondern womöglich sogar der erklärende Grund. Dieser wäre somit streng historisch zu verstehen, die Lehrveränderung bei Thomas historistisch zu deuten. Der Text bei Thomas zeige, so heißt es dann, eine stärkere78 Anerkennung voluntaristischer Elemente, integriere diese aber nur halbherzig. Vielleicht bietet die Interpreta
tion der Quaestio 6
76
77 78
Vgl. dazu unten den Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie. Dazu aber richtig die Einwände bei Yul Kim: Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin, S. 183-206.
Vgl. zur Diskussion darum in konziser Zusammenfassung (von „intellektualistischer“ Seite) Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/Christina Van Dyke: Aquinas’s Ethics, S. 117-124. Zwei mittlerweile fast schon klassische Arbeiten zur Voluntarismus-Debatte in Bezug auf Thomas von Aquin sind Scott MacDonald: Aquinas’s Libertarian Account of Free Choice. In: Revue Internationale de Philosophie 52 (1998), S. 309-328 (als Plädoyer für eine „intellektualistische“ Deutung), und Eleonore Stump: Aquinas’s Account of Freedom: Intellect and Will. In: The Monist 80 (1997), S. 576-597 (mit stärkerer Betonung „voluntaristischer“ Momente). Eine interessante Parallele dieser Debatte findet sich in den Wortmeldungen von James Keenan: Goodness and Rightness in Thomas Aquinas’s Summa Theologiae. Washington D.C. 1992, und Daniel Westberg: Did Aquinas Change His Mind about the Will? In: The Thomist 58 (1994), S. 41-60. Interessant ist die kurze Zusammenfassung bei Yul Kim: Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin, der seine
157 also einen Anlass und auch eine gute Grundlage dafür, diese oft behandelte Frage nach einem Umschwung oder einer Korrektur in der philosophischen Lehrmeinung bei Thomas noch einmal zu stellen, aber unter einem leicht veränderten Gesichtspunkt: Für Thomas kann es nach dem Textbefund in De malo bei der Frage danach, wie er das Verhältnis von „voluntaristischer“ oder „intellektualistischer“ Grundlegung der Freiheit menschlichen Handelns für sich beantwortet haben möchte, offenbar nur darum gegangen sein, ob beim menschlichen Handeln nach dem Willen der Vernunft verfahren wird oder nach der Vernunft des Willens. Eine darüber hinausgehende Disjunktion von Wille und Intellekt, wie sie in anderen philosophischen Positionierungen durchaus auftauchen mögen, spielt bei Thomas jedenfalls keine Rolle. Was immer „Lehrveränderung“ oder Ähnliches bedeuten mag: An dieser Vorlage wird schwerlich zu rütteln sein.79 Vielleicht wird es am besten sein, der Frage nach der Plausibilität einer historistischen Deutung des Textes aus dem Umfeld universitärer Lehrverurteilungen mit der Überlegung zu begegnen, ob es nicht besser verstanden philosophische Gründe gibt, die der Willenslehre von De malo ihre Gestalt gegeben haben. Die Quaestio zur Wahlfreiheit in De malo lässt sich nämlich tatsächlich auch anders verstehen, und zwar als gleichsam methodisch aristotelisierend in Bezug auf die Frage nach dem Willen. Vielleicht mag aus der vorangegangenen Deutung von q.6, die ja vorsätzlich auf der Gedankenentwicklung in einer intrinsischen Lesart des Textes lastete und äußere Anlässe unbeachtet ließ, dieses andere Verständnis auch schon sichtbar geworden sein. Genau gelesen versucht Thomas in q.6 nämlich offenbar Folgendes: Einmal möchte er zeigen, wie ein gangbarer Weg zwischen natürlicher Determination des menschlichen Lebens generell und Freiheit des Willens in der Wahl der Mittel und des Einzelguten gefunden werden kann, der den freien Entscheid des Menschen in der eigenen Lebensführung ermöglicht, ohne Determinismus oder Willkür. Was letztere betrifft, ist Thomas aber andererseits auch bemüht, zwei Arten falscher Willenskonzeptionen zu vermeiden. Die ganze Argumentation bezüglich des Willens als vernünftigem Vermögen, das im Zusammenspiel mit der Tätigkeit des Verstandes und ohne diese zu usurpieren Frage 6: Interpretation
79
Analyse der thomasischen Willenslehre in De veritate mit dem Hinweis schließt, dass „Thomas sich nicht selbst als den Hauptgegenstand der voluntaristischen Kritiker verstanden haben kann“ (S. 147) und auch mit Recht bemerkt, „dass Thomas in seinen späten Werken die 1270 verurteilten Thesen fast wörtlich wieder aufgreift“ (S. 148). “The emphasis on the will is to make it clear that on the point of freedom and responsibility he is on the side of the Augustinian theologians against the determinists; but this does not mean that there has been a change to a voluntarist position. Thomas’s whole argument here should be seen as a clarification and defence of the position of the mutual interdependence and freedom of intellect and will which he held all along” (Daniel Westberg: Right practical Reason, S. 88). Vgl. dazu auch nochmals ausführlicher: Daniel Westberg: Did Aquinas Change his Mind about the Will?
158 Frage 6: Interpretation oder zu gefährden die freie Handlungsentscheidung erst ermöglicht, zeigt nämlich, ganz ähnlich wie die Argumentation zu Determinismus und Willkür selbst, ein Muster der aristotelischen „Mitte“ zwischen einem Zuviel und Zuwenig in der Willensauffassung: Beim Zuviel wäre der Wille die gegenüber dem Verstand auftrumpfende Potenz, das allein führende Vermögen des Menschen und das eigentlich oder sogar alleinig Ichhafte an ihm. Dies ließe sich an eine andere von Thomas bekämpfte Konzeption anschließen, mit der sich diese Willensauffassung argumentativ sättigen könnte: Dass nämlich der Verstand nicht das Ichhafte des Menschen auszumachen imstande sei, da er als tätiger ein Universales sei, das im Menschen denkt, aber eben nicht der Verstand eines einzelnen Menschen. Thomas hat dieser „averroistischen“ Ansicht in seiner Schrift De unitate intellecti energisch widersprochen und auf das Ichhafte in der Tätigkeit des Verstandes nachdrücklich hingewiesen.80 Die zweite Auffassung des Zuwenig sieht im Willen nur noch eine AuswählInstanz, die ohne letzten rational einsehbaren Motivgrund dieses oder jenes, was sich ihm darbietet (sei es sinnlich oder vom Verstand) einfach und fast schon divenhaft herausgreift. Es gibt hier dann genaugenommen kein Wählen des Willens mehr, sondern nur noch ein Aussuchen.81 Die angelsächsischen Interpreten sprechen von einem „picking“ anstelle eines „choosing“ und spielen dabei allem Anschein nach vorsätzlich mit82den negativen Assoziationen, die von den Wörtern „pick“ und „picky“ ausgehen. Für diesen Zusammenhang mag auch die folgende Rückerinnerung hilfreich sein: Thomas hatte die Quaestio 6 mit dem Hinweis auf der Philosophie „artfremde“ Denkweisen begonnen. Das Kriterium dieser „Artfremdheit“ war der Ausschluss einsehbarer Kriterien für einen rationalen Nachvollzug in den beanstandeten Theorien gewesen. Es ist kaum zu übersehen, dass die beiden eben genannten akzentuiert voluntaristischen Willensauffassungen solch einen Ausschluss in verschiedener Weise und in unterschiedlichem Ausmaß mit sich bringen. Prominente Vertreter der angelsächsischen Moraltheorie haben dies in Berufung auf Wittgensteins Privatsprachen-Argument ähnlich gesehen wie Thomas es hier zu 80 81
82
Vgl. dazu die eingängige zusammenfassende Darstellung bei Volker Leppin: Thomas von Aquin. Münster 2009, S. 58-64. Daher auch die verständlichen Vorbehalte, die Eleonore Stump gegenüber der Übersetzung „Wahl“ (choice) für electio formuliert: „this is a misleading translation. It suggests that the will is engaged in what is really the intellect’s act of ranking alternative possibilities. In the act of election what the will does is accept the course of action that the intellect proposes as the best” (Eleonore Stump: Aquinas. London 2005, S. 288-289). Vgl. Dominik Perler: Transformationen der Gefühle, S. 196: „Dem Wählen (choosing) im strengen Sinn steht ein Herausgreifen (picking) gegenüber“ (mit Verweis auf die einschlägige Arbeit von Calvin G. Normore: Picking and Choosing: Anselm and Ockham on Choice. In: Vivarium 36 (1998), S. 23-39).
159 tun scheint83: Menschliches Handeln, das für andere Handelnde in seinen erklärenden Motivationsstrukturen nicht rational einsehbar wäre, so lautet die Argumentation verkürzt, wäre nicht nur nicht als moralisch qualifizierbar. Vielmehr wäre ab einem gewissen Grad der Einschränkung rationaler Transparenz menschliches Handeln als menschliches gar nicht mehr denkbar: Dann nämlich, und hier kommt Wittgensteins Privatsprachen-Kritik zum Tragen, wäre ein Handlungsentscheid auch ein und demselben Menschen zu jedwedem anderen Zeitpunkt als dem der unmittelbaren Handlungsentscheidung nicht mehr rational einsehbar, also nicht mehr nachvollziehbar und somit die Handlung schlicht nicht mehr „seine“. Dieser sinnverweigernde Zustand, dass seine eigenen Handlungen dem Menschen selber unverständlich und letztlich zum uneinsehbaren Rätsel werden, ist tatsächlich eine der äußeren Folgen, aber mehr noch: eine der inneren Konsequenzen der in diesen von Thomas bekämpften Grundvarianten einer voluntaristischen Auffassung. Ergänzt um eine mit dieser Auffassung übereinstimmende theologische Tradition, die eine auf die menschlichen Verständnismöglichkeiten (und für sie) nur noch aleatorisch wirkende Auffassung von der göttlichen Gnade vertrat, führte der radikalere Voluntarismus letztlich bis zur Lehre 84vom servum arbitrium, der gezwungenen Entscheidungsohnmacht des Menschen. Diese Gefährdung der prinzipiellen Fassbarkeit menschlichen Handelns, die weit über die Widerlegung einer bloß „subjektiven“ Moral hinausgeht, macht sich Thomas, so kann man daraus ersehen, also nicht ohne Grund im Rahmen seiner Abhandlung über das Üble zum Thema. Diese prinzipielle Gefährdung und ihre zu erwartenden Konsequenzen zeigen nämlich selbst wiederum die strukturellen Merkmale privativer Minderung eines Sollenszustands wie sie die Schrift De malo als Hauptmerkmal alles Schlechten herauszustellen sucht. Dabei wird aber auch noch etwas anderes klar, das Thomas in diesem Zusammenhang interessieren musste: Eine Erklärung des Üblen im Sinne des Bösen, das im menschlichen Handeln zu suchen ist, lässt sich im Rahmen der in De malo erarbeiteten Theorie nur aufrecht erhalten, ja überhaupt nur leisten, wenn von einer prinzipiell einsehbar sinnvollen Struktur menschlichen Handelns ausgegangen werden kann. Erst auf diesem Hintergrund nämlich lässt sich moralisch falsches Handeln als Ausfallerscheinung, Negation oder Privation erkennen und verdeutlichen, also als ein Frage 6: Interpretation
83 84
Vgl. Christine Korsgaard: The Sources of Normativity, Authority and Estrangement. Princeton 2001, S. 58-60.
S. 138-142, und Richard Moran:
Für eine günstigere Einschätzung voluntaristischer Positionen (zu der ich mich selbst nicht so recht durchzuringen vermag) sei verwiesen auf Ludger Honnefelder: Ethische Rationalität bei Duns Scotus. In: Franz-Josef Bormann/Christian Schröer (Hg.): Abwägende Vernunft. Praktische Rationalität in historischer, systematischer und religionsphilosophischer Perspektive. Berlin/New York 2004, S. 135-156. Honnefelder nähert in seiner
Interpretation der Willenstheorie beider Denker die Standpunkte des Thomas von Aquin und des Johannes Duns Scotus einander stark an.
160 besonderer Vorkommensfall innerhalb einer umfassenden Theorie des Üblen, Schlechten oder eben: des Bösen. Dieser besondere Vorkommensfall wurde im Zusammenhang der Besprechung von q.3 a.3 mit einem Wortspiel versuchsweise so charakterisiert: Wie das Üble oder Schlechte bei den Dingen, Geschehnissen und Zuständen als ein „an etwas Fehlen“ bezeichnet werden kann – das Fehlen an Klingenschärfe oder die abgebrochene Spitze also das Messer als schlecht qualifizieren lässt –, so das moralisch Üble als ein „Fehlenlassen an etwas“ – wie Verantwortung, Einsicht, Liebe oder dergleichen. Das mag den Anschein erwecken, als sei diese Übertragung von Gebrauchsgegenständen auf menschliche Handlungen doch sehr gezwungen und eigentlich uneinsichtig – am schlimmsten aber: als sei sie intuitiv blass und gegenüber der lebensweltlichen Wahrnehmung der Kraft des Bösen unbefriedigend und somit inadäquat. In wirbt Thomas von Aquin jedoch unter Angabe von einsichtigen Gründen für die Richtigkeit dieser heuristischen Übertragung, indem er eine gemeinsame formale Struktur aufzeigt: Dinge sind insofern schlecht, als sie es an der Verwirklichung ihrer wesenhaften Möglichkeiten fehlen lassen. Moralisch schlechtes Verhalten ergibt sich dann daraus, dass es ein vernünftiges Lebewesen an der möglichen Verwirklichung seiner vernünftigen Wesenseigenschaften fehlen lässt: nämlich der wesenhaft aufeinander abgestimmten Verstandes- und Willenstätigkeit.85 – Auf die Frage nach der Kraft des Bösen wird Thomas von Aquin auf dieser Grundlage noch zu antworten haben. Dieses „Fehlenlassen“ im moralisch relevanten Handlungsbereich, so wird häufig – wohl zu Recht, wenn auch wohl nur mit bedeutsamen Abstrichen zu Recht – gesagt, weist bei Thomas von87 Aquin gegenüber anderen Spielarten der
Frage 6: Interpretation
De malo
86
Privation noch eine eigene Facette auf. Man kann sie vielleicht am besten erfassen, wenn man sich ein Vergleichsbeispiel ansieht, das Thomas aus der Zweiten 85
Vgl. Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/Christina Van Dyke: , S. 64: „Things lack goodness insofar as they fail to actualize the natural capacities that follow from their essences; moral evil results when human beings fail to actualize fully their capacities of intellect and will“. Zu den sehr nötigen Einschränkungen in dieser Frage vgl. unten den Anhang 2: Privation, Negation und „schlechthin Übles“. Vgl. dazu Rolf Schönberger: Die Existenz des Nichtigen. Zur Geschichte der Privationstheorie. In: Friedrich Hermanni/Peter Koslowski (Hg.): Die Wirklichkeit des Bösen. München 1998, S. 15-47; ähnlich Leo Elders: The Ethics of St Thomas Aquinas. Happiness, Natural Law, and the Virtues. Frankfurt a.M./Berlin und andere 2005, S. 136 und S. 171: „We speak of moral evil when a human act is deprived of what it should have, sc. the proper order to man’s real end as determined by reason“; sowie S. 172: „Moral evil is not a subdivision of ontic or ontological evil, but a form of evil in its own right. It consists in ordering an act to a goal which is contrary to what right reason considers fitting and correct. Since the will chooses an action directed to the wrong end, it is the root from which evil proceeds“. Aquinas’s
Ethics
86
87
161 Analytik des Aristoteles bekannt war. Dort macht Aristoteles darauf aufmerksam, dass man auf das „Wissen“ den Begriff der „Privation“ nicht sinnvoll anwenden kann. „Unwissen“ heißt nämlich schlicht soviel wie Nichtwissen und nicht bloß bestehendes „Wissen“, das eben in bestimmten Aspekten als beraubt oder geschwächt zu werten wäre. Wissen ist eine Vollendung von Kenntnis, wobei ein Fehlen an dieser Vollendungsgestalt eine Negation darstellt, nicht eine Privation. Oder umgekehrt: Jede Beraubung ist hier als eine Negation anzusehen. Man kennt das aus der Schule: Die Lösung einer mathematischen Gleichung ist bei jedem anderen als dem einen korrekten Ergebnis ganz falsch – unabhängig davon, wie „nah“ man an diesem Ergebnis drangewesen sein mag. Ähnlich nun für die Schuld: Falsches Handeln ergibt sich wie gesehen daraus, dass es der Mensch an der möglichen Verwirklichung seiner vernünftigen handlungsbestimmenden Wesenseigenschaften fehlen lässt, also der wesenhaft aufeinander abgestimmten Verstandes- und Willenstätigkeit. Somit ergibt sich ein Defizit im Handeln gegenüber der Vollendungsform dieser Handlung. Die Vollendungsform, und nur sie, ist die gute Handlung. Das Defizit gegenüber dieser Vollendungsform muss nun als Negation der guten Handlung verstanden werden, nicht als „Privation“ im Sinne einer bloßen Reduzierung des Guten dieser Handlung. Tatsächlich ist dann „Negation“ gleichzeitig das psychologische Korrelat in den innerpsychischen Abläufen des moralisch schlecht Handelnden, nicht nur „Privation“: Einen bös handelnden Menschen stellt man sich ja tatsächlich nicht als einen vor, der schlicht Defizite gegenüber guten Handlungen anstrebt; vielmehr geht es beim „Fehlenlassen“ im moralisch bewertbaren Sinne primär um eine bewusste negative Einstellung gegenüber der vernünftig feststellbaren Vollendungsform richtigen Handelns – etwa dadurch, dass man sich für ein anderes Gut entscheidet als das in diesem Sinne richtige, oder sich diesem Gut gegenüber verschließt. So viel zunächst dazu – und unter Vorbehalt. Und noch etwas anderes sollte gerade im Zusammenhang mit der genannten Voluntarismus-Debatte abschließend für die Diskussion der Wahlfreiheit in der Quaestio 6 von De malo im Auge behalten werden: Die Wahlfreiheit des Willens verweist wie gesehen auf den weit umfassenderen Themenkomplex des liberum arbitrium. Man übersetzt dieses liberum arbitrium gerne mit „Willensfreiheit“, doch diese Übersetzung ist nicht ganz korrekt und entspricht, schlimmer noch, einem unzutreffenden Vorurteil. Es handelt sich dabei um die Auffassung, dass es – ganz anders als in der sehr viel grundständigeren Behandlung des Themas bei Thomas – bereits von vornherein so gut wie feststehe, dass die Freiheit des Menschen im Willen wurzelt, ja sogar allein im Willen. In gewissem Sinne ist die Übersetzung von liberum arbitrium als „Willensfreiheit“ also eine voluntaristiFrage 6: Interpretation
162 Frage 6: Interpretation sche.88 Im Prolog zum ersten Unterteil des zweiten Hauptteils der S.th spezifiziert Thomas das liberum arbitrium als das, was es dem Menschen ermöglicht, Prinzip seiner eigenen Verrichtungen oder Vollzüge zu sein (suorum operum principium) und diese als seine eigenen auch in der Hand zu haben (suorum operum potestas). Das liberum arbitrium zielt also über die Frage einer bloßen Willensfreiheit hinaus und fasst das Problem sozusagen „transzendentaler“: Was ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass der Mensch frei handeln kann, sei es dass die Bedingung nun eine Ermöglichung im Bereich des Willens oder der Verstandesfähigkeit darstellt oder, wie bei Thomas gesehen, eben von beiden in dem in Quaestio 6 ausgeführten Abstimmungsverhältnis.89 Thomas fand einen Bürgen für seine Unterscheidung von bloßer Wahlfreiheit des Willens und liberum arbitrium bei Aristoteles. Dieser verwendet den für seine Handlungstheorie maßgeblichen Begriff der prohairesis, wörtlich das „(Sich)Vornehmen“, in einem weiten und in einem engeren Sinn: Im dritten Buch der Nikomachischen Ethik als allgemeines Prinzip (und dessen aktive Anwendung), das eine menschliche Handlung eben zu einer solchen macht – zum actus humanus würde Thomas sagen – und es über das bloße Tun des Menschen – den actus hominis – hinaushebt.90 Im sechsten und siebten Buch der Nikomachischen Ethik indessen begegnet die prohairesis als Wahlhandlung des Willens im genannten Sinne.91 Prohairesis wird modernsprachlich meist mit Begriffen wie Neigung, Entschluss, Wahl oder Vorsatz übersetzt. Das weckt falsche Assoziationen, insofern hier wieder die Wahl als Auswahl oder „picking“ sprachlich nahegelegt wird. Nun meint das griechische Verb prohaireô eigentlich „(sich) etwas aus einem vorhandenen Bestand oder Vorrat zum Gebrauch herausnehmen“, wie entsprechende Stellen etwa bei Aristophanes und Thukydides belegen – soweit scheint die Variante des „Auswählens“ nicht falsch zu sein; doch sie fängt eben nur die Hälfte der Wortbedeutung ein. Das von Aristoteles verwendete Wort prohairesis bezeichnet bei Inbetrachtnahme des antiken Wortgebrauchs dagegen in einem ersten Sinne das Wählen von oder sich Bedienen an demjenigen, was ei88
89 90 91
“The fact that philosophers currently debate over the question of free will seems to indicate that, over time, the position that human beings act freely in virtue of their wills eventually won out, a conclusion supported by an examination of history” (Rebecca Konyndyk DeYoung/Colleen McCluskey/Christina Van Dyke: Aquinas’s Ethics, S. 123). Vgl. auch Daniel Westerberg: Right Practical Reason, S. 81-89, insbesondere S. 81: “with St Bernard and the development of the Franciscan tradition there was a growing tendency to put the emphasis on the will as the decisive factor, until liberum arbitrium became synonymous with free will”. So sagt es Thomas dann auch in S.th. I q.83 a.3 zur Wahlfreiheit: ad actionem autem concurrit aliquid ex parte cognitivae virtutis et aliquid ex parte appetitivae.
Zur Unterscheidung actus humanus – actus hominis vgl. S.th. I-II q.6 a.1. Vgl. Westberg: Right Practical Reason, S. 88-89.
163 nem als etwas schon Eigenes zur Verfügung steht, und erst in einem zweiten Sinne das vernünftige, überlegte Auswählen von etwas, das einem zur Aneignung vor Augen geführt wird, wobei dieses Auswählen vom Gegebensein einer prohairesis im ersten Sinne abhängt.92 Die Nikomachische Ethik baut diese Stufung im Anwendungssinn des Wortes sozusagen nur noch nach. Aristoteles gebraucht prohairesis also als Synekdoche, das heißt als Begriff mit einem weiteren und einem engeren Auffassungssinn, wobei einer der beiden vom anderen abhängt – ähnlich wie man von „Amerika“ spricht und dabei einmal den Kontinent von Alaska bis Feuerland meint und einmal die USA. Nur in einer der beiden Auffassungsvarianten wäre es aber zum Beispiel richtig zu sagen, dass es in Amerika Maya-Pyramiden gibt. Für Thomas ist daher der synekdochetische Gebrauch der prohairesis bei Aristoteles nicht verwunderlich, zeigt doch die engere und konkrete Auffassungsweise gewissermaßen ein entscheidendes Proprium der weiteren und grundlegenderen an: Das dem liberum arbitrium Eigene (wenn auch vielleicht nicht unbedingt Eigentliche) ist die Wahlmöglichkeit, wie sie der Wille 93 ausübt. Frage 6: Interpretation
92
93
Vgl. zu diesem doppelten Charakter der prohairesis als deliberativer Ermöglichungsakt und konkreter, aber andauernder Wählensvollzug Johannes D. Balle: Prohairesis. Zur Einheit von Mittel und Zweck in Aristoteles’ Theorie praktischer Rationalität. In: Archiv für Begriffsgeschichte 52 (2010), S. 33-51: „So ist prohairesis ein Streben, das durch Überlegung bestimmt wird, weshalb dieser Begriff essentiell zwei Dimensionen zu vereinen scheint, die kognitive und die konative. Während Kinder und Tiere die einfache Fähigkeit besitzen, etwas zu wollen (boulomai), sind erwachsene rationale Akteure in der Lage, Pläne zu schmieden und kontextübergreifend begründete Absichten im Sinne von Vorhaben zu realisieren. Man könnte prohairesis damit als zeitübergreifend begründetes Beabsichtigen auffassen. […] Mit der prohairetischen Wahl endet also der deliberative Prozess genau genommen nicht, so als wäre der Akteur von nun an ein blinder Vollstrecker einer vormals getroffenen Entscheidung.“ S.th. I q.83 a.3: proprium liberi arbitrii est electio. Auch dazu wiederum Westberg: Right Practical Reason, S. 87-88.
Teil 3: Moraltheoretische Ausführung
Frage 8 Artikel 3: Hat der Hochmut seinen Sitz im aufbegehrenden Vermögen?
Übersetzung
Zur Lösung dieser Frage bedarf es zuerst einer Überlegung darüber, in welchem Seelenvermögen Sünde und Tugend überhaupt zu finden sein können, bevor dann überlegt werden kann, welche der Wirksamkeiten der Seele sozusagen die Grundlage für den Hochmut bietet. So ist zunächst zu beachten, dass jede sündhafte oder tugendsame Handlung willentlich ist. In uns gibt es nun zwei Prinzipien willentlichen Handelns, nämlich die Vernunft im Sinne des Verstandesvermögens und das Strebevermögen. Denn diese beiden können bewegungsverursachend wirken, wie [bei Aristoteles] im 3. Buch von Über die Seele steht, und das insbesondere sofern man die eigentlich menschlichen Handlungen betrachtet. [1.1] Als Begreifensvermögen unterscheidet sich die Vernunft jedoch vom Strebevermögen dadurch, dass die Verrichtung der Vernunft wie jeder anderen Erfassenskraft dadurch zustande kommt, dass das Begriffene im Begreifenden ist. Für den Verstand bedeutet wirklich vollzogenes Verstehen soviel wie wirkliche Aneignung des Verstandenen, und für die wirklich vollzogene Wahrnehmung ist der Wahrnehmungsinhalt dasselbe wie sich das Wahrgenommene wirklich angeeignet zu haben. [1.2] Die Verrichtung des Strebevermögens jedoch besteht darin, dass das Strebenssubjekt zum erstrebten Gegenstand hin erst bewegt wird. Nun ist es aber offensichtlich dem Hochmut eigentümlich, dass jemand maßlos nach eigener Vortrefflichkeit strebt, ganz so, als ob er sich über das erhebe, was er ist, wie es im Psalm 9, 18 ausgedrückt wird: „Du übst Gerechtigkeit an Waisen und Erniedrigten, auf dass der Mensch nicht weiter vermessen wage, sich über die Erde zu erheben“. Daraus ist zu ersehen, dass der Hochmut dem Strebevermögen zuzurechnen ist. [2] Da aber das Strebevermögen in gewisser Weise vom Erfassungsvermögen in Gang gebracht wird – insofern nämlich das erfasste Gute das Streben auslöst – ist es geboten, das Strebevermögen gemäß verschiedener Erfassungsweisen zu unterscheiden, und zwar bedingt dadurch, dass das Passive dem Aktiven und Bewegenden verhältnismäßig angeglichen ist und sich die verschiedenen Vermögen ihrem Ausrichtungsgegenstand [1]
168
Frage 8 Artikel 3: Übersetzung
nach unterscheiden lassen. Nun gibt es ein Vermögen zum Erfassen von Allgemeinbestimmungen, nämlich den Verstand oder die Vernunft, und eines zum Erfassen von Individuellem, nämlich das sinnliche oder vorstellende Vermögen. Woraus sich ein doppeltes Strebensvermögen ergibt: eines in der Vernunft, Wille genannt, und ein anderes im Sinnlichen, genannt Sinnlichkeit oder Trieb. [2.1] Das vernunftverdankte Streben, das Wille heißt, hat das übergeordnete Gute zum eigentümlichen Strebensziel und ist daher nicht in mehrere Vermögen unterschieden. [2.2] Das Streben der Sinne hingegen erreicht die übergeordnete Idee des Guten nicht, sondern nur einige einzelne Spielarten von solchem Gutem, wie es dann sinnlich zugänglich und vorstellbar ist, weshalb es zweckdienlich ist, das sinnliche Streben auch gemäß der verschiedenen Auffassungsweisen des so gearteten Guten unterscheidend einzuteilen. Einiges gilt nämlich deshalb als erstrebenswert, weil es den Sinnen angenehm ist, und nach dieser Auffassungsweise von „gut“ handelt es sich dann um ein Objekt des begehrenden Vermögens. Anderes gilt auf andere Weise als erstrebenswert, wie etwa dadurch, dass es in der Vorstellungswelt von Lebewesen einen hohen Rang einnimmt, weil es dem Lebewesen erlaubt, Schädliches von sich abzuwenden und eigenmächtig das eigene Gut zu betreiben. Dieses Gut hat nichts von sinnlichem Vergnügungswert an sich und bringt von mal zu mal auch spürbaren Schmerz im Gefolge, wie etwa bei einem Tier in Revierkämpfen. Nach dieser Auffassungsweise von „gut“ als in der Vorstellungswelt spricht man von einem Objekt des aufbegehrenden Vermögens. [2.3] Nun ist es offensichtlich, dass das Einzelne sich unter das Allgemeine einrechnen lässt, dass dieses Einrechnungsverhältnis aber nicht umkehrbar ist. Und somit kann der Wille sich auf alles verlegen, worauf sich Begehren und Aufbegehren richten können, und noch auf vieles mehr. Während diese beiden jedoch ihr Ziel mit Leidenschaft verfolgen, tut es der Wille leidenschaftslos, weil er sich dazu keines körperlichen Organs bedient. Und so können alle inneren Regungen, die im Begehren und Aufbegehren leidenschaftlich vorliegen – wie etwa die Liebe, die Freude, die Hoffnung und alles von dieser Art – auch im Willen sein, aber eben ohne Leidenschaft. [3] Aus dem bereits weiter oben [nämlich in Frage 8 Artikel 2] Gesagten ist offenkundig, dass eine Vorzüglichkeit vor anderen der angestrebte Ausrichtungsgegenstand des Hochmuts ist. Wäre diese aber für den Hochmut nur eine solche der Sinnenfreude oder Vorstellungskraft, dann müsste er allein dem Vermögen inneren Aufbegehrens zugeschrieben werden. Da jedoch der Hochmut nach Gregor dem Großen im 33. Buch der Moralschriften genauso um die geistige Vorzüglichkeit kreist, wie sie eben in
Frage 8 Artikel 3: Übersetzung
169
geistigen Gütern vorzufinden ist, und darüber hinaus auch in den reinen Geistwesen vorzufinden ist, in denen kein sinnliches Streben vorliegt, muss man zugestehen, dass der Hochmut sowohl im aufbegehrenden Vermögen sitzt, was die sinnlich fassbare oder vorstellbare Vortrefflichkeit betrifft, als auch im Willen, soweit es die geistige Vorzüglichkeit angeht und diese etwa auch bei bösen Geistwesen vorkommt.
De malo q.8 a.3: Interpretation
Die Quaestio 6 [5.2.2 c] hatte die Überlegungen über die Willenswahl und die zirkumstantiellen Elemente, die sie behindern können, mit einem Hinweis auf Leidenschaft und Habitus beendet: „Allerdings wird eine Leidenschaft sehr viel eher erfolgreich zurückgedrängt als eine eingeschliffene Gewohnheit“. Im Anschluss an die Willensproblematik wendet sich Thomas von Aquin dem Problem des falschen Handelns zu und kommt in den Quaestionen 8 bis 15 auf die sieben Hauptlaster zu sprechen, die falschem Handeln zugrundeliegen können. Man wird dies kaum richtig einordnen können, ohne kurz in einem erläuternden Vorlauf das Verhältnis von Habitus und Laster in Bezug auf Leidenschaft zu klären.1 Die Lasterlehre von De malo:
Vereinfacht dargestellt kann man bei Thomas Folgendes in Bezug auf die Laster lesen: Sie lassen sich als charakterliche Allgemeinausrichtungen oder innere Grundeinstellungen des Menschen bestimmen, die den Menschen das Falsche tun lassen. Es sind also solche Einstellungen, aus denen schuldhafte Einzelhandlungen hervorgehen. Thomas baut auch hier wieder ganz entschieden auf aristotelischen Vorgaben auf: Nach Aristoteles sind Tugenden als Grundhaltungen zu verstehen, die uns richtig handeln lassen.2 Solche Grundhaltungen diagnostiziert Aristoteles als „antrainiert“ und 3als durch Gewöhnung und wiederholtes Tun in Fleisch und Blut übergegangen. Einzelentscheidungen und die ihnen entsprechenden weiteren Handlungsvollzüge haben sich hier also zu einer Konstanz verfestigt. Diese Verfestigung zur Konstanz bringt es mit sich, dass Entscheidungen am Ende gar nicht mehr einzeln getroffen werden, sondern nach einem gewohnheitsmäßigen habituellen Verfahren, also einem Verfahren „wie gehabt“ – so könnte man das lateinische Wort
habitus hier vielleicht mit einer entsprechen-
1
2
3
Für die folgenden allgemeinen Ausführungen zur Lasterlehre bei Thomas von Aquin vgl. Christian Schäfer: Nachwort zu Thomas von Aquin: Über das Böse II/Quaestiones disputatae De malo II [qq.8-16]. Herausgegeben und übersetzt von Chr. Schäfer. Hamburg 2010, insbesondere S. 380-388; Christian Schäfer: Die Hauptlasterlehre des Thomas von Aquin als philosophische Anthropologie. In: Christoph Flüeler/Martin Rohde (Hg.): Laster im Mittelalter. Berlin/New York 2009, S. 139-166, insbesondere S. 139-150, sowie Richard Newhauser: The Capital Vices as Medieval Anthropology. In: Christoph Flüeler/Martin Rohde (Hg.): Laster im Mittelalter. Berlin/New York 2009, S. 105-123. Bei Thomas heißt es entsprechend, eine Tugend sei eine Grundeinstellung, durch die man gut handelt: virtus est habitus quo quis bene operatur (S.th. I-IIae q.56 a.3). Zu den Tugenden generell vgl. Peter Geach: The Virtues. Cambridge 1977. So sagt es Thomas auch in Bezugnahme auf Aristoteles in S.th. I-IIae q.51 a.2: multiplicatis actibus generatur quaedam qualitas in potentia passiva et mota quae nominatur habitus.
171 den deutschen Wendung einsichtig machen. Dieser Habitus als konstante Gewohnheit identifiziert dann im Falle von Tugenden und Lastern den Handelnden nachgerade als einen solchen oder solchen: als einen Gerechten, einen Wollüstigen, einen Tapferen, einen Geizhals, und so weiter. Von selbstangewöhnten, solchermaßen eingeschliffenen Handlungskonstanten unterscheidet Aristoteles in der Nikomachischen Ethik 1129a am Beispiel der Körperkraft die angeborenen, mitgegebenen Anlagen (er nennt sie „Vermögen“, dynameis). Für solche Anlagen kann man nichts und sie fallen deswegen auch nicht in den Bereich des Tadelnswerten oder Lobenswerten, des vituperabile et laudabile, wie die Übersetzung bei Thomas lautet (so De malo q.10 a.1 ad 1, q.11 a.1, q.12 a.2 ad 1, und öfter). Für die aristotelische Ethik sind sie aus diesem Grund eben deswegen, weil sie nicht wertend zugerechnet werden können, zumindest als Anlagen, ethisch indifferent.4 Anders verhält es sich mit dem, wovon hier nun die Rede ist und was Aristoteles Grundhaltung (hexis) nennt. Die lateinische Tradition spricht in Aufnahme des griechischen Wortgebrauchs von habitus – und für deren Ausprägung gilt, dass man eben sehr wohl „etwas dafür kann“: für Hilfsbereitschaft oder Gerechtigkeit oder Neid also zum Beispiel. Diese Grundhaltungen laufen nämlich auf oft ausgeübte, selbstgewählte Einzelhandlungen zurück, die sich dann durch die lange Ausübung zu einer eingeübten allgemeinen Handlungsausrichtung verfestigen – wie fließendes Wasser, das, wenn es sich immer in eine Richtung bewegt, mit der Zeit ein Flussbett bildet, nach dem es dann ständig fließt.5 In diesen Bereich ständig ausgeübter Handlungen und damit eingeübter Haltungen gehören nach Thomas von Aquin im Anschluss an die genannten aristotelischen Vorgaben auch die Laster, und an diesem Punkt setzt Thomas mit seiner Betrachtung der Laster in ein. Hauptlaster sind dementsprechend, wie6 sich für Thomas aus der sprachlichen Verwendung von „Haupt“, , ergibt , solche selbstverschuldet, also unter Verstandesvorlage und mit wählendem Willenseinsatz eingeübten, falschen Grundhaltungen (so I-IIae q.24 a.2), von Frage 8 Artikel 3: Interpretation
De malo
caput
S.th
4 5
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Diesen Gedanken findet man bei Thomas etwa in S.th. I-IIae q.24 a.1 und a.2 ausgeführt. Als „lasting dispositions at the level of the mind“ hat Elders die habitus daher bezeichnet (Leo Elders: The Ethics of St. Thomas Aquinas,, S. 135). Dass ein habitus somit zwar eine unreflektierte Inklination darstellen kann und sich dennoch moralischer Beurteilung nicht entzieht, hängt daran, dass ja eine grundsätzliche Wahl, im Sinne der aristotelischen prohairesis, an ihrer Wurzel liegt, und dass andererseits, wie Elders an gleicher Stelle richtig erklärt, Folgendes zu berücksichtigen ist: „[t]his does not mean that our intellect and will are entirely determined by virtues and vices to whatever action we perform. They remain open to different options, since the will continues to be free, but such permanent dispositions exercise a certain pressure, so that acting in conformity with them comes easily and is pleasurable“. So De malo q.8 a.1; q.9 a.3; und öfter.
172 Frage 8 Artikel 3: Interpretation denen her andere Laster oder auch schlimme moralische Einzelverfehlungen ihren Anfang nehmen. Das Kriterium von Richtigkeit und Falschheit ergibt sich für Thomas hierbei aus der dem Verstand zugänglichen Übereinstimmung mit der Wesensbeschaffenheit (natura) des Menschen, wie das ja7 auch Thema in der Diskussion der richtigen Willenswahl in Quaestio 6 war. – Eine Todsünde ist dagegen die Umsetzung einer inneren lasterhaften Grundhaltung in eine schuldhafte Einzelhandlung, und zwar so, dass die Handlung diese Grundhaltung sozuHandlungssagen emblematisiert.8 Es handelt sich dann um eine Handlung oder art, die ihrer ganzen Erklärlogik nach auf ein Laster zurückläuft.9 Diese Intensivart von Schuld macht insbesondere der Umstand aus, dass sie sozusagen den Lebensweg eines Menschen charakterisiert, den seine fehlerhafte Grundeinstellung entscheidend formt oder, im Sinne der Privationstheorie: den seine Grundeinstellung entscheidend deformiert, ankränkelt oder „vitiiert“. Es ist interessant zu sehen, wie sich schuldhafte Handlung und Grundeinstellung an dieser Stelle der ethischen Überlegungen bei Thomas von Aquin verzahnen, ohne dass Handlung und Einstellung ihre relative Eigenständigkeit in der Erklärung des moralisch Üblen zu verlieren drohten. Eine schuldhafte – böse, üble – Handlung kommt so zustande, wie Thomas es in q.3 a.3 und q.6 vorgeführt hat. Laster als innere Einstellungen entstehen aufgrund von wiederholten Hand7
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Im Hinblick auf S.th. I-IIae q.49 a.2 schreibt Leo Elders daher: „A habitus is a determination or disposition of something in accordance with its nature or opposed to it. An illness is a disposition not in conformity with our nature, while health is conformed with it. The term habitus refers to a disposition which is durable. [...] By mentioning that some habitus are according to our nature, but others not, Thomas laid the foundation for his treatises on the virtues and the vices, placing them within the larger genus of the habitus“. Thomas selbst sagt in S.th. I-IIae q.71 a.3: ex hoc autem vita et peccata in hominibus proveniunt quod sequuntur inclinationem naturae sensitivae contra ordinem rationis. – Wobei ordo rationis in beiderlei Sinn zu verstehen ist als „Anordnung (im Sinne von Befehl) der Vernunft“ und als „vernünftige Ordnung“. Das gilt für Schuld wie für Sünde. Den Unterschied genauso wie die gemeinsame Wurzel von Schuld und Sünde definiert Thomas wie gesehen in der zweiten und dritten Quaestio von De malo und fasst den Unterschied (Gottesbezug) in Gemeinsamkeit (Handeln wider das eigene Gut) etwa auch in der Summa contra Gentiles III c. 122 so zusammen: non enim Deus a nobis offenditur nisi ex eo quod contra nostrum bonum agimus. Ähnlich formuliert er auch in S.th. I-IIae q.71 a.6. De malo q.8 a.1: Hauptlaster (vitia capitalia) werden so genannt, „weil von ihnen her die anderen Laster und Sünden ihren Anfang nehmen“. Zum Verhältnis von Laster und Sünde vgl. auch Leo Elders: The Ethics of St Thomas Aquinas, S. 173: „Is a vice worse than an act proceeding from it? Virtuous and sinful acts are at a higher level of actuality than the habitus of which they are acts. For instance, it is better actually to do what is good than to be capable of doing it. Likewise people are not punished because of a vice they have, but because of their bad actions. On the other hand, a habitus is more permanent than an act, and from this point of view a habitus is a greater evil than a bad action“.
173 lungen einer bestimmten Art, weshalb es auch dazu kommt, dass man die entsprechenden Handlungen danach geradezu als emblematisch für die Einstellung ansehen und jene aus diesen gleichsam „ablesen“ kann. Und doch ist es nicht so, dass die Handlung ohne die lasterhafte Grundeinstellung dann keine Schuldhandlung mehr wäre, auch wenn sie dann nichts mehr hat, was sie emblematisieren könnte. Schuldhandlung und Todsünde bleibt sie allemal. Das scheint nur auf den ersten Blick seltsam nach dem ganzen Vorlauf, den Thomas in seiner Erklärung habituellen Verhaltens bietet. Seltsamer allerdings wäre es, wenn wir nicht intuitiv einsähen, was falsch läuft, wenn Tom Waits im Stolz darauf, den Habitus des Rauchens endlich abgelegt zu haben, sich eine Zigarette ansteckt und zu Iggy Pop sagt: “you know, the beauty of quitting is that … now that I quit, I can have one; ʼcause I quit. You know?“ Wie aber kommt es überhaupt dazu, dass der Mensch zu solch einer abartigen Grundeinstellung findet, wie sie ein Laster ist? Die Beantwortung bedarf eines klärenden Blicks auf die Lehre von den „Affekten“ und sinnlichen Trieben, vom 10 appetitus und von den passiones animae, bei Thomas von Aquin. Diese wiederum erfordert einen kurzen Vorlauf zu seiner Anthropologie.11 Thomas vertritt mit der aristotelischen Tradition die Ansicht, dass die Triebe, Instinkte, Impulse oder Leidenschaften, welche die menschliche Natur mit der vernunftlosen Animalität teilt, rational vollkommen zustimmungswürdig zur Lebensführung sind. So etwa das, was man den Selbsterhaltungstrieb nennen könnte, den Sexualtrieb, den Überlebenstrieb und was dergleichen mehr ist.12 Zumindest sind sie für ein menschliches Wesen, das naturgemäß sinnlich und geistig ist, alle „sinnvoll“. Frage 8 Artikel 3: Interpretation
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Thomas kann affectus (oder affectio) und passio (animae) in diesem Sinne durchaus synonym verwenden: passionibus sive affectibus (so in der Expositio in quattuor libros meteorologicorum Aristotelis II 11a); feinere Differenzierungen anderswo müssen hier nicht weiter kümmern. Vgl. zu diesen Ludwig Schütz: Thomas-Lexikon. Stuttgart 1958, sub voce „affectus“. Dies auch als zusätzliche argumentative Absicherung; denn: „Jede ethische Theorie setzt ein bestimmtes Leitbild des Menschen als eigenverantwortlichem Wesen voraus, auch wenn ihre einzelnen Urteile sich nicht einfach aus diesem Vorverständnis ableiten lassen“, sagt Eberhard Schockenhoff, woran sich das Folgende orientiert (Eberhard Schockenhoff: Glück und Leidenschaft. Das Gefüge menschlicher Antriebe in der Tugendethik des Thomas von Aquin. In: Martin Thurner (Hg.): Die Einheit der Person. Beiträge zur Anthropologie des Mittelalters. Festschrift für Richard Heinzmann. Stuttgart 1998, S. 99-124, hier
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102). Womit Thomas etwa gegen die stoische Auffassung vorgeht, solche passiones, das heißt Leidenschaften, Affekte usw., seien per se schlecht oder „Krankheiten“ oder „Defekte“ der Seelentätigkeit: Vgl. weiter unten die Stellungnahme von Thomas in De malo q.12 a.1; vgl. desweiteren S.th. I-IIae q.24 a.2; dazu auch Elders: The Ethics of St Thomas Aquinas, S. 99.
174 Frage 8 Artikel 3: Interpretation Diese Triebe13 machen das irdische Menschsein zum guten Teil mit aus und leiten es in bestimmten Hinsichten. So ist per se gar nichts an ihnen von Übel. Das Perfide an den Hauptlastern ist gemäß der Interpretation des Thomas nun aber Folgendes: Jedes von ihnen, und jedes in anderer Weise, greift einen dieser förderlichen und notwendigen Triebe oder Impulse auf und richtet das Trachten des Menschen ganz danach aus. In der Vereindeutigung, die das Wort „ganz“ hier ausdrückt, liegt aber genau das Fehlerhafte, das vitium, der daraus resultierenden Lebenseinstellung. Denn auf eine Kurzformel gebracht, ist das Problem mit den Hauptlastern: Sie verabsolutieren das in und mit den Trieben vorliegende Antriebsgute, sie kaprizieren sich darauf, das menschliche Trachten ganz danach auszurichten, sie treiben die Triebe auf die Spitze und erheben sie über alles andere und jeden anderen – der Hochmut und der Neid also etwa die Selbstbehauptung gegenüber anderen, die Habgier den Selbsterhaltungstrieb, die Wollust den Sexualtrieb, die Völlerei den Ernährungstrieb. Aus natürlichen Grundlagenmitteln zur Lebensführung werden bei den Hauptlastern selbstgewählte abschließende Lebensziele. Was als Antriebsgutes im Sinne des „gut zu“ seine relative Zustimmungswürdigkeit hatte und in diesem Sinne ja auch weiterhin behält, wird dadurch zum Ziel. Dieser Mittel/Ziel-Fehlschluss vom Guten, das zu etwas dienen soll und dem Guten, dem alles dient, entspricht der Anfälligkeit des Menschen als (in Herders berühmten Worten) „erstem Freigelassenen der Natur“ gegenüber seinen natürlichen, aber eben für ihn in rationaler Eigenregie bestimmbaren Vorgaben. Die natürlich diktierende Ordnung, in der sich etwa das Tier gegenüber diesen Trieben oder Instinktmaßgaben befindet, wird durch den Ausfall oder (besser gesagt:) die Überwindung dieser Diktatstruktur beim Menschen in den hier interessierenden Hinsichten also positiv „gestört“.14 Thomas spricht dann 13
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Ich subsumiere hier und im Folgenden, wo immer es ohne Schaden geschehen kann, Verschiedenes unter diesem Wort „Trieb“, da es ähnlich dem Begriff passio oder affectus eine vorgefundene und nicht selbstentworfene Passivität gegenüber einem Anspruch der Allgemeinnatur ausdrückt. Vgl. dazu auch S.th. I-IIae q.24 a.4 mit den Ausführungen von Elders: The Ethics of St Thomas Aquinas, S. 100, sowie S. 137: „To the extent that the senses and the sensory appetite act by virtue of their nature, they are not determined by habitus, since their activity is given with their very nature and is already determined. But in man, in so far as the senses follow commands of reason they can be directed to different objects and so there is room for habitus […]. The sense-faculties of animals do not follow orders commands of reason and so there are no habitus in them. Only when animals are trained by man, can habit forming in their faculties occur to a certain extent“. Interessant zu vergleichen ist auch die Bemerkung über Instinkt und Vernunft im desiderium naturale des Menschen bei Bénézet Bujo: Die Begründung des Sittlichen. Zur Frage des Eudämonismus bei Thomas von Aquin. Paderborn/München 1984, S. 94 Anm.2: „Denn auch wenn dieses desiderium nicht so beschaffen ist wie bei den Nichtvernunftbegabten, gehört es doch instinktartig zur vernünftigen Natur, zumal die Vernunft selbst ‚Instinkt’ genannt wird, wenn auch ein
175 vom inordinatus appetitus, dem regellosen Streben, zu dem die Hauptlaster den natürlich guten Antrieb übertreiben und dann in dieser falschen Form kultivieren. Dass das Böse in einem Zuviel des Guten – in einem Fehlen am (guten) Maß des Guten ‒ liegen kann, ist ein in diesem Zusammenhang wiederkehrendes Motiv 15 bei Thomas, das er von Augustinus übernimmt. Das macht auch die Attraktivität und somit die Gefährlichkeit der Hauptlaster aus16: Laster sind nämlich so gesehen – zumindest prima facie – ziemlich plausible Lebenseinstellungen, da sie natürlich nachvollziehbar sind und drängenden elementaren Impulsen entsprechen. Natürliche Grundimpulse verschränken sich hier verführerisch schnell und einander offenbar eingängig erklärend und bedingend auf der Ebene der Stilisierung des Antriebsguten zum Strebensguten. Genau diese eingängige und im Grunde plausible Attraktivität der Hauptlaster macht nun aber ihre Gefährlichkeit aus: Man muss die so gefasste natürliche Antriebsstruktur des Menschen ja vernünftigerweise gutheißen. Bei der grundsätzlichsten aller ethischen Herausforderungen jedoch, nämlich zu klären, was in welcher Weise gut ist, versagt nun der, der sein Leben nach einem Laster ausrichtet. Das Gutheißen des Antriebsguten hat also Grenzen, die in der rational zu klärenden und für sich selbst dann auch anzunehmenden Auffassung von „gut“ liegen. (Man wird kaum fehlgehen, wenn man in den entsprechenden Ausführungen von De malo der Sache nach eine Kritik am sogenannten „naturalistischen Fehlschluss“ erkennt: Eine Fehleranalyse also aus der Überlegung, dass das Gute sich durch keinen anderen Begriff gleichwertig substituieren lässt, und daher Versuche, dieses Gute gleichwertig durch das „Durchsetzungsfähigere“, „Arterhaltende“, generell: das „Funktionalere“ zu ersetzen, das Proprium des Guten verkennen und somit scheitern müssen. Die augenscheinliche Plausibilität, die in der anthropologischen Analyse des Frage 8 Artikel 3: Interpretation
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höherer Instinkt“; sowie auf S. 96: „Damit unterscheidet Thomas klar zwischen dem allgemeinen Streben in allen Geschöpfen und dem, das nur den Vernunftbegabten eigentümlich ist. Genau dies bringt es mit sich, daß der appetitus naturalis immer richtig ist, während das Vernunftwesen ihm ein anderes Ziel geben kann, das jeglicher Richtigkeit entbehrt“. Vgl. De malo q.15 a.1: „So ist das Essen dann unmäßig, wenn es nicht der körperlichen Gesundheit angemessen ist, der es als seinem Ziel ja verpflichtet ist. Ziel des Gebrauchs der Geschlechtsorgane ist die Zeugung und Aufzucht von Nachkommenschaft, und daher ist jeder Gebrauch dieser Organe, der nicht auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet und ihrer Aufzucht verpflichtet ist, in sich selbst schon ungehörig. Jedweder Akt jedoch der besagten Körperteile jenseits des Verkehrs von Mann und Frau ist offenkundig nicht auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet.“ Ähnlich q.15 a.2 ad 12. Ähnlich konstatiert Bujo: Die Begründung des Sittlichen, S. 90, im Fazit seiner Untersuchung zum Glücksbegriff bei Thomas, dass „jeder sittlich handelnde Mensch ein Ziel hat: er will ein bonum, das ihn entfaltet und zufrieden stellt. Daran ändert sich nichts, auch wenn der Mensch das malum mit dem bonum verwechselt; denn im Grunde strebt er das malum unter dem Aspekt des bonum an“.
176 Frage 8 Artikel 3: Interpretation Thomas der Zustimmung des Lasterhaften zur Stilisierung eines natürlichen Einzeltriebs zugrundeliegt, ist also gewissermaßen dieselbe, die auf der Interpretationsebene der Attraktivität des „naturalistischen Fehlschlusses“ unterliegt. Der Begriff des moralisch Guten soll hier ersetzt werden, und zwar einsinnig funktional: Als das einzig Gute für die Handlungsausrichtung wird in beiden Fällen das alles subsumierende „gut zu“ angesehen, das dem Strebensobjekt eines Einzeltriebs entspricht. Was Thomas von Aquin selbst vor einem „naturalistischen Fehlschluss“ bewahrt (der ihm mitunter zum Vorwurf gemacht wurde), ist sein Naturbegriff, der ihm eine17„normative Ontologie“ ermöglicht, ohne in die naturalistische Falle zu führen. ) Laster erzählen der Lebensplanung oder Existenzausrichtung also nur die halbe Wahrheit: Denn das Antriebsgute, dem sie sich in Form von Selbsterhaltung oder Selbstbehauptung, Sexualtrieb usw. verschreiben, ist keineswegs ein letztes Ziel (genausowenig wie der Nachrückerbegriff der „Genomerhaltung“ oder „Genomsicherung“ ein solches definieren kann). Vielmehr sollen sie doch einem Ziel dienlich sein. Wer diese Impulse oder Instinkte also im Kurzschluss wie Ziele seines Lebens ansieht, begeht einen existentiellen Fehler. Indem er hier etwas seiner ganzen ethischen Textur nach bloß Vorläufiges oder Partikuläres zum abschließenden Lebensziel macht, schließt er sich vom wirklichen 18Lebensziel ab, worin nach Thomas der Existenzfehler par excellence zu sehen ist. Laster fallen deswegen unter das vituperabile et laudabile, weil der Mensch – so wiederholt Thomas eine traditionelle Auffassung, der er emphatisch zustimmt – es selbst in der Hand hat, sich zu den Affekten und Leidenschaften zu verhalten.19 Der Mensch ist nämlich (so war auf Grundlage der Aussagen von De malo q.6 zu sehen) insofern frei, als er diese natürlichen Ansprüche richtig einordnen und zuordnen kann. Diese Freiheit ist es auch, was es ermöglicht, im Hinblick auf die20 Erkenntnis des Guten alles partikulär Gute in Kommensurabilität zu bringen. 17
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Vgl. dazu die Bemerkungen bei Franz Josef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 282-285, sowie Otfried Höffe: Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln. Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik. Stuttgart 1988, S. 34. Bujo: Die Begründung des Sittlichen, S. 77, kommentiert im Hinblick auf sich wiederholende thomasische Aussagen (S.th. I-IIae q.2 a.8, I q.12 a.1, Summa contra Gentiles IV cap.54 usw.): „Wenn nämlich [...] die beatitudo im eigentlichen Sinn bonum perfectum sein soll, das voll befriedigt – sonst wäre es ja kein finis ultimus –, dann kommt nur ein bonum universale in Frage, das aber bei keinem Geschöpf zu finden, sondern einzig Gott eigentümlich ist“. Vgl. dazu einschlägige Aussagen wie: „Vernunft und Wille werden von etwas äußerlichem, was im Körper oder den Sinneskräften Leidenschaften hervorruft, durchaus zum Tätigsein angestachelt, doch verbleibt es in der Macht der Vernunft und des Willens, ob dann gemäß solcher Leidenschaftsbewegungen gehandelt wird oder nicht“ (De malo q.16 a.7 ad 17). Richtig sagt daher Daniel Westberg: Right Practical Reason, S. 79: “[Thomas’s] philosophy of human action is not at all an ‘emotive’ one in that passions are not the primary agen-
177 Der Mensch ist durch dieses sekundäre Verhalten gegenüber seinen natürlichen unmittelbaren Affekten und die Ordnungserkenntnis selbstbestimmt, er ist in der Lage, seinen Lebenswandel zu evaluieren, sein eingefleischtes Verhalten anzunehmen oder zu verwerfen. Das bringt es mit sich, dass der Mensch in der gebrochenen Betrachtung des Unmittelbaren auch in der Lage ist, anzunehmen oder zu verwerfen, ob er ein solcher oder ein solcher Mensch sein möchte: ein Geiziger, ein Maßvoller, ein Wollüstiger. Er kann also selbst entscheiden, worum es ihm im Leben eigentlich geht.21 Der Mensch ist deswegen sein eigener Herr, weil er sich gegenüber den an ihn herantretenden Impulsen kraft Wille und Vernunftanordnung frei verhalten kann. „Das ist aber nur deshalb möglich, weil sich die Tendenz unseres naturhaften Wollens nicht bruchlos auf der Ebene unseres absichtsvollen, vernunftgeleiteten Handelns fortsetzt, sondern das Unterscheidungsvermögen der Vernunft und eine bewusste Wahl dazwischentreten“.22 Frage 8 Artikel 3: Interpretation
Der Hochmut von Quaestio 8:
Im expliziten Rückgriff auf Augustinus befasst sich Thomas zu Auftakt seiner eben nachskizzierten Hauptlasterinterpretation nun auch mit der superbia, dem Hochmut, als dem „Deklinationsmodell“, dem Paradigma der Lasterstruktur allgemein. Diese Struktur hatte Thomas darin aufgezeigt, dass hier eine Ausrichtung auf das alles partikular (und insbesondere instrumentell) Gute subsumierende und integrierende übergeordnete Gute, nach dem alles Handeln strebt, abgeschnitten und zugunsten der partikularen Auftretensformen von Gutem verunmöglicht wird. Die superbia nun gibt denjenigen Fall dieser Verunmöglichung an, in welchem die Ausrichtung auf ein letztes Gutes dadurch verhindert wird, dass der Handelnde das zustimmungswürdige Gute, als das er nur noch sich selbst erkennt, als absolut setzt, und zwar im eigentlichen Sinne des Wortes absolut: als unbezüglich, in letzter Instanz auf nichts Weiteres mehr verwiesen als auf sich selbst. Der Hochmütige zeigt also an sich selbst eine Grundkonstante der Laster generell auf: 21
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cies for decision or execution of action. They may help to shape or motivate action, but in Thomas’s scheme the sensitive appetite is subject to the rational part of the soul”. Leo Elders: The Ethics of St Thomas Aquinas, S. 173, bemerkt richtig: „If vices are contrary to nature, how do we explain, that one finds them more frequently in people than the virtues? One would expect that what is natural predominates. The answer to this difficulty lies in man’s dual nature, sc. his rational and his sensual nature. Since the sensual part comes first and the intellect begins its work with the help of the material collected by the senses, one can understand that a good number of people move predominantly at this first level and frequently act in opposition to the order of reason, although not without a judgement and decision of the mind“. So Eberhard Schockenhoff: Glück und Leidenschaft, S. 103. Vgl. Franz-Josef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 82, mit Verweis auf einschlägige Formulierungen in De veritate q.22 a.4.
178 Frage 8 Artikel 3: Interpretation Dass sie nämlich das kontingent oder partikulär Gute, das sie proklamieren und verfolgen, als unbezüglich auf ein übergeordnetes Gutes hingestellt haben wollen. Im Falle der superbia wird deutlich, wie der Handelnde sich selbst allein das Zielgute ist und damit all sein Handeln allein auf sich selbst als Bedingungs- und Zielgrund gleichermaßen zulaufen lässt. Sein Handeln stellt in Mittel, Zweck und Ziel, in Ausgangssubjekt und Zielobjekt ein in sich abgeschlossenes (daher unbezügliches) System dar, in dem nicht nur (wie eigentlich richtig) das Handlungsziel das Handlungsmittel bestimmt, sondern durch das Ineinanderfallen von Handlungsziel und Handlungsmittel in einer Person eben auch das Mittel das Ziel. Es ist die klassische abgeschlossene Selbstbezüglichkeit des ständigen Zurückdrehens auf sich selbst, eine curvatio in seipsum.23 Das spezifische Thema des dritten Artikels:
Wovon handelt auf dieser Grundlage der dritte Artikel von Quaestio 8? Es soll ja offenbar darum gehen, festzustellen, welchem psychischen Vermögen der Hochmut als Laster anzurechnen ist. Fürs Erste soll folgender Hinweis genügen, um zunächst die Fragestellung zu erläutern: Gemäß der aristotelischen Habituslehre sind Laster fehlgeleitete natürliche Ausrichtungen des Menschen. Diese Ausrichtungen werden tätigkeitsrelevant, wenn der Fall eintritt, dass man etwas begehrt oder gegen etwas aufbegehrt – ähnlich wie etwa der24 Wille in Tätigkeit kommt, um etwas zu erreichen oder um etwas zu vermeiden. Die Vorabeinwände bieten die zu erwartenden Alternativen zur These, die Thomas dann verteidigen wird, sie bereiten die thomasische Lösung durch den Hinweis auf die Rolle der Vernunft aber auch eindeutig vor: - Zunächst scheint der Hochmut in keiner der Zornaufwallung zugehörigen Leidenschaften zu bestehen: weder in der Furcht, noch im Wagemut, noch in der Hoffnung oder der Verzweiflung, und auch nicht in der Wut. Überhaupt hat er scheinbar nichts von dem an sich, was wir mit Aufbegehren gegen irgendetwas in Verbindung bringen. (Einwände 1, 5) 23
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Zu diesem Gedanken der curvatio bei Augustinus, auf den Thomas unmissverständlich Bezug nimmt, vgl. unter anderem Confessiones II 6,13, De civitate Dei XII 6, De civitate Dei XIV 13 und öfter. Ähnlich sagt es Augustinus in De duabus animabus 10, 14: „Der Wille ist eine zwanglose Bewegung der Geistseele mit dem Ziel, etwas nicht zu verlieren oder etwas zu erlangen“ (voluntas est animi motus, cogente nullo, ad aliquid vel non amittendum, vel adipiscendum).
179 - Vielmehr sei der Hochmut doch viel besser als Fehlleistung der menschlichen Vernunfttätigkeit begreifbar, und zwar entweder der verstandesspezifischen oder der willensspezifischen. (Einwände 2-4; 7-21) - Insofern der Hochmut doch etwas Erfreuliches sucht und sich danach ausrichtet, könnte er doch auch im Begehrensvermögen seinen Sitz haben. (Einwände 6; 22-24)
Frage 8 Artikel 3: Interpretation
[1] Thomas beginnt die Beantwortung der Frage damit, zunächst ein viel grundsätzlicheres Problem zu erörtern: Wenn danach gefragt wird, welchem psychischen Vermögen der Hochmut als Laster anzurechnen ist, so muss zuerst festgestellt werden, welche psychische Vermögen denn überhaupt dafür in Frage kommen, für Tugend und Laster eine Rolle zu spielen. Die Antwort darauf fällt nicht schwer, und Thomas gibt sie im Hinblick auf das dritte Buch der aristotelischen Schrift De anima folgendermaßen: Was auch immer moralische Relevanz besitzt, ist als willentlich zu bestimmen, und also müssen auch Laster und Tugend über das willentliche Tätigsein des Menschen bestimmbar sein, das heißt im Blick auf den actus humanus. Was jenseits der Eingriffsmöglichkeit des Willens liegt, ist auch nicht als dem Menschen spezifisch und individuell anrechenbar anzusehen, es läge jenseits des Lobens- und Tadelnswerten. Nun läuft alles Willentliche aber auf zwei Prinzipien zurück, auf nur zwei psychische Ermöglichungsgrundlagen: Eine davon ist der Verstand, der erkennt, was überhaupt als erstrebenswert angesehen werden kann, die andere ist ein Umsetzungsvermögen oder Anwendungsvermögen, also ein psychisches Vermögen der aus individueller Bewertung aktiven Selbstausrichtung auf eines von dem, was der Verstand als grundsätzlich erstrebenswert erkennt. Beide Vermögen sind Vermögen der Vernunft, doch tendiert der allgemeine Sprachgebrauch gerne dazu, metonymisch „Verstand“ für die Vernunft insgesamt25 zu sagen und allein das genannte Strebevermögen als „Willen“ zu benennen. 25
Das Verhältnis von Verstand/intellectus und Vernunft/ratio bei Thomas ist gut definiert, aber bisweilen intrikat. Dazu gehört, dass es ein unterschiedliches Überordnungs- und Unterordnungsverhältnis von ratio und intellectus gibt, je nachdem, ob man die „Extension“ (das Wort sei hier faute de mieux einmal so belassen) oder die Ranghöhe ansprechen möchte: Der Extension nach steht die ratio bei Thomas zumeist in einem Inklusionsverhältnis zum intellectus. Der Ranghöhe nach ist der intellectus das allen Vernunftoperationen Übergeordnete. Was dann metonymisch für das jeweils andere stehen kann oder die Priorität in der Nomenklatur hat, ergibt sich dieser Differenzierung gemäß. Manchmal weist Thomas von Aquin zusammenhangsabhängig Verstand und Vernunft auch zwei unterschiedliche Funktionsweisen bezüglich des Erkennens zu (quantum ad modum cognoscendi), also etwa Erfassen und diskursives Erschließen (so S.th. I q.59 a.1 ad 1), doch kann er unter anderer Hinsichtnahme diese beiden Funktionsweisen auch wieder ganz dem Intellekt zuschlagen (so in der Expositio in Aristotelis Analytica posteriora I 1 a).
180 Frage 8 Artikel 3: Interpretation [1.1] Was den Verstand betrifft, so hat er ein bestimmtes Verhältnis zu seinen Objekten. Die Verstandesverrichtung bedeutet, wenn sie richtig vollzogen wird, dass ein von der Tätigkeit des Strebevermögens gut unterscheidbares Ergebnis zustandekommt: Das (Verstandes)Objekt ist im Verstand. Es handelt sich dann, wie Thomas sagt, um eine wirkliche Aneignung. Das heißt: Was man wissen wollte, „hat man“ nun, man hat es sich zu eigen gemacht, es verinnerlicht, oder wie auch immer man dazu sagen möchte – „das Begriffene ist im Begreifenden“ (quod apprehensum est in apprehendente). Das heißt nicht, dass man die Sache, auf die sich der Verstand richtet, extensional oder gar materiell im Verstand hat. Deswegen bietet Thomas in Ausweitung dessen, was er sagt, den Vergleich mit der nicht verstandesmäßigen Wahrnehmung an: Auch das Wahrgenommene (als das Objekt der Wahrnehmung) „hat man“ in diesem Sinne wirklich in der Wahrnehmung, ohne durch diesen Aneignungsvorgang das Objekt als Sache in sich aufzunehmen – auch hierin bezieht sich Thomas auf das dritte Buch von De anima (424b und 427a). 26
[1.2] Das Strebensvermögen dagegen verleibt sich das Objekt nicht ein, oder besser: Das Strebevermögen ist dann im höchsten Sinne aktiv und tut das, was es als Strebensvermögen ausmacht, wenn es das Objekt eben noch nicht erreicht hat. Das Strebevermögen besteht also ganz darin, auf etwas hin zu tendieren, das nicht besessen wird. Während also der Verstand seine Tätigkeit im höchstvollendeten ihn definierenden Sinne darin hat, sich sein ihm entsprechendes Objekt ganz angeeignet zu haben, hat das Strebevermögen seine Tätigkeit im höchstvollendeten und es definierenden Sinne darin, auf sein entsprechendes Objekt ganz ausgerichtet zu sein, ganz auf es aus zu sein. Man kann sich den Unterschied leicht folgendermaßen verdeutlichen. Wer sagt: „Hast du das verstanden?“, setzt voraus, dass der Befragte sich jetzt im perfekten Vollzug der Verstandestätigkeit befindet. Wer fragt: „Hast du das erstrebt?“, setzt voraus, dass sich der Befragte jetzt nicht mehr im Strebensvollzug befindet, sondern das Streben vorbei ist. Und die Frage „Verstehst du das?“ bedeutet: Hast du das internalisiert? Während die Frage „Erstrebst du das?“ bedeutet: Du bist offenbar auf dieses etwas aus – und das heißt soviel wie: Du hast es noch nicht. Interessant ist nun, dass Thomas aufgrund dieser Unterscheidung Folgendes feststellen kann: Die Ansicht, man „habe“ den Hochmut, verkennt die psychologische Grundsituation, um die es sich hier handelt. Vielmehr bedeutet Hochmut soviel wie: auf eine Art von Vortrefflichkeit aus sein, die man nur deswegen 26
Ein weiterer locus classicus für dieses Theoriestück ist Aristoteles, Metaphysik 1072b1426. Aristoteles handelt hier von der geistigen Betrachtung oder „Schau“, theôria, die nicht auf Wissenserwerb aus ist, sondern auf Wissenserwerb aufbaut, also kein Suchen ist, sondern ein Denken mit dem der Denkende bereits „identisch“ geworden ist: Anders gesagt: Die theôria ist die Ausübung des Habitus des Wissens.
181 überhaupt anstreben zu können vermeint, weil man sein möchte, was man nicht ist. Daraus ergibt sich, dass der Hochmut seinen Grund im Strebevermögen hat. Frage 8 Artikel 3: Interpretation
[2] Das sieht nun aber zunächst danach aus, als habe Thomas einen Fehler begangen, denn offenbar liegt am Grunde des Hochmuts doch ein Erfassen, nämlich im Sinne einer Wahrnehmung von sich selbst. Doch Thomas kennt noch eine weitere Unterscheidung der psychischen Momente, die seine Erklärung unschwer erläutern kann. Sie lautet: Streben wird durch ein Voraberfassen bewegt. Das Streben verlegt sich auf etwas, das vorab erfasst wird und das Strebevermögen in die ihm eigentümliche Aktivität versetzt. Erfassungsvermögen aber gibt es von Allgemeinem, dann spricht man von Verstand, aber auch von Einzelnem. Dieses letztere nennt Thomas sinnliches Vorstellungsvermögen. Hier richtet sich das Streben nach etwas aus, das man erstens ohne abstrakte Verstandestätigkeit erfasst hat und das zweitens kein unmittelbares Wahrnehmen äußerer Objekte ist. Dies sind Dinge, die man sich vorstellt, das heißt, die man sich als konkret und objektgebunden einbildet. Auch hier orientiert sich Thomas an Aussagen des Aristoteles im dritten Buch der Schrift über die Seele (De anima 425b und vor allem 427b428a): Vorstellung ist nämlich zum Beispiel auch solches, das man innerlich wahrnimmt, ohne dass der Wahrnehmungsgegenstand vor Augen steht, also der äußeren Wahrnehmung ein aktuelles Bezugsobjekt bietet. So stelle ich mir ein Haus auch dann vor, wenn es gerade keins zu sehen gibt, und in diesem Fall ist die Vorstellung dann eine Erinnerungsleistung (etwa bei einem Heimkehrenden) oder eine Projektionsleistung (etwa bei einem Architekten), die sich auf sinnlich Wahrnehmbares bezieht, das aktuell, das heißt im Vollzugszeitpunkt der Vorstellung, eben nicht sinnlich wahrnehmbar ist. Es handelt sich also um ein sinnliches Vorstellungsvermögen. Dieses Vermögen besteht darin, dass der Mensch sinnliche Bilder entstehen lässt, die sich ihm als ein erstrebenswertes Gut darstellen können – und somit als Ausrichtungspunkt seines Strebens.27 Und so fehlt für die erfolgreiche Beantwortung der Frage nach dem Streben gemäß diesen sinnlichen Bildvorlagen nur noch eine weitere Überlegung: Für die menschlichen Belange reicht es nach Thomas hin, festzustellen, dass beide Erfassungsvermögen, von denen hier die Rede war – Verstand und Vorstellungsvermögen – ein ihnen zugeordnetes Strebevermögen haben, ohne das sie jeweils steril blieben: der Verstand den Willen und das sinnliche Vorstellungsvermögen den Trieb. Diese Unterschiedlichkeit ergibt sich Thomas zufolge aus 27
In De anima III 428b26-429a9 ergibt sich dann folgende Bestimmung von „Vorstellung“: Verwirklichte Wahrnehmung ist das Material (die Möglichkeitsvorlage) für die Verwirklichung (das Zustandebringen) einer Vorstellung. Sie ist eine eigene Fähigkeit/Tätigkeit, die Wahrnehmung voraussetzt, sich aber von den eigentlichen Denkakten wie meinen, wissen, begreifen unterscheidet.
182 Frage 8 Artikel 3: Interpretation der Verschiedenheit der Ausrichtungsgegenstände beider Vermögen.28 Wie en passant füllt Thomas von Aquin damit auch noch eine gewisse „Leerstelle“ der aristotelischen Psychologie aus: Aristoteles hatte die Frage nach Bestehen und Funktionsweise einer vernünftigen orexis, also eines rationalen Strebevermögens, offengelassen oder zumindest unterbelichtet gelassen (so etwa in seiner Lehre vom „durch Überlegung geleiteten Streben“, der boulikê orexis: NE 1113a). Eine kleine Synopse des Gesagten (Schema 2) kann die bisherigen Differenzierungen der verschiedenen Vermögen – oder besser vielleicht: Vermögensausprägungen – noch einmal synoptisch vor Augen führen:
Schema 2: Die Vermögensausprägungen von Vernunft und Sinnenapparat
Vernunft
Sinnlichkeit
Verstand (vernünftiges Erfassungsvermögen)
Vorstellung (sinnliches Erfassungsvermögen)
Wille (Strebevermögen der Vernunft)
„Trieb“ (sinnliches Strebevermögen)
[2.1] Der Wille hat, wie in De malo schon mehrfach gezeigt wurde, das Gute zum Strebensziel. Die eindeutigste Aussage für diesen Zusammenhang ergab sich in der Passage von q.6 [2.1], die erläuterte, wie sich das Erfassen des Guten im Zusammenspiel von Wille und Verstand ergibt. Sie sei als Hintergrund für das Folgende nochmals kurz in Erinnerung gerufen: Die vom Verstand erfasste allgemeine Form bietet dem Willen keine eindeutige einzelne Festlegungsvorgabe. Denn der Verstand erfasst die Dinge ja gleichsam ohne Formverwirklichung. Handlungen, wie sie aus dem Willensvermögen hervorgehen, sind aber Einzel28
Dieses Viererverhältnis ist von Bedeutung für die folgenden Interpretationen der weiteren Auswahlartikel von . Daher hier noch einmal die emphatische Zusammenfassung von Jean Porter: , S. 253: „The will is the form of appetite proper to a rational creature, insofar as it depends on judgements of reason to specify its particular objects. As such, it is distinguished from other kinds of desires, that is to say, the passions, which are common to the rational person and other kinds of animals. Yet it shares important elements in common with these, and also with the more general forms of appetite found in all creatures. Correlatively, the passions as they exist in rational creatures have a cognitive component.“ De malo
Nature as Reason
183 vollzüge und keineswegs in diesem Sinne allgemein. Menschen handeln also willentlich, ohne durch den Verstand und seine Vorgabeleistung auf genau diese oder jene Einzelhandlung festgelegt zu sein. Frage 8 Artikel 3: Interpretation
[2.2] Der Wille hat also, dies ersieht man aus der Behandlung von Quaestio 6, gemäß der Vorgabe des Verstandes das Gute zum Strebensgegenstand. Der Trieb aber hat gemäß den Vorgaben des Vorstellungsvermögens sinnenfällige Einzelwirklichkeiten oder Spielarten von Gutem zum Gegenstand, nämlich was vorstellbar oder sinnlich fassbar ist und gleichzeitig als gut gelten kann. Gut heißt im Falle des sinnlichen Strebevermögens soviel wie „den Sinnen angenehm“. Dabei ergibt sich aber eine weitere Unterscheidung innerhalb des vorstellungsgeleiteten sinnlichen Strebens. Was den Sinnen angenehm erscheinen kann, ist nämlich entweder dem Begehrensvermögen geschuldet, das unmittelbare Erfüllung darin sucht, in Kontakt mit dem vorgestellten Objekt zu kommen;29 oder aber es kann den Sinnen als angenehm erscheinen, dass sich eine Vorstellung davon bildet, wie man etwas erreicht, das einer gewissen Ranghöhe im Bereich sinnlicher Lustgewinnung entspricht – also als Zukunftsvorstellung etwa. Das wird daher in den meisten Fällen nicht dieselbe unmittelbare Wirkung tun wie im Falle des begehrenden Strebevermögens, jedoch immer noch den Sinnen ein entsprechendes Einzelgut als vorgestellten Ausrichtungsgegenstand offerieren und deswegen in den Bereich des sinnlichen Strebevermögens gehören. Anders als die Regungen des begehrenden Vermögens, „die in spontaner Zustimmung oder Flucht, in Freude und Liebe, in Trauer und Hass auf die Begegnung mit einem sinnlichen Reiz antworten“, sind die Regungen dieses zweiten sinnlichen Strebensvermögens komplexer: „Durch sie reagiert die menschliche Psyche auf die Gefahr, die mit der Erreichung eines sinnlichen Gutes verbunden ist, oder auf den Widerstand, den sie dazu überwinden muss.“30 Thomas formuliert hier sehr anschaulich: es handelt sich um ein das sinnliche Streben in Bewegung versetzendes Gutes, welches so wirkt, 29
30
Nikomachischen Ethik spricht Aristoteles über Lust und Unlust und macht dabei deutlich, was unter einem peripatetischem Gesichtspunkt überhaupt interessant und erklärend an Lust und Begierden ist. Lust ist nach Aristoteles eine Begleiterscheinung der Vollendung einer Tätigkeit, der Indikator eines auf Vollendung hingeordneten Handelns. Dies lässt sich in den Gesamtzusammenhang der Nikomachischen Ethik auch so einbauen, dass die Lust in dieser Hinsicht dem Empfindungsglück, das heißt dem episodalen Glück, gleichen kann, das ja ebenfalls als Indikator etwas Übergeordnetes, das Lebensglück, anzeigen kann. Denn Empfindungsglück, auch wenn es nur eine kleine Weile dauert, ist nach Aristoteles ein Indikator für das große Glück, das Lebensgelingen also. So Eberhard Schockenhoff: Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas von Aquin. In: Christian Schäfer/Martin Thurner (Hg.): Passiones animae. Die Leidenschaften der Seele in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie. Berlin 2008, S.151-170, hier 157. In Buch 10 der
184
Frage 8 Artikel 3: Interpretation
dass es in der Vorstellungswelt von Lebewesen einen hohen Rang einnimmt, weil es dem Lebewesen erlaubt, Schädliches von sich abzuwenden und eigenmächtig das eigene Gut zu betreiben. Dieses Gut hat nichts von sinnlichem Vergnügungswert an sich und bringt von mal zu mal auch spürbaren Schmerz im Gefolge, wie etwa bei einem Tier in Revierkämpfen.
So hatte es auch Avicenna gesagt: Es handelt sich hier um das Vermögen, das uns dazu bewegt, alles Schädliche und Verderbliche vermittels eines „Verlangens zu 31 siegen“ zurückzuweisen. Es ergeben sich mithin zwei Vermögensarten für das sinnliche Strebevermögen, für das also, was man den menschlichen „Trieb“ nennen könnte: eine begehrende Vermögensart (hier gilt: das Strebensobjekt ist gut insofern gilt, dass es den Sinnen angenehm ist, weshalb man dieser Aussicht erliegt – das Streben ist mehr ein sich anziehen Lassen oder – aktiv formuliert – das einem Magnetismus Folgen) und eine aufbegehrende (hier gilt: Das Strebensobjekt ist gut insofern es eine bestimmte Qualität in der Vorstellungswelt in Aussicht stellt, was dazu führt, dass man sich deswegen gewissermaßen „einen Stoß versetzt“, sich „zu etwas aufrafft“).32 Bei der Umsetzungstätigkeit in der erstgenannten Variante „agiert das Individuum auf hohem energetischen Niveau gleichsam als Medium seiner Triebkraft“, während die zweite in gewissem Sinne eine „Symbolisierungsfähigkeit“ voraussetzt, die es verhindert, dass sich die Anlage des Triebmoments bruchlos auf der Ebene der resultierenden Tätigkeit fortsetzt; sie legt „eine Distanz zwischen Impuls und Handeln“ und eröffnet damit Spielräume für die Tätigkeitsumsetzung.33 Die Strebetendenzen dieses Vermögens erfordern somit eine „höhere psychische Anspannung und die Bereitschaft zum Triebverzicht um anspruchsvoller Ziele willen“, setzt sich doch die entsprechende Regung „gegen eine widrige äußere Güterwelt zur Wehr, deren komplexe Reize sie nicht einfach durch ein dem Lustprinzip gehorchendes Auslösungsschema beantworten 31 32
33
Vgl. Avicenna, De anima I c.5 (f.4 vb B; Van Riet 83). Dies muss für den vorliegenden Zusammenhang vorerst genügen. Eine eingehendere Bestandsaufnahme der beiden Strebevermögen bietet Schockenhoff: Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas von Aquin, insbesondere S. 154-159. Die Zitate und Formulierungen entnehme ich dem Beitrag von Irmgard Gephart: Erfüllung und Entsagung. Die Leidenschaft der Gottesminne bei Mechthild von Magdeburg. In: Christian Schäfer/Martin Thurner (Hg.): Passiones animae. Die Leidenschaften der Seele in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie. Berlin 2008, S.123-132, hier 124-125. Gepharts Formulierung bezieht sich dabei auf eine vielleicht zu optimistische Interpretation der sogenannten „Primäremotionen“ und „Sekundäremotionen“ in der psychologischen Triebforschung, deren Ergebnisse Gephart vergleichend auf den Zusammenhang der mittelalterlichen Leidenschaftslehre anwendet. Für Thomas übernehme ich hier jedoch nur die Formulierungen ohne das Hintergrundkonzept bewerten oder gar mitaufnehmen zu wollen (dieses behandelt ja nun auch wohlgemerkt eher die Emotionen als die Triebe).
Frage 8 Artikel 3: Interpretation
185
Dieses „aufbegehrende Vermögen“ kann somit als die wehrhafte Seite des unmittelbaren begehrlichen Strebensvermögens angesehen werden. Dies wiederum ist nur möglich, weil sich das aufbegehrende in mindestens einem bedeutsamen Sinne von diesem unterscheidet: Sein „Gegenstand ist nicht das unmittelbare sinnliche Erlebnisobjekt, sondern das schwierige und nur unter Anstrengung zu erreichende Gut“.35
kann“.34
[2.3] Aus den Überlegungen von [2.1] und [2.2] ergibt sich also das Bild vom Willen, der auf das Gute aus ist, und den beiden Strebensvermögen, die auf das Einzelne aus sind, das sich unter der Maßgabe des vom Willen angeschauten Guten als erstrebenswert darstellt.36 Daraus lässt sich aber auch erkennen: Der Wille kann sich auf alles verlegen, worauf sich Begehren und Aufbegehren richten können, diese Beziehung lässt sich aber nicht umkehren. Will sagen: Der Wille kann dank seiner „Kompetenz“ in der Feststellung des Guten auch feststellen, was gut ist, während die beiden Strebevermögen in ihrer Kompetenz der Ausrichtung auf Einzelnes (unter anderem) davon abhängig sind, dass sie die Maßgabe des Guten vom Willen empfangen. Der Erstreckungsbereich des Willens ist daher extensional größer als derjenige der beiden Strebevermögen, da diese nur einzelnes Gutes feststellen können, der Wille jedoch auch nichtpartikulär Gutes, also zum Beispiel, dass es gut ist, dass es die Welt gibt oder dass man eine Muttersprache hat, in der sich Relativpronomen deklinieren oder Verben in den Aorist setzen lassen. Kurz und gut: Der Wille kann sich auf all das verlegen, worauf sich die beiden in [2.2] genannten Strebevermögen verlegen können. Doch tut er dies auf andere Weise als die beiden sinnlichen Vermögen. Als Aspekt der Vernunft nämlich ist der Wille geistiges Vermögen und als solches ist er 34
35
36
Schockenhoff: Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas von
Aquin, S. 157.
Schockenhoff: Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas von Aquin, S. 157. An selber Stelle macht Schockenhoff noch den plausibilisierenden Vorschlag, den Vergleich dieses aufbegehrenden Seelenvermögens mit den psychologischen Erklärmustern etwa des „Realitätsprinzips“ (nach Sigmund Freud) oder der „lebensförderlichen Aggressivität“ (bei Erich Fromm) nicht zu scheuen. Die Passage stellt damit auch die Bedeutsamkeit der Strebevermögen für den Menschen heraus: „Thomas übernimmt weder einen prinzipiellen Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit noch die Zweiteilung der menschlichen Affekte in eine obere, vernunftbeherrschte Region, die zum Sitz der sittlichen Tugend wird, und eine darunter liegende Sphäre reiner Leidenschaftlichkeit, die durch den Abbruch ihrer Spontaneität allenfalls einen negativen Beitrag zum moralischen Handeln leisten kann. Vielmehr rechnet er damit, dass alle menschlichen Antriebskräfte, also auch die seelischen Affekte und die sinnlichen Neigungen, zur wesensgemäßen Vollendung des Menschen beitragen, sofern sie sich auf sein vernunftbestimmtes Lebensziel hinordnen lassen“, so Eberhard Schockenhoff: Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas von Aquin, S. 154.
186 Frage 8 Artikel 3: Interpretation nicht organisch tätig.37 Dies wiederum schließt für das Tätigsein des Willens etwas aus, was für das Tätigsein der sinnlichen Strebensvermögen konstitutiv ist: dass es nämlich leidenschaftlich vollführt wird. Das setzt voraus, dass die Leidenschaften in diesem Sine mit leiblichen Regungen einhergehen, mit intensiven körperlichen Veränderungen. Tatsächlich spricht Thomas hier in diesem intensiven Sinn von den Leidenschaften. Und er tut dies öfter, wie zum Beispiel in seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik (II 5): „So bleibt, dass man im eigentlichen Sinne von Leidenschaften (passiones) bei den Tätigkeiten des sinnlichen Strebens spricht, die einer organischen Veränderung im Körper (transmutatio organi corporalis) entsprechen und von denen der Mensch in irgendeiner Weise zu etwas geleitet wird (quodammodo ducitur)“. Ähnlich, um nur noch einen weiteren Beleg anzuführen: „Der Tätigkeitsvollzug des sinnlichen Strebens wird immer von irgendeiner Veränderung im Körper begleitet […]. Insofern also der Tätigkeitsvollzug (actus) des sinnlichen Strebens eine körperliche Veränderung im Gefolge hat, wird sie Leidenschaft genannt“ (S.th. I q.20 a.1 ad 1). – Thomas schließt diesen Abschnitt daher mit den Worten: „Und so können alle inneren Regungen, die im Begehren und Aufbegehren leidenschaftlich vorliegen – wie etwa die Liebe, die Freude, die Hoffnung und alles von dieser Art – auch im Willen sein, aber eben ohne Leidenschaft“. [3] Auf dieser Einsicht von [2.3], dass der Wille über all die inneren Regungen verfügt, die sich auch in den sinnlichen Strebevermögen vorfinden, lastet das Fazit, das Thomas zur psychischen Grundlage des Hochmuts zieht. Das Fazit ist, dies zeigt der Argumentationsverlauf zu seiner Gewinnung, nicht nur in sich selbst interessant, sondern vor allem in Anbetracht der philosophischen Leistungsfähigkeit seiner anthropologischen Voraussetzungen. Die Artikelfrage schien nahezulegen, dass bezüglich der „psychologischen Ortsbestimmung“ des Hochmuts nur zwei Kandidaten in Frage kämen: das sinnliche begehrende Strebensvermögen und das sinnlich aufbegehrende Strebensvermögen. Thomas hat 37
De anima III 429a23-429b9, wo die Begründung, dass die Vernunft keines Organs bedarf, folgendermaßen lautet: Der denkende Seelenteil ist nichts Körperliches (sonst hätte er körperliche Eigenschaften wie warm oder kalt). Er hat auch kein Denkorgan, denn zum Denken ist gemäß Aristoteles ein Organ (wie das Gehirn) nicht in gleicher Weise nötig wie etwa Sinnesorgane zur Wahrnehmung (es könnte ja theoretisch auch reine, das heißt körperlose Geistwesen geben). Der Unterschied zu organverwiesenen Erfassungsvermögen zeigt sich aber auch darin, dass das Denkvermögen durch hohe Intensität oder Quantität seiner Bezugs- oder Aufnahmegegenstände nicht gemindert wird (wie etwa die organgebundenen Wahrnehmungstätigkeiten: Das Sehen bei großer Helligkeit oder das Hören bei großer Lautstärke). Außerdem: Der Geist kann sich jederzeit aus sich heraus selbst aktivieren (wie ein Wissender, der sein Wissen jederzeit wieder aktivieren kann). Das Sehvermögen und alle anderen wahrnehmenden Vermögen nicht: Diese müssen von der Außenwelt, von etwas, das nicht sie selbst sind, aktiviert werden. Vgl. Aristoteles,
187 mit seiner Diskussion der psychischen Vermögen das Panorama weiter ausgespannt. Zwar sagt er gemäß den Ausführungen von [2.2] deutlich, dass der Hochmut ganz klar dem aufbegehrenden Vermögen zuzurechnen ist: Grundlage der psychischen Bewegung, die dem Laster als natürliche Grundlage dient, ist ja die Ranghöhe in der Vorstellung von sich selbst, und die Regung, die dieser Vorstellung entspricht, ist wie zu sehen war eine des aufbegehrenden sinnlichen Vermögens. Dass der Hochmut sich als eine zur persönlichkeitsformenden „zweiten Natur“ verfestigte übersteigerte Vorstellung von der eigenen Vorzüglichkeit definieren lässt, hatte Thomas im vorhergehenden Artikel 2 gezeigt. Dort sagt er: Frage 8 Artikel 3: Interpretation
Nun ist unter vielen anderen Dingen, die der Mensch naturgemäß wünscht, eines die eigene Vortrefflichkeit. Denn es ist nicht nur für den Menschen, sondern für alles Mögliche, ein typischer Zustand, Vollkommenheit im erstrebten Gut zu wünschen, und das besteht eben in einer gewissen Vortrefflichkeit. Wenn daher also das entsprechende Streben die Vortrefflichkeit nach Maßgabe der von Gott unterrichteten Vernunft angeht, so gilt es als gehörig und der Seelengröße zuzurechnen […]. Wer unter diesem Maßstab bleibt, verfällt dem Laster der Kleinlichkeit. Wenn dagegen dieser Maßstab überschritten wird, hat man es mit dem Laster des Hochmuts zu tun, wie das Wort ja schon zeigt: Denn hochmütig sein heißt nichts anderes als sich im Streben nach Vortrefflichkeit hoch über das eigene Maß hinaus wagen. Weswegen Augustinus im 14. Buch von auch sagt, dass der Hochmut ‚das Streben nach maßlos übersteigerter Selbsterhöhung‘38 ist. Die Bürgerschaft Gottes
Doch lässt sich die so getroffene Bestimmung des Hochmuts nun eben nicht allein und für alle Fälle abdeckend auf das psychische Vermögen des Aufbegehrens zurückführen. Thomas verweist ergänzend auf den Willen, der sich auf ein nichtsinnliches Gut ausgerichtet finden und hochmütig sein kann. Verschiedene Konstellationen, in denen solches geschehen kann, werden in diesem Artikel erwähnt. So etwa folgende, die sich in der Einzelantwort auf den zweiten Vorabeinwand findet. Sie bringt Sinnesvermögen und Willen zum Entstehen des Hochmuts in Verbindung:
Wie oben bereits gesagt, ist der Hochmut, der sich auf die nichtsinnliche Vortrefflichkeit verlegt, nicht Sache des Aufbegehrens, sondern des Willens. Dennoch kann es auch in Fällen solcher Vortrefflichkeit bisweilen dazu kommen, dass man sich in der Vorstellung Folgen aus solch einer Vortrefflichkeit ausmalt, bei denen dann doch von Hochmut als Sache des Aufbegehrens gesprochen werden kann. Wie etwa wenn jemand seiner Vortrefflichkeit in der Ausübung einer Wissenschaft wegen Lob erhält oder irgendeinen spürbaren Ehrenzuwachs davon hat.
Eine weitere Überlegung argumentiert mit der Möglichkeit, dass auch Wesen ohne sinnliche Ausstattung hochmütig sein können. Damit verweist Thomas auf die theologische Interpretation des Engelfalls, welche in der Philosophiegeschichte nach langem Ringen die Frage nach der Möglichkeit, ob Wesen, die rein geis38
Augustinus, De civitate Dei XIV 13,1.
188 Frage 8 Artikel 3: Interpretation tig, körperlos und somit ohne sinnliches Streben tätig sind, auch hochmütig sein können, psychologisch plausibel zu erklären vermochte.39 Im Zusammenhang der Quaestio 16 über die Dämonen wird näher darüber gehandelt werden. Interessant sind in diesem Zusammenhang desweiteren noch einige verstreute Beobachtungen aus den Einzelantworten zu den Vorabeinwänden des Artikels 3 der achten Quaestio von De malo selbst. So hebt die Antwort auf die siebte obiectio die Rolle der Vernunft beim Hochmut heraus, was einerseits die Einbeziehung der Willenstätigkeit als konstitutiv für die schuldhafte Selbstüberhebung noch einmal erklärt, andererseits aber die Vernunft des Willens auch etwa in ihrer allem konkret Gegebenen zeitlich vorausgreifenden Funktion als relevant für die Erklärung des Hochmuts ins Spiel bringt: Eine Handlung kann auf dreifache Weise zu einem Laster gehören: erstens unmittelbar, zweitens vorgängig und drittens als Folge. So gehört Rachsucht etwa unmittelbar und wesensgemäß zum Zorn, diesem aber geht der Gram über eine erlittene Verletzung voran, und zur Folge gehört die Freude über die Bestrafung desjenigen, der die Verletzung verursacht hat. Daher gehört genauso der maßlose Vortrefflichkeitsanspruch unmittelbar und sozusagen wesensgemäß zum Hochmut, diesem voraus geht jedoch die Selbsteinschätzung, solcher Vortrefflichkeit auch zu entsprechen, und zur Folge des Hochmuts gehört, dass man diese Selbsteinschätzung und sein entsprechendes Verlangen in Wort und Tat zur Schau trägt. Von diesen drei besprochenen Weisen ist die erste einer Regung des aufbegehrenden Strebensvermögens anzurechnen, die anderen beiden hingegen der Vernunft. Denn die Auffassungsgabe der Vernunft geht der Strebensbewegung voraus, und die Maßgabe der Vernunft über die äußere Verrichtung folgt ihr.
Diese Erinnerung an die heraushebenswerte Rolle der Vernunft wird in der Antwort auf den dreizehnten Vorabeinwand wieder gegenbalanciert. Dieser hatte das oben angesprochene Thema der paradigmatischen Rolle des Hochmuts für die Hauptlaster überhaupt mit folgender Behauptung zu erklären versucht: „Der Hochmut ist der König aller Laster. Wie ein König zu herrschen ist aber Sache der Vernunft. Also gehört der Hochmut in die Vernunft.“ Doch Thomas bleibt bei seiner Linie. Mit der Entgegnung auf obiectio 7 ist
das Nötige und sinnvoll Vertretbare über die Rolle der Vernunft beim Zustandekommen des Hochmuts gesagt. Denn natürlich liegt es an der Vernunftfähigkeit, wie sie den Willen in seiner freien Betätigung schließlich erst erklärt, dass Hauptlaster überhaupt zustandekommen. Der Habitus als „zweite Natur“ geht ja auf die Konstanz bedingender willentlicher Handlungen zurück – und deswegen können zum Beispiel vernunftlose Wesen wie Tiere sich selbst auch keine solche „zweite Natur“ aneignen: Sie haben wesensgemäß und ohne freie Alternative nur die „erste Natur“, die ihnen ja auch völlig ausreicht. Daher lautet die Bestätigung der 39
Vgl. dazu – vor allem für die einschlägigen Überlegungen bei Augustinus und Dionysius Areopagita – Christian Schäfer: Unde malum, S. 242-276 und 440-52.
Frage 8 Artikel 3: Interpretation
189
im dritten Artikel erarbeiteten Antwort hinsichtlich des Zweifels über die Rolle der Vernunft: König der anderen Laster wird der Hochmut deshalb genannt, weil er seine Macht über die Abstimmung seiner eigenen Zwecksetzung mit der der anderen Laster auf alle diese anderen erstreckt, nicht aber, weil er in der Vernunft seinen Sitz hätte.
Frage 12 Artikel 1: Ist jeder Zorn von Übel? Übersetzung
[1]
[1.1]
[1.1.1] [1.1.2]
[1.2.]
Über diese Frage gab es vor Zeiten eine große Auseinandersetzung unter den Philosophen: Die Stoiker nämlich meinten, jeder Zorn sei von Übel, die Peripatetiker hingegen, dass gewisse Arten von Zorn gut seien. Damit man ersieht, was davon mehr der Wahrheit entspricht, muss man bedenken, dass bezüglich des Zorns wie jedweder sonstigen Leidenschaft zweierlei zu beachten ist, sozusagen eine formale und eine materielle Seite. In formaler Hinsicht ist zu beachten, dass Zorn aus dem Streben der Seele hervorgeht, will sagen, dass Zorn ein Streben nach Rache darstellt, in materieller Hinsicht aber, dass Zorn einer starken körperlichen inneren Bewegung zuzurechnen ist, nämlich dass Zorn darin besteht, dass Blut stärker um das Herz herum hochsteigt. Wenn man also den Zorn nach dem Formalen an ihm betrachtet, dann kann er sowohl im sinnlichen Streben wie im erkennenden, das heißt im Willen, sein, insofern etwa jemand willens sein könnte, Rache zu üben. Demgemäß lässt sich ausmachen, dass Zorn etwas Gutes wie etwas Übles sein kann. Denn es ist offenbar tugendsam, dass jemand Vergeltung gemäß der Sollensordnung der Gerechtigkeit sucht, etwa wenn er diese Vergeltung deshalb üben will, um einer Sünde entgegenzuwirken, ohne dabei gegen die Rechtsordnung zu verstoßen. Das nämlich heißt der Sünde zürnen. Allerdings ist der Zorn dann Sünde, wenn jemand Vergeltung suchen sollte, ohne alle Ordnung einzuhalten, sei es, dass er damit gegen geltendes Recht verstößt, oder dass er mit der Vergeltung eher auf die Vernichtung des Sünders abzielt als auf die Sünde selbst. Das nämlich heißt, seinem Bruder zürnen. Darüber hätte es wohl auch zwischen Stoikern und Peripatetikern keinen Streit gegeben, denn auch die Stoiker geben zu, dass der Vergeltungswille manchmal tugendhaft ist. Was jedoch das Zweite betrifft, nämlich die materielle Seite des Zorns oder die heftige Herzensbewegung, so drehte sich der ganze Meinungsstreit darum, da solch eine heftige Bewegung das Urteil der Vernunft verhindert, in dem in erster Linie das Gute an der Tugend zu finden ist. Und deshalb, weswegen auch immer jemand zürnen mag, scheint das der Tugend abträglich zu sein, und in entsprechendem Maße erscheint jeder Zorn lasterhaft.
192 [2]
Frage 12 Artikel 1: Übersetzung
Wenn man die Sache jedoch recht betrachtet, wird man finden, dass die Stoiker in ihrer Überlegung in dreifacher Hinsicht geirrt haben: [2.1] Zum ersten darin, dass sie nicht zwischen dem schlechthin Besten und dem jeweils Besten unterschieden haben. Es kommt nämlich vor, dass etwas schlechthin Besseres nicht das Bessere in einer bestimmten Situation ist, wie etwa Philosophie zu treiben für sich betrachtet besser ist als begütert zu sein; für einen Notleidenden aber ist es besser, begütert zu sein, wie Aristoteles im Buch 3 der Topik sagt. Wütend zu sein, ist gut für einen Hund, weil das seiner natürlichen Veranlagung entspricht, jedoch ist es das nicht für den Menschen. Weil nun der Mensch wesensgemäß aus Seele und Körper und seiner vernünftigen und sinnlichen Natur besteht, gehört es zum Gutsein des Menschen, dass er im Ganzen als solcher der Tugend unterstellt bleibt, das heißt, sowohl in Hinsicht auf seinen Vernunftaspekt, als auch hinsichtlich des sinnlichen Aspekts, als auch hinsichtlich der körperlichen Beschaffenheit. Deshalb ist es für die Tugendhaftigkeit eines Menschen erforderlich, dass der Wille nach gerechter Vergeltung nicht nur im vernünftigen Seelenteil angesiedelt ist, sondern auch im sinnlichen vorhanden ist und selbst im körperlichen, und der Körper selbst dazu drängt, sich in den Dienst der Tugend zu stellen. [2.2] Zweitens haben die Stoiker nicht bedacht, dass der Zorn und andere Leidenschaften ähnlicher Art sich in zweierlei Weise dem Urteil der Vernunft gegenüber verhalten können: einmal vorausgehend und dann sind Zorn und die ähnlich gearteten Leidenschaften notwendigerweise immer das Vernunfturteil verhindernde Dinge, da die Seele über die Wahrheit am besten in einer gewissen Ruhe des Geistes urteilen kann – weshalb Aristoteles auch sagt, dass die Seele in der Beruhigung wissend und klug wird. Zum zweiten kann sich der Zorn zum Urteil der Vernunft als Folge verhalten, weil nämlich nachdem die Vernunft ihr Urteil gefällt und eine Art und Weise der Vergeltung befohlen hat, die Leidenschaft, beides auch in die Tat umzusetzen, aufkocht. In diesem Fall verhindern Zorn und ähnlich geartete Leidenschaften keineswegs das bereits getroffene Vernunfturteil, sondern helfen vielmehr in dessen sofortiger Umsetzung und sind darin der Tugendhaftigkeit von Nutzen. Deshalb sagt Gregor der Große im fünften Buch der Moralschriften: „Man muss sich sehr davor hüten, dass der Zorn, der doch ein Werkzeug der Tugendhaftigkeit darstellt, dem Geist gebietet und ihm vorsteht als ob er sein Herr wäre; vielmehr soll der Zorn stets der Vernunft auf dem Fuße folgen wie eine dienstbereite Magd. Wenn der Zorn nämlich der Vernunft als Untertan dient, so erhebt er sich kraftvoller gegen die Laster.“ [2.3] Drittens irrten die Stoiker in ihrer falschen Auffassung vom Zorn und den anderen Leidenschaften. Obwohl nämlich nicht alle Wollensbewegungen Leidenschaften sind, so versäumten es die Stoiker doch, beide richtig
193 dadurch zu unterscheiden, dass die anderen Wollensbewegungen im Willen ihren Sitz haben, die Leidenschaften aber im sinnlichen Streben – und zwar weil die Stoiker zwischen Willen und sinnlichem Streben keine Unterscheidung trafen. Eine solche trafen sie nur so, dass sie die Leidenschaften als das Maß wohlgeordneter Vernunft überschreitende Strebenswegungen bezeichneten. Deshalb nannten sie sie gleichsam Krankheiten der Seele, wie die körperlichen Krankheiten die Grenzverletzungen gegen das gesunde Maß im Körper darstellen. Und somit kam es ihnen in den Sinn, dass jeder Zorn und jede Leidenschaft schlecht sei. Aber Zorn bezeichnet in Wahrheit eine nicht näher qualifizierte Bewegung des sinnlichen Strebens und so eine innere Bewegung kann durchaus von der Vernunft bestimmt werden. Insofern der Zorn dem Vernunfturteil folgt, dient der Zorn der Vernunft zur schnellen Umsetzung ihres Urteilsspruchs. Genau das erfordert aber die menschliche Natur ihrer Beschaffenheit nach: dass das sinnliche Streben von der Vernunft her bestimmt wird. Daher muss man notwendig mit den Peripatetikern darin übereinstimmen, dass einige Arten von Zorn gut und der Tugend förderlich sind.
Frage 12 Artikel 1: Übersetzung
[3]
De malo q.12 a.1: Interpretation
Das Problem, das sich dieser Artikel stellt, lautet einfach gefasst: Zorn ist ein Hauptlaster. Und als solches von Übel. Bedeutet das aber auch, dass jegliche Art von Zorn übel ist? Die Vorabeinwände behaupten dies ziemlich einsinnig, die Variationsbreite ist hier nicht besonders erwähnenswert. Thomas dagegen zeigt, dass Zorn anthropologisch gesehen keineswegs immer als negative Regung angesehen werden muss. Es geschieht selten, dass Thomas Erwägungen aus der Philosophiegeschichte zum Argumentationsrahmen einer Frage macht (in q.1 a.2 lag bei der Diskussion der „Platoniker“ schon einmal so ein Fall vor, allerdings hatte die philosophiehistorische Erinnerung dort eher den Charakter eines Aperçus). Für gewöhnlich geht er begriffsunterscheidend vor, wie die bisher eingesehenen Texte belegen – und in diesem Vorgehen liegt auch seine eigentliche Stärke. Im ersten Artikel der Quaestio 12 nun wählt Thomas eine antike philosophische Kontroverse als Leitfaden für seine Themenentwicklung. [1] In der antiken griechischen Philosophie vertraten die Stoiker die Meinung, Zorn sei in jeder seiner Auffassungsarten von Übel, die Peripatetiker widersprachen dem und lehrten, gewisse Arten von Zorn seien als gut zu verstehen. Thomas beginnt seine Lösung der anhand dieser beiden Philosophenschulen emblematisierten Streitfrage wieder einmal mit einer begrifflichen Differenzierung. Zorn lässt sich in zweierlei Hinsicht betrachten und entsprechend bewerten: Formal ist Zorn ein Seelenstreben, eine Bewegungsinitiative im geistigen Vermögen. Dann ist er eine innere Bewegung der Rache durch Beleidigung des Gerechtigkeitssinns. Material ist Zorn hingegen eine sinnlich motivierte organische Bewegung, die Thomas rein beschreibend als ein Aufsteigen des „Blutes ums Herz“ bezeichnet.1 [1.1] Formal kann Zorn also dem sinnlichen oder dem vernünftigen Streben angehören. Die Unterscheidung zwischen beiden hatte Thomas wie gesehen in Quaestio 8 Artikel 3 ausgeführt; demnach handelt es sich bei dem genannten vernünftigen Strebensvermögen um den Willen. Im selben Artikel hatte Thomas 1
Dass die innere Bewegung ein körperliches Korrelat hat, also etwa eine äußerlich sichtbare physische Reaktion, eine Beschleunigung des Herzschlags oder eine messbare regionale Gehirnaktivität, steht für Thomas aufgrund seiner anthropologischen Grundlagen außer Frage, ist für die Interpretation des Folgenden aber noch nicht genug. Es geht bei Thomas in der Deutung des Zorns vor allem um die Heftigkeit der leiblichen Bewegung und um die Frage, inwiefern sie die Tätigkeit der Vernunft, oder doch zumindest deren Handlungsanweisungen, verhindern kann.
195 auch ausgeführt, dass und warum der Wille all jene Regungen aufweisen kann, die auch den sinnlichen Strebevermögen eigen sind. Er hatte aber auch darauf hingewiesen, dass diese Regungen in einem rationalen Vermögen eben ohne Leidenschaft vorliegen. Auf den Zorn angewendet heißt dies: Als Bewegung des erkennenden Strebensvermögens entspricht der Zorn als motivierende Regung dem fest gefassten Vorsatz oder dem entschlossenen Vorhaben, im Hinblick auf einen verstandenen Verstoß gegen die Gerechtigkeit energisch einen Ausgleich wiederherzustellen, also „Rache zu üben“, und das, da es sich um ein rationales Streben handelt, gemäß allen Vernunftvorbehalten der Angemessenheit, Genauigkeit des Zeitpunkts, usw. (insbesondere die Quaestio 6 hatte ja diese „Maßregeln der Vernunft“ näher beschrieben). Diese Bestimmung des Zorns lässt nun aber zwei Möglichkeiten erkennen, ihn als ein rationales „Streben nach Vergeltung“ (quaerere vindictam) im Bezug auf die Artikelfrage einzuordnen: Frage 12 Artikel 1: Interpretation
[1.1.1] Problemlos ist die Wertung im Fall von angemessener Vergeltung: Hier ist Zorn etwas Gutes, da sich dann ergibt, „dass jemand Vergeltung gemäß der [vernünftigen] Sollensordnung der Gerechtigkeit sucht“. [1.1.2] Falls hingegen unangemessen vorgegangen wird, so ist der Zorn von Übel, und das Üble am Zorn liegt dann in jedem Fall daran, dass die Vernunftmaßgabe in zumindest einer Hinsicht verletzt wird. Entweder nämlich dadurch, dass das Vergeltungsstreben über das vernünftige Maß hinausschießt. Es ist dann also nicht retributiv im Sinne der arithmetischen Vergeltung, die Aristoteles als das vernünftiger Überlegung erschließbare Grundmaß der Gerechtigkeit 2 aufzeigt (beziehungsweise: es lässt dabei die Billigkeit, die Epikie, unbeachtet); oder es will eher die Vernichtung des Übeltäters als die des Übels. Dies widerspricht erstens dem Liebesgebot gegenüber dem Nächsten, hat aber zweitens auch seine privationstheoretische Erklärung in einer Unterscheidung, die in q.1 a.1 [1] von De malo bereits Gegenstand der Untersuchung war: Mag auch eine Handlung von Übel sein, so ist doch der Übeltäter ontologisch gesehen etwas Gutes. Zur Erinnerung: Im Fall der Trägerauffassung des Üblen ist der Träger (das eigenständig Seiende) selbst gut. So etwa im bekannten Beispiel, das Thomas wiederholt von Avicenna entlehnt, wenn der Wolf für das Schaf ein Übel darstellt, selber jedoch als Lebewesen kein Übel ist. 2
Über die “natürliche Arithmetik” der korrektiven Gerechtigkeit und die Epikie als fallspezifische Angemessenheit der Vergeltungszuweisung angesichts der betroffenen Personen und Umstände hatte Aristoteles in Buch 5 der gehandelt; Thomas arbeitet über diese Gegenstände im Sinne der aristotelischen Vorgaben zum Beispiel in II-IIae q.61 a.1 und a.2. Nikomachischen Ethik
S.th.
196 Frage 12 Artikel 1: Interpretation So weit, so gut. Und darüber „hätte es wohl auch zwischen Stoikern und Peripatetikern keinen Streit gegeben, denn auch die Stoiker geben zu, dass der Vergeltungswille manchmal tugendhaft ist“. [1.2] Worin liegt das Problem aber dann? In der korrekten Antwort auf folgende Frage: Verdunkelt beim Zorn die materiale Seite, die organische Bewegung, das Verstandesurteil? Hier lag der Streitpunkt zwischen Stoikern und Peripatetikern. Denn auch wenn der Wille als vernünftiges Streben ein Vermögen darstellt, das sich ganz den in [1.1.2] genannten Vernunftmaßgaben unterstellen kann: Verhindert nicht die begleitende – konkomitante3 – körperliche Regung genau das? Sollte die heftige organische Bewegung per se verhindernd auf die Einhaltung der genannten Vernunftmaßgabe einwirken, so hätten die Stoiker Recht und die leidenschaftliche Zornesempfindung wäre eine inakzeptable Widernatürlichkeit. Thomas teilt die Grundlage dieser Auffassung ja zumindest insofern, als er – weit jenseits jeder biologistischen Ansichten – die Vernunft als die Natur des Menschen verstanden wissen will. Sollte sich allerdings erweisen, dass die leidenschaftliche Zornesregung, und sei es nur von Fall zu Fall, als vernünftig integrierbar und somit selbst als vernünftig (im Sinne von „vernünftig zustimmbar“) gelten kann, so spräche alles für die Position der Peripatetiker. Das moralische Handeln des Menschen lässt sich nämlich nach Thomas nicht an jedweder Vernunftausrichtung als gut oder schlecht bemessen, sondern nur im Hinblick auf diejenige ordinatio, diejenige Ausrichtung, Anordnung oder Hinordnung der Vernunft, die auf das dem Menschen eigene Ziel, auf seine eigene Vollkommenheit als Mensch aus ist (so in der III cap.10). Summa contra Gentiles
[2] Soweit wie beschrieben waren sich Stoiker und Aristoteliker also zunächst gar nicht uneins. In dreierlei Hinsicht jedoch, so führt Thomas aus, lagen die Stoiker trotz grundsätzlich richtiger Einschätzung der Punkte [1]-[1.1.2] falsch. Und zwar: [2.1] Die Stoiker betrachteten den Menschen als moralisches Wesen quasi leiblos und das brachte es mit sich, dass sie letztlich nur noch das absolut Beste als Maßstab betrachten konnten, nicht aber das jeweils Beste.4 Somit konnten sie nicht 3
4
Diese Regung ist dennoch mehr als nur eine möglicherweise abdingliche Begleiterscheinung. Denn es wäre nach Thomas zum Beispiel „unsinnig, Emotionen einer reinen, vom Körper abgelösten Seele zuzuschreiben. Kurz und bündig hält Thomas fest: ‘Eine Emotion (passio) im strengeren Sinn findet sich dort, wo eine körperliche Veränderung stattfindet’(S.th I-II 22.3)“ (Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270-1670, S. 54). Vielleicht würde es sich unter dem einen oder anderen Gesichtspunkt sogar lohnen, diesen Gedankengang, der bei Thomas in verschiedenen Zusammenhängen verschieden formuliert
197 unterscheiden, dass für einen Notleidenden materielle Güter besser sind als Philosophie zu treiben, weil „besser“ in diesem Fall mit Recht nach dem Maßstab der Dringlichkeit bemessen wird, oder vielleicht treffender: „Besser“ heißt, für dieses Wesen gemäß seiner Konstitution (unter diesen Bedingungen) angemessener. Seit längerer Zeit schon wird immer wieder Peter Geachs Unterscheidung von logisch attributiv und logisch prädikativ gebrauchten Adjektiven zur Verdeutlichung dessen herangezogen, worum es Thomas von Aquin mit dieser Feststellung geht.5 Kurz gesagt unterscheidet sich der attributive Adjektivgebrauch vom prädikativen dadurch, dass er vernünftig erst dann stattfindet oder aussagefähig ist, wenn ein relevantes Begreifen vom Subjekt bereits vorliegt und dieses Begreifen ein richtiges Verständnis des Adjektivgebrauchs erst ermöglicht. So ist die Adjektivverwendung im Ausdruck „die schwarze Kuh“ prädikativ: Man kann unter „schwarz“ nichts anderes verstehen als eben das. Gesetzt den Fall, jemand würde sagen: „Hol’ mal die schwarze Kuh her“, so ließe sich die schwarze Kuh, vorausgesetzt den Fall, es stünde nur eine in der Herde oder im Stall, aufgrund der Spezifizierung als „schwarz“ leicht identifizieren, und zwar gleichgültig, ob ich in einen Stall trete und eine lebendige Kuh hole oder in eine Spielzeugtruhe blicke und eine Spielzeugkuh hole. Mehr noch: Gesetzt den Fall, man müsste einen Gegenstand holen, den man nicht kennt und noch nie gesehen hat, und man würde in ein Zimmer treten oder in eine Truhe blicken nur im Wissen darum, dass der gesuchte Gegenstand schwarz ist, würde man den Gegenstand finden – vorausgesetzt, es ist der einzige schwarze Gegenstand in der Referenzmenge. Anders gesagt: Jeder weiß genau, wie ein Ding „X“ ist, wenn es schwarz ist, auch wenn er nicht genau weiß oder verstanden hat, was dieses „X“ ist. Anders bei der Aussage „die kleine Kuh“ oder „die große Kuh“. Wer eine kleine Kuh aus einem Stall holt, hat es mit etwas wesentlich Größerem zu tun als jemand, der die größte Kuh unter den Tieren einer Spielzeugtruhe herausangelt. Man muss wissen, was eine Kuh (oder was ein Spielzeug) ist und wie ihre eigene Frage 12 Artikel 1: Interpretation
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wiederkehrt, mit der Kritik Hegels an Kants Universalismus in der Ethik zu vergleichen. Zumindest scheinen einige der Vorwürfe Hegels, die Jürgen Habermas in seiner kurzen Zusammenfassung dieser Kritik aufgezählt hat, für die Kritik der Stoiker bei Thomas keine ganz fremden Gedanken darzustellen – mutatis mutandis freilich: Die Verunmöglichung einer Kommensurabilität und vergleichenden Einzeleinordnung der Werte etwa, die Frage nach der Ohnmacht des Sollens und andere mehr; vgl. Jürgen Habermas: Vorwort sowie Treffen Hegels Einwände gegen Kant auf die Diskursethik zu? Beides in: Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a.M. 1991, S. 7-30. Peter Geach: Good and Evil. In: Analysis 17 (1956), S. 32-42. Vgl. dazu auch Brian Davies: Thomas Aquinas on God and Evil. Oxford 2011, S. 31-34. Natürlich sagt Geach damit nichts Neues, aber er sagt es in Termini, die im Darstellungsbemühen der Wissenschaftssprache auf breite Aufnahme gestoßen sind.
198 Frage 12 Artikel 1: Interpretation Wesensart ist, um zu wissen, ob sie als Kuh – oder als Spielzeug – klein oder groß ist. „Klein“ und „groß“ sind nach Geach Adjektive, die logisch attributiv verwendet werden. Was hat das mit De malo und der Stoikerkontroverse im Zorntraktat zu tun? Es hat mit der Verwendung von „gut“ und „schlecht“ zu tun. Nun ist „gut“ bei Thomas von Aquin nicht nur adjektivisch verwendet, und „das Gute“ ist nicht ausschließlich attributiv zu denken – an diesem Punkt scheitert diese Erklärungsvariante, oder besser: Hier greift sie für die Thomasinterpretation zu kurz.6 Dennoch ist damit etwas für die jetzt entstehende Erklärung in De malo gewonnen, da Thomas von Aquin tatsächlich eine Art Attributionslogik für die Rede von „G/gut“ und „Ü/übel“ oder „von Übel“ verwendet: Aus den ontologischen Erörterungen der Quaestio 1 von De malo war ja zu ersehen, dass man „gut“ und „übel/schlecht“ nur im Hinblick auf die eigene Vollendungsform des als gut oder schlecht Bezeichneten sinnvoll anwenden kann. Man kann also „gut“ und „schlecht/übel“ nur dann sinnvoll ermessen, wenn man weiß, worum es sich bei dem handelt, was als gut oder schlecht bezeichnet wird, bzw. als „Gutes“ und „Schlechtes“ im Sinne von Quaestio 1 Artikel 1. Auch in De malo q.2 a.4 wird mit wünschenswerter Deutlichkeit gesagt: „Es ist doch aber ganz offenkundig, dass nicht ein und dieselbe Vollendungsweise allem eigentümlich ist, sondern verschiedene Dinge eine ihrer Verschiedenheit entsprechende Vollendungsform haben“ ( ). – Wenn Geachs Auslegung nun tatsächlich auf Thomas anwendbar sein sollte (wogegen durchaus schwerwiegende und überzeugend textbasierte Bedenken formuliert worden sind), ergibt sich Folgendes, was zumindest für die Frage des Zorns weiterhilft, für deren Interpretation diese Deutungsvariante ja auch herangezogen wurde: Was diese Vollendungsform nämlich verfehlt, ist schlecht, was sie einlöst, ist gut. Und so kann man nicht sagen, „X ist schlecht“ oder „X ist gut“, ohne zu wissen, worum es sich bei „X“ handelt, denn andernfalls weiß man nicht, was unter „schlecht“ und „gut“ überhaupt zu verstehen ist – ganz anders als im Fall von „schwarz“.7 Das nun also sei der Fehler der Stoiker gewesen: Sie dachten, man könne für die Frage des menschlichen Handelns, wie sie das Thema des Zorns hier angeht, „gut“ (und, davon abhängig, „das Beste“), ohne Ansehung dessen betrachten oder verwenden, was den Menschen ausmacht.8 Anders gesagt: Sie unterließen entwemanifestum est autem quod non est eadem perfectio propria omnium, sed
diversa diversorum
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Vgl. Brian Davies: Thomas Aquinas on God and Evil, S. 33: “That is, perhaps, not the best way to report Aquinas at this point since he does not actually speak about attributes and properties”. Vgl. Brian Davies: Thomas Aquinas on God and Evil, S. 33: “So he thinks that we shall not understand statements of the form ‘X is bad’ unless we know what X is”. Dass es natürlich auch für den „Peripatetiker“ Thomas von Aquin etwa ein absolutes Gutes gibt, das jeder „Attributionslogik“ Hohn spricht, ist klar; vgl. Brian Davies: Thomas Aqui-
199 der die X-Bestimmung oder sie verfehlten sie. Dagegen stellt Thomas ein Vorgehen, das zur Einordnung des Zorns als gut oder von Übel genau von der XBestimmung anhebt, das heißt von der grundlegenden Auffassung von „Mensch“. Diese freilich ist (gemäß der Positionierung, die Thomas in diesem Artikel vornimmt), peripatetisch, also von Aristoteles herkommend. Das führt tief in den aristotelischen Hylemorphismus hinein, das heißt in die Lehre, dass alles, was in der sinnlich fassbaren Welt ist, nur als strukturierte Materie zu begreifen ist. Der Grundgedanke ist der einer Materie, die für sich selbst betrachtet kein eigenes Seiendes darstellt, sondern nur ein Seinsprinzip und als solches vollkommen strukturlos ist, und die dadurch, dass sie diese oder jene Strukturierung oder Form (forma) erhält, erst zu etwas wird. Dieses entstandene Etwas ist das, was es ist, durch die Struktur, die sich somit als Wesensbestimmung dieses Etwas erweist. – Auch sie ist aber Seinsprinzip, selbst also nichts Seiendes, sondern nur durch die9 Anreicherung mit Materie konstitutiv für Seiendes, das damit zustande kommt. Die Lehre des Hylemorphismus „conceives of a thing’s form as the way in which […] matter has to be organised or arranged in order for a thing of that kind, made of that matter, to exist“.10 Für den Menschen ergibt sich aus diesem hylemorphistischen Grundgedanken,11 da seine Seele, sein strukturgebendes Lebensprinzip als rationales zu gelten hat, als „Geistseele“, wie man häufig zu sagen pflegt(e): Alles, was ihn strukturell ausmacht, seine forma im Sinne seines Wesens,12 ist rational. „Ihrer Wesensbestimmung nach ist sie [die Seele] die Formbestimmung des Körpers“ (De veritate Frage 12 Artikel 1: Interpretation
q.16 a.1 ad 13), und das bedeutet für Thomas ganz unmissverständlich dann auch:
, S. 32: “Aquinas thinks that there is such a thing as unqualified goodness, goodness that is not that of a good such-and-such. His word for this is ‘God’”. Im Bereich des menschlichen Handelns aber gilt ein in genere suo-Vorbehalt hinsichtlich des Menschen. Der Prinzipienstatus von Form und Materie erklärt sich genau daraus; wären sie nicht bloße ontologische Prinzipien, sondern selbst wiederum schon ontische Wirklichkeiten, so könnte es aus ihnen keine vollständige eigene Substanz geben: „Aus verschiedenen bereits verwirklichten Seinseinheiten entsteht nicht nochmal eine eigene Einheit“ (Kommentar zu De anima a.11). E.J. Lowe: The Possibility of Metaphysics. Substance, Identity, and Time. Oxford 1998, S. 195. Vgl. dazu im Allgemeinen S.th. I q.76 a.1 und a.3, sowie Richard Heinzmann: Anima unica nas on God and Evil
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forma corporis. Thomas von Aquin als Überwinder des platonisch-neuplatonischen Dualismus. In: Philosophisches Jahrbuch 93 (1986), S. 236-259, und Richard Heinzmann: Ansätze und Elemente moderner Subjektivität bei Thomas von Aquin. In: Reto Luzius Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Berlin/New York 1998, S. 414-433, insbesondere S. 418-422 und 427-432. Dass unter Form (forma) auf diesem Hintergrund das Gleiche wie unter Wesen (essentia) verstanden werden kann, führt Thomas in De ente et essentia 1 aus.
200 Frage 12 Artikel 1: Interpretation “In der Definition der Seele ist der Körper miteingeschlossen“ (De spiritualis creaturis a.9 ad 4). Also ist „die Seele zwar unkörperlich, doch dem Körper verbunden“ (S.th. q.76 a.1 ad 4), oder deutlicher: „Die menschliche Seele ist immer einem menschlichen Körper verbunden“ (S.th. I q.51 a.1). Dass der Mensch sich ernährt und Stoffwechsel vollzieht, dass seine Haare wachsen und dass er altert, dass er Mann oder Frau ist, dass er aufrecht geht und keine Flügel hat, alles das ist ein Aspekt dessen und Beitrag dazu, dass er als rationales Wesen strukturiert ist – und nicht etwa als eigenständige oder separate Vollendungsstufen im Menschen zu denken, denen dann Rationalität nur noch aufgestockt würde. Dies erklärt auch, dass und warum es einen „rationalistischen Optimismus“ an der Wurzel der thomasischen Lehre vom Menschen gibt. Von Bedeutung für den weiteren Zusammenhang ist: Eine menschliche Person kann daher „Emotionen steuern oder sich zumindest in die Lage versetzen, dass sie sich Kontrollmechanismen aneignet“.13 Die belegenden Zitate hierfür sind im Werk des Thomas von Aquin ausgesprochen zahlreich. Einige prominente seien kurz aufgeführt, da sie den Gedankengang von De malo q.12 a.1 gut vorbereiten: „Hinsichtlich dessen, dass der Mensch ein Kompositum von Leib und Seele ist, ist all das, was zur Erhaltung des leiblichen Lebens beiträgt, für den [ganzen] Menschen etwas Gutes“ (S.th. I-II q.59 a.3), da die eine Natur des Menschen nur als ein Doppelsein (duplex esse) verständlich ist (Kommentar zu De anima II l.12 n.378), und: Weil der Mensch keinen Gebrauch von der Vernunft machen kann, ohne auch die Vermögen zu beanspruchen, die mit Körperorganen zu tun haben, ist der Mensch gehalten, für den Körper zu sorgen, um die Vernunft gebrauchen zu können (S.th. II-II q.142 a.1 ad 2).
Kurzum: „Die Seele verbindet sich mit einem Leib um des Denkens willen, das ihre eigentliche und hauptsächliche Tätigkeit darstellt“ und somit „enthält die Seele den Leib“, nicht umgekehrt ( I q.8 a.1 ad 2, ähnlich im IV d.44 q.1 a.2 sol. 1). Vielleicht hilft dabei auch folgender Rückgriff auf die Vorlage der aristotelischen Philosophie weiter: Aristoteles ging auf seiner Suche nach Definitionen nicht nur den Weg des kleinsten gemeinsamen Nenners, sondern schlug bisweilen den für viele Fälle weit interessanteren Pfad ein, das zu suchen, was das Definiendum in seiner höchstwertigen Darbietungsweise oder Vollendungsgestalt ausmacht und worin es sozusagen „aufgeht“. Für „Leben“ begnügte er sich daher nicht mit einer Bestimmung anhand von allgemeinen organischen Primärfunktionen wie Fortpflanzung, Stoffwechsel und Selbsterhaltung, sondern er definierte es S.th.
Sentenzenkom-
mentar
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Dominik Perler:
1670, S. 118.
Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270-
Frage 12 Artikel 1: Interpretation
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als das, was in rationaler Tätigkeit aufgeht.14 Mit der Formel anima unica forma corporis folgt für Thomas von Aquin daraus: Der Mensch als biologisches Wesen mit all seinen Neigungen, Trieben und seiner körperlichen Verfasstheit ist so wie er ist nur als vernunftförmig zu begreifen, denn „die wesensgemäß natürliche Neigung kommt aus der natürlichen Formgebung und von dem, was diese Formgebung durchgeführt hat“, sagt Thomas wie gesehen in De malo q.3 a.3.15 Man könnte fast mit einem Interpreten (ganz anderer philosophischer Provenienz) aus dem zwanzigsten Jahrhundert die gleichzeitige geistige und die körperliche Wirklichkeit des Menschen16 „als unterschiedliche Aspekte eines einzigen Informationszustands betrachten“ – solange man den Form-Gedanken in „In-Formation“ im Sinne der aristotelischen forma gelten lässt. Ironischerweise könnte gerade ein Beispiel aus dem platonischen Dialog Charmides diesen Gedanken recht gut illustrieren: Hier lässt Platon den Sokrates erläutern, die Seele strukturiere um des Vernunftgebrauchs willen den Körper in seiner Verfasstheit und seiner gesamten Aufbauart wie das Sehvermögen um des Sehens willen das Auge in seinem Aufbau strukturiert und an seinen natürlichen Ort im Ganzen des Körpers verweist. Das Auge sei folglich einsichtigerweise so aufgebaut, wie es aufgebaut ist, weil es die Sehfähigkeit gewährleisten soll, und ebenso verhalte es sich mit dem menschlichen Körper, der seine Struktur einsichtigerweise so hat, wie er sie eben hat, weil das die Vernunftbetätigung gewährleistet. Und so sei diese Art der Strukturgebung als eine umfassende, das heißt als eine das gesamte dadurch Zustandegekommene umgreifende und gleichzeitig als innere, das heißt inwendig im Sinne einer (auch) organisch tätigen durchformende, zu verstehen ( 156d-157c). Eine der Hauptstellen für diesen Gedanken der Vernunftförmigkeit, in der alles aufgeht, was den Menschen ontologisch strukturell ausmacht, findet sich im (I d.23 q.1 a.2) des Thomas von Aquin: Charmides
Sentenzenkommentar
Im Zusammensein von Leib und Seele wird in einem jeden von uns eine doppelte Einheit gebildet: Eine Einheit des Wesens und eine Einheit der Person. Die Einheit des Wesens entsteht, insofern die Seele mit ihrem Körper zusammenkommt und die Seele dem Körper eine solche Vollendung verleiht, dass aus beiden ein Wesen wird in derselben Weise, wie
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So Metaphysik 1072b: Leben ist die „Tätigkeit des Verstands (nous)“. Vgl. Arbogast Schmitt: Leben ist Denken (Metaphysik XII 7.1072b 27), S. 189-224. Vgl. zur Vernunftförmigkeit der natürlichen Neigungen Franz-Josef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 8. So David Chalmers: Das Rätsel des bewussten Erlebens. In: Spektrum der Wissenschaft 2 (1996), S. 40-47, hier 47; Chalmers’ Position wird daher als „neutraler“ oder „integraler Monismus“ gehandelt, eine Etikette, die – immer die mutatis mutandis-Klausel vor Augen – auch für den aristotelisch-thomasischen Ansatz in der Anthropologie verwendet werden könnte.
202
Frage 12 Artikel 1: Interpretation
aus Potenz und Akt oder aus Materie und Form. Die Einheit der Person entsteht, insofern ein Einzelnes leiblich-seelisches Eigensein besitzt.
Man kann sich die Tragweite dieser Feststellung – insbesondere im Kontrast zu anderen philosophischen Positionen – in ihren Konsequenzen gar nicht eindringlich genug vor Augen halten. Thomas spricht sie ja auch deutlich aus: „Ohne Sinnlichkeit wäre der Mensch überhaupt keine Person“ (De potentia q.9 a.2 ad 14) und so gilt für den Menschen: „ein wesensgemäß für sich selbst existierender Geist allein (mens ipsa, in sua natura existens) ist keine Person“ (S.th. I-IIae q.19
a.10). Somit erstreckt sich Tugend als die habituelle Optimalform des actus humanus auch auf alles, was den Menschen darstellt. Deshalb sagt Thomas von Aquin wie gesehen in De malo q.12 a.1: Weil der Mensch wesensgemäß aus Seele und Körper und einer vernünftigen und sinnlichen Natur besteht, gehört es zum Gutsein des Menschen, dass er im Ganzen der Tugend unterstellt bleibt, das heißt sowohl in Hinsicht auf seinen Vernunftaspekt als auch hinsichtlich seines sinnlichen Aspekts, als auch hinsichtlich der körperlichen Beschaffenheit.
Aus den genannten Überlegungen des Thomas von Aquin zur Natur des Menschen ergibt sich aber im Nachhinein auch noch einmal eine anthropologische Begründung für eine der hauptsächlichen Erklärungen des willentlichen Üblen. In q.6 [2.1] und q.8 a.3 ([2.1] - [2.3]) entwickelte Thomas die These, nach der das willentlich Böse als eine (wenigstens sporadische) Bevorzugung eines dazwischentretenden und perspektivisch näherliegenden Einzelguts zustande kommen kann. Aufgrund des „Doppelseins“ des Menschen (wie die etwas unzureichende und mitunter irreführende Übersetzung von wohl trotzdem lauten muss), wird auch klar, warum sich eine doppelte Strebensfähigkeit und Strebensbewegung (ein ) entsprechend erklären lässt: Eine bezüglich des der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit perspektivisch naheliegenden Einzelguts aus der Körperwelt, und eine bezüglich der geistig wahrnehmbaren Güter ( q.3 a.6 ad 5). Und so kann es sein, dass beide konkurrierend in Konflikt miteinander geraten und das Ergebnis dieses Konkurrenzkampfs gemäß den Erklärungen von q.6 [5.2.2] falsch ausgeht – das Beispiel vom Bier und dem Kopfweh diente dort als illustrativer Beleg. Ein Blick auf die anthropologischen Passagen in den Schriften des Thomas von Aquin belehrt somit des Weiteren übrigens darüber, dass die Deutungen, wie sie Heidegger in seinem und andere der Definition von anlasten, die rationale Seite werde hier nur einer grundlegenden Animalität angehängt oder aufgepfropft, Unrecht haben. Der hylemorphistische Grundgedanke und die Singularität des Durchformungsverhältnisses, das aus der Formel spricht, beweisen das vollständige Missverständnis dieser Auffassung von Menschsein als „Aufstockung“. Die hylemorphistische Grundthese vermeidet aber auch ein anderes Missverständnis duplex esse
duplex appetitu movens
De potentia
Brief über den Humanismus
animal rationale
anima unica forma corporis
203 von Menschsein, das sich im Laufe der Philosophiegeschichte aus ähnlichen und dennoch partiell entgegengesetzten Überlegungen ergeben hat. Es ist dies das Verständnis vom Menschen als nichts weiter denn dem vollständig sich ergebenden (aber deswegen noch nicht vollständigen, sondern eben möglicherweise durchaus vorläufigen) Resultat einer graduellen animalischen Entwicklung. Dass die Menschenseele einzige Strukturmaßgabe des Körpers, unica forma corporis des Menschen ist, bedeutet für Thomas nämlich wie gesehen, dass das Materieprinzip im Menschen als materia prima, also als ohne jede Vorstrukturierung, angenommen wird. Die Seele als Strukturprinzip greift auf ein Seinsprinzip ohne Vorstrukturierung zu und durchformt es allein vollständig. Das schließt eben jegliche Vorformung im Sinne bereits vorfertiger Animalität aus, denn diese würde bedeuten, dass eine materia secunda oder signata, also ein bereits eigenständiges Materie-Form-Ganzes, Grundlage für die Formung durch die Menschenseele würde. Der Verdacht, dass einer bereits in sich feststehenden Animalität das „spezifisch Menschliche“ tatsächlich nur noch als eine Spezifikation dieser für sich bereits vollgültig bestehenden Animalität aufgesetzt würde, bestätigt sich durch die unica forma-Lehre eben gerade nicht, sondern wird durch sie insbesondere widerlegt. Das wiederum schließt – anders als vielfach vermeint – den Gedanken einer biologischen Entwicklung der Gattung nicht aus (auch nicht eine These von der „Ontogenese“ als eines gerafften Ablaufs der „Phylogenese“ oder was er dergleichen mehr gibt), wohl aber eine Interpretation des Menschen als eines bloßen Gattungsprodukts im Sinne von steter Aufstockung von Vorformung zu Vorformung − und nimmt dem Menschen somit zugleich jeden Verdacht des bloß Vorläufigen für anderes. Diese Gesichtspunkte zeigen ja auch den Sinn der in solchen Zusammenhängen meist strategisch missverstandenen Entelechie, die eben keineswegs einer evolutiven Deutung unbedingt entgegenstehen muss, obwohl sie diese auch nicht privilegiert. – Der Mensch also ist ein Wesen, dessen Vollkommenheitsform eine vernünftige und damit unabtrennbar verbunden körperliche ist.17 Die Stoiker verfehlten in ihrer Bestimmung des Besten für den Menschen gerade den Zusatz „für den Menschen“, indem sie das Beste als absolut, als das schlechthin Beste betrachteten, und damit die „Attributionslogik“ des Guten missachteten. Doch was genauer hat das mit der Frage nach dem Zorn zu tun? Zum einen wirft Thomas von Aquin den Stoikern vor, bezüglich des Zorns nur eine Haltung Frage 12 Artikel 1: Interpretation
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Und so gilt, wie Robert Spaemann (Einleitung zu: Thomas von Aquin: Über die Sittlichkeit S. xi) feststellt: „Die menschliche Natur ist, auch wo sie Objekt unseres Handelns ist, nie bloße, sondern immer vernünftige, personale, sittliche Natur. Und andererseits ist der Mensch nicht einfachhin Person, Vernunftwesen, sondern Person einer bestimmten Art. Und seine spezifische Natürlichkeit, seine organische Verfassung, seine Sexualität sind nicht nur Instrumente eines Subjekts in der Objektwelt, sondern sie qualifizieren sein Personsein als spezifisch menschliches“.
der Handlung,
204 Frage 12 Artikel 1: Interpretation einnehmen zu können: Er ist entweder in allen menschlichen Belangen schlecht oder in allen menschlichen Belangen gut. Das Zweite stimmt sicher nicht. Also das Erste. Die Stoiker verhielten sich damit nach einer pereat-mundus-Regel: Gerechtigkeit ist unter allen Umständen gut, also ist sie es auch unter den Um18 ständen, in denen sie die Welt zerstören würde. Deutlicher wird die Stoßrichtung des Arguments aber vielleicht erst, wenn Thomas anschließend folgenden Vergleich zieht: Gibt es denn Wesen, bei denen „zornig“ zu sein allenthalben gut ist? Der Hund wäre so einer, mutmaßt Thomas mit seinem Gewährsmann Dionysius. Anders gesagt: Ein Hund soll scharf sein, weil das „seiner natürlichen Veranlagung entspricht“ (est bonum cani secundum conditionem suae naturae) – der flauschige Schoßhund, der an exzessivem Pralinégenuss stirbt, ist das Gegenbeispiel hinsichtlich der natürlichen Veranlagung eines Wolfsverwandten. Was aber beim Menschen? Auch hier lässt sich nur im Hinblick auf die natürliche Konstitution entscheiden, ob oder wann Zorn gut oder von Übel ist, es muss also erst bestimmt sein, was das X ist, von dem hier gut oder schlecht ausgesagt wird: Und das X ist nicht der Zorn schlechthin, sondern der Zorn des Menschen. Die Frage danach, ob der Zorn schlechthin gut ist, unabhängig davon, ob es der Zorn des Hundes, des Menschen19 oder Gottes ist, lässt sich nach Thomas von Aquin nicht seriös beantworten. Die seriöse Antwort lautet: Zorn ist für das menschliche Handeln gut, wenn damit eine Ungerechtigkeit ausgeglichen wird, und zwar innerhalb der Grenzen und Richtlinien der Vernunftmaßgabe, genauso wie weiter oben in [1.1.2] ausgeführt. Doch das wusste man doch schon vorher. Wo liegt also das Problem? Eben in der Bestimmung der natürlichen Konstitution des Menschen. Die Stoiker meinten, die materiale, organische Seite würde und immer die Vernunftmaßgabe negativ beeinflussen. Sie hielten somit – zumindest in der Darstellung, die Thomas von ihnen gibt – jede Emotion für krankhaft, jedes für pathologisch. Die Vernunft sei gemäß der stoischen Lehrmeinung demnach nur dann handlungsfähig, oder ethisch handlungsrelevant am per se
pathos
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An der gleichen Stelle, an der Thomas wie gesehen (oben in [1.2]) erklärt, dass nicht jedwede Vernunftvorgabe, sondern nur die spezifisch für das Wesen des Menschen bedeutsame das Handeln regulieren sollte, führt er ebenfalls aus, warum und wie auch moralische Ideale zum Bösen im Handeln den Anlass geben können: Vgl. III cap.10. Spricht man denn beim „Zorn“ des Hundes von derselben Sache wie beim Zorn des Menschen? Wohl kaum, wie aus der Definition zu Anfang des Quaestionenartikels deutlich wird, aber von der strukturell gleichen. Denn auch die Reaktion des Hundes, die Thomas hier als Zorn bezeichnet, ist die Reaktion dieses Lebewesens auf einen festgestellten Verstoß gegen das ihm Zukommende (was immer das auch für den Hund oder ein jedes andere Tier im jeweiligen Fall sein mag), also um ein Bedürfnis an Vergeltung oder Rache für einen Verstoß gegen ein bestimmtes Gleichmaß, einen auszugleichenden Gerechtigkeitsmangel also.
Summa contra
Gentiles
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205 Werk, wenn sie ganz bei sich selbst und von solchen materialen Verstrebungen isoliert sei – so zumindest scheint Thomas den stoischen homo noumenon zu karikieren. Er selbst verweist dagegen auf die motivationale Sinnhaftigkeit der organisch-materialen Komponente des Zorns: Dass die vernünftige Willenstätigkeit darauf aus ist, als Strebevermögen der Vernunft einen Ausgleich herbeizuführen, der ein entstandenes Gerechtigkeitsdefizit heilen soll, ist gut. Denn damit kommt es zur aktiven, auch körperlichen Durchführung dessen, was zu diesem Ausgleich an Handlung vonnöten ist. Kaum überraschend, bringt Thomas die Figur des „heiligen Zorns“ als intensivstes Belegbeispiel zur Sprache. All dies wiederum ist nur möglich in Anbetracht des Umstands, dass der Mensch ein Wesen ist, in dessen natürlicher Konstitution sich das Körperliche nicht de re vom Geistigen isolieren lässt.20 Der Verweis auf den „heiligen Zorn“ oder das „gerechte Zürnen“ wiederum zeigt, dass Thomas von Aquin hier eine psychologisch einwandfrei akzeptable Haltung durch seine Handlungstheorie und die bereits vorliegenden Ergebnisse von De malo auf breiter Basis – Privationstheorie, Attributionslogik des Guten, aristotelische Anthropologie, etc. – philosophisch absichern und argumentativ festigen kann. Frage 12 Artikel 1: Interpretation
[2.2] Die Stoiker hätten es zudem verabsäumt, eine weitere Unterscheidung zu treffen, nämlich die bezüglich der Folgelogik von Zorn und Handlungsurteil der Vernunft. Thomas gibt den stoischen Befürchtungen hinsichtlich des Zorns nämlich darin Recht, dass der Zorn das klare Denken und somit das für Willenswahl und Handlungsentschluss nötige Vernunfturteil behindern und beeinträchtigen kann. Was in der Formulierung bei Thomas wie eine ausschließlich zeitliche Abfolge klingen mag, lässt sich innerhalb seiner Handlungstheorie allerdings genauso gut als zeitlich indifferentes Voraussetzungsverhältnis darstellen: Da der Verstand des Menschen diskursiv arbeitet und daher ordnend verfahren muss, um zum richtigen Ergebnis zu gelangen, kann ein ungeduldig drängender Faktor wie die impulsive Zornesbewegung dieses Ergebnis gefährden. Ja er gefährdet es in seinem einflussnehmenden Anteil in jedem Fall darin, dass es ein qualifiziert nur aus der Vernunftleistung heraus gewonnenes Ergebnis ist. Thomas hält sich entsprechend mit der Diskussion dieses Falles nicht lange auf und verweist weiter auf ein belegendes Aristoteleszitat,21 nicht zuletzt wohl auch in der Absicht, hier 20
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Dazu erklärt Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270-1670, S. 101: „Damit Zorn entsteht, müssen beide Faktoren vorliegen. Ich muss rational einsehen, dass mir Unrecht angetan worden ist, und gleichzeitig sinnlich erfahren, dass ich dieses Unrecht erlitten habe. Dies hat unmittelbare Konsequenzen für den Gehalt des Zorns. Wenn beide Faktoren erforderlich sind, kann der Gehalt nicht allein durch rationale Überlegungen festgelegt werden“. Aristoteles, Physik 247b 23-24. Die Passage bei Aristoteles handelt von Verwirrungszuständen bei Kindern, und Aristoteles macht klar, dass man an solchen Fällen besonders
206 Frage 12 Artikel 1: Interpretation für das Rahmenthema des historischen Streits der Stoiker mit den Aristotelesschülern eine Konsensbasis auszuweisen. Doch gibt es eben noch den zweiten Fall, in welchem sich der Zorn zum Vernunfturteil ut consequenter verhält, das heißt in der Folge und als Folge dieses Vernunfturteils verstanden. Im Sinne dieser Folge vernünftiger Einsicht und Entscheidung hat der Zorn zwar nicht denselben Konsequenzstatus, den die aus dem Vernunfturteil erwachsene Handlung aufweist: Er ist also nicht Ziel und Endpunkt des Ablaufs, den Thomas von Aquin in seiner Handlungstheorie beschreibt,22 und dieser Ablauf geht auch keineswegs im Zorn auf. Gleichwohl hat der Zorn den Status einer die primäre Konsequenz begleitenden Konsequenz. Das heißt: Einerseits ist er Folge und ergibt sich nur auf Grundlage des Verstandesurteils; andererseits strebt das Vernunfturteil ja nicht den Zorn an, sondern die der einschlägigen Vernunfttätigkeit entsprechende Handlung. Dass diese Handlung dann allerdings realisiert wird, kann die zusätzlich motivierende Kraft einer Leidenschaft entweder benötigen oder zumindest gut gebrauchen.23 Als solches Hilfsmittel ist der Zorn, wenn schon nicht unbedingt intendiert, so doch gelitten und womöglich willkommen. Fast möchte man für Thomas mit Kant sagen: Eine moralische Handlung erfolgt nicht aus Leidenschaft, mit Leidenschaft aber mag sie geschehen.24 Thomas will damit für das grundlegende moralpsychologische Problem der ethischen Handlungsmotivation noch ein gewichtiges Wort im Sinne der Leidenschaften und natürlichen Dispositionen, denen sie korrespondieren, geredet haben: Es ist ja nicht immer ganz einzusehen, warum die Erkenntnis des Richtigen die motivationale Kraft der Handlungsumsetzung in sich allein haben kann, geschweige denn den Impetus, die Handlungsintention gegen faktische Widerstände durchzutragen. Der indirekte oder sekundäre Konsequenzstatus, den Thomas dem Zorn dabei zuweist, setzt aber den handlungsfreigebenden Abschluss der prakti-
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gut sieht, wie eine „Setzung“ oder Beruhigung eben durch körperliche Veränderung zustandekommt und nicht (nur) durch geistige. Siehe dazu unten den Anhang 1 zur Handlungstheorie bei Thomas. Unter die Merkmale von Emotionen, die Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270-1670, S. 74, auflistet, gehören deswegen unter anderem auch folgende beiden: „Sie haben einen körperlichen Aspekt, denn sie beinhalten eine körperliche Veränderung und manifestieren sich genau dadurch. […] Schließlich haben sie auch einen motivationalen Aspekt, denn sie veranlassen ein Lebewesen dazu, mit einer körperlichen Bewegung auf das gute oder schlechte Objekt zu reagieren“ (Hervorhebungen im Original). Vgl. Stefan Schick im Nachwort zu seiner Übersetzung der Quaestiones disputatae De malo: Thomas von Aquin, Vom Übel/De malo. Bd. 11, S. 487, unter anderem bezugnehmend auf Schillers bekannte Kritik an Kant in den Xenien.
207 schen Vernunfttätigkeit voraus25 und verhindert damit das von den Stoikern befürchtete Szenario, dass der Zorn sie verdunkelt und auf diese Weise qualifiziertes menschliches Handeln verunmöglicht. Thomas zieht den ausweitenden Schluss: „In diesem Fall verhindern Zorn und ähnlich geartete Leidenschaften keineswegs das bereits getroffene Vernunfturteil, sondern helfen vielmehr in dessen sofortiger Umsetzung“. Die anthropologische Vorgabe bei Thomas, die das sinnliche Strebevermögen, die 26Leidenschaft, mit dem vernünftigen Strebevermögen, dem Willen, wie gesehen in ein stimmiges kooperatives Verhältnis setzen kann, ermöglicht es auch, die impulsive Kraft dieser Leidenschaften als wirksam in der Umsetzungslogik von Urteil in Handlung heranzuziehen und als Erklärungshilfe dafür zu nehmen, warum das Vernunfturteil nicht steril bleibt, sondern eine mächtige, teilweise geradezu explosive Umsetzung in Handlung erfährt. Es ist dies auch der positive Referenzrahmen der Erklärung für das negative Phänomen der Macht des Üblen. Da es sich bei der Frage nach der Kraft und Intensität des Bösen oder Üblen um einen traditionellen Hauptangriffspunkt gegen die Privationslehre und um den Ausgangspunkt der verschiedenen Varianten eines postulativen Manichäismus handelt,27 sei das Problem hier nochmals aufgegriffen und die Antwort darauf erörtert: Laster sind, so war in den Ausführungen zur Habituslehre des Thomas in der vorhergehenden Artikelinterpretation zu sehen, zur handlungsbedingenden Konstanz verfestigte Gewohnheiten, sie sind wie eine eingefleischte „zweite Natur“ des Menschen. Sie können alle auf die Grundlage natürlicher Triebe zurückblicken, die das irdische Menschsein zum guten Teil mit ausmachen und die es in bestimmten Hinsichten leiten. So ist an den Trieben per se gar nichts von Übel. Das Problem an der ganzen Sache ist nur: Jedes Laster, und jedes in anderer Weise, greift einen dieser förderlichen und notwendigen Triebe oder Impulse auf und richtet das Trachten des Menschen ganz danach aus. Unter den leitenden Gesichtspunkten der thomasischen Anthropologie sind diese Triebe also als sinnvoll und als Ermöglichungen gelingenden menschlichen Lebens gutzuheißen. Die Laster aber pervertieren sie und lassen sich selbst dabei als natürliche HandlungsFrage 12 Artikel 1: Interpretation
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Er verhält sich also, trotz einiger bemerkenswerter Parallelen, anders als die ebenfalls als „notwendig“ gewertete Aggressivität bei Konrad Lorenz (vgl. dazu Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse. München 1977, S. 55-61). Nämlich zum Beispiel in q.8 a.3 [2]. Differenziert wurde dort in die zwei Erfassungsvermögen von Verstand und Vorstellungsvermögen, die jeweils ein ihnen zugeordnetes Strebevermögen haben, ohne das sie jeweils steril blieben: der Verstand den Willen und das sinnliche Vorstellungsvermögen den Trieb. Vgl. dazu und zum Umgang mit den entsprechenden Argumenten bei Thomas (insbesondere in der Summa contra Gentiles) Rolf Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, S. 131-132.
208 Frage 12 Artikel 1: Interpretation leitfäden erscheinen. Daher ist es auch so schwierig, den Moment zu erkennen, in dem die Antriebslogik durch Übertreibung oder Einsinnigkeit zum Übel ausschlägt und man den Trieben die Zustimmung zu versagen hat. Es gehört zur Psychologie von Lastern, dass sie die einzelnen Ausrichtungsgegenstände des Strebens – die Güter also – als mehr und höherwertig erscheinen lassen als sie in Wirklichkeit sind. Thomas führt das in De malo q.8 a.1 anhand einer aristotelisch differenzierten Auffassung von den Gütern28 so aus: Nun ist das Gut für den Menschen ein dreifaches: nämlich das der Seele, das des Leibes und das der äußeren Güter. Demnach streben Hochmut und Eitelkeit nach dem der Seele, welches ein vorgestelltes ist, nämlich Ehre und Ruhm. Am leiblichen Gutergehen, welches in Form von Lebensmitteln der Selbsterhaltung des Einzelnen dient, richtet sich hingegen die Genusssucht aus, während sich am leiblichen Gutergehen, welches wie beim Liebesgenuss der Erhaltung der Art dient, die Wollust ausrichtet. Zum Bereich der äußeren Güter schließlich gehört dann die Habgier.
Attraktivität und Plausibilität von Lastern und insbesondere von sogenannten „Hauptlastern“ machen es auch aus, dass (vor allem eben Haupt-) Laster Lebenseinstellungen bedingen und zu Lebenskonstanten für das Handeln werden können. Thomas von Aquin macht im weiteren Zusammenhang dieser Bestandsaufnahme auch die Feststellung, dass mit Recht Wollust, Neid und Trägheit als Hauptlaster zu gelten haben, der für den Mitmenschen jedoch zumeist sehr viel zerstörerischere,29 aggressivere und in seiner Grundkonstitution bösartigere Hass dagegen nicht. Denn dem Hass entspreche recht betrachtet kein positiver natürlicher Instinkt, kein unmittelbar ansprechendes Antriebsgutes unseres naturgemäßen „Programms“. Hass lässt sich auch unschwer als böse identifizieren und einsichtig zum Vorwurf machen. Nicht so die Hauptlaster. Deren Perfidie gegenüber dem offenkundig üblen Hass ist eher wie die von Halbwahrheiten gegenüber faustdicken Lügen: Wie die Halbwahrheit stets unter dem Segel des Wahren, unter dem sie das Falsche transportiert, fährt und vorankommt, so transportieren die Hauptlaster unter dem Emblem des Antriebsguten das Falsche für die Lebensausrichtung. Thomas wird daher nicht müde, bei jeder Gelegenheit das aus den Werken des Dionysius entnommene Adagium zu zitieren, das Böse ziehe seine Kraft nur aus dem Guten; für sich sei das Böse machtlos, sagt er auch in seiner Einzelreplik auf den zehnten Vorabeinwand dieses Diskussionsartikels über den Zorn (De malo q.12 a.1 ad 10): 28 29
Sie findet sich in Aristoteles, 1098b 12-14. q.12 a.4. Vgl. die recht optimistische Begründung, die Thomas in q.10 a.2 ad 1 gibt: „Somit liegt der Unterschied zwischen dem Neiderfüllten und dem Hasserfüllten darin, dass der Neiderfüllte sich nur über das Gut des Anderen grämt, wenn er sich dadurch zurückgesetzt oder in der Einzigartigkeit seiner eigenen Großartigkeit bedroht fühlt, der Hasserfüllte aber über alles Gute, was seinem Feind widerfährt.“ Nikomachische Ethik
De malo
De malo
Frage 12 Artikel 1: Interpretation
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Wie Dionysius in Kapitel 4 der Schrift Über die göttlichen Namen sagt, ist das Böse allein aus der Kraft des Guten heraus handlungsfähig, und daher haben die Hauptlaster ihren Prinzipienstatus für Sünden nicht aus dem Bösen her begründet, sondern vielmehr aus dem Guten, und zwar, weil ihre Zielsetzungen wünschenswert erscheinen und in irgendeiner Hinsicht zum Handeln anregen. Woraus sich ersehen lässt, dass man die Hauptlaster nicht als zuhöchst und rein böse einschätzen darf.
Was bei all dem nicht aus den Augen verloren werden darf, ist, dass diese Triebe und Begierden ihrer ganzen Bauart und ihrem Sinn nach nur Mittel zum Erreichen der vernünftigen Vollendung des menschlichen Lebens sind und eine Indikatorfunktion für das Gelingen des Lebens haben, ohne dieses Gelingen selbst in irgendeiner Weise aus sich herbeiführen zu können. – Es ist im Zusammenhang all dieser Gedanken, dass Thomas von Aquin nun auf das eben schon genannte Adagium des 30Dionysius, das Üble habe seine Kraft nur aus dem Guten, zu sprechen kommt. Und gerade im Zusammenhang der Lasterlehre wird der Sinn dieser Erklärung, die genauso für andere Zusammenhänge gilt, auch am deutlichsten greifbar: Am Beispiel der Laster wird offenkundig, dass das Übel, das sie darstellen, seine so außerordentliche Kraft und lebensverwandelnde Energie aus den biologisch sinnvollen und natürlicherweise wichtigen, auch wesensgemäß richtigen Impulsen und Trieben erhält. Von der zustimmungswürdigen Kraft und der für den gelungenen Lebensvollzug wertvollen mächtigen Wirksamkeit dieser Triebe nährt sich das Üble, das sich aus ihrer Fehlleitung erklärt. Und so ist die Kraft und Macht des Üblen also gar nicht seine eigene, sondern31diejenige von etwas anderem, eigentlich Gutem, das sich auf Abwegen befindet. So kann, um das Ganze weiterzuführen, das Gut, das eine wohlorganisierte, disziplinierte und ergebene Streitmacht darstellt, in den Händen eines hasserfüllten Machthabers die Macht des Bösen begründen; und das Gut der Schönheit, das eine Frau zur Königsgemahlin werden lässt, wird im Verein mit dem Guten eines Spiegels, der die fraglos gute Eigenschaft besitzt, immer nur die Wahrheit zu antworten, und dem Gut pharmakologischen Wissens wegen der inneren Disposition des Neides und des Hochmuts dieser Frau, die „wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher wuchsen“, zur intensiv empfundenen, mächtigen Gefahr für Schneewittchen. – Die gleiche Logik gilt dann, wenn man die Ergebnisse der Diskussion der ersten drei Artikel von Quaestio 1 vor Augen hat, auch jenseits der Grenzen des moralischen Übels: Das Übel entlädt sozusagen positive Aufbauleistungen und Konsti30
31
So zum Beispiel in De malo q.12 a.1 ad 10: „Wie Dionysius in Kapitel 4 der Schrift Über die göttlichen Namen sagt, ist das Böse allein aus der Kraft des Guten heraus handlungsfähig”. Zu Recht bemerkt Bénézet Bujo: Die Begründung des Sittlichen, S. 90, dass nach Thomas, „jeder sittlich handelnde Mensch ein Ziel hat: er will ein bonum, das ihn entfaltet und zufrieden stellt. Daran ändert sich nichts, auch wenn der Mensch das malum mit dem bonum verwechselt; denn im Grunde strebt er das malum unter dem Aspekt des bonum an“.
210 Frage 12 Artikel 1: Interpretation tutionsstärken einsinnig und wirkt somit besonders mächtig: wie beim Zusammensturz eines Gebäudes die ganze positiv investierte Kraft in der Konstruktion durch einen Fehler, ein Fehlen oder Beraubtwerden im Punktuellen auf einmal freigesetzt wird. Wenn Thomas also in der Summa contra Gentiles (III cap.6) sagt, das Schlechte einer Tätigkeit ergebe sich bei natürlich in Tätigkeit Befindlichen oder Handelnden durch einen Mangel der zur Tätigkeit aufgewendeten Kraft, so muss man im Hinblick auf De malo ergänzen, dass es sich genauso (wie so oft) als ein „Zuviel des Guten“ ergeben kann. In beiden Fällen ist es aber so, dass das Übel als Wirkursache betrachtet (soweit man das kann), keine eigenständige Kraft entfaltet, wohl aber als Formalursache gemäß der Mangel- oder Fehlenserklärung mit entsprechender Durchschlagskraft korrumpieren und vernichten kann;32 darüber hinaus erklärt die thomasische Privationstheorie in Verbindung des formalen und effektiven Aspekts die furchterregende Zerstörungswirkung des Üblen mit dem Umstand, dass und wie sich das Üble die Kraft und Vitalität des Guten parasitär zunutze machen kann. Wenn Schelling in seiner Freiheitsschrift gegen die Privationslehre zur Erklärung der Übel als sein traditionsbildendes Hauptargument hervorbringt: Unvollkommenheit im allgemeinen metaphysischen Sinn ist nicht der gewöhnliche Charakter des Bösen, da es sich oft mit einer Vortrefflichkeit der einzelnen Kräfte vereinigt zeigt, die viel seltener das Gute begleitet. Der Grund des Bösen muß also nicht nur in etwas Positivem überhaupt, sondern im höchsten Positiven liegen, das die Natur enthält33,
Vorgebrachten schnell deutlich, an welchen Punkten und in welcher Weise diese – spätestens – seit Schelling zum Standard gewordene Einschätzung an der klassischen Privationslehre vorbeigeht. Zum einen arbeitet Schelling mit einem Begriff der Unvollkommenheit im metaphysischen Sinn, den diese Lehre im Gegensatz zu ihrer Variante bei Leibniz nicht zulässt (siehe oben die Interpretation zu q.1 a.2 [3.3]). Schelling setzt desweiteren, ganz im Sinne des intuitiven Anfangsmoments eines postulativen Manichäismus, voraus, dass das Böse seine Wirkkraft viel intensiver und häufiger entfalte als das Gute, was Thomas ebenfalls abweist (siehe die Interpretation von q.1 a.3 [1.3] in der Diskussion der 15 und 17). Und die schellingsche Variante behauptet daraus folgernd außerdem, dass deswegen der Grund des Bösen nicht nur in etwas Positivem liege, sondern ausschließlich „in dem höchsten Positiven“ gesucht werden müsse, was Thomas teils als richtig ansieht (das Böse hat seine Voraussetzung im Guten, so q.1 a.2 und a.3 passim), teils aber auch als unrichtig in der Konsequenz verwirft und alternativ besser so wird im Abgleich mit dem bei Thomas von Aquin in
De malo
obiectiones
32
33
Vgl. Stefan Schick im Nachwort zu seiner Übersetzung der Quaestiones disputatae De malo: Thomas von Aquin, Vom Übel/De malo, Bd. 11, S. 471. F.W.J. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Sämtliche Werke VII, S. 368-369.
211 erläutert (so etwa in q.3 a.3 [3] und in q.6 [5.1] in Bezug auf das moralische Übel). In denselben Zusammenhang gehört dann auch die Erklärung von körperlichen Schmerzen als eine Sonderform der „physischen Übel“, wie sie bereits in q.1 a.3 [3.2] als Missgestaltungen, Fehlbildungen oder organische Fehler ein Thema waren. Unter den Erklärungen, die Thomas im Traktat über die passiones in der Summa theologiae (I-IIae qq.22 und folgende) weitläufig anbietet, ist diejenige besonders prominent, dass Schmerzen, physische genauso wie psychisches Leiden, als eine der Lust entgegengesetzte innere Bewegung von Lebewesen, im Grunde sinnvoll sind, und daher im Grunde gut. Mit solchen Bewegungen wehrt sich im Falle der physischen Schmerzen der Organismus gegen Schädigungen seiner Integrität, die ein Übel im Sinne der eben genannten Privationen am Gut organischer Unversehrtheit darstellen. Schmerzen haben also eine positive Anzeigefunktion, sie ermöglichen und erbringen dadurch eine positive Widerstandsleistung und sind somit bis zu dem Grade gut, in dem sie sinnvoll sind. Diejenigen Schmerzen, die womöglich keine sinnvolle Anzeigefunktion mehr aufwiesen, etwa weil sie für die Lebenserhaltung ohnehin nichts mehr leisten können, oder auch die Schmerzen, die ausbleiben, obwohl eine Anzeige des defekten organischen Zustands eigentlich wünschenswert wäre, sind dagegen wieder als privative Übel interpretierbar.35 Am Aspekt der positiven Zustimmungswürdigkeit, den die Frage 12 Artikel 1: Interpretation 34
biologische Raison den Schmerzen zusprechen lässt, liegt nun auch ähnlich wie beim moralischen Übel die Erklärung für die Intensität dieses Übels. Man kann das vorher Gesagte hierfür beinahe wortgleich wiederholen: Das Übel, das Schmerzen darstellen, hat seine so außerordentliche Kraft und lebensverwandelnde Energie aus den biologisch sinnvollen und natürlicherweise wichtigen, auch wesensgemäß richtigen Impulsen, die diese Schmerzen als innere Bewegungen bedingen. Von der zustimmungswürdigen Intensität dieser Impulsindikatoren
34
35
Was die Frage der „Positivität“ des Üblen in der Perspektive von De malo angeht, sei hier auf die untenstehenden Ausführungen im Anhang 2: Privation, Negation und „schlechthin Übles“, verwiesen. Die Erklärung des Schmerzes bei Thomas, wenn sie auch nicht im Vordergrund seiner Überlegungen steht und dementsprechend nicht von der Pike auf entwickelt wird, bietet daher keineswegs die Schwächen, die zum Beispiel Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee, S. 114-120, ihr anlasten will, um die Deutung einer anderen philosophischen Richtung dadurch heller erstrahlen zu lassen (S. 121). Wohl aber gibt es fraglos noch einiges, was bei Thomas hier als erklärungsbedürftig erscheinen könnte. Dies weniger, weil die Theorie des Schmerzes bei Thomas nicht als sinnvoll und geschlossen erschiene, als vielmehr deswegen, weil gerade in der Theorie des Schmerzes bei Thomas wohl doch ein Problem der Abgleichsfähigkeit mit dem „manifest image“ bestehen bleibt, das heißt mit der Frage, ob hier dem Bedürfnis entsprochen wird, das offenkundige Weltbild des unwissenschaftlichen menschlichen Wirklichkeitszugangs gegenüber der reflexiv distanzierten Weltdeutung zur Geltung kommen zu lassen.
212 Frage 12 Artikel 1: Interpretation nährt sich das Üble, das sich als Schmerz darstellt. Und so ist die Kraft und Macht des Üblen also gar nicht seine eigene, sondern diejenige von etwas anderem, eigentlich Gutem, das heißt hier: von für ein organisches Wesen sinnvoll Wirksamem. Die Heftigkeit, mit der diese Kraft des Üblen dann verspürt wird, ist – wiederum am Beispiel des moralischen Übels am besten abzulesen und für die anderen Vorkommensarten dann analog zu begreifen – insbesondere zum Beispiel der Unmittelbarkeit der Begierde anzurechnen, und dies führt nun langsam wieder zurück zum engeren Thema des Zorns. Thomas sagt ja an verschiedenen Stellen, dass es der Umstand ist, das nächste Gut vor das erste zu setzen, der für moralisches Übel erklärend wirkt. Das nächste Gut wird dem Menschen als unmittelbares und plastisches, als intensiv vorgestelltes und sinnenfälliges durch die Begierde zugänglich, und die Unmittelbarkeit, mit der sich dieses Sinnenfällige vor Augen stellt, verdeckt das fernerstehende Ziel der Vollendung des Lebens als ganzem und das erste Gute. Und diese Unmittelbarkeit legt nun tatsächlich mächtig Hand an. [2.3] Aber auch noch an einem dritten Unterscheidungsfehler krankt die stoische Auffassung vom Zorn. Oder vielmehr: an einer fehlenden Unterscheidung, wie Thomas diagnostiziert. Das grundlegende Problem klang weiter oben (in [2.2]) bereits an und seine Lösung liegt in einer richtigen Auffassung von Strebensvermögen, die Thomas etwa in q.8 a.3 [2] angesprochen hatte: Die stoische Theorie der Leidenschaften differenziert das Strebevermögen der Vernunft nicht vom sinnlichen. Die Stoiker erkannten sinnliches Streben und willentliches – also vernünftiges und Verstandesvorgaben folgendes – Streben nicht als zwei Arten von Streben an, die einer jeweils eigenen Erfassensart im Weltzugang entsprechen: Das eine ist dem Allgemeines erfassenden Verstand zugeordnet, der das Erfassen seiner Objekte als Überführung in Verstandesinhalte betreibt; das andere ist dem auf Einzelnes ausgehenden Sinnesvermögen zugeordnet, das sich auf das Objekt seiner Erfassungstätigkeit hin ausrichtet und es eher erreichen will als integrieren.36 Sie sind also auseinanderzuhalten.37 Die Verbindung, die es erlaubt, 36
37
De malo q.8 a.3 macht an mehreren Stellen darauf aufmerksam, dass dieses „erreichen“ nicht (nur) räumlich gesehen werden darf, sondern auch und gerade auch im Hinblick auf Vorstellungsinhalte des Menschen wie etwa die Imagination eines zukünftigen Zustands. Dass sie auseinanderzuhalten sind, ergibt sich unter anderem aus Überlegungen, wie sie in De malo q.6 [2.1]-[2.2] und q.1 a.3 [4] nachzulesen sind: dass nämlich Tiere für ihren Weltzugang ein sinnlich-imaginatives Erfassungsvermögen und das entsprechende Strebevermögen aufweisen; beides liegt bei ihnen aber unabhängig davon vor, dass ihnen Verstand und Wille als vernünftiges Erfassungs- und Strebevermögen fehlen (vgl. Aristoteles, De anima III 429b). Umgekehrt ist es bei den reinen Geistwesen von q.16 a.2 so, dass sie über die vernünftigen Erfassungs- und Strebevermögen von Verstand und Wille
213 beide dennoch in bestimmten Hinsichten zu vergleichen und parallel zu behandeln, ergibt sich aus der formalen Gleichheit, dass beide Erfüllungsvermögen eines Erfassungsvermögens im Weltzugang sind, woraus sich auch eine strukturell vergleichbare Logik der Behandlung beider rechtfertigt. (Die anthropologische Verankerung dieser Vergleichbarkeit ist die hylemorphistisch erklärbare Vernunftdurchformung des Menschen in seiner Gesamtheit.) Das stoische Missverständnis besteht in der Deutung von Thomas nun darin, dass diese Parallelität nicht erkannt oder nicht anerkannt wird. Für den Stoiker gibt es somit nur ein einziges Strebevermögen, das, solange es der Vernunft gehorcht, Wille heißt, sobald es aber die Vernunftmaßgabe verlässt und „ungesund“ über sie hinauswuchert, Leidenschaft(en) genannt wird. Deswegen bezeichneten die Stoiker diese als „Krankheiten der Seele, wie die körperlichen Krankheiten die Grenzverletzungen gegen das gesunde Maß im Körper darstellen“.38 Das scheint zunächst dem von Thomas favorisierten aristotelischen Modell nicht sehr zu widersprechen: Beide Male werden die Leidenschaften als ein Streben bezeichnet, das nicht zur Vernunft gehört. Aber eben nicht beide Male als nur ein Streben, das dem Menschen zugeschrieben wird. Dies geschieht nur bei dem Ansatz, den Thomas mit den Stoikern identifiziert, und in diesem ist dann die Wissenschaft von den menschlichen Leidenschaften tatsächlich so etwas wie eine Onkologie des Strebevermögens. Und noch etwas ist zu bedenken, bevor man vorschnell allzu viele Ähnlichkeiten zwischen den beiden hier verhandelten Ansätzen bezüglich der Leidenschaften annimmt: Dass die Leidenschaften eine Strebensart darstellen, die „nicht zur Vernunft gehört“, heißt nicht, dass sie nichts mit der Vernunft zu tun hätten oder dieser entzogen wären. Das oben in der Interpretation von q.8 a.3 ausgeführte hylemorphistische Menschenbild widerspricht einmal mehr solch einer falschen Auffassung von vornherein: Es gibt demnach nichts im Menschen, was nicht vernunftförmig wäre. Und so erklärt sich auch folgerichtig das Fazit bei Thomas, der Zorn sei schlicht „eine nicht näher qualifizierte Bewegung des sinnlichen Strebens“ – und solch eine innere Bewegung könne sehr wohl von der Vernunft bestimmt werden.
Frage 12 Artikel 1: Interpretation
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verfügen, aber keine sinnliche Erfassung der Welt und auch kein entsprechendes Strebevermögen haben. Der zwölfte Vorabeinwand des Artikels hatte dies bereits als Argument eingeführt: „Wie Cicero im dritten Buch der Tuskulanen sagt, sind Leidenschaften sozusagen Krankheitszustände der Seele. Jeder körperliche Krankheitszustand aber ist ein Übel für den Körper, also ist auch jede Leidenschaft der Seele für diese ein Übel. Nun ist der Zorn eine Art seelische Leidenschaft. Und so ist jeglicher Zorn Übel“. Die Stoiker hielten somit – zumindest in der Darstellung, die Thomas von ihnen gibt – jede Emotion für krankhaft.
214 Frage 12 Artikel 1: Interpretation [3] Das Resümee zum Artikelcorpus setzt genau diese letztgenannte Überlegung fort. Es sei der ganzen Machart der menschlichen Konstitution gemäß so, dass also das sinnliche Streben, alles, was wir Leidenschaften nennen, von der Vernunft bestimmt wird: und zwar „bestimmt“ in einem regulativ eingreifenden und in einem zielvorgebenden Sinne. Sinn und zustimmungswürdige Vollzugsweise des Zorns ergeben sich also aus der richtigen Folgelogik in der Umsetzung eines abgeschlossenen und ungezwungenen Vernunfturteils. Wobei „abgeschlossen“ als Bezeichnung für ein ratifiziertes Zustandekommen der Handlungsüberlegung und Handlungswahl zu verstehen ist, nicht jedoch im Sinne einer Abkapselung des Vernünftigen von einem von ihm nicht erreichbaren Leidenschaftsbereich. Denn das würde der Handlungstheorie des Thomas von Aquin genauso widersprechen wie seiner philosophischen Lehre vom Menschen als von Naturkonstitution aus rationalem Wesen.
Teil 4: Sonderfalldiskussionen zum Bösen
Frage 16 Artikel 2: Sind die Dämonen von Natur aus böse oder willentlich böse? Übersetzung
[1]
[2]
Zunächst ist festzuhalten, dass man etwas auf zweifache Weise als böse bezeichnen kann. Einmal [1.1], weil es in sich übel ist, wie Diebstahl und Mord, und das ist schlechterdings Übles. Auf andere Weise [1.2] fasst man Übles für etwas oder jemanden, und es spricht nichts dagegen, dass das schlechterdings gut, aber je nachdem dann etwas Übles ist, so wie die Gerechtigkeit für sich betrachtet und einfach genommen gut ist, dem Dieb jedoch zum Übel ausschlägt, der durch sie seiner Strafe zugeführt wird. – Wenn wir jedoch des Weiteren davon sprechen, dass etwas wesensgemäß böse ist, so lässt sich das auf zweierlei Weise verstehen: Auf eine Weise [1.3], dass das Üble seiner Wesensbeschaffenheit entspricht, oder etwas an seiner Wesensbeschaffenheit, oder dass es eine Eigenschaft infolge seiner Wesensbeschaffenheit ist. In anderer Weise [1.4] kann man etwas wesensgemäß böse nennen, weil es eine urwüchsige Neigung zum Bösen aufweist, wie gewisse Menschen aus natürlicher Zustandsausprägung jähzornig oder wollüstig sind. Es spricht also nichts dagegen, dass etwas in der erstgenannten Weise wesensgemäß Böses in den Dingen vorfindbar ist, die eine Verschiedenheit aufweisen: So ist Feuer für sich genommen gut, doch für Wasser von Übel, weil es das Wasser zerstört, und genauso umgekehrt. Aus demselben Grund bedeutet der Wolf Böses für das Schaf. Dass etwas jedoch in dieser Weise an und in sich wesensgemäß übel sein sollte, ist unmöglich. Es würde nämlich einen Widerspruch einschließen: Denn als übel wird all das bezeichnet, was hinter einer ihm wesensgemäßen Vollkommenheit zurückbleibt. Ist doch alles insofern vollkommen, als es das erreicht, was ihm wesensgemäß zukommt. Auf diese Weise zeigt Dionysius im 4. Kapitel seiner Schrift vielfach auf, dass die Über die göttlichen Namen
[3]
Dämonen nicht wesensgemäß böse sind. Wenn hingegen etwas im zweitgenannten Sinne als böse bezeichnet wird, so kommt es auch dann den Dämonen nicht zu, wesensgemäß böse zu sein. Wenn die Dämonen nämlich rein verstandesmäßige körperlose Wesenheiten sind, können sie keine urwüchsige Neigung zum Bösen aufweisen, und das aus zwei Gründen:
218 Frage 16 Artikel 2: Übersetzung [3.1] Erstens, weil ein Streben eine Neigung jedwedes strebensbegabten Wesens ist. Die rein verstandesmäßigen Wesenheiten jedoch haben als solche ein Streben hin zum schlechthin Guten, weshalb jede wesensgemäße Neigung in ihnen auch zum schlechtweg Guten hingeht. Da jedoch das natürliche Wesen zum sich Ähnlichen eine Neigung hat, folgt, weil ja wie gesehen ein jedes seiner Wesensverfassung nach gut ist, dass die wesensgemäße Neigung nur auf etwas Gutes aus ist. Wenn es nun aber geschieht, dass dieses Gute nur ein vereinzeltes ist oder dem Einzelgut eines anderen Dings entgegensteht, so verlegt sich die natürliche Neigung insoweit zum schlicht Bösen oder zum Übel für etwas anderes. So ist die begehrliche Neigung, das heißt diejenige hin zum sinnenhaft Erfreulichen, im Einzelnen etwas Gutes, doch wo sie unmäßig wird, stellt sie sich gegen das vernunftgemäß Gute, das schlicht Gutes ist. Daraus ist zu entnehmen, dass die Dämonen als verstandesförmige Wesenheiten gar keine wesensgemäße Neigung zum schlechthinnigen Bösen haben können. Denn jedes Wesen hat eine Neigung zu dem, was ihm ähnlich ist, und demzufolge zu dem, was zuträglich und gut für es ist. Nun ist aber wie gesagt nichts schlechtweg böse, was nicht in sich böse ist. So bleibt nur, dass alles, was eine natürliche Neigung zum für sich genommen Bösen hat, aus zwei ihm natürlichen Beschaffenheiten besteht, deren niedrigere eine Neigung zu einem jeweiligen Einzelgut aufweist, das dieser niedrigerstufigen Naturbeschaffenheit zuträglich ist und der höheren insofern entgegenarbeitet, als diese auf das schlechthin Gute aus ist: So gibt es zum Beispiel im Menschen eine natürliche Neigung hin zu dem, was dem fleischlichen Sinnesbegehren zusagt, doch dem vernunftgemäßen Gut entgegensteht. All das aber trifft ja auf die Dämonen nicht zu, wenn sie einfach verstandesförmige Wesenheiten ohne Körperbindung sind. Sollten sie jedoch sich wesensgemäß verbundene Körper haben, dann könnten sie genauso wenig eine wesensgemäße Neigung zum Bösen aufweisen, die auf die gesamte dämonische Gattungsbeschaffenheit zutrifft. Und zwar erstens, weil doch die Materie um der Form willen da ist, und es deswegen unmöglich ist, dass die gesamte Materie irgendeiner Art ein wesensgemäßes Abstoßungsverhältnis zu deren formalem Gut aufweist. Das geschieht vielleicht bei einigen wenigen und dann aus einer Verderbtheit heraus, woher es also unmöglich ist, dass die Dämonen wegen der natürlichen Beschaffenheit ihrer Körper eine Neigung zum Bösen aufweisen. [3.2] Zweitens weil, wie Augustinus in seinem Buch Über Genesis dem Wortlaut nach sagt, die Dämonen ja nicht von ihren Körpern gezwungen werden wie wir, sondern sie ganz im Griff haben und jedwede Gestalt annehmen, die sie wollen. Daher kann ihnen aus ihren Körpern keinerlei
219 Neigung erwachsen, die sie ernsthaft im Bestreben um das Gute behinderte. [4] Somit stellt sich heraus, dass die Dämonen unmöglich wesensgemäß böse sind und es bleibt nur, dass sie willentlich böse sind. Also steht noch aus zu betrachten, wie das vor sich geht. Zunächst muss man dazu wissen, dass ein Streben nichts anderes ist als eine Neigung hin zu etwas Erstrebenswertem. Und wie ein natürliches Streben einer natürlichen Form folgt, so ein sinnliches, vernünftiges oder verstandesmäßiges einer erfassten, denn Sinnesapparat und Verstand richten sich nur auf das erfasste Gut. Deshalb kann es zu Bösem im Streben nicht daher kommen, dass es vom Erkennen abweicht, dem es folgt, sondern daraus, dass es mit einer übergeordneten Regel nicht übereinstimmt. Deswegen ist nun zu prüfen, ob eine übergeordnete Regel das Begreifen, dem die Neigung eines so gearteten Strebens nachkommt, anleiten kann. [4.1] Wenn das Erfassungsvermögen nämlich keine übergeordnete Regel hat, der es entsprechen muss, dann kann in solch einem Streben unmöglich Böses liegen. Und das stellt sich auf zwei Weisen heraus. Denn die Auffassungsgabe eines Tieres kennt keine übergeordnete Regel, nach der es sich richten müsste, weshalb in seinem Streben nichts Böses liegen kann. So ein Tier wird nämlich zum Begehren oder Aufbegehren vom Guten bewegt, und zwar insofern dieses in sinnlichen Formen wahrgenommen wird. Daher sagt Dionysius im 4. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen, dass es dem Hund zum Guten gereicht, scharf und grimmig zu sein. Ganz ähnlich hat auch der göttliche Intellekt keine übergeordnete Regel, durch die er gelenkt würde. Deswegen kann in seinem Streben oder Willen nichts Böses sein. [4.2] Im Menschen aber gibt es eine doppelte Erfassungsgabe, die von einer übergeordneten Regel angeleitet werden muss: Das sinnliche Erfassen nämlich bedarf der Anleitung durch die Vernunft, die Vernunfterkenntnis ihrerseits aber der durch die göttliche Weisheit oder das göttliche Gesetz. Also kann im Streben eines Menschen Böses zweifach vorliegen: Einmal, indem das sinnliche Erfassen nicht nach der Vernunft gelenkt wird, und dementsprechend sagt Dionysius im 4. Kapitel der Schrift Über die göttlichen Namen, dass das Böse für den Menschen im Verhalten gegen die Vernunft besteht. Und dann, weil die menschliche Vernunft sich nach der göttlichen Weisheit und Gesetzgebung richten muss, und in Anbetracht dessen sagt Ambrosius, dass die Sünde eine Übertretung des Gesetzes Gottes ist. [4.3] Bei den körperlosen Wesenheiten hingegen gibt es nur eine Erkenntnisweise, nämlich die verstandesmäßige, die der Anleitung durch die göttliche Weisheit bedarf. Es kann also in ihrem Willen Böses daraus erwachsen, dass er nicht der Anweisung der übergeordneten Regel folgt, das
Frage 16 Artikel 2: Übersetzung
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Frage 16 Artikel 2: Übersetzung heißt der göttlichen Weisheit. Auf diese Weise also werden die Dämonen willentlich böse.
De malo q.16 a.2: Interpretation Die Quaestionen über das moralische Übel hatten bisher den Betrachtungsfall des Menschen als eines moralfähigen Wesens behandelt und sich der Frage angenommen, wie sein Fehlverhalten zu erklären sei. Das Thema der abschließenden Quaestio 16 von De malo – es geht hier über die Dämonen1 – eröffnet nun einen
interessanten Vergleich, der es erlaubt, das Problem des bösen Handelns aus anderer Warte noch einmal neu zu bedenken. Die Ausgangsfrage, die diesen Vergleich erlaubt und deren Beantwortung über diesen Vergleich einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn erbringen soll, lautet: Was ist mit Wesen, die wesentlich keine biologische Triebstruktur haben (wie das in den Überlegungen von q.8 a.3 zur Erklärung der Laster ins Auge gefasst wurde) und die willentlich, aber nicht sinnlich strebend falsch handeln (während q.12 a.1 für den Menschen ein Zusammenspiel von beidem diagnostizierte)? Was also mit Wesen, die wie der Mensch Vernunftwesen sind, aber im Gegensatz zum Menschen nicht wesensgemäß leiblich verfasst sind, keine Lebewesen im Sinne von animalia sind? Was also mit Wesen, die im Unterschied zum Menschen mit ihrer Geistnatur vollständig bestimmt sind? Was sich aus der Betrachtung solcher Wesen hinsichtlich der bislang in De malo diskutierten Probleme unter anderem Blickwinkel ergibt, kann in Bezug auf die Erklärung des moralischen Übels beim Menschen als interessante Sonderfall-
1
Die Quaestio 16 von De malo ist die längste der ganzen Schrift. Das hat offenbar wenig damit zu tun, dass das Thema theologisch einen besonderen Erklärwert hätte, denn Thomas bemerkt am Anfang der Quaestio (a.1), das hier verhandelte Thema habe eigentlich gar keine so große Bedeutung für die christliche Lehre. Das gilt tatsächlich so auch für eine ganze Reihe von im anschließenden behandelten Problemen, und zwar nicht nur für diejenigen, die von den in a.1 gewonnenen Ergebnissen abhängen (wie a.3, a.5 und a.7-12). Im Folgenden wird für die Interpretation davon ausgegangen (wie auch nachzuweisen versucht), dass das lange Theoriestück über die reinen Geistwesen seinen rechtfertigenden Sinn unter anderem darin hat, die Überlegungen und Ergebnisse der vorausgegangenen Quaestionen unter verändertem – der unmittelbaren Erlebniswelt irgendwie ausgelagertem und durchaus fremdem, aber eben doch interessantem – Gesichtspunkt noch einmal neu zu betrachten und zu überprüfen. Dass und wie gerade solche angelologischen Themen und Probleme für das philosophische Denken äußerst stimulierend gewirkt haben, wird in neueren Veröffentlichungen mit gutem Recht immer öfter hervorgehoben: vgl. etwa Isabel Iribarren/Martin Lenz (Hg.): Angels in Medieval Philosophical Inquiry. Their Function and Significance. Aldershot 2008; Christian Schäfer: Die Dämonen der Philosophen. Über die Geisterwissenschaften als Experimentierfeld der Geisteswissenschaften. In: Münchener Theologische Zeitschrift 59 (2008), S. 98-112; Thomas Marschler: Der Ort der Engel. Eine scholastische Standardfrage zwischen Naturphilosophie, Metaphysik und Theologie. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 53 (2006), S. 41-76; Titiana Suarez-Nani: Connaissance et langage des substances séparées selon Thomas d'Aquin et Gilles de Rome. Paris
2003.
222 Frage 16 Artikel 2: Interpretation diskussionen verbucht werden, und Thomas macht von der sich bietenden Möglichkeit solcher Sonderfallbetrachtungen am Ende seiner Diskussionsfragen über das Übel weidlich Gebrauch. Etliche der Fragen, Probleme und Lösungen der Schrift werden zu dieser Gelegenheit noch einmal Revue passieren gelassen. Die abschließende Quaestio 16 kann also gewissermaßen auch als eine Art Ergebnisfestigung für De malo insgesamt gelesen werden und in mancherlei Hinsicht als ein Probierstein für die Anthropologie des Thomas von Aquin. Thomas stellt übrigens durchaus die Frage, ob es solche nichtabsoluten Einzelwesen rein geistiger Natur überhaupt gibt. Er hält dafür, dass es sie gibt, und der Grund für diese Auffassung ist nun wiederum einer, der sich eng mit der im aristotelischen Denken zugrundegelegten Ansicht über das hylemorphe Entsprechungsverhältnis von Geist und Körper verbindet: Es gebe die plausible und sehr vernünftige Einstellung, dass man nicht so ohne Weiteres eine Vollständigkeit der ontologischen Wirklichkeiten von der Hand weisen dürfe, wenn denn die Möglichkeiten dafür bestehen. Es müsste erst einmal einsichtig erklärt werden, warum denn ausgerechnet die „ontologische Nische“ der nichtabsoluten Einzelwesen rein geistiger Natur unbesetzt sein sollte, wenn alle anderen widerspruchsfrei denkbaren etwa des absoluten geistigen Wesens, der Einzelwesen ungeistiger Natur, der nicht rein geistigen endlichen Vernunftwesen etc. alle als besetzt gelten dürfen – und das, obwohl sie in ihrer Existenz teilweise als ungemein schwieriger zu erklären zu gelten haben, das heißt die vernünftige Möglichkeit ihrer Existenz ungleich „dünner“ ist. (Es ist dies ein Gedankengang, der zum Beispiel auch Platons Sokrates dazu bringt, sich selbst, das heißt ein geistiges Wesen, das gleichzeitig Körperlichkeit aufweist, als viel unwahrscheinlicher und paradoxer anzusehen als die abstrusesten und 2auf groteske Weise „in sich verdrehtesten“ mythologischen Schreckensgestalten. ) Man kann hier den Gang der für die Interpretation von q.16 tragenden Elemente durchaus schon einmal vorwegnehmen, ohne die Einzelinterpretation von Artikel 2 allzu sehr im Vornherein zu beschneiden: Zunächst stellt Thomas in der Nachfolge des Dionysius Areopagita fest, dass Dämonen − deren unkörperliches Sein als reine Geistwesen einmal sichergestellt (q.16 a.1) − keineswegs von Natur aus böse sind, denn es kann, so hatte es ja bereits ganz am Anfang von De malo q.1 a.1 definiert, nichts von vornherein Böses oder Übles geben. Böses oder Übles nämlich ist von streng sekundärem Charakter, es setzt Gutes voraus und besteht überhaupt nur insofern, als es das Gute schwächt, pervertiert oder beraubt (q.1 a.2 [3.3]). Ihre Willensentscheidung macht die Dämonen böse, und die ist unwiderrufbar, denn als reine Geistwesen erkennen sie intuitiv, sofortig ein für 2
Phaidros 229d. Zum Gedanken des ontologischen „Vollständigkeitsvorbehalts“ siehe zum Beispiel Friedrich Hermanni: Metaphysik, S. 134135, sowie Leibniz in der Theodizee I 9, I 14 und öfter (als das Problem des vacuum formarum). Vgl.
die
berühmte
Stelle
223 allemal, nicht diskursiv, das heißt: nicht durativ, nicht aufgrund von körperverwiesenen Sinneseindrücken aufbauend und überlegend, betrachtend und verwerfend; und genauso entscheiden sie dementsprechend auch: sofortig ein für allemal, ohne Überdenkens- und Korrekturmöglichkeit (q.16 a.5).3 Frage 16 Artikel 2: Interpretation
Die Vorabeinwände zu Artikel 2 nehmen sich nun gerade die ausschlaggebenden Elemente dieser Argumentationskette vor, ganz so, als würden sie den Gesamtduktus des thomasischen Entwurfs schon vorwegnehmen. Sie lassen sich (extrem vereinfacht) so zusammenfassen: - Dämonen sind verstandesmäßige Wesen, die sich als rein geistige Wesen nicht ändern können. Wenn sie also böse sind, so sind sie4 es, ohne es geworden zu sein, und das heißt doch soviel wie: von Natur aus. (Einwände 1-3, 7, 9, 12, 14) - Die Geistestätigkeit (das heißt sowohl die Vollzüge des Verstandes wie die Vollzüge des Willens) ist, wenn sie rein und ungestört ist, nicht fehleranfällig, sondern irrtumslos. Also muss der Fehler ontologisch vor der Verstandestätigkeit liegen: im Wesen dessen, der die Verstandestätigkeit ausübt. (Einwände 4-6, 8, 10, 11, 13) - Es widerspricht den Grundgedanken der Schöpfungstheologie nicht, dass die Dämonen als von Anfang an – das heißt nichts anderes als: von Natur aus – böse geschaffen wurden. (Einwände 15-17) - Vielleicht haben Dämonen ja doch natürlicherweise Körper. Wenn sie durch diese auf welche Weise auch immer zum Tun des Bösen gebracht werden, dann ist das, was sie böse werden lässt, etwas ihnen Natürliches. (Einwand 18)
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Auch hier gilt, was Dominik Perler, Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270-1670, S. 128, zu Recht bemerkt: „Vorgaben aus der theologischen Tradition schränkten den philosophischen Horizont nicht ein, sondern erweiterten ihn. Es waren gerade die theologisch intrikaten Fälle, die mittelalterliche Philosophen dazu herausforderten, besondere Erklärungsmodelle zu entwickeln, die über das hinausgingen, was sie in der paganen Tradition finden konnten. Diese Modelle, die gleichsam für Sonderfälle entworfen wurden, konnten dann auf Normalfälle angewendet werden und brachten Aspekte zum Vorschein, die kaum deutlich geworden wären, wenn man sich immer nur auf die Situation eines Menschen mit sinnlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen konzentriert hätte“. Ein häufig zu beobachtender Fehlschluss, der insbesondere auch in anthropologischen Erwägungen immer wieder auftaucht. Eine schöne und irgendwie unterhaltsame Antwort hierauf hat Bernard Williams gegeben in: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Frankfurt 2003, S. 47-53 (Kapitel „Der Naturzustand ist nicht das Pleistozän“).
224 Frage 16 Artikel 2: Interpretation [1] Thomas beginnt seine Antwort wie so oft mit einer doppelten Unterscheidung: [1.1] Man kann das moralische Übel – hier und im Folgenden meist dann deswegen schlicht „das Böse“ – zunächst einmal auffassen als ein schlechthinniges Übel, wozu nach der Auskunft des Textes Diebstahl und Mord gehören. Das letztgenannte Beispiel gibt auch den besten Einblick, warum dieses Übel als simpliciter, also als „schlechthinnig“ oder „unbezüglich“ oder „schlicht(weg)“ konkretisiert wird: Es handelt sich um ein solches Übel, das auch dann noch ein solches bleibt, wenn man die Umstände oder Bezugspersonen oder auch Absichten ändern würde, ein Übel also, das sich weder durch Erklärung seiner Ziele noch durch Anführung von Umständen noch durch Hinweis auf die Beteiligten als Gutes interpretieren ließe.5 Wie es eben bei 6Mord als der vorsätzlichen Tötung unschuldigen menschlichen Lebens der Fall ist. [1.2] Man kann es aber auch als Übel oder „Böses je nachdem“ auffassen, als malum secundum quid, als solches Übel also, das von Fall zu Fall und Beteiligtem zu Beteiligtem als Übel aufgefasst werden kann oder nicht. Es handelt sich dann um solches, was sich im relativen Ausschlag als von Übel erweist, für sich betrachtet oder für andere Beteiligte jedoch keineswegs oder zumindest keineswegs zwingend. Thomas nennt das Standardbeispiel der gerechten Strafe, die für sich genommen nichts Übles ist, wohl aber für den gerecht Bestraften Übel wie Schmerzen, Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten oder Ähnliches bedeutet. Und bekanntlich ist der Wolf aus q.1 a.3 [3.1], [3.2] und [4], der als Lebewesen für sich betrachtet kein Übel darstellt, wohl aber eines für das Lamm, ebenfalls der Fall eines Übels secundum quid.7 Die Figur des „Übels je nachdem“ ist ja aus den Überlegungen derselben q.1 a.3 [4.1] auch als hinlänglicher ausgearbeitet und aus einem breiteren argumentativen Kontext heraus entwickelt bekannt. 5
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Zur Bestimmung des malum simpliciter vgl. auch oben die Ausführungen zu q.1 a.3 [4.2]. Im Hinblick auf die Ausführungen, die Thomas in S.th. q.18 a.4 ad 3 gibt, erklärt Robert Spaemann: Einleitung zu Thomas von Aquin: Über die Sittlichkeit der Handlung, S. xiii: „Es gibt Handlungen, die ihrer Natur nach gut, und solche, die ihrer Natur nach böse sind. Die Asymmetrie liegt nun darin, daß ihrer Natur nach gute Handlungen durch die besonderen Umstände oder durch die schlechte Absicht des Handelnden verdorben werden, ihrer Natur nach schlechte Handlungen – actus intrinsice mali – aber nicht durch Absicht und Umstände in gute Handlungen verwandelt werden können“. Das malum simpliciter spricht damit Probleme an, die in der gegenwärtigen Diskussion gerne unter der Bezeichnung der „moral absolutes“ abgehandelt werden. Zu einigen Fraugen, die in diesem Zusammenhang auftauchen, sei hier nur der Vorverweis auf den „Anhang zur Handlungstheorie“ (im „Exkurs: moral absolutes“) gegeben. Zu einigen Klärungen bezüglich der Auffassung des malum secundum quid vgl. auch Gregory M. Reichenbach: Beyond Privation. Moral Evil in Aquinas’s De Malo. In: The Review of Metaphysics 55 (2002), S. 751-784.
Frage 16 Artikel 2: Interpretation
225
[1.3] Wenn man nun vom „wesensgemäß Üblen“ spricht, so trifft eine weitere Unterscheidung zu, die zur Beantwortung der Artikelfrage hilfreich ist: Man kann nämlich „wesensgemäß übel“ verstehen als von übler/böser Wesensbeschaffenheit. Das hieße, dass die Wesenskonstitution des als übel oder böse Bestimmten immer etwas einschließt oder konstant mit sich bringt, das als übel oder böse gewertet werden muss. [1.4] Man kann die Bezeichnung „wesensgemäß Übles“ aber auch so verstehen, dass der als Übel verstandene Wesenszug als aus urwüchsiger Neigung stammend angesehen werden muss. Thomas sieht die Notwendigkeit einer begrifflichen Differenzierung hier, weil das Wort , „Wesen“, sowohl das Allgemeinwesen (wie das „Wesen des Menschen“) wie das Einzelwesen (wie in „Sie ist ein entzückendes Wesen!“) meinen kann – die wie die . Das Wesen in der zweiten Auffassung als Einzelwesen aber drückt sich in biologischen Wesen zum guten Teil auch in der urwüchsigen jeweiligen Konstitution dieses Einzelnen aus, ohne freilich immer gleich in dieser aufzugehen, man spricht dann für die meisten der hier interessierenden Fälle vielleicht besser von seinem Naturell als von seiner Natur. Daher die Rede von der urwüchsigen Neigung, aus der das konstitutionsgemäße Üble oder Böse beim Einzelwesen als solchermaßen „wesensgemäß“ bezeichnet wird: nicht eigentlich seinem Wesen nach, sondern gewissen anlagegemäßen Charakteristika oder einer „Zustandsausprägung“ der Wesensausbildung, dem Naturell nach. „Wesen“ dabei also immer im Sinne des Einzelwesens begriffen und zwar eines derartigen, das in solchermaßen „natürlichen“, also urwüchsigen bestimmenden Zusammenhängen zu denken ist („urwüchsig“ hier als angemessenere Wortwahl, da „natürlich“, , einerseits ein Missverständnis der Verwechslung mit der „Natur“ als dem „Wesen“, andererseits ein Missverständnis der Verwechslung mit der biologischen „Natur“ fördern könnte, ohne dass das Adjektiv eindeutig das „Naturell“ einfangen würde).8 Thomas nennt Jähzorn als ein Beispiel einer urwüchsigen Neigung, die als etwas „wesensgemäß“ Übles oder Böses wahrgenommen und bezeichnet wird. Die einleitenden Ausführungen zur Interpretation von q.8 a.3 und die Deutung von q.12 a.1 [2.2] können zeigen, wie das zu verstehen ist: Ein in einem Einzelnen besonders ausgeprägter urwüchsiger Trieb münzt sich in eine Handlungskonstante um, die für die betreffende Person als charakteristisch – in diesem Sinne eben „wesensgemäß“ – gewertet werden muss. In Vorbereitung auf die Antwort, die Thomas auf dieser Grundlage geben wird, ist aber insbesondere essentia
substantia secunda
substantia
prima
naturalis
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Für eine einsichtige Erklärung der verschiedenen Verwendungsweisen und Definitionen von “natürlich”, insbesondere zu den Unterschieden von Artnatur und Gattungsnatur zu Natürlichkeit innerhalb des Naturbegriffs, vgl. Franz-Josef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 85.
226 Frage 16 Artikel 2: Interpretation darauf hinzuweisen, dass dieses Urwüchsige, und zwar ebenfalls den bereits genannten Ausführungen zu q.8 a.3 und q.12 a.1 [2.2] gemäß, der Steuerung durch die Vernunft unterliegt. Es ist also kein unabänderliches Schicksal für das eigene Handeln, eine solche oder solche urwüchsige Neigung zu haben. Denn diese entspricht nicht so sehr der wesensgemäßen Natur des Menschen als vielmehr seinem individuellen Naturell. Eine kleine Anekdote mag das zeigen: Von Phaidon aus Elis, dem Philosophen, nach dem Platons gleichnamige Schrift betitelt ist, weiß man aus einer Stelle bei Cicero, dass er einen Dialog Zopyros verfasst hat. Die Titelfigur ist ein orientalischer Physiognom, also ein Experte darin, in den Gesichtszügen eines Menschen seine Charakterdispositionen abzulesen. Der Dialog des Phaidon erzählte offenbar, wie die Schüler und Anhänger des Sokrates diesen Zopyros zu ihrem Freund und Lehrer bringen, um ihn seine Künste an diesem erproben zu lassen. Zopyros befindet ihn für einfältig und lüstern und erklärt ihn zum jauchzenden Vergnügen der Anwesenden für einen geistig trägen Weiberhelden. Sokrates allerdings verbittet sich das Gelächter und lobt den Zopyros: Ganz recht habe dieser seine urwüchsigen Neigungen erkannt, doch habe er, Sokrates, es mit der Zeit gelernt und verstanden, dieser Neigungen Herr zu werden und sie9 dank seiner wesensgemäßen Vernunftanlage zum Besseren hin zu kanalisieren. Friedrich Nietzsche bezeichnete diese Haltung des Sokrates mit Abscheu als „Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung“, als eine künstliche Selbsterhaltung also gegenüber der unmittelbaren „natürlichen“ der menschlichen Triebstruktur und fasst die Haltung des Sokrates dementsprechend zusammen: „Die Triebe wollen den Tyrannen machen; man muss einen Gegentyrannen erfinden, der stärker ist“.10 – Kaum etwas führt zu mehr Dissens in der Philosophie als die Auffassungshoheit über den Begriff der Natur. [2] Es kann dann durchaus sein, dass etwas übel im Sinne von [1.3] ist (also seiner Konstitution nach von Übel), aber nur in der Weise von [1.2] (also in relativem Ausschlag für anderes). So gehört es zum essentiellen „Aufbau“ von Feuer, so zu sein, dass es Wasser dessen essentiellem „Aufbau“ nach zerstört – und umgekehrt. Ähnlich ist der Wolf seiner wesensgemäßen Konstitution als Raubtier wegen ein Übel für das Schaf; wie man aus q.1 a.3 [3.1], [3.2] und [4] und q.6 [2.2] und [4] ja mittlerweile hinlänglich weiß. Es kann hingegen nicht sein, dass etwas übel oder böse im Sinne von [1.3] ist, und dies in der Weise eines Übels vom Typus [1.1], also eines Übels schlechthin oder ohne Bezugnahmeeinordnung. Die Begründung, die Thomas rückblickend 9 10
Vgl. Cicero: De fato V 10, und Tusculanae disputationes IV 80. Nietzsche, Götzen-Dämmerung IV 9 (Kritische Studienausgabe Bd. 6, S. 70-72; Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch Ernst Sandvoss: Sokrates und Nietzsche. Leiden 1966, S. 102.
227 auf die Ergebnisse seiner bisherigen Überlegungen dafür bietet, ist folgende: „Übel“ bedeutet: die wesensgemäße Vollkommenheit nicht zu erreichen. „Vollkommenheit“ heißt: Das Wesensgemäße zu erreichen. Ein Übel der Auffassungsart [1.3], das heißt als Übel in der Wesenskonstitution, in der Weise von [1.1], das heißt als schlechthin Übles, wäre also etwas, das seine Vollkommenheit erreicht und zugleich seine Vollkommenheit nicht erreicht, und zwar in gleicher Hinsicht, nämlich in der aufs Wesensgemäße. Daher spricht Thomas von dieser Auffassung von übel/Übel als einem Widerspruch (contradictio) und weist sie somit als unmöglich zurück. Er fügt hinzu: Dies sei auch die Methode, wie Dionysius als der Hauptgewährsmann in angelologischen Fragen11 aufzeigt, dass reine Geistwesen (genauso wie alles andere) nicht in diesem Sinne wesensgemäß böse sein können. Die Textreferenz ist das Kapitel 4 des dionysianischen Traktats , ein Textstück, das auch die Vorabeinwände für ihre Sicht der Dinge ins Feld geführt hatten.12 Frage 16 Artikel 2: Interpretation
Über die göttlichen Namen
[3] Aber auch die Auffassung [1.4] vom Bösen als einer ausgeprägten urwüchsigen Charakteristik kann auf Dämonen nicht zutreffen, da ihnen wesensgemäß nichts Urwüchsiges für ihre Beschaffenheit zukommt. Sie sind ja rein körperlose Wesenheiten, bloße Geistbetätigung, und das schließt eine urwüchsige Neigung, die zum Übel ausschlägt, eben aus. Die Gründe dafür sind folgende: [3.1] Rein geistige Wesen können kein Streben hin zum Einzelnen aufweisen. Vielmehr ist ihre Erfassung des Guten eine allein unter dem Aspekt des Allgemeinen und somit eine, die, anders als die menschliche, die das Gute auch unter dem Aspekt des Einzelnen fasst, nicht durch das Dazwischentreten einzelner Güter verstellt werden und dann dem Streben auf Abwege verhelfen könnte. In q.6 [2.1] und in den Ausführungen zu sinnlichem und vernünftigem Streben in q.8 a.3 ([2.1] - [2.3]) war zu sehen gewesen, dass und wie das Üble als ein sich Verlegen auf solches dazwischentretendes, näherliegendes, perspektivisch aufdringlicheres Einzelgutes zustande kommen kann. Dieses Verlegen aufs Einzelgut führt in diesem Fall dazu, dass man es an der Aufbietung geistiger Kraft in der Ausrichtung auf das umfassendere Gute fehlen lässt, das die einzelnen Güter doch erst als solche qualifiziert, verständlich und kommensurabel macht. Diesen 11
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Wie groß die Autorität des Dionysius in diesen Fragen war, zeigt die kleine Episode in Dantes Paradiso (XXVIII 133-134), wo Gregor der Große im Himmel über sich selber lachen muss, als er dort einsieht, dass seine eigene Engellehre falsch und die des Dionysius richtig war. So die Einwände 7 und 12. Belegstellen sind dabei unter anderen Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV, 20; IV, 23; IV, 24; die von Thomas speziell im Zusammenhang dieses Artikels hier genannte Stelle findet sich in seinem Dionysius-Kommentar näher besprochen: In De divinis nominibus c.2 lect.1.
228 Frage 16 Artikel 2: Interpretation eben geschilderten Umstand gibt es bei Geistwesen in der ihnen eigenen Beschaffenheit also nicht. Sinnliches Erfassungsvermögen und das ihm entsprechende Streben hin auf sinnenfällig Einzelnes, das sich als gut/Gut darbietet, fällt als Erklärmöglichkeit aus. – Der Fall, den Thomas von Aquin im Anschluss daran hypothetisch diskutiert (was nämlich wäre, wenn Dämonen irgendwie doch Körperverbindungen aufnähmen), kann hier als der Erklärabsicht des Arguments doch sehr fernstehend getrost beiseite gelassen werden.13 Auch wenn immerhin das Aristoteleszitat, das Thomas in diesem Zusammenhang bemüht, interessant für die hylemorphistische Erklärung vernünftiger Lebewesen (im Sinne von animalia, belebten Körpern) ist.14 [3.2] Doch selbst wenn man von der Richtigkeit der Hypothese ausginge, dass Dämonen zwar keine eigenen Körper hätten, sondern nach Belieben materielle Körper „annehmen“ könnten (ja selbst, wenn sie sie tatsächlich sich selbst als ihre „eigenen“ zuschrieben), würde sich das Problem nicht ergeben, da ja solche „taktisch“ (für sich) angenommenen und wieder (von sich) ablegbaren Körper nichts zur Wesenskonstitution beitragen. Auch hier übrigens ist eigentlich wieder eher der Seitenblick auf die antike Philosophie und ihre anthropologischen Grundpositionen interessant und aufschlussreich: Vieles erinnert an die Kritik, die Thomas15 andernorts am von ihm als unhaltbar diagnostizierten Menschenbild Platons übt. Thomas sieht in platonischen Seelen tatsächlich reine und als solche vollbestimmte Geistwesen in ihnen unverbundenen Körpern und hält als „Aristoteliker“ streng dagegen: Die Seele ist ein Teilaspekt (pars) der Menschseinsbestimmung. Auch wenn sie vom Körper getrennt ist, lässt sie sich doch nicht als eine individuelle Substanz im Sinne von Etwas-eigenes-sein (hypostasis) und primärem Substanzsein verstehen, da sie trotz allem die natürliche Verwiesenheit auf die Vereinigung [mit dem Leib] beibehält.16
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Es wäre dies etwa der Fall, dass sich ein Dämon des Körpers eines Pudels bedient, um einem unzufriedenen Professor hinterherzulaufen. Hier ist der Körper dem Dämon nicht irgendwie als erklärend für das Wesen des Dämons verbunden: Es handelt sich lediglich um ein Gespenst in einer Pudelmaschine. Nämlich Aristoteles, Physik 194 b, wo erklärt wird, wie die Materie oder die „Stoffvorlage“ (hyle), aus der die Naturdinge sind, sich vom „Stoff“ der künstlichen Arbeitsprodukte unterscheidet und warum die Materie durch ihre Bezogenheit auf Anderes definiert ist. Vgl. „Er [Platon] hat die gesamte Artnatur [des Menschen] in die Seele verlegt und gesagt, der Mensch sei nicht etwa die Zusammensetzung aus Seele und Leib, sondern eine Seele, die einen Körper besucht“ (Kommentar zu De anima a.1); sowie: „[…] damit wird also [bei Platon] die Verbindung von Leib und Seele nicht als natürlich angesehen werden“ (Summa contra Gentiles II cap.83 n.1647)“, und ähnlich öfter. S.th. I 75 a.4 ad 2, Thomas behält hier zur Verdeutlichung den griechischen Fachterminus hypostasis bei.
Frage 16 Artikel 2: Interpretation
229
Schließlich ist der Mensch, wie Thomas insistiert, nicht nur [die] Seele (homo non est anima tantum, S.th. I q.75 a.4), und dies „aus der Sinnbegründung menschlicher Wesensbeschaffenheit, zu der es nun mal gehört, einen echten Körper zu haben“ (ex ratione humanae naturae, ad quam pertinet verum corpus ha17 bere, S.th. III q.5 a.1). Die Ansicht, man könne oder solle sogar den Menschen als Geist- oder Vernunftwesen in Absehung seiner Körperlichkeit definieren oder zur Grundlage moralischer Kriteriologie machen, lastet nach Thomas demgegenüber auf einem grundlegenden Annahmefehler: Der Mensch ist zwar ein animal rationale, ein vernunftbegabtes Lebewesen, und damit ist die spezifische Differenz des Menschen dem Tier gegenüber seine (prinzipielle, anlagegemäße) Vernunftbegabtheit. Doch ist es deswegen noch lange nicht richtig zu sagen, und darin liegt nach Thomas nun der Fehler, der Mensch sei im Hinblick darauf also allein durch Hinweis auf die Vernunft als Mensch bestimmbar. Genau besehen ist es noch nicht einmal richtig zu sagen, das Wesen des Menschen sei die Vernunft, denn das würde Wesen und wesentliches Spezifikum verwechseln, und genau diesen Verwechslungsvorwurf scheint Thomas den Stoikern in q.12 a.1[2.1] ja auch zu machen. Das Wesen des Menschen ist es eben vielmehr, ein vernünftiges Lebewesen zu sein, und nur so ist seine Wesensbestimmung auch richtig angegeben. Anders gesagt: Was das Wesen des Menschen bestimmt, nämlich die Vernunftbegabtheit oder Vernunftförmigkeit, ist deswegen doch noch nicht seine Vollbestimmung als Wesen, denn die ist die des animal rationale, und nicht die Rationalität allein. Das kann auch für die Ethik nicht ohne Folgen bleiben, die Überlegungen in q.12 a.1 haben das beispielhaft vor Augen geführt. 18
[4] Diese hier nur kurz zusammengefassten Überlegungen [1] - [3.2] zeigen also, dass reine Geistwesen nicht von Natur aus, das heißt wesensgemäß böse sein können – und zwar noch nicht einmal so, dass einer ihrer Wesensaspekte innerhalb der ganzen Wesenskonstitution zum Schlechten ausschlagen könnte, was ja gemäß den Andeutungen von [3.1] den – mehrheitlichen, nicht unbedingt intensivsten – „Regelfall“ des Bösen bei menschlichen Wesen darstellt. Da die Verstandesleistung (gleichfalls nach den Ausführungen von [3.1]) bei den Geistwesen als Erklärung für das Böse genauso wenig in Betracht kommen kann, bleibt die neben der Verstandesfähigkeit zweite Vernunftleistung als Kandidat: der Wil17
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Dies gipfelt dann sozusagen in der Bemerkung: anima corpori unita plus assimilatur Deo quam a corpore separata, quia perfectius habet suam naturam („die dem Körper vereinigte Seele ist Gott ähnlicher als die vom Körper getrennte, da sie ihrem Wesen in vollendeterer Weise entspricht“, De potentia q.5 a.10 ad 5). Die Vernunftstruktur oder Seele sei daher nicht das „Was“ (quod) des Menschseins, sondern das „Wodurch“ (quo) des Menschseins, bemerkt Gilbert von Poitiers in einer anthropologischen Überlegung, die sich bei Thomas positiv weiterverwendet findet. Vgl. Richard Heinzmann: Anima unica forma corporis, S. 240-242..
230 Frage 16 Artikel 2: Interpretation le. Dieser ist, anders als etwa das sinnliche Streben, von dem er in q.8 a.3 (vor allem [2] und [2.1]) systematisch unterschieden wurde, ein geistiges Streben. Als Streben aber ist er jedenfalls eine Ausrichtungskraft hin zu etwas, das sein ihm entsprechender Gegenstand sein kann, also hin zu etwas Erstrebenswertem (appetibile). Thomas nimmt sich auch hier wieder ein wenig Zeit für die Erklärung, deren Elemente – Argumente und Beispiele – allerdings aus den Überlegungen der fünfzehn vorangegangenen Quaestionen allesamt bekannt sind und hier nur noch einmal auf die Sonderfrage der reinen Geistwesen zugespitzt werden. Die Argumentation bildet die weitläufigeren Ausführungen von q.6 [2.1] ab und lässt sich daher schnell und eher nur zur Wiederholung so nachvollziehen: Natürliche Strebebewegungen folgen einer natürlichen Form. Das stets bemühte Beispiel ist das Feuer (oder jedwedes Gas, das leichter als das Umgebungselement ist), das „nach oben“ strebt, weil seine natürliche Formgebung dies so bedingt: Sie macht aus, dass es leichter ist als die Umgebung. Das aber ist nicht der Fall des Willens. Dieser stellt vielmehr eine von zwei Strebensarten dar, die sich nicht nach einer natürlich-konstitutionalen Formvorgabe verhalten, sondern nach einer „erfassten“ (apprehensa), also wahrgenommenen oder erkannten Form. Wird diese innerhalb der entsprechenden Erfassungsleistung auch als gut, das heißt als zur eigenen Vollendung zuträglich, wahrgenommen, so wird sie eben dadurch vom Strebenden zum Erstrebenswerten erklärt. Das Böse im Streben kann also nicht daher kommen, dass es eine Kluft, eine Differenz oder Entzweiung zwischen Streben und Erkennen gibt. Denn das willentliche (und auch das sinnliche) Streben folgt wie jedes Streben der ihm entsprechenden Formmaßgabe, und das ist die des erfassten Erstrebenswerten. Thomas kann im übrigen ausschließen, dass man sich darin gänzlich irren könnte, dass etwas, das erfasst und für erstrebenswert befunden wird, auch gut ist, etwa weil die Erklärung zum Erstrebenswerten fehl geht. Es gibt nämlich nichts, so das Ergebnis der ontologischen Diskussion in q.1 von De malo, was in keiner Weise oder gänzlich nicht erstrebenswert wäre oder erscheinen könnte: Es wäre dann nämlich nicht oder nichts, zumindest aber sicherlich nichts, was in der Weise überhaupt erfasst werden könnte, dass es die Vorlage dazu bieten würde, auch für gut befunden zu werden. Erstaunlicherweise hatte der vierte Vorabeinwand das Problem ähnlich gesehen – und doch auch wieder ganz anders. Da die entsprechende Passage des Einwands das Problem ganz gut (und vor allem adäquat) formuliert, sei sie hier nochmals kurz zitiert: Kein Vermögen kann sich auf etwas anderes als auf seinen Gegenstand richten, wie etwa der Gesichtssinn nur sichtbare Dinge zu erfassen vermag. Nun ist der Ausrichtungsgegenstand des Willens das im Verstand erfasste Gute. Der Wille kann sich also nur auf solches verlegen, was als gut erfasst wird. Dieses ist dann entweder wahrhaft Gutes, und der Wille wird im Streben danach nicht schlecht; oder es ist nicht wahrhaft Gutes, und dann erfasst er es falsch. Also kann es gar keine falsche Auffassung darüber geben, es sei denn,
Frage 16 Artikel 2: Interpretation
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dass der Wille böse sei. Die Auffassungsgabe der Dämonen verdankt sich aber lediglich ihrem Verstandesvermögen, worin keine Fehlerhaftigkeit vorliegt, sagt doch Augustinus in seiner Schrift Über dreiundachtzig verschiedene Fragen, dass wer das Wahre nicht versteht, gar nichts versteht, und auch Aristoteles sagt in seinem Werk Über die Seele, dass der Verstand immer richtig angelegt ist, weshalb es nie sein kann, dass im Verstehen betreffs der ersten Denkprinzipien ein Irrtum vorliegt.
Und dennoch ist es ein Fehler in genau diesem Bereich „zwischen“ erfassen und für gut oder für „erstrebenswert“ befinden, auf den es bei der Erklärung des Bösen als des willentlichen Üblen ankommt: Die Tätigkeit, die das Erfassen und das für gut Befinden umschließt, ist nämlich eine regulierte. Deshalb erklärt Thomas dann später in den Einzelentgegnungen zu den Vorabeinwänden in Bezug auf die eben zitierte Passage: Gemäß der Aussage des Augustinus im seinem Buch Über die Natur des Guten, ist das Böse nicht nur eine Beraubung in der Formmaßgabe, sondern auch eine solche von Art und Weise und der Ordnungsmaßgabe. Daher stammt das Böse in einer willentlichen Handlung nicht nur vom Handlungsgegenstand, der ja der Handlung die Form hergibt,19 indem jemand etwas Böses will, sondern auch durch eine Nichteinhaltung der zu erwartenden Art und Weise oder der Ordnungsmaßgabe dieser Handlung, wenn also jemand etwas Gutes will, sich jedoch dabei weder an die rechte Art und Weise, noch an die Maßgabe der Ordnung hält.20
Die Möglichkeit, gegen diese Regulierung zu verstoßen, es daran fehlen zu lassen, ihr zu entsprechen, ist es nun, was Thomas in diesem Zusammenhang interessiert und worauf seine Erklärung des willentlichen Üblen, des Bösen lastet.
[4.1] Thomas macht sich also daran, zu erklären, warum ein Erfassungsvermögen, das keine übergeordnete Regel (regula superior) kennt, mit seinem Strebevermögen nicht irre gehen kann. Er zeigt das an einem doppelten Vergleich: Erstens am Beispiel der Tiere, die für ihr Streben keine übergeordnete Regel kennen. Man könnte freilich einwenden, dass es einen Instinkt gibt, an den sich ein Tier zu halten hat – aber eben nicht. Das Tier hat sich nicht daran zu halten, oder anders gesagt: Der Instinkt ist nichts, was der Auffassungsgabe des Tieres präsent sein müsste, worauf es zu blicken hätte. „Übergeordnet“ kann also nicht einfach mit 19
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Thomas bezieht sich also auf die Aristotelesschrift, auf die auch der Vorabeinwand für seine Zwecke hingewiesen hatte, und er tut das mit der Absicht, diesen zu entkräften: Vgl. Aristoteles, De anima 415a 18-20. Dies ist gleichzeitig die Passage aus dem Werk des Aristoteles, mit der die Unterscheidung der Strebensformen als aristotelische Lehre belegt werden kann, die Unterscheidung also, auf die Thomas sein Argument in q.6 und in q.12 a.1 stützt. De malo q.16 a.2 ad 4. Zur Bedeutung des (insbesondere von Augustinus aus De natura boni übernommenen) Motivs von modus, species und ordo bei Thomas vgl. Edward Cook: The Deficient Cause of Moral Evil, S. 33-34.
232 Frage 16 Artikel 2: Interpretation „übergreifend“ verwechselt werden, wie ein Instinkt eben etwas ist, was für alle Lebewesen einer bestimmten Einordnungsgruppe als bedingend für ein gewisses Verhalten zutrifft. Dies aber ist gerade vom Auffassungsvermögen unabhängig, ähnlich wie die vegetativen Funktionen, die ebenfalls in dieser Weise übergreifend bestimmend für Lebewesen sein können. Eine übergeordnete Regel, die das Auffassungsvermögen erkennen und anerkennen müsste, gibt es hier nicht, vielmehr wird das Streben inwendig und unanerkannt in Bewegung gebracht, einem Magnetismus ähnlich. Dieser „lebendige Magnetismus“ freilich ist komplexer, er gehorcht der Struktur von begehrlichem und aufbegehrendem Leidenschaftsantrieb. Dieser wiederum springt auf sinnlich erfassbare Formen an, ganz so wie in q.6 [2.1] erklärt. Die Regelkonformität liegt hier jedoch, wie unschwer zu sehen ist, weder in der Erfassungsleistung noch in der Triebstruktur, und schon gar nicht in den erfassbaren Formen, so „übergreifend“ alles drei auch ist. Anders ausgedrückt: Natürliche übergreifende Regelmäßigkeit ist gerade nicht die Ausrichtung an einer übergeordneten Regel, der zu entsprechen ist. Dies abzustreiten wäre eine eigene Variante eines Sein-Sollen-Fehlschlusses. Thomas gibt dem Dionysius deswegen darin recht, dass es beim Hund als etwas Wesensgemäßes zu gelten hat, sich wild, das heißt gemäß der übergeordneten inneren Antriebsvorgabe zu verhalten.21 Das Streben des Tieres kann also nicht fehlgehen in der Weise, dass es als zurechenbar übel gewertet werden könnte. – Und dann sagt Thomas etwas auf den ersten Blick Erstaunliches: Ähnlich (similiter) verhalte es sich bei Gott. Auch der göttliche Intellekt hat ja keine Regel über sich, an die er sich halten müsste, und deswegen, das heißt weil sich Gottes Wille an nichts zu halten hat, kann in Gottes Willen auch nichts Böses sein. Das lässt freilich noch viele Fragen bestehen. Ein weiter öffnender Blick auf den Menschen erst wird den Vergleich ermöglichen, den die Theorie zur Erklärung des Bösen in reinen Geistwesen benötigt. Und dieser Blick auf das menschliche Strebevermögen wiederum ist ungemein interessant – für sich allein genauso wie in Verbindung mit der Frage nach den Geistwesen und dem ethischen Status des Menschen. [4.2] Der Mensch erfasst auf zweierlei Weise, und beide Weisen können den Ausschlag für sein Handeln geben: das sinnliche Erfassungsvermögen (Thomas spricht seinen eigenen Vorgaben gemäß gar nicht unrichtig sogar von einer sinnlichen Erkenntnis, cognitio sensitiva) und die Vernunfterkenntnis (cognitio rationis). Beide Weisen haben sich an eine übergeordnete Regulierungsinstanz zu halten, das sinnliche Vermögen an die Vernunft, die Vernunft an Gottes Weisheit 21
Vgl. dazu auch oben die Bemerkungen zu q.12 a.1 [2.1]. Vielleicht trägt die dort kurz angeschnittene Frage nach der Gerechtigkeit und ihrer Rolle beim Zorn dazu bei, den Status von „übergeordneter Regel“ besser zu verstehen.
233 und Gesetz (sapientia et lex divina). Über beides ist in q.6 ([2.1], [5.2] und [5.2.1]) und q.12 a.1 [1.1] viel gesagt worden.22 Insbesondere führt das aber zu den Überlegungen von q.1 a.3 [4.2] zurück, die hier daher nochmals kurz in Erinnerung gerufen sein sollen: Das handlungsrelevante sinnliche Erfassen ist so anzusehen, dass es zu seiner korrekten Ausführung einer vorgegebenen Regel oder einer Richtmaßgabe bedarf. Diese Ausrichtungsvorgabe übernimmt, so war in q.1 a.3 [4.2] zu erfahren, die Vernunft (ratio)23 und für die Vernunft selbst gilt dann die Richtmaßgabe durch das Gesetz Gottes (lex divina). Es war zu sehen, was darunter zu verstehen ist: eine jedermann vernünftig einsehbare Grundanforderung an das menschliche Verhalten. Das wiederum hängt an der Definition, die Thomas für „Gesetz“ (lex) gibt. Dieses ist nämlich allgemein als Regel und Maßstab der Handlungsanleitung (regula est et mensura actuum) mit Verpflichtungscharakter anzusehen.24 Die regula rationis et legis divinae, die Richtlinie der Vernunft und des göttlichen Gesetzes, war im Zusammenhang der Vernunftanleitung der Sinne wie ein Hendiadyoin aufzufassen, als Ausdruck, der mit zwei Begriffen etwas der Sache nach Identisches bezeichnet. Ähnlich hier, wo sapientia et lex divina als Hendiadyoin anzusehen ist: Für die menschliche Vernunft ist die Weisheit Gottes als regulativ in dem Sinne zu verstehen, in dem es die Vernunft für das sinnliche Erfassungsvermögen ist, ähnlich wie es das göttliche Gesetz, die lex divina, für das Naturgesetz, die , ist – mit dem bemerFrage 16 Artikel 2: Interpretation
lex naturalis
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Der Gedanke findet sich bei Thomas in vielen Variationen wiederholt. Vgl. etwa zur Anleitung der Sinnesvermögen durch die Vernunft die bereits in anderem Zusammenhang zitierte Passage: „Vernunft und Wille werden von etwas äußerlichem, das im Körper oder in den Sinneskräften Leidenschaften hervorruft, durchaus zum Tätigsein angestachelt, doch verbleibt es in der Macht der Vernunft und des Willens, ob dann gemäß solcher Leidenschaftsbewegungen gehandelt wird oder nicht“ (De malo q.16 a.7 ad 17). Hierhin gehört die von Thomas angeführte Bemerkung des Dionysius (De divinis nominibus cap.4 § 32, PG 3, 733), das Verhalten des Menschen gehe dann fehl, wenn es praeter rationem sei, ja mehr noch: Das Böse für den Menschen bestehe darin, praeter rationem zu sein. Dieses praeter rationem wird gerne, ähnlich wie das griechische Original der Formulierung bei Dionysius para logon, als „gegen die Vernunft“ übersetzt. Das ist sachlich nicht ganz unrichtig. Im Hinblick auf das, was in q.1 a.3 [4.1] bezüglich des „Abweichens“ im Vergleich mit dem Handwerker und dem Sägelineal gesagt wurde, empfiehlt sich allerdings die Übersetzung „an der Vernunft(maßgabe) vorbei“ oder „in Verfehlung des Vernünftigen“. Vgl. die Definition von „Regel“ (regula) und „Maßgabe“ (mensura) bei Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 317: „Cette ‚règle‘, que la volonté doit respecter lorsqu’elle fait un choix, est en quelque sorte un reflet de l’ordre ontologique. En effet, s’il est vrai que tous les biens auxquels l’homme aspire lui apportent une certains perfection, seuls les biens conformes à sa nature et sa fin lui apporteront pourtant une perfection spécifique qui lui convient en tant qu’homme. La règle est donc une ,mesure’ par laquelle la volonté sait parmi les multiples biens se présentant à l’homme ceux qui lui sont conformes et méritent ainsi d’être vises par ses actes”.
234 Frage 16 Artikel 2: Interpretation kenswerten Zusatz, dass jene für dieses ontologisch die Kausalerklärung bietet, während das Naturgesetz für die handlungsrelevanten Vollzüge der Vernunft genauso wenig kausal zwingend ist wie die göttliche Weisheit: Dies war ja das Eröffnungsthema für die Überlegungen zur Freiheit des Willens in q.6 [1]. Bemerkenswert ist der Zusatz auch, weil er Auskunft darüber gibt, wie die lex naturalis, das Naturgesetz, denn aufzufassen ist: Nämlich nicht so sehr als den Dingen der Welt inwendiges Verhaltensmuster, als ausschlaggebende „Natur der Dinge“, woraus man 25den natürlichen Lauf der Welt abzulesen und wonach man sich zu richten habe. Sondern eher, wenn auch keineswegs im Gegenteil, sondern vielmehr als in entscheidender Weise ergänzend dazu, aus dem Verständnis der Natur des Menschen. Diese ist, wie die Abschnitte zum anthropologischen Hylemorphismus oben [3.2] und in q.12 a.1 [2.1] zeigen konnten, in der Vernunftförmigkeit eines Lebewesens zu sehen. Das Verhalten nach dem Naturgesetz ist also das Verhalten nach der Maßgabe der Vernunft, und zwar im Hinblick darauf, dass es eine – zum Wenigsten analoge – Gleichförmigkeit der Arten von Vernunft gibt, auch 26derjenigen, die die Natur der Dinge bedingt und die man sapientia divina nennt. Die eigene Vernunfttätigkeit ermöglicht und erweist also eine Oikeiosis, eine moralisch relevante Beheimatung, in der Welt als der Natur der Dinge. Dass diese Beheimatung in den „juristischen“ Termini von lex, Gesetz, und (in anderen Zusammenhängen auch) ius, Recht, gefasst wird, hat dabei weniger damit zu tun, dass der Mensch hier unter einem satzhaften Handlungsimperativ stünde, obwohl auch diese Möglichkeit nach Thomas gegeben ist. Vielmehr steht der Mensch als vernünftiger hier im Rahmen einer wesentlichen Möglichkeit, die Dinge der Welt, sich selbst und die anderen Menschen ihrer Natur nach zu behandeln, und zwar in einer Weise, die sich einsichtig in einer Art übergeordneter Gerechtigkeitsauffassung begreifen lässt. Es handelt sich um jene Art, in der man natürlichsprachlich ganz selbstverständlich und ohne lange Erklärungsumstände machen zu müssen davon sprechen kann, man werde einer Sache, einer Situation, einer Zeit oder einem Umstand „gerecht“. Gemeint ist damit, man behandelt alle diese Dinge oder Sachverhalte ihrer Konstitution gemäß richtig, man lässt ihnen nach einer vernünftigen Maßgabe, die nicht subjektiver Machart, sondern übergeordneter Vernunft entspricht, beim Handeln das Ihre zukommen. Dass diese Vernunft bei 25
26
Vgl. dazu (mit interessanten Belegen aus den Werken von Albertus Magnus) Jean Porter: Nature as Reason, S. 246. Vgl. dazu auch Robert Spaemann: Einleitung zu Thomas von Aquin: Über die Sittlichkeit der Handlung, S. x: „Sittlichkeit wird hier anscheinend nicht vom Gedanken der Vernunftautonomie her gedacht, sondern als das ‚Naturgemäße‘ verstanden, mithin als das der spezifisch menschlichen Natur und Lebenssituation Gemäße. Indessen geschieht dieses ‚Menschengemäße‘ nicht, wie das Giraffengemäße, von Natur, d.h. von selbst, sondern es geschieht ‚aus Vernunft‘“.
235 Thomas sapientia, Weisheit, genannt wird, zeigt an, dass die Vernunftleistung in ihrer Erstauffassung auf einer gewissen Art von Vollendung beruht und dass die Vernunft, unabhängig davon, ob sie nun absolut oder endlich genommen wird, normgebende Norm, norma normans, des Verhaltens gegenüber der von ihr genormten Normalität, der norma normata, der Natur der Dinge ist. Ganz so, wie der Begriff der Gerechtigkeit sozusagen als Korrelat der „mathematischen“ Anlage der Vernunft in der Behandlung von anderem27 norma normans der Handlung ist, den Dingen gerecht zu werden. Gleichzeitig ist die Vernunft unter dem Aspekt, als spezifisch menschliche Vernunft genommen zu werden, norma normata, da ihre korrekte Leistung im Hinblick auf die Natur der Dinge geschieht und das Maß des jeweils Gerechten nur im Hinblick auf diese („das Ihre“) geschieht, unabhängig davon, dass die Gerechtigkeit diesem Maßnehmen als Maßgabe vorausgeht. Nachdem Weisheit eine der Tugenden darstellt und Tugenden Vollendungsformen ansprechen, könnte man also sagen: Den Dingen wird in der Optimalform der Vernunfttätigkeit das Ihre zugewiesen oder zugestanden, nämlich ihre Optimalform. Und wer dies stets tut,28 verhält sich gemäß Naturgesetz, er kommt der „übergeordneten Regel“ nach. Man kann somit diese Unterscheidung von normgebender Norm und genormter Normalität auch so fassen: Für den Menschen ist das in dieser Weise Natürliche die ratio cognoscendi, der bedingende Erkenntnisgrund, für das Richtige im Handeln, die göttliche Weisheit dagegen ist die ratio essendi, der bedingende ontologische Grund, für dieses Natürliche.29 Frage 16 Artikel 2: Interpretation
[4.3] Das Fazit bezüglich der moralisch bewertbaren Tätigkeit reiner Geistwesen ist damit eindeutig vorbereitet und schnell gezogen: Auch reine Geistwesen haben im Sinne der in [4.2] skizzierten Verstandestätigkeit eine normgebende Norm, an die sie sich als ihnen vorgegebene Norm zu halten haben. Als reine Geistwesen haben sie aber auch nur ein Strebevermögen, nämlich den Willen als das der geistigen Tätigkeit eigentümliche – das sinnliche als Umsetzungsvermögen der sinnlichen Wahrnehmung bleibt ja aus. Es sei an dieser Stelle in Erinnerung gerufen, 27
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Es wurde wiederholt Kritik an dieser aristotelischen „Mathematisierung“ der Gerechtigkeit geübt. Zu verschiedenen kritischen Positionen vgl. zum Beispiel Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a.M. 21994, S. 373ff. Aristoteles selbst war sich des Problems allerdings bewusst und warnt in der Nikomachischen Ethik 1103b35-1104a2 davor, in ethischen Dingen, oder jedenfalls in Tugendfragen, akribôs, also mit letzter Genauigkeit (Olof Gigon übersetzt „mit mathematischer Genauigkeit“, Nikomachische Ethik, hg. von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich 2001) vorzugehen. Ist dies erst einmal so festgestellt, lässt sich auch die ewig junge Frage nochmals neu betrachten, wie denn der Aspekt der Privation beim Zustandekommen der moralischen Fehlhandlungen in ihrem Ablauf verstanden werden soll: vgl. dazu Edward Cook: The Deficient Cause of Moral Evil, S. 74. Vgl. dazu näher auch Martin Kuolt: Thomas d’Aquin, Du mal, S. 317-318.
236 Frage 16 Artikel 2: Interpretation dass Thomas in den Überlegungen von q.8 a.3 [2.3] bereits einmal gezeigt hatte, wie und warum handlungsrelevante Regungen – etwa des Hochmuts, des Zorns und der Liebe – auch ohne Beteiligung von Seiten des sinnliche Strebevermögens als reine Regungen des Vernunftstrebens zustande kommen und verstanden werden können. Ähnliches gilt ja ceteris paribus für das Glück, dessen ethische Relevanz immer nur in mutwilliger Fehlinterpretation auf ein „Gefühl“ reduziert wird, statt es, worauf Thomas mit Aristoteles wiederholt hinweist, als rationalen Akt der Vollendung einer Handlung anzusehen,30 dessen tendenzieller Richtigkeit bei sinnlichen Wesen ein konkomitantes Gefühl als vernünftig weiterverwertbares Indiz entspricht, ein Gefühl, das deswegen (vor allem im Deutschen) eben auch mit demselben Wort als „Glück“ bezeichnet werden kann – ähnlich wie im bekannten Beispiel des Aristoteles (Metaphysik 1003a) die Gesichtsfarbe als „gesund“ bezeichnet wird, weil sie ein Indikator für den organischen Allgemeinzustand ist, den wir in der ausschlaggebenden Primärbedeutung des Wortes „gesund“ nennen. Und so bleibt, dass das Böse sich bei solchen körperlosen Wesen ausschließlich durch ein Fehlenlassen an der Beachtung dieser normgebenden Norm in ihrem geistigen Tätigsein ergibt, und zwar in derjenigen Vernunfttätigkeit, die man „Willen“ nennt. Die Einschränkung „ausschließlich“ kennzeichnet dabei gleichzeitig den Unterschied zur Erklärung des moralischen Übels beim Menschen, der wie gesehen noch in einer zweiten Weise Böses tun kann: nämlich durch ein Fehlenlassen an der Beachtung der normgebenden Norm seiner eigenen Vernunfttätigkeit für die Aktivität seines ihm wesenhaften sinnlichen Strebevermögens.
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Kaum nötig zu erwähnen, dass die Termini hier wieder in ihrer richtigen Verwendungsweise zu verstehen sind: „Vollendung“ (perfectio) sowohl als nomen agentis wie als nomen (f)acti, „Handlung“ als Einzelhandlung wie als Handlungszusammenhang von einer Erstreckungsgröße von bis zu einem ganzen Leben.
Schlusswort
Die große Leistung, die Thomas von Aquin in De malo vorlegt, scheint in der Nachbetrachtung und Bestandsaufnahme der Auswahlinterpretationen trotz des großen Interesses, das vor allem und dann in der Folgezeit ausschließlich die Quaestio 6 auf sich gezogen hat, nicht in einer Einzelthese zu liegen. Die Leistung liegt vielmehr in dem Sammelergebnis, viele solcher für sich schon interessanter Einzelthesen aufeinander abgestimmt und zu einem Ganzen der Erklärung vereint haben zu können. Eine der großen wissenschaftlichen Begabungen des Thomas von Aquin liegt darin, eine Frage nach verschiedenen Gesichtspunkten betrachten zu können, um dann gerade aus diesen Differenzierungen eine einheitliche Antwort oder einen zusammenführenden Lösungsweg zu gewinnen. De malo ist eine Schrift, die zeigt, dass dies nicht nur von Einzelproblem zu Einzelproblem gelingt, sondern auch für übergreifende Problemzusammenhänge, wie sie die Frage nach dem Bösen in der Welt aufwirft: Die verschiedenen Perspektiven auf das Üble werden hier in einer synoptischen Schau integriert und somit eine Theorie vorlegt, in der sich die verschiedenen moraltheoretischen, theologischen, anthropologischen und ontologischen Standpunkte auf eine Bezugnahme vereinen lassen und damit geordnet auseinander hervorgehen und interpretierbar sind ohne sich dabei gegenseitig ihren Wert streitig zu machen – auch wenn ein Primat des Ontologischen in der Erklärordnung unbestritten bleibt, genauso wie die Vorrangstellung des moralischen in der Intensitätsstufung (und des Physischen in der Dringlichkeitswahrnehmung). Diese synoptische Perspektive gibt, wie Thomas deutlich machen kann, den Differenzierungen sogar erst ihren Sinn. Die nüchterne Art der Betrachtung und die ihr entsprechende sachliche Darstellungsweise kennzeichnen auch in der Schrift De malo die Arbeitsweise des Thomas von Aquin. Das erleichtert eine weitere Einsicht, die sich mit der Lektüre der Schrift unweigerlich verbindet: Das Problem des Bösen präsentiert sich hier in seinem ganzen philosophischen Potential. Während sich in späteren Jahrhunderten die spontanen Äußerungen, tiefsinnigen Bonmots und genialen Einwürfe der Philosophen zum Thema des Bösen häufen und dabei gleichzeitig die philosophische Theorie des Bösen merklich in die Krise gerät und sich sogar zu einer
238 Schlusswort Art unbewältigten Peinlichkeit des wissenschaftlichen Denkens auswächst, bietet Thomas mit seiner philosophischen Behandlung der Übel eine Gesamtsicht auf die Wirklichkeit wie in einem Dianegativ. Die Theorie des Üblen bringt damit einen Beitrag sui generis zur philosophischen Erklärung der Wirklichkeit. Denn die Privationslehre, wenn sie denn abdeckend für alle Spielarten und Manifestationen des Üblen, des malum, sein will, erfordert geradezu als intrinsische Voraussetzung das Totale der Perspektive und ein Verständnis dieser Wirklichkeit in ihrem vorprivativen Zustand. So lässt sich De malo auch schön als interessante „Hinteransicht“ der grundlegenden Strukturen und Verständnismuster der positiven Wirklichkeitserklärung aristotelischer Prägung lesen, angefangen von metaphysischen Anfangsfragen über die Lehre vom Menschen bis zur Ethik der „moral absolutes“, und von den wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen der Naturphilosophie über die Handlungstheorie bis zur Epistemologie getrennter Substanzen.
Anhänge
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie Einen ausführlichen Gesamtplan seiner Handlungstheorie legt Thomas von Aquin in seiner Summa Theologiae vor.1 Die entsprechenden Quaestionen sind immer wieder Gegenstand eingehender Untersuchungen und wissenschaftlicher Diskussion geworden,2 und tatsächlich bietet Thomas mit dieser Handlungstheorie eine Analyse des actus humanus, also der dem Menschen eigentümlichen Art zu han-
deln an, die gleichermaßen psychologisch überzeugend wie philosophisch herausfordernd wirkt, vor allem, was die Konsequenzen für die Ethik betrifft. Hieraus ergibt sich auch die entschlüsselnde Bedeutung dieser Handlungstheorie für die Analyse des moralischen Bösen, der freien Willensentscheidung und der Lasterlehre in De malo. Der folgende kurze Abriss soll deshalb in Auswahl und Zusammenfassung einen Eindruck von dieser Handlungstheorie geben, wie Thomas von Aquin sie auf die entsprechenden Abschnitte der Quaestiones disputatae De malo anwendet. Das menschliche Handeln:
Der Grundgedanke, von dem Thomas ausgeht, ist folgender: Der actus humanus, das menschliche Handeln also, geht von zwei rationalen Kräften oder (tätigen) Vermögen aus. Das eine ist der Verstand, intellectus, den Thomas metonymisch auch als ratio, Vernunft, bezeichnen kann. Das andere ist der Wille, voluntas. Thomas weist auch in De malo immer wieder genau darauf hin. So zum Beispiel in q.8 a.3 [1]: Sunt autem in nobis duo principia voluntarii actus, scilicet ratio sive intellectus, et appetitus: hec enim sunt duo mouentia, ut dicitur in III De anima, et precipue quantum ad actus proprios hominis.
1 2
Insbesondere
S.th. I-IIae qq. 11-17.
Eine kleine Auswahl einschlägiger Arbeiten: Stephen L. Brock: Action and Conduct; Thomas Aquinas and the Theory of Action; Alan Donagan: Thomas Aquinas on Human Action. In: Norman Kretzman/Anthony Kenny/Jan Pinborg/Eleonore Stump (Hg.): The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. Cambridge 1982, S. 642-654; David Gallagher: The Will and its Acts (Ia IIae qq. 6-17). In: Stephen Pope (Hg.): The Ethics of Aquinas. Washington D.C. 2002, S. 69-89; Karl Mertens: Handlungslehre und Grundlagen der Ethik. In: Andreas Speer (Hg.): Thomas von Aquin: Die Summa Theologiae. Berlin 2005, S. 168-197; Martin Rhonheimer: Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis; Daniel Westberg: Right Practical Reason; Ralph McInerny: Aquinas on Human Action.
242
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
In uns gibt es nun zwei Prinzipien willentlichen Handelns, nämlich die Vernunft im Sinne des Verstandesvermögens und das Strebevermögen. Denn diese beiden können bewegungsverursachend wirken, wie [bei Aristoteles] im 3. Buch von Über die Seele steht, und das insbesondere sofern man die eigentlich menschlichen Handlungen betrachtet.
Thomas wird dabei nicht müde zu betonen, dass der Wille als vernünftige Kraft, als rationales Vermögen, aufzufassen ist, nicht als irrationales oder gar vernunftwiderständiges Eigenprinzip des Handelns.3 Der gesamte Ablauf menschlichen Handelns gehorcht einem wohlabgestimmten Zusammenspiel dieser beiden rationalen Vermögen von Verstand und Willen.4 Dieses Mit- und Nacheinander im Zusammenspiel von Wille und Verstand wird von Thomas in detaillierten Ablaufstufen geschildert und analysiert. Das Stufenhafte in dieser Abfolge ist dabei eher der Darstellung und der Analyselogik geschuldet als dem Ablauf selbst, den Thomas durchaus als5 dynamisch und übergangslos prozesshaft versteht und zu schildern bemüht ist. Das lässt sich bereits am ersten Darstellungsproblem ablesen: Wann und wo beginnt eigentlich eine Handlung, ein actus humanus? Wo hebt der „Handlungsstrang“ an? Offenbar befindet sich ein Mensch doch schon in Neigungs- und Strebenszusammenhängen, bevor er seine rationalen Vermögen ausüben kann, bevor man also überhaupt in diesem Sinne von aktiven Vermögen (potentia activa) sprechen kann. Nun bezeichnet nach Thomas von Aquin der actus hominis, vielleicht übersetzt man am besten: das Tun des Menschen, all das, was Menschen vollführen, ohne dass das zunächst einmal spezifisch menschlich wäre. Auch unbewusste, vegetative, beurteilungsindifferente Akte können actus hominis im Sinne von etwas von einem Menschen Getanen sein: Husten, laufen, sich am Kopf kratzen und was dergleichen mehr ist. Doch findet sich hier nichts spezifisch Menschliches, und das heißt in diesem Fall soviel wie: nichts identifikatorisch dem Menschen Eigentümliches, da es nicht ex voluntate deliberativa ist, nicht der geistigen Entscheidungsgewalt oder dem überlegenden Wollen des Menschen entspringt. Der actus hominis ist daher auch nicht der Gegenstandsbereich der Ethik, er ist eher ein Widerfahrnis am Menschen, ein Element des kausalen Ereignisstroms, aus dem sich der handelnde Mensch in seiner Vernunfttätigkeit herauszunehmen vermag, wie in q.6 zu sehen war und im Weiteren noch zu sehen sein wird. Im 3
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Vgl. ergänzend nochmals De malo q.8 a.3: „Das vernünftige Streben, das Wille heißt, hat das übergeordnete Gute zum eigentümlichen Strebensziel und ist daher nicht in mehrere Vermögen unterschieden“. Der gesamte Prozess “is made up of a concurrent input of cognition and volition” (Daniel Westberg: Right Practical Reason, S. 131). Vgl. Edward Cook: The Deficient Cause of Moral Evil, S. 75: “In all this, however, it should be noted that there is no question of separating in reality the mutual relations of intellect and will in human action; it is merely a matter of distinguishing their mutual acts in two distinct orders of causality”.
243 Unterschied dazu meint der actus humanus das menschliche Handeln, das mehr ist als ein Tun: Es ist als bewusst, auf Überlegung, Wahl, Planen und geistige Möglichkeiten beruhend spezifiziert. Es handelt sich um einen Akt, dessen Herr der Mensch ist, und wo sich bestenfalls zeigt, dass der Mensch Herr seiner selbst ist (daher kann Thomas diese Akte, wie oben im Zitat aus De malo q.8 a.3 [1] gesehen, in Abgrenzung zu den actus hominis, auch als actus proprii hominis bezeichnen, als die dem Menschen eigentümlichen und eigenen Akte). Wie dies zu verstehen ist, soll die Handlungstheorie bei Thomas zeigen, indem sie die Elemente von Überlegung, Wahl, Entscheidungsgewalt und Planung analysiert und erklärt. Man kann im übrigen die berechtigte Frage stellen, ob es den actus hominis bei Thomas von Aquin überhaupt geben kann, oder ob nicht vielmehr alles, was der Mensch vollführt, nur menschlich und sonst nichts ist, also actus humanus. Dies deswegen, weil Thomas in seiner hylemorphen Anthropologie die aristotelische Lehre vom rationalen Lebensprinzip des Menschen aufgreift und als Lehre der anima unica forma corporis vertritt, also des vernünftigen Lebensprinzips Seele als einzigem Strukturprinzip des Leibes. Dies war im6Zusammenhang der Erörterungen zu q.12 a.1 [2.1] bereits ausführlicher zu sehen. Überträgt man diese Konstellation zurück auf die Anfangsfrage des menschlichen Handelns, so ergibt sich zunächst Folgendes: Für den actus hominis scheint es auf den ersten Blick keinen rechten Platz bei Thomas zu geben. Alles, was Menschen vollführen, wäre nämlich somit vernunftförmig und scheint dem Anspruch zu genügen, actus humanus zu sein. Dass Thomas von Aquin gleichwohl an der Unterscheidung beider festhält, hat einen Grund, der sich auch und insbesondere durch die Handlungstheorie erschließen lässt: Zwar ist alles, was Menschen vollführen, menschlich und somit in einem gewissen – nämlich dem hylemorphistischen – Sinne vernunftförmig. Mit dem jedoch ist die Handlung gemeint, mit der sich der Mensch als einzelner gerne oder auch beschämt identifizieren lässt (im Fall des Beschämtseins: lassen muss), eine Handlung, die ihn als solchen oder solchen unverwechselbar und nicht nur als Exemplar einer – immer noch vernunftförmigen – Gattung ausmachen lässt. Der ist der Akt dieses einen Menschen und die Handlung, für die er deswegen einstehen muss. Nicht weniger – und wahrscheinlich auch nicht mehr – als das muss dann die Handlungstheorie auch erklären können: was eine menschliche Handlung ist und in welchem Sinne sie beides ist, eine Handlung und nicht nur ein Tun, und in welcher Auffassung menschlich. Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
actus humanus
actus humanus
6
eigene
Zu erinnern ist hier nochmals an die ausschlaggebende Stelle in S.th. I q.76 a.1 und a.3 sowie an die Ausführungen bei Richard Heinzmann: Anima unica forma corporis, und Heinzmann: Ansätze und Elemente moderner Subjektivität bei Thomas von Aquin, hier insbesondere S. 418-422 und 427-432.
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
244
Das willentliche Hervorbringen:
Thomas lässt das menschliche Handeln in Abgrenzung zum bloßen Tun der Menschen mit einem Akt beginnen, den er nennt, mit einer „schlichten Willensäußerung“, so könnte man vielleicht übersetzen. Diese ist an eine zunächst noch unqualifizierte Erfassung von etwas Gutem gekoppelt und stellt dementsprechend das noch unqualifizierte Auf-etwas-Aussein eines Menschen auf etwas fest.7 Gemeint ist damit eine Art Willens-Rohling, ohne den als Grundlage eine menschliche Handlung nie zustandekommen würde. Und dies ist auch schon das erste Abgrenzungsmerkmal, das diesen Akt als handlungsrelevant von anderen nur tunsrelevanten Abläufen kennzeichnet. Das zweite Abgrenzungsmerkmal ist, dass dieser Willens-Rohling offen8 dafür ist, durch die Interaktion von Verstand und Willen modelliert zu werden. Dadurch wird er in einem rationalen Prozess zu etwas, das sich eine Person so als ihr Eigenes zuschreiben kann und möchte, dass sie den Geschehensablauf, der in diesem Willens-Rohling gleichsam seinen Zündfunken hatte,9 auch anstößt oder ausführt und sich mit ihm identifizieren lassen kann und mag. Ähnlich wie vielleicht ein Künstler unmittelbar in einem Stück Holz eine Figur sieht, die er dann aus dem Scheit herausarbeitet, bis es eine Statue bildet, die der Künstler als Ausdruck dessen, was er darin gesehen hatte, und vor allem auch als etwas, das ganz sein Werk ist, ansieht – bestenfalls als ein Werk, in dem jeder Kunstsinnige eben ganz diesen einen Künstler erkennt. – Doch diese Analogie ist vielleicht zu weit hergeholt: Der Künstler bringt ja den Baumstamm nicht aus sich hervor. Zwei andere Vergleichs-möglichkeiten liegen bei Thomas vielleicht näher: Zum einen der theologische Vergleich mit der Schöpfung (nach dem berühmten Diktum des Augustinus eher eine Praxis als eine Poiesis), in der Gott willentlich etwas hervorbringt, das er als mehrtägiges Werk ausdifferenziert, bis die vielgliedrige Gesamtheit der Wirklichkeit als für ihren Hervorbringer zustimmungsfähig fertig anzusehen ist. Tatsächlich ist die , also das Gefallen an dem Ergebnis des Handlungsabvoluntas simplex
fruitio
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Vgl. Edward Cook: The Deficient Cause of Moral Evil, S. 78: “there is a simple apprehension of the good on the part of the intellect and a simple volition of the apprehended good on the part of the will” (Kursivierungen im Original). Eine häufiger bemühte Parallelstelle aus De veritate, an der Thomas das „Gründungsverhältnis bestimmt, in dem die natürliche Willensdimension als principium et fundamentum der spezifisch rationalen Selbstbestimmung willentlichen Strebens fungiert“, zitiert und kommentiert Franz-Josef Bormann: Natur als Horizont sittlicher Praxis, S. 84. Zur Unterscheidung dieser voluntas simplex von der komplexen Willensentscheidung, die im Abgleich mit den Verstandesvorgaben am Ende der verschiedenen Stufen steht, welche die Handlungstheorie bei Thomas beschreibt, vgl. zum Beispiel Andrea Robiglio: L’impossibile volere. Tommaso d’Aquino, i tomisti e la volontà. Mailand 2002, S. 58, sowie Daniel Westberg: Right Practical Reason, S. 89.
245 laufs, und damit an dem, was den Handlungserwägungen dann als Geschehen10 entspricht, ein wichtiges Abschlussmoment der Handlungstheorie bei Thomas. Der Vergleich mit dem Schöpfungsakt hat aber seine eigenen Probleme, wie noch zu sehen sein wird. Zum anderen liegt der philosophiegeschichtliche Vergleich etwa mit der neuplatonischen Ontologie des in De malo so unermüdlich zitierten Dionysius nahe: Diese neuplatonische Prozessontologie hat ja ebenfalls genau die sukzessive Modellierung eines nur geistig zu fassenden Erstentlassenen bis zu dem Punkt zum Thema, an dem der Prozess dann an sein11 letztes Äußerstes als Letztäußerung des ersten Hervorgehensprozesses gelangt (es wird später noch einmal kurz ein Blick darauf zu werfen sein). – Der Vergleich mit dem Künstler und dem Holz hatte dagegen aber immerhin etwas anderes Bedenkenswertes für sich: Die Vorgabe des Naturwüchsigen, das man eher vorfindet als hervorbringt. – Auf all diese Probleme soll jetzt im Zusammenhang der Handlungstheorie eingegangen werden. Die voluntas simplex, das heißt die schlichte und noch unqualifizierte Willensregung, lässt sich daher für sich oder als psychologisches Faktum genommen wohl kaum von natürlichen Neigungen sondern, doch wird sie dies ganz deutlich im Ergebnis, das heißt der Handlung selbst, tun: Dieses Ergebnis wird die ausführende Instanz, in diesem Falle der Mensch, nämlich ganz sich selbst zuschreiben können und müssen. Damit wird das menschliche Handeln dann auch von den naturwüchsigen Ereignisabläufen unterschieden und von ihnen abgesetzt. Man nennt es dann willentlich. Gleichzeitig ist diese noch unmodellierte Willensregung aber auch die Initialzündung für alle anderen am Zustandekommen der Handlung beteiligten kognitiven und voluntativen Einzelvermögen der beiden Grundvermögen von Verstand und Willen. Es ist diese erste unqualifizierte Ausrichtungsregung, die alle anderen Vermögen in Bewegung setzt (so S.th. I-IIae 12 q.12 a.1). De malo q.6 (zum Beispiel [4.3]) spezifiziert hier jedoch und gibt nachdrücklich zu bedenken, dass dies eben als Ausrichtungsregung geschieht, also finalursächlich auslösend. Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
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11 12
Für die Einschätzung von fruitio und voluntas simplex habe ich, ähnlich wie in einigen anderen Aspekten der Handlungstheorie, gute Anregungen aus der Münchener Dissertation von Christopher Franke bekommen: Actus humanus, actus hominis und das Prinzip des
doppelten Effekts. Selbstbestimmung und die Idee moralischer Verantwortung nach Thomas von Aquins Handlungstheorie (Ludwig-Maximilians-Universität München 2011). Vgl. Christian Schäfer: The Philosophy of Dionysius the Areopagite. Leiden/Boston 2006,
S. 58-66. Vgl. Edward Cook: The Deficient Cause of Moral Evil, S. 77: “The first acts of intellect and will are indeliberate and spontaneous. […] As such, the object has not yet become one suitable for presentation to the will, which occurs only when the object is apprehended under the formality of the good or appetible and is found suitable for the individual considered in his concrete circumstances”.
246 Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie Dem Umstand, dass der Mensch die zustimmende Zuschreibung dieses Ergebnisses an sich selbst vornimmt, hat Thomas von Aquin viel Bedeutung zugemessen. Denn ohne diesen Akt der Zustimmung käme es zu keiner Handlungsvollführung, jedenfalls nicht, wenn man Handlung im eigentlichen Sinne nimmt, das heißt als actus humanus. Unter den Handlungsaspekten, die er als actus eliciti des Willens bezeichnet, also als vom Willen „herausgebrachte“ Vollzüge, nimmt die sogenannte fruitio, das 13Gefallen oder die Freude an der Erfüllung, eine herausgehobene Stellung ein. Sie sanktioniert die bereits in einem anhaltenden komplizierten innerpsychischen Prozess zustandegekommene und modellierte Handlungsmaßgabe wie durch eine Einverständniserklärung. Bestimmte Interpreten14 sehen übrigens in der fruitio eher ein schon sehr anfängliches Wohlgefallen an der Inaussichtstellung dessen, worauf die voluntas simplex den Bewegungsanstoß gibt. Da jedoch die thomasische Handlungstheorie bei all ihrer arbeitsteiligen und aufeinander aufbauenden Struktur keineswegs so einsinnig konstruiert ist, dass sich nicht einige Vermögen auch auf verschiedene Stufen oder Aspekte erstrecken und in verschiedenen Prozessphasen – auch im abgleichenden Rückblick oder Ähnlichem – wirksam sein können, muss kein Widerspruch mit der hier vertretenen „späten“ Wirksamkeit der fruitio vorliegen. Es mag sich mit der fruitio oder „Befriedigung“ daher verhalten wie mit anderen handlungsrelevanten Begriffen auch, die, wie das berühmte Beispiel der „Verantwortung“, eine Auffassung ex ante von einer Auffassung ex post sondern lassen. Die Differenzierung erfolgt hier wohlgemerkt dann hinsichtlich der Auffassungen, nicht als eine solche in zwei verschiedene Befriedigungen oder fruitiones. Im Fall der fruitio ließe sich somit im ersten Sinne eine antezipatorische Befriedigung mit kinetischer – also in Bewegung setzender – Funktion bezüglich der Handlung feststellen, die sich von einer in einem zweiten Sinne bestätigenden Befriedigung mit katastematischem – also in Wohlgefallen zur Ruhe kommenden – Charakter bezüglich der Handlung aspektuell unterschiede. Unter die vom ersten Willensanstoß „hervorgebrachten Akte“ – falls dies die richtige Übersetzung von actus eliciti sein sollte – zählt auch die intentio, die Absicht.15 An deren Beispiel ersieht man deutlich, wie ein Willensakt, wie er hier
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14 15
Die Unterscheidung und noch mehr die Zuweisung einzelner handlungsrelevanter Abläufe und Einzelvermögen nach dem Muster von actus eliciti und actus ad finem oder Ähnlichem wird bei den Interpreten recht uneinheitlich gesehen. Ich entscheide mich im Folgenden für eine Mischform der Deutungsansätze von Ralph McInerny: Aquinas on Human Action, und Daniel Westberg: Right Practical Reason. Zum Beispiel Ralph McInerny: Aquinas on Human Action, S. 56. Thomas von Aquin unterscheidet vollkommen zu Recht zwischen Absicht als innerer Haltung bezüglich der Handlungsbestrebung (finis operis) und Absicht hinsichtlich der Zweckerfüllung der Handlung (finis operantis), kann aber von Mal zu Mal durchaus beides als intentio bezeichnen, genauso wie man das im alltäglichen Sprachgebrauch so tut. Für
247 vorliegt, nur als rationaler interpretierbar ist. Als Absicht bezeichnet Thomas die Präexistenz eines Ziels oder Zwecks (finis) im Geiste, ein vernünftiger Entschluss der Selbstausrichtung oder eine vernünftige Vorausbestimmung (praeordinatio) betreffs des Handlungsziels, und zwar noch bevor andere rationale Einzelmomente sich an eine weitere Einschränkung, Modellierung oder Abwägung machen. Die rationale Zieldefinition und der erste Willensrohling müssen also bereits dasein, damit es die Absicht gibt, ist diese doch16„eine Bewegung des Willens hin zu etwas, das die Vernunft vorausbestimmt hat“ , oder schlichter „ein Willensakt in Anbetracht eines Ziels“.17 Die Absicht legt für den Handlungsvollzug somit den finalursächlichen Anfangspunkt fest, denn „in Handlungsdingen hat das Zieloder Zweckhafte ursprüngliche Kraft“.18 Thomas von Aquin kommt in verschiedenen Zusammenhängen darauf zurück. Einer davon war etwa in seiner Diskussion des Hochmuts zu sehen, wenn er sagt „das Strebevermögen wird in gewisser Weise vom Erfassungsvermögen in Gang gebracht – insofern nämlich das erfasste Gute das Streben anstößt“ (De malo q.8 a.3 [1.2]). Gleichzeitig legt die Absicht auch den Endpunkt (ebenfalls ) fest: Die Handlung gilt dann als abgeschlossen, wenn die Absicht eingelöst ist, also das erreicht ist, was die fixiert hat. Tatsächlich kann man anhand des so aufgefassten Begriffs des Ziels ( ) eine dreifache Funktion der Absicht für die Handlung feststellen. Am besten lässt sich diese dreifache Festlegungskraft der Absicht mit der dreifachen Bedeutung des deutschen Wortes „Bestimmung“ zeigen. Als Zielbestimmung: Der in der Absicht verfolgte Zweck zeigt auf, wohin der Handlungsverlauf steuert; als Endbestimmung: Die Absicht setzt fest, wo der Punkt erreicht ist, an dem die Handlung als eingelöst angesehen werden kann, also zuende ist; als definitorische19 Bestimmung: Die Absicht umgrenzt, worum es in der Handlung eigentlich geht. Zusammen mit seiner schlichten ersten Äußerung ( ) und der wohlgefälligen Befriedigung an der Handlung ( ) gehört daher die Absicht ( ) so zum Willen, dass hier eine Trias als Grundstruktur der HandlungsAnhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
finis
praeordinatio
finis
voluntas simplex
fruitio
intentio
16 17 18
19
das Folgende versuche ich eine Interpretationsvariante, in welcher das Fehlen dieser Unterscheidung hoffentlich ohne Verlust für das Interpretationsergebnis verschmerzbar ist. S.th. I-IIae q.12 a.3 ad 2: intentio autem est motus voluntatis in aliquid praeordinatum in ratione. S.th. I-IIae q.12 a.1. ad 4: actus voluntatis respectu finis. S.th. I-IIae q.14 a.2: finis in operabilibus habet rationem principii. (Ralph McInerny: Aquinas on Human Action, S. 57, zitiert zur Veranschaulichung dieses finalursächlichen Prioritätsverhältnisses T.S. Eliots “in the end is my beginning”). Vgl. zur Verdeutlichung Christopher Kaczor: Distinguishing Intention from Foresight: What is Included in an Means to an End? In: International Philosophical Quarterly 41(2001), S. 77-89.
248
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
ausrichtung auf ein Handlungsziel greifbar wird. So formuliert es Thomas auch in S.th. I-IIae q.12 a.1 ad 4: Der Wille verhält sich zum Ziel in dreifacher Hinsicht: Erstens ohne weitere Bezugnahme, dann heißt das schlicht Wollen, so wie wir schlicht Gesundheit oder etwas dergleichen wollen; zweitens insofern er in diesem Ziel zur Ruhe kommt, und dann ist es die Befriedigung oder wohlgefällige Erfüllung des Ziels; drittens wenn das Ziel als der Abschluss dessen genommen wird, was auf es hin ausgerichtet ist, und das ist das Verhältnis der Absicht zum Ziel.20
Die Auswertung der Handlungsmittel:
Was die Absicht im Willen als Handlungsziel vordefiniert, wird in einem weiteren Modellierungsverfahren auf die Mittel hin überprüft, die zum Erreichen des Handlungsvollzugs nötig sind. Es geht hier also nicht mehr um das Was der Handlung, sondern um das Wie. Sollte es übrigens noch Zweifel daran gegeben haben, welche Bereiche Handlungen abstecken können, so wird es insbesondere in der Diskussion dieser Überprüfung der Mittel auf ihre Dienlichkeit und Zustimmungswürdigkeit deutlich: Eine Handlung ist keineswegs nur die atomare Einzelbewegung, auf die sie der etablierte Sprachgebrauch gerne beschränkt, also etwa das Einschenken von Wein oder das Würgen eines Feindes. Handlungen sind vielmehr auch die größeren Zusammenhänge, auf die sich das schlichte Wollen, die Absicht und die ratifizierende Befriedigung beziehen können (und die sie somit als menschliche Handlung definieren): die Erziehung eines Kindes etwa, ein Kriegszug oder eine wissenschaftliche Vortragsreihe.21 Aus der Quaestio 6 ([4.1] und [4.2]) von De malo weiß man, dass schlichtes Wollen, Absicht und Inaussichtstellung der Befriedigung in einer Handlungsvollführung auf eine Vorlage des Verstandes zurückgehen: Es ist der Verstand, der die allgemeine Formvorgabe erfasst und vorlegt, auf die hin der Wille auf etwas Bestimmtes sozusagen anspringt. Der Wille tritt also als Umsetzung einer solchen Formvorgabe in Kraft, und diese Umsetzung ist der Gegenstand des ersten Wollensrohlings und der Absicht, sie ist auch der Referenzpunkt der ratifizierenden Befriedigung bezüglich der somit angestoßenen Handlung. Dabei ergab sich je20
21
S.th. q.12 a.1 ad 4: voluntas respicit finem tripliciter. Uno modo, absolute, et sic dicitur voluntas, prout absolute volumus vel sanitatem, vel si quid aliud est huiusmodi. Alio modo consideratur finis secundum quod in eo quiescitur, et hoc modo fruitio respicit finem. Tertio modo consideratur finis secundum quod est terminus alicuius quod in ipsum ordinatur, et sic intentio respicit finem.
Vgl. zu solchen Handlungseinheiten, die verschiedene „Basishandlungen“ („basic actions“, wie es in der analytischen Tradition im Anschluss an Arthur C. Danto gerne heißt) integrieren, die entsprechenden Bemerkungen bei Robert Spaemann: Einleitung zu Thomas von Aquin: Über die Sittlichkeit der Handlung, S. xiv.
249 doch auch, dass bei der Abgleichung der Formalobjekte des Verstands – des Wahren nämlich – und des Willens – des Guten – eher ein wechselseitiges oder rückkoppelndes Abhängigkeitsverhältnis vorliegt, denn Gutes würde als solches nicht wahrgenommen werden, gäbe es nicht die Verstandeserkenntnis des Wahren und somit, dass etwas wahrhaft als gut angesehen werden kann. Wahres als Zielvorgabe einer Handlung kann dagegen nicht anders als unter dem Gesichtspunkt des Guten gesehen werden: Andernfalls wäre es gar nicht als Erstrebenswertes einzuordnen und dann käme nie eine Handlung in Gang. Ohne verursachende Zielvorgabe erfolgt nämlich keine Bewegung und so ist „das Wahre, insoweit es Ziel einer verstandesmäßigen Handlung ist, unter dem Guten als ein bestimmtes Gut enthalten“.22 Auf der Ebene der die Handlung betreffenden Mittelauswertung wiederholt sich dieses Ergänzungs- und Rückkopplungsverhältnis von kognitiven und willentlichen Akten nun kleinteiliger in einem erstaunlich dynamischen Prozess, der einmal mehr Verstand und Willen als zwei Potenzen ein und derselben menschlichen Vernunft ausweist: Hat die Absicht, angestoßen vom ersten schlichten Willensausdruck und der Aussicht auf Befriedigung im erreichten Handlungsguten, also erst einmal festgelegt, worum, wohin und bis zu welchem Punkt die Handlung gehen soll, erfolgt als nächstes die Überlegung oder, wenn man etymologischer übersetzen möchte, das mit sich zu Rate Gehen (consilium). Dieses bezieht sich darauf, wie es wohl anzustellen sei, dass die ins Auge gefasste Handlung zustande kommt. Das consilium ist als eine abwägende Überlegung Sache des Verstands.23 Diese Selbstbefragung des Handelnden bezüglich der Mittel führt über zur Zustimmung (consensus), in der der Wille dem, was die Überlegung ihm als Umsetzungsmittel vorlegt, beipflichtet (oder nicht). Thomas bestimmt diese willentliche24 Zustimmung daher als „eine Neigungsbewegung dazu, etwas (so) anzupeilen“. Diese Zustimmung bedingt nun wiederum in einem nächsten Schritt ihrerseits eine auf einem Urteil (iudicium) über die als möglich konsentierten Mittel fußende Wahl (electio), wobei einmal mehr das Urteilen ein Akt des Verstandes ist, das Wählen ein rationaler Akt des Willens. Und wiederum ist das Urteil nur der anschließenden Wahl wegen überhaupt sinnvoll und vonnöten, die Wahl hingegen Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
nur aufgrund der kognitiven Vorleistung im Urteilsakt als qualifizierte überhaupt 22 23 24
De malo q.6 [4.1]: et ipsum verum, in quantum est finis intellectualis operationis, continetur sub bono ut quoddam particulare bonum. S.th. I-IIae q.14 a.1 ad 1: [consilium,] quod est actus rationis. S.th. I-IIae q.16 a.2: applicare motum appetitivum ad aliquid appetendum. Darin unterscheidet sich das Wohlgefallen an der Handlung, das in der Zustimmung, im consensus, waltet, auch von dem Wohlgefallen in der fruitio, das heißt vom Erfüllungsgefallen, da sich die handelnde Person bei dieser mit dem Handlungsziel identifiziert und sich deswegen in dieser Handlung gefällt, während sie sich bei jener in den Mitteln gefällt (sibi complacet), denen sie für die Handlungsausführung zustimmt.
250
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
Zwei Dinge sind hierbei für die Interpretation von De malo von größtem Interesse und rechtfertigen diesen längeren Ausflug in die Handlungstheorie: 1. Die Quaestio 6 von De malo, die von der Wahl (electio) des Willens handelt, geht nicht nur um die Frage, ob und inwiefern diese eine Mittelerwägungsstufe der willentlichen Wahl, die electio, als frei gewertet werden kann. Die Freiheit des Willens steckt nämlich nicht allein in der Mittelabwägung. Dennoch ist diese Wahl bei der Mittelabwägung der Ort, an dem der Wahlcharakter des Willens am unmissverständlichsten fassbar ist. Mit Deutlichkeit unterstrichen wird dies durch die Erwägungen, die Thomas im Rahmen von q.3 a.3 [1] und verschiedener Artikel von q.16 in De malo vorbringt: Tenor der magistralen Antwort ist hier jeweils, dass zwar Urteilen, Erwägen und Ähnliches aufgrund falscher – etwa vorgespiegelter – Vorgaben in die Irre geführt werden kann (durch eine „vorbereitende, beratende oder gebietende“ ‒ disponens vel consulens vel imperans ‒ Einflussnahme, hieß es in q.3 a.3 [1]), dass aber die Wahl des Willens als Akt nicht von außen induziert werden kann, einschließlich der Wahl des reflexiv tätigen Willens, sich selbst in Bewegung zu setzen. Wenn also der Willensrohling der voluntas simplex am Anfang eines jeden Handelns steht, so definiert das die Tatsache der primären Willenstätigkeit, während das Wie dieser primären Willenstätigkeit das Wählen ist, unter Einschluss des Wählens des eigenen Tätigseins – unter den Vorbehalten, die q.6 dazu formuliert. Vielleicht ist das sogar der springende Punkt in der Willenstheorie: Nicht jedweder Neigungsimpuls, nicht jedwede innere Bewegung taugt also zu einem qualifizierten menschlichen Handeln im Sinne des actus humanus. Dies wird eine innere Bewegung erst dadurch, dass sie als passend für die Vollführung eines actus humanus erkannt und gewählt wird, und dieses Wählen ist Sache des rationalen, auf Verstandesvorgaben abgestimmten Willens, und zwar in diesem Fall als initiativ für alle weiteren handlungsrelevanten Abläufe, einschließlich der Mittelwahl, die in der Handlungstheorie der Summa in q.13 Gegenstand der Darstellung ist. Zum Wenigsten lässt sich dann bezüglich des willentlich Freien des menschlichen Handelns bei Thomas von Aquin daher vielleicht Folgendes festhalten (aber dies eben vor allem im Hinblick darauf, dass mit diesem „Wenigsten“ noch keineswegs alles gesagt sein muss): „Willentlich“ und „frei“ ist hier bezüglich des „bloß natürlichen“ Neigungshaften, welches das Tun etwa der Tiere leitet und vollständig definierend erklärt, in einem ähnlichen Gegensatz zu verstehen, wie der, in dem man im heutigen Sprachgebrauch das „Künstliche“ zum „Natürlichen“ zu sehen gewohnt ist: Auch das „Künstliche“ aus Menschenhand wird ja als Gegenbegriff zum „Natürlichen“ verwendet, ohne dass damit in Abrede gestellt würde, dass auch dieses Künstliche materialiter allein aus der Grundlage und den Möglichkeimöglich.25
25
Vgl. dazu Duarte Sousa-Lara: A especificação moral dos actos humanos segundo são Tomás de Aquino, S. 308, mit Hinweis auf De veritate q.22 a.15.
251 ten des natürlich Vorhandenen besteht und gemacht ist. Aber durch das, was die menschliche Behandlung dieses Natürlichen aus diesem Natürlichen als Grundlage macht (etwa in der „Produktion“ von „Synthetischem“), wird es zu etwas Künstlichem – und zwar in dem überraschenden Sinne, in dem es aufgrund der Umwandlung von bloß Natürlichem als Gegensatz oder definitionsverlassende Anomalie gegenüber genau diesem Natürlichen angesehen werden kann. Es ist die überlegte Gestaltung dieses Natürlichen, die das Künstliche als das „Nichtnatürliche“ herstellt, und ähnlich sind es die Überlegung und die Gestaltung des Willens – im Sinne von Quaestio 6 von De malo in beiden möglichen Genitivvarianten verstanden! –, welche die freie Handlung aus dem anfänglich Neigungshaften hervorführen; und zwar mit dem spezifischen Unterschied, der das Handlungsartige, Praktische, gegenüber dem Herstellungsartigen, Poietischen, auszeichnet: dass das Ergebnis bereits im Vollzug liegt, nicht erst im Endprodukt. 2. Die in den Deutungsversuchen dieser Quaestio 6 von De malo stets zum zentralen Streitpunkt erhobene Differenz von „voluntaristischem“ Ansatz oder „intellektualistischem“ Ansatz lässt sich nur dann entscheiden, wenn hier klargestellt werden kann, ob die Einbettung der electio in die Handlungstheorie die Interpretation als Vernunft des Willens oder nur die als Willen der Vernunft zulässt. Interessant auch, wie Thomas in seiner Handlungstheorie der Summa die einzelnen Schritte der Handlungswerdung in die Abfolge seiner Erklärung bringt: Nachdem er nämlich die Absichtsentstehung im Willen und deren kognitiven Vorlauf in den Quaestionen 11 und 12 der I-IIae dargestellt hat, macht er sich in der folgenden Quaestio 13 gleich daran, das Zusammenspiel von Urteil und Wahl zu erklären, während Überlegung und Zustimmung erst in den Quaestionen 14 und 15 nachgereicht werden. Das mag darauf hindeuten, dass Thomas davon ausgeht, bei gewissen Handlungen26 könnten sich Urteil und Wahl unmittelbar an die Absichtsfassung anschließen. So im Falle von Absichten, die zur HandAnhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
lungsumsetzung keine oder nahezu keine Alternativen in den Mitteln bieten, so dass Überlegung und Zustimmung hier überflüssig sind oder ihrer nicht mehr einzelschrittig bedurft wird. Routine in Handlungen mag ebenfalls ein Faktor sein, ähnlich wie im Bereich des Begreifens der Anzahl von Würfelpunkten bei einem Spieler, anders als etwa bei einem Kleinkind, keine Überlegung und kein Nachzählen der Augen des Würfels mehr nötig ist, sondern die Zahl dem routinierten Blick sogleich offensichtlich ist und keine weitere Beschäftigung mehr erfordert, und der Jubel- oder Enttäuschungsschrei über den Wurf sofort und nicht erst nach dem Abzählen erfolgt. Überlegung und Zustimmung zu den Über26
So auch die Deutung bei Daniel Westberg: Right Practical Reason, am besten einzusehen in seinem „skeletal scheme“ der Handlungstheorie, S. 131 (vgl. auch untenstehend das Schema 3).
252 Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie legungsvorlagen würden von Thomas also erst als Ausbauelemente des unmittelbareren Verfahrens in zwei weiteren Quaestionen nachgereicht. – Verschiedene Interpreten hat dies immer wieder verwirrt, und insbesondere die Zustimmung vor dem Urteilen wurde immer wieder in Frage gestellt; dies mag auch der Grund dafür sein, dass etwa Francisco Suárez (um nur das vielleicht berühmteste Beispiel zu nennen) keinen Sinn in der Unterscheidung von Zustimmung und Wahl erkennen wollte. Die Wahl, so meinte er, beziehe sich, wenn eine Überlegung überhaupt erfolge, doch genauso gut auf deren Vorlagen wie auf das Urteil, das sich aufgrund dieser Vorlagen bilde, oder vielmehr: Im Urteil sei doch die Überlegungsvorlage, falls sie denn erfolgen musste, immer schon miteingerechnet und somit „aufgehoben“. Suárez sah sich hier seinem Selbstverständnis nach immer noch in der thomasischen Tradition, und das, obwohl Thomas in seinem Bestreben, die Bedeutung von Überlegung und Zustimmung in seiner Handlungstheorie zu unterstreichen, in der Quaestio über das consilium oder das mit sich zu Rate gehen betont: Die Wahl entspricht einer Strebensbewegung auf das hin, was durch den Prozess eines mit sich zu Rate Gehens und einer Zustimmung bezüglich der vorgelegten Ergebnisse dieses mit sich zu Rate Gehens gegangen ist.27 Noch einmal zur Erinnerung, auch wenn es ermüdend wirken sollte: Es ist der Verstand, der die allgemeine Formvorgabe bestimmend festlegt, auf die hin der Wille anspringt, weil er diese Formvorgabe in etwas Bestimmtem wiedererkennt. Der Verstand erkennt zwar das Gute, der Wille ratifiziert es aber erst darauf fußend als Gutes. Der Wille ist also das „Gelenk“ der handlungsrelevanten Konkretionsanwendung auf die Begegnungswelt, und das gilt auch für die Konkretion der Mittel zur Handlungseinlösung. Das kann der Wille dank seiner Hauptkompetenz der Identifizierung des Guten als gutes. Ohne den Willen bliebe die Verstandestätigkeit bezüglich der Handlungen steril, eine Allgemeinerwägung ohne Bezug, wie ihn Handeln aber erfordert. Dieser Bezug wird aber erst – wenn schon nicht durch, so doch – über den Willen möglich. Thomas sagt daher in De malo q.6 [5.2] mit Blick auf die mittelentscheidenden Akte seiner Handlungstheorie: Da jedoch beratschlagende Überlegungen (consilia) und Wahlentscheidungen (electiones) Einzelnes betreffen, worauf sich eine Tätigkeit bezieht, so ist es erforderlich, dass das, was als Gutes und Angemessenes wahrgenommen wird, auch als Gutes und Angemessenes im Einzelnen wahrgenommen wird und nicht nur ganz allgemein.
Die Umsetzung der inneren Akte in Handeln: Ist die Wahl als letzter Schritt der Mittelauswertung erfolgt, bleibt nur noch die Umsetzung der Handlung gemäß der Absicht (als des Kulminationspunkts der 27
S.th. I-IIae q.14 a.1: electio, sicut dictum est, consequitur iudicium rationis de rebus agendis.
253 zielfestlegenden handlungsbeteiligten Akte) und der Wahl (als Kulminationspunkt der weg- oder mittelfestlegenden handlungsbeteiligten Akte). Während Thomas von den zielfestlegenden Hervorbringungen des Willens und den Auswertungen der Handlungsmittel als von actus eliciti spricht, also als von vom Willen etablierten Akten, die hinsichtlich der verschiedenen entsprechenden Verstandesvorgaben vom Willen und im Willen bestimmt werden, bezeichnet er die Abläufe, die daraufhin zur Umsetzung führen, als vom Willen befohlene Akte, actus imperati. Anders gesagt: Diese Akte können als willentlich gelten, weil sie vom Willen (wiederum nach vorhergehender Tätigkeit des Verstandes) angeordnet werden. Eigentlich gehören sie daher nicht unmittelbar zum Willen, sondern zu anderen Vermögen, derer sich der Wille anweisend bedient.28 Wieder ergibt sich das Wechselspiel von vernünftiger Verstandesvorlage und deren rationalem Willensaufgriff: Das Verstandesmoment der Umsetzung nennt Thomas imperium, Befehl, denn etwas anzuordnen ist Sache des Verstandes, ähnlich wie Sachverstand einen Vorgesetzten dazu befähigt, eine Anordnung, einen Befehl oder ein Kommando zu geben. Der „Sachverstand“ des Verstandes, das also, was den Verstand in Handlungsdingen kommandofähig macht, ist das richtige Verständnis dessen, was die Zielfestlegungen und Mittelerwägungen dargeboten haben, gleichsam die korrekte Synopse der Handlungshistorie bis hierher. Deswegen, weil es dabei primär um das Verstehen und richtige Einschät-29 zen eines Sachverhalts geht, kann nur der Verstand eine Handlung gebieten. Und doch würde dies, wie in all den anderen Fällen des für die thomasische Handlungstheorie so charakteristischen Rückkopplungsverhältnisses von Verstand und Wille, nur als Überlegung steril und handlungsunwirksam bleiben, wenn nicht der Wille darauf Bezug nähme und sich gemäß dieser Bezugnahme in Bewegung setzte. Er sich selbst wohlgemerkt, da es, wie in De malo q.3 a.3 [2.2] Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
und [2.2.2] sowie q.6 [2.1] gesehen, keinen Zwang von Seiten der Verstandesvorlagen gibt, diesen Vorlagen auch zu folgen. Sie blieben ewig in der dem Verstand eigenen Sphäre, würde der Wille sie sich nicht als die Vorgabe seiner Tätigkeit aussuchen, wodurch sie erst handlungswirksam werden. Deshalb schreibt Thomas in De malo q.6 [4.2]-[4.3]:
Wenn wir also die Bewegung der Seelenvermögen von Seiten des tätigkeitsbestimmenden Gegenstands her betrachten, so entsteht das Bewegungsprinzip aus dem Verstand, denn auf diese Weise setzt das Gute, wenn es verstanden ist, den Willen selbst in Bewegung. Betrachtet man die Bewegung der Seelenvermögen von Seiten der Tätigkeitsausübung, dann entsteht das Bewegungsprinzip aus dem Willen.
28 29
So Ralph McInerny: Aquinas on Human Action, S. 68. Vgl. die Insistenz auf die Formel imperare est actus rationis, S.th I-IIae q.17 a.1, aus deren Textumgebung eindeutig hervorgeht, dass ratio hier metonymisch für den intellectus steht.
254
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
Die notwendige Motivationskraft dafür bringt der Wille wiederum als Neigung wie von selbst mit,30 darin den anderen natürlichen Neigungen nicht ganz unähnlich, die, obwohl hylemorphistisch eingebunden nie ganz unvernünftig denkbar, doch wieder anders als der Wille über die Formvorgaben, auf die sie „anspringen“, nicht in rückbezüglicher Selbstdistanzierung rational entscheiden können. Auch davon wird in De malo gehandelt, wie aus den Interpretationen der Bei-
spieltexte von q.3 a.3 [2.2.2] und q.6 [2.1] hervorging. Der Kontext von Handlungsbefehl und Motivationsfrage markiert auch den Ort des klassischen Problems der Akrasia innerhalb der thomasischen Handlungstheorie. Thomas unterscheidet nämlich zwei Formulierungen des Befehlsbeschlusses, und ähnlich wie in anderen vergleichbaren Fällen, wie man sie etwa aus den Überlegungen der q.6 [2.1] kennt, entspricht die eine – Thomas nennt sie „absolut“ – eher einer grundsätzlichen Einordnungssicht, die andere – bei Thomas heißt sie „relativ“ – einer situationsbezogenen einzelverbindlichen. Die erste lautet „Das ist es, was du zu tun hast“ (hoc est tibi faciendum), die andere: „Tu dies!“ (fac hoc). Die Erkenntnis, die in der ersten indikativen Formulierung zum Ausdruck kommt, wird in der Verbindung mit der zweiten imperativischen, deren Rahmen sie darstellt, zum Befehl spezifiziert. Das gewissermaßen syllogistische Ergebnis heißt dann: Dies ist es, was du zu tun hast und deswegen tu es auch! – im Lateinischen mit dreifachem hoc konstruierbar als hoc est tibi faciendum et propter hoc fac hoc. Die Willensschwäche oder Akrasia (im Lateinischen bei Thomas: incontinentia), die den Menschen anders handeln lässt, als er einsichtigerweise handeln zu müssen eigentlich akzeptiert, liegt in der Schwäche des propter hoc- oder „deswegen“-Bestandteils, also in der fehlenden Stärke des Zusammenschlusses beider psychischer Überzeugungen, für die diese beiden hier diskutierten Formulierungen stehen.31 Diese fehlende Kraft wiederum verweist, ähnlich wie das Fehlen der Willensdurchsetzung bei der Velleitas, wovon später noch zu handeln sein wird, ursprünglich wohl auf einen Defekt oder eine Schwäche der anfänglichen voluntas simplex, des ursprünglichen Wissensrohlings, des30
31
Vgl. Jean Porter: Nature as Reason, S. 249: “Aquinas denies that reason operating by itself leads to action. On the contrary, he holds that practical reflection and action always take their starting points from some desire. […] principles by themselves do not lead to action, much less generate norms for action, until they are engaged by desires prompting practical reflection and action.” Dass es hier um ein Fehlen bezüglich einer eigentlich zu erwartenden Stärke geht, zeigt, wie sich auch die Akrasia privativ fassen lässt. Zu den beiden Formulierungen, ihrem Zusammenhang und ihrem Bezug zu Verstand und Willen vgl. S.th. I-IIae q.17 a.1 und weitergehend q.17 a.4. Zur Akrasia bei Thomas generell vgl. Bonnie Kent: Transitory Vice: Thomas Aquinas on Incontinence. In: Journal of the History of Philosophy 27 (1989), S. 199-223.
255 sen Impulskraft eigentlich durch alle Abgleichungsstufen von Willen und Verstand bis zum Vollzug der Handlung durchtragen müsste. Kaum erstaunlich, ist die handlungsrelevante Ausführung (usus) des Befehls, als die Anwendung der Verstandesanordnung, dann wieder Sache des Willens. Tatsächlich: „Ausführung“ bezeichnet nach Thomas „die Anwendung eines Handlungsprinzips auf das Vollführen von etwas“.32 Hier im übrigen, das heißt vor dem Abschluss der Handlungskonstitution, schließt nach der oben ausgeführten Überlegung bezüglich der fruitio die katastematische Befriedigung die Klammer, die sie am Anfang als Reaktion auf die ersten Zielfeststellungen geöffnet hatte: Als Befriedigung ex post über das anfänglich anvisierte Gut, das jetzt in der Handlung eingelöst wird. Diese Befriedigung begleitet den letzten Interventionsschritt des Verstands, das heißt seine abschließende korrekte Betrachtung der Handlungshistorie als dessen, was die Zielfestlegungen und Mittelerwägungen dargeboten haben, und gibt als Zustimmungsmoment den Weg frei für den letzten psychologischen Umsetzungsschritt, der dem Willen vorbehalten bleibt, eben die Ausführung, den usus. Dieser abschließende Umsetzungsschritt gibt Thomas auch die Gelegenheit, seine gesamte Handlungstheorie kurz Revue passieren zu lassen (S.th. I-IIae q.16 a.1): Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
Der Wille versetzt unsere seelischen Kräfte in Tätigkeit, das heißt er lässt sie sich aktiv auf etwas verlegen oder bringt sie zur Ausführung. Somit ist die Umsetzung der Handlung Sache [in dieser Reihenfolge, CS] des Willens als Erstbewegendem (primum movens), der Verstandestätigkeit als tätigkeits(an)ordnend und ihrer anderen Einzelvermögen als Vollzugshilfen.
In seiner Zusammenfassung der Handlungstheorie des Thomas von Aquin schreibt Ralph McInerny daher: An intellectual grasp of the good in general – implicit in the grasp of anything as good – provides the will with its object, an object it cannot not want. This natural and necessary act of will is called will, and keeping the name of the faculty for the activity is meant to underscore how basic it is. The good that is the object of this basic act of the will is the end. The intellectual activity which presides over willing the means to the end is what Thomas refers to as counsel. Counsel is an inquiry, a search for the way to achieve the end, and is itself a complex activity, discursive. When its work is done, the will chooses. The mind’s perceptive, commanding act is the prelude to putting to use other powers and our bodily organs to execute the plan arrived at through the process of counsel. What is first in the order of intention is last in the order of execution, and of course vice versa. […] The three major conjunctions of mind and will just mentioned – intellectual grasp of good/will; counsel/choice;
32
S.th I-IIae q.16 a.2 ad 1; hier wird insbesondere wieder einmal der Wille als rationales Tätigsein zum Thema, da diese Hinordnung auf etwas im Vollführen nur vernünftig geschehen kann: ordinare aliquid in alterum est rationis.
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
256
command/use – involve the other will acts Thomas discussed, but it is well to keep in mind this basic triad.33
Diese Zusammenfassung zeigt aus bestimmter Perspektive noch einmal eingängig, wie und warum die voluntas simplex (bei McInerny schlicht „will” oder „basic act of the will“) als Regung oder erste Tätigkeit des handlungsrelevanten Gesamtablaufs denselben Namen wie die grundlegende Fähigkeit, nämlich „Wille“, voluntas, erhält. Es ist wieder einmal derselbe (bereits im Zusammenhang mit der Interpretation von De malo q.1 a.3 [1.1] erwähnte) Grund, warum wir umgekehrt auch natürlichsprachlich ganz selbstverständlich und ohne große Verwechslungsgefahr in der Sache sowohl eine Tätigkeit wie den dadurch hervorgerufenen Zustand als „Biss“ bezeichnen können. An selber Stelle zeigt McInerny auch auf, dass hier ein vielfältig abortatives System der Handlungstheorie vorgestellt wird: Auf jeder Stufe wird die zu erwartende Handlung anhand des Abgleichs mit dem Ziel(guten), dem Mittel, der Machbarkeit in der Umsetzung, der Ordnung usf. in Frage gestellt und kann jederzeit auf jeder Stufe angehalten und abgebrochen werden. Was dann tatsächlich vollständig als Handlung zustandekommt ist nur wenig von dem, was zum Beispiel als Basis für die erste Willensregung tatsächlich für eine spätere Ausführung als Kandidat erwogen wurde. Aber auch die grundlegende Bedeutung der Wahl im Willensanteil lässt sich in der Synopse als in jedem Einzelschritt tätig gut nachverfolgen. Denn die Innovation, eigentlich eher die Klarstellung in De malo gegenüber der Handlungstheorie in der Summa Theologiae , besteht darin, dass das Primärvermögen des Willens, nämlich zu wählen,34 hier auch als Selbstaktivierungsvermögen des Willens entschlüsselt wird. Diese Einsicht ist auf alle Phasen oder Komplexe der Handlungskonstitution und ihrer jeweiligen Ausgangslage bei Thomas anwendbar: Auf die Wahl, überhaupt auf die Vorarbeiten des Verstandes anzuspringen oder nicht; auf die Zielfeststellung (bei der Zielzustimmung in der Absicht: ob eigentlich und wenn ja wohin); auf die Entscheidungsfindung bezüglich der Mittel (mit dem Abschluss in der : ob überhaupt und wenn ja wie); und schließlich in der Umsetzung (Abschluss ist hier der : Wahl der Befehlsannahme ja oder nein). – Jedes Mal ist der Wille ein ratifizierendes Wählen, und zwar erst einmal als Wahl zu wählen, das heißt hier überhaupt tätig zu werden oder nicht (vgl. q.6 [5.1]: „Was nun die Ausübung der Tätigkeit betrifft, so ist zuallererst hier offenkundig, dass der Wille sich selbst in Bewegung setzt. Wie er nämlich die anderen Vermögen in Bewegung versetzt, so auch sich selbst.“, etc.). Auffallend ist stets der rationale Rückbezug am Anfang (daher ist der Wille wie gesehen electio
usus
De
malo
33 34
Ralph McInerny: Aquinas on Human Action, S. 73. Ähnlich wie im Deutschen das Wort „wollen“ mit „wählen“ in etymologischem Zusammenhang steht, so sieht auch Thomas von Aquin den wortgeschichtlichen Zusammenhang von velle mit vel, also einem Alternative anzeigenden „oder“.
257 rational, da nur die Vernunft Reflexivität aufweist): Das ist die thomasische Bestimmung der „Spontaneität“ des Willens. Da dies außerdem immer in Anbetracht einer Verstandesvorgabe geschieht und ohne sie nicht geschehen würde, ist die Willensausübung immer mindestens zweifach rational bestimmt: Einmal durch die unerlässliche Verstandesvorgabe und einmal durch die rationale Eigenheit der Reflexivität des Willens. Beides wiederum im Unterschied zu streng voluntaristischen Positionen: Die Spontaneität des Willens ist bei Thomas ein Reflexionsmoment und erklärt sich nur durch die vernünftige Tätigkeit des Selbstbezugs des Willens in Anbetracht der Verstandesvorgaben. Daher auch die (zugegebenermaßen überspitzte) Kurzformel für die Erklärung der menschlichen Handlung: Wille der Vernunft und nicht Vernunft des Willens. Ein Aufriss in Anlehnung an ein Diagramm Daniel Westbergs35 (Schema 3) kann die Handlungstheorie von S.th I-IIae q.11 – q.17 vielleicht verknappend illustrieren ([V] meint dabei immer die Zuweisung der Tätigkeit an den Verstands, [W] die Zuweisung der Tätigkeit an den Willen): Der schematische Aufriss kann noch einmal gut vor Augen führen, wie der Unterschied von actus eliciti, also willentlichen Hervorbringungen, und actus imperati, also den zur Umsetzung befehlenden Akten, zu denken ist: Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
The acts of will bearing on end and means [e.g. intention, deliberation, consent, choice – CS] are elicited voluntary acts, acts of the will itself; other acts are voluntary insofar as they are commanded by the will. They pertain to the will only indirectly, through other powers, powers that the will is said to use.36
Struktur ist im Übrigen aus der Philosophiegeschichte durchaus bekannt. Man wird die Parallelen nicht überstrapazieren wollen, doch bietet sich vielleicht folgender Vergleich an: Der Neuplatonismus kennt eine grundlegende und sich auf verschiedenen Ebenen wiederholende Grundstruktur der Hervorbringung, in der auf eine Phase geistiger Selbstkonstitution ( / ) ein Hervorgehen folgt ( / / ), dem sich ein Rückverweis ( / ) an eine erneute Phase geistiger Selbstkonstitution anschließt. Nach anderer Lesart ist es ein ursprüngliches dynamisches Hervorgehen, gefolgt von einer Phase geistiger Ordnung und Stabilisierung, die dann einen befragenden Rückverweis an den Ort des Hervorgehens bedingt, von dem aus der Prozess dann von Neuem beginnt. Dieser allerdings gehört dann bereits einem erneuten und anderen geistigen dreiphasigen Prozess an, dessen Grundlage die Stabilisierung des vorangegangenen ist. Diese – formale! –
monê perfectio
prohodos exitus processio
epistrophê reductio
35 36
Daniel Westberg: Right Practical Reason, S. 131. Ralph McInerny: Aquinas on Human Action, S. 68.
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
258
Schema 3: Handlungstheorie gemäß Summa theologiae I-IIae, q.11-q.17:
A
BSICHTS BILDUNG
-
Ziel/Zweckerfassung q.11
[V]
Absicht ( q.12
[W]
)
intentio
Zurategehen ( q.14
ÜBER-
LEGUNG
consilium
Zustimmung ( q.15
bezüglich der Zielfeststellung ) [V]
1. Hervorbringungen des Willens ( )
) [W]
consensus
actus eliciti
bezüglich der Mittel ENTSCHEIDUNG
UMSETZUNG
Urteilen ( q.13 Wahl ( q.13
)
[V]
iudicium
electio
)
[W]
(Selbst)Befehl ( q.16 Durchführung ( q.17
)
imperium
)
usus
[V] [W]
2.Umsetzung von 1. ( ) actus
imperati
Diese beiden Auffassungsweisen (oder „Lesarten“) müssen nicht streng alternativ sein, vielmehr haben beide ihren Anspruch auf Richtigkeit, je nachdem, ob man das Nomen perfectio als agens oder actum versteht, als Vollendungsprozess oder Vollendungszustand.
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
259
Der schematische Aufriss kann noch einmal gut vor Augen führen, wie der Unterschied von actus eliciti, also willentlichen Hervorbringungen, und actus imperati, also den zur Umsetzung befehlenden Akten, zu denken ist: The acts of will bearing on end and means [e.g. intention, deliberation, consent, choice – CS] are elicited voluntary acts, acts of the will itself; other acts are voluntary insofar as they are commanded by the will. They pertain to the will only indirectly, through other powers, powers that the will is said to use.37
Diese – formale! – Struktur ist im Übrigen aus der Philosophiegeschichte durch-
aus bekannt. Man wird die Parallelen nicht überstrapazieren wollen, doch bietet sich vielleicht folgender Vergleich an: Der Neuplatonismus kennt eine grundlegende und sich auf verschiedenen Ebenen wiederholende Grundstruktur der Hervorbringung, in der auf eine Phase geistiger Selbstkonstitution (monê/perfectio) ein Hervorgehen folgt (prohodos/exitus/processio), dem sich ein Rückverweis (epistrophê/reductio) an eine erneute Phase geistiger Selbstkonstitution anschließt. Nach anderer Lesart ist es ein ursprüngliches dynamisches Hervorgehen, gefolgt von einer Phase geistiger Ordnung und Stabilisierung, die dann einen befragenden Rückverweis an den Ort des Hervorgehens bedingt, von dem aus der Prozess dann von Neuem beginnt. Dieser allerdings gehört dann bereits einem erneuten und anderen geistigen dreiphasigen Prozess an, dessen Grundlage die Stabilisierung des vorangegangenen ist.38 Diese beiden Auffassungsweisen (oder „Lesarten“) müssen nicht streng alternativ sein, vielmehr haben beide ihren Anspruch auf Richtigkeit, je nachdem, ob man das Nomen perfectio als agens oder actum versteht, als Vollendungsprozess oder Vollendungszustand. Formal geht die Willensmodellierung in der Handlungskonstitution bei Thomas von Aquin ganz ähnlich vor: Aus einem konstituierenden rationalen Grundakt geht ein schlichtes Wollen hervor, das zur Nachbetrachtung seiner Richtigkeit an das kognitive Vermögen zurückverwiesen wird und damit seine Erstkonstitution der Absicht konsolidiert. – Aus der konstituierenden kognitiven Leistung von Überlegen und Urteilen gehen dann die Willenstätigkeiten von Zustimmung und Wahl hervor und verweisen zurück auf die Aufhebung im Gesamtprozess. Und ähnlich fußt in der Umsetzung der willentliche Hervorbringungsakt der Ausführung auf dem kognitiven Stabilisierungsakt des Befehls. Dieser wiederum ist schließlich – wie oben die Bestimmung des Befehls als das, was aufgrund des richtigen Verständnisses dessen, was die Zielfestlegungen und Mittelerwä37 38
Ralph McInerny: Aquinas on Human Action, S. 68. Andernorts habe ich dafür plädiert, in dieser zweiten Auffassungsweise eine genuine Lesart des neuplatonischen Prozesses zu sehen, und dass die Dionysius-Interpretation des Thomas von Aquin diese Deutung durchaus stützen kann: vgl. Christian Schäfer: The Philosophy of Dionysius; zu Thomas insbesondere S. 28-31.
260 Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie gungen dargeboten haben, gezeigt hat – als die Bestandsaufnahme in Rückbezug oder reductio auf die perfectio im rationalen Gesamtprozess anzusehen. Die Freiheitsdiskussion:
Vielleicht ist dies der geeignete Ort, um im Lichte der Handlungstheorie, der Dämonenfrage und der Habituslehre noch einmal auf die Freiheitsdiskussion bei Thomas zurückzukommen. Die Ergebnisse seiner Diskussion der Freiheit waren, kurz und plakativ gefasst: Der Mensch handelt frei, und zwar deswegen und dann, wenn er sich nach dem Willen der Vernunft verhält. Dass dies gegenüber der zweiten Variante, Freiheit bestehe darin, sich nach der Vernunft des Willens zu verhalten, die angemessenere Deutung darstellt, führt zu einem weiteren Ergebnis, das diese „intellektualistische“ Auffassung gleichzeitig bestätigt und trotzdem die Rolle des Willens stärkt: Die Freiheit des Willens ist nicht gleichzusetzen mit Willensfreiheit. Anders gesagt: Frei ist der Mensch nur dann, wenn auch sein Wille frei ist, und frei ist der Wille nach Thomas dadurch, dass er die selbstbezügliche Fähigkeit hat, wählen zu können, und zwar auch in der radikalen Variante, wählen zu können zu wählen. Dass diese Fähigkeit selbstbezüglich ist, weist den Willen als geistiges Vermögen aus: Nur der Geist ist in diesem Sinne reflexiv und nur der Geist ist es, der sich selbst aus der gegebenen Möglichkeit, tätig zu werden, in die Wirklichkeit seiner Tätigkeit bringen kann, also spontan zu agieren vermag. Thomas von Aquin kann sich hier auf die Ausführungen des Aristoteles in De anima III 5 (429a-430a) berufen. Diese Freiheit des Willens, die Thomas in der Quaestio 6 von De malo so stark herausstreicht, ist aber nicht mit dem gleichzusetzen, was man in den Jahrhunderten nach Thomas verstärkt und dann schon bald landläufig als „Willensfreiheit“ bezeichnet hat: Die Auffassung also, dass die menschliche Freiheit zu handeln ganz auf das Willensvermögen39 zurückgeht oder gar allein auf dessen freie Betätigung reduziert werden kann. 39
Eine Überlegung bietet sich an, die Thomas so nie formuliert, die aber in diesem Zusammenhang durchaus von Interesse sein könnte: Es war weiter oben davon die Rede, dass Thomas bisweilen, oder sogar häufig, statt „Verstand“ oder , was ja bei vernünftigen Wesen nur eines der beiden rationalen Vermögen darstellt, metonymisch „Vernunft“, , sagt. Identifikatorisch genommen würde Thomas damit dagegen dem Hauptsatz seiner Handlungstheorie widersprechen, dass die Vernunft eben die beiden rationalen Aspekte des Verstands und des Willens aufweist, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dies bleibt aber auch dann richtig, wenn man sich folgendes kontrafaktisches Denkexperiment zurechtlegt: Angenommen, es gäbe ein Wesen, das zwar das Verstandesvermögen aufwiese, nicht aber das Willensvermögen (also so etwas wie eine Medaille mit nur einer Seite): Würde man es als unvernünftig, vernunftlos oder widervernünftig, kurz als irrational bezeichnen? Wohl kaum. Doch angenommen, man dürfte von dem Umstand ausgehen, es gebe ein Wesen, dem man füglich die Verstandeskraft absprechen könnte, nicht aber den Willen: Würde dieses Wesen als unvernünftig oder vernunftlos intellectus
ratio
argumenti causa
261 Vielmehr ist 40es ja nach Thomas der Intellekt, der das Feld der Freiheit eröffnet und absteckt. Daher also noch einmal der Blick auf die Freiheitsdiskussion in De malo q.3 a.3 und q.6 in Verbindung mit der deliberatio- und consilium-Lehre der Handlungstheorie und der Lasterlehre. Als Einstieg mag eine kurz zusammenfassende Erörterung der Freiheitsproblematik bei einem analytischen Denker des 20. Jahrhunderts gute Dienste tun; insbesondere auch deswegen, weil es sich sicherlich nicht um einen Autor handelt, der im Verdacht stehen könnte, sich ideologisch jemals auch nur in der Nähe der thomasischen Philosophie zu befinden.41 Ausgangspunkt der Darlegung ist dabei das Postulat dreier Bedingungen, die eine freie Entscheidung erforderlich macht: Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
Bedingung 1 (Bedingung alternativer Möglichkeiten) Ich muss eine Wahl zwischen verschiedenen Alternativen haben, ich muss so oder so handeln bzw. mich so oder so entscheiden können. Bedingung 2 (Urheberschaftsbedingung) Welche Wahl getroffen wird, muss von mir abhängen. Bedingung 3 (Kontrollbedingung) Wie ich mich entscheide und handle, muss meiner Kontrolle unterliegen; diese Kontrolle darf nicht durch Zwang ausgeschlossen sein.42
Ist dieser Standard der geläufigen Auffassung gesetzt, lassen sich die bestehenden Lagerbildungen leicht in „-ismus“-Verbindungen fassen: Libertarier, die alle drei Bedingungen beim Menschen für erfüllt halten und eine Determinierung des menschlichen Handelns bis hin zur Verhinderung solcher Bedingungen ausschließen. Vertreter des Determinismus, die – in verschiedenen Graden und Intensitäten – annehmen, dass sich angesichts der vielfältigen inneren und äußeren Zwangszu-
40
41 42
gelten können? Vielleicht eben schon. Thomas kann also unter ähnlichen Erwägungen den Verstand aspektuell und metonymisch mit der ratio gleichsetzen, obwohl er sowohl das eine wie das andere, den ohne Verstand willentlich Vermögenden und den ohne Willen mit Verstand Handelnden, für faktisch unmöglich hält. Den ersten Fall des ohne Verstand willentlich Vermögenden jedoch kann man in gewissen Konsequenzen des Voluntarismus erkennen, und genau hiergegen wendet sich die Handlungs- und Willenstheorie bei Thomas. Wie denn überhaupt, so sagt es Thomas etwa in der Summa contra Gentiles II cap.68 n.6
(ein Text, in welchem er seine Variante des aristotelischen Hylemorphismus für die Definition des Menschen ausführt), der Verstand das Vermögen ist, das „gewissermaßen den Horizont und die Eingrenzungslinie“ (quasi quidam horizon et confinium) für die anderen menschlichen Vermögen hergibt. Für das Folgende bis etwa zum Abschnitt „Ein Zusatzproblem“ vgl. somit also Ansgar Beckermann: Gehirn, Ich, Freiheit. Paderborn 2008, S. 91-99 und 110-121. Beckermann: Gehirn, Ich, Freiheit, S. 87-88 (Hervorhebungen im Original).
262 Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie sammenhänge, denen der Mensch ausgesetzt ist, diese drei Bedingungen insgesamt oder einzeln nicht aufrecht erhalten lassen. Und Anhänger eines Kompatibilismus, die eine Vereinbarkeit von Determinierungen und freiem Handeln des Menschen sehen.43 Was die Bedingung der alternativen Möglichkeit betrifft, lässt sich nun ein Kompatibilismus relativ widerstandslos plausibilisieren. Die Standardlösungen kann man aus einer Kombination zweier Überlegungen gewinnen. Die erste wurde durch Harry Frankfurt berühmt und ist als das „Dr. Black“-Gedankenexperiment bekannt. Die imaginäre Experimentanordnung ist folgende: Angenommen, ein skrupelloser Neurochirurg namens Black will, dass Mrs. Jones ihren verhassten Mann umbringt. Um den Mord sicherzustellen, implantiert er während einer Operation heimlich ein Gerät in ihr Gehirn, das er nur aktivieren muss, damit die Frau in seinem Sinne entscheidet und handelt. Es wäre ihm allerdings lieber, wenn sie den Entschluss aus freien Stücken fassen und ausführen würde. Deshalb wartet er ab und aktiviert das Gerät dann und nur dann, wenn sie im Begriff ist, sich anders zu entscheiden, als er will. Nehmen wir an, er hat Glück: Sie entschließt sich zum Mord und begeht ihn, sodass er nicht eingreifen muss. Daher ist ihre Handlung frei, obgleich sie nicht anders entscheiden und handeln konnte.44
Frankfurt zufolge bleibt Mrs. Jones nur, ihren Mann zu töten ohne sich so entscheiden zu können, dass sie es nicht tut. Tut sie es aber aus sich heraus ohne Dr. Blacks Eingreifen, ist sie für die Tat verantwortlich. Sie ist für die Tat verantwortlich, obwohl sie gar nicht anders entscheiden kann.45 Zur Verantwortung gezogen wird man aber nur für solches, was man aus freien Stücken vollführt. Also ist Freiheit nicht an eine alternative Handlungsmöglichkeit gebunden. Kurzer Exkurs: „Moral absolutes“?
Eine kurze Zwischenüberlegung mag in diesem Zusammenhang am Platz sein. Im Hinblick auf das Dr. Black-Experiment: Gibt es für Thomas – nach all dem, was er in De malo sagt – sogenannte „moral absolutes“? Und können sie einander
widersprechen? Anders gefragt: kann Thomas mit diesem Ansatz die „harten“ Paradoxfragen der gängigen moralischen Gedankenspiele angehen? Etwa, wenn ich mich nur so verhalten kann, dass ich, was auch immer ich tue, dabei vorsätzlich einen unschuldigen Menschen töte? Tatsächlich scheint Thomas davon auszugehen, dass es solche absoluten moralischen Ansprüche, unverhandelbare „deontologische Ideale“ gibt. Können sie nun aber einander so widersprechen, dass 43 44 45
Vgl. Beckermann: Gehirn, Ich, Freiheit, S. 92-93. Friedrich Hermanni: Metaphysik, S. 97-98. Vgl. Harry Frankfurt: Alternate Possibilities and Moral Responsibility. In: Ders.: The Importance of What We Care About. Philosophical Essays. Cambridge 1988, S. 1-10. Vgl. dazu auch Beckermann: Gehirn, Ich Freiheit, S. 98.
263 ihre Kollision ein moralisches Paradox herbeiführt? Nein – und das ist erstaunlich, man könnte es fast schon einen „siebten Gottesbeweis“ nennen. Die platonische Ideenlehre mit ihren einwandfrei aufeinander abgestimmten Urformen aller weltlichen Realität zeigt in beeindruckender philosophischer Kühnheit die wirklichkeitserklärende Ausbaustufe solcher widerspruchsfreier absoluter Grundkonstellationen. Kann es im Handeln also unmöglich zu solchen Kollisionen von „moral absolutes“ kommen? – Man denke an die herausfordernde Situation, die Augustinus (De mendacio 22-24) mit dem Häscher vor der Haustür und seiner Frage nach dem versteckten Freund im Keller konstruiert: Genügt man dem Anspruch der Wahrheit oder dem, das Leben des unschuldigen Freundes zu schützen? Mit Thomas stellt sich im Rahmen seiner Freiheitskonzeption die Problemlösung wie folgt dar: Es dürfte erstens tatsächlich schwierig sein, eine Konstellation herbeizukonstruieren, in welcher es keinen Ausweg gibt, also keine weitere Handlungsmöglichkeit und die vollkommene Eliminierung jeglichen „rettenden“ Überraschungsmoments. Interessant aber ist der Punkt, wenn dies tatsächlich möglich wäre: Die „moral absolutes“ träten in diesem Fall ja in Umkehrung ihres eigentlichen Anspruchs als Handlungsansprüche auf, die in sich schlecht sind, das heißt von Übel, wer immer sie wann immer unter welchen Umständen auch immer vollführt, also als das, was die scholastische Tradition ein intrinsisches Übel nennt, und Thomas sprach im Zusammenhang von q.1 a.3 [4.2] und q.16 a.2 [1] vom malum simpliciter, dem schlechthin Üblen. Die vorsätzliche Tötung unschuldigen menschlichen Lebens etwa wäre solch ein intrinsisches Übel, etwas, das im Sinne von q.1 a.3 [4.2] schlicht Übel ist. In Bezug auf die Frage nach dem genuinen moralischen Paradox also gäbe es dann – zumindest als theoretische Konstruktion – eine Konstellation, in der man keine andere Wahl hat, als ein intrinsisches Übel zu wählen. Nun ist, wie Thomas verschiedentlich heraushebt, das Formalprinzip jeden moralischen Handelns das bonum faciendum, malum vitandum: Das Gute ist zu tun, das Üble zu (ver)meiden. Aus der Handlungstheorie des Thomas und aus De malo q.6 ist aber auch zu entnehmen, dass das Wählen in den handlungspsychologischen Abläufen bereits selbst als eine Handlung zu gelten hat, die in jeder Handlung im Sinne eines actus humanus präsent ist. Das Gute also ist zu wählen, das Üble zu meiden. Der Fall, dass die Wahl nur zwischen zwei intrinsischen Übeln erfolgen kann, ist daher eigentlich keine moralische Frage mehr. Denn dies würde außerhalb des moraldefinierenden Formalprinzips liegen, das die Wahl des Übels ausschließt. Dies wiederum zeigt etwas, das den moralischen „Realismus“ – wenn man so will – des thomasischen Ansatzes aufzeigt: Moral ist nichts allmächtiges, das sich auf jeden Bereich menschlicher Aktivität bezieht. Vielmehr gibt es Dinge, die wie moralische Fundamentalfragen oder Kernprobleme aussehen mögen, aber nüchtern betrachtet schlicht außerhalb der Moral liegen – genauso wie am Anfang der Quaestio 6 von De malo gezeigt wird, dass es gewisse Fragen gibt, die man für Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
264 Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie die Moralphilosophie oder Naturphilosophie nicht zulassen kann, wenn man Moralphilosophie oder Naturphilosophie betreiben will. Die Frage der Kollision von intrinsischen Übeln in einer Entweder-oder-Situation ist keine moralische mehr. Der Mensch, der nur noch zwischen einem intrinsischen Übel und einem anderen wählen kann, kann gar nicht moralisch qualifiziert wählen. Er fällt somit außerhalb des Bereichs des laudabile et vituperabile, die daraus erfolgende Handlung wäre kein actus humanus mehr. Genau wie im Dr. Black-Gedankenexperiment. Freiheit und alternative Handlung:
Ein Blick auf das Problem, das sich somit ergeben hat, kann im Umweg über einige Betrachtungen zur Diskussion um die Frage „nomologischer“ Determination und der Freiheitstheorie etwa bei John Locke als Vergleichsbeispiel vielleicht deutlicher machen, wie Thomas die für die Problematik des Bösen grundlegende Frage des freien Handelns angeht. Es wird am Ende hoffentlich zu sehen sein, wo und warum Thomas einen Kontrapunkt zu anderen in diesem Zusammenhang verhandelten Thesen bildet, wo er von ihnen abweicht oder sie ergänzt, und welche Theoriestücke er schließlich ganz verwirft. Dazu muss man voraussetzen, dass Thomas sich die hier aufgeführten Fragen allesamt gestellt hat und sich über ihre Lösung Gedanken gemacht hat. Und das sollte man durchaus. Man kann berechtigte Zweifel an der Richtigkeit in den Auffassungen eines Dr.- Black-„Szenarios“ äußern, angefangen damit, dass man den Status von „ entscheiden“ bei Fremdsteuerung in Frage stellt, bis hin zum Problem, ob der Begriff der Alternative hier richtig verwendet wird. Insbesondere aber ist der Handlungsbegriff fragwürdig, insbesondere auch im Hinblick auf das, was im Blick auf Thomas von Aquin als qualifizierter Handlungsbegriff herausgestellt wurde. Denn bei einem Handlungsbegriff „in dem schon das Ergreifen der Handlungsinitiative als Handlung gilt, ist Freiheit […] sehr wohl an alternative Handlungsmöglichkeiten geknüpft“.46 Zu ergänzen ist das Argument aber sicherlich in einer zweiten Überlegung dahingehend, dass es sich hier nicht um eine logische Determiniertheit handelt, die mit Freiheit als vereinbar gesehen wird. – Doch dazu bedarf es auch gar keines großen argumentativen Aufwands, zumindest nicht, wenn man auf die Problemstellung mit Hinsicht auf Thomas von Aquin abzielt: Hier hieße nämlich „logisch determiniert“ nur das, was Thomas in q.3 a.3 [2.2.1] als unhintergehbare formale Vorgabe des Denkens benennt: die Maßgabe der , der ersten Denkprinzipien, die uns zwingen, logisch richtig, das heißt: nicht „an ihnen vorbei“ zu denken. Doch dies ist eher ein Aspekt der Freiheit als deren Einschränkung: Dass der Mensch logisch denken kann, befähigt ihn ja erst zur Freiheit, sei diese nun als Wahlfreiheit verstanden oder als
sich
principia per se nota
46
Friedrich Hermanni: Metaphysik, S. 98.
265 Autonomie. Diese Freiheit wäre ohne geregeltes Denken nicht möglich, denn es wäre andernfalls jeder Gedanke arbiträr gefasst – wenn „gefasst“ denn dann überhaupt noch das richtige Wort ist. Es geht also nicht um logische Gesetzmäßigkeit in diesem Sinne.47 Vielmehr geht es um „nomologische“ Determiniertheit, also um Determiniertsein durch naturgesetzliche Vorgaben und Ereignisketten. Kann man sich gegen diese frei verhalten? Der Determinist meint nein.
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
G.E. Moore hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass das Wort „können“ nicht immer dasselbe bedeutet […]. „x kann H tun“ kann heißen „es ist nomologisch möglich, dass x H tut“; es kann aber auch bedeuten „x hat die Fähigkeit, H zu tun“. Diese zweite Bedeutung von „können“ lässt sich Moore zufolge so analysieren: Jemand hat die Fähigkeit, X zu tun, genau dann, wenn er X tun würde, falls er sich dazu entschiede, X zu tun.48
Was Moore vorlegt, ist die sogenannte konditionale Analyse von „können“. Für eine Betrachtung der Handlungs- und Freiheitstheorie bei Thomas von Aquin bietet sie insofern Anknüpfungspunkte, als sie eine spezifische Unterform der Vermögenslehre bei Thomas darstellt, was49hier allerdings nicht weiter erörtert werden soll und als Hinweis genügen muss. Das Interessante an dieser Analyse des Könnens im Hinblick auf die so gefasste Fähigkeit in Entscheidungsabhängigkeit ist, dass sich der Könnensbegriff hier mit einem nomologischen Determinismus nicht stoßen muss und durchaus vereinbar mit ihm erscheint:
Denn auch wenn determiniert ist, was ich tue, weil determiniert ist, wie ich mich entscheide, kann es immer noch wahr sein, dass ich etwas anderes täte, wenn ich mich anders entschiede. Mit anderen Worten: Auch wenn es nomologisch unmöglich ist, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt X tue, kann es durchaus sein, dass ich zu diesem Zeitpunkt die Fähigkeit habe, X zu tun.50
Dieser Gedanke kann auch den Ansatz zur Lösung, und wenn nicht zur Lösung, so doch zur Klärung eines weiteren Determinationsproblems hergeben. Es handelt sich um die Frage nach der Determination durch Vorherwissen, was auch für Thomas ein häufiger angesprochenes Problem darstellt. Unabhängig von seiner Lösung desselben, kann eine kurze Geschichte, eigentlich die verkürzende Variante einer Geschichte von Jorge Luis Borges, eine etwas andere, aber der 47
48 49 50
Aber auch nicht in einem metaphysischen Sinne, also etwa dadurch, dass Gottes Vorsehung den Menschen determiniert. Diese Frage stellt und beantwortet Thomas etwa in S.th. I q.49 a.9. Vgl. dazu auch die Wortmeldung von Eleonore Stump und Norman Kretzman: Eternity. In: The Journal of Philosophy 78 (1981), S. 429-458. Beckermann: Gehirn, Ich, Freiheit, S. 99 (Hervorhebungen im Original). Den Unterschied von konditional und kausal führt Thomas selbst etwa in S.th. q.85 a.3 ad 1 aus und macht ihn sich auch sonstwo für seine Erklärungen zu eigen. Beckermann: Gehirn, Ich Freiheit, S. 99 (Hervorhebungen im Original).
266 Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie thomasischen durchaus nicht unähnliche Sicht der Dinge auf das Problem und seine Überwindung eröffnen. Gleichzeitig kann diese Geschichte einen zusätzlich erklärenden Zusammenhang zwischen logischer und nomologischer Determination herstellen: In einer seiner Erzählungen beschreibt Borges die Situation eines Boten, der einen Brief zustellen soll. Bei der Zustelladresse angekommen bemerkt er, dass er, um zum Haus zu gelangen, durch einen Irrgarten muss. Er geht in den Irrgarten hinein, entscheidet sich an jeder Gabelung für eine der beiden Möglichkeiten, den Weg weiter zu gehen – und erreicht in kürzester Zeit, ohne jemals auf einen falschen Weg gekommen zu sein, das Haus. Dem Hausbesitzer gegenüber zeigt sich der Bote überrascht, dass es so viele Zufälle auf einmal geben könne: Ein paar dutzend Mal habe er sich immer für die richtige Option angesichts des sich gabelnden Weges entschieden: ob es denn nicht gar am Ende so sei, dass alle Wege zum Haus führten? Nein, entgegnet der Hausbesitzer, das sei keineswegs so. Vielmehr müsse der Bote wissen, dass er sich bei keinem der vielen dutzend Male frei für die eine oder andere Richtung entschieden habe: Alles sei schon vorher entschieden gewesen. – Man kann an dieser Stelle die phantastische oder „metaphysische“ Erklärungsvariante wählen, dass der Hausbesitzer allwissend ist und seinen Garten von vornherein so angelegt hat, dass er wusste, wie sich alle Besucher entscheiden würden, oder die psychologisierende Variante, dass der Garten unter Aufbietung aller unterbewusst oder unbewusst wirkenden Tricks so gebaut wurde, dass man als Mensch immer die Entscheidung so trifft, nur den einen (richtigen) Weg zu gehen, also unterschwellig, das heißt unterhalb der Schwelle bewusster Entscheidung, auf die Wahl des einen Wegs hin determiniert wird. Die Antwort des Boten nun ist erstaunlich, aber schlüssig und wenig aufregend im Sinne eines Kompatibilismus von Eigenentscheidung und Determination durch das Objekt (oder den Erbauer): Frei, so sagt der Bote nach kurzem Überlegen mit Überzeugung, sei er auf dem ganzen Weg immer gewesen. Denn Freiheit bestünde ja keineswegs darin, sich tatsächlich so oder so zu verhalten. Sondern darin, die Möglichkeit zu haben, Alternativen zu erwägen und zu überlegen, ob dies oder jenes. Frei sei er in jeder Situation gewesen, in der er grübelnd vor der Entscheidung stand, nicht, als er die Entscheidung traf, er sei es bei jeder Überlegung gewesen, als er sich fragte, was richtig sei als Weg zu wählen, und auch dort, wo er sich auf dem Weg zwischen der einen Gabelung und der nächsten überlegte, er werde ohne nochmals zu überlegen diesmal schlicht den Weg zur Linken nehmen. Die Möglichkeit weiterhin bestehender menschlicher Autonomie angesichts verschiedener Formen des Determinismus lässt sich hier schon unschwer herauslesen. Für einen konstruktiven Gegenvorschlag einer kompatibilistischen Lösung aufgrund der Unterscheidung von nomologischer und konditionaler Könnensauffassung bietet sich wiederum Harry Frankfurt an, näherhin sein Modell der freiheitswirksamen „second-order volitions“, welche die handlungswirksamen „first-
267 order volitions“ in Unabhängigkeit von den nomologischen Verstrebungen, denen diese letzteren unterworfen sind, reflektieren und beurteilen können. Das Standardbeispiel ist das des Drogenabhängigen, der unter den nomologischen Bedingungen der Sucht immer wieder zur Droge greifen wird, jedoch ein Wollen zweiter Ordnung gegenüber dieser nomologischen Bedingtheit ausbilden kann. Auch wenn der Zusammenhang von Wollen und Wünschen sich im Englischen anders und suggestiver gestaltet als im Deutschen, kann man doch ausmachen, was es für die Theorie einer menschlichen Handlungsfreiheit bedeutet, dass auch dieser Drogensüchtige Gedanken der Art „Ich wünschte, ich wäre nicht unfähig, der Droge zu entsagen“ oder „Ich wünschte, ich hätte nicht den Wunsch, Drogen zu nehmen“, hegen kann. (Von dieser These gestufter Willensordnung war schon im Zusammenhang des habitus als der „zweiten Natur“ und der Ausbildung von Lastern die Rede gewesen.) Freilich bliebe hier ein Problem offen, das Thomas mit der scholastischen Philosophie erkannt und in verschiedenen Zusammenhängen eingehend diskutiert hat: nämlich das der sogenannten Velleitas, des „Wollen-Würdens“, so könnte man vielleicht übersetzen.51 Für Thomas ist dieses konjunktivische Wollen nämlich noch keineswegs genug, um von einem qualifizierten Freiheitsbegriff zu reden. Auf die Velleitas wird jedoch zum Abschluss dieses Anhangs zur Handlungstheorie noch einmal zurückzukommen sein. Hier soll vorerst im Hinblick auf die Irrgarten-Logik, und um Missverständnissen bezüglich ihres Erklärwerts vorzubeugen, noch einmal in Erinnerung gerufen werden, dass für Thomas die Freiheit der Handlung zwar wie gesehen in der Wahlfreiheit des Willens ihren identifizierenden Grundzug hat, dass sie aber doch nicht gänzlich in ihr aufgeht. Die Handlungstheorie bei Thomas zeigt: Frei ist der Akt, in dem sich Entscheidung, Überlegung, Zustimmung und Wohlgefallen einer Person bezüglich ihrer Handlung verbinden und die Handlung somit zu der der Person eigenen machen. Anders gesagt: Die freie Entscheidung des Wegsuchenden in Borges’ Irrgarten wäre nur dann frei, wenn die Wahl des Wegs kein „picking“ wäre, sondern ein „choosing“, und auf Überlegung, Entschluss und überzeugtem Wohlgefallen an sich selbst als so oder so Handelnden zurückzuführen ist. Wenn man es jedoch zunächst wie Harry Frankfurt dabei belässt, dass es zur Erklärung einer trotz nomologischer Determinierung weiter bestehenden Freiheit genügt, diesen oder jenen Gedanken hegen zu können, lässt sich diese Auffassung von der grundsätzlichen Freiheit menschlicher Handlung tatsächlich gut durch einen Gedanken aus John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand ergänzen und illustrieren – danach wird sich auf seiner Grundlage die nötige ErAnhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
51
Das von den scholastischen Philosophen gebrauchte velleitas (von velle) ist ein Kunstausdruck, der genau das Konjunktivische der Bedeutung einfangen soll. Im Folgenden wird er als Terminus Technicus „Velleitas“ verwendet.
268
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
weiterung und Korrektur im Sinne der thomasischen Handlungstheorie nochmals ergänzen lassen. Nach Locke besteht Freiheit nicht primär darin, Erstverursacher einer Handlung und/oder einer Kausalkette zu sein, sondern in der Möglichkeit, im Strom der nomologischen Ereignisverkettung, in die man sich immer schon hineingestellt sieht, zu verhoffen oder innezuhalten, um das, was geschieht, einer Bewertung zu unterziehen und zu entscheiden, ob man es sich zurechnen lassen möchte oder nicht, um sich dem dann anzuschließen oder nicht. Dies löst die Bedingung der Kontrolle über die eigenen Handlungen ein.
Denn die Erfahrung lehrt, dass die Seele in der Regel die Ausführung und Befriedigung eines Begehrens und damit auch aller, eines nach dem andern, hemmen kann. Dadurch wird sie frei für die allseitige Betrachtung der Gegenstände des Begehrens und deren Vergleichung mit einander. Hierin liegt die welche der Mensch besitzt. Aus ihrem unrechten Gebrauch kommen alle jene mannigfachen Missverständnisse, Irrtümer und Fehler, in die man während seines Lebens in seinen Bestrebungen nach dem Glück gerät; man überstürzt seine Entschlüsse und bindet sich, ehe man die gehörige Prüfung angestellt hat. Um dies zu hindern, hat man die Kraft, die Erfüllung jedes Begehrens zu hemmen, wie aus der eigenen Erfahrung leicht zu entnehmen ist. […] Denn während dieser Hemmung des Begehrens, ehe noch ein Entschluss gefasst ist und die Handlung (die diesem Entschlusse folgt) geschehen ist, kann man das Gut oder Übel prüfen, beschauen, und man kann beurteilen, was zu tun ist. Hat man nach gehöriger Prüfung geurteilt, so hat man seine Schuldigkeit getan. Es ist dies Alles, was man in Verfolgung des Glückes zu tun hat, und es ist kein Fehler, sondern ein Vorzug unserer Natur, dass man nach dem letzten Ausfall einer ehrlichen Untersuchung begehrt, will und handelt.52 Freiheit,
Man könnte hier gewissermaßen die Grundelemente für die Erfüllung aller drei genannten Bedingungen für freie Entscheidungsfähigkeit im Handeln angesprochen sehen. Als erfüllt können sie angesichts zweier Fähigkeiten angesehen werden; es handelt sich um „die Fähigkeit, vor der Entscheidung innezuhalten und zu überlegen, was das Richtige53wäre, und die Fähigkeit, dem Ergebnis dieser Überlegung gemäß zu handeln“. Aus Moores konditionaler Analyse kann man ersehen, dass diese Fähigkeiten durchaus auch dann am Werk sein können, wenn die Welt, die den Zusammenhang ihrer Ausübung darstellt, determiniert ist. John Lockes Text wiederum zeigt, dass dieses Innehalten schlicht als empirisches Faktum gelten kann, das der Mensch im Handlungsvollzug an sich selbst erfährt. Diese Erfahrung ist diejenige einer Intervention seiner Vernunft, einer Intervention, die von den nomologischen Ereigniszusammenhängen distanziert. Und es ist interessant zu sehen, dass dieser für das praktische Tätigsein so entscheidende innere Vorgang eigentlich zunächst einmal ein theoretischer, das heißt ein die 52
53
Locke, Versuch über den menschlichen Verstand II xxi §47, Übersetzung durch Julius Heinrich von Kirchmann. Berlin 1873 (orthographisch angeglichen; Heraushebung im Original). Ansgar Beckermann: Gehirn, Ich, Freiheit, S. 116.
269 Welt aus der verstandesmäßigen Distanzierung betrachtender, ist – freilich einer, der um der Praxis willen und ganz im praktischen Zusammenhang geschieht. Die Freiheit gegenüber solchen determinierenden Zusammenhängen ist also eine Freiheit in Ermöglichungsabhängigkeit von der Vernunft, während eine Freiheit von der Vernunft – würde die Vernunfttätigkeit denn überhaupt als determinierend empfunden werden können – tatsächlich unfrei machen würde. Das Thema klang ja bereits im vergleichbaren Zusammenhang der Unterscheidung von nomologischer und logischer Determination an.54 Hier berührt sich dieser Gedankengang zum Teil – und wirklich nur zum Teil! – auch mit dem aus anderen Traditionen bekannten der ethischen „Selbstgesetzgebung“ durch die Vernunft. Das ist freilich in einer gewissen Weise „intellektualistisch“, da die Freiheit, auch die Freiheit des Willens, ihre Bedingung bis hin zu ihren einzelnen Bedingungsmerkmalen von der Vernunft her hat. Um es noch einmal auf die plakativen Formulierungen zu bringen: Die Freiheit des Menschen besteht darin, nach dem Willen der Vernunft verfahren zu können, nicht darin, nach der Vernunft des Willens zu handeln; und daraus ersieht man, dass die von Thomas emphatisch getroffene Aussage, der Wille sei frei, tatsächlich die Freiheit des Willens betrifft, nicht aber die („voluntaristische“) Willensfreiheit. Man ersieht aus diesen Formulierungen aber auch schon, welche Schritte Thomas in seiner Handlungstheorie und seiner Auffassung von Freiheit über die Position hinaus tut, die ihn zunächst einmal mit Stellungnahmen wie der oben zitierten von John Locke verbindet. Das Fazit der mit einem Seitenblick auf Locke illustrierten und hier nun bereits auf Thomas hin modifizierten Freiheitstheorie lautet damit fürs Erste: Wünsche, Neigungen und natürliche Triebe machen den Menschen nicht unfrei; sie sind auch keineswegs in diesem Sinne freiheitsverhindernde Agenten einer „listigen Natur“, dass sie den Menschen manipulativ von dem, was seine eigene Entscheidung wäre, distanzieren. Eine der entscheidenden Stellen, in denen Thomas diesen Gedanken ausspricht, sei noch einmal kurz ins Gedächtnis gerufen (De Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
malo q.1 a.3 [4]):
Wenn es nun so wäre, dass der Wille in gleicher Weise notwendig den Eindruck von verlockend Vergnügen Bereitendem erführe wie der Körper notwendigerweise dem Eindruck einer Wirkung auf ihn erliegt, wäre bei den willentlich handelnden Wesen in dieser Hinsicht alles genauso wie bei den bloß natürlichen Wesen. Doch dem ist nicht so, denn wie stark der von außen herantretende Sinnesreiz auch verlocken möge, so bleibt es doch in der Macht des Willens, es anzunehmen oder nicht anzunehmen. Deshalb ist nicht das als 54
Auch in diesem Zusammenhang verweist Beckermann ( , S. 114) noch einmal mit Recht auf John Locke, der sich darüber äußert, dass, wenn Freiheit in der Losgelassenheit von der Vernunft bestünde, allein Übergeschnappte und schwer Debile frei wären und dass, wer frei sein wolle, sich innig wünschen müsste, auch einer von ihnen zu sein ( Gehirn, Ich, Freiheit
Versuch über den menschlichen Verstand II xxi § 50).
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
270
Erfreuliches in Bewegung Setzende die Ursache für das Böse, das dadurch zustande kommt, dass man es annimmt, sondern sehr viel eher der Wille selbst ist dafür ursächlich.
Die Freiheit, die Thomas beim Menschen am Werk sieht, ist zunächst und grundlegend diejenige eines bewussten und durch Überlegung überlegenen Umgangs mit den eigenen Neigungen, natürlichen Trieben und Wünschen. Die in der Handlungstheorie bei Thomas so stark herausgehobenen Elemente der Überlegung, des Urteilens ( ) und des mit sich zu Rate Gehens ( ) gestatten es dem Menschen, sich zu positionieren und sich zu sich selbst als Wünschendem, Hinneigendem und Triebwesen zu verhalten. Daher auch die große Rolle, die mit ganz ähnlichen Begründungen den Klugheitserwägungen andernorts bei Thomas zugewiesen wird. Dieses Verhalten sich selbst gegenüber ist aber auch nur deswegen qualifiziert möglich, weil der Mensch als ganzer, auch als triebhaft veranlagter und als Neigungswesen, vernunftförmig im Sinne der hylemorphen Anthropologie ist. Es dürfte also aufgefallen sein, dass all dies, was sich aus der vergleichenden Betrachtung der Positionen von Locke und Frankfurt gewinnen ließ, sich wie eine vorläufige und noch der philosophischen Ausarbeitung bedürftige Rohfassung der thomasischen Positionen in der Habitus- und Handlungstheorie lesen lässt. Der Vorteil liegt darin, dass sich in diesem Durchgang gut sichtbar auftut, wie der Zusammenhang von menschlichem Handeln, natürlicher und psychologischer Determination und den Einzelschritten einer vom Nomologischen extrapolierenden Handlungstheorie mit ihren distanzierenden Momenten wie und zu einer Theorie menschlicher Freiheit wird: Als natürliches Wesen ist der Mensch nach Thomas durchaus in die nomologischen Kontexte eingebunden. Sie determinieren ihn in der Weise, die in der Habitus- und Lasterlehre von mit großem psychologischem Gespür auf den beiden Ebenen der „ersten“ und der „zweiten“ (also der „eingefleischten“) Natur vorgeführt wird. Dass der Mensch als ein im oben ausgeführten Sinne hylemorphes Wesen diese nomologischen Kontexte nicht einfach abstreifen, sich prinzipiell gegen sie verhalten oder sie als für sich unmaßgeblich leugnen kann, bedeutet jedoch nicht, dass er unfrei ist. Die Überlegungen von Quaestio 6 [3] zeigten dies zum Beispiel anhand der Unterscheidung von Tätigkeitsantrieben einmal von Seiten des Subjekts und einmal von Seiten des Objekts.55 Die Ausführungen zur Lasterlehre wiederum zeigiudicium
consilium
deliberatio
consilium
De
malo
55
Hier zeigt sich auch, dass für die Selbstdistanzierung zum wenigsten ein negatives Moment des Abstandnehmens vonnöten ist, in dem die Freiheit ihre Begründung hat: „Um frei zu handeln, muss der Handelnde nämlich davon Abstand nehmen können, die Handlung selbst zu initiieren“; und diese „für Freiheit konstitutive Fähigkeit eines Akteurs, eine Handlung nicht von sich aus initiieren zu müssen, ist […] in einem konditionalen Sinn zu verstehen. Sie besteht darin, dass er vermieden hätte, selbst der Initiator der Handlung zu sein, wenn sie seinen personalen Merkmalen widersprochen hätte“ (Friedrich Hermanni: , S. 106). Bei Thomas, der, anders als Hermannis Vorstellung vom Selbst als einer mehr oder Metaphysik
271 ten dies anhand von Argumenten, die einigen der genannten Grundgedanken Harry Frankfurts durchaus und in mehr als einer Weise ähneln. Die sowohl der Willenstheorie von q.3 a.3 und q.6 wie in den Quaestionen zu den Hauptlastern vorausgesetzte Handlungstheorie zeigt dann auf, wie die Distanzierung von den natürlichen Determinierungszusammenhängen zustande kommt. Die Dämonen aus der Quaestio 16 von De malo, die dem Menschen (das heißt seiner sinnlichen Weltwahrnehmung) allerhand vorgaukeln, um ihn zu bestimmten bösen Handlungen zu bewegen, können hier als Anschauungsbeispiel für alle möglichen Arten von Fremddeterminierung stehen und diese Quaestio 16 mit ihrer Diskussion der Dämonen bietet daher auch eine gut brauchbare Etude zur Rolle der Handlungstheorie für eine angemessene Darstellung und Lösung des Freiheitsproblems. Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
Ein Zusatzproblem und der Abschluss der Handlungstheorie:
Was aber schützt die Willenstheorie von De malo davor, dieses ganze Szenario als ein rein reaktives System von Distanzieren und Bezugnehmen oder das Wollen als bloße Velleitas,56 als bloßes Wünschen oder Wollen im Konjunktiv also, annehmen zu müssen? Es ist überraschenderweise genau dieselbe Fähigkeit von Distanzierung und Wählen. An diese soll daher abschließend noch einmal erinnert werden – auch um die Freiheitsdiskussion bei Thomas als besser durchdacht und als im Abgleich psychologischer Ergebnisse mit der manifesten Welt des menschlichen Lebensvollzugs einleuchtender (und somit letztlich als philosophischer) im Vergleich zu den hier didaktisch vorgeführten Konkurrenzmodellen zu erweisen. Die Wendung, die von den Interpreten in der Quaestio 6 von immer als so ausgesprochen bemerkenswert registriert wurde, heißt: Am Anfang der handlungsrelevanten Willensvollzüge, und somit am Anfang der Ermöglichung jeder Handlung überhaupt, steht die Fähigkeit des Willens, wählen zu können. Diese Fähigkeit bezieht sich nun wie gesehen nicht allein auf die Wahl der Handlungsmittel (die der Handlungstheorie in der ), sondern auf alle Stufen der Handlungskonstituierung, an denen der Wille beteiligt ist. Thomas hat dies auch so ausdifferenziert dargelegt in q.6 [5.1] und [5.2]. Diese Fähigkeit durchzieht also den gesamten Prozess. In wird aber zusätzlich noch
De malo
electio
Summa
De malo
56
minder zufälligen individualbiographischen Charakteridentität (so Hermanni: Metaphysik, S. 105), aus guten Gründen das objektive Regulativ des Wesensselbsts, der menschlichen natura, anerkennt und einrechnet, lässt sich wie gesehen ergänzend anfügen, dass das Abstandnehmen sich tatsächlich auch auf die Handlungen bezieht, die man nicht selbst initiiert, sondern die nur ein integrales Moment eines nomologischen Ablaufs darstellen könnten. Thomas definiert die Velleitas unter anderem in S.th. I-IIae q.13 a.5 ad 1. Zum Begriff und zur philosophischen Bedeutung der Velleitas bei Thomas vgl. zum Beispiel auch Andrea Robiglio: L’impossibile volere. Tommaso d’Aquino, i tomisti e la volontà, S. 72-121.
272 Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie einmal verdeutlicht, dass sich das Wählen des Willens auch auf das Wählen selbst beziehen kann, und dass der Wille vor allem auch deswegen als rationales Vermögen gewertet werden muss, weil er reflexiv, also selbstbezüglich, seine Grundfähigkeit des Wählens auszuführen vermag. Indem er wählt, es zu einer Wahl kommen zu lassen, aktuiert er sich daher selbst. Doch ist dies denn möglich? Kann denn der Wille, oder nur irgendetwas, in irgendeinem Sinne Grund für sein eigenes Zustandekommen, gleichsam causa sui, sein? De malo q.6 [5.1] diskutiert diese Frage lange: Freilich, ein aktives Vermögen zu wählen kann jederzeit ein passives Vermögen zu wählen aus seinem Möglichkeitsschlummer wecken und in die Wirklichkeit setzen. Dann aber gerät man in das Problem, einen infiniten Regress annehmen zu müssen: Das aktive Vermögen muss ja selbst einmal aktuiert worden sein, und zwar von einem anderen aktiven Vermögen, und dieses wiederum genauso, usf.57 Denn es bedürfte ja eigentlich nur eines einzigen in Tätigkeit befindlichen Vermögens die Wahl des Wählens zu vollziehen, um alle anderen aktivieren zu können. Was Thomas dann als Lösung anbietet, überrascht auf den ersten Blick: Er diskutiert, ob es denn nicht die Sterne sein könnten, wie einige sagen, die den Willen erstanstoßen, oder eben, ob es nicht Gott sein könnte. Dass die Wahl auf die zweitgenannte Möglichkeit fällt, hat damit zu tun, dass Thomas nur hier die Freiheit des Willens gewahrt und erklärt sieht. Und zwar aus folgendem Grund. Die astronomisch-astologische Variante geht davon aus, dass der menschliche Wille in den nomologischen Ereigniszusammenhängen steht, mehr noch: in den nomologischen Aktuierungszusammenhängen, die ihn hervorbringen. Thomas lehnt dies in De malo q.6 [5.1] zunächst ausdrücklich mit dem Verweis ab, dass die Hervorbringung einer Vernunfttätigkeit (wie der des Willens) nicht vollständig aus physikalischen Zusammenhängen und Vorgaben erklärbar ist. Dieser Vorbehalt der Anomalie der geistigen Tätigkeit gegenüber den nomologischen Abläufen, wie sie bei nichtgeistigen sinnenbegabten Wesen tatsächlich gesetzesmäßig wirken, lautet:
dass der Wille der Menschen vom Einfluss der Himmelskörper in einer Weise in Bewegung gesetzt wird, in der auch der Instinkt der wilden Tiere bewegt wird, hieße […], dass der Verstand sich nicht von den Sinnen unterscheidet.
Doch ist es offenbar nicht nur dieser negative Vorbehalt, der gegen die binnenkosmologische Erklärvariante spricht, sondern auch gleichzeitig der positive Vor-
57
Die Spontaneität des Willens also nicht nach dem absoluten voraussetzungslosen Schöpfungsmodell zu verstehen, wie das oben bei der Frage nach der voluntas simplex als eine der traditionellen Auslegungsmöglichkeiten für das Hervorbringen des Handelns im Willen kurz dargelegt (und als für den Zusammenhang bei Thomas von Aquin für problematisch herausgestellt) wurde.
273 behalt, dass es eine vernünftige andere Erklärungsmöglichkeit gibt. Thomas von Aquin schildert sie als zweiten möglichen Fall der Fragelösung. In diesem zweiten Fall, dass es ein Wesen gibt, das selbst über das tätige Wollensvermögen verfügt und wollte, dass der Mensch wollen könne, ergibt sich ein anderes Gesamtbild, das geradezu einem voluntativen Gottesbeweis gleicht: Freilich kann sich der Wille nicht in dem ontologischen Sinne selbst hervorbringen, dass er noch bevor es ihn – logisch oder zeitlich ‒ gibt, wählen könnte, dass es ihn gibt. Also verweist er nach dem Muster des aristotelischen Bewegungs- und Entstehungsbeweises auf ein Erstes, das ihn konstituieren muss. Damit der Wille aber in dem von Thomas ausgeführten Sinne frei sein kann, darf diese erste Konstituierung ihn nicht so festlegen, dass er in einer Weise, die echtes Wählen verhindern würde, festgelegt wäre. Das wäre der Fall des nomologischen Hervorbringungs- und Bewegungszusammenhangs, den Thomas in Bezug auf die Sterne angeführt hatte. Vielmehr muss die erste Konstituierung von 58der Art sein, dass sie den Willen zwar ultimativ hervorbringt, aber eben als freien. Thomas beschreibt das schlicht so (De malo q.6 [5.1]): Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
Da dieser [das heißt Gott, CS] alles nach der Art und Weise zu sein der bewegbaren Dinge bewegt […] so bewegt er auch den Willen gemäß der eigenen Verfasstheit oder Bauart des Willens, das heißt nicht aus Notwendigkeit, sondern als etwas, das sich festlegungslos auf vieles hin ausrichten kann.
So lässt sich paraphrasierend mit Brian Davies sagen: “[T]hough human choices are part of what God makes to be (and are in this sense caused by God, contrary59 to what the free-will defense supposes), they remain what they are – choices”. Oder, in Paraphrase eines Bonmots von Franz Brentano: Selbst wenn Gott den verbrecherischen Willen des Menschen wollte, so wollte er damit doch nicht dasselbe wie dieser. 60
Etwas in der Art willentlich hervorzubringen, dass das ontologisch Erstkonstitutive als Bedingung im Hervorgebrachten oder Konstituierten präsent bleibt und dennoch gleichzeitig etwas Eigenständiges konstituiert wird, ist ein Vorgang, den 58
59
60
Vgl. dazu Brian Davies: Thomas Aquinas on God and Evil, Oxford 2011, S. 72-76. Davies bezieht sich auch auf De malo q.6, bespricht aber vor allem ähnliche Argumentationen in der Summa contra Gentiles und im Kommentar zu Peri hermeneias. Brian Davies: Thomas Aquinas on God and Evil, S. 77. Und ausführlicher schon auf S. 7374: “God’s agent causality […] is not interfering or modifying. Rather, it is enabling. And this is how Aquinas argues when thinking about human free choices. These, he says, are not the result of God tinkering with or imposing himself on us. They are what exists insofar as God makes us to be as freely choosing natures”. Ähnlich (im Zusammenhang der Kritik eines bestimmten moralischen Universalismus) Robert Spaemann: Einleitung zu Thomas von Aquin: Über die Sittlichkeit der Handlung, S. ix: „Nicht was Gott will, sollen wir wollen, sondern das, wovon Gott will, daß wir es wollen“. Vgl. Franz Brentano: Grundlegung und Aufbau der Ethik. Bern 1952, S. 292.
274 Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie man als Schöpfung bezeichnet (und der sich eben darin von anderen Arten von Vollendungsanstößen – wie denen durch Gestirne und andere innerkosmische Bewegungszusammenhänge – unterscheidet). Was einer solchen Schöpfungshandlung fähig ist, bezeichnet man als Gott. Thomas von Aquin schließt, dass also die in seiner Handlungstheorie analysierte Tatsache der Freiheit des Willens und die gleichzeitig bestehende Tatsache der Unmöglichkeit, dass sich etwas wählend selbst hervorbringt, auf Gott als den Anfang der Tatsache jeglicher Willenstätigkeit verweist. Zwei Fragen bleiben dann noch. Erstens: Ist es überhaupt möglich, dass etwas vom Willen Gottes abhängt und doch eigener Wille ist? Diese Frage beantwortet Thomas von Aquin wie gesehen und ausgedeutet in De malo q.6 [5.1]. Seine Antwort ist ein Klassiker einer philosophischen Entgegnung auf die grundlegenden Spielarten jedes Okkasionalismus. Zweitens: Wie vollzieht sich die Konstituierung von Willen eigentlich? Wie ist die Verlaufsbeschreibung des Beginns von Willenstätigkeit beim Menschen? Auch hier ergibt sich die Antwort aus der Handlungstheorie bei Thomas von Aquin: Die schlichte erste Willensregung, die voluntas simplex, ist zunächst der Genese und der psychologischen Selbstwahrnehmung nach nicht von den anderen natürlichen Strebensimpulsen, wie sie etwa Tiere haben können, zu unterscheiden. Damit ist die Willensregung 61phänomenologisch in die natürlichen Zusammenhänge organisch eingebunden. Nach Thomas von Aquin hat die menschliche Handlung also – anders als etwa die der körperlosen Wesen von q.16 a.2 – definitorisch eine „äußere Dimension“. Erst in ihrer Modellierung durch die Interaktion von Verstand und Wille wird deutlich, dass es sich hier um eine Strebensregung besonderer Art handelt: um eine solche nämlich, die eine Modellierung, eine gewählte Änderung der Richtungsvorgabe, einen Abbruch oder zuletzt eben eine identifikatorische Selbstzurechnung im Hinblick auf Ergebnis, Mittel, Gesamtbetrachtung, Umstände usw. überhaupt zulässt. Damit erst erweist sich diese Regung gerade in diesem Hinblick als ganz dem ungezwungenen und selbstbestimmten Verfügen des Handelnden zuzurechnen, und somit letztlich als etwas, das ganz auf ihn und seine Vernunftausübung zurückgeht. Wäre das nicht der Fall, wäre sie auch nicht so zu formen, wie sie es nun einmal ist. 61
Zur Erinnerung: In De malo q.8 a.3 [2, 2.1 und 2.2] brauchte Thomas einige Dihäresen, um zu verdeutlichen, was Wille als Strebevermögen der Vernunft vom Trieb als sinnlichem Strebevermögen unterscheidet, da sie doch beide der Funktionsart nach das Gleiche sind: nämlich Strebevermögen, die beide auf das Erfassen von Gutem hin aktuiert werden; weder die Tatsache, Strebevermögen zu sein, noch die Tatsache, das Erfassen von Gutem vorauszusetzen, noch der Begriff vom Guten selbst bieten zunächst die Unterscheidungsmöglichkeit. Diese ergibt sich eher aus der Differenzierbarkeit des erfassten Guten formaliter, also ob als schlechthin oder als solches oder solches (vgl. dazu auch die Interpretation von q.16 a.2 [1]).
Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie
275
Man könnte das Prioritätenverhältnis und das Problem der Konstituierung von willentlicher und verstandesmäßiger, das heißt vernunftförmiger Handlung beim Menschen auch im größeren Kontext sehen als in dem von isolierbaren Einzelhandlungen: Wie kommen rationale Wesen überhaupt erstmals dazu, frei zu handeln? Wird dieser Prozess erstmalig von Gott oder dem nomologischen Kausalnexus aktiviert? This difficulty is more apparent than real, however. As Aquinas notes, this process of desire and reflection is naturally and normally initiated through the will’s spontaneous orientation toward the basic components of well-being, including both the necessities of life and the proper objects of one’s specific powers […]. In the very young child, these kinds of desires will reflect passions rather than the will; but when the child begins to be able to conceptualize these desiderata as goods, and to direct his actions accordingly, it is legitimate to speak of these as stemming from the will, albeit in an immature and imperfectly developed state. […] Will and practical reason thus emerge together out of a process of action and reflection which is perhaps purely instinctual at first (and thus cannot really be regarded as action), and which remains for a considerable period at the level Aquinas would describe as the imperfectly voluntary, insofar as this process does not yet reflect a full rational grasp of one’s own good.62
Der Mensch handelt somit frei in einer Weise, in der das Zustandekommen seiner Handlungen auch daran erinnert, wie man als Mensch überhaupt einen Gedanken fasst – und zwar „fasst“ in beiderlei Auffassungssinn von „erfassen“ und „in eine Fassung bringen“. Auch ein Gedanke ist ja das Ergebnis einer bereits im Vollzug befindlichen Geistesbewegung, die man nicht als willkürlich begonnen charakterisieren kann, sondern auf die man eher beim Fassen eines Gedankens zugreift, und dies ist dann die Geburtsstunde des Gedankens. Dieses erste Stadium der Gedankenfassung wird dann in diskursiver Verstandesarbeit zu eigen gemacht und bemeistert. Ähnlich wie in der Handlungstheorie geht es hier um eine reflexive Tätigkeit, in der sich die Vernunft bezüglich der noch nicht ganz geformten gedanklichen Anfangsleistung – in der Handlungsbildung ist dies die , die anfängliche und noch unqualifizierte Willensregung – auf verschiedenen Stufen selbst befragt und die Zustimmungswürdigkeit, Haltbarkeit und die Art und Ergebnisse ihrer Tätigkeit bereits im Vollzug an sich selbst zur ex nihilo
voluntas simplex
62
Jean Porter: , S. 261-262. Mit Recht macht Porter auch aufmerksam darauf, dass dieser „grasp of one’s own good“ mit einem der Vernunft erst langsam sich erschließenden Innewerden bezüglich der Frage eines Gelingens des eigenen Lebensvollzugs als ganzem, dessen also, was die Tradition Glück nennt, einhergeht. Erst die Möglichkeit der Einordnung unter einen vereinigenden Gesichtspunkt macht das eigene Tun überhaupt vernunftfähig und lässt es zum Handeln werden. Bemerkenswert ähnlich ist der berühmte Vergleich, mit dem MacIntyre das moralische Innewerden anhand des Beispiels des schachspielenden Kindes illustriert. Vgl. Alasdair MacIntyre: , S. 252. Nature as Reason
Der Verlust der
Tugend
276 Anhang 1: Ein Blick auf die Handlungstheorie Bewertung zurückverweist, um den Gedanken dann endlich als ihr eigen anzunehmen. Das Fassen eines jeden Gedankens ist somit wie die Handlungsentscheidung (und fernab jeder bloßen Velleitas) ein „realistisches“ Unterfangen. Denn es ist das Reale als das Gegebene,63 in das sich der Mensch hier einordnet, indem er darauf Bezug nimmt und sich seiner in reflexiver Vernunfttätigkeit bemeistert. Das Gute, auf das sich die „praktische Vernunft“ bezieht, bringt sie ja nicht selber hervor, sie schafft und erzeugt es nicht, sondern sie findet es als Gegebenheit vor.64 Es ist dieses Gegebene, auf das sich die Verstandestätigkeit bezieht, wenn sie für den Willensentscheid ein Feld von in Frage kommenden Erkenntnissen absteckt, auf die sich dieser dann wiederum in seiner eigenen „Kompetenz für das Gute“ als mögliche Einlösungskandidaten oder Einlösungsfaktoren im Sinne des ihm Aufgegebenen bezieht (vgl. q.6 [2.1]).
63
64
In der Einschätzung des Wirklichen als des Gegebenen folge ich für diesen Fall den entsprechenden Erwägungen von Andrés Quero-Sánchez: Sein als Freiheit. Freiburg i.Br. 2004, S. 329-330. Zu diesem „Vordersatz“ der realistischen Auffassung in der ethischen Theorie des Thomas von Aquin vgl. Wolfgang Kluxen: Lex naturae. The Lasting Significance of the Thomistic Solution to the Problem of Ethics. In: Chumaru Koyoma (Hg.): Nature in Medieval Thought. Leiden/Boston 2000, S. 95-110.
Anhang 2: Privation, Negation und „schlechthin Übles“ Eine zusätzliche Frage tut sich im Rahmen der Privationstheorie auf, wenn von einem „schlechthin Üblen“ oder einem „schlicht Bösen“ die Rede ist: Wie kann es ein simpliciter malum geben, wenn das Üble gemäß der Privationsthese doch eigentlich ein „Weniger an Gutem“ oder ein „Fehlen an Gutem“ darstellt? Will es denn nicht so aussehen, als sei ein simpliciter malum eher eine Negation als eine Privation des Guten, also weniger ein Nicht-Gutes als vielmehr ein strikt AntiGutes oder der konträre Gegensatz zum Guten statt nur dessen Beraubung, Ein-
buße und Ermangelung? In den Ausführungen zu q.1 a.3 [4.2], q.16 a.2 [1] und im Exkurs zu den „moral absolutes“ im Anhang „Ein Blick auf die Handlungstheorie“ war dazu schon einiges festgestellt worden. Dennoch mag der Begriff des „schlechthin Üblen“ oder „schlicht Bösen“ im Zusammenhang der Privationslehre verwirren und verschiedenen Zweifeln Tür und Tor zu öffnen. Eine kurze Klarstellung sei deswegen noch angefügt: In den natürlichen Dingen, von denen Thomas die Sphäre des Menschlichen bei der Erklärung von Übeln wie gesehen immer wieder abhebt, lässt sich tatsächlich alles Üble (im Sinne der Trägerauffassung) als „weniger Gutes“ bestimmen, das Üble (im Sinne der Abstraktionsauffassung) besteht hier also immer in einer Ermangelung, in einem Fehlensfehler, einer Beraubung oder einem Ausfall und in den Naturdingen – es gibt so weiter.1 Es gibt folglich kein keine Krankheit und keine Deformität schlechthin, sondern nur als Schwächung, als Einbuße oder als Ausbleiben einer positiven Bestimmung. Wohl aber gibt es ein in den moralischen Belangen. Die Frage, die sich nun stellt, lautet daher: Benötigt man für die Ethik, die ein kennt, eine andere Erklärung als die durch die Privation? Also zum Beispiel eine Erklärung, in der das Üble als strikte Negation des Guten verstanden werden muss?2 Es sei gleich vorweg gesagt, dass die Frage, wenn sie so gestellt wird, nur eine Variante oder Ergänzung der Theorie darstellt, dass das Üble oder Böse nur einen Sekundärstatus gegenüber dem Positiven aufweist, denn diese logische Sekundarität und Abhängigkeit von einem primär Guten kennzeichnet ja sowohl das Privative simpliciter malum
simpliciter malum
simpliciter malum
1 2
Vgl. Rolf Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, S. 130-131. So Schönberger, der in Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, S. 130 für einen „konzeptionellen Fortschritt“ in der Geschichte der Privationslehre plädiert, der sich bei Thomas dadurch ergebe, dass er die Privation auf den Bereich des Natürlichen beschränke, um für den Bereich des menschlichen Handelns der Privation eine „unmittelbare Geltung“ abzusprechen und eine Erklärung durch Negation des willentlich Guten zu favorisieren, also eine strenger widerspruchsbildende Form von Sekundarität gegenüber dem Guten.
278 Literaturverzeichnis wie das Negative. Die in späteren Jahrhunderten für die Kritik und die Ablehnung der Privationstheorie prominente Variante hingegen, die im Sinne des „postulativen Manichäismus“ dem Üblen eine Eigenwirklichkeit, ein „An sich“ zusprechen will und somit das Negative als Negatives für erklärungsfähig hält, weil sein Auftreten als mächtig und irgendwie eigengesetzlich in Macht und Zugkraft empfunden wird, hat in der Deutung von q.12 a.1 [2.2] bereits eine Antwort erhalten: Thomas hat eine durchgängig plausible Theorie zur Hand, die erklärt, wie sich das Üble als Einbuße- oder Mangelerscheinung die Kraft und Vitalität des Guten parasitär zunutze machen und sozusagen darauf „aufsitzen“ kann. Sittlich Übles kommt wie gesehen durch ein „Fehlenlassen“ der Handlungsausrichtung gegenüber der Vernunftmaßgabe zustande. Bis hierhin wäre die Erklärung des moralischen Üblen durchaus noch im Rahmen der Privationstheorie zu verstehen. Das Problem, das sich auftut, ist aber folgendes: Wenn die Vernunft bei Thomas das Richtmaß des Sittlichen ist, so ist eine moralisch bewertbare Handlung als willentliche entweder vernunftgemäß (also gut) oder vernunftwidrig (also schlecht/böse). Oder jedenfalls scheint dies so zu sein. Das aber spricht für ein konträres Verhältnis von gut und böse, wie es sich durch Negation des Ersteren durch das Zweite erklären ließe, nicht aber für das Bestehen eines Privationsverhältnisses. Das also ist offenbar das Problem. Doch führt dies zu einer weiteren Frage: Wäre das solchermaßen aufgefasste strikt Negative – im Sinne des streng Vernunftwidrigen – im Moralischen nicht eigentlich gleichbedeutend mit dem Wollen des Bösen als Böses (was nach Thomas ja unmöglich ist)? Oder würde es nicht in jedem Falle schließlich genau darauf hinauslaufen? Man ersieht daraus den Sinn der Privation als Grundthese des Übels auch für das moralisch Üble: Das Wollen des Bösen, Üblen, Schlechten als solches, per se, ist eine Unmöglichkeit, und alle Versuche, dieses „per se“ in ein „schlechtweg“ im Sinne eines simpliciter malum zu überführen, scheitern an der inneren Logik der Auffassung vom Bösen bei Thomas. Sie scheitern auch an der von Thomas zugrundegelegten Anthropologie, die ein in diesem Sinne komplett Vernunftwidriges und somit nur Negatives beim Menschen ausschließt. Es schließt dies auch die gängigen Varianten eines „psychologischen Manichäismus“ aus, wie sie insbesondere seit dem 18. Jahrhundert in Blüte stehen. Das moralische Übel besteht in einem defektiven Wollen, im Wollen eines Guten, das nicht das adäquate Gute ist, und das somit als privativ zu bestimmen ist: als mehr oder weniger angemessen – sei es an die Handlungsart generell (hier lässt sich das malum simpliciter finden), an die Umstände, an die Mittel etc. Die Angemessenheit des Strebensobjekts wird dabei, so war zu sehen, durch die Vernunfttätigkeit offengelegt. Ein malum simpliciter bezeichnet also eine Handlung, die, egal wie sie vollführt wird, als eben solche Handlung immer das angemessene Gute im Wollen verfehlt und ihrer ganzen Logik gemäß stets ein geringeres – wirkliches oder nur vorgestelltes – Gutes willentlich vorzieht und zum Ausrich-
279 tungspunkt der Handlung macht, obwohl die Vernunftmaßgabe des Willens gegen diese Bevorzugung spricht. Die Vernunftwidrigkeit ist somit als Vernunftverweigerung zu verstehen und als solche privativ erklärbar: Der Wille lässt es in seiner Wahl daran fehlen, dem angemessenen Guten zu folgen, das die Vernunftmaßgabe ihm aufzeigt: „Der Mangel, eine Regel nicht zu besitzen, wird erst in diesem Moment zu einem moralisch relevanten Mangel“.3 Konträr zur guten Handlung ist dann das Handlungsergebnis, ähnlich wie bei einer (ebenfalls privativ erklärbaren) schlechten medizinischen Behandlung das erfolgte Ergebnis konträr zum intendierten stehen kann. Auch hier zeitigt also ein Diagnosefehler die konträre Wirkung. Man kann die Sache auch von einem etwas anderen Blickwinkel her angehen: Die Frage nach dem Status des moralischen Bösen als Negation, die nicht auch als Privation erklärt werden könnte, ergibt sich ja aus der Frage, ob gut und böse gemäß dem logischen Quadrat des Aristoteles als konträre Gegensätze zu erklären sind oder als kontradiktorische. Die Problemlage ist aus verschiedenen anderweitigen Gründen vielleicht schwieriger als man vermuten mag, aber das gehört nicht hierher. Für den Zusammenhang des Üblen muss genügen, dass die Frage nach dem Bösen als strikte Negation des Guten im Moralischen, im , mit der Frage zu tun hat, ob es außer guten und üblen Akten auch noch indifferente gibt, oder ob es hier nur mehr oder weniger gute oder üble Akte gibt. Die erste Auffassung scheint zunächst die Intuition auf ihrer Seite zu haben. Indifferente Handlungen gibt es ja genug, und Thomas spricht selbst mehrmals von solchen. Doch ist dabei zu beachten, dass der streng indifferent aufgefasste Akt beim Menschen eigentlich ein im oben unter q.1 a.3 [4] ausgearbeiteten Sinne ist und damit von vornherein nicht zum Moralischen gehört, es also keine indifferenten Akte im gibt. Die Beispiele bei Thomas sprechen auch für diese Sichtweise, nennt er doch unter den indifferenten Akten Dinge wie das Kratzen am Hinterkopf. Sobald ein vorliegt – also der Bereich des Moralischen betreten wird – hat jeder Akt mit der Vernunft und ihren Vermögensausübungen zu tun und weist damit gemäß q.6 [2.2.2]-[2.3.2] eine konstitutive Verbindung mit der Ausrichtung eines Vernunftwesens auf das Gelingen des Lebens auf, und so muss keiner von ihnen in den Bereich des Indifferenten, der Adiaphora, verwiesen werden. Jede Handlung im Sinne eines ist also als hinführend und konstiutiv oder als verhindernd und verzögernd für die Vollendung der menschlichen Vernunftnatur zu bewerten, wie gering das Ausmaß dafür auch immer bewertet werden mag: Ob ein Mörder für seine Bluttat ein Anhang 2: Privation, Negation und „schlechthin Übles“
4
genus moris
actus hominis
genus moris
actus humanus
actus humanus
3 4
Stefan Schick im Nachwort zu seiner Übersetzung der Quaestiones disputatae De malo: Thomas von Aquin, Vom Übel/De malo, S. 474. So die Begründung des Arguments bei Schönberger: Die Existenz des Nichtigen. Zur Geschichte der Privationstheorie, S. 35-38, und Schönberger: Thomas von Aquins Summa contra Gentiles, S. 130-131.
280 Literaturverzeichnis Messer mit rotem oder mit schwarzem Griff benutzt, geht entweder auf eine bewusste Wahl zurück, dann ist die Farbwahl ein actus humanus, oder es ist rein aleatorisch, und dann ist es moralisch überhaupt nicht einzuordnen. Es ist daher keineswegs zwingend, innerhalb der actus humani eine moralisch relevante Kontradiktionslehre bei Thomas anzunehmen, genauso wenig wie man gezwungen ist, den Abdeckungsbereich der Adiaphora über den der actus hominis hinaus zu erstrecken. Tatsächlich ist es daher wohl besser, davon zu sprechen, dass im Fall des moralischen Bösen die Privation nicht Privation bleibt, oder deutlicher gesagt: nicht nur Privation bleibt, sondern eine Negation bedingt und einschließt. Vielleicht besser formuliert: Das Negative, das durch malum bezeichnet wird, muss nicht unbedingt, wie der Sprachgebrauch unwillkürlich nahelegen würde, auf einer Negation fußen, sondern es lässt sich als Negatives auch auf eine Privation zurückführen. Davon war oben im „Nachtrag“ zur Interpretation von q.6 bereits im Anschluss an Aristoteles die Rede, und vielleicht ist hier der Ort, das dort angeschnittene Thema ein wenig näher zu betrachten. Das Vergleichsbeispiel im Hinblick auf die Schrift Über die Seele war dort, dass man nach Aristoteles auch auf das „Wissen“ den Begriff der „Privation“ offenbar nicht so recht anwenden kann. „Unwissen“ heißt nämlich streng genommen schlicht soviel wie Nichtwissen und nicht bloß bestehendes „Wissen“, das eben in bestimmten Aspekten als beraubt oder geschwächt zu werten ist. Wer vermeint, 2+2 sei 87, irrt nicht weniger oder mehr als derjenige, der vermeint 2+2 sei 5, obwohl dies „näher“ an der korrekten Lösung zu sein scheint. Wissen ist daher eine Vollendung von Kenntnis, wobei ein Fehlen an dieser Vollendungsgestalt eine Negation darstellt, nicht eine Privation, die ja skalierbar zu denken wäre im Sinne von mehr oder weniger Wissen. Oder vielmehr umgekehrt: Jede Beraubung ist hier als eine Negation anzusehen. Man kann sich diesen Zusammenhang anhand des Beispiels der Lüge klarer machen, die tatsächlich eine Negation der Wahrheit ist und als solche ein Übel. Der objektive Gehalt der Lüge ist die Unwahrheit, die, grammatisch richtig durch das Präfix „Un-“ angezeigt, eine Privation darstellt. Der „subjektive Gehalt“ der Lüge liegt dagegen eigentlich in etwas Positivem, nämlich in einer Affirmation. Leider eben in einer Affirmation der Unwahrheit, und so wird das Übel der Lüge umso schlimmer, je emphatischer dieses positive Affirmationsmoment waltet. Die Lüge ist die Affirmation einer Unwahrheit und damit als eine Negation der Wahrheit hinreichend, oder sogar vollständig, aufgrund zweier Momente bestimmt, die Thomas in seiner Theorie des moralischen Bösen stets miteinander verbindet, ohne damit den extensionalen Bereich des Negativen jemals über das hinauswachsen lassen zu müssen, was privativ einzufangen ist. Diese beiden Momente sind die Privation einerseits und die Erklärung der Kraft des Übels aus dem Guten andererseits. – Was dagegen das Spezifikum des Üblen im Moralischen betrifft, so leugnet Thomas dessen Sonderstatus deswegen noch lange nicht: Das Böse ist nicht „bloß“ eine Privation oder ein Fehlen von Geschuldetem, eine privatio debi-
281 ti, sondern eine Negation im gerade beschriebenen Sinne: also eine freie Affirmation solch einer Privation, und zwar frei gemäß dem in q.6 erarbeiteten Freiheitsbegriff. Das Ganze mag deutlicher werden, wenn man auf die Unterscheidungsmöglichkeiten blickt, die Aristoteles in der Kategorienschrift (14a) bezüglich konträrer und kontradiktorischer Gegensätze trifft. Dort heißt es:
Anhang 2: Privation, Negation und „schlechthin Übles“
Weiß und schwarz sind nämlich in derselben Gattung (Farbe ist ihre Gattung, genos), Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind in konträren Gattungen (die Gattung für das eine ist Tüchtigkeit, für das andere Schlechtigkeit), während gut und schlecht/übel/böse (kakon) in keiner Gattung, sondern eben selbst Gattungen von bestimmten Gegenständen sind.5
Auf das eben ausgeführte Beispiel von der Lüge rückübertragen lässt sich daraus der Zusammenhang von Privation und Negation, von konträr und kontradiktorisch im Zustandekommen des moralischen Übels deutlich machen: ein konträres Verhältnis wie Unwahrheit und Wahrheit (also wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit) kann sich in ein ausschließendes – kontradiktorisches – übersetzen lassen, wenn die positive Affirmation des Ungerechten oder Unwahren dazukommt. Wir sprechen dann von böse oder übel. Gleichzeitig lehrt die Aussage des Aristoteles aber auch Folgendes zu beachten: Gut und schlecht sind selbst Gattungen von bestimmten Gegenständen. Das heißt, wie aus anderen Aristotelesstellen deutlich wird, die später zur Entwicklung der Transzendentalienlehre geführt haben: „Sein“ und „gut“ sind koextensional zu denken (vgl. auch oben die Interpretation von q.1 a.2 [3.2]-[3.3]). Schlecht oder übel dagegen nur als Privation von gut. Auch hier wird also offenbar selbst der gattungsübergeordnete Unterschied privativ gedacht – andernfalls wären Graduierungen zwischen gut und böse/schlecht nicht möglich. Das ist für Thomas, wie in q.12 a.1 [2.1] gesehen, von Bedeutung, und daher soll davon jetzt noch einmal kurz die Rede sein: Aus diesen Konstellationen wie aus den Überlegungen zu den „moral absolutes“ im Anhang 1 wird ersichtlich, dass der Bereich des Moralischen, im Sinne des aristotelischen Lobenswerten und Tadelnswerten, bei Thomas genaue Grenzen kennt, die etliche philosophische Moraltheorien der Folgezeit nicht zu akzeptieren bereit waren. Dazu gehört der Ausschluss solchen Tuns oder Nichttuns, das aus Zwangssituationen entstünde, in denen kein Wählen des Guten mehr möglich ist – falls es solche Situationen strenggenommen wirklich gibt. Dazu gehört auch die Ausscheidung von aus dem Bereich des Tadelnswerten und Lobenswerten sowie die Klärung des Verhältnisses von Adiaphora und . Dabei ist der Grundgedanke bei Thomas klar zu ermitteln und widerstandslos zu erkennen, wenn auch vielleicht nicht einfach zu handhaben: Es gibt nichts, was am Menschen nicht vernunftförmig im Sinne seiner ontologischen actus hominis
actus
hominis
5
Übersetzung nach K. Oehler, Kategorien, in: Aristoteles Werke I,1 (Hg. E. Grumbach und H. Flashar). Vgl. dazu auch Topik 107a 3-17 und die Nikomachische Ethik 1096a 23-29.
282 Literaturverzeichnis Aufmachung wäre. Doch ist damit nicht schon alles Tun des Menschen eine Handlung, wie sie auch den Einsatz der Vernunft voraussetzt, also die Inanspruchnahme oder Ausübung der ontologisch verankerten Vernunftanlage. Das von Aristoteles hergeleitete Beispiel mit Wissen und Nichtwissen ist daher im Hinblick auf die moralische Theorie und für den hier interessierenden Zusammenhang bei Thomas wie folgt zu spezifizieren und in einen richtigen Zusammenhang zu stellen: Zunächst ist es korrekt, dass eine falsche Handlung als moralisch schlechte auch eine Negation einer guten Handlung darstellt, wenn auch, wie vorher gesagt, wohl durchaus eine aus einer Privation als solchermaßen negierend erklärbare. Tatsächlich betrifft die Logik dieses Wissens-Beispiels in seiner Umsetzung für die moralische Erwägung jedoch nur die Unterscheidung von „gut“ und „schlecht“. Die Unterscheidung der Grade von Schlechtigkeit, die es im genus moris ohne Zweifel gibt, kann dadurch jedoch nicht eingefangen werden. Es wäre, würde man bis ins Letzte ernst damit machen, die Art oder Intensität der bösen Handlung ohne Bedeutung. Dies ist aber nicht richtig. Sogar das Erläuterungsbeispiel des logischen Status des Unterschieds von „Wissen“ und „Nichtwissen“ müsste dem Rechnung tragen, sobald es in Berührung mit dem moralischen Bereich käme, also etwa mit pädagogischen Erwägungen: Auch der Lehrer, der als Mathematiker jedes falsche Ergebnis einer Rechnung unqualifiziert als „falsch“ ansehen muss, wird als Pädagoge einen Unterschied in der Fehlerhaftigkeit der Fehler machen, er wird also – um es gleich in den hier zur Frage stehenden Bereich der Fehlertheorie auszudrücken – in die Privationslogik wechseln. In dieser Hinsicht ist nämlich ein Fehler wie der, als Lösung für 3² eine negative Zahl anzugeben, wesentlich gravierender als der, statt 9 eine andere positive ganze Zahl, die ein Vielfaches von 3 ist, anzunehmen. Ein Blick zurück auf die von Thomas vorgeführte Kontroverse zwischen Stoikern und Peripatetikern in q.12 a.1 kann für diese Variante der Interpretation einen verdeutlichenden Fingerzeig hergeben: Bekanntlich wurde innerhalb der Stoa die Meinung, vertreten, dass die nicht zu leugnende Tatsache, falsch sei falsch und richtig sei richtig, auch zur Annahme zwinge, alles Falsche sei in gleicher Weise nicht richtig. In einem berühmten stoischen Bild ausgedrückt: Ob man sich eine Handbreit oder eine ganze Stadionlänge tief unter Wasser befindet, macht keinen Unterschied dafür aus, dass man keine Luft bekommt und ertrinkt. Thomas weist mit der sokratisch-peripatetischen Tradition mehrfach darauf hin, dass die eine Annahme nicht bezweifelt werden sollte – falsch ist falsch –, dass die zweite allerdings keine Konsequenz daraus darstellt. Auch hier kann man das Gemeinte mit einem Bild veranschaulichen, diesmal eines von Aristoteles: Es gibt nur eine Art, mit 6
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Alle Schuldhandlungen seien gleichwertig, omnia peccata esse paria, heißt es daher folgerichtig bei Cicero, De finibus IV 21. So das stoische Beispiel bei Cicero, De finibus III 48.
283 dem Pfeil das Ziel richtig zu treffen – nämlich mitten ins Schwarze – und alle anderen Arten, den Pfeil in die Zielscheibe zu befördern gehen am Ziel vorbei und sind daher falsch im Sinne von nicht richtig; doch wäre es deswegen doch nicht verkehrt zu sagen, dass es für die Frage der Zielverfehlung sehr wohl relevant ist, in welcher Distanz vom Mittelpunkt sich der Pfeil in die Zielscheibe bohrt. Das gilt für das Treffen oder Verfehlen des moralischen Ziels der eigenen Vollendung als Mensch, des Gelingen des Lebens, noch sehr viel offensichtlicher als für Pfeile und Zielscheiben. Hegel hat dies in seiner Übersetzung des Wortes „Verfehlung“ ‒ hamartia ‒ bei Aristoteles als „Mangel“ richtig eingefangen. Es gilt hier also vielmehr, dass es im Verfehlen und Fehlen ein Mehr oder Weniger gibt, eine Steigerung (prokopê) von gut und übel, wie die Peripatetiker den Stoikern unbeirrt entgegenhielten, und dass dieses sich in Termini der Privation adäquat ausdrücken und verdeutlichen lässt. Das hier gegebene Beispiel des Aristoteles von der Zielscheibe kann also zweierlei verdeutlichen: Wie sich die falsche Handlung als Negation in privativer Logik erklären lässt, und wie diese auch die Unterschiede in Intensität und Fehlerhaftigkeit zwischen falschen Handlungen erklären lässt. Andernfalls könnte Thomas niemals, wie etwa in De malo q.10 a.2 das moralische Urteil fällen, dass bestimmte Arten der Entwendung fremden Eigentums – wie etwa das Abreißen und Verzehren einer Ähre auf einem großen Kornfeld – der Geringfügigkeit des Entwendeten wegen gar nicht als Diebstahl anzusehen sind. Eine moralische Haltung der Art, dass sie in jedem Fall das Abreißen der Ähre als Diebstahl werten müsste, würde sich nach Thomas tatsächlich lebensweltlich ad absurdum führen. Anhang 2: Privation, Negation und „schlechthin Übles“
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Vgl. G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts II, erste Anmerkung zu §140. Vgl. Diogenes Laertios VII 127 (wobei prokopê nicht zuwachsendes oder temporales „Fortschreiten“ heißt, sondern Skalierbarkeit im komparativen Sinne oder „Verbesserung“, also nicht in der zeitlichen Auffassung von Besserung, sondern in der Auffassung von Intensivierung in einem Vergleichsrahmen).
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Personenindex
Albertus Magnus 26, 40, 46, 61–63, 138, 234 Ambrosius von Mailand 219 Anscombe, G.E.M. 18 Anselm von Canterbury 46, 60, 138 Aristophanes 162 Arendt, Hannah 138 Aristoteles 11–12, 20, 23, 26, 33, 39¬–42, 52, 55, 57–59, 61, 70, 73, 83, 87, 105, 107, 110–112, 115– 120, 125–126, 137–138, 144–145, 153, 161–163, 167, 170–171, 180– 183, 186, 192, 195, 199–200, 205– 206, 228, 231, 235–236, 242, 260, 279–283 Augustinus 7, 15–17, 21, 25, 44, 46, 57, 61, 68, 72–73, 77, 89–90, 97, 107, 138, 147, 175, 177–178, 187– 188, 218, 231, 244, 263 Averroes 117, 138 Avicenna 39, 184, 195 Beckermann, Ansgar 269 Boethius 119, 147 Bohr, Niels 7 Bonaventura 38 Borges, Jorge Luis 266–267 Brentano, Franz 273 Catilina 7 Cicero 213, 226 Dante 227 Descartes, René 20, 48, 74, 91–93, 144 Dionysius Areopagita 12, 51, 57, 70, 72, 77, 80, 188, 204, 208–209,
217, 219, 222, 227, 232–233, 245, 257 Eliot, T.S. 247 Empedokles 144 Eumenes von Kardia 17 Frankfurt, Harry 262, 267–271 Frede, Michael 28 Frege, Gottlob 12, 48 Geach, Peter 197–198 Gilson, Étienne 91 Gregor der Große 168, 192, 227 Habermas, Jürgen 197 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 42, 197, 283 Heidegger, Martin 202 Herder, Johann Gottfried 174 Herodot 38 Hume, David 18 Iggy Pop 173 Johannes Damascenus 71, 83 Kallimachos von Kyrene 38 Kant, Immanuel 10, 82, 197, 206 Korsgaard, Christine 125 Kripke, Saul 19 Leibniz, Gottfried Wilhelm 19, 36, 50, 62, 75, 210, 222 Locke, John 264, 268–270 Lorenz, Konrad 207 MacIntyre, Alasdair 110, 275
300 McInerny, Ralph 255–256 Moore, G.E. 265, 268 Nemesius von Emesa 71 Nietzsche, Friedrich 15, 226 Parmenides von Elea 126 Phaidon von Elis 226 Platon 11, 49, 57, 61, 72, 85, 147, 151, 201, 222, 226, 228 Plotin 12 Plutarch 17 Polos von Akragas 72 Proklos Diadochos 56 Rickert, Heinrich 16, 18 Ricoeur, Paul 10 Sallust 7 Scheler, Max 59 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 11, 15, 210 Schiller, Friedrich 11, 206 Sokrates 20, 72, 151, 201, 222, 226 Spaemann, Robert 11, 19 Suárez, Francisco 252 Thomas von Aquin 7–17, 20–30, 36–50, 54–63, 69–92, 100–113, 122–163, 170–189, 194–214, 221– 238, 241–283 Thukydides 162 Waits, Tom 173 Walter Burleigh (Burley) 129 Wilhelm von Moerbekke 73 Wittgenstein, Ludwig 158, 159 Zopyros 226
Personenindex
Sachindex
(Der Sachindex verzichtet auf die Nennung der Vorkommnisse von Gut/gut, Böses/böse, Übel/übel, Schlechtes/schlecht, etc.) 83– 84, 162, 179, 202, 241–246, 250, 263–264, 279–281 Abstraktionsauffassung des Üblen 39–41, 46, 277 Abwesenheit (s. Privation) Adiaphoron/Adiaphora 83, 279–281 Adjektivgebrauch ! attributiv 197–198 ! prädikativ 55, 197 Affekt (s. ) Akrasia (s. Willensschwäche) Akzidens, akzidentell ( ) 38, 54, 65–81, 86 Anthropologie/anthropologisch 23, 151, 173, 175, 186, 194, 201–202, 205, 207, 213, 222–223, 227–229, 234, 237, 243, 270, 278 Äquivokation/äquivok 46, 74–75, 78, 144 Aristotelismus/aristotelisch 11, 19, 23-24, 27, 41, 61, 70–71, 78, 82, 87, 100–101, 107, 122, 129, 131–132, 134, 138, 144, 149, 158, 170–171, 173, 177, 179, 182, 195, 199–201, 205, 208, 213, 222, 231, 235, 238, 243, 261, 273, 281 Auffassungsvermögen/Erfassungsvermögen 181–182, 186, 207, 212– 213, 219, 228, 231–233, 247
actus humanus/actus hominis
passio
per accidens
Ausrichtungsgegenstand/Ausrichtungsobjekt 88, 104, 108-109, 119, 121, 131, 143, 146–147, 155, 167–168, 182–183, 208, 230, 233 (s. Glück) Begehren 83, 154, 168, 179, 183– 186, 209, 212, 218–219, 232, 268 Begierde (s. Begehren) Bestform 58–59 beatitudo
Charakter 12, 15, 27, 43–44, 68, 72, 89–90, 100, 103, 108, 124, 137, 152, 163, 170, 194, 210, 222, 225– 227, 233, 246, 250, 271 Determinismus/determiniert 77, 112, 124, 127, 156, 157–158, 262, 264– 271 Diebstahl 137–138, 153, 217, 224, 283 Disposition 58, 84, 116, 154–155, 171–172, 206, 209, 226 Ehebruch 65, 72, 85–86, 137 Einbuße 14, 54, 277–278 Erstreben/Erstrebenswert(es) 33–34, 39–44, 51, 55, 86, 108, 136, 168, 179, 181, 185, 219, 230–231, 249
302 Eudaimonie/eudaimonia (s. Glück) Emotionen 102, 113, 124, 184, 196, 200, 204, 206, 213 Einzelgut(es)/partikulär(es) Gut(es) 34–35, 42, 45–46, 98, 108–109, 136, 157, 176–178, 183, 185, 202, 218, 227 Formvorgabe 116–117, 127–134, 141, 230, 248, 252, 254 Freiheit 27, 68, 71, 86, 89, 91, 101, 105, 107, 111, 122–124, 126, 132– 134, 141, 145, 148–149, 151, 155– 157, 161–162, 176, 224, 234, 250, 260–274, 281 Gegensatz ! konträr(er) 37, 40, 46, 78, 277, 279, 281 ! kontradiktorisch(er) 78, 279, 281
Gewissen 149 Glück 11, 43, 98–99, 107–109, 119, 123, 127–128, 131, 147–149, 152, 175–176, 183, 236, 262, 268, 275 Gottesbeweis 91, 109, 144, 263, 273 Grundhaltung (s. Habitus) Habitus/habitus 27, 117, 138, 154– 155, 170–174, 178, 180, 188, 207, 260, 267, 270 Handlung 15, 23, 27, 42, 46, 58–59, 68, 71–72, 79–82, 87, 89–91, 97, 99–105, 108–110, 113, 115–118, 120, 122–128, 130, 132–133, 136,
Sachindex
140, 142–143, 147, 149–162, 167, 170–173, 176, 178, 182–183, 188, 194–195, 204–209, 214, 224–225, 231, 233–236, 242–283 Handlungstheorie/handlungstheoretisch 27, 83, 103–104, 139– 142, 156, 162, 205–206, 214, 238, 241–276, 277 Hochmut ( ) 27, 167–169, 174, 177–181, 186–189, 208–209, 236, 247 Hylemorphismus/hylemorphistisch 199, 202, 213, 222, 228, 234, 243, 254, 261, 270 superbia
Intellektualismus/intellektualistisch 138, 143, 149, 156–157, 251, 260, 269 Kausalitat/kausal 17–18, 23, 27, 65, 70–82, 86–87, 101–103, 135, 141, 144, 234, 242, 265, 268, 275 Kommensurabilität/kommensurabel 43, 150, 152, 176, 197, 227 Laster/Hauptlaster 12, 15, 22–23, 100, 108, 154, 170–179, 187–189, 191–192, 194, 207–209, 221, 241, 261, 267, 270–271 Leidenschaft (s. ) 122, 161–163 Lust 55, 85–88, 120, 152, 183–184, 211, 226 passio
liberum arbitrium
Sachindex
303
malum
!
! !
(metaphysisches Übel) 36, 62, 75 poenae 22, 89–90 simpliciter 36, 86–88, 224, 263, 277–278
metaphysicum
Mangel/Ermangelung (s. Privation) Manichäismus 10, 14, 19, 49, 207, 210, 278 Materie 51–52, 56–57, 66, 112, 116, 127, 129–130, 145, 180, 191, 197, 199, 202–203, 217, 228 Menschenbild (s. Anthropologie) Mittel 79, 108–109, 117, 123, 137– 140, 156–157, 174, 178, 206, 209, 248–260, 272, 275, 278 Moral/moralisch ( ) 9–11, 13, 16, 21, 23, 27, 49, 67, 69, 79– 80, 82–83, 85–86, 90, 100–101, 103–104, 107, 112, 115, 125–126, 128, 148–153, 155, 158–161, 171– 172, 176, 179, 185, 196, 204, 206, 209, 211–212, 221, 224, 229, 234– 238, 241, 262–264, 273, 275, 277– 283 Mord 217, 224, 262, 279 Motivation 103–104, 107, 110, 113, 124–125, 159, 205–206, 254 moralis/e
Naturrecht/Naturgesetz 48, 233– 235, 265 Negation 10, 13, 39, 50, 91, 159, 161, 277–283 Neigung 83–84, 92, 99, 116, 124, 127–133, 162, 185, 201, 217–219,
225–227, 242, 245, 249–251, 254, 269–270 Neuplatoniker/neuplatonisch 12, 42, 61, 245, 257, 259 Nichtsein/nichtseiend 37, 47, 51–52, 56–57, 62, 87–88 Norm ( ) 59, 235–236, 254 Notwendig(keit) 34, 47, 66–67, 70– 71, 82, 85–86, 98–99, 103–105, 108–109, 111, 115, 118–124, 127, 131, 134, 136, 139–140, 143, 145– 148, 150, 154–155, 193, 207, 225, 254, 270, 273 norma
150–151 (s. Vernunftordnung) organisch 186, 194, 196, 200–205, 211–212, 236, 274 ordo amoris
ordo rationis
102, 112–113, 120, 141, 151, 154–155, 168, 170, 173–178, 181–186, 191–193, 195– 196, 201, 206–207, 209, 212–214, 221, 225–226, 232–233, 269–271 Perfektion ( ) 56, 58–63, 74–75, 81, 147, 187, 196, 198, 203, 217, 227, 233, 236, 257–260 Peripatetiker/peripatetisch 183, 191, 193–194, 196, 198–199, 282–283 Platoniker/platonisch 20, 49, 51, 56–57, 85, 194, 201, 228, 263 Privation 12–13, 15, 27, 36–37, 39, 44–48, 50, 54, 56–57, 60–63, 72, 75, 77, 87–88, 90–92, 159–61, 204, 210–211, 235, 277–283
passio, passiones
perfectio
304 Privationslehre/Privationstheorie 13–15, 21–26, 36–40, 48–50, 60, 75, 79, 82, 87–88, 91, 101, 172, 195, 205, 207, 210, 238, 277–278 162–163, 171 prohairesis
Schaden 21, 37, 46–47, 72–73, 75, 77, 79–81, 86–87, 174 Schmerz 22, 48, 168, 188, 211–212, 224 Schuld 9, 12, 14, 22–23, 27, 68–69, 89–90, 97, 99–103, 112, 115, 124– 126, 161, 167, 170–173, 188, 191, 209, 219, 224, 263, 268, 280, 282 43, 46–47, 87, 150, 224 46 Sollenszustand 159 Stoiker/stoisch 11, 173, 191–198, 203–207, 212–213, 229, 282–283 Strebensvermögen/Strebevermögen 105, 122, 151, 167–168, 179–188, 194–195, 205, 207, 212–213, 231– 232, 235–236, 242, 247, 274 Substanz, substantiell 12, 45, 53, 61, 78, 80, 86, 90, 145, 199, 225, 228, 238 Sünde (s. Schuld) Synderesis (s. Gewissen) Theodizee 14, 16, 22, 111 Trägerauffassung des Üblen 38–40, 45–46, 63, 195, 277 Trieb (s. ) secundum quid
secundum se
passio
Sachindex Tugend 52, 58–59, 80, 167, 170– 171, 179, 185, 191–193, 196, 202, 235 Velleitas 254, 267, 271, 276 Vernunft 17, 20–21, 23, 47, 67–69, 83–84, 88–91, 105, 107, 109, 118, 128, 131–132, 134–136, 141, 149, 157, 167–168, 172, 174–179, 182, 185–196, 200–207, 212–214, 219, 221, 226, 229, 232–236, 241–242, 247, 249, 251, 257, 260–261, 269, 272, 274–276, 278–279, 282 Vernunftordnung/Vernunftmaßgabe 148, 150–151, 172, 177, 195–196, 204, 231, 278–279 Verstand 18–21, 37, 41, 73, 92–93, 98, 104–112, 116–119, 126–131, 136–138, 141–145, 147, 149, 152, 154, 157–162, 167–168, 171–172, 179–183, 196, 201, 205–207, 212, 217–219, 223, 229–231, 235, 241– 242, 244–245, 248–250, 252–257, 260–261, 273–276 Verursachung (s. Kausalität) (s. Tugend) Vollendung 24, 52–53, 59–60, 91, 105, 123, 129, 144, 147, 161, 183, 185, 198, 200–201, 209, 212, 230, 235–236, 259, 274, 279–280, 283 Vollkommenheit (s. Perfektion) Voluntarismus/voluntaristisch 127, 138, 156–161, 251, 257, 261, 269 Vortrefflichkeit 58–59, 167, 169, 180, 187–188, 210 virtus
Sachindex Wahl 27, 67–68, 83, 85, 87, 89–92, 97, 101, 108, 111–112, 115, 119, 122–124, 126, 130–131, 133, 139– 141, 143, 146, 148, 151–152, 154– 158, 161–163, 170–172, 174, 177, 205, 214, 243, 249–253, 256, 258– 261, 263–267, 271–273, 274, 279– 281 Wahrheit/wahr 23, 37, 45, 47, 52, 93, 98, 115, 117, 126, 136–137, 141, 151, 176, 191–193, 208–209, 231, 249, 263, 265, 280–281 Wesensform 130–135 Wille/Wollen 23, 27–28, 67–70, 72– 73, 81–83, 85–93, 97–163, 167– 183, 185–188, 191–196, 202, 205, 207, 212–213, 217, 219–223, 230– 236, 241–261, 267–279 Willensschwäche (incontinentia) 123, 254 Ziel 10, 12, 20, 29, 33, 41–44, 55, 70–72, 83–84, 86–87, 107, 109, 112, 117, 120, 128, 130, 135–138, 146, 153, 156, 168, 174–176, 178, 182, 184–185, 196, 206, 209, 212, 214, 224, 242, 247–249, 253, 255– 256, 258, 260, 283 Zorn 27, 120, 153–155, 178, 188, 191–199, 203–208, 212–214, 217, 225, 232, 236 Zweck 29, 41, 51, 108, 117, 143, 168, 178, 189, 231, 246–258
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