Theorie der Rechtssicherheit [1 ed.] 9783428584697, 9783428184699

Das Buch versucht, anhand einer analytischen und funktionalen Methode, allgemeine Kriterien zur Feststellung der Element

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Theorie der Rechtssicherheit [1 ed.]
 9783428584697, 9783428184699

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Schriften zur Rechtstheorie Band 299

Theorie der Rechtssicherheit Von

Humberto Ávila

Duncker & Humblot · Berlin

HUMBERTO ÁVILA

Theorie der Rechtssicherheit

Schriften zur Rechtstheorie Band 299

Theorie der Rechtssicherheit Von

Humberto Ávila

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-18469-9 (Print) ISBN 978-3-428-58469-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen verehrten Lehrern Claus-Wilhelm Canaris und Klaus Vogel in Erinnerung gewidmet

Vorwort zur deutschen Ausgabe Das ursprünglich auf Portugiesisch geschriebene Buch will eine allgemeine Theorie der Rechtssicherheit konstruieren und transzendiert somit die brasilianische Rechtsordnung in dem Maß, in dem es allgemeine Kriterien zur Feststellung der Elemente, Grundlagen, Dimensionen und Wirksamkeit der Rechtssicherheit als Rechtsnorm in einer gegebenen Rechtsordnung zu entwickeln versucht. Da diese allgemeine Theorie der Rechtssicherheit aber mehrheitlich anhand von Beispielen aus dem brasilianischen Steuerrecht und in ständiger Bezugnahme auf die Verfassung der Föderativen Republik Brasilien entwickelt worden ist, sind der Text und die Fußnoten mit Anmerkungen in rechtsvergleichender Absicht angereichert worden. Der deutsche Leser kann so die entsprechenden normativen Fundamente im Grundgesetz erkennen. Diese Beispiele zeigen, dass die Ergebnisse dieser Arbeit mit nur sehr geringen Abstrichen auf die deutsche Rechtsordnung übertragen werden könnten. Wenngleich auch nicht so ausführlich und analytisch wie die brasilianische Verfassung, lässt das deutsche Grundgesetz dieselben Grundprinzipien und dasselbe systematische Interesse an der Rechtssicherheit erkennen. Das Grundgesetz besteht in der Tat von Anfang an auf der Konsolidierung eines Staats, der die Herrschaft des Gesetzes gewährleistet und die Würde des Menschen achtet und schützt. Zu diesem Zweck führt es den Sozialen und Demokratischen Rechtsstaat ein und bestimmt als leitende Werte der Rechtsordnung die Freiheit, Gleichheit und den politischen Pluralismus, indem es eine Reihe von Grundrechten schon im ersten Kapitel gewährleistet. In den Kern dieser Grundrechte darf keinesfalls eingegriffen werden, sie entfalten unmittelbare Wirksamkeit und binden alle Staatsgewalten an ihre Anwendung. Es ist kein Zufall, dass der Verfassungsgeber selbst diese Garantien als wesentlich bezeichnet hat. Obwohl die Möglichkeit einer Verfassungsänderung vorgesehen worden ist, hat der Verfassungsgeber ausdrücklich festgelegt, dass jede diese Garantien beeinträchtigende Änderung der Verfassung von der ausdrücklichen Änderung des Verfassungstexts abhängt. Außerdem finden sich im Grundgesetz noch andere Prinzipien und Regeln, die den in der brasilianischen Verfassung vorgesehenen recht ähnlich sind und die der Rechtssicherheit innewohnende Ideale fördern sollen. In Anbetracht der großen Ähnlichkeit zwischen dem vom Grundgesetz statuierten und dem von der brasilianischen Verfassung statuierten Rechtsstaat sind die Schlussfolgerungen hinsichtlich der Rechtssicherheit vollständig auf das heute in Deutschland geltende System anwendbar.

„Gott hat allen Lebewesen den Selbsterhaltungstrieb eingepflanzt. Daher bei allen Menschen und Völkern die Furcht vor dem Tode, das bange Begehr, das Leben und seine Güter vor Untergang und Gefahr zu sichern. Dieser Sicherheitsgedanke ist der Ursprung der Entwicklung aller menschlichen Fähigkeiten, aller Zivilisation. Er befähigte den vorgeschichtlichen Menschen, Steinwerkzeuge sich zu schaffen zur Verteidigung gegen angreifenden Bären; er führte den Menschen dahin, schützende Wohnstätten sich zu errichten, Wälle und Mauern zu bauen zum Schutze des Hauses, des Lagers oder, wie der Limes germanicus und die Große Chinesische Mauer, zum Schutze des Landes. Der Sicherheitsgedanke wurde damit der Vater des Handwerks, der Architektur, des Städtebaues. Zur Sicherung von Leben und Gesundheit nahm die medizinische Wissenschaft mit Biologie, Bakterio­logie und Hygiene ihre glänzende Entwicklung, zugleich als ihre Trabanten alle anderen Naturwissenschaften enfaltend. Zur Sicherung gegen feindliche Menschen entstand das Schwert, das Kriegshandwerk, zur Sicherung gegen zukünftige wirtschaftliche Schäden entwickelte sich der Spartrieb, das Versorgungs- und Versicherungswesen. Die Krönung des Sicherheitsgedankens aber ist der Staat und über allem triumphiert das Recht.“ (Franz Scholz, Die Rechtssicherheit, S. 1) „Das Recht ist ein Mittel zur Sicherheit schlechthin. Es sichert Regierenden und Regierten die wechselseitigen Rechte und Pflichten und ermöglicht damit das Leben in der Gesellschaft. Je sicherer eine Gesellschaft, desto zivilisierter ist sie. Sicher sind Menschen, die gewiss sind, dass das Recht objektiv eins ist und die Verhaltensweisen des Staates oder anderer Bürger nicht von ihm abweichen werden.“ (Geraldo Ataliba, República e Constituição, 2. Aufl., S. 184)

Danksagung Eine Arbeit dieses Umfangs kann nur mit der unschätzbaren Hilfe vieler Menschen zustandekommen. Ihnen allen gilt also mein überschwänglicher Dank. Trotzdem beginne ich die ausführliche Danksagung genau da, wo ich anfangen muss: bei meiner Familie. Ohne die bedingungslose Hilfe meiner Frau Ana Paula, meiner Tochter Georgia und meines Sohnes André hätte ich diese Arbeit nicht fertigstellen, ja nicht einmal beginnen können. So danke ich jedem einzeln und allen zusammen von Herzen für die entscheidend wichtige emotionale Unterstützung und für die Überbrückung der als schmerzhaft empfundenen Ferne. Obwohl ich von meiner Frau die baldige Feststellung erwarte, dass das Produkt unserer Entfernung nicht wertlos ist, hoffe ich, dass die Zeit mir helfe und meine beiden kleinen Kinder eines Tages verstehen, dass dieses Buch, das keine Bilder, Zeichnungen und farbigen Elemente hat, das beste ist, was der sich nach ihnen sehnende Vater ihnen widmen konnte. Es ist fast unmöglich, den Beginn der Erforschung eines so ausgedehnten Gegenstands wie der Steuerrechtssicherheit genau zu terminieren, vor allem, wenn auch die Jahrzehnte mit der Grundausbildung, die vielen der Forschung gewidmeten Jahre oder die lange Zeit der Hochschullehre hinzugerechnet werden. Selbst wenn ich diese indirekten Faktoren außer Acht lasse, darf ich sagen, dass das Nachdenken über das Prinzip der Steuerrechtssicherheit recht früh begonnen hat. Es wurde vor allem im Laufe meiner Kurse seit 2002 am Aufbaustudiengang Rechtswissenschaften der Juristischen Fakultät der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul („Grundprinzipien des Staatsrechts“ und „Rechtssicherheitsprinzip“) und, im Zeitraum von 2000 bis 2004, in meiner Eigenschaft als Gastdozent im Aufbaustudienprogramm Rechtswissenschaften der Juristischen Fakultät der Universität des Bundesstaats Rio de Janeiro („Prinzipien der Rechtssicherheit“) präzisiert und verstärkt. Obwohl alleinverantwortlich für die wahrscheinlichen Mängel und eventuellen Einsichten dieses Buches, habe ich das Bedürfnis, all denen zu danken, die mir die unverzichtbaren Bedingungen seiner Abfassung gewährleistet haben. Die notwendige Forschungsarbeit, die sich direkt auf die konkrete Niederschrift des Buches bezog, wurde von verschiedenen Personen und Institutionen gefördert. Der Alexander-von-Humboldt-Stiftung danke ich für eines der zehn Post-DocStipendien des Programms „Thyssen-Humboldt-Kurzzeitstipendien“, die in allen Wissensbereichen an lateinamerikanische Forscher im Zeitraum von Dezember 2007 bis zum Februar 2009 vergeben worden sind. Entscheidend für die Vergabe des Stipendiums war die Unterstützung von Prof. Dr. Dr. h. c. Klaus Vogel, der ein begeistertes Empfehlungsschreiben ausstellte,

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Danksagung

vielleicht das letzte von seiner Hand, bevor er uns im Dezember 2007 verließ. Ihm ist diese Arbeit in memoriam gewidmet. Ich danke auch Prof. Dr. Ekkehart Reimer, Ordinarius für Steuerrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, der mich zwischen Dezember 2007 und Februar 2008 als Gastforscher des Instituts für Öffentliches Recht aufgenommen und mir in dieser Zeit neben seiner Freundschaft die besten geistigen und materiellen Bedingungen zur Forschung geboten hat, einschließlich der studentischen Unterstützung für die Erstellung des umfassenden Literaturverzeichnisses und die Empfehlung der besten europäischen Antiquare für die Suche nach alten Büchern, die nicht einmal in Universitätsbibliotheken vorlagen. Prof. Dr. Dr. h. c. Paul Kirchhof, der ebenfalls Ordinarius für Steuerrecht an der Universität Heidelberg ist, danke ich für die warmherzige Aufnahme und sein Interesse am wissenschaftlichen Austausch zwischen Deutschland und Brasilien. Gleich großen Dank schulde ich Prof. Dr. Christian Waldhoff, dem Freund und Förderer seit meinem Promotionsstudium an der Universität München, der jetzt Ordinarius für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin ist und mich im Zeitraum von Dezember 2008 bis Februar 2009 als Gastforscher am Kirchenrechtlichen Institut der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn aufgenommen und mir dort alle notwendigen Bedingungen für den Abschluss dieser Arbeit gegeben hat, vor allem durch den Hinweis auf die für die Lösung der wichtigsten Probleme der Arbeit relevante Literatur. Ich danke ebenfalls Frau Prof. Dr. Johanna Hey, Ordinaria für Steuerrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, für die gezielte Diskussion einiger der in dieser Arbeit behandelten Themen und vor allem für ihre treffsicheren Hinweise auf Artikel über eher problematische Themen der Rechtssicherheit. Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann, Ordinarius für Öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtsvergleichung an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Prof. Dr. Roman Seer, Ordinarius für Steuerrecht an der Ruhr-Universität Bochum, und Prof. Ana Paula Dourado von der Universität Lissabon danke ich für die mir bei der Durchführung dieses Forschungsvorhabens erwiesene Solidarität und für den wissenschaftlichen Austausch. Dank gebührt ebenfalls Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus-Wilhelm Canaris, emeritierten Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Arbeitsrecht sowie Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät der Universität München, dem profunden Kenner des Themas des Vertrauensschutzes, für seine unschätzbare Unterstützung beim Forschungsprojekt über Allgemeine Rechtstheorie während meiner Studienjahre in Deutschland und bei der Veröffentlichung meiner Arbeiten in den hart umworbenen deutschen Verlagen und Publikationsorganen. Dank schulde ich auch Prof. Dr. Frederick Schauer, David and Mary Harrison Distinguished Professor of Law an der University of Virginia (USA), nicht nur für die Aufnahme als Visiting Scholar an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Harvard University, an der er damals Professor war, sondern auch für das später

Danksagung

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bezeigte kollegiale Interesse an der Fertigstellung dieser Arbeit und der Empfehlung von angloamerikanischer Fachliteratur über Hauptthemen dieser Arbeit. Einige Professoren haben durch die Diskussion von problematischen Punkten dieser Arbeit einen Beitrag geleistet, sei es durch die Angabe von Fachliteratur, sei es durch die Äußerung ihrer Position. Sie haben hierbei immer als Wissenschaftler agiert und scharfsinnig argumentiert. Natürlich sind sie, wie ich ausdrücklich unterstreiche, nicht für die hier selbständig vertretenen Ergebnisse verantwortlich. So danke ich u. a. den Professoren Dr. Dr. h. c. mult. Robert Alexy, Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie am Juristischen Seminar der Universität Kiel, Prof. Riccardo Guastini, Ordinarius am Dipartimento di Cultura Giuridica „Giovanni Tarello“ der Università degli Studi di Genova, und Shelly Kagan, Clark Professor of Philosophy at Yale University (USA). Ich danke ebenfalls der Abteilung für Wirtschafts- und Arbeitsrecht der Universidade Federal do Rio Grande do Sul für die Gewährung von Forschungsfreisemestern zur Durchführung von Post-Doctorate-Forschungsvorhaben an der Harvard Law School (USA) und an den Juristischen Fakultäten der Universitäten Heidelberg und Bonn in den Jahren 2006 und 2009. Zwei Professoren, denen ich zu Dank verpflichtet bin, sind besonders hervorzuheben: Eduardo Domingo Bottallo und Almiro do Couto e Silva. 1993 habe ich auf dem renommierten und traditionsreichen Kongress über Steuerrecht des IDEPE, dessen Vorsitzender der verstorbene Prof. Geraldo Ataliba war, meinen ersten Vortrag gehalten, da die wissenschaftliche Koordinierung der Tagung einen Artikel von mir angenommen hatte. Ich war damals sehr jung, und wenn ich mit nur einem Wort das in diesem Augenblick vorherrschende Gefühl bezeichnen sollte, würde ich eben den Begriff wählen, der den Gegensatz des Themas dieser Arbeit benennt: Unsicherheit. Hier hat Meister Bottallo mich mit sicherer Hand angeleitet. Ihm verdanke ich gleichfalls die unschätzbare Ehre, auf einer der letzten Auflagen dieses Kongresses einen Vortrag zu halten. Prof. Bottallo ist in seiner maßlosen Großzügigkeit ein Meister in jeder Hinsicht, als Fachmann und als Persönlichkeit. Ich danke ihm für das mir seit 1993 erwiesene Vertrauen. In diese Danksagung schließe ich alle Steuerrechtslehrer ein, die einzeln zu nennen ich mir hier leider versagen muss. Prof. Almiro do Couto e Silva danke ich für die wiederholten Anreize zur kritischen und historisch orientierten Erforschung der grundlegenden Prinzipien des Öffentlichen Rechts in der brasilianischen und ausländischen Fachliteratur. Er ist ebenfalls ein Meister in jeder Hinsicht, als Fachmann und als Persönlichkeit. Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, ihm meinen Dank für seine Freundschaft und die wissenschaftliche Förderung seit meinen inzwischen viele Jahre zurückliegenden ersten Schritten in der Wissenschaft auszusprechen. Abschließend erwähne ich die tiefe Befriedigung angesichts des bloßen Umstands, dass ich mit dieser Arbeit am Wettbewerb zur Besetzung des Lehrstuhls

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Danksagung

für Steuerrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität São Paulo teilgenommen habe. Nachdem ich an dieser Fakultät den Grad eines Privatdozenten in Steuerrecht erworben hatte, war die bloße Beteiligung am Wettbewerb an dieser weltberühmten Fakultät schon Anlass zu großem Stolz. Dieses Gefühl erfährt eine Steigerung, wenn ich mir bewusst mache, dass ich jetzt Inhaber dieses traditionsreichen Lehrstuhls bin. Das Original dieser ursprünglich auf Portugiesisch geschriebenen Arbeit wurde von Peter Naumann übersetzt, dem ich für seine monumentale Arbeit meinen Dank ausspreche. Dank schulde Ich auch Herrn Dr. Heiko Feurer für das gründliche, umfassende Korrekturlesen. Zu guter Letzt danke ich allen erwähnten und nicht erwähnten Personen, die direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst, zur Unerschütterlichkeit meines Vertrauens in den Abschluss dieser Arbeit beigetragen haben. São Paulo, 20. September 2021

Humberto Ávila

Inhaltsübersicht A. Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I.

Rechtfertigung (oder: warum Rechts(un)sicherheit?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

II. Gegenstand (oder: in welchem Sinn wird Rechtssicherheit untersucht?) . . . . . . 62 III. Methode (oder: in welcher Perspektive wird Rechtssicherheit analysiert?) . . . . 64 IV. Plan (oder: wie wird die Analyse der Rechtssicherheit durchgeführt?) . . . . . . . 70 B. Bestimmung der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 I.

Bedeutung der Rechtssicherheit (oder: was kann Rechtssicherheit bedeuten?) . 81

II. Begründung der Rechtssicherheit (oder: welches ist die Grundlage der Rechtssicherheit?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit (was heißt Rechtssicherheit?) . . . . . 210 C. Gehalt der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 I.

Gehalt der Rechtssicherheit (was fordert das Rechtssicherheitsprinzip?) . . . . . . 244

II. Wirksamkeit der Rechtssichterheit (welches sind die Auswirkungen und das Gewicht der Rechtssicherheit?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 Schlussfolgerungen und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642

Inhaltsverzeichnis A. Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I.

Rechtfertigung (oder: warum Rechts(un)sicherheit?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

II. Gegenstand (oder: in welchem Sinn wird Rechtssicherheit untersucht?) . . . . . . 62 III. Methode (oder: in welcher Perspektive wird Rechtssicherheit analysiert?) . . . . 64 IV. Plan (oder: wie wird die Analyse der Rechtssicherheit durchgeführt?) . . . . . . . 70 B. Bestimmung der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 I.

Bedeutung der Rechtssicherheit (oder: was kann Rechtssicherheit bedeuten?) . 81 1. Sicherheit, nicht juristisch verstanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Sicherheit als definitorisches Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 b) Sicherheit als Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Sicherheit als Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 d) Sicherheit als Normprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 e) Finalistische Aspekte – der zu erreichende Zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 aa) Sachlicher Aspekt (welches ist der Inhalt von Rechtssicherheit?) . . . 99 (1) Die Bedeutungen von „Sicherheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (a) Zweckbezogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (aa) In statischer und zeitloser Hinsicht: Bestimmung vs. Erkennbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (bb) In dynamischer und intertemporaler Hinsicht . . . . . . . . 101 (α) Vergangenheitsorientiert: Unveränderlichkeit vs. Ver­ lässlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (β) Zukunftsorientiert: Vorhersehbarkeit vs. Berechenbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (b) Bezogen auf das Fundament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (aa) Sicherheit als Ergebnis der Rechtsidee . . . . . . . . . . . . . 103 (bb) Sicherheit als Ergebnis positiven Rechts . . . . . . . . . . . 104 (2) Die Bedeutungen des Worts „Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 (a) Hinsichtlich der Bezogenheit auf das „Recht“ . . . . . . . . . . . 105 (b) Hinsichtlich auf den Sinn von „Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 bb) Objetiver Aspekt (Rechtssicherheit wovon?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

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Inhaltsverzeichnis (1) Der Gegenstand der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 (a) Normative Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 (aa) Normsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 (α) Sicherheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 113 (β) Sicherheit einer Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (bb) Sicherheit der Normanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (b) Verhaltenssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (aa) Sicherheit des eigenen (Nicht-)Handelns . . . . . . . . . . . 117 (bb) Sicherheit des (Nicht-)Handelns einer Drittperson . . . . 118 (c) Faktische Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (d) Wissenschaftliche Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 (2) Der Verstehensmodus des Gegenstands der Rechtssicherheit . . . 121 (a) Hinsichtlich der Art des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 (aa) Eindeutige Auffassung des Gegenstands . . . . . . . . . . . 121 (bb) Alternative Auffassung des Gegenstands . . . . . . . . . . . 122 (b) Hinsichtlich des Gegenstands des Verstehens . . . . . . . . . . . . 125 (aa) Objektivistische Rechtsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . 125 (bb) Argumentative Rechtsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 cc) Subjektiver Aspekt (Wer sind die Sicherheitssubjekte?) . . . . . . . . . . 126 (1) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (2) Perspektive des Nutznießers der Rechtssicherheit (Sicherheit für wen?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 (a) Rechtssicherheit für den einzelnen Bürger . . . . . . . . . . . . . . 127 (b) Rechtssicherheit für alle Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 (c) Rechtssicherheit für den Staat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 (3) Perspektive desjenigen, der Maßstab zur Feststellung der Rechtssicherheit ist (Sicherheit aus wessen Sicht?) . . . . . . . . . . . . . . . . 129 (a) Rechtssicherheit vom Standpunkt des Normalbürgers betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 (b) Rechtssicherheit vom Standpunkt des Rechtsarbeiters betrach­ tet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 (c) Rechtssicherheit vom Standpunkt des Staates betrachtet? . . 131 (4) Perspektive desjenigen, der Sicherheit gewährleistet (Sicherheit durch wen?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 (a) Rechtssicherheit durch die gesetzgebende Gewalt . . . . . . . . 131 (b) Rechtssicherheit durch die vollziehende Gewalt . . . . . . . . . 132 (c) Rechtssicherheit durch die rechtsprechende Gewalt . . . . . . . 133 dd) Zeitlicher Aspekt (oder: Rechtssicherheit wann?) . . . . . . . . . . . . . . . 134 (1) Moment der Verwirklichung des Sollzustands . . . . . . . . . . . . . . 134

Inhaltsverzeichnis

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(a) Rechtssicherheit heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 (b) Rechtssicherheit gestern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 (c) Rechtssicherheit morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 (2) Moment der Feststellung oder Voraussage des Sollzustands . . . . 139 ee) Quantitativer Aspekt (oder: Rechtssicherheit in welchem Maß?) . . . 140 (1) Hinsichtlich der Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 (a) Rechtssicherheit als Gewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 (b) Sicherheit als Bestimmbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 (2) Hinsichtlich der Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (a) Faktische Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (b) Normative Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 (3) Hinsichtlich des zureichenden Maßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 (a) Geringe Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 (b) Große Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 ff) Rechtfertigungsaspekt (oder: Rechtssicherheit wozu und warum?) . 147 (1) Sicherheit mit funktionalem Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 (2) Sicherheit mit instrumentellem Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 f) Instrumentelle Aspekte  – die notwendigen Mittel zur Erreichung des Ziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 aa) Sachaspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 (1) Menschliches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 (2) Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 bb) Personaler Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (1) Adressat der Handlungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (2) Nutznießer der Handlungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 II. Begründung der Rechtssicherheit (oder: welches ist die Grundlage der Rechts­ sicherheit?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Die Grundlagen im Verfassungsüberbau: die Gesamtsicht . . . . . . . . . . . . . . 164 2. Die Grundlagen in der Verfassungsstruktur: die Teilansicht . . . . . . . . . . . . . 167 a) Unmittelbare Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 aa) Allgemeiner Schutz der „Sicherheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 bb) Gezielter Schutz der „Rechtssicherheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 cc) Schutz vor einer der Folgen der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Mittelbare Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 aa) Durch Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (1) Strukturierende objektive Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (a) Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (b) Prinzip des sozialen Rechtsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

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Inhaltsverzeichnis (c) Prinzip der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (2) Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (3) Subjektive Freiheitsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (a) Vermögensbezogene Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (aa) Prinzip des Eigentumsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (bb) Prinzipien der Berufsfreiheit und der freien wirtschaft­ lichen Betätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (b) Nichtvermögensbezogene Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (aa) Prinzip des Freiheitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (bb) Prinzip des Familienschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 (4) Gleichheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 (5) Menschenwürdeprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 bb) Durch Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (1) Verwaltungsrechtliche Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (a) Sittlichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (b) Öffentlichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 (2) Verfahrensprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 (3) Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (a) Verfassungsänderungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (b) Gesetzmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 (c) Vorzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 (d) Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (e) Verbot einer Abgabe mit Konfiskationswirkung . . . . . . . . . . 202 (f) Ergänzungsgesetzvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 (g) Finanzielle Aktivität des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 (h) Interventionstätigkeit des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 (i) Legitimation für direkte Aktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit (was heißt Rechtssicherheit?) . . . . . 210 1. Begriff der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Begriff der Steuerrechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

C. Gehalt der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 I.

Gehalt der Rechtssicherheit (was fordert das Rechtssicherheitsprinzip?) . . . . . . 244 1. Statische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 a) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 b) Materiale Erkennbarkeit: „Bestands- und Geltungssicherheit“ durch Zugänglichkeit, Reichweite und Möglichkeit der normativen Identifikation 253

Inhaltsverzeichnis

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aa) Normative Zugänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 (1) Über die normative Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 (a) Veröffentlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 (b) Bekanntgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 (2) Über die Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 bb) Normative Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 (1) Kodifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 (2) Allgemeine Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 (3) Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 cc) Möglichkeit der normativen Identifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 (1) Anwendbare Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 (2) Wert der anwendbaren Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 c) Intellektuelle Erkennbarkeit: „Inhaltssicherheit“ durch Normverständichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 aa) Verständlichkeit durch Normklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 bb) Verständlichkeit durch Normbestimmtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 (1) Über die Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 (a) Sprachliche Klarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 (b) Inhaltsbestimmbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 (2) Über die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 (a) Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 (b) Konsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 d) Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2. Dynamische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 a) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 b) Normverlässlichkeit und das Problem der Dauer: „Sicherheit des Übergangs von der Vergangenheit zur Gegenwart“ durch Normstabilität und Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 aa) Normstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 (1) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 (2) Objektive Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 (a) Dauer der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 (aa) Durch Bewahrung der Gehalte: die Ewigkeitsklauseln 290 (bb) Durch Bewahrung der Normen: Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 (b) Unantastbarkeit von einzelnen Situationen aus objektiven Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 (aa) Durch Ablauf der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 (α) Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 (β) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

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Inhaltsverzeichnis (bb) Durch rechtliche Konsolidierung der Situationen . . . . . 296 (α) Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 (β) Vollendete Rechtshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 (γ) Wohlerworbenes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 (δ) Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 (ε) Eingetretener Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 (cc) Durch faktische Konsolidierung der Situationen . . . . . 303 (dd) Durch Ausbleiben eines Schadens . . . . . . . . . . . . . . . . 306 (3) Subjektive Dimension: Unantastbarkeit individueller Situationen aus subjektiven Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 (a) Allgemeine Bemerkungen über den Vertrauensschutz . . . . . 307 (b) Anwendungserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 (aa) Vertrauensgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 (α) Allgemeine Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 (β) Gestaltungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 (bb) Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 (cc) Ausübung des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 (dd) Enttäuschung des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 (c) Äußere Beziehung von Kriterien und Abwägung . . . . . . . . . 344 (d) Vertrauensschutz und Legislative: die Gesetzesänderung . . . 352 (aa) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 (bb) Normativer Gehalt des Rückwirkungsverbots . . . . . . . 355 (cc) Typologie der (Nicht)Rückwirkung . . . . . . . . . . . . . . . 367 (α) Rückbewirkung von Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . 367 (β) Tatbeständliche Rückanknüpfung I . . . . . . . . . . . . 369 (γ) Tatbeständliche Rückanknüpfung II . . . . . . . . . . . . 371 (δ) Vorveranlasste Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 (dd) Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 (e) Vertrauensschutz und Exekutive: die Verwaltungsänderung . 383 (aa) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 (bb) Abstrakt-generelle Tätigkeit der Verwaltung . . . . . . . . 387 (α) Normative Akte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 (β) Verwaltungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 (cc) Individuelle und konkrete Tätigkeit der Verwaltung . . . 391 (α) Verwaltungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 (β) Verwaltungsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 (dd) Untätigkeit der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 (ee) Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 (f) Vertrauensschutz und Judikative: die Rechtsprechungsänderung 400

Inhaltsverzeichnis

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(aa) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 (bb) Begriff der Rechtsprechungsänderung . . . . . . . . . . . . . 402 (cc) Begriff der rückwirkenden Rechtsprechungsänderung . 410 (dd) Gestaltung des Vertrauensschutzes im Fall der Rechtsprechungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 (ee) Mittel des Vertrauensschutzes im Fall der Rechtsprechungs­ änderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 (4) Exkurs: Variation von Entscheidungswirkungen aufgrund der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 (a) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 (b) Durch das deutsche Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . 436 (aa) Anwendungshypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 (bb) Anwendungsprämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 (c) Durch den Obersten Bundesgerichtshof in Brasilien . . . . . . 450 (aa) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 (bb) Fälle der abgemilderten Verfassungswidrigkeitserklärung 457 (cc) Fälle der Unvereinbarkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . 458 (dd) Kritische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 (α) Über Variation von Entscheidungswirkungen im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 (β) Über Variation von Entscheidungswirkungen im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 (ee) Voraussetzungen der Entscheidung mit Wirkung pro futuro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 (α) Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 (β) Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 (γ) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 bb) Normative Wirksamkeit: die „Verwirklichungssicherheit“ . . . . . . . . 507 (1) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 (2) Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 (3) Prämissen des gerichtlichen Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . 510 (a) Institutionneller Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 (b) Prozessrechtlicher Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 (4) Instrumente des gerichtlichen Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . 515 c) Normative Berechenbarkeit und das Problem des Wandels: „Sicherheit des Übergangs von der Gegenwart in die Zunkuft“ durch Vorzeitigkeit, Kontinuität und normative Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 aa) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 bb) Normative Vorzeitigkeit: die „Sicherheit der Wirksamkeit“ durch die Vertagung der Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519

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Inhaltsverzeichnis (1) Vorzeitigkeit des Finanzjahrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 (2) Vorzeitigkeit von neunzig Tagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 (3) Zumutbare Vorzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 cc) Normative Kontinuität: die „rhythmische Sicherheit“ durch Milderung und Übergangsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 dd) Normative Bindungswirkung durch Begrenzung, Rechtzeitigkeit und Willkürverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 (1) Normative Beschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 (a) Strukturelle Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 (aa) Regeln und ihre Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 (bb) Prinzipien und ihre Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 (b) Formale und materiale Grenzen der Gewalten . . . . . . . . . . . 533 (aa) Einleitende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 (bb) Grenzen der Tätigkeit der Legislative . . . . . . . . . . . . . . 534 (α) Äußere Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 (β) Innere Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 (cc) Grenzen der Tätigkeit der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . 540 (α) Äußere Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 (β) Innere Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 (dd) Grenzen der Tätigkeit der Judikative . . . . . . . . . . . . . . 543 (α) Äußere Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 (β) Innere Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 (2) Rechtzeitigkeit: die „Sicherheit der Definition“ durch die zumutbare Dauer des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 (3) Willkürverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 II. Wirksamkeit der Rechtssichterheit (welches sind die Auswirkungen und das Gewicht der Rechtssicherheit?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 1. Normative Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 a) Als Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 aa) In der Dimension des Unterprinzips: definitorische Wirksamkeitsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 bb) In der Dimension des Oberprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 (1) Interpretative Wirksamkeitsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 (2) Neugestaltende Wirksamkeitsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 (3) Abgeleitete integrative Wirksamkeitsfunktion . . . . . . . . . . . . . . 557 (4) Abschirmende Wirksamkeitsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 (5) Stützende Wirksamkeitsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 (6) Neugestaltende Wirksamkeitsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 cc) In der Dimension des Prinzips: ursprüngliche integrierende Wirksamkeitsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561

Inhaltsverzeichnis

25

b) Als zur Regel konkretisiertes Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 c) Als subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 2. Normative Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 a) Binnenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 b) Außenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 aa) Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 (1) Wirksamkeit prima facie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 (2) Wirksamkeit pro tanto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 (3) Strukturelle Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 bb) Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 (1) Rechtssicherheit vs. Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 (2) Rechtssicherheit vs. Staatszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Schlussfolgerungen und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642

Abkürzungsverzeichnis AC Ação Cautelar ADCT Ato das Disposições Constitucionais Transitórias Ação Direta de Inconstitucionalidade ADI Agravo Regimental AG. REG AI Agravo de Instrumento L’actualité juridique. Droit Administratif AJDA AR Agravo Regimental Archives für Öffentliches Recht AöR ARSP Archiv für Rechts und Sozialphilosophie BayVBl. Bayerische Verwaltungsblätter BB Betriebs-Berater BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Bundesverfassungsgerichtsentscheidung Verfassung der Föderativen Republik Brasilien von 1988 CF/88 Recueil Dalloz Sirey D Der Betrieb DB DÖV Die Öffentliche Verwaltung DStJG Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft DStR Deutsches Steuerrecht DStZ Deutsche Steuer-Zeitung DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt Embargos de Declaração ED FESDT Fundação Escola Superior de Direito Tributário FR Finanz-Rundschau FS Festschrift INF Die Information über Steuer und Wirtschaft Internationale Wirtschafts-Briefe IWB Juristische Arbeitsblätter JA Juristische Schulung JuS Jahrbuch des öffentliches Recht der Gegenwart JöR Juristen Zeitung JZ Kölner Steuerdialog KÖSDI Medida Cautelar MC Mandado de Segurança (Sicherungsmandat) MS Neue Juristische Wochenschrift NJW Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ Österreichische Steuerzeitung ÖStZ Organizadores (Herausgeber) Orgs. PGE Procuradoria-Geral do Estado Questão de Ordem QO Revista Brasileira de Direito Público RBDP

Abkürzungsverzeichnis Revista de Direito Administrativo RDA Revista Dialética de Direito Tributário RDDT Revista de Direito do Estado RDE Revue de Droit Public et de la Science Économique RDP Revista de Direito Tributário RDT RE Recurso Extraordinário Revista de Processo RePRO Revue Française de Droit Administratif RFDA Revista dos Tribunais (editora) RT Revista Trimestral de Direito Público RTDP Schweizerische Juristen-Zeitung SJZ Die Steuerberatung Stbg StbJb Steuerberater-Jahrbuch Steuer und Studium SteuerStud Staat und Recht StuR Steuer und Wirtschaft StuW Steuerliche Vierteljahresschrift StVj Thüringisches Verwaltungsblatt ThürVBl. Verfassung und Recht in Übersee VRÜ Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VVDStRL Wirtschaft und Verwaltung WiVerw Wertpapier Mitteilungen WM Zeitschrift für Ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZaöRV Zeitschrift für Gesetzgebung ZG Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht ZLR

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A. Einleitende Betrachtungen „Sicherheit ist hauptsächlich und an erster Stelle ein radikales menschliches Bedürfnis. Das ‚Wissen, woran man sich halten kann‘, ist ein konstitutives Element des Sicherheitsstrebens des Einzelnen und der Gesellschaft. Es ist die gemeinsame Wurzel in den unterschiedlichen Erscheinungsformen des Lebens und Fundament seiner Existenzbedingung als rechtlicher Wert.“ (Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 8) „Sicherheit wird dann zum Thema, wenn Unsicherheit sich ausbreitet. Und je unsicherer die Lebensumstände in der Moderne empfunden werden, desto umfassender werden die Sicherheitserwartungen des Menschen.“ (Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit: Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘ (Teil 2), in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), S. 204) „Hier ist etwas, was meine Lehrer mir nicht erzählt haben, aber das Leben selbst deutlich gemacht hat: jedem Menschen das mitzuteilen, was er wollen kann, das ist eine Wohltat, deren Genuss erfordern würde, dass es wenige Gesetze gibt. Stattdessen gibt es sehr viele Gesetze, und sie folgen schnell aufeinander, lösen einander in rasendem Tempo ab. Im Dickicht ihrer Vielzahl verlieren die Menschen sich wie in einem Labyrinth.“ (Francesco Carnelutti, La certezza del Diritto, in: Rivista de Diritto Civile 20 (1942), S. 81) „Von den zwei traditionellen Elementen einer jeglichen Rechtsordnung, der Sicherheit und dem Fortschritt, opfert die gegenwärtige Vorstellung des Gesetzes absichtlich das erste dem zweiten und unterstreicht damit die politische Natur der Gesetzgebung, während die alte Vorstellung vielmehr von einer spezifisch juristischen und konservativen Rolle des Gesetzes ausging.“ (Georges Burdeau, Essai sur l’évolution de la notion de loi en droit français, in: Archives de Philosophie du Droit (1939), S. 48)

I. Rechtfertigung (oder: warum Rechts(un)sicherheit?) Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Rekonstruktion der Rechtssicherheit im Allgemeinen und der Steuerrechtssicherheit im Besonderen als einem in der Verfassung der Föderativen Republik Brasilien (CF/88) verankerten Normprinzip, vermittels einer Methode, die ihre Unbestimmtheit schrittweise reduzieren und ihr die höchstmögliche Funktionalität zuschreiben kann. Sehr viele Gründe rechtfertigen dieses Vorhaben. Die erste Rechtfertigung liefert die Verfassung. Sie selbst schreibt der Rechtssicherheit eine grundlegende Rolle zu. Diese wird in der Tat schon in der Präam-

30

A. Einleitende Betrachtungen

bel erwähnt, die einerseits einen demokratischen Staat statuiert, der sowohl die sozialen und individuellen Rechte als auch die Werte „gewährleisten“, d. h. „sicher stellen“ soll, darunter den Wert „Sicherheit“ selbst1, andererseits die Freiheit, den Wohlstand, die Entwicklung, die Gleichheit, die Gerechtigkeit und auch die „Sicherheit“ als „höchste Werte“ der Gesellschaft ausweist. Diese Gesellschaft soll nicht nur brüderlich, pluralistisch und vorurteilslos sein, sondern auch auf die „soziale Harmonie“ gegründet und in der inländischen und internationalen „Ordnung“ dem Ziel der „friedlichen“ Lösung von Streitfällen verpflichtet sein. Berücksichtigen wir, dass der Ausdruck „Rechtssicherheit“, wie nachfolgend darzulegen sein wird, u. a. mit den Idealen der Bestimmtheit, Stabilität und Vorhersehbarkeit des Rechts assoziiert wird, stellen wir fest, dass die Brasilianische Bundesverfassung von 1988 schon in der Präambel eine deutliche Sorge um die Rechtssicherheit erkennen lässt, wie die Verwendung von Begriffen wie „Sicherheit“, „gewährleisten“ (auf Portugiesisch assegurar, „sicherstellen“), „Harmonie“ und „Ordnung“ zeigt. Die Präambel des deutschen Grundgesetzes bezieht sich ihrerseits mittelbar auf die Vorstellung der Rechtssicherheit durch Bekundung des Willens zur Verteidigung der nationalen und politischen Einheit und zum Dienst am Frieden in der Welt. Deutschland soll in ein vereinigtes Europa auf der Grundlage gleicher Rechte integriert sein. Die CF/88 enthält gleichermaßen direkte und indirekte Verweise auf „Sicherheit“. Im Titel über die „Grundprinzipien“ statuiert sie einen demokratischen Rechtsstaat (Art. 1), den die Rechtslehre, wie nachfolgend zu beweisen sein wird, mit der Idee der Rechssicherheit verbindet. Im Titel über „Grundrechte und Grundgarantien“ sieht sie nicht nur das Grundrecht auf „Sicherheit“ (Art. 5), sondern auch eine Reihe von „Garantien“, d. h. „Instrumenten zur Gewährleistung“ von Rechten vor. In verschiedenen Normbereichen statuiert sie zahlreiche „Garantien“ und „Einschränkungen“ der Machtausübung, die traditionell als Teilelemente der Rechtssicherheit verstanden werden, wie z. B. die Gesetzmäßigkeit (Art. 5 II und Art. 150 I), das Rückwirkungsverbot (Art. 150 III a) und die Vorzeitigkeit (Art. 150 III b). Das Grundgesetz enthält seinerseits auch mittel- und unmittelbare Bezugnahmen auf die „Rechtssicherheit“. In Art. 20 Abs. 1 statuiert es den demokratischen und sozialen Bundesstaat, in Art. 28 Abs. 1 fordert es die Einhaltung der Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Bundesstaates. Im ersten, den Grundrechten gewidmeten Kapitel statuiert es außerdem eine Reihe von anderen Gewährleistungsinstrumenten, die der Ausübung der Staatsgewalt klare (in den Art. 1 bis 19 benannte) Schranken vorzeichnen. Diese kursorische, ausschließlich auf die Verfassungsbestimmungen gegründete einleitende Feststellung mag für den Nachweis der Tatsache genügen, dass die Rechtssicherheit, unbeschadet des nicht zu bagatellisierenden Dissenses über

1

José Souto Maior Borges, O princípio da segurança jurídica na criação e aplicação do tributo, in: RDDT 22 (1997), S. 25; Geraldo Ataliba, República e Constituição, 2. Aufl., S. 182.

I. Rechtfertigung 

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ihre Bedeutung, Grundlagen, Bestandteile, Dimensionen und Wirksamkeit, die im Verlauf der vorliegenden Arbeit an der ihnen zukommenden Stelle besprochen werden, aus normativer Sicht geradezu eine Präferenz der CF/88 darstellen. Im Steuerrecht erfährt das Rechtssicherheitsideal aufgrund der Regeln der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots, sowie aufgrund der zahlreichen Kompetenzregeln eine stärkere Akzentuierung. So wie die brasilianische Verfassung legt das Grundgesetz schon fest, welche Steuerarten erhoben werden können und welches ihre Bestimmung ist, was das Rechtssicherheitsideal noch deutlicher herausstellt. Machado Derzi kann also mit guten Gründen behaupten, dass im Steuerrecht „die Sicherheit maximal verstärkt wird“2. Wie wir gesehen haben, ist im deutschen Grundgesetz dieselbe Präferenz vom normativen Standpunkt aus erkennbar. Andere Ideale werden jedoch auch durch die Verfassung selbst als fundamental qualifiziert, so z. B. die Ideale der Freiheit oder der Solidarität, die ebensogut Themen monographischer Abhandlungen sein könnten. So ist von Anfang an folgende Frage unabweisbar: warum soll man inmitten einer so ausgedehnten Welt von Themen sich gerade für Rechtssicherheit als Gegenstand einer Dissertation entscheiden? Die erste Rechtfertigung dieser Wahl ist der gegenwärtig bestehende Zustand der Unsicherheit. „Da Sicherheit ein Wert und damit zweipolig und relational ist, impliziert sie logischerweise ihren Gegenwert, die Unsicherheit, dem sie sich entgegenstellt“, so Maior Borges3. Die Sicherheitsanalyse muss also von der Unsicherheit ausgehen4. Damit soll durchaus nicht behauptet werden, dass die Rechtsunsicherheit ein gänzlich neues Thema ist und der konkrete Versuch ihrer Bekämpfung und das wissenschaftliche Ziel ihrer Untersuchung gleichfalls ein Novum sind. Das Studium der Rechtssicherheit ändert sich zwar im Lauf der Zeit und je nach seinem Kontext5. Trotzdem lassen sich in vielen alten Untersuchungen Elemente auffinden, die mittel- oder unmittelbar mit der Rechtssicherheit oder einem ihrer Teilelemente in Verbindung gebracht werden: so lässt im römischen Recht die Diskussion über das ius certum oder über die Pax Romana und die implizierten Begriffe der pax, securitas und libertas einen frühen Embryo der Untersuchung der Rechtsgewissheit erkennen, obgleich diese Begriffe infolge der kasuistischen Natur des römischen Rechts und der Abwesenheit von erst viel später gefestigten staatlichen Institutio-

2 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 159. 3 José Souto Maior Borges, Segurança jurídica: sobre a distinção entre competências fiscais para orientar e autuar o contribuinte, in: RDT 100 (o. J.), S. 19–26. 4 Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 13. 5 Herbert Wiedemann, Rechtssicherheit – ein absoluter Wert? Gedanken zum Bestimmtheitserfordernis zivilrechtlicher Tatbestände, in: Paulus, Gotthard u. a. (Hrsg.), FS für Karl Larenz, S. 202.

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A. Einleitende Betrachtungen

nen nicht umstandslos auf die Gegenwart übertragbar sind6; im 16. Jahrhundert war die Diskussion über die certitudo iurisprudentiae im genauen Sinn ein Versuch, der Rechtskenntnis Rationalität aufzuprägen7; im 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfolgte ein Teil der Debatte über die Kodifikation das Ziel, klare und bestimmte Gesetze zu erarbeiten8; im 19. und 20. Jahrhundert setzten die Untersuchungen über den Schutz der Freiheit und des Eigentums in den Werken von Savigny (18149 und 184010), Meyer (1851)11, von Mohl (1855)12 und Holleuffer (1864)13 nicht nur einen damals bestehenden gewissen Grad an Unsicherheit voraus, sondern bezweckten auch die Gewährleistung der bedrohten Sicherheit vermittels des Rechts und seiner einheitlichen Anwendung; in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen die unmittelbar auf die Rechtssicherheit bezogenen Untersuchungen ein damals bestehendes instabiles Umfeld und die fortschreitende Konstruktion der Rechtssicherheitselemente erkennen, wie die ersten Arbeiten zu diesem Thema von Bendix (1914)14, Rümelin (1924)15, Germann (1935)16 und Scholz (1955)17 neben vielen anderen deutlich machen. Das Thema der Sicherheit wird nicht nur in diesen Werken älteren Datums, sondern auch in neueren Publikationen behandelt, sowohl in Arbeiten, die sich unmittelbar mit Rechtssicherheit im Allgemeinen befassen, als auch in auf Steuerrechtssicherheit bezogenen Arbeiten oder sogar in einigen Arbeiten, die sich auf einige Aspekte der Steuerrechtssicherheit beziehen. Diese Feststellung springt in die Augen, wenn wir die repräsentativsten Arbeiten zum Thema aus Deutschland18, 6

Winfried Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VDStRL 63 (2004), S. 103. 7 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 9; Italo Birochi, Alla Ricerca dell’Ordine, S. 159 ff. 8 Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, S. 354; Rémy Cabrillac, Les codifications, S. 137. 9 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 20 sowie 161. 10 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, S. 322. 11 J. Meyer, Conversations-Lexicon, Bd. 8, Artikel „Sicherheit“. 12 Robert von Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, in: Monographien dargestellt. 13 Carl Eschwin Albert von Holleuffer, Rechtssicherheit, unabhängige Justiz, ministerielle Cabinets-Justiz im Fürstenthum Schwarzburg-Sonderhausen, S. 101. 14 Ludwig Bendix, Das Problem der Rechtssicherheit, in: Weiss, Manfred (Hrsg.), Zur Psychologie der Urteilsfähigkeit des Berufsrichters und andere Schriften, S. 12. 15 Max Rümelin, Die Rechtssicherheit. 16 Oscar Adolf Germann, Rechtssicherheit, in: Methodische Grundfragen, S. 59. 17 Franz Scholz, Die Rechtssicherheit, 1955. 18 Die repräsentativen klassischen Autoren deutscher Sprache sind: Max Rümelin, Rechtssicherheit (1924); Oscar Adolf Germann, Rechtssicherheit, in: Methodische Grundfragen (1935); Franz Scholz, Die Rechtssicherheit, (1955). Vgl. zur Rechtssicherheit folgende neue Publikation: Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit (2006). Vgl. zur Steuerrechtssicherheit: Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem (2002); Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip (2002); Heinz-Jürgen Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht (2004).

I. Rechtfertigung 

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Frankreich19, Italien20, Spanien21, Portugal22, den USA und England23 untersuchen. Die brasilianische Rechtslehre ist da keine Ausnahme. Auch hier gibt es sowohl Untersuchungen allgemeiner Natur über Rechtssicherheit als auch spezifische Arbeiten über Steuerrechtssicherheit24. 19

Die repräsentativen Klassiker sind in Frankreich: Paul Roubier, Théorie Générale du Droit. 2. Aufl. (1951); Paul Roubier, Le Droit transitoire: conflits des lois dans le temps (1929/33, 1. Aufl. 2. Bd.), 1960 (2. Aufl. 1 Bd.), 2008 (Reprint der 2. Aufl.). In der neueren Fachliteratur, s. vor allem: Bernard Pacteau, La sécurité juridique, un principe que nous manque?, AJDA 20 (1995), S. 151; François Luchaire, La sûreté, droit de l’homme ou sabre de M. Prudhomme?, RDP (1989), S. 609; Louis Favoreu, Une convention collective peut-elle comporter des dispositions à caractère rétroactif?, D. 1995–1, Heft 82; Michel Fromont, Le principe de sécurité juridique, AJDA (1996), S. 178; Franck Moderne, Actualité des principes généraux du droit, RFDA (1998), S. 506; Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français (2005). Über Steuerrechtssicherheit s. Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français (1997). 20 Die repräsentativen Klassiker sind in Italien: Enrico Allorio, La certezza del Diritto dell’Economia, in: Rivista del Diritto dell’Economia (1956), S. 1198–1212; Massimo S. Giannini, Certezza pubblica, in: Enciclopedia del Diritto, Bd 6., S. 769–792; Flavio Lopez de Oñate, La certezza del Diritto (1968); Massimo Corsale, Certezza del Diritto e crisi di legitimità (1979); Letizia Gianformaggio, Certezza del Diritto, in: Studi sulla giustificazione giuridica (1986); Claudio Luzzati, La vaghezza delle norme (1990). Aus der neuen Literatur zur Rechtssicherheit s. Enrico Diciotti, Verità e certezza nell’interpretazione della legge (1999); Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá (2005). Über Steuerrechtssicherheit s. Eugenio Della Vale, Affidamento e certezza del Diritto Tributario (2001). 21 Die repräsentativen Klassiker sind in Spanien: J. L. Mezquita del Cacho, Seguridad jurídica y sistema cautelar (Teoria de la Seguridad Jurídica, Bd. 1 und Sistema Español de Derecho Cautelar, Bd. 2) (1989); Gregório Peces-Barba, La seguridad jurídica desde la Filosofia del Derecho, in: Anuario de Derechos Humanos 6 (1990), S. 215–229; Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica (1991). S. die in jüngerer Zeit erschienenen Arbeiten über Rechtssicherheit: Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas (1999); Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal (2000); José Bermejo Vera, El declive de la seguridad jurídica en el ordenamiento plural (2005). Über Steuerrechtssicherheit s. César García Novoa, El princípio da seguridad jurídica en materia tributaria (2000). 22 In der portugiesischen Literatur wären einige grundlegende Texte zu nennen: J. M. Sérvulo Correia, Legalidade e autonomia contratual nos contratos administrativos (1987); José Joaquim Gomes Canotilho, Direito Constitucional e teoria da Constituição, 7. Aufl. (2004); Jorge Miranda, Manual de Direito Constitucional (2003); Jorge Reis Novaes, Os princípios constitucionais estruturantes da República Portuguesa (2004), S. 261 ff. S. neuerdings über Steuerrechtssicherheit Ana Paula Dourado, O princípio da legalidade fiscal – tipicidade, conceitos jurídicos indeterminados e margem de livre apreciação (2007). 23 Die repräsentativen Autoren aus dem angelsächsischen Sprachbereich sind: Jerome Frank, Law and the Modern Mind (1. Aufl. New York, 1930; 2. durchgesehene Aufl. New York, 1949); Lon Fuller, The Morality of Law (1964); Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality (1977); Jeremy Waldron, The Rule of Law in Contemporary Liberal Theory, in: Ratio Juris, Bd. 2, Nr. 1 (1989), S. 79–96. S. neuerdings über Rechtssicherheit: Juha Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law (2003). 24 Die repräsentativsten Klassiker, die sich direkt mit dem Thema befasst haben, sind in Brasilien: Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito (1964); Miguel Reale, Revogação e anulamento do ato administrativo. 2. Aufl. (1980). S. neuerdings zur Rechtssicherheit Patrícia Ferreira Baptista, Segurança jurídica e proteção da confiança legítima – análise

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A. Einleitende Betrachtungen

Insgesamt greifen diese Arbeiten das alte Thema der Rechtssicherheit auf, vertiefen einige seiner Subelemente, namentlich die auf den Vertrauensschutz und das Rückwirkungsverbot bezogenen, und untersuchen einige Subthemen jüngeren Datums, so etwa die Rechtsprechungsänderung. Zwei Gründe rechtfertigen jedoch eine erneute vertiefte Beschäftigung mit dem Thema: der heute bestehende Zustand der Unsicherheit, einerseits, und die Art und Weise seiner Behandlung durch die Rechtslehre, andererseits. Die Rechtsunsicherheit hat heute einen früher unbekannten Grad erreicht. Begriffe wie „Komplexität“, „Dunkelheit“, „Ungewissheit“, „Unbestimmtheit“, „Instabilität“ und „Diskontinuität“ der Rechtsordnung verdeutlichen diesen Zustand. Die Rede ist sogar von „Gesetzesflut“, „Gesetzgebungshysterie“ und „Gesetzgebungschaos“25. Die Rede ist von „normativem Orkan“26, einer „gesetzgeberischen Inkontinenz“27, einer „Normenschwemme“28 und einer „wahren Orgie der Gesetzesproduktion“29. Die Kennzeichnung der Natur des Rechts als unstabil, vorübergehend und aleatorisch ist heute geradezu eine Banalität30. Wie ist dieses Ausmaß an Unsicherheit zu erklären? In der ausschließlichen Absicht, einen das vorliegende Forschungsvorhaben rechtfertigenden ersten Bezugspunkt anzugeben, sollen nachfolgend die Ursachen gesellschaftlicher und rechtlicher Natur der heutigen Unsicherheit angeführt werden. sistemática e critérios de aplicação no Direito Administrativo brasileiro (2006). Zur Steuerrechtssicherheit s. José Souto Maior Borges, O princípio da segurança jurídica na criação e aplicação do tributo, in: RDDT 22 (1997), S. 24–29; Paulo de Barros Carvalho, O princípio da segurança jurídica no campo tributário, in: RDT 94 (o. J.), S. 21–31; Misabel de Abreu Machado Derzi, Mutações, complexidade, tipo e conceito, sob o signo da segurança e da proteção da confiança, in: Torres, Heleno (Hrsg.), Estudos em homenagem a Paulo de Barros Carvalho. São Paulo, S. 245–284 (2007); Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Segurança jurídica e normas gerais tributárias, in: RDT 17–18 (1981), S. 51–56; Luís Eduardo Schoueri, Segurança jurídica e normas tributárias indutoras, in: Ribeiro, Maria de Fátima (Hrsg.), Direito Tributário e segurança jurídica, S. 117–146 (2008); Ricardo Lobo Torres, Segurança jurídica e as limitações ao poder de tributar, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação, S. 429–445 (2007); Ricardo Lobo Torres, Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, in: Silva Martins, Ives Gandra da (Hrsg.), Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, S. 61–77 (2007); Ricardo Lobo Torres, Liberdade, segurança e Justiça, in: Carvalho, Paulo de Barros (Hrsg.), Justiça Tributária, S. 679–705 (1998); Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional, Financeiro e Tributário, Bd. 2, S. 167–180 (2005); Ricardo Lodi Ribeiro, A segurança jurídica do contribuinte (2008). 25 Dieter Grimm, Normenflut – eindämmbar?, in: Die Verfassung und die Politik, S. 151; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 1 sowie 63, 73; Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 25; Paulo de Barros Carvalho, O princípio da segurança jurídica no campo tributário, in: RDT 94 (o. J.), S. 22. 26 José Luis Palma Fernández, La seguridad jurídica ante la abundancia de normas, S. 14. 27 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 100. 28 Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 45. 29 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 334. 30 François Ost, Le temps du Droit, S. 281.

I. Rechtfertigung 

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Die gesellschaftlichen Ursachen beziehen sich auf Merkmale der gegenwärtigen Gesellschaft. Wir leben in einer pluralen Gesellschaft, die auch Risikogesellschaft, globale Gesellschaft oder Informationsgesellschaft genannt wird31. Dieser Gesellschaftstypus zeichnet sich zuallererst durch die enorme Informationsmenge aus. Man denke an die Unmenge der Gesetze, der Ergänzungsgesetze, der Verordnungen, der normativen Anweisungen, der normativen Gutachten, der Konsultationslösungen, bezogen auf die drei Regierungsebenen im Bundesstaat und auf jede der im Nationalen Abgabensystem (scil. Brasiliens) bezogene Abgabe. Nun nehme man zusätzlich auch das internationale Recht, das Europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsvergleichung hinzu. Man denke nur einen Augenblick über die Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen über jede dieser Normen und über die zu ihnen veröffentlichten Bücher und Artikel nach. Der Nachweis der These erfolgt praktisch intuitiv: die Informationsmenge ist gigantisch. Obwohl dieses Informationsmaterial ein besseres Verständnis der Welt ermöglicht, leistet es paradoxerweise auch einen Beitrag zur Verstärkung der Ungewissheit: je größer die Informationsmenge, desto größer die Möglichkeit einer Zukunftsprognose; je größer die Informationsmenge, desto größer aber auch das vorab zu Bedenkende und Erwängende. Das erweiterte Wissen führt somit zu einer Zunahme des Unsicherheitsgefühls: der Bürger weiß mehr, aber eben weil er mehr weiß, weiß er auch, was er vorhersehen muss und was in der Zukunft möglicherweise nicht eintreten kann. Einst lag die Zukunft in Gottes Hand; durch die Säkularisierung wurde sie in Menschenhand gelegt, weshalb der Mensch sie nun durch Planung, nicht durch „Divination“32, beherrschen muss. Nun ist aber die Zukunft infolge der modernen Gesellschaft und der sich aus dem technologischen Fortschritt ergebenden Zunahme der Beziehungskomplexität größer geworden33. Auf der Suche nach Sicherheit ist der Mensch paradoxerweise unsicherer geworden. Zuviel Information schlägt am Ende in ihr Gegenteil, die Desinformation, um34. Diese Situation verschärft sich in Brasilien infolge der Inflation der Normenproduktion, nicht nur von Gesetzen, sondern auch von Verordnungen mit Gesetzeskraft (medidas provisórias)35.

31 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 218; Ulrich Beck, Risikogesellschaft, S. 07 sowie 25; Christian Calliess, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats – und Verfassungsverständisse, in: DVBl 118 (2003), S. 1096–1105. 32 Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit: Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘ (Teil 2), in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), S. 201 sowie 208. 33 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 68 sowie 73, 116; Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 31; Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 54. 34 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 8. 35 Odete Medauar, Segurança jurídica  e confiança legítima, in: Ávila, Humberto (Hrsg.). Fundamentos do Estado de Direito, S. 118.

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A. Einleitende Betrachtungen

Dieser Gesellschaftstypus zeichnet sich zweitens durch eine enorme Verschiedenheit der Interessen aus. Jeder Einzelne versucht in den Rechtsnormen seine Interessen zu schützen. Es gibt die Frauen, die Einwanderer, die ethnischen Minderheiten, die Umweltschützer, die Verbraucher, die Liberalen, die Konservativen, die Industriellen, die Arbeitnehmer, die Exporteure. Die Aufzählung ließe sich ohne absehbares Ende fortsetzen. Deshalb spricht man von Gruppenmentalität und moralischem Zerfall36. Jede Gruppe versucht auch, die Setzung von ihren Interessen dienlichen Normen zu forcieren. In einer so beschaffenen Gesellschaft kann man, nach der ironischen Bemerkung von Sendler, nicht mehr mit den zehn Geboten leben37. Zudem fallen die genannten Interessen nicht immer zusammen. Vielmehr kollidieren sie oft, wobei dann dem Staat ihre Koordinierung durch den Erlass neuer Normen obliegt. Diese Normen nehmen also nicht nur zahlenmäßig zu, sondern werden auch quantitativ und qualitativ immer komplexer: in quantitativer Hinsicht, da nicht nur allgemeine und dauerhafte Normen veröffentlicht werden, sondern gleichermaßen Ausnahmenormen (zur Regelung von Grenzfällen), vorübergehend gültige Normen (zur provisorischen Regelung der Fälle) und Übergangsnormen (zur Ermöglichung des Übergangs von früheren zum späteren Normensystem)38, und in qualitativer Hinsicht, da diese Normen zur Lösung technischer und spezifischer Probleme bestimmt sind (von schwierigen steuerrechtlichen bis zu anspruchsvollen Umweltschutzproblemen). Deswegen spricht man auch von einem „Wertpolytheismus“. Dieser Begriff bezieht sich auf die Vielfalt der in der Gesellschaft geltenden Werte, die nicht in absoluten begrifflichen Konzepten erfassbar sind39. Der oben spezifizierte Prozess rechtfertigt einerseits das Ansichziehen des Schutzes des Einzelnen durch den Staat bei asymmetrischer Lage der sozialen Interessen, wie z. B. in den Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Verkäufern und Verbrauchern und natürlich auch zwischen Bürgern und Staat40. Er erklärt auch die (durch Verwirklichung, Koordinierung oder Aufsicht erfolgende) Übernahme neuer Aufgaben durch den Staat, wobei diese neuen Aufgaben oft als public policies ausgewiesen werden, wie beispielsweise die Vollbeschäftigung, das Wirtschaftswachstum, die Erziehung, die Gesundheit, der Kampf gegen die Inflation, der Katastrophenschutz, darunter gleichermaßen Tätigkeiten, die im höheren oder geringeren Maß direkt Privatleuten auferlegt wurden, wie der Umweltschutz oder die Sicherstellung des freien Wettbewerbs41. Neben diesen Funk 36

Brian Z. Tamanaha, Law as a Means to an End – Threat to the Rule of Law, S. 103. Horst Sendler, Mehr Gesetze, weniger Rechtsgewährung?, in: DVBl 15. 09. 1995, S. 979. 38 Luigi Ferrajoli, The past and the future of the rule of law, in: Costa, Pietro / Zolo, Danilo (Hrsg.), The Rule of Law – History, Theory and Criticism, S. 337. 39 Gianluigi Palombella, Dopo la Certezza – Il Diritto in Equilibrio tra Giustizia e Democrazia, S. 11. 40 Dieter Grimm, Normenflut – eindämmbar? in: Die Verfassung und die Politik, S. 152. 41 Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 50; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 330; César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 32; Christian Calliess, 37

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tionen übernimmt es der Staat auch, die Bürger zu einem den öffentlichen Zwecken konformen Verhalten zu veranlassen42. Hier wird also die Konzeption des liberalen Staates in Richtung des (einflussproduzierenden) anspornenden Staats überwindet, im zwar durch den (Leistungen erbringenden) Vorsorgestaat, den (Pläne vorgebenden) antreibenden Staat und den (Programme vorschlagenden) reflexiven Staat. Im Bereich des Motivationsstaats werden Bindungen der Koordinierung und Kooperation hergestellt43. Der gelegentlich zum Eingriff in die Gesellschaft strapazierte Staatsinterventionismus erfordert, verbunden mit der Beschleunigung und Vervielfältigung sozialer Beziehungen, eine Zunahme der Menge der Gesetze, die immer mehr mit allgemeinen und Ausnahmeregeln angefüllt und auf zweckbezogene Normen oder Zielnormen gegründet sind44. Dieses eingreifende Staatshandeln erlaubt ebenso die Zunahme der sog. „Omnibusgesetze“, die in einem einzigen Gesetzgebungsinstrument Änderungen in großen und kleinen Bereichen der Rechtsordnung einführen45. Ein schönes Beispiel ist das Gesetz Nr. 11.941 vom 27. Mai 2009, das in einem einzigen Gesetzestext von über vierzig Seiten eine große Menge von Themen behandelt hat, von Regeln zur Ratenzahlung bis zu Tatbestandsregeln zahlreicher Bundessteuern. Dieses Handeln macht auch die Zunahme der Verwaltungsakte verständlich, die bürgerbegünstigende Vorteile im Allgemeinen und steuerzahlerbegünstigende Verwaltungsakte im Besonderen schaffen. Mehr denn je ist das Verwaltenhandeln nicht mehr nur restriktiv, sondern dienen auch als Instrument staatlichen Handelns, das verschiedenartige Vorteile für die Einzelbürger schafft46. Mehr noch: statt sich vertikal in die Position zu versetzen, den Privatpersonen Einschränkungen aufzuChristian Calliess, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats – und Verfassungsverständisse, in: DVBl 118 (2003), S. 1096–1105. 42 Luís Eduardo Schoueri, Segurança na ordem tributária nacional e internacional: tributação do comércio exterior, in: Barreto, Aires Fernandino u. a. (Hrsg.), Segurança jurídica na tributação e Estado de Direito, S. 376. 43 Judith Martins-Costa, Almiro do Couto e Silva e a re-significação do princípio da segurança jurídica na relação entre Estado e cidadãos, in: Ávila, Humberto (Hrsg.), Fundamentos do Estado de Direito – estudos em homenagem a Almiro do Couto e Silva, S. 137. 44 Eros Roberto Grau, Ensaio e discurso sobre a interpretação / aplicação do Direito, S. 45; Ricardo Lobo Torres, Segurança jurídica e as limitações ao poder de tributar, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação, S. 440; Luís Eduardo Schoueri, Segurança jurídica e normas tributárias indutoras, in: Ribeiro, Maria de Fátima (Hrsg.), Direito Tributário e segurança jurídica, S. 118; Almiro do Couto e Silva, Princípios da legalidade da Administração Pública e da segurança jurídica no Estado de Direito contemporâneo, in: Revista da Procuradoria-Geral do Estado do Rio Grande do Sul / Cadernos de Direito Público 57 (2003), Bd. 19; Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 113; Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 28; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 334 sowie 340. 45 Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 77. 46 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 1; Almiro do Couto e Silva, Problemas jurídicos do planejamento, in: RDA 170 (1987), S. 13.

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A. Einleitende Betrachtungen

erlegen, sucht der Staat sie auf, um mit ihnen horizontale Bindungen der Kooperation einzugehen und damit die Bewegung zu rechtfertigen, die man „Flucht ins Privatrecht“ zu nennen übereingekommen ist47. Diese neue Auffassung der Staatsaufgaben veranlasst seinerseits die kontinuierliche Erfindung neuer Rechtsgebiete wie des Umwelt- oder Telekommunikationsrechts oder gar neue Auffächerungen der traditionellen Rechtsgebiete, wie es im Steuerrecht und seinen Teilgebieten (dem Umweltsteuerrecht oder dem Internationalen Steuerrecht) der Fall ist, um hier nur einige zu nennen und andere, die einen noch höheren Spezialisierungsgrad aufweisen, wie beispielweise das Atomrecht, das Immissionsschutzrecht, das Gentechnikrecht, das Datenschutzrecht usf.48. Diese zunehmende Auffächerung erhöht nicht nur die Komplexität des Rechts, sondern führt auch zum Phänomen der Überspezialisierung: so wissen die Fachleute zuerst immer weniger von immer mehr und dann immer weniger von immer mehr49. Interessant ist, dass dieser neue Stand der Staatstätigkeit primär nach dem Erlass neuer Gesetze verlangt, obwohl er sekundär durch die Verwaltungstätigkeit zustandekommt50. Damit entstehen zwei Paradoxien. Einerseits muss der Staat, woran Gusy erinnert, alles können und dürfen, um den Einzelnen zu schützen und die Risiken für seine rechtliche und soziale Sicherheit zu neutralisieren. Wo dies aber eintritt, wird er andererseits aufgrund der von ihm verursachten Freiheitsbeschränkung zur Quelle eben der Unsicherheit, die er abwenden wollte51. Bankowski weist darauf hin, dass bei der Bemühung um Klarheit und Gewissheit und bei der Eliminierung der Konfliktgefahr das Übermaß von Regeln dazu führt, dass die Bürger heteronom agieren, als ob sie durch Rechtsregeln in Bewegung gesetzte Maschinen wären. Dies bewirkt paradoxerweise den Schwund der Autonomie des Einzelnen52. Andererseits wird das Problem des Rechtsdefizits durch Rechtsvermehrung gelöst, die allerdings neue Probleme und deren immanente Komplexität und Ungewissheit hervorbringt. Kurz, aus Lösungen werden Probleme. Die Paradoxie ist in der Tatsache begründet, dass der Kampf gegen Unsicherheit zur Unsicherheit beiträgt. Das Phänomen der Zunahme staatlichen Eingriffs ist jedoch nicht linear. Im Augenblick, in dem der Staat nicht alle Tätigkeiten übernehmen kann, zu denen er sich verpflichtet hat, leitet er Privatisierungs-, Liberalisierungs- und Deregulierungs 47 Almiro do Couto e Silva, Os indivíduos e o Estado na realização de tarefas públicas, in: RDA 209 (1997), S. 54 ff.; Fritz Ossenbühl, Vertrauensschutz im sozialen Rechtsstaat, in: DÖV 25 (1972), S. 26. 48 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 90, 271–317; Dieter Grimm, Normenflut  – eindämmbar? in: Die Verfassung und die Politik, S. 155; Klaus-Michael Groll, In der Flut der Gesetze: Ursachen, Folgen, Perspektiven, S. 45. 49 José Luis Palma Fernández, La seguridad jurídica ante la abundancia de normas, S. 86. 50 Dieter Grimm, Normenflut – eindämmbar? in: Die Verfassung und die Politik, S. 153. 51 Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 160. 52 Zenon Bankowski, Living Lawfully: Love in Law and Law in Love, S. 40.

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prozesse ein, die zur Öffnung der Wirtschaft führen und Wettbewerber bei der Durchführung von zuvor dem Staat vorbehaltenen Aufgaben auf den Plan rufen53. Diese Bewegung reduziert nicht die Komplexität der Rechtsordnung: zum einen deshalb nicht, da der Staat bei fortgesetzter Durchführung von Grundaufgaben die Rolle der Kontrollinstanz der Wahrnehmung des Interesses der Öffentlichkeit durch Privatpersonen übernimmt, was die Zunahme der Regeln staatlicher Regulierung und der auf sie bezogenen Prozesse impliziert; zum anderen, weil die ausbleibende Verwirklichung des öffentlichen Interesses durch die Privatperson dazu führt, dass der Staat seine früheren Funktionen wieder ausübt, was gleichermaßenn neue Regeln erfordert. Sendler äußert sich ironisch zu diesem Phänomen: „Jetzt regulieren wir erst einmal. Später deregulieren wir. Wann mag das ‚später‘ kommen?“54. Der Umstand, dass die Normen nicht nur von einer Stelle erlassen werden, verschlimmert die Situation55. Die Normen können von verschiedenen Körperschaften des öffentlichen Rechts stammen: vom Bund, von den Bundesstaaten Ländern oder von den Gemeinden; sie können auch von einem bestimmten Staat, einer Staatengemeinschaft oder selbst einer internationalen Organisation erlassen werden. Damit entsteht die Möglichkeit eines regionalen, nationalen, supranationalen oder intenationalen Wettbewerbs verschiedener gesetzgebender Körperschaften. Dieser Umstand verhindert die Kohärenz56. Als ob das nicht ausreichen würde, verabschiedet der Gesetzgeber nicht immer Normen mit dem Zweck, ein Problem zu lösen, sondern auch, um die Öffentlichkeit mit einer Norm zufriedenzustellen, von der man von vornherein weiß, dass sie nicht zur Lösung der Probleme beitragen wird. Das sind dann die „Propagandagesetze“, auf die sich Ferrero Lapatza bezieht57. Sie erzeugen das Phänomen, das Novoa „entkoffeinierte Gesetze“ nennt58. Da der Staat eine große Menge von Interessen schützen muss, entscheidet sich die gesetzgebende Körperschaft für die Verabschiedung von Normen mit einem höheren Abstraktionsgrad, die also in der Lage sind, den Interessen aller Bürger gleichermaßen Rechnung zu tragen. Und da die sozialen Prozesse sich durch ihre Dynamik auszeichnen, entscheidet sich die gesetzgebende Körperschaft, wer immer sie auch sei, häufig für die Einführung von Normen mit einer offeneren Normstruktur, um ihre ständige Änderung zu vermeiden, wie im Fall von Prinzipien oder Regeln, die Träger unbestimmter Rechtsbegriffe oder von Generalklauseln 53 Almiro do Couto e Silva, Privatização no Brasil e o novo exercício de funções públicas por particulares. Serviço público „à brasileira“?, in: Revista da PGE / Cadernos de Direito Público 57 (2004), S. 202. 54 Horst Sendler, Mehr Gesetze, weniger Rechtsgewärung?, in: DVBl 15. 09. 1995, S. 981. 55 Christof Münch, Rechtssicherheit als Standortfaktor. Gedanken aus Sicht der vorsorgenden Rechtspflege, in: Weber, Albrecht (Hrsg.), Währung und Wirtschaft. Das Geld im Recht, S. 680. 56 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 218; Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 114. 57 J. J. Ferrero Lapatza, Reflexiones sobre Derecho Tributario y técnica jurídica, in: REDF 85 (1995). 58 César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 139.

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sind59. Um also der größten Menge von Interessen Rechnung zu tragen und dabei isonomisch und flexibel vorzugehen, statuiert der Staat allgemeine und abstrakte Normen mit einem hohen Unbestimmtheitsgrad. Je abstrakter und allgemeiner die Norm sind, desto einfacher sind sie zu verstehen, desto weniger voraussehbar ist jedoch ihr Inhalt, da keine konkreten Elemente hinsichtlich des Erlaubten, Verbotenen oder Gebotenen vorliegen. Der Versuch einer umfassenderen Regelung endet also in einer Verstärkung der Vagheit und Dunkelheit60. Die Bemühung um die Einführung konkreterer Elemente in die Normen zur Stärkung der orientierenden Natur des Rechts erfordert jedoch den Erlass von Regeln mit mehr Details und Ausnahmen. Dies führt beim Gesetzgeber zur Aufgabe des Gesetzgebungsparadigmas der Statuierung von allgemeinen und abstrakten Gesetzen zugunsten von besonderen und konkreten Gesetzen61. Je höher jedoch die Konkretheit und Individualisierung der Normen, desto schwieriger ist ihr Verständnis, obwohl ihr Inhalt auch voraussehbarer ist aufgrund der Einführung konkreter Elemente hinsichtlich des Erlaubten, Verbotenen oder Gebotenen. Das führt zu einem Dilemma und zu einem Paradox. Das Dilemma besteht darin, dass das Recht einfacher sein muss, um zugänglicher zu sein; um aber einfacher zu sein, erfordert es das Absehen von vielen individuellen Besonderheiten, was den Schutz aller Interessen erschwert. Um mehr zu schützen, muss das Recht einer größeren Anzahl von Interessen Rechnung tragen. Dies erfordert jedoch mehr Komplexität, was das Recht daran hindert, leicht verständlich zu sein. Das Dilemma lässt sich also wie folgt fassen: wenn das Recht sicherer ist, da zugänglicher, muss es weniger sicherheitsgewährleistend sein; wenn es sicherheitsgewährleistender ist, da schützender, muss es weniger zugänglich sein. Der Zugewinn an Zugänglichkeit impliziert also den Verlust von Schutzcharakter, und der Zugewinn an Schutzcharakter impliziert den Verlust von Zugänglichkeit. Das Paradox besteht in der Tatsache, dass man, je mehr Sicherheit vermittels des Rechts man gewährleisten will, desto weniger Sicherheit des Rechts erreichen kann. Abgekürzt lässt sich das Paradox also wie folgt formulieren: die Suche nach Sicherheit führt zur Unsicherheit. Unter diesem Aspekt wird das Recht schließlich ein Opfer seiner selbst62. Und der Jurist, der vorher ein bloßer Interpret war, verwandelt sich in eine Art Detektiv, so groß ist die Schwierigkeit der Identifikation der anwendbaren Norm63. Die bloße Beherrschung der Gesetz 59 Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, S. 375; Hinnerk Wissmann, Generalklauseln – Verwaltungsbefugnisse zwischen Gesetzmäßigkeit und offenen Normen, S. 297 ff. sowie 306 ff.; Klaus Messerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 271 ff. sowie 1007 ff.; Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 109; Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 87; Judith Martins-Costa, A boa-fé no Direito Privado, S. 273 ff. 60 Luigi Ferrajoli, The past and the future of the rule of law, in: Costa, Pietro / Zolo, Danilo (Hrsg.). The Rule of Law – History, Theory and Criticism, S. 337. 61 Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 50. 62 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 8. 63 José Luis Palma Fernández, La seguridad jurídica ante la abundancia de normas, S. 14.

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gebung wird damit zu einer Wissenschaft für sich64. Eben deswegen beinhaltet das Rechtssicherheitsproblem immer einen Versuch, vermittels des Rechts auf die vom Recht selbst produzierte Unsicherheit zu reagieren. Die Bekämpfung der Rechtsunsicherheit beinhaltet also einen Kampf des Rechtsssystems „gegen sich selbst“65. Dieser Zusammenstoß darf allerdings nicht maßlos sein, wenn er nicht zu einem paradoxen Ergebnis führen will: die Statuierung von Entscheidungsalternativen ermöglichenden Regeln kann zur Reduktion dieser Entscheidungsalternativen führen, die diese im Extremfall gänzlich abschaffen. Daher die Feststellung, dass die Freiheit, so widersprüchlich das anmuten mag, ein gewisses Maß an Unsicherheit voraussetzt; im gegenteiligen Fall, wie Gusy zu Recht erinnert, „konsumiert das Bedürfnis nach Sicherheit das Desiderat der Freiheit“66. Die Entscheidung für die Statuierung von (in erhöhtem Maß) vagen und (in erhöhtem Maß) unbestimmten Normen führt ihrerseits zu einer verstärkten Regulierung, da sie intensiver der Konkretisierung durch untergesetzliche Normen bedürfen und diese Konkretisierung quantitativ und qualitativ noch komplexer ist als die gesetzlichen Normen es sind. Damit wird die Rechtsordnung übermäßig komplex67. Die Regelung gerät zur Überregelung und führt zu dem, was Janetzki die „Misere der Steuerverwaltung“ genannt hat68. Die gesetzgeberische Tätigkeit wird dann „juristischer Produktivismus“ genannt69. Aus diesem Grund spricht man von einem „État du Droit“ an Stelle eines „État de Droit“70. Goethe hatte schon ironisch zur Vielfalt der Gesetze bemerkt, dass keine Zeit mehr für ihre Übertretung verbliebe, wenn alle sie lernen müssten71. Längst ist eingebautes Kulturgut, dass der Gesetzgeber wie ein Philosoph denken solle, aber wie ein Bauer reden, aber heute stehen wir infolge der eben beschriebenen Prozesse der sozialen und normativen Ausdif 64 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 119. 65 Nicolas Molfessis, Combattre l’insécurité juridique ou la lutte du système juridique contre lui-même, in: Sécurité juridique et complexité du Droit. Conseil d’État. Rapport Public 2006. Études e documents Nr. 57, S. 391. 66 Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 165. 67 Eros Roberto Grau, O Direito posto e o Direito pressuposto, 7. Aufl., S. 187; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 333; Eugenio Della Valle, Affidamento e certezza del Diritto Tributario, S. 16; Jacques Chevallier, Le Droit Économique: l’insécurité juridique ou nouvelle sécurité juridique?, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 561; Jean-Pierre Bours, Sécurité juridique et Droit Fiscal, in: Les Cahiers de l’Institut d’études sur la Justice, Nr. 4 (Sécurité juridique et fiscalité), S. 31. 68 Johannes Jenetzky, Die Misere der Steuerverwaltung. Über die Wirklichkeit der Steuerrechtsanwendung durch die Steuerbehörden, in: StuW 1982, S. 273; Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 47. 69 Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 32. 70 Jean Rivero, État de Droit, état du Droit, in: L’État de Droit. Mélanges en l’honneur de Guy Braibant, S. 610. 71 Goethe apud Horst Sendler, Mehr Gesetze, weniger Rechtsgewährung?, in: DVBl 15. 09. 1995, S. 979.

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ferenzierung vor dem genauen Gegenteil: der Gesetzgeber denkt wie ein ratloser Bauer und schreibt wie ein neurotischer Philosoph-weil, neben anderen Gründen, der vielfache Gebrauch von wechselseitigen Verweisen zwischen Bestimmungen, Rückverweisen von einer zur anderen Bestimmung und allgemeinen Aufhebungen heute zum gesetzgeberischen Alltag gehören72. Damit ist auch das Steuerrecht, mit Verlaub für das Oxymoron, auf ein „juristisch irrationales System“ gegründet73. Verschärft wird dieses bisher beschriebene Szenario der normativen Ungewissheit dadurch, dass die Interessen nicht nur unterschiedlich sind, sondern von oftmals mächtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppen vertreten werden74. Diese Gruppen verlangen nach schnellen und genauen Antworten zum Schutz ihrer Interessen und verursachen damit eine Art „Subjektivierung des Rechts“75. Je größer die Anzahl der geltend gemachten Interessen ist, desto zahlreicher sind die zu statuierenden Normen, desto zahlreicher ist auch die Nebeneinanderstellung normativer Akte, die unter unterschiedlichen Perspektiven und Umständen und aus unterschiedlichen Gründen zustandegekommen sind76. Das Recht wird allerorten und für alle Interessen gefordert-mit dem Ergebnis eines „totalitarisme juridique“77. Daher agiert die Politik unter Zeitdruck78, und die übereilte Gesetzgebung erhält oft einen experimentellen Anstrich79. Die alte Maxime der „weisen Langsamkeit“ (la sage lenteur) der Legislative, die niemals ohne vorgängiges Studium und Reflexion beschloss, weicht einer Gesetzgebung, die unablässig und wie ein Maschinengewehr Gesetze ausspuckt80. Nicht selten ist sie so fehlerhaft, dass sie sofort von der sie erlassenden Stelle revidiert werden muss. Das erklärt auch die Rede von der ständigen Reform, in der das Recht, insbesondere das Steuerrecht, sich befindet81. Ein schönes Beispiel ist die Verfassungsreform in Brasilien: nach der Veröffentlichung der Verfassung von 1988 sind 110 verfas 72

Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 336. Rubén Asorey, Seguridad juridica y Derecho Tributario, in: RDT 52 (1990), S. 40. 74 Misabel de Abreu Machado Derzi, Mutações, complexidade, tipo e conceito, sob o signo da segurança e da proteção da confiança, in: Torres, Heleno (Hrsg.), Estudos em homenagem a Paulo de Barros Carvalho, S. 248; Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 103; Horst Sendler, Mehr Gesetze, weniger Rechtsgewährung?, in: DVBl 15. 09. 1995, S. 981; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 220 sowie 225; José Luis Palma Fernández, La seguridad jurídica ante la abundancia de normas, S. 28. 75 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 8. 76 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 323. 77 Guy Carcassonne, Societé de Droit contre État de Droit, in: L’État de Droit. Mélanges en l’honneur de Guy Braibant, S. 40. 78 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 271. 79 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 72; Hans-Detlef Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, S. 20 sowie 25; Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 40. 80 Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 48; Manoel Gonçalves Ferreira Filho, Estado de Direito e Constituição, 4. Aufl., S. 49 ff. 81 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 1 sowie 72 ff. 73

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sungsändernde Zusätze angenommen worden, sechs Revisionsänderungen, ganz zu schweigen von ständigen Themen wie dem der Steuerreform, die seit 1992 Gegenstand von Gesetzesentwürfen zur Änderung des Nationalen Abgabensystems ist. Wir leben also in der „Diktatur des Augenblicks“ und der „Kultur der Dringlichkeit“82. Diese Kultur rechtfertigt einerseits das Schlagwort der „high-speed society“, in der alle Probleme so entschieden werden, als ob sich die Gesellschaft in einem permanenten „Ausnahmezustand“ befände, was sich natürlich auch auf die Arbeit der Legislative auswirkt83. Andererseits legitimiert sie die Kennzeichnung der Gesellschaft als einer „liquid society“, in der die Werte des Wandels, der Flexibilität und der Mobilität hochgehalten werden und die räumlichen Dimensionen des gesellschaftlichen und rechtlichen Lebens an Bedeutung verlieren84. Hier zeigt sich eine weitere Paradoxie: um die Wahrnehmung der Interessen der Bürger zu gewährleisten und deren Handeln zu lenken, handelt der Gesetzgeber rasch, aber eben deshalb ist seine Gesetzgebung am Ende verfehlt, wodurch die Ausgabe neuer, die vorgängigen korrigierender Normen notwendig wird. Die Paradoxie ist erkennbar: der rasch handelnde Gesetzgeber handelt schlecht und und muss seine Akte revidieren, wodurch er Unsicherheit befördert; der langsam handelnde gewährleistet die von den Bürgern geltend gemachten Rechte nicht und bietet den Bürgern auch keine Handlungsorientierung, womit er wiederum Unsicherheit befördert. Statt Sicherheit zu garantieren, schafft der Gesetzgeber am Ende Unsicherheit. So entsteht neben dem Phänomen der Partikularisierung der Gesetzgebung das Phänomen ihrschnelles Veralten, mit der Folge, dass das Gesetz seine traditionellen Merkmale der Feierlichkeit, Allgemeinheit und Beständigkeit verliert85. Diese Situation rechtfertigt also die Behauptung, dass es bei zunehmender Gesetzesmenge weniger und bei abnehmender Gesetzesmenge mehr Recht gibt86. Da der Staat im Zeitalter des Sozialstaats und der Risikogesellschaft Aufgaben übernimmt, einschließlich der Aufgabe der Korrektur der Ungleichheit und der Aufgabe der Wiederherstellung des Gleichgewichts, werden Normen statuiert, die individuell auf die Bedürfnisse und Wünsche bestimmter Gruppen oder Sektoren zugeschnitten sind, was auch zur Zunahme der Gesetzesmenge und zur Verkümmerung der Grundmerkmale von Gesetzen, ihrer Abstraktion und Allgemeinheit, beiträgt87. Im Steuerrecht ist dieses Phänomen an der Zunahme der steuerlichen Vergünsti 82

François Ost, Le temps du Droit, S. 293. Hartmut Rosa / William Scheuermann, Introduction, in: Rosa, Hartmut / Scheuermann, William (Hrsg.), High-speed society: social acceleration, Power and modernity, S. 14 sowie 27. 84 Anton Schütz, How aufarbeiten ‚Liquid Society‘? Zygmunt Bauman’s Wager, in: Pribán, Firi (Hrsg.), Liquid Society and Its Law, S. 42–60. 85 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 105 sowie 128; Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 31. 86 Horst Sendler, Mehr Gesetze, weniger Rechtsgewährung?, in: DVBl 15. 09. 1995, S. 978. 87 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 337; Fritz Ossenbühl, Vertrauensschutz im sozialen Rechtsstaat, in: DÖV 25 (1972), S. 26; Klaus-Michael Groll, In der Flut der Gesetze: Ursachen, Folgen, Perspektiven, S. 41. 83

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gungen erkennbar, die durch Vereinbarungen zwischen der öffentlichen Hand und dem Steuerzahler gewährt werden, zur Korrektur der angeblichen regionalen oder wirtschaftlichen Verzerrungen. Wesentlich ist hier, dass das Steuerrecht aufgrund der sozio-ökonomischen Komplexität notwendig auch überkomplex ist88. Da die Gesetzesauslegung Werturteile impliziert und Abwägungsargumenten folgt, sind die Unverständlichkeit und Instabilität der Normen auch in der Tätigkeit der Judikative erkennbar89. Wahrnehmbar sind nicht nur unterschiedliche Auslegungen verschiedener Spruchkörper, sondern auch unterschiedliche Auslegungen desselben Spruchkörpers. Nehmen wir als Beispiel den Obersten Bundesgerichtshof der Föderativen Republik Brasilien, in dessen Entscheidungsbereich mehrere Fälle gefunden werden können, die auf eine Änderung der Rechtsprechung hinweisen. Im Steuerrecht sind derartige Fälle sehr häufig. Im Hinblick auf die Zahlung von Steuerschulden durch Hingabe an Zahlungs Statt verneinte der Gerichtshof 2003 die Kompetenz des Bundesgliedstaats zur Schaffung neuer Formen der Tilgung von Abgabenforderungen90. 2007 ging er aber dazu über, sie zuzulassen91. Mit Bezug auf die Hinterlegung der prozessualen Sicherheitsleistung in Höhe von 30 % des Streitwerts für die Annahme des Widerspruchs hat sich der Gerichtshof 1995 für seine Vereinbarkeit mit dem ordnungsgemäßen Verfahren ausgesprochen92. Derselbe Gerichtshof hat sich 2007 für die Unvereinbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip ausgesprochen, mit dem Recht auf Antragstellung und dem Verhältnismäßigkeitsgrandsatz93. Bezüglich des Rechts auf Warenumsatzsteuerforderungen bei Geschäften, die durch eine Senkung der Berechnungsgrundlage begünstigt worden waren, stellte das Gericht 1997 die Verfassungswidrigkeit der Vorsteuerabzug verbietenden Norm aufgrund des Konflikts mit dem Nichtkumulativitätsprinzip fest94. 2005 erkannte es ihre Verfassungsmäßigkeit an, da es davon ausging, dass die Senkung der Berechnungsgrundlage eine partielle Steuerbefreiung sei95. Mit Bezug auf die Anwendung der Vorzeitigkeitsregel im Fall der Steuerbefreiung hat das Gericht in einer Entscheidung von 1993 anerkannt, dass diese Regel nicht auf den Fall der Rücknahme der Steuerbefreiung anwendbar ist96. Im Jahr 2006 hat es

88 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 103. 89 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 94. 90 ADI Nr. 1917 MC, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 19. 09. 03. 91 ADI Nr. 2405 MC, Plenum, Berichterstatter: Richter Carlos Britto, DJ 17. 02. 06. 92 ADI Nr. 1049 MC, Plenum, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, DJ 25. 08. 95. 93 ADI Nr. 1976, Plenum, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 18. 05. 07. 94 RE Nr. 161031, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 06. 06. 97. 95 RE Nr. 174478, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, Redakteur des Urteils Richter Cezar Peluso, DJ 30. 09. 05. 96 RE Nr. 99431, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Djaci Falcão, DJ 06. 05. 83. Leitsatz Nr. 615.

I. Rechtfertigung 

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in verfassungskonformer Auslegung allerdings entschieden, dass die Vorzeitigkeit in diesem Fall zu beachten sei97. Der schon genannte Oberste Bundesgerichtshof kann auch Fälle der Rechtsprechungsänderung in anderen Materien vorweisen. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. Mit Bezug auf die fortschreitende Lockerung des Strafvollzugs bei den sog. abscheulichen Verbrechen (crimes hediondos) beschloss der Gerichtshof seit 1993 die Verfassungsmäßigkeit seiner Nichtgewährung, da er davon ausging, dass sie nicht das Prinzip der Individualisierung des Strafmaßes verletz, zumal der Richter dies noch tun könnte, vor allem im Hinblick auf die Intensität des Strafmaßes98. Im Jahr 2006 stellte der Gerichtshof die Verfassungswidrigkeit dieser Nichtgewährungfest, da sie präzise das Prinzip der Strafmaßindividualisierung verletz99. Mit Bezug auf die Forderung eines Wettbewerbs für den Eintritt in eine gemischtwirtschaftliche Gesellschaft ging der Gerichtshof 1993 davon aus, dass es keine Pflicht zur Ausschreibung eines Wettbewerbs für einen Eintritt dieser Art gebe100. Im selben Jahr entschied er jedoch, dass die Selbstverwaltungskörperschaften, staatlichen Betriebe und gemischtwirtschaftlichen Gesellschaften der Regel unterlägen, nach welcher der Zugang zu öffentlichen Arbeitsplätzen durch einen Wettbewerb zu erfolgen hätte101. Bezüglich der Parteitreue war der Gerichtshof seit 1994 der Ansicht, dass der von der Wahlaufsichtsbehörde diplomierte, später aus seiner Partei oder aus der Parteienkoalition, über die er gewählt worden war, austretende Kandidat sein Mandat nicht verlöre102. 2008 gelangte der Gerichtshof zur Erkenntnis, dass der Parteiaustritt den Verlust des Rechts auf weitere Ausübung des Mandats impliziere103. Im Falle der Haft des unredlichen Verwahrers erkannte der Gerichtshof 2005 an, dass die Inhaftierung des treuhänderischen Schuldners verfassungsrechtlich völlig legitim sei und keine Verletzung des von der Amerikanischen Menschenrechtskonvention statuierten Schutzsystems darstelle104. Derselbe Gerichtshof entschied 2008, dass die Amerikanische Menschenrechtskonvention einen übergesetzlichen Status habe und die Haft des unredlichen Verwahrers unzulässig sei105. Hinsichtlich des Rechts auf Berufung auf freiem Fuß beschloss der Gerichtshof 2002, dass der Erlass eines Haftbefehls nicht das Unschuldsvermutungsprinzip verletze, da die außerordentlichen Rechtsbehelfe keine Suspensivwirkung des Urteils beinhalten würden106. 2009 gelangte der Gerichtshof jedoch zum Schluss, dass der Verurteilte infolge der Unschuldsvermutung ein Recht auf

97

ADI Nr. 2325 MC, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 06. 10. 06. HC Nr. 69657, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 18. 06. 93. 99 HC Nr. 82959, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 01. 09. 06. 100 Urteil 056/93, veröffentlicht in D. O.U. am 13. 12. 1993. 101 MS Nr. 21.322, Plenum, Berichterstatter: Richter Paulo Brossard, DJ 23. 04. 93. 102 MS Nr. 20927, Plenum, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, DJ 15. 04. 94. 103 MS Nr. 26604, Plenum, Berichterstatterin: Richterin Cármen Lúcia, DJ 02. 10. 08. 104 HC Nr. 81319, Plenum, Berichterstatter: Richter Celso de Mello, DJ 19. 08. 05. 105 HC Nr. 92566, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 4. 6. 2009. 106 HC Nr. 81685, 2. Senat, Berichterstatter: Richter Néri da Silveira, DJ 17. 05. 02. 98

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A. Einleitende Betrachtungen

Berufung auf freiem Fuß bis zur letzten Instanz habe107. All diese Fälle zeigen, dass die Judikative mal so, mal anders für Recht erkennt. Der Wandel der Rechtsprechung wird nicht nur immer häufiger, sondern gewinnt auch noch ein schärferes Profil, so dass man in einigen Fällen von „Zick-ZackRechtsprechung“ spricht108, desgleichen auch von einem „gasförmigen Recht“, da dieses verschwindet, bevor es von seinen Adressaten überhaupt verstanden wird109. Als Beispiel wählen wir den Fall der spontanen Selbstanzeige in Verbindung mit dem Antrag auf Ratenzahlung. Nach einigem Hin und Her der zuständigen Senate hat die Erste Sektion des Obersten Gerichtshofs der Justiz 2001 beschlossen, dass im Fall der spontanen, förmlich erfolgten Selbstanzeige mit der ordnungsgemäßen Zahlung der Abgabe die Verzugszinsen kraft Art. 138 der Nationalen Abgabenordnung über den Betrag der in Raten zu zahlenden Restschuld nicht gefordert werden können110. Da diese angeblich vereinheitlichende Entscheidung jedoch nicht von den Senaten übernommen wurde, hat dieselbe Erste Sektion 2004 den Fall wieder aufgenommen und entschieden, dass die Rechtswohltat der spontanen Selbstanzeige in den Fällen der Ratenzahlung von Steuerschulden nicht zur Anwendung kommen dürfe, da die Ratenzahlung nicht einer Zahlung gleichkomme und man nicht voraussetzen könne, dass die verbleibenden Raten gemäß Art. 158 I derselben Abgabenordnung auch gezahlt werden111. Die gleiche schwankende Rechtsprechung kann noch deutlicher in einem anderen Fall beobachtet werden. Am 21. Februar 2002 entschied der Erste Senat des Obersten Gerichtshofs der Justiz, dass die Definition von „klinischer Dienstleistung“ nach ihrer Funktion zu erfolgen hätte, die unmittelbar an die Gesundheit anzubinden wäre und sich nicht aus dem Leistungsort inner- oder außerhalb einer Klinik ergäbe112. Diese Auffassung wurde auch vom Zweiten Senat des genannten Gerichts übernommen113 und galt bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Erste Senat in einer Verhandlung am 17. August 2006 dazu überging, dass die für „klinische Dienstleistungen“ gewährte Senkung der Berechnungsgrundlage in Wahrheit eine partielle Steuerbefreiung und damit eine restriktiv auszulegende Ausnahmeregelung sei, wobei von dieser Definition alle Dienstleistungen ausgeschlossen seien, die keine „klinische Infrastruktur“ aufweisen und den „Patienten vollständig behandeln“114. 107

HC Nr. 84078, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 05. 02. 09. Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 87; Guido Alpa, La certezza del Diritto nell’età dell’incertezza, S. 23. 109 José Luis Palma Fernández, La seguridad jurídica ante la abundancia de normas, S. 41. 110 EREsp Nr. 180.700/SC, Berichterstatter: Richter Francisco Falcão, Erste Sektion, entschieden am 27. 09. 00, DJ 25. 06. 2001, S. 99. 111 REsp Nr. 378795/GO, Berichterstatter: Richter Franciulli Netto, Erste Sektion, DJ 21. 03. 05, S. 209. 112 REsp Nr. 380584/RS, Berichterstatter: Richter Garcia Vieira, Erster Senat, DJ 25. 03. 2002. 113 REsp Nr. 380087/RS, Berichterstatter: Richter João Otávio de Noronha, Zweiter Senat, DJ 07. 06. 2004. 114 REsp Nr. 837778/SC, Berichterstatter: Richter Teori Albino Zavascki, Erster Senat, DJ 31. 08. 2006. 108

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Angesichts der sich daraus ergebenden Meinungsverschiedenheit zwischen dem Ersten und Zweiten Senat des Gerichts wurde die Erste Sektion angerufen, um Stellung zu beziehen und die Rechtsprechung zu vereinheitlichen. Bei der Untersuchung des Falls am 11. Oktober 2006 übernahm sie die neue Position des Ersten Senats und bestimmte als Kriterium für die Ausweisung einer Tätigkeit als „klinische Dienstleistung“ die „Existenz einer materiellen und personellen Infrastruktur zur Bearbeitung der eingelieferten Patieten“115. Obwohl er sich anfangs gelegentlich gegen diese Auslegung gewandt hatte116, folgte der Zweite Senat bald der Stellungnahme der Ersten Sektion117. Das Bundesgericht wandte diese These der restriktiven Auslegung bis zum 15. Mai 2007 an, als der Zweite Senat sich wieder zur Auffassung bekannte, dass die Frage gemäß der Natur der Dienstleistung untersucht werden müsse, nicht nach Maßgabe des Leistungsorts oder der betroffenenen Infrastruktur118. Da die Richterin Eliana Calmon bei der Abstimmung anwesend war, konnte sich diese Auffassung vor dem Zweiten Senat nicht durchsetzen119. Der Erste Senat blieb jedoch bei seiner Position, trotz des gelegentlichen neuen Aufbruchs der Meinungsverschiedenheit im Zweiten Senat120. Trotzdem äußerte sich die Erste Sektion, in der Absicht, die Rechtsprechung beider Senate zu vereinheitlichen, wieder zu der Materie und kehrte in einer Verhandlung am 22. April 2009 überraschenderweise zu seiner ersten Stellungnahme mit der Behauptung zurück, dass der Gesetzgeber „die vom Steuerzahler übernommenen Kosten nicht berücksichtigt hat, sondern die Natur der Dienstleistung, die für die Bevölkerung von wesentlicher Bedeutung ist, da sie auf die Gewährleistung des Grundrechts auf Gesundheit bezogen ist“. Ausgeschlossen wurden nur die einfachen Besuche bei freiberuflichen Ärzten ohne irgendeine andere zusätzliche ambulante Behandlung121. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gericht über diese Materie zuerst eine Auffassung vertrat, dann eine andere, um schließlich zu einer der ersten Auffassung ähnlichen Position zurückzukehren. Nun ist daran zu erinnern, dass die drei Gewalten unter Zeitdruck arbeiten. Ein weiterer, gleichermaßen starker Druck geht vom Geldmangel aus. Da dem Staat in seinen verschiedenen Tätigkeitsbereichen neue Aufgaben zuwachsen, ist er auf neue Geldquellen zu ihrer Finanzierung angewiesen. Dies geschieht über die Ausarbeitung neuer Gesetze, die neue Abgaben einführen oder die schon bestehen 115 REsp Nr. 786569/RS, Berichterstatter: Richter Teori Albino Zavascki, Erste Sektion, DJ 30. 10. 2006; und REsp Nr. 832906/SC, Berichterstatter: Richter José Delgado, Erste Sektion, DJ 27. 11. 2006. 116 REsp Nr. 807312/RS, Berichterstatterin: Richterin Eliana Calmon, Zweiter Senat, DJ 27. 11. 2006. 117 REsp Nr. 873944/RS, Berichterstatter: Richter Castro Meira, Zweiter Senat, DJ 14. 12. 2006. 118 REsp Nr. 807128/RS, Berichterstatterin: Richterin Eliana Calmon, Zweiter Senat, DJ 28. 05. 2007; e REsp Nr. 836783/SC, Berichterstatterin: Richterin Eliana Calmon, Zweiter Senat, 15. 05. 2007. 119 REsp Nr. 889960/RS, Berichterstatter: Richter Castro Meira, Zweiter Senat, DJ 01. 06. 2007. 120 REsp Nr. 958421/PR, Berichterstatter: Richter José Delgado, Erster Senat, DJ 06. 09. 2009. 121 REsp Nr. 951251/PR, Berichterstatter: Richter Castro Meira, Erste Sektion, DJ 03. 06. 2009.

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A. Einleitende Betrachtungen

den erhöhen. Dieses Ziel wird auch durch die Verkündung neuer Gerichtsurteile erreicht, die eventuelle Verfassungswidrigkeiten von Steuergesetzen beseitigen oder deren vergangene Wirkungen aufrechterhalten, selbst wenn diese Gesetze die Verfassung frontal verletzen. Verglichen mit der ehemaligen Staatstätigkeit, mit dem Sozialstaat, wachsen die Aufgaben und der Staatsapparat, weshalb die Ausgaben und Einnahmen erhöht werden müssen122. Der Anstieg der Einnahmen wird nicht immer durch die Setzung von Normen bewerkstelligt, die zukünftige Sachverhalte betreffen. Der Staat nimmt auch vergangene Sachverhalte ins Visier und provoziert damit das „Drama der rückwirkenden Gesetze“123. Einige versteigen sich zur Behauptung, dass die Rückwirkung nicht nur eine notwendige Remedur gegen ungenaue und zahlreiche Gesetze ist. Demnach wäre sie deren einzige Lösung124. Probleme werden also durch neue Probleme gelöst. Sogar die sog. „Selbstverarztung“, die durch Vereinfachungsnormen durchgeführt wird, die ihrerseits die Rechtsordnung verständlicher gestalten sollen, führt letztlich aufgrund ihrer immanenten und paradoxalen Komplexität nicht zum gewünschten Ziel, sondern verschlimmert das Übel und rechtfertigt die Frage, ob „das Arzneimittel nicht schlimmer ist als die Krankheit“, sowie die Bitte „mit dieser ‚Simplifizierung‘ doch endlich Schluss zu machen!“125. Der Bürger im Allgemeinen und der Steuerzahler im Besonderen werden also einerseits durch Gesetze reguliert, die oft unzugänglich sind, aber selbst bei Zugänglichkeit nicht immer verständlich und stabil sind, und andererseits durch Entscheidungen, die zwar einen höheren Grad an Verständlichkeit aufweisen, aber an mangelnder Stabilität kranken. Deswegen spricht Chevallier von „vorübergehendem Recht“ (droit transitoire)126. Ost ist schon viel umbarmherziger: ihm zufolge ist das Recht „unterwegs“ („Notre droit est ‚en transit‘“)127. Wir leben im Zeitalter der Geschwindigkeit128. Unabhängig von dieser Situation muss der Steuerzahler seinen Beruf und seine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben. Er kann sogar sein finanzielles Risiko reduzieren und u. a. auf Versicherungen zurückgreifen, sich von einem bestimmten Markt entfernen, eine konservative Preispolitik praktizieren und sein Risiko auf Drittpersonen überwälzen, darf sich aber auf keinen Fall von den Rechtsnormen

122

Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 33. Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 55. 124 Amélie Lièvre-Gravereaux, La rétroactivité de la loi fiscale: une necessité en matière de procédures, S. 383 f. S. auch Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 96. 125 Nicolas Molfessis, Combattre l’insécurité juridique ou la lutte du système juridique contre lui-même, in: Sécurité juridique et complexité du Droit. Conseil d’État. Rapport Public 2006, S. 394 ff. 126 Jacques Chevallier, L’État de Droit, 2. Aufl, S. 106. 127 François Ost, Le temps du Droit, S. 282. 128 Luís Roberto Barroso, Em algum lugar do passado: segurança jurídica, Direito Intertemporal e o novo Código Civil, in: Antunes Rocha, Cármen Lúcia (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada, S. 141. 123

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entfernen129. Und er tut dies, indem er sein Handeln und seine Planung eben auf diese Normen gründet: auf primäre Normvorschriften, normalerweise Gesetze im engeren Wortsinn; auf sekundäre Normvorschriften, die sich in norminterpreterierenden Verwaltungsvorschriften niederschlagen, so Verwaltungsvorschriften der Sachverhaltsermittlung, Typisierungsvorschriften und ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften; auf Verwaltungsakte, wie etwa bei den Steuerveranlagungen und Antworten auf Anfragen; und auf Gerichtsentscheidungen, wie etwa im Fall der unmittelbar auf den Steuerzahler oder auf andere Steuerzahler bezogenen Entscheidungen, mit normativer Kraft (Entscheidungen anlässlich der abstrakten oder der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit, die jedoch Gegenstand einer Leitsatzbindung oder einer Gesetzesaufhebung durch den Senat sind), oder ohne normative Kraft (Entscheidungen anlässlich der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit oder gar der Kontrolle der Gesetzmäßigkeit, die aber die Erwartung einer gleichen Behandlung ähnlicher Fälle in der Zukunft hervorrufen). Wesentlich ist, dass diese Akte eine „dispositionsinitiierende Wirkung“, eine „dispositionsmodifizierende Wirkung“ und eine „dispositionsinh ibierende Wirkung“ seitens des Steuerzahlers zeitigen; er handelt und plant aufgrund dieser Akte130. Und selbst wenn er mit der Möglichkeit ihrer zukünftigen Änderung rechnen muss, bleibt doch die Tatsache, dass diese normativen Akte Erwartungen in den Steuerzahlern hervorrufen, die auf ihre Beständigkeit und bindende Wirkung vertrauen, wenn sie nicht sogar dazu gebracht werden, sich für ein bestimmtes Verhalten im Hinblick auf diese Akte zu entscheiden. Wesentlich ist, wie wir hier hervorheben müssen, dass die Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns, auf welchen Akt oder welche Manifestation sie sich auch immer gründen mag, von zentraler Bedeutung für die Freiheit individuellen Handelns und die unternehmerische Tätigkeit ist131. Neben diesen sozialen Ursachen, die nur erwähnt werden, um das Thema dieser Monographie zu rechtfertigen, hat die Rechtsunsicherheit auch juristische Ursachen. Erstens bietet die Rechtslehre nicht immer kontrollierbare Kriterien zur Eliminierung oder Reduktion der Rechtsunsicherheit. Immer mehr Arbeiten werden veröffentlicht, die sich einer übermäßig abstrakten Sprache bedienen oder jeglichen Grad normativer Bestimmung ausschließlich auf die Einzelentscheidung übertragen. Außerdem beschränken sich viele Arbeiten, statt Auslegungskriterien festzulegen, die beim Verständnis und der Anwendung des Rechts helfen könnten, darauf, hochgradig ungenaue Definitionen zu formulieren und zu verwenden, so wie diejenige, dass Rechtssicherheit die Fähigkeit beinhalte, die vom Recht dem eigenen Verhalten zuzuschreibenden Ergebnisse vorhersehen, ohne irgendeine Spezifikation dessen, was unter „können“, „Ergebnisse“ und „Recht“ zu verstehen ist. Aus diesem Grund wird behauptet, dass die bloß rhetorische Dimension

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Alain Couret, La sécurité financière, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 363. 130 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 21 sowie 28, 48. 131 Geraldo Ataliba, República e Constituição, 2. Aufl., S. 174.

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A. Einleitende Betrachtungen

der Rechtslehre ein spektakuläres Niveau erreich132. Diese Art der Analyse produziert jedoch eine Wirkung, die im Fall der Rechtssicherheit das Gegenteil des Gewünschten ist: wenn ihre Untersuchung nur vermittels vager Wörter und ohne die Festlegung minimal klarer Verwirklichungskriterien durchgeführt wird, produziert der Versuch einer Reduktion der Unsicherheit paradoxerweise noch mehr Unsicherheit-der hohe Abstraktionsgrad nicht eliminiert weder noch reduziert das Problem des Mangels an Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung, sondern verschärft es eher. Dieses Phänomen erklärt die Behauptung von Racine und Siirianen, dass „die Rechtssicherheit, die mit dem Rechtssystem zusammengeht, niemals genau definiert worden ist, was eine Unverschämtheit bei einer Vorstellung ist, die eine Gewissheitsforderung stellt!“133 Andererseits hat die Diskussion in der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung neue Theorien entwickelt, die nachfolgend kurz referiert werden und paradoxerweise zur Erhöhung der Komplexität der Rechtsordnung beitragen134. Die Wesentlichkeitstheorie behauptet, dass die Legislative umso detailliertere Regeln erlassen muss, je wichtiger der regulierte Gegenstand ist135. Die Untermaßverbotstheorie macht geltend, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten dem Staat die Pflicht auferlegen, Regeln zu statuieren, welche die minimale Wirksamkeit der Grundrechte gewährleisten136. Die Gleichheitstheorie beweist, dass der wesentlich andere vermittels der Rechtsnormen unterschiedlich zu behandeln ist137. Und die Sozialstaatstheorie vertritt den Standpunkt, dass der Staat der hauptsächliche Garant der sozialen Ordnung ist138. Unabhängig von ihrer Richtigkeit und der vollständigen Erfassung ihrer Bedeutsamkeit führen all diese Theorien zu zwei spezifischen Folgen: sie erhöhen die Menge und Komplexität der Normen139. Je detaillierter diese Regeln sind, desto weniger verständlich sind sie; je mehr der Staat die Aufgabe des Grundrechtsschutzes übernimmt, desto mehr Normen wird es geben; je größer ihre Menge ist, desto weniger erkennbar wird die Rechtsordnung sein; je mehr Sonderregeln existieren, desto weniger zugänglich werden sie sein. Das Recht und seine Theorie produzieren somit Rechtsunsicherheit. 132

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 60 sowie 263. Jean-Baptiste Racine / Fabrice Siiriainen, Sécurité juridique et Droit Écomique. Propos introdutifs, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Èconomique, S. 13. 134 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 221 sowie 248. 135 Walter Krebs, Rechtliche und Reale Freiheit, in: Papier, Hans-Jürgen / Merten, Detlef (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, S. 316 ff. 136 Mathias Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 48; Manfred Stelzer, Das Wesensgehaltsargument und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 100; Johannes Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl., S. 128; Peter Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 223. 137 Letizia Gianformaggio, Eguaglianza, donne e Diritto, S. 33 ff.; Rolf Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 67 ff. 138 Hans Michael Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 291. 139 José Luis Palma Fernández, La seguridad jurídica ante la abundancia de normas, S. 27; Klaus-Michael Groll, In der Flut der Gesetze: Ursachen, Folgen, Perspektiven, S. 103. 133

I. Rechtfertigung 

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Für das Ziel dieser Arbeit ist wesentlich, dass das oben beschriebene Szenario bestimmte Probleme für den Bürger im Allgemeinen und für den Steuerzahler im Besonderen verursacht140. Das erste Problem bezieht sich auf die Unerkennbarkeit der Rechtsordnung. Der Bürger weiß nicht genau, welche Regel gilt. Kennt er sie, weiß er nicht genau, was sie gebietet, verbietet oder erlaubt. Die Regeln sind nicht zugänglich, umfassend, verständlich und nicht einmal zulänglich bestimmt. Sie sind, in einem Wort, nicht benutzerfreundlich, da sie die relevanten Informationen für das Verhalten, das der Benutzer wählen soll, nicht vorsehen. Damit verliert das Recht seine Orientierungsfunktion. Um es emphatisch zu sagen: es wird unseriös. Der Bürger wird so von Gesetzen beherrscht, die er nicht kennt, dass das Prinzip „Rechtsunkenntnis schützt vor Strafe nicht“ fast wie ein Sarkasmus anmutet141. Das zweite Problem bezieht sich auf die Unzuverlässigkeit der Rechtsordnung. Der Bürger weiß nicht, ob die Regel, die gilt und galt, noch fortgelten wird. Und wenn er das nicht weiß, ist er nicht sicher, dass diese Regel, obgleich geltend, auch tatsächlich in seinem Fall zur Anwendung kommen wird. Regeln und Entscheidungen sind also unbeständig. Das Recht ist nicht ernst zu nehmen-und wird auch nicht mehr ernst genommen. Das dritte Problem bezieht sich auf die Unberechenbarkeit der Rechtsordnung. Der Bürger weiß nicht genau, welche Norm gelten wird. Die Möglichkeiten prognostizierenden Begreifen von Informationen über zukünftige Entscheidungen sind sehr gering. Das Recht ist somit weder voraussehbar noch berechenbar. Der Bürger weiß also nicht, ob das Recht, das schon nicht mehr ernstzunehmen ist und in der Gegenwart auch nicht ernstgenommen wird, auch in Zukunft ernstgenommen wird. Die Abwesenheit oder geringe Intensität der Ideale der Erkennbarkeit, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit des Rechts führen zur Ungewissheit, zum Unglauben, zur Unentschiedenheit in der Gesellschaft, mit der Folge, dass selbst traditionelle Prinzipien wie die Rechtssicherheit, die Leistungsfähigkeit, die Gleichheit und Gesetzmäßigkeit angezweifelt werden142. Diese Schwierigkeiten intensivieren sich im Steuerrecht. Erstens infolge der Besonderheiten dieses Normbereichs: aufgrund der Regel der Gesetzmäßigkeit besteht eine Bindung an die gesetzlichen Vorschriften des Steuerrechts, welche die Hauptgrundlagen des Vertrauens des Steuerzahlers sind, wegen der Auswirkungen auf dessen Freiheit und Eigentum. Die Gesetze verfolgen jedoch nicht nur fiskalische Ziele, sondern sind auch ein Instrument zur Verhaltenslenkung des 140

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 167 sowie 271, 391. Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 49; Eros Roberto Grau, O Direito posto e o Direito pressuposto, 7. Aufl., S. 185. 142 Misabel de Abreu Machado Derzi, Mutações, complexidade, tipo e conceito, sob o signo da segurança e da proteção da confiança, in: Torres, Heleno (Hrsg.), Estudos em homenagem a Paulo de Barros Carvalho, S. 247. 141

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A. Einleitende Betrachtungen

Steuerzahlers und zur Erreichung einer Reihe von Zwecken in den Bereichen der Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft, des Umweltschutzes, der öffenlichen Gesundheits u. a. und damit in einem viel höheren Maße die Grundlagen des Vertrauens des Steuerzahlers. Die Steuergesetze fiskalischer oder nichtfiskalischer Art schlagen unterschiedlich auf die Ergebnisse der Wirtschaftstätigkeit der Steuerzahler durch und erfassen mal die Einkünfte, mal das Eigentum, mal den Konsum, weshalb der Vertrauensschutz im Steuerrecht nach Maßgabe eines Faktorenbündels zu erfolgen hat. Schließlich erfassen die gesetzlich festgelegten Tatbestände bestimmte Aktivitäten, die, anders als in anderen Rechtsgebieten, im Laufe der Zeit durchgeführt werden und damit während der Geltung eines Gesetzes beginnen und während der Geltung eines anderen Gesetzes abgeschlossen werden143. All diese Faktoren verstärken die Sorge um Steuerrechtssicherheit durch die von ihnen verursachte zusätzliche Unsicherheit. Zweitens nehmen diese Schwierigkeiten aufgrund der Notwendigkeit, zu planen, wie die wirtschaftliche Tätigkeit durchgeführt werden soll. Um nämlich irgendeine Aktivität zu konzipieren und durchzuführen, muss der Steuerzahler im Rahmen seiner Planung auch die zukünftigen Rechtsfolgen vermittels der Bewertung der wirtschaftlichen Alternativen nach Maßgabe der zu zahlenden Steuern vorwegnehmen. Die bestehenden Schwierigkeiten im Augenblick der Bewertung können sich sowohl auf die Ungewissheit hinsichtlich der bestehenden normativen Grundlage und ihrer Auswirkungen (statische Ungewissheit) als auch auf die Geltungsdauer dieser Grundlage (dynamische Ungewissheit) beziehen. Beide Ungewissheiten können sich restriktiv oder zerstörend auf die Planungsfähigkeit auswirken und die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit des Steuerzahlers übermäßig einschränken144. Gewissheit gibt es für den Steuerzahler jedoch nur, wenn er in der Lage ist, im Augenblick seiner Planung die steuerrechtlichen Folgen seiner Tätigkeit weitgehend vorwegzunehmen. Damit dies möglich ist, muss er die anwendbaren Normquellen, ihre Auswirkungen und ihre Fortdauer in der Zeit kennen. Um es kurz zu sagen, muss das Recht für ihn erkennbar und berechenbar sein. Seit langer Zeit ist dies aber nicht mehr mit der wünschenswerten Intensität der Fall. Es mag unglaublich klingen, aber Rümelin hat schon 1924 geschrieben: „Die Möglichkeit einer Vorausberechnung, einer Einstellung der Privatwirtschaften auf die Steuerlast war überhaupt verschwunden und die Unklarheit des Rechtszustandes drückte vor allem auf den gewissenhaften und staatstreuen Bürger, während dem Schieber unbegrenzte Möglichkeiten offen bleiben“.145 Man kann in diesem Kontext behaupten, dass nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit am Ende Unsicherheit hervorruft. Wegen mangelnder Einsichtigkeit der Rechtsordnung weiß der Bürger nicht, was heute gilt (Unsicherheit in Bezug auf das gegenwärtige Recht); wegen mangelnder Vorhersehbarkeit der 143

Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 32 f. 144 Joachim Voß, Ungewißheit im Steuerrecht, S. 1. 145 Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, S. 38.

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Rechtsordnung weiß er gleichfalls nicht, was morgen geltend oder bindend sein wird (Unsicherheit in Bezug auf das zukünftige Recht); und wegen mangelnder Stabilität der Rechtsordnung weiß er paradoxerweise auch nicht, ob das, was gestern gegolten hat, auch heute fortgilt (Unsicherheit in Bezug auf das vergangene Recht). Das Recht ist nicht sicher. Und ein unsicheres Recht ist nach Carnelutti kein Recht146. Aber gerade weil man nur volles Bewusstsein der Bedeutung eines Guts erlangt, wenn man es verliert, und gerade weil die Sicherheit als rechtlicher Wert nur Bedeutung unter dem Eindruck ihres Gegenteils-der Unsicherheit-gewinnt, erlangt die Erforschung der Rechtssicherheit ihre ganze Lebenskraft wieder. Rechtssicherheit erweist sich so als paradiesischer Zustand gegenüber dem gegenwärtigen Zustand akuter Unsicherheit147. Das Paradies der Sicherheit steigt aus der Hölle der Unsicherheit empor. Die Sicherheit wird für Alpa zu einem „Rettungsanker“ (un’ancora di salvezza)148. Oder, wie Schrimm-Heins im einleitend zitierten Passus sagt, „Sicherheit wird dann zum Thema, wenn Unsicherheit sich ausbreitet. Und je unsicherer die Lebensumstände in der Moderne empfunden werden, desto umfassender werden die Sicherheitserwartungen des Menschen“149. Hervorzuheben ist nun, dass die Suche nach diesem Idealzustand sich durch die negativen Auswirkungen der Rechtsunsicherheit rechtfertigt. Rechtsunsicherheit kann der Ausübung persönlicher, beruflicher und wirtschaftlicher Tätigkeiten schaden oder sie gar behindern, da nach der präzisen Formulierung von Carrazza ein Minimum an Anforderungen fehlt, die allen zu leben und ihren rechtmäßigen Tätigkeiten frei nachzugehen erlauben150. Planen und Handeln erfordern Planungsund Handlungssicherheit. Sicherheit ist somit ein Mittel zur Verwirklichung der Freiheiten des Einzelnen, eine Art Funktionsprizip in Bezug auf diese151, denn wer nicht auf die rechtlichen Bedingungen zur Durchführung seiner Handlungen vertrauen kann, wird von großen Vorhaben Abstand nehmen, da Freiheit gerade die Möglichkeit der Gestaltung des eigenen Lebens nach eigener Vorhaben bedeutet. Daher die scharfsinnige Behauptung von Grau, dass eine Marktwirtschaft ohne Berechenbarkeit nicht bestehen kann152. Die Rechtssicherheit ist also auch ein Instrument der Freiheit: je größer die Rechtssicherheit, desto höher der Freiheitsgrad, d. h., desto größer die Fähigkeit des Individuums, seine Zukunft nach Maßgabe seiner Ideale zu planen. Paradoxerweise jedoch ist, je höher die Freiheit, desto höher 146 Francesco Carnelutti, Certezza, autonomia, libertà, Diritto, in: Dir. Economia 2 (1956), S. 1190. 147 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 15 sowie 68, 90. 148 Guido Alpa, La certezza del Diritto nell’età dell’incertezza, S. 43. 149 Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit: Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘ (Teil 2), in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), S. 204. 150 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 412. 151 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 663; Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 3. 152 Eros Roberto Grau, A ordem econômica na Constituição de 1988, 12. Aufl., S. 32; Eros Roberto Grau, O Direito posto e o Direito pressuposto, 7. Aufl., S. 102. Über die rechtlichen Bedingungen einer kapitalistischen Marktwirtschaft s. Stefan Uecker, Die Rationalisierung des

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die Möglichkeit eines jeden Individuums, etwas anderes zu tun, desto geringer die Möglichkeit, dass andere Individuen vorhersehen, was jeder tun wird. Wie Gusy bemerkt, ist „Sicherheit […] die Abwesenheit von Risiken; Freiheit hingegen verursacht und steigert Risiken“153. Hier zeigt sich also das Dilemma: mehr Sicherheit bedeutet mehr Freiheit; mehr Freiheit bedeutet die Existenz und den Schutz einer größeren Anzahl von Interessen durch die Rechtsnormen, was seinerseits zur Steigerung der Komplexität der Rechtsordnung beiträgt. Damit stehen wir vor folgender interessanten Paradoxie: Sicherheit erzeugt Unsicherheit154. Die Rechtssicherheit ist auch ein objektives Element der Rechtsordnung. Sie ist ein Mittel zur Erreichung des allgemeinen Wohls155. Bei einem hohen Unsicherheitsgrad vermeidet der Einzelne gesellschaftliche integrationsfördernde Handlungen. Damit wird die gesellschaftliche Zusammenarbeit zurückgedrängt. Die Rechtssicherheit ist gleichfalls ein Mittel zur Gewährleistung der Menschenwürde. Deren Achtung umfasst die Behandlung des Menschen als der Planung ihrer Zukunft fähige Person. Der Mensch ist ein auf zukünftiges Handeln ausgerichtetes Wesen, das in seinem Handeln die Zukunft zu stabilisieren versucht156. Somit beinhaltet die Gewährleistung der Menschenwürde die Achtung vor der Autonomie des Einzelnen157. Schließlich schadet die Rechtsunsicherheit dem Leben der Bürger. Sie wirkt sich negativ auf die Institutionen und die Investitionen im In- und Ausland aus, da sie langfristige Entscheidungen infolge der absoluten Unmöglichkeit der Vorwegnahme zukünftiger Normen und vergangener Entscheidungen behindert158. Die häufige Änderung der Gesetzgebung vertreibt die Investoren und verhindert die für eine Marktwirtschaft notwendigen mittel- und langfristigen Aktionen159. Rechts, S. 70 ff.; Christof Münch, Rechtssicherheit als Standortfaktor. Gedanken aus Sicht der vorsorgenden Rechtspflege, in: Weber, Albrecht (Hrsg.), Währung und Wirtschaft. Das Geld im Recht, S. 673; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 49 ff. sowie 233 ff., 599 ff.; Franz Neumann, Über die Voraussetzungen und den Rechtsbegriff einer Wirtschaftsverfassung, in: Wirtschaft, Staat, Demokratie, S. 76 ff.; Franz Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: Demokratischer und autoritärer Staat / Studien zur politischen Theorie, S. 31 ff. 153 Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 155. 154 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 71 sowie 692. 155 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 153. 156 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 11. 157 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 221; John Rawls, Theory of Justice, S. 407. 158 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 111 sowie 113; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 99. 159 Jean-Baptiste Racine / Fabrice Siiriainen, Sécurité juridique et Droit Écomique. Propos introdutifs, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Èconomique, S. 16 ff.; Jacques Chevallier, Le Droit Économique: l’insécurité juridique ou nouvelle sécurité juridique?, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 572.

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Diese Unsicherheitsumstände macht sich im Recht allgemein bemerkbar. Im Steuerrecht äußert es sich jedoch mit stärkerer Intensität. Erstens, weil die Übernahme neuer Staatsaufgaben zur Zunahme der außerfiskalischen Zwecke führt: der Staat will nicht nur das Steueraufkommen erhalten oder erhöhen, sondern besondere Zwecke durch die Besteuerung erreichen, wie etwa den Schutz der Umwelt oder die Gewährleistung des freien Wettbewerbs. Diese Übernahme neuer Aufgaben erhöht nicht nur die Komplexität der Gesetzgebung, sondern ändert die zu berücksichtigenden Elemente in dem Maß, in dem der Schutz des dem Staat entgegengebrachten Vertrauens, das den Steuerzahler dazu veranlasst, der Orientierung des Staates zu folgen, noch stärker sein muss. Zweitens, weil der Zeit- und Finanzdruck sich vor allem im Bereich des Steuerrechts bemerkbar machen: durch das Steuerrecht will der Staat ja die Finanzierung seiner neuen Aufgaben sicherstellen; und in diesem Bereich äußert sich durch die belastende und lenkende Wirksamkeit der Steuernormen der Druck zur Erhaltung oder Änderung der Rechtsnormen160. Wenn die betont wird, Bedeutung der Verlässlichkeit der Rechtsordnung, besonders durch ihre Stabilität und bindende Natur, soll nicht die Bedeutung der Veränderlichkeit der Normen und damit der Flexibilität und der Innovation geleugnet werden161. Das Recht befindet sich immer im Spannungsfeld von Tradition und Innovation, Beständigkeit und Anpassungsfähigkeit162. Indem die Brasilianische Bundesverfassung von 1988 durch Einführung von Formerfordernissen und durch das Verbot der Verfassungsänderung in bestimmten Bereichen die Verfassungsänderung erschwert, schützt sie einerseits die Stabilität der Rechtsordnung, setzt aber andererseits ihre Veränderlichkeit und Veränderbarkeit voraus-eingeschränkt wird ja nur die Veränderung dessen, was sich ändern kann163. Das deutsche Grundgesetz sieht ebenfalls Formerfordernisse für die Änderung des Verfassungstexts vor und verlangt die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrats (Art. 79 Abs. 2). Außerdem verbietet es 160

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 90. Eberhard Schmidt-Aßmann, Flexibilität und Innovationsoffenheit als Entwicklungsperspektiven des Verwaltunsrechts, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 407–423; Friedrich Schoch, Der Verwaltunsakt zwischen Stabilität und Flexibilität, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / SchmidtAßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 199–244; Reiner Schmidt, Flexibilität und Innovationsoffenheit im Bereich der Verwaltungsmaßstäbe, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 67–110; Hartmut Bauer, Anpassungsflexibilität im öffentlich-rechtlichen Vertrag, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 245–288; Wolfgang Hoffmann-Riem, Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsoffenheit im Verwaltungsrecht: einleitende Problemskizze, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 9–66; Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 95. 162 Paul Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, in: StuW 2000, S. 222. 163 Werner Krawietz, Rechtstheorie und Rechtsstaatlichkeit, in: Krawietz, Werner / Samu, Mihály / Szilágyi, Péter (Hrsg.), Rechtstheorie, Sonderheft  – Verfassungsstaat, Stabilität und Variabilität des Rechts im modernen Rechtssystem, Bd. 26, Teilbd. 3, S. 435. 161

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eine „Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden“ (Art. 79 Abs. 3). Wie in der brasilianischen Verfassung dienen diese Artikel einerseits dem Schutz der Stabilität der Rechtsordnung und setzen andererseits ihre eigene Veränderbarkeit voraus. Außerdem weist das demokratische Prinzip der Legislative die Kompetenz zu, in den Rechtsnormen kontinuierlich die von der Gesellschaft geltend gemachten Interessen zu gewährleisten, einschließlich der Berechtigung der Gestaltung und Festlegung der Prämissen164. Zudem erteilen die verfassungsrechtlichen Kompetenzregeln der Judikative die Befugnis, die von der Legislative statuierten Normen auszulegen und anzuwenden, womit die Judikative sich kontinuierlich um die beste Auslegung bemühen kann, einschließlich der Revision früherer Fehlentscheidungen oder der Verkündung neuer Entscheidungen unter Berücksichtigung von vorher nicht oder ungenau berücksichtigten Umständen. Alle diese Grundlagen setzen nicht nur die Änderbarkeit der Rechtsordnung voraus, sondern erlauben sie in gewisser Weise. In dieser Arbeit wird jedoch, wie an passender Stelle zu untersuchen sein wird, nicht das Verbot der Rechtsänderung behauptet, wenn von der Bedeutung der Stabilität als Bestandteil des zum Rechtssicherheitsprinzip gehörenden Zuverlässigkeitszustands die Rede ist. Stattdessen wird nur behauptet, dass diese vorausgesetzte und erlaubte Änderung auf stabile und berechenbare Weise durchgeführt wird165-auch weil die völlige Unbeweglichkeit des Rechts den Verlust seiner Geltung zur Folge haben würde, denn da die Interessen und Werte sich ändern, gelangt ein Recht, dass im Grenzfall die Interessen und Werte der Gesellschaft nicht minimal widerspiegelt, am Ende nicht zur Anwendung und leidet daher an mangelnder Geltung. Aus diesem Grund kann man mit Valembois sagen, dass zuviel Recht das Recht selbst tötet oder, in der gleichen Argumentationslinie, dass „zuviel Sicherheit die Sicherheit töten würde“166. Sendler schlägt den gleichen Weg ein, wenn er behauptet, dass „zuviel Recht Unrecht“ ist167. Eine ähnliche Beobachtung ist schon von Reale vorgenommen worden mit der Behauptung, dass „eine absolut gewisse Sicherheit ein Grund der Unsicherheit ist“168. Zuviel Recht führt also zur sog. „Krankheit des übermäßigen Rechts“ (maladie du trop-dedroit)169. Zuviel Vorhersehbarkeit eliminiert im Grenzfall die Wirksamkeit des 164

Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 27; Paul Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, in: StuW 2000, S. 221. 165 Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 5. 166 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 21. 167 Horst Sendler, Mehr Gesetze, weniger Rechtsgewährung?, in: DVBl 15. 09. 1995, S. 979. 168 Miguel Reale, Vorwort, in: Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. V. 169 Alessandro Pizzorusso / Paolo Passaglia, Constitution et sécurité juridique – Italie, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 211.

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Rechts170. Wesentlich ist, dass die Forderungen nach Stabilität und Änderung notwendig miteinander zu versöhnen sind. Sie sind nicht nur für das Recht unverzichtbar, sondern auch für das menschliche Leben, dem dieses zu dienen hat, wie Cavalcanti Filho präzis formuliert hat171. Bis zu diesem Punkt ist die erste Rechtfertigung dafür vorgetragen worden, die Rechtssicherheit als Thema der vorliegenden Monographie zu wählen: der gegenwärtige Zustand der großen Unsicherheit. Neben dieser Rechtfertigung, die wir kausalistisch nennen könnten, gibt es noch eine andere, rechtswissenschaftliche: obwohl Arbeiten zu diesem Thema vorliegen, einige von hoher Qualität, rechtfertigen die Darlegungsweise und die Art und Weise des Zugriffs die Durchführung eines neuen und anderen Forschungsvorhabens. Einerseits wird die Untersuchung der Rechtssicherheit mit hochgradiger Skepsis vorgetragen172. Zuerst wird angeführt, dass die Rechtssicherheit als Prinzip wenig zu bieten hat173. Da sie einen hohen Abstraktionsgrad hat, könnte sie je nach dem Kontext unterschiedliche Funktionen übernehmen und zu gleichen Bedingungen mit anderen Prinzipien kollidieren; ihre Untersuchung würde und könnte auch nicht zu praktischen Ergebnissen führen, welche die gegenwärtig bestehende Rechtsunsicherheit abschaffen oder mindern könnten. Zweitens wird behauptet, dass die Fixierung der Rechtslehre auf die Suche nach Rechtsgewissheit als vorgängige und abstrakte Lösung späterer konkreter Auslegungsprobleme nicht einmal Gegenstand der Sorge der Rechtslehre sein könnte: da der Entscheidungsinhalt nur a posteriori feststellbar ist, kommt die Verteidigung der Rechtssicherheit als Möglichkeit der vorgängigen Kenntnis der Entscheidung schlicht der Verteidigung dessen gleich, was sich nicht verteidigen lässt. Außerdem würde die Aufgabe, ein einziges Fundament für das Verständnis des Rechts zu erreichen (daher der pejorative Ausdruck „foundationalism“), an der Unmöglichkeit scheitern, dass eine einzige Theorie oder ein einziges Auslegungsmodell die einfache Lösung einer unendlichen Menge konkreter und notwendig komplexer, ungewisser und inkonsistenter Probleme bereitstellen kann174. Drittens wird behauptet, dass die Suche nach Rechtssicherheit als Bemühung um das Ideal der absoluten Bestimmung des Inhalts der Rechtsnormen ein notwendig zum Misserfolg verurteiltes Unterfangen ist, da Sprache in gewissem Maß immer unbestimmt ist und daher nie die gewünschte Vorausbestimmtheit zu liefern vermag. Die Bemühung um dieses Ideal gleiche der Bemühung um etwas, das es nicht gibt und nicht geben kann. Und darüber zu schreiben wäre, um einen Aus 170

Fabien Lafay, La Modulation du Droit par le Juge, Bd. 2, S. 576. Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 172. 172 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 2. 173 Manfred Stelzer, Was leistet das Prinzip Rechtssicherheit? Bemerkungen zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltunsakte nach § 48 VwVfG 30 (1997), S. 139–160. 174 Daniel Farber / Suzanna Sherry, Desperately seeking certainty: the misguided quest for constitutional foundations, S. 5 sowie 140. 171

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druck von Kozinski aufzugreifen, „so wie die Abfassung eines wissenschaftlichen Traktats über die (nicht existierenden) Schlangen in Irland“175. Schließlich wird zu bedenken gegeben, dass die gegenwärtige Gesellschaft notwendig und und endgültig unentrinnbar komplex ist. Vorhersehbarkeit in dieser Gesellschaft anstreben zu wollen, heißt sich um das Unerreichbare bemühen, schon im Hinblick auf die Komplexität der genannten Prozesse der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Ausdifferenzierung. Schließlich, und anders gewendet, ist die Untersuchung der Rechtssicherheit ein hoffnungsloses Unterfangen aufgrund der prinzipiellen Unmöglichkeit, minimal befriedigende praktische Ergebnissen zu erreichen. Die Rechtsunsicherheit wird also als unlösbares Problem dargestellt. Konsequenterweise wird Rechtssicherheit dann als Illusion gekennzeichnet176, denn wenn sie nicht erreichbar ist, besteht auch kein Grund, sie zu untersuchen. Die unvermeidliche Folge dieser Sichtweise ist eine fatalistische und verzichtende Haltung177. Andererseits wird die Untersuchung der Rechtssicherheit auf hochgradig partielle und vage Weise durchgeführt. Die Teilperspektive oder übertriebene Spezialität folgt aus der Tatsache, dass die Untersuchung normalerweise-wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll-auf eine Erscheinungsform der Rechtssicherheit fixiert ist oder einen ihrer Aspekte ungebührlich privilegiert178. Mal ist der Schwerpunkt der Vertrauensschutz179, mal die tatbestandliche Begriffsbestimmtheit180, mal auch das Ideal der Vorhersehbarkeit181, mal gar die Summe einiger ihrer Teile, wie z. B. die Verbindung der Garantien der Gesetzmäßigkeit, des Rückwirkungsverbots und der Vorzeitigkeit182. Die Rechtssicherheit-das Ganze-wird einem ihrer Bestandteile gleichgesetzt, oder ihre Behandlung konzentriert sich auf einen Bestandteil. Die Vagheit oder übermäßige Allgemeinheit verdankt sich der Tatsache, dass die Untersuchung der Rechtssicherheit auf sehr allgemeine Weise durchgeführt wird, 175 Alex Kozinski, What I Ate for Breakfast and Other Mysteries of Judicial Decision Making, in: O’brien, David M. (Hrsg.), Judges on Judging, S. 71. 176 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., S. 99 (Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Studienausgabe der 1. Auflage 1934, in: Jestaedt, Matthias (Hrsg.), S. 109). 177 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 33. 178 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S.1; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 102 sowie 153. 179 Hermann-Josef Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht (2000); Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip (2002); Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français (2001); Soren Schonberg, Legitimate Expectations in Administrative Law (2007); Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Público de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei Nr. 9.784/99), in: RBDP 06 (2004), S. 7–59. 180 Alberto Xavier, Tipicidade da tributação, simulação e norma antielisiva (2001). 181 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 22. 182 Leandro Paulsen, Segurança jurídica, certeza do Direito e tributação (2006).

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selbst wenn sie in einer ihrer Erscheinungsformen untersucht wird, ohne Angabe der funktional angemessenen Kriterien ihrer praktischen Verwirklichung183. Die Untersuchung der Rechtssicherheit liefert somit keine Sicherheit für ihre Anwendung. Ihr Inhalt wird als allzuselbstverständlich dargestellt, um geklärt werden zu müssen184. Gometz erinnert ironisch daran, dass kein Begriff unter den von der Rechtsphilosophie behandelten so „ungewiss“ sei wie der der „Rechtsgewissheit“185. Anders gewendet, sei eine Untersuchung der Rechtssicherheit wegen ihrer Merkmale unbefriedigend für die Lösung der Probleme der gegenwärtigen Unsicherheit. Obwohl die Arbeiten, die sich nur mit dem Thema der Rechtssicherheit als einem Ganzen befassen-wie es auch hier der Fall sein soll, auch wenn sie äußerst wichtig sind und hier ausführlich zitiert – die Untersuchung auf eine spezifische Perspektive des Themas konzentrieren, wie einige Beispiele von schon genannten Arbeiten zeigen, untersucht von Arnauld, der den ganzen Archetypus des Rechtssicherheitsprinzips untersuchen will, die verschiedenen Aspekte, Elemente und Dimensionen, die dieses Prinzip annimmt, nicht und konstruiert auch nicht seine Begründung, da er keine analytische Perspektive wählt; versucht Valembois, obwohl sie auch die Rechtssicherheit ausführlich abhandelt, eine bestimmte Frage zu beantworten, nämlich die, ob Rechtssicherheit als verfassungsrechtliches Prinzip in der französischen Rechtsordnung angesehen werden kann; übergeht Arcos Ramírez, obwohl er eine allgemeine Konzeption der Rechtssicherheit anbietet, nicht nur eine analytische Untersuchung ihrer verschiedenen Dimensionen, Aspekte und Fundamente, sondern versucht auch spezifische philosophische Fragen anzugehen, wie etwa die der Beziehung zwischen Rechtssicherheit und der Rechtsidee und die nach dem Wert von Rechtssicherheit; untersucht Gometz, obwohl er der einzige ist, der eine analytische Perspektive bei der Untersuchung der Rechtssicherheit gewählt hat, diese nur in einer Perspektive (von der Gegenwart zur Zukunft, d. h. als Forderung der Vorhersehbarkeit) und untersucht sie nicht in allen anderen Perspektiven (auf zeitlose Weise als Erkennbarkeitsforderung und von der Vergangenheit zur Gegenwart als Zuverlässigkeitspflicht) und gründet sie nicht auf Verfassungsprinzipien. Summa summarum: diese Werke, denen andere hinzugefügt werden könnten, haben das Prinzip der Rechtssicherheit, selbst wenn sie sich spezifisch damit befasst haben, nicht so untersucht, wie das hier geschehen soll: als Normprinzip, das sich auf Verfassungsnormen stützt, vermittels einer Methode, die in der Lage ist, schrittweise ihre Unbestimmtheit zu verringern und sie praktisch operational zu machen, durch Angabe der Verhaltensweisen, deren Übernahme einen Beitrag zur Verwirklichung der anzustrebenden Zustände leistet.

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Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 1. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 5; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 7. 185 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 22. 184

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A. Einleitende Betrachtungen

Wichtig ist, dass die Art und Weise, in der das Thema der Rechtssicherheit vorgestellt und angegangen wird, seine erneute Untersuchung nicht schwächt, sondern außerordentlich stärkt. In der Tat, gerade weil das Prinzip der Rechtssicherheit einen hohen Abstraktionsgrad hat, verschiedene Funktionen je nach Kontext annehmen und je nach seiner Definition mit anderen Prinzipien kollidieren kann, ist es notwendig, seinen Abstraktionsgrad zu reduzieren, festzustellen, welches seine verschiedenen Funktionen sind, und sein Gewicht neben anderen Prinzipien zu bewerten. Gerade weil es eine Fixierung der Rechtswissenschaft auf das Bemühen um Rechtsgewissheit gibt als vorgängige und abstrakte Lösung späterer konkreter Auslegungsprobleme, ist die Aufmerksamkeit von der Bedeutungssicherheit auf die Kriteriensicherheit zu verlagern, um von Anfang an vorgängige und abstrakte Parameter für spätere und konkrete Auslegungsprobleme an die Hand zu geben. Gerade weil das Bemühen um Rechtssicherheit über die Suche nach einem Ideal absoluter Bestimmtheit des Inhalts von Rechtsnormen erfolgt, ist die zentrale Achse der Untersuchung auf die Suche in Richtung einer relativen Vorhersehbarkeit für die Bürger im Allgemeinen und die Steuerzahler im Besonderen neu zu positionieren. Und schließlich ist die ordnende Funktion des Rechts durch eine umfassendere und weniger vage Untersuchung der Rechtssicherheit wiederherzustellen, da die gegenwärtige Gesellschaft sich durch Komplexität auszeichnet. Kurz, die dem Thema der Rechtssicherheit innewohnenden Schwierigkeiten dürfen den Forscher nicht zur Resignation verleiten, sondern müssen ihn zu ihrer Überwindung anspornen. Es geht also nicht um die Übernahme der unangemessenen Aufgabe einer verzweifelten Suche nach der „absoluten Gewissheit“, sondern vielmehr darum, die angemessene Herausforderung anzunehmen, die darin besteht, sich dem konformistischen Ziel der Suche nach „relativer Gewissheit“ zu verweigern. Vermieden werden soll also, auf unangemessene Weise die angeblich unangemessene Aufgabe darzustellen, wie der Vogelscheuchenfehlschluss gut zeigt: eine angeblich von einem anderen vertretene These wird verzerrt wiedergegeben, um dann umso leichter widerlegt werden zu können. Um die Rechtssicherheit nicht zu untersuchen, behandelt die Rechtswissenschaft sie auf „gespenstische“ Weise186. Wie von Arnauld zeigt, muss die Rechtswissenschaft, statt sich mit dem Mangel an Geltung des Rechts abzufinden, exakt wie eine Art Kontrapunkt der Moderne funktionieren und in der Lage sein, eine der traditionellen Funktionen des Rechts zu restituieren, nämlich Erwartungen zu gewährleisten187. Das bedeutet nicht die Negation der Tatsache, dass das Recht ungewiss ist. Machado Derzi weist darauf hin, dass wir stattdessen herausfinden müssen, wie das Rechtssystem sich dazu eignet, in einer unstabilen Welt Stabilität zu produzieren und weitere Zeithorizonte erträglich zu machen vermittels der Schaffung einer Vorhersehbarkeit, die den ausdif 186 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 8. 187 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 98.

I. Rechtfertigung 

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ferenzierten Gesellschaften immanenten hohen Unsicherheitsgrad reduziert und erträglich gestaltet188. Deshalb verweist Machado Derzi darauf, dass in einem unsicheren Umfeld ständig nach Sicherheit gesucht wird189. Wenn man diesen Weg nicht einschlägt, wird nach Gometz „die Ungewissheit über die Gewissheit“ den Sieg davontragen und damit eine Haltung der völligen Desillusion gegenüber der Rechtssicherheit erzeugen, mit der Folge, dass Rechtssicherheit dann als „Saurier“ oder „Chimäre“ der Rechtsphilosophie angesehen wird190. Hier ist daran zu erinnern, dass die Behauptung, derzufolge es „keine Sicherheit gibt“, eine Tatsachenaussage ist. Ihr Zweck besteht darin, zu sagen, wie die Wirklichkeit sich darbietet, nicht wie sie sich darbieten soll oder gar sollte. Es handelt sich um eine Aussage auf der Ebene des Seins, nicht des Sollens191. Die Erklärung, dass es aufgrund der Unmöglichkeit von Gewissheit keine Rechtssicherheit geben kann, geht von der Voraussetzung aus, dass Rechtssicherheit mit der vorgängigen und absoluten Gewissheit bezüglich des Inhalts von Rechtsnormen zusammenfällt. Es springt ins Auge: wenn Sicherheit einen Gewissheitszustand bezeichnet-und Gewissheit ist ein spezifischer Punkt der absoluten normativen Vorausbestimmung –, besteht die einzige Gewissheit darin, dass wir sie nie finden werden. Cavalcanti bezeichnet diesen Punkt sehr genau: „Die Unveränderlichkeit, die völlige Einheitlichkeit, soweit sie sich auf den Menschen bezieht, wäre eine Unmöglichkeit, da sie eine Negation dessen ist, was den Menschen ausmacht. Wenn man also von einer Sorge um absolute Beständigkeit, absolute Stabilität ausgeht, geht man von einer Voraussetzung aus, von der man schon von Anfang an wissen muss, dass sie unerreichbar ist“192. Trotzdem-und hier ist ein Ziel der vorliegenden Untersuchung erkennbar-verschwinden die ontologischen Hindernisse der Suche nach Rechtssicherheit und zeigt sich die Rechtfertigung ihrer Erforschung dem Forscher in ihrem vollen Glanz, wenn die Sicherheit die Synthese der Idealzustände der Erkennbarkeit, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit der Norm ist und durch Instrumente erreicht wird, die Zugänglichkeit, Umfang, Verständlichkeit, Stabilität, Kontinuität, Vorzeitigkeit und Bindungswirkung der Rechtsordnung gewährleisten, und wenn diese Synthese nicht ein Punkt, sondern ein umfassendes Spektrum ist, das schrittweise durch Festlegung klarer Kriterien, Parameter und Verfahren konstruiert wird. So betrachtet, ist das eigentliche Problem nicht die Rechtssicherheit, sondern die spezifische Weise ihrer Auffassung: ihre Untersuchung gewinnt ein anderes Profil, 188

Misabel de Abreu Machado Derzi, Mutações, complexidade, tipo e conceito, sob o signo da segurança e da proteção da confiança, in: Torres, Heleno (Hrsg.), Estudos em homenagem a Paulo de Barros Carvalho, S. 279; Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 213. Ähnlich: Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 147. 189 Misabel de Abreu Machado Derzi, Princípio da segurança jurídica, in: RDT 64 (o. J.), S. 186. 190 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 160. 191 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 4. 192 Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 159.

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A. Einleitende Betrachtungen

wenn statt eines dualistischen (alles oder nichts) und klassifikatorischen Begriffs ein schrittweise verifizierbarer Begriff unterstellt wird193. So lässt sich die melancholische Behauptung von Bours umgehen, nach der die Autopsie des (belgischen) Rechts, bezogen auf das unentwegt beredete, aber nicht mehr beachtete Rechtssicherheitsprinzip, in Hoffnungslosigkeit münde194. Die obigen Bemerkungen dienen nur zur Veranschaulichung des Umfangs des in dieser Arbeit untersuchten Themas: unternommen werden soll der Versuch, den traditionellen (skeptischen, partiellen und vagen) Modus der Analyse von Rechtssicherheit zugunsten der Darlegung der Rechtssicherheit in ihrer Gesamtarchitekturihrer Bedeutung, ihren Fundamenten, Strukturelementen, Dimensionen und ihrer Wirksamkeit im Öffentlichen Recht, insbesondere im Steuerrecht-aufzugeben. Unternommen wird der Versuch, die allgemeinen Kriterien für die Restauration der Rechtssicherheit als Prinzip einzugrenzen, in der Überzeugung, dass eine erkennbare, zuverlässige und berechenbare Rechtsordnung die Voraussetzung sowohl der Verwirklichung der Grundrechte als auch der Staatsziele ist. Hier stehen wir vor einer weiteren Paradoxie: um die Rechtsunsicherheit zu bekämpfen, müssen wir auf Rechtsinstrumente zurückgreifen195. Die in der Gesellschaft bestehende Unsicherheit ist also kein Grund zur Resignation, sondern präzise der Grund der Suche nach einem Sicherheitsideal. Machado Derzi bemerkt treffend: „dem Rechtssystem kommt eine unersetzliche Funktion zu, die sich in den hochkomplexen Gesellschaften der Gegenwart noch stärker profiliert“196. So rechtfertigt sich die vorliegende Arbeit einerseits durch die Aktualität und Schwierigkeit des Themas, andererseits durch die Notwendigkeit seiner erneuten Prüfung im Interesse einer stärkeren Wirksamkeit der Grundrechte und der Rechtsordnung insgesamt.

II. Gegenstand (oder: in welchem Sinn wird Rechtssicherheit untersucht?) Die Analyse der Rechtssicherheit setzt einen fortschreitenden Prozess semantischer Abgrenzung voraus, vor allem wegen der Bedeutungsvielfalt des Ausdrucks „Rechtssicherheit“197. Der erste Schritt besteht in der Unterscheidung zwischen Rechtssicherheit und anderen Sicherheitstypen. Nicht jede Sicherheit ist Rechts 193

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 33; Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 252. 194 Jean-Pierre Bours, Sécurité juridique et Droit Fiscal, in: Les Cahiers de l’Institut d’études sur la Justice, Nr. 4 (Sécurité juridique et fiscalité), S. 63. 195 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 9. 196 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 218. 197 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 7.

II. Gegenstand 

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sicherheit. Es gibt Sicherheit im äußeren oder physischen Sinn, verstanden als Suche nach Schutz gegen äußere Bedrohungen des Lebens, der körperlichen oder seelischen Unversehrtheit, des Eigentums und des gesellschaftlichen Friedens, weshalb man von der Staatspflicht zur Gewährleistung der „äußeren“ und „inneren Sicherheit“ spricht, die von Gewalt und Terrorismus bedroht sind und durch präventive und repressive vom Verwaltungs- und Strafrecht eingrenzte Strategien konkretisierbar sind198. Es gibt gleichfalls Sicherheit im inneren oder psychologischen Sinn, verstanden als Zustand der seelischen Ruhe gegenüber der Wirklichkeit199. Von Sicherheit spricht man auch noch im strikt verhaltensbezogenen Sinn, als Zustand wechselseitiger Verlässlichkeit zwischen zwei Individuen sowohl in ihren strikt individuellen als auch in ihren gesellschaftlichen Beziehungen200. Obwohl diese Bedeutungen eine Beziehung zur Rechtssicherheit aufweisen können, handelt keine von ihr im strengen Sinn. Rechtssicherheit ist ein durch die Rechtsordnung geschützter gesellschaftlicher Wert und bezieht sich außerdem noch auf eine bestimmte Gestaltung der Wirklichkeit durch Rechtsinstitute: statt den Vergleich zwischen einer Norm und der Wirklichkeit selbst zu beinhalten, wie dies bespielsweise bei den freiheitsschützenden Verfassungsprinzipien der Fall ist, kontrastiert das Rechtssicherheitsprinzip eine Verfassungsnorm und eine Rechtswirklichkeit, so dass sein unmittelbarer Gegenstand nicht die Gestaltung der Wirklichkeit, sondern die Gestaltung des Rechts oder eines Rechts als wirklichkeitsgestaltendes Instrument ist, wie später zu zeigen sein wird201. Trotzdem gibt es noch mehrere Bedeutungen, die der Rechtssicherheit selbst zugeschrieben werden können: Sicherheit „des Rechts“, Sicherheit „durch Recht“, Sicherheit „vor dem Recht“ oder „gegen das Recht“, Sicherheit „von Rechten“, Sicherheit „unter dem Recht“, Sicherheit „durch ein Recht“, Sicherheit „als ein Recht“ und Sicherheit „im Recht“. Diesen genannten Bedeutungen könnten andere hinzugefügt werden, die gleichermaßen die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „Rechtssicherheit“ und der inneren Dialektik des „Rechtssicherheitsprinzips“ selbst offenbaren. Diese Betrachtungen erweisen nicht nur die semantische Pluralität des Ausdrucks „Rechtssicherheit“, sondern zielen auf die Eingrenzung des Gegenstands 198

Matthias Kötter, Pfade des Sicherheitsrechts. Begriff von Sicherheit und Autonomie im Spiegel der sicherheitsrechtlichen Debatte der Bundesrepublik Deutschland, S. 85 sowie 157, 223; Maria José Bernuz Beneitez / Pérez Cepeda, Ana Isabel (Hrsg.), La tensión entre libertad y seguridad – una aproximación sociojurídica (2006); Walter Rudolf, Sicherheit und Grundrechte, in: Brener, Michael u. a. (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. FS für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, S. 464; Ignácio Muñagorri / Juan Pegoraro (Hrsg.), La relación seguridad-inseguridad en centros urbanos de Europa y América Latina (2004); Thomas Feltes, Akteure der Inneren Sicherheit: Vom Öffentlichen zum Privaten, in: Lange, Hans-Jürgen / Ohly, H. Peter / Reichertz, Jo (Hrsg.), Auf der Suche nach neuer Sicherheit. Fakten, Theorien und Folgen, S. 105 ff. 199 José Luis Palma Fernández, La seguridad jurídica ante la abundancia de normas, S. 37. 200 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 65; Hermann Jahrreiss, Berechenbarkeit und Recht, S. 5 sowie 8. 201 César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 43 sowie 45.

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A. Einleitende Betrachtungen

der vorliegenden Arbeit: Rechtssicherheit ist in ihrem gesamten Archetypus-­ Sicherheit des Rechts, durch das Recht, vor dem Recht, von Rechten, unter dem Recht, durch ein Recht, als Recht und im Recht-zu untersuchen, nicht nur um seine gesamte Ausdehnung als Verfassungsprinzip zu erweisen, sondern auch um zu zeigen, dass Rechtssicherheit nur dann wirklich besteht, wenn alle diese Aspekte ein Minimum an Geltung haben, und dass man eine Entscheidung unter Berufung auf die Rechtssicherheit nur dann rechtfertigen kann, wenn alle ihre Teilelemente insgesamt mehr gefördert als eingeschränkt werden. Anders gewendet, ist ein minimaler Zustand der Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung nicht erreichbar ohne das Zusammenspiel der verschiedenen Dimensionen der Rechtssicherheit. Rechtssicherheit besteht nicht, wenn der Norminhalt minimal bestimmt, seine Anwendung jedoch willkürlich ist. Sie besteht auch nicht, wenn die Normen, obgleich bestimmt und einheitlich angewandt, ständig ohne Rechtfertigung geändert werden-und so weiter. Rechtssicherheit ist also nur ganz zu haben, wenn sie nicht in Unsicherheit umschlagen soll. Obwohl die vorliegende Arbeit sich um ein umfassenderes Verständnis der Rechtssicherheit bemüht, ist die Betonung einiger ihrer Aspekte nicht unvermeidlich. Diese stärker betonten Aspekte sind nicht die normalerweise als vordringlich erklärten, wie die Pflicht der Tatbestandsbestimmung oder der Schutz des Vertrauens bei Gesetzgebungsakten. Die bervorzugten Elemente sind andere, die traditionell im Hintergrund stehen oder überhaupt keine Berücksichtigung finden, so vor allem diejenigen, die sich auf die analytische Zerlegung des Rechtssicherheitsprinzips, auf seine normative Begründung, auf seine Dimensionen und Wirksamkeit beziehen, wobei in dieser langen Themenliste der Behandlung der Rechtsänderung in den drei Gewalten, der Auswirkungen der Gerichtsentscheidungen im Bereich des Steuerrechts und des Vertrauensschutzes bei ungültigen Verwaltungsakten des Staates besondere Bedeutung zukommt.

III. Methode (oder: in welcher Perspektive wird Rechtssicherheit analysiert?) Selbst nach Abgrenzung des Forschungsgegenstands-Rechtssicherheit als Verfassungsprinzip-im Bereich des Steuerrechts, verbleibt noch die Festlegung des Modus der Analyse, zumal er aus verschiedenen Perspektiven analysierbar ist. Rechtssicherheit wird in historischer Perspektive in der Zeit und in ihrer Entwicklung erforscht. Hier geht es primär um folgende Frage: wie und wann ist die Idee der Rechtssicherheit entstanden? Um sie zu beantworten, sind die Rechtslehre und das Recht in ihrer Geschichte und evolutionären Stimmigkeit zu erforschen202. In 202 In dieser Perspektive, s. an Stelle aller anderen Autoren: Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit: Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘ (Teil 2), in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), S. 115–213.

III. Methode 

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soziologischer Perspektive wird Rechtssicherheit als Element sozialer und politischer Systeme und Institutionen erforscht. Hier geht es vornehmlich um folgende Frage: kennzeichnet oder unterscheidet die Rechtssicherheit das Recht im Zusammenhang mit anderen Systemen und Institutionen? Um sie zu beantworten, sind andere Systeme zu evaluieren, wie die Moral oder die Wirtschaft. Hierbei sind ihre zentralen Elemente zu vergleichen; zu untersuchen sind gleichfalls die Entwicklung der Gesellschaften, vor allem der Industriegesellschaft203. Man kann in soziologischer Perspektive die Rechtssicherheit noch aus der Sicht der Regelhaftigkeit des Verhaltens erforschen, um festzustellen, ob das Verhalten der Menschen sich wiederholt und kausalistisch ist: Wenn ‚x‘ passiert, tritt ‚y‘ ein. Diese deskriptive Untersuchung faktischer Situationen nach Maßgabe des Kriteriums der Verhaltensregelhaftigkeit versucht zukünftige Verhaltensweisen durch Analyse vergangener Verhaltensweisen vorwegzunehmen204. In philosophischer Perspektive wird die Rechtssicherheit aufgrund einer vor allem axiologischen Evaluierung erforscht. Hier geht es vor allem um folgende Fragen: gibt es einen Zusammenhang zwischen Recht und Rechtssicherheit? Welches ist der (moralische) Wert der Rechtssicherheit? Um Antworten auf diesen Fragen zu erhalten, ist die Erforschung des Rechtsbegriffs sowie der Bedeutung von Moral und der Beziehung zwischen Rechts­ sicherheit und anderen Werten unabdingbar205. In politischer Perspektive wird die Rechtssicherheit im Hinblick auf folgende Frage erforscht: ist Rechtssicherheit eine Voraussetzung für die Legitimität der Macht? Um das zu erfahren, muss man die Bedeutung von Macht und Legitimität erforschen und die Beziehung zwischen beiden Elementen feststellen206. In sozialpsychologischer Perspektive wird Sicherheit, auch Rechtssicherheit, verhaltenswissenschaftlich erforscht. Hier geht es um folgende Fragen: Welche Gefühle sind an Rechts(un)sicherheit gebunden? Werden die Bürger in ihren Entscheidungen von Rechtsnormen beeinflusst? Die Antworten erfordern die Erforschung der Empfindungen und Reaktionen von Individuen angesichts der Unsicherheit, wie z. B. Angst, Panik, Gelassenheit, Unruhe, Sorge, und die Erforschung ihrer Reaktion auf die Normen, wie z. B. Gehorsam oder Ungehorsam207. In rechtsdogmatischer Perspektive wird die Rechtssicherheit in ihrer Beziehung zu einer bestimmten Rechtsordnung erforscht, um eine Antwort auf folgende Frage zu finden: was ist Rechtssicherheit und welche Forderungen erge 203

Von diesem Standpunkt aus s. bes. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 75 ff.; Niklas Luhmann, Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen. Probleme und Alternativen, in: Vertrauen: Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, S. 143–160. 204 Hermann Jahrreiss, Berechenbarkeit und Recht, S. 5 sowie 8; Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 24. 205 In dieser Perspektive, s. u. a. Ricardo García Manrique, El valor de la seguridad jurídica (2007); Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 110 ff. 206 In dieser Perspektive, s. u. a. Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 89 ff.; Ricardo García Manrique, El valor de la seguridad jurídica, S. 31–80. 207 In dieser Perspektive, s. u. a.: Adalbert Evers / Helga Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft (1987); Jerome Frank, Law and the Modern Mind (2009) (1. Aufl. New York, 1930; 2. durchgeseh. Aufl. New York, 1949).

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A. Einleitende Betrachtungen

ben sich aus ihr? Die Antwort erfordert die Untersuchung der das Prinzip in einer bestimmten Rechtsordnung bildenden Elemente und der Beziehungen, die sie zueinander haben. Neben diesen Perspektiven könnten noch andere genannt werden, je nach dem Forschungsinteresse. Die hier bevorzugte Perspektive ist rechtsdogmatischer Natur. Auch sie kann jedoch unterschiedlich zur Anwendung kommen. Man kann Rechtssicherheit als Rechtsnorm untersuchen, die Untersuchung aber auf die nachdrückliche Behauptung und Rechtfertigung ihrer Bedeutung konzentrieren, wenn diese fast apologetische Perspektive für den gelebten historischen Augenblick notwendig ist, in Ermangelung einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Bestimmung, die sie gewährleistet, oder wegen ihrer ständigen Verletzung, wie es aus der Sicht der rechtlichen und politischen Legitimität auf je besondere Weise und zur jeweiligen Zeit der Autoren Lopez de Oñate gerade im Jahr 1942 und Corsale im Jahr 1970 getan haben208. Beide Autoren haben dies jedoch getan, ohne die Art und Weise, auf die Rechtssicherheit Funktionalität gewinnt, und die mittelbar im Hinblick auf ihre Wirksamkeit vorgeschriebenen Verhaltensweisen im Einzelnen zu untersuchen. Man kann stattdessen die Rechtssicherheit als Norm untersuchen, hier als Norm der CF/1988 – und in diesem Fall gleichfalls als Norm des deutschen Grundgesetzes. In dieser Perspektive kann die Untersuchung sich auf zwei Achsen konzentrieren: einerseits auf die Suche nach dem Sinn und den Fundamenten der Rechtssicherheit in der Verfassungsordnung selbst, andererseits auf die analytisch-funktionale Methode, worunter die Methode verstanden wird, nach welcher der Untersuchungsgegenstand das Prinzip der Rechtssicherheit als Norm gemäß der brasilianischen Verfassungsordnung und gemäß ihrer Konkretisierung durch Legislative, Exekutive und Judikative-in seiner Bedeutung und Funktion erforscht wird. Mehr noch als zu erfahren versuchen, „warum“ die Rechtssicherheit zu schützen ist, werden wir zu erfahren versuchen, „wie“ sie zu verwirklichen ist, auch im Hinblick auf eine Kontroverse nicht über das „Ob“ sondern über das „Wie“ der Gewährleistung209. Das will nicht besagen, dass die obengenannten anderen Perspektiven nicht auch in die hier bevorzugte Analyse eingehen. Die Tatsache, dass das Rechtssicherheitsprinzip in einem bestimmten Normkontext entstanden ist, lässt einen bestimmten Wert erkennen und schützt bestimmte Rechtsgüter, ohne deren Verfügbarkeit dieser Wert sich nicht als minimal wirksame Rechtsnorm ausprägen könnte. Um die Bedeutung und die sich aus der Rechtssicherheit ergebenden Forderungen zu verstehen, ist der Rekurs auf historische, philosophische und soziologische Argumente zuweilen wichtig, unbeschadet der primär rechtsdogmatischen Natur dieser Arbeit. Am wichtigsten ist, dass ich in dieser Arbeit, in der Überzeugung, dass das größte Hindernis zur Geltung des Rechtssicherheitsprinzips der Mangel an Strenge in ihrer Analyse ist, einen Prozess der Reduktion der Vagheit des Ausdrucks 208

Flavio Lopez de Oñate, La certezza del Diritto, 2. Aufl. 1968 (1. Aufl. 1942); Massimo Corsale, Certeza del Diritto e crisi di legitimità, 2. Aufl.1979 (1. Aufl. 1970). 209 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 109 sowie 131.

III. Methode 

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„Rechtssicherheit“ vermittels eines Modells in Gang zu setzen versuche, das dem Rechtssicherheitsprinzip noch mehr Verwirklichung und Kontrolle zuschreiben kann. Damit vermeidet man, was die Behauptung von Boissard rechtfertigen kann, derzufolge „die Vorstellung der Rechtssicherheit ein so allgemeiner Begriff ist, dass wir ihn beliebig definieren können“210. Zu diesem Behuf wird eine seman­ tische und funktionale Zerlegung der Wörter „Sicherheit“ und „Recht“ vorgenommen, um ihre verschiedenen Aspekte, Elemente und Dimensionen zu verstehen. Diese analytische Perspektive ermöglicht ein besseres Verständnis der semantischen und syntaktischen Probleme, die wir in der rechtswissenschaftlichen Behandlung des genannten Prinzips feststellen. Erstens kann man feststellen, dass häufig das Ausmaß oder die semantische Skala des Ausdrucks „Rechtssicherheit“ nicht erweitert werden. Das Fehlen einer präzisen Definition der Menge der durch den Begriff Rechtssicherheit benannten Gegenstände hat zu interessanten, jedoch bloß scheinbaren rechtswissenschaftlichen Konflikten geführt. Während beispielsweise Frank die Rechtssicherheit als etwas Unerreichbares (eine „Illusion“ oder einen „Mythos“)211 behandelt, sieht Bobbio sie als etwas Notwendiges (ein intrinsisches Element) für die Existenz des Rechts212. Wie kann aber etwas gleichzeitig möglich und unmöglich sein? Dies passiert nur deswegen, weil diese Autoren sich strenggenommen nicht auf denselben, sondern stattdessen auf verschiedene Gegenstände beziehen: der erste bezieht sich auf Rechtssicherheit als Fähigkeit zur Vorwegnahme einer zukünftigen Gerichtsentscheidung, der zweite verweist auf sie als die Fähigkeit, sie annähernd und unter Berücksichtigung der vollen Komplexität des Rechtsphänomens zu berechnen. Die erste Prüfung ist auf der Ebene des Seins angesiedelt und analysiert die Rechtssicherheit als Tatsache, während die zweite auf der Ebene des Sollens angesiedelt ist und die Rechtssicherheit als Norm untersucht213. Der rechtswissenschaftliche Konflikt ist nur scheinbar, da die genannten Autoren sich nicht auf Rechtssicherheit in der gleichen Ausdehnung oder dem gleichen Spektrum beziehen. Diese Feststellung mag als Beweis genügen, dass die vertiefte Analyse des Umfangs oder semantischen Spektrums des Ausdrucks „Rechtssicherheit“ für eine sichere Erkundung des Rechtssicherheitsprinzips absolut notwendig ist. Zweitens ist es möglich, eine mangelnde Vertiefung der Intensität oder semantischen Tiefe des Ausdrucks „Rechtssicherheit“ festzustellen. Das Fehlen einer genauen Definition der Menge der Eigenschaften der „Rechtssicherheit“ hat zu 210

Sophie Boissard, Comment garantir la stabilité des situations juridiques sans priver l’autorité administrative de tous moyens d’action et sans transiger sur le respect du principe de legalité? Le difficile dilemme du juge administratif, in: Les Cahiers du Conseil Constitutionnel 11 (2001), S. 70. 211 Jerome Frank, Law and the Modern Mind, S. 13 (1. Aufl. New York, 1930; 2. durchgeseh. Aufl. New York, 1949). 212 Norberto Bobbio, La certezza del Diritto é un mito?, in: Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 28 (1951), S. 150. 213 Letizia Gianformaggio, Certezza del Diritto, in: Diciotti, Enrico / Velluzzi, Vito (Hrsg.), Filosofia del Diritto e ragionamento giurídico, S. 84.

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A. Einleitende Betrachtungen

einem hohen Grad an rechtswissenschaftlicher Unbestimmtheit in der Behandlung dieses Gegenstands geführt. Diese wissenschaftliche Unbestimmtheit kann sich einerseits aus dem Mangel an Spezifizierung des untersuchten Aspekts der Rechtssicherheit ergeben. Während beispielsweise die Rechtssicherheit von Calmes als „Prinzip“214 behandelt wird, wird sie von Sobota als „Recht“ behandelt215. Wie kann aber etwas gleichzeitig ein „Prinzip“ und ein „Recht“ sein? Das kommt daher, weil der Ausdruck „Rechtssicherheit“ sowohl eine objektive Norm bezeichnen kann, deren Zweck die Gewährleistung der Stabilität der gesamten Rechtsordnung zugunsten der Gesellschaft ist, als auch die reflexive Anwendung derselben Norm auf eine spezifische Situation zugunsten eines Einzelnen. Obwohl beide Autorinnen denselben Gegenstand untersuchen, analysiert die eine seinen objektiven, die andere seinen subjektiven oder reflexiven Aspekt. Die wissenschaftliche Unbestimmtheit kann sich andererseits aus dem Mangel an Spezifizierung der Position ergeben, von der aus ein bestimmter Aspekt der Rechtssicherheit untersucht wird. Drei Beispiele können die Bedeutung der Position, von der aus die Analyse vorgenommen wird, für die Prüfung der Rechtssicherheitselemente erklären. Erstes Beispiel: während das Rückwirkungsverbot von Calmes als Teil des Ideals der Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung behandelt wird216, wird es von von Arnauld als integraler Bestandteil des Stabilitätsideals derselben Rechtsordnung behandelt217. Zu fragen ist hier: welcher der beiden Autoren hat Recht? In Wahrheit untersuchen sie diesen (finalistischen) Aspekt nicht vom gleichen Standpunkt aus, obwohl beide sich auf den gleichen Gegenstand (Rechtssicherheit) beziehen. Anders gewendet, während Calmes das Rückwirkungsverbot prospektiv (von der Gegenwart ausgehend in die Zukunft) analysiert, d. h. als eine Forderung, in Zukunft die Normen der Gegenwart zu bewahren, untersucht von Arnauld das Rückwirkungsverbot retrospektiv (von der Gegenwart ausgehend in die Vergangenheit), d. h. als Forderung, in der Gegenwart die Errungenschaften der Vergangenheit zu bewahren. Somit kann das Rückwirkungsverbot sowohl als Forderung der gegenwärtigen Stabilisierung der in der Vergangenheit verursachten Wirkungen als auch als Pflicht zur zukünftigen Stabilisierung der in der Gegenwart verursachten Wirkungen bestimmt werden. Zweites Beispiel: während das gleiche Rückwirkungsverbot von Novoa als Teil der normativen Orientierungssicherheit und damit des Erkennbarkeitsideals218 und von Perez Luño als Teil der strukturellen, also nicht der funktionalen Dimension der Sicherheit behandelt wird219, wird es 214 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 163. 215 Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 507. 216 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 159. 217 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 324. 218 César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 76. 219 Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 24.

III. Methode 

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von von Arnauld als integraler Bestandteil des Zuverlässigkeitsideals behandelt220. Wir haben hier wieder ein Problem der Perspektive: während der erste Autor, Novoa, das Rückwirkungsverbot aus der Perspektive der Gegenwart untersucht, um zu beweisen, dass der Bürger nur durch eine Norm angeleitet werden kann, die zur Zeit der Tathandlung besteht, erforscht der zweite Autor Perez Luño, das Rückwirkungsverbot aus der Perspektive der Vergangenheit, um zu beweisen, dass der Bürger nicht von der rückwirkenden Anwendung einer neuen Norm überrascht werden darf, wenn er gemäß der zum Zeitpunkt der Tathandlung geltenden Norm gehandelt hat. Drittes Beispiel: während der Schutz des wohlerworbenen Rechts von Valembois als von objektiven Elementen abhängig gesehen wird221, wird er von Arcos Ramírez als Typus subjektiver Unantastbarkeit gekennzeichnet222. Wer hat nun Recht? Obwohl streng genommen beide sich auf das gleiche Element (wohlerworbenes Recht) beziehen, tun sie das nicht von der gleichen Position aus: während Valembois das wohlerworbene Recht vom Standpunkt der subjektiven Situationen aus untersucht, die durch seine Anwendung vorausgesetzt werden, erforscht Arcos Ramírez das gleiche Thema vom Standpunkt der objektiven Erfordernisse aus, die von der Rechtsordnung für ihre Anwendung verlangt werden. Das wohlerworbene Recht kann also, anders gewendet, sowohl aus der Perspektive der subjektiven Situationen analysiert werden, in der es geschützt werden soll, als auch aus der Perspektive der objektiven Erfordernisse, die hierbei beachtet werden müssen. Das Institut des wohlerworbenes Rechts ist, mit einem Wort, ein Instrument des Schutzes subjektiver Situationen, dessen Anwendung von der Einhaltung objektiver Erfordenisse abhängt. Mit Bezug auf den Aspekt des untersuchten Gegenstands und die Position, von der aus er untersucht wird, ergibt sich die wissenschaftliche Unbestimmtheit aus der Tatsache, dass die Autoren die Rechtssicherheit mit unterschiedlicher Intensität, in unterschiedlicher Tiefe und mit unterschiedlichem Verständnis behandeln, ohne jegliche Vorwarnung oder gar Diskussion dieser Unterschiede. Dieser Umstand beweist, dass auch die vertiefte Untersuchung der Intensität oder seman­ tischen Tiefe des Ausdrucks „Rechtssicherheit“ ganz unverzichtbar für eine sichere Prüfung des Rechtssicherheitsprinzips ist. Die vorherigen Betrachtungen dienen also nur der Rechtfertigung der in dieser Arbeit gewählten analytischen Methode. Entweder definieren wir, welches der untersuchte Gegenstand ist, welcher Aspekt untersucht wird und welche Perspektive gewählt wird, oder die Rechtssicherheit wird sich- um einen Ausdruck von Valembois zu verwenden-als „Koloss auf Lehmfüßen“ (un colosse aux pieds d’argile)223 erweisen. Die vorliegende Untersuchung geht also von der Prämisse aus, 220

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 324. Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 202. 222 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 3. 223 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 65. 221

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A. Einleitende Betrachtungen

dass, je präziser die Definition der Sicherheit ist, desto intersubjektiv sicherer die Ergebnisse der Untersuchung sein werden224. Und je sicherer diese Ergebnisse sein werden, desto sicherer wird die Geltung des Rechtssicherheitsprinzips sein. Was definitiv nicht möglich ist, wie Arcos Ramírez betont, ist der schlichte Verzicht auf die Definition der Rechtssicherheit aufgrund der Meinung, dass ihre Selbstverständlichkeit sie jeglicher Definition enthebe225.

IV. Plan (oder: wie wird die Analyse der Rechtssicherheit durchgeführt?) Die Entscheidung für die Untersuchung der Rechtssicherheit als einer Norm der CF/88 bzw. des deutschen Grundgesetzes, vermittels einer primär auf der analytisch-funktionalen Methode begründeten dogmatischen Perspektive, beinhaltet einen bestimmten zu befolgenden Plan. Da man nur wissen kann, welches die Fundamente und Elemente von etwas sind, nachdem man weiß, welches diese Fundamente und Elemente sein müssen, untersucht die vorliegende Arbeit in ihrem ersten Teil die Bedeutung der Rechtssicherheit. In diesem Teil werden die verschiedenen Bedeutungen von Sicherheit untersucht, so dass die Bedeutung von Rechtssicherheit von anderen Sicherheitstypen abgegrenzt wird und die verschiedenen Bedeutungen, die „Rechtssicherheit“ annehmen kann, verständlich werden. Nach der Darlegung ihrer Bedeutungsmöglichkeiten werden im zweiten Teil dieser Arbeit die Fundamente der Rechtssicherheit gelegt-allerdings nicht nur die ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Fundamente, sondern alle Fundamente, die sich mittel- oder unmittelbar auf die Suche nach den Idealen der Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung beziehen, die auf der Erkennbarkeit der Rechtsordnung beruhen. Erst danach wird ein normativer Begriff von Rechts­ sicherheit und Steuerrechtssicherheit vorgeschlagen. Nach der Definition und Begründung der Rechtssicherheit werden ihre Elemente untersucht: die Erkennbarkeit, die Zuverlässigkeit und die Berechenbarkeit. Dieser dritte Teil ist der Kern der vorliegenden Arbeit, in dem das untersucht wird, dessen die Rechtssicherheit zu ihrer Wirksamkeit bedarf. Wie schon dargelegt worden ist, behindert die Prüfung aller Elemente des Rechtssicherheitsprinzips nicht die ausführlichere Erforschung einiger Elemente. In diesem Sinn werden die Änderung der Rechtsprechung und die Wirkungen der Verfassungswidrigkeit feststellenden Entscheidungen eingehender erforscht, da sie gegenwärtige Probleme darstellen. Ziel ist somit die dynamische Dimension der Rechtssicherheit, die in einem weiteren Umfang den Übergang im Steuerrecht offenbart. 224 225

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 161. Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 9.

IV. Plan 

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Im vierten Teil wird die Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips untersucht. Er umfasst die Analyse der Wirkungen und des Gewichts des Prinzips, vor allem in der Konfrontation mit anderen Prinzipien die auch als „Schwesterprinzipien“ bekannt sind, wie im Fall der Gerechtigkeit und der Solidarität. Dieses Desiderat ist keinesfalls von einer unhintergehbaren Zirkelhaftigkeit frei. Um nämlich, strenggenommen, einerseits die Bedeutung eines Gegenstands zu kennen, muss man erst seine Fundamente kennen, da sie den zu definierenden Gegenstand begründen; andererseits muss man auf der Suche nach Fundamenten zuerst wissen, was genau sie zu begründen erlauben. Die Bedeutung hängt somit von den Fundamenten ab und diese hängen von der Bedeutung ab. Die Zirkelhaftigkeit endet hier noch nicht: um die Elemente eines Gegenstands zu bestimmen, muss man zuerst seine Fundamente kennen, da sie den Gegenstand, dessen Elemente zu erklären sind, begründen; und um die Fundamente aufzusuchen, muss man zuerst wissen, welches die Elemente des von ihnen begründeten Gegenstands sind. Das bedeutet also, dass die Elemente auch von den Fundamenten und die Fundamente ihrerseits von den Elementen abhängen. So geht es weiter, vom Anfang bis zum Ende dieses Vorhabens. Diese Zirkelhaftigkeit ist nicht nur im Arbeitsplan feststellbar, sondern auch beim Aufbau der Elemente des Rechtssicherheitsprinzips selbst. Die vorliegende Monographie verweist auf die Ideale der Erkennbarkeit, der Zuverlässigkeit und der Berechenbarkeit als Bestandteile der insgesamt das Rechtssicherheitsprinzip bildenden Idealzustände. Obgleich erkennbar, sind diese Ideale nicht von wechselseitiger Durchdringung frei226. Ein Beispiel kann das veranschaulichen: damit man dem Recht vertrauen kann, muss man es kennen; Rechtskenntnis ist also eine Voraussetzung der Rechtsstabilität; ein sich häufig änderndes und damit unstabiles Recht kann schwerlich gut bekannt sein; daher ist die Stabilität des Rechts eine Bedingung seiner Erkennbarkeit. So ist die Rechtskenntnis die Voraussetzung seiner Stabilität, aber seine Stabilität ist gleichfalls die Bedingung seiner Kenntnis. Diese wechselseitige Durchdringung ist in den Elementen der Rechtssicherheit anzutreffen. Sie erklärt einerseits die scheinbare rechtswissenschaftliche Divergenz bezüglich ihrer Qualifizierung: von Arnauld vertritt den Standunkt, dass die Rechtssicherheit als Voraussetzung der Sicherheit vermittels des Rechts funktioniert227, während Novoa das Gegenteil behauptet, d. h. dass die Rechtssicherheit die Sicherheit durch das Recht voraussetzt228. Andererseits verdeutlicht diese Durchdringung ihre interne wechselseitige Beziehung: die Sachverhalte, die hier als Elemente der Rechtssicherheit behandelt werden, bedingen und erfordern sich wechselseitig. Nicht zufällig wird Sicherheit als „proteusförmige“ Vorstellung gekennzeichnet, da sie ihre Form oft wechselt229. 226 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 251. 227 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 392. 228 César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 72. 229 Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 4.

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A. Einleitende Betrachtungen

Der hier gewählte Plan erkennt diese Gefahren an, versucht sie aber vermittels der Konstruktion getrennter und fortschreitend aufeinander bezogener Teile zu umgehen: die im ersten Kapitel von Titel I des Ersten Teils vorgestellte Definition von Sicherheit ist nicht nur vorläufig, sondern von der etymologischen Bedeutung des Worts „Sicherheit“ aus konstruiert und auf unmittelbar mit dem Thema zusammenhängende rechtswissenschaftliche Untersuchungen gegründet; die Prüfung der Fundamente erfolgt also aufgrund dieser im ersten Kapitel vorgestellten vorläufigen Definition, die im Lauf der Analyse der Fundamente fortschreitend neu erarbeitet und verbessert wird; die Analyse der Elemente erfolgt im Ausgang von den Fundamenten, geht aber über sie hinaus, um die gesetzliche, verwaltungsmäßige und rechtsprechende Konkretisierung derselben Fundamente zu umfassen. Mit diesen Kautelen werden die Zirkelhaftigkeiten im Rahmen des Möglichen und ohne Verlust an Klarheit umgangen. Die vorliegende Arbeit hat sich also einer schwierigen Aufgabe angenommen: sie will die Bedeutung, Dimensionen, Elemente, Fundamente und Wirksamkeit der Steuerrechtssicherheit als Prinzip der brasilianischen Verfassungsordnung untersuchen. Im Fortgang dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, die wichtigsten rechtssicherheitsbezogenen Fragen zu formulieren und zu beantworten: Sicherheit aufgrund woran (im Schutz seiner selbst, bei der Voraussicht von Verhaltensweisen oder der Festlegung von Idealen)? Welche Sicherheit (Sicherheit im nichtrechtlichen Sinn oder Rechtssicherheit und, in diesem Sinn, Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts, durch das Recht, vor dem Recht, unter dem Recht, von Rechten, von einem Recht, als Recht oder im Recht)? Wessen Sicherheit (des Bürgers oder des Staates)? Sicherheit durch wen (durch den Bürger oder den durch den Staat-falls durch diesen, durch die Legislative, Exekutive oder Judikative)? Sicherheit für wen (für den Bürger, den Staat oder die Gesellschaft insgesamt)? Sicherheit wie (durch Erlass von Regeln, durch Anwendung von Regeln, durch die Einführung von Verfahren oder durch die Gewährleistung von Rechten)? Und so weiter, sukzessiv. Anlässlich der begrifflichen Trennung der Aspekte, Elemente und Dimensionen der Rechtssicherheit wird keinesfalls vergessen, dass es in vielen Fällen schwierig sein wird, sie gut auseinanderzuhalten, so wie in anderen Situationen eine gleichzeitige Anwendung vorkommen kann. Zanella Di Pietro weist mit Recht darauf hin, dass die verschiedenen Prinzipien, welche die Rechtsordnung bilden, miteinander kommunizieren, so dass eine Trennung sehr oft schwierig ist230. Die normative Grundlage dieser Forschung ist die brasilianische Rechtsordnung. Hier ist übrigens, wie schon im Vorwort zur deutschen Ausgabe dieser Arbeit gesagt worden ist, im Hinblick auf die Ähnlichkeit der deutschen und brasilianischen Verfassungsordnung darauf hinzuweisen, dass die im Folgenden dargelegten Grundlagen und Schlussfolgerungen weitgehend auch auf die deut 230 Maria Sylvia Zanella Di Pietro, Os princípios da proteção à confiança, da segurança jurídica e da boa-fé na anulação do ato administrativo, in: Motta, Fabrício (Hrsg.), Direito Público Atual: estudos em homenagem ao Professor Nélson Figueiredo, S. 298.

IV. Plan 

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sche Rechtsordnung anwendbar sind, schon deshalb, weil dieser Sachbereich der Forschung die Sichtung der ausländischen Rechtswissenschaft, insbesondere der deutschen, italienischen, französischen, spanischen, englischen, US-amerikanischen und portugiesischen Rechtswissenschaft nicht behindert, sondern eher empfiehlt. Diese Sichtung erfolgt jedoch nicht, um den herangezogenen Werken fertige Schlussfolgerungen über die ausländischen Rechtsordnungen zu entnehmen, in dem Sinn, dass das im Ausland vertretene Verständnis auch in Brasilien maßgeblich sei. Vielmehr gibt die Sichtung der ausländischen Rechtswissenschaft und des ausländischen Rechts das Instrument ab, um herauszufinden, welche Argumente von den Autoren bei der Auslegung und Anwendung von den in Brasilien positivierten ähnlichen Regeln und Prinzipien benutzt werden. Außerdem ist die sorgfältige Sichtung der Stellungnahmen der ausländischen Rechtswissenschaft zum Rechtssicherheitsprinzip das Mittel, um sowohl die Unzulänglichkeiten der ausländischen Rechtslehre und Rechtsprechung aufzudecken als auch im Vergleich die Besonderheiten der brasilianischen Rechtsordnung zu erkennen. Ein Beispiel der Unzulänglichkeit eines ausländischen Modells kann der Rechtsprechungspraxis des deutschen Bundesverfassungsgerichts entnommen werden. Es betrifft die Variation der Wirkungen von in Verfahren der konkreten Verfassungsmäßigkeitskontrolle getroffenen Entscheidungen. Während diese Technik in Brasilien kopiert wird, sei es durch die Legislative, sei es durch die Judikative, als ob sie die Quintessenz der theoretischen Entwicklung wäre, wird sie von der deutschen Rechtswissenschaft stark und umfassend kritisiert. Die deutsche Rechtswissenschaft geht so weit, zu behaupten, dass „[d]as ‚Vorbild‘ der Judikatur des BverfG […] nicht nachahmenswert“ ist231, oder, mit Bezug auf die Beibehaltung verfassungswidriger Gesetze, dass „[d]ieses Konzept […] aufgegeben werden“ sollte232. Ein Beispiel der Besonderheit der brasilianischen Rechtsordnung kann bei den normativen Grundlagen des Rechtssicherheitsprinzips gefunden werden. Da die CF/1988, anders als andere Verfassungen, ausdrückliche Bestimmungen über die Teilideale des Rechtssicherheitsprinzips enthält, ist am Ende nicht nur der Begriff dieses Prinzips anders, sondern müssen einige seiner Teilelemente strikter angewandt werden als in anderen Rechtsordnungen. Das ist der Fall der Regeln zum Schutz des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung, der Rechtskraft und des Steuertatbestands, die aufgrund des Interesses des Gemeinwohls nicht übergangen werden können, wie es ausnahmsweise in Deutschland, Spanien, Frankreich und Italien erlaubt ist. Kurz, die ausländische Rechtswissenschaft wird mit der gebotenen Sorgfalt herangezogen, aber nur, um die Besonderheit des brasilianischen Rechtssystems herauszuarbeiten. Im Steuerrecht erreicht diese Besonderheit einen noch höheren Evidenzgrad in Ansehung der Rigidität und der analytischen Natur der brasilianischen Bundesverfassung in steuerrechtlichen Mate 231

Roman Seer / Jörg Peter Müller, Begrenzung der Wirkungen seiner Richtersprüche durch den EuGH, in: IWB 5 (2008), S. 262. 232 Christoph Moes, Die Anordnung der befristeten Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze durch das Bundesverfassungsgericht, in: StuW 1 (2008), S. 36.

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A. Einleitende Betrachtungen

rien233. Die rechtsvergleichende Analyse soll also überall das ergeben, was Legrand als ihr vornehmstes Ziel bezeichnet hat: die Wahrnehmung der Unterschiede234. Die vorliegende Monographie beabsichtigt, auf andere Weise als bisher einen anderen Begriff von Rechtssicherheit im Bereich des Steuerrechts zu entwickeln. Hinsichtlich des vorgeschlagenen Begriffs von Rechtssicherheit zeichnet sich diese Arbeit dadurch aus, dass sie einen Begriff vorstellt, der in seinem Typus, der Methodologie seiner Konstruktion und der Verifizierungsmethode den anderweitig verwendeten Begriffen nicht gleich ist. Die Unterscheidung hinsichtlich des Typus des vorgeschlagenen Begriffs besteht in der Übernahme eines nichtklassifikatorischen Begriffs von Rechtssicherheit: statt einen doppelwertigen Begriff von Rechtssicherheit zu vertreten, der auf den Dualismus „Sicherheit–Unsicherheit“ gegründet ist, wird hier ein gestufter und mehrwertiger Begriff vorgeschlagen, der auf das zwischen Zuständen von „mehr oder weniger Sicherheit“ schwankende graduelle Spektrum gegründet ist. Dieser Begriff der Rechtssicherheit spiegelt seinerseits eine semantisch-argumentative Konzeption des Rechts wider: statt dieses als etwas vollständig und vorgängig Gegebenes zu verstehen, das vermittels einer diskursiven Methode bloß vom Interpreten zu beschreiben ist (objektivistische Rechtskonzeption), oder als eine bloß argumentative Tätigkeit, die keiner Beschränkung vor dem Entscheidungsprozess ihrer Durchführung unterliegt (argumentative Rechtskonzeption), wird das Recht in einer mittleren Position zwischen diesen beiden Konzeptionen aufgefasst, d. h. als eine rekonstruktive und situative Praxis von Minimalbedeutungen, deren Durchführung von rechtsrationalen Strukturen der Legitimation, der Bestimmung, der Argumentation und Begründung abhängt. Die Definition von Rechtssicherheit spiegelt ihrerseits diese Rechtskonzeption wider. Der unterscheidende Faktor in Bezug auf die Methode der Begriffskonstruktion ist in der Tatsache zu sehen, dass die vorliegende Monographie ein analytisches Verfahren der Reduktion der begrifflichen Vagheit wählt: statt das Rechtssicherheitsprinzip vermittels einer Analyse zu untersuchen, die sich auf die Beschreibung seiner geschichtlichen und rechtswissenschaftlichen Entwicklung bezieht, oder auf dem Weg einer bloßen Apologie, entscheidet die vorliegende Arbeit sich für die Zerlegung der verschiedenen Aspekte, die für das angemessene Verständnis von Rechtssicherheit auseinandergehalten werden müssen. Damit bemüht sie sich um die Entwicklung eines Modells, dessen Ziel die Erklärung und Operationalisierung der Kontrolle des Rechtssicherheitsprinzips ist. Die auf die Methode der Begriffsvalidierung bezogene Besonderheit ist in der Vorstellung eines juristischen Begriffs der Rechtssicherheit zu sehen: statt einen faktischen und empiristischen Begriff von Rechtssicherheit zu formulieren, dessen Validierung von einer tatsächlichen und faktisch beobachtbaren Voraussicht ab 233 234

Geraldo Ataliba, Sistema constitucional tributário brasileiro, S. 39. P. Legrand, „Comparer“, in: Le Droit Comparé: aujourd’hui et demain, S. 37.

IV. Plan 

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hängt, wählt die vorliegende Monographie einen normativen Begriff, der Eigenschaften konnotiert, deren Kontrollierbarkeit von der Einhaltung bestimmter theoretischer Bedingungen abhängt, die in der Lage sind, ein Potenzial für die Förderung bestimmter Sachverhalte zu benennen. Dieser Begriff ist normativ auch in dem Sinn, dass er, statt bloß die Rechtssicherheit als etwas Wünschbares vorzustellen, sie als eine Vorschrift für die Wahl von Verhaltensweisen beschreibt, die den Grad der Förderung bestimmter Sachverhalte steigern sollen. Hinsichtlich der Elemente des Rechtssicherheitsbegriffs zeichnet die vorliegende Arbeit sich dadurch aus, dass sie einen anderen und komplexeren Begriff von Rechtssicherheit vertritt: statt die Rechtssicherheit teilweise zu untersuchen, d. h., beispielsweise, als Norm, die nur ein Ideal (z. B. der Vorhersehbarkeit oder Stabilität) bewahren soll, als Dimension (objektives Prinzip oder Grundrecht) oder Aspekt (Sicherheit des Rechts, durch das Recht, vor dem Recht, unter dem Recht, von Rechten, eines Rechts, für ein Recht oder als ein Recht), versucht die vorliegende Arbeit das Rechtssicherheitsprinzip als Norm zu verstehen, die sich aus einer Vielfalt von gemeinsam zu berücksichtigenden Idealen, Dimensionen und Aspekten zusammensetzt, je nach dem normativen Kontext, in den seine Anwendung sich einfügt. Und selbst in Bezug auf jedes dieser Elemente setzt sich die vorliegende Arbeit das Ziel, die Idealzustände, deren Förderung vom Rechtssicherheitsprinzip aufgegeben wird, zu ändern, nicht nur auf der Ebene der Nomenklatur, sondern auf der des Inhalts: an Stelle von Bestimmtheit, Erkennbarkeit; an Stelle von Unveränderlichkeit, Zuverlässigkeit; an Stelle von Vorhersehbarkeit, Berechenbarkeit. Zugrunde liegt dieser Konzeption eine Auffassung des Rechts nicht eigentlich als etwas Gegebenes, auch nicht als ein integral zu konstruierender Gegenstand, sondern als eine normative Bedeutungen rekonstruierende Argumentationstätigkeit, die auf hermeneutische und anwendungsbezogene Postulate gegründet ist. Das Prinzip der Rechtssicherheit bestimmt die Suche nach den Idealen der Erkennbarkeit, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit im Recht. Diese Ideale sind jedoch, mit Verlaub für die Verwendung der Metapher, nur ein Teil der Rechtssicherheit, den man oberhalb der Meeresoberfläche sehen kann, einem Eisberg vergleichbar, dessen Spitze eine riesige ausgedehnte und tiefe Masse unter der Meeresfläche verbirgt. Da das Rechtssicherheitsprinzip die Konturen dessen festlegt, was unverzichtbar ist, damit der Bürger nach Maßgabe des Rechts seine Gegenwart gestalten und in Freiheit und Autonomie, ohne Irrtum oder ungerechtfertigte Überraschung, seine Zukunft planen kann, zielt seine Untersuchung auf die Untersuchung der Rechte der Freiheit, der Gleichheit und der Menschenwürde und gleichzeitig auf die Untersuchung der auf die Staatstätigkeit bezogenen Prinzipien. Man kann noch einen Schritt weiter gehen: die das Rechtssicherheitsprinzip bildenden Ideale offenbaren indirekt den Gesellschaftstyp, den man begründen will, durch den Staats- und Bürgertypus, die sich aus seiner Gestaltung ergeben. Die Erkennbarkeitsforderung erlaubt, dass der Bürger das was er in Übereinstimmung mit dem Recht „tun oder nicht tun darf“, „wissen“ kann. Diese Forderung im Rahmen eines Zuverlässigkeits- und Berechenbarkeitszustands befähigt ihn, etwas in Autonomie

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A. Einleitende Betrachtungen

und Freiheit „zu tun oder nicht zu tun“, so dass er das, was er wünscht und zu sein in der Lage ist, „sein oder nicht sein darf“. Anders formuliert, ist Rechtssicherheit ein Instrument für den Bürger, damit er vorher und ernstlich wissen kann, was er tun darf, so dass er besser das sein kann, was er sein kann und will. Nach Ataliba sind die Bürger sicher, die gewiss sind, dass das Recht objektiv einheitlich ist und dass das Verhalten des Staats oder der anderen Bürger sich von ihm nicht entfernen wird235. Rechtssicherheit ist also das Instrument der Verwirklichung der Freiheit, und Freiheit ist das Mittel zur Verwirklichung der Menschenwürde. Diese Bemerkungen sollen sinnfällig machen, dass zwischen den Extremen Rechtssicherheit und Rechtsunsicherheit und parallel zur von ihnen bezeichneten Linie eine Skala mit zwei extremen Bürgertypen entsteht: dem aktiven und den trägen Bürger; dem handelnden und dem in sich zurückgezogenen Bürger; dem unschlüssigen und entschlossenen Bürger; dem vertrauenden und misstrauenden Bürger; dem innovierenden und dem wiederholenden Bürger; dem investierenden und dem sparenden Bürger; dem guten Steuerzahler und dem Defraudanten. Spiegelbildlich entstehen verschiedene Staatsspezies: der Staat, der mit offenen Karten spielt, und der im Geheimen handelnde Staat; der seriöse und der betrügende Staat; der seine Bürger achtende und seine Bürger missachtende Staat; der sorgfältige und der die Bürger überrumpelnde Staat. So entstehen auf dieselbe Weise unterschiedliche Typen von Beziehungen zwischen dem Staat und dem Bürger: Nähe und Distanzierung, Opposition oder Assoziation, Zusammenarbeit oder Trennung. Und verschiedene Werte kommen in der Gesellschaft zur Geltung: Gewissheit oder Ungewissheit, Glaube oder Unglaube, zwingender Charakter oder Permissivität, Ordnung oder Chaos, Stabilität oder Instabilität. Alle diese Konsequenzen der (Un)Sicherheit beweisen, mit Verlaub für einen weiteren konnotativen Ausdruck, dass der Verwirklichungsgrad der Rechtssicherheit offenbart, ob das Recht bzw., im steuerrechtlichen Bereich, ob die Abgabe und die auf ihre Kontrolle und Beitreibung bezogenen Tätigkeiten „Mauern“ oder „Brücken“ für die Verwirklichung des Menschen im Rechtsstaat sind. Deswegen lässt sich behaupten, dass die Untersuchung der Rechtssicherheit letztlich in die Frage mündet, welchen Typus des Staats, des Bürgers, der Gesellschaft und der Werte wir begründen wollen. Die vorliegende Arbeit ist eine Untersuchung der Rechtssicherheit, aber sie ist auchund das ist der springende Punkt-eine Untersuchung der Freiheit, der Gleichheit und der Menschenwürde, somit auch eine Untersuchung der Zurückhaltung oder Mäßigung, der die Bürgerrechte achtenden Urbanität und des Anstands in der Ausübung der Besteuerungsgewalt. Wie zur gegebener Zeit bewiesen werden wird, kann der Ausdruck „Rechtssicherheit“ mehrere Bedeutungen annehmen: Sicherheit „des Rechts“, „durch das Recht“, „als Recht“, „vor dem Recht“, „unter dem Recht“, „von einem Recht“ bzw. „von Rechten“ oder „im Recht“. Nun ist der Ausdruck, der den in diesem Werk vertretetenen Begriff der Rechtssicherheit am besten wiedergibt, „Sicherheit im 235

Geraldo Ataliba, República e Constituição, 2. Aufl., S. 184.

IV. Plan 

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Recht“, da er am besten das Verständnis veranschaulicht, dass Rechtssicherheit nicht eine intrinsische Qualität des Rechts oder seiner an vorgängige Statuierung gebundenen Normen ist, sondern ein Produkt, dessen Existenz mehr oder weniger von der Konjunktion einer Reihe von Kriterien und Argumentationsstrukturen abhängt, die im Prozess der Rechtsanwendung selbst nachzuprüfen sind. Dies rechtfertigt den Titel dieser Arbeit: „Theorie der Rechtssicherheit“. Der Akzent der Arbeit liegt also auf dem Übergang. In diesem Sinn könnte der Titel dieser Monographie ebensogut lauten: Transitionales Steuerrecht. Aber die diese Arbeit überwölbende Idee besteht ja gerade darin, anhand des leitenden Konzepts der Rechtssicherheit die Besteuerung zu verstehen und dabei in Bezug auf die Zeit die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft und, in Bezug auf die Anwendung, die abstrakte und konkrete Ebene wechselseitig zu vermitteln. So begrenzt das Erkennbarkeitsideal die Bedingungen für die gegenwärtige Ausübung der Freiheits- und Eigentumsrechte; das Zuverlässigkeitsideal veranschaulicht prospektiv den Übergang von der Gegenwart in die Zukunft, um an der Gegenwart das aufzuweisen, was beim Übergang in die Zukunft zu bewahren ist; und die Transparenz der semantisch-argumentativen Kontrolle offenbart die Notwendigkeit einer diskursiven Objektivität beim Übergang von der Vorschrift zur Norm und von der Norm zur Entscheidung. Gegenstand der Arbeit ist, anders gewendet, die Untersuchung des Übergangs im Steuerrecht aufgrund des Rechtssicherheitsprinzips und unter dem Blickwinkel der Ausübung der Grundrechte der Freiheit, des Eigentums, der Gleichheit und der Menschenwürde. Da das Rechtssicherheitsprinzip die Grundlage des Übergangs ist und sogar das Kriterium dafür abgibt, was sich ändern kann und was bleiben muss, entfernt sich die vorliegende Arbeit von anderen. „Übergangsrecht“ ist ein traditionell benutzter Ausdruck, der die Gesamtheit der Normen bezeichnet, die eine Gesetzeskollision in der Zeit regeln, wobei diese Kollision normalerweise auf der Vorstellung der Rechtssituation beruht und durch Kollisionsregeln beigelegt wird236. Zugrunde liegt dieser Analyse der Abschluss des eingetretenen oder nicht eingetretenen Tatbestands unter der Geltung des geänderten Gesetzes, wobei dessen Geltung als eines der wichtigsten Kriterien angesehen wird. Seinerseits kennzeichnet der Ausdruck „Übergangsbestimmungen“ normalerweise eine Menge zeitlich befristeter und sekundärer Bestimmungen zum Zweck der Regelung anderer Bestimmungen, durch Rekurs auf verschiedene Techniken, wie etwa die zeitlich verschobene Wirksamkeit. Ziel dieser Bestimmungen ist eine verstärkte Klarheit, die Rücknahme der traditionellen Regeln zur Lösung von Gesetzeskollision, die Reduktion der Komplexität oder selbst die zeitliche Verschiebung der Anwendung des neuen Gesetzes237. 236

Paul Roubier, Le Droit transitoire: conflits des lois dans le temps 1929/33 (1. Aufl. 2 Bde.), 1960 (2. Aufl. 1 Bd.), 2008 (Reprint der 2. Aufl.), S. 3 sowie 146 ff.; Michael Koch, Die Grundsätze des intertemporalen Rechts im Verwaltungsprozess – Vertrauensschutz im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, S. 40. 237 Gweltz Éveillard, Les dispositions transitoires en Droit Public français, S. 6 ff. sowie, 49, 117, 193 ff.

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A. Einleitende Betrachtungen

Die vorliegende Arbeit wählt jedoch eine andere Perspektive: sie untersucht nicht den Konflikt zwischen Gesetzen, analysiert auch nicht sekundäre zeitlich befristete Bestimmungen, deren Zweck die Gewährleistung der sofortigen oder zeitlich verschobenen Anwendung neuer Gesetze ist. Sie untersucht vielmehr die Grenzen des Übergangs in der Rechtsordnung, im Steuerrecht, aus dem Blickwinkel der Rechtssicherheit, die ihrerseits auf den Grundrechten ruht, nicht nur im Bereich der Legislative, sondern auch der Exekutive und der Judikative, selbst wenn es keinen eigentlichen Normkonflikt und auch keine wohlerworbenen Rechte gibt, sondern Rechte, die zu beachten sind, da sie auf eine bestimmte Weise und mit einer bestimmten Intensität ausgeübt worden sind. Der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist also nicht die Abfolge der Normen im Lauf der Zeit, sondern die Verwirklichung des Rechts selbst, sei es in der Zeit, sei es im Bereich der Anwendung. Diese neue und umfassendere Analyse, die sich auch anderer Kriterien bedient, kann „Transitionales Recht“ (transitional law) genannt werden238. Transitionales Recht im hier definierten Sinn ist also nicht dasselbe wie intertemporales Recht oder Übergangsrecht. Diese Rechtstypen unterscheiden sich hinsichtlich des Gegenstands, des Zwecks, des Kriteriums, des Fundaments und des Umfangs: zentraler Gegenstand des Intertemporalen Rechts ist die Untersuchung der Kollision zwischen Gesetzen in der Zeit, während das Transitionale Recht alle von der Legislative, der Exekutive und der Judikative ausgehenden Normveränderungen zum Gegenstand hat und sie nach Maßgabe der Funktion einer jeden Gewalt zu unterscheiden versucht; das Intertemporale Recht verfolgt grundsätzlich den Zweck, die Änderung durch die Eliminierung des Normkonflikts zu erlauben, im Hinblick auf die Erhaltung der gesetzgebenden Gewalt und das vorliegende Interessse des Staates, während das Transitionale Recht Wandel und Beständigkeit zu harmonisieren versucht und dabei als Hauptabsicht den Schutz der Grundrechte der Freiheit, des Eigentums, der Gleichheit und der Menschenwürde anstrebt; das Intertemporale Recht verwendet primär auf einer abstrakten Normebene gefundene Kriterien durch Feststellung des Zustandekommens von Handlungen oder Tatbeständen aus der Perspektive der abgeänderten Norm, während das Transitio­nale Recht eine Lösung anstrebt, die sich vorwiegend auf konkrete Tatbestände gegründeter Kriterien bedient, durch die Feststellung des Maßes der Ausübung von Dispositionen aus der Sicht der Grundrechte, unabhängig von der Geltung der vorgängigen Norm und dem Abschluss von Handlungen oder Tatbeständen gemäß diesen Dispositionen; das Intertemporale Recht gründet sich zuerst auf Kompetenzregeln, während das Transitionale Recht diese mit den Grundrechten verbindet; das Intertemporale Recht umfasst namentlich die Beziehung zwischen zwei Normen aufgrund einer Tatsache, oder, abgekürzt und metaphorisch formuliert, die Beziehung zwischen zwei Normen und einem Punkt, während das Transitionale Recht 238

Ake Frändberg, Retroactivity, Simulactivity, Infraactivity, in: Bjarup, Jes; Blegvad, Mogens (Hrsg.), Time, Law and Society, S. 55.

IV. Plan 

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die Beziehung zwischen zwei Normen und der Ausübung von Grundrechten eines oder mehrerer Individuen oder die Beziehung zwischen zwei Normen und einer Linie beinhaltet. Transitionales Recht ist daher auf das Rechtssicherheitsprinzip gegründet. Dieses Prinzip ist seinerseits auf die Verbindung von Prinzipien und Grundrechten gegründet. Das durch die Abgrenzung der Definition, des Inhalts und der Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips im Bereich des Steuerrechts konstruierte Transitionale Recht kann „Transitionales Steuerrecht“ genannt werden. Es ist das Recht der Steuerrechtssicherheit oder, wenn man so will, die Verwirklichung des Rechts aus der Perspektive der auf das Steuerrecht angewandten Grundrechte. Es ist das „Steuerrecht in Bewegung“, wobei in den Bedeutungsbereich des Wortes „Bewegung“ die zu seiner Konkretisierung notwendige semantisch-argumentative Tätigkeit eingeschlossen ist. Es ist, summa summarum, das „Steuerrecht in Aktion“. Angesichts der Bedeutung des Themas und seiner Komplexität wird angestrebt, durch die Formulierung der schon genannten Grundfragen über Rechtssicherheit intersubjektive Kriterien festzulegen, die eine Entdeckung und Kontrolle der konkreten Verhaltensweisen erlauben, deren Wahl Wirkungen hervorruft, die ihrerseits einen Beitrag zur Förderung der auf ihre Erkennbarkeit gegründeten Zwecke der Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung leisten. Ohne diese kriterienbewehrte Konstruktion werden das normative Ideal der Rechtssicherheit, so wie andere Ideale, etwa das der Gleichheit und Freiheit, nicht in ihrem vollen Umfang erreicht. Molfessis erinnert zu Recht daran, dass die Zwecke, welche die Rechtssicherheit bilden, „nicht per Proklamation erreicht werden“239. Ohne einen sorgfältig durchgeführten Prozess der Reduktion der Unbestimmtheit in allen ihren Aspekten wird Rechtssicherheit nicht mehr als ein „propagandistisches Schlagwort“ oder ein „rechtspolitisches Betäubungsmittel“ sein240. Mein Wunsch ist, diese Aufgabe durch eine gleichfalls erkennbare, zuverlässige und berechenbare (vielleicht auch minimale, im Ansehung meiner Grenzen) Arbeit zu lösen. Dieses Buch ist also ein Versuch, Sicherheit sicher-und auch vermittels der Sicherheit-zu untersuchen. Die Schwierigkeit des Themas verhehle ich durchaus nicht. Es gibt in der Tat Probleme, die so komplex sind, dass man sie in einer Monographie nicht behandeln kann. Gleichzeitig sind sie so grundlegend, dass sie in einem einzigen Buch abgehandelt werden müssen. Das Rechtssicherheitsprinzip ist ein solches Problem: komplex, aber grundlegend. Diese Feststellung erklärt auch die Behauptung von Ferraz Júnior, derzufolge „das Thema Rechtssicherheit gleichzeitig eines der einfachsten und vertracktesten der Rechtslehre ist“241.

239 Nicolas Molfessis, Combattre l’insécurité juridique ou la lutte du système juridique contre lui-même, in: Sécurité juridique et complexité du Droit. Conseil d’État. Rapport Public 2006. Études e documents Nr. 57, S. 391. 240 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 48 sowie 116. 241 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Segurança jurídica e normas gerais tributárias, in: RDT 17–18 (1981), S. 51.

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A. Einleitende Betrachtungen

Da das Thema weit und facettenreich und der Weg zu seiner Analyse voller Paradoxien ist und durch ein nachfolgend zu beschreibendes Dickicht von Zirkelhaftigkeiten geht, muss die Lösung der Aufgabe der Untersuchung der Sicherheit mit der fortschreitenden Überwindung der mentalen Unsicherheit beginnen, die eine so große Aufgabe im Kopf desjenigen anrichtet, der in aller Bescheidenheit das Wagnis ihrer Lösung auf sich nimmt.

B. Bestimmung der Rechtssicherheit „Die Sicherheit des Rechts fordert Positivität des Rechts: wenn nicht festgestellt werden kann, was gerecht ist, so muß festgesetzt werden, was rechtens sein soll und zwar von einer Stelle, die, was sie festsetzt, auch durchzusetzen in der Lage ist.“ (Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, 2. Aufl., S. 73) „Das Recht mag ungerecht oder fehlerhaft sein, aber nie unsicher, da die Abwesenheit von Sicherheit das Wesen des Rechtlichen selbst negiert.“ (L. Recasens Siches, Tratado General de Filosofía del Derecho, S. 224)

I. Bedeutung der Rechtssicherheit (oder: was kann Rechtssicherheit bedeuten?) „Trotz aller gebotenen Vorsicht hinsichtlich der Verallgemeinerung kulturspezifisch interpretierter psychischer Tatbestände – die bei der gegenwärtigen Aktualität unseres Themas besonders geboten scheint – wird man dem anthropologischen Grundgedanken, der Mensch sei ein Mängelwesen, ein gefährdetes Wesen, ein in seinem Verhalten auf die Zukunft gerichtetes, handelndes Wesen, das die Bedingungen seines zukünftigen Deseins selbst zu schaffen und zu stabilisieren sucht, kaum widersprechen können.“ (Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 11) „Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden noch die Frucht derselben zu genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.“ (Wilhelm von Humboldt, Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates (1792), 2. Aufl., S. 66) „Vertrauen ist die Grundlage mitmenschlicher Begegnung, also auch des Rechts. Wer von einem anderen etwas lernen, mit ihm unternehmen, sich an seinem Vorbild ausrichten will, muss diesem Menschen vertrauen. Deshalb ist Grundbedingung einer freiheitlichen Verfassung die Verlässlichkeit der Rechtsordnung. Der Mensch vertraut nur einem Recht, das ihm vertraut ist.“ (Paul Kirchhof, Vertrauensschutz im Steuerrecht, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 1) „Erst das Vertrauen in die Kontinuität staatlicher Institutionen und verbindlicher Regeln schafft die Basis für die Entfaltung der menschlichen Freiheit.“ (Dieter Birk, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 11)

Seit langer Zeit verwenden die Wissenschaftler den Ausdruck „Rechtssicherheit“ in unterschiedlicher Bedeutung.1 Der augenfälligste Grund ist die Mehrdeutigkeit 1

Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, S. 2.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

des Wortes „Sicherheit“ und des Ausdrucks „Rechtssicherheit2. In der ersten Bedeutung kann es einen psychischen Zustand der Angstfreiheit oder der Unkenntnis der Gefahr bezeichnen, in der zweiten eine Sinnpluralität, je nach der Definition der Wörter „Sicherheit“ und „Recht“. Deshalb müssen wir einerseits die Bedeutung von Sicherheit definieren und andererseits den Rechtssicherheitsbegriff durch seinen kontrastiven Vergleich mit anderen Sicherheitstypen explizieren3. Das allein ist jedoch unzureichend. Wir müssen auch noch die verschiedenen Verwendungen bestimmen, die der Ausdruck „Rechtssicherheit“ bezeichnet, um dann die genaue Bedeutung des Ausdrucks „Steuerrechtssicherheit“ zu untersuchen. Ohne dieses Verfahren führt die Diskussion über Rechtssicherheit zu einem „jämmerlichen Schiffbruch im semantischen Ozean“, wie Mezquita del Cacho bemerkt hat4. Eben dieses Verfahren wird im Folgenden angewendet.

1. Sicherheit, nicht juristisch verstanden Das Wort „Sicherheit“ wird in der Bedeutung des Bemühens des Menschen um Schutz gegen äußere Gefahren (äußere Sicherheit, körperliche oder objektive Sicherheit) benutzt, wie das in dem Fall geschieht, in dem der Mensch sich gegen Gewalt, Verbrechen oder Schmerzen schützen will5. Diese Bedeutung ist gemeint in Aussagen wie „im Haus ist der Mensch gegen die Kälte geschützt“ oder „in einem Luftschutzbunker ist der Bürger vor den Wirkungen von Luftangriffen sicher“. „Sicher sein“ bedeutet in diesem Sinn vor oder gegen etwas geschützt zu sein, was eine äußere Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit darstellt. Sicherheit ist nicht Abwesenheit von Zweifel, sondern Abwesenheit von Angst6. Die französische Sprache kann diese Bedeutung durch einen zweiten Terminus veranschaulichen: statt „securité“ benutzt sie „sûreté“7. Der Gebrauch dieses Begriffs ist jedoch auch zweideutig: er wird gleichzeitig benutzt, um einen Zustand der „Gewährleistung“ auszudrücken8. 2

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 39 sowie 64, 103; Bertrand Mathieu, La sécurité juridique: un principe constitutionnel clandestin mais efficient, in: Fraisseix, Patrick (Hrsg.), Mélanges Patrice Gélard – Droit Constitutionnel, S. 301. 3 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 9. 4 José L. Mezquita del Cacho, Seguridad jurídica y sistema cautelar, in: Teoría de la seguridad jurídica, S. 48. 5 Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit: Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘ (Teil 1), in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 34, S. 133; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 15; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 97. 6 José L. Mezquita del Cacho, Seguridad jurídica y sistema cautelar, in: Teoría de la seguridad jurídica, S. 213. 7 Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 2. 8 Bertrand Mathieu, La sécurité juridique: un principe constitutionnel clandestin mais efficient, in: Fraisseix, Patrick (Hrsg.), Mélanges Patrice Gélard – Droit Constitutionnel, S. 303.

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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Das Wort „Sicherheit“ wird auch im Sinn der Suche nach einem Zustand der Freiheit von Angst und Beklommenheit (innere, psychische oder subjektive Sicherheit) benutzt, wie im Beispiel der Hypothese, in welcher der Mensch einen Zustand emotionaler Gelassenheit angesichts der Wirklichkeit erreichen will9. In diesen Fällen wird der Terminus „Sicherheit“ benutzt, um eine individuelle psychische Dimension auszudrücken. Er ist damit Untersuchungs gegenstand der Psychologie, welche die psychischen oder emotionalen Ursachen der Angst analysiert sowie die Elemente, die den Begriff des „Vertrauens“ aus der Sicht der Psychologie bilden, wie dies Freud getan hat10; und er ist gleichermaßen Untersuchungsgegenstand der Anthropologie, deren Ziel darin besteht, in der menschlichen Natur das Streben nach dem Sicherheitsideal aufzusuchen, wie dies Evers und Nowotny getan haben11. Schließlich offenbart Sicherheit als psychischer Zustand das, worauf sich die Denker der Antike mit dem Begriff „animi tranquillitas“ bezogen, d. h. die Abwesenheit von Sorgen, wie das Wort „Sicherheit“ im Sinne von „sine cura“ (ohne Sorgen) zeigt12. Reale hat diese Unterscheidung sehr scharfsinnig erkannt: „Man muss also unterscheiden zwischen einem ‚Sicherheitsgefühl‘ oder einem Geisteszustand der Individuen und Gruppen, deren Absicht auf den Genuss des Gebrauchs eines Gewährleistungskomplexes zielt-und diesem Komplex als solchem, als Menge von instrumentellen Vorkehrungen, die in der Lage sind, diesen geistigen Zustand der Ruhe und Eintracht zu erzeugen und zu schützen“13.

Dieselbe Unterscheidung wurde im Bereich des Steuerrechts von Villegas anerkannt anlässlich der Unterscheidung zwischen der subjektiven Sicherheit als einem „Vertrauensgefühl“ und der objektiven Sicherheit, die sich in Garantien ausdrückt, welche die Gesellschaft Personen, Gütern oder Rechten gewährleistet14. Man kann ebenfalls von Sicherheit im Sinn von Vertrauen sprechen und Sicherheit in dieser Perspektive aus verschiedenen Blickwinkeln untersuchen: aus der Sicht der Psychologie, indem man die Merkmale der zwischenmenschlichen 9 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 10; Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit: Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘ (Teil 1), in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 34, S. 137. 10 Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse; Franz Petermann, Psychologie des Vertrauens, 3. Aufl. 11 Adalbert Evers / Helga Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft. 12 Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit: Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘ (Teil 1), in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 34, S. 134; José Roberto Vieira, Medidas provisórias tributárias e segurança jurídica: a insólita opção estatal pelo „viver perigosamente“, in: Barreto, Aires Fernandino et alii (Hrsg.), Segurança jurídica na tributação e Estado de Direito, S. 319. 13 Miguel Reale, Geleitwort zu Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. IV. 14 Héctor Villegas, Principio de seguridad jurídica en la creación y aplicación del tributo, in: RDT 66 (o. J.), S. 10.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Vertrauensbeziehungen, wie der Ungewissheit und des Risikos, und deren Auswirkungen untersucht, wie etwa die Motivation, nach dem Beispiel von Petermann15; aus der Sicht der Ökonomie, indem man das Vertrauen als Organisations- und Tauschprinzip untersucht, um festzustellen, wie sich die Beziehungen zwischen den Wirtschaftsakteuren bilden und intensivieren, wie Ripperger und Thies / Schweer getan haben16; aus der Sicht der Soziologie, indem man das Vertrauen als gesellschaftlichen Wert untersucht, der Verhaltensweisen vorwegnimmt und unverzichtbar für die Intensivierung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, im Hinblick auf die Kontrolle der Zukunft und die Reduktion gesellschaftlicher Komplexität, wie es Kaufmann, Luhmann und Geiger getan haben17; aus der Sicht der Philosophie, indem man nach dem Wert des Vertrauens als eines geistigen Phänomens oder moralischen Werts fragt, wie es Lagerspetz und Köhl getan haben18; und aus der Sicht der Politikwissenschaft, indem man die Vertrauensprozesse zwischen Bürgern in den Regierungssystemen untersucht, wie das Offe getan hat.19 Sicherheit kann auch den Zustand des Schutzes individueller oder kollektiver Güter bedeuten, so des Lebens, der Gesundheit, der Freiheit oder des Eigentums. Genau diese Bedeutung hat der Ausdruck „öffentliche Sicherheit“ (sowohl innere als auch äußere Sicherheit), die Gegenstand der Gewährleistung vermittels präventiver und repressiver Strategien ist20. In diesem Sinn ist Sicherheit die Abwehr (äußerer oder innerer) Bedrohungen des Friedens der Einzelnen.21 Obwohl es keine öffentliche Sicherheit ohne das geben kann, was das Recht als gerichtlich durchsetzbar erachtet, ist öffentliche Sicherheit nicht mit Rechtssicherheit zu verwechseln: während Erstere die Verhaltensweisen bezeichnet, die der Staat zum Schutz der Güter der Einzelnen und der Gesellschaft wählen muss, bezeichnet Letztere Eigenschaften, Inhalte, Prozesse, Methoden und Ergebnisse, die vorliegen müssen, damit das Recht Instrument der Gewährleistung der Grundrechte sein kann. 15

Franz Petermann, Psychologie des Vertrauens, 3. Aufl. Tanja Ripperger, Ökonomik des Vertrauens, 2. Aufl.; Martin Schweer / Barbara Thies, Vertrauen als Organisationsprinzip. 17 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 10; Niklas Luhmann, Vertrauen – Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 4. Aufl.; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl., S. 63 ff. 18 Olli Lagerpetz, Vertrauen als geistiges Phänomen, in: Hartmann, Martin / Offe, Claus. (Hrsg.), Vertrauen: Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, S. 85–113; Harald Köhl, Vertrauen als zentraler Moralbegriff?, in: Hartmann, Martin / Offe, Claus. (Hrsg.), Vertrauen: Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, S. 114–140. 19 Claus Offe, Wie können wir unseren Mitbürgern vertrauen?, in: Hartmann, Martin / Offe, Claus. (Hrsg.), Vertrauen: Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, S. 241–294. 20 Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 654 sowie 659; Jutta Limbach, Ist die kollektive Sicherheit der Feind der individuellen Freiheit?, S. 4; Ricardo Lobo Torres, Liberdade, Segurança e Justiça, in: Carvalho, Paulo de Barros (Hrsg.), Justiça tributária, S. 704. 21 Christian Calliess, Die Staatsaufgabe der Äußeren Sicherheit im Wandel: Staatstheoretische Grundlagen und völkerrechtliche Konsequenzen, in: Calliess, Christian (Hrsg.), Äußere Sicherheit im Wandel – Neue Herausforderungen an eine alte Staatsaufgabe, S. 15. 16

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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Sicherheit kann auch noch als Schutz gegen die Bedrohungen der wesentichen Überlebensbedingungen verstanden werden. In diesem Sinn wird der Begriff „Sicherheit“ als soziale Sicherheit verwendet, worunter die Gesamtmenge der staatlich oder privat finanzierten Institutionen verstanden wird, deren Ziel die Gewährleistung von Leistungen an Einzelne ist, die diese gegen soziale Risiken wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Verlust des Arbeitsplatzes, Alter, Tod, Invalidität, Witwenstand u. a. schützen soll22. In allen diesen Fällen wird nicht die Rechtssicherheit im eigentlichen Sinn untersucht. Man spricht einfach von Sicherheit, vor allem im Sinn von Vertrauen. Die Rechtssicherheit wird nur Thema, wenn die individualpsychologische Dimension in Richung der nicht bloß verhaltens-, sondern gesellschaftsbezogenen werttheoretischen Dimension überschritten wird: Rechtssicherheit steht also für Sicherheit als intersubjektivierbares Wertungsphänomen, das an das Recht einer gegebenen Gesellschaft gebunden ist, sei es als Wert, sei es als Norm, wobei die rechtliche Dimension sein Gegenstand oder Instrument ist23. Die Unterscheidung ist auch deshalb wichtig, da sie eine Dissoziierung des nicht-juristischen Sicherheitsbegriffs und des Rechtssicherheitsbegriffs offenbart: jemand kann psychologisch sicher sein, weil von äußeren physischen Bedrohungen wie etwa der Kälte oder Gewalt frei, aber ohne jegliche Rechtssicherheit, da er infolge staatlicher Willkür nicht fähig ist, seine Handlungen nach Maßgabe des Rechts zu frei zu entwerfen und zu planen24. Diese Definition ist jedoch noch unzureichend, da die Rechtssicherheit, obwohl sie einen Wert darstellt und eine gewisse Verbindung zum Recht aufrechterhält, einen weiteren Sinn haben kann. Der zweite Schritt dieser fortschreitenden semantischen Eingrenzung besteht deshalb in der Veranschaulichung der verschiedenen Bedeutungen von Rechtssicherheit25.

2. Rechtssicherheit a) Sicherheit als definitorisches Element Rechtssicherheit kann sich auf ein Element der Definition des Rechts beziehen und in dieser Funktion eine Strukturbedingung jeglicher Rechtsordnung sein. In diesem Sinn kann eine Rechtsordnung ohne Gewissheit per definitionem nicht als „Rechts“-Ordnung angesehen werden. Diese Konzeption wurde von vielen Auto 22

Alexia Bierweiler, Soziale Sicherheit als Grundrecht in der Europäischen Union, S. 135. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 140 ff. 24 Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit: Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘ (Teil 2), in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 35, S. 209. 25 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 3; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 79. 23

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

ren vertreten, von denen einige hervorzuheben sind. So behauptet Radbruch, dass Rechtssicherheit neben der mit ihr zusammenhängenden Gerechtigkeit und Gerechtigkeitskonformität die Elemente sind, die den Kern des Rechts ausmachen, ohne die dieser Kernbereich nicht bestünde26. Bobbio behauptet, dass Rechtssicherheit nicht nur eine Forderung darstellt, die Ausfluss des geregelten Zusammenlebens der Menschen ist, sondern auch ein „rechtsimmanentes Element“, um Willkür abzuwehren und Gleichheit zu gewährleisten; eine Rechtsordnung ohne minimale Sicherheitsgewähr sei nicht einmal vorstellbar27. Fuller versichert, dass man ohne Rechtssicherheit einfach nicht von Recht sprechen könne, und zählt mehrere Elemente auf, die zur von ihm so bezeichneten Rechtssittlichkeit gehören verstanden, als gesellschaftliches Umfeld wechselseitiger Erwartungen, das auf der Kenntnis der geltenden Regeln beruht, welche die Vorwegnahme fremden Handelns erlauben28. Im Hinblick auf die Notwendigkeit stabiler Institutionen und Beziehungen für die Gewährleistung der Rechtssicherheit, die sich nur im Laufe der Zeit verfestigen, behauptet Coing sogar, dass ein junges Recht eigentlich kein Recht sei29. Rawls verweist auch auf das Recht als eine Struktur, die gesellschaftliche Zusammenarbeit durch Gewährleistung wechselseitiger Erwartungen ermöglichen könne30. Hart vertritt auf seine Weise ebenfalls die Gewissheit hinsichtlich der primären und sekundären Regeln und der Anerkennungsregel als rechtsdefinierendes Element, das Recht in Abgrenzung von anderen Systemen bestimmen kann31. Mezquita del Cacho spielt auf Rechtssichderheit als „Kernvorstellung der Allgemeinen Rechtslehre“ an32. Auf der gleichen Argumentationslinie erkennt Carvalho trotz seiner Bezugnahme auf die Rechtsgewissheit an, dass die „Rechtsgewissheit etwas ist, was im Sollen verwurzelt und der deontischen Dimension immanent ist, weshalb wir es uns ohne spezifische Bestimmung nicht vorzustellen vermögen“33. Einige Autoren behandeln also die Rechtssicherheit, ohne die Mechanismen ihrer Förderung zu erwähnen; andere benennen die Instrumente ihrer Verwirk­ lichung, ohne sich direkt auf sie zu beziehen. Wie dem auch sei, ist Rechtssicherheit für beide Gruppen ein zu einer Definition des Rechts gehöriges „Element“ und damit eine metasprachliche Aussage über das Recht als historisches Phänomen34. In anderen Worten verweisen sie auf eine definitorische Konzeption der Rechts 26

Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, 2. Aufl., S. 73. Noberto Bobbio, La certezza del Diritto é un mito?, in: Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 28 (1951), S. 150 f. 28 Lon Fuller, Anatomy of law, S. 73. 29 Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., S. 149. 30 John Rawls, A Theory of Justice, S. 235 sowie 310 ff. 31 H. L. Hart, The Concept of Law, S. 90 ff. 32 José L. Mezquita del Cacho, Seguridad jurídica y sistema cautelar, in: Teoría de la seguridad jurídica, S. 41. 33 Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 21. Aufl., S. 165; Paulo de Barros Carvalho, Direito Tributário, linguagem e método, S. 265. 34 Rubén Asorey, Seguridad jurídica y Derecho Tributario, in: RDT 52 (1990), S. 28; José L. Mezquita del Cacho, Seguridad jurídica y sistema cautelar, in: Teoría de la seguridad jurídica, S. 11. 27

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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sicherheit. Diese Konzeption illustriert gut die Behauptung von Recasens Siches, derzufolge die Rechtssicherheit eine Qualität sei, „ohne die es kein Recht geben kann, weder ein gutes, noch ein schlechtes noch irgendein anderes Recht“35. Hervorzuheben ist, dass die in dieser Perspektive analysierte Rechtssicherheit nicht eine Norm, sondern ein Begriff oder das Element eines Begriffs ist. Sie wird in diesem Sinn definiert als „übergeordnete Idee“ oder „Überbegriff“36. Man bemerke an diesem Aspekt, dass Rechtssicherheit ein Element der wissenschaftlichen Metasprache ist, nicht eine Norm, auf die diese sich bezieht. b) Sicherheit als Tatsache Die Rechtssicherheit kann sich auf einen Sachverhalt beziehen, d. h. auf eine bestimmte feststellbare Wirklichkeit37. In diesem Sinn bezieht sie sich nicht auf ein zu wählendes Verhalten oder einen anzustrebenden idealen Sachverhalt. Sie ist vielmehr an eine faktische Wirklichkeit gebunden, die als bestehend unterstellt wird38. Die Verwendung des Ausdrucks „Rechtssicherheit“ denotiert also im Hinblick auf diesen Aspekt eine Tatsachenbehauptung bezüglich dessen, was man auf der Wirklichkeitsebene als bestehend annimmt. Die Aussage „Es gibt keine Rechtssicherheit in Brasilien, da die anwendenden Organe die Vorhersagen für den größten Teil ihrer Entscheidungen nicht bestätigen“ steht für diese Bedeutung. Rechtssicherheit bedeutet also nach dieser Auffassung die Möglichkeit, dass jemand konkret die Rechtsfolgen von Tatsachen oder Verhaltensweisen vorhersehen kann. Für den Steuerzahler bedeutet Rechtssicherheit, dass er im Voraus wissen kann, was tatsächlich eintreten wird. Rechtssicherheit bezeichnet also die Fähigkeit, eine tatsächliche Situation vorwegzunehmen oder sie tatsächlich vorauszusagen. Wie man sieht, handelt es sich um eine rechtsrealistische Konzeption von Rechtssicherheit, die einen deskriptiven Begriff voraussetzt39. c) Sicherheit als Wert Rechtssicherheit kann ebenso die Behauptung eines wünschbaren Zustands bezeichnen, d. h. die Behauptung eines aus gesellschaftlichen, kulturellen oder wirtschaftlichen Gründen, aber nicht spezifisch aufgrund der Oktroyierung einer 35

L. Recasens Siches, Tratado General de Filosofía del Derecho, S. 224. Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 7. 37 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 12 sowie 25, 37; Letizia Gianformaggio, Certezza del Diritto, in: Diciotti, Enrico / Velluzzi, Vito (Hrsg.), Filosofia del Diritto e ragionamento giurídico, S. 83. 38 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 63; Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 21. 39 Otto Pfersmann, Constitution et sécurité juridique – Autriche, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 110. 36

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Norm als erstrebenswert gekennzeichneten Zustands. So bedeutet der Gebrauch des Ausdrucks „Rechtssicherheit“ ein werttheoretisches Urteil bezüglich der Existenz dessen, was nach einem bestimmten Wertsystem für gut erachtet wird40. Der Satz „Eine voraussehbare Rechtsordnung ist für die wirtschaftliche Entwicklung viel besser als eine nichtvoraussehbare Rechtsordnung“ andeutet, dass Rechtssicherheit ein wesentlicher Wert menschlichen Lebens ist41. Außerdem offenbart die Rechtssicherheit auch deswegen einen Wert, weil sie die Eigenschaften der Werte vorstellt, wie doppelpolige Implikation, Bezüglichkeit, Vorziehbarkeit, Hierachie, Inkommensurabilität, Unerschöpflichkeit, Objektivität und Geschichtlichkeit42. Im Rahmen einer werttheoretischen Konzeption kann die Rechtssicherheit auch ein politisches Ideal andeuten, als Ideal der Gerechtigkeit oder der Rechtspolitik, an dem eine bestimmte Rechtsordnung gemessen werden kann. In diesem Sinn kann sie benutzt werden, um den Grad der Annäherung der Rechtsordnungen an dieses Ideal zu messen. d) Sicherheit als Normprinzip Rechtssicherheit kann auch noch eine Rechtsnorm darstellen, d. h. eine normative Vorschrift, über die mittel- oder unmittelbar etwas als erlaubt, verboten oder geboten festgestellt wird. In dieser Bedeutung  – die in der vorliegenden Arbeit schrittweise entfaltet werden soll – bezieht sich Rechtssicherheit auf einen Zustand, der vermittels der Wahl von Verhaltensweisen, die zu seiner Förderung beitragende Wirkungen produzieren, anzustreben ist. Der Gebrauch des Begriffs Rechts„sicherheit“ beinhaltet also ein präskriptives Urteil über das, was in Übereinstimmung mit einer bestimmten Rechtsordnung anzustreben ist. Der Ausdruck „Die Wirksamkeit richterlicher Entscheidungen ist zu gewährleisten“ veranschaulicht diese Bedeutung. So verstanden, bedeutet Rechtssicherheit nicht die Möglichkeit, dass jemand die Rechtsfolgen von Tatsachen oder Verhaltensweisen vorhersagen kann, sondern

40 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 32; Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 104; Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 36; José Souto Maior Borges, O princípio da segurança jurídica na criação e aplicação do tributo, in: RDDT 22 (1997), S. 24. 41 Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 48. 42 Miguel Reale, Filosofia do Direito, 12. Aufl., S. 189 ff.; Paulo de Barros Carvalho, O princípio da segurança jurídica no campo tributário, in: RDT 94 (o. J.), S. 26 f.; Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 21. Aufl., S. 162; Ricardo Lobo Torres, Segurança jurídica e as limitações ao poder de tributar, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação, S. 430; Ricardo Lobo Torres, Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, in: Silva Martins, Ives Gandra da (Hrsg.), Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, S. 75; Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional, Financeiro e Tributário. Bd. 2. Valores e Princípios Constitucionais Tributários, S. 168; Ricardo Lobo Torres, Liberdade, Segurança e Justiça, in: Carvalho, Paulo de Barros (Hrsg.), Justiça tributária, S. 680.

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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die Vorschrift, dass jemand Verhaltensweisen wählt, die den Vorhersehbarkeitsgrad erhöhen. Rechtssicherheit ist unter diesem Aspekt eine Angelegenheit des gesetzten Rechts43. Wir haben es also mit einer rechtspositivistischen Konzeption von Rechtssicherheit zu tun. Wie später noch deutlich werden wird, ist sie eine argumentative rechtspositivistische (und damit postpositivistische) Konzeption. Wenn sie einerseits Rechtssicherheit als sich aus gesetztem Recht ergebende Pflicht bestimmt, behauptet sie andererseits, dass die Verwirklichung der Rechtssicherheit von der Rekonstruktion normativer Sinngehalte vermittels argumentativer und hermeneu­ tischer Strukturen abhängt und sich nicht aus einer bloßen unparteiischen Beschreibung von Bedeutungen ergibt, die dem erkennenden Subjekt äußerlicher sind. Alle vorstehenden Bemerkungen beweisen somit, dass man die Rechtssicherheit nicht als Tatsache (faktische Dimension) mit dem Wert (strikt axiologische Dimension) und der Norm (normative Dimension) verwechseln darf: eine Sache ist die Tatsache, dass die Richter die Rechtsordnung anwenden, um die für die Mehrzahl ihrer Entscheidungen gemachten Voraussagen zu bestätigen; eine andere ist die Behauptung, dass eine voraussehbare Rechtsordnung viel besser als eine unvoraussehbare Rechtsordnung ist, und eine ganz andere Sache ist die Pflicht der Richter, die Rechtsordnung so anzuwenden, dass die Wahrscheinlichkeit größer wird, dass die Vorhersagen ihrer Entscheidungen eintreffen. Es handelt sich um unterschiedliche Ebenen, die unterschiedlichen Urteilen unterliegen: Rechtssicherheit als Tatsache ist die Fähigkeit, eine faktische Situation vorauszusehen; Rechtssicherheit als Wert ist die Bekundung des positiven oder negativen Bewertung der Rechtssicherheit; Rechtssicherheit als Norm ist die Vorschrift der Wahl von Verhaltensweisen, deren Ziel die Gewährleistung einer faktischen Situation von größerer oder geringer Ausbreitung und die Ausweitung der Fähigkeit zur Voraussage der Rechtsfolgen der Verhaltensweisen ist44. In einem Wort, eine Sache ist der faktische Zustand, der auf die Möglichkeit verweist, dass der Bürger Rechtsfolgen gegenwärtiger Handlungen vorwegnimmt, eine andere ist die Norm, die vorschreibt, dass die Setzung und Anwendung von Normen so erfolgen, dass die Fähigkeit des Bürgers, zukünftige Rechtsfolgen gegenwärtiger Handlungen vorwegzunehmen, zunimmt: während dort die Rechtssicherheit sich auf eine Tatsache bezieht, bezieht sie sich hier auf ein Normprinzip45. Diese Feststellung besagt jedoch nicht, dass diese Urteile nicht untereinander eine notwendige Korrelation aufweisen. Und damit wird ein entscheidender Aspekt berührt. Einerseits stellt die Rechtssicherheit als Norm auch eine positive legislative Wertung dar und ist somit ein Wert46. Sie setzt gleichfalls die Möglichkeit 43

José Souto Maior Borges, O princípio da segurança jurídica na criação e aplicação do tributo, in: RDDT 22 (1997), S. 24. 44 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 12 sowie 46. 45 Claudio Luzzati, La vaghezza delle norme, S. 421. 46 Paulo de Barros Carvalho, O princípio da segurança jurídica no campo tributário, in: RDT 94 (o. J.), S. 26 f.; Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional, Financeiro e Tributário. Bd. 2. Valores e Princípios Constitucionais Tributários, S. 168.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

der Verwirklichung einer bestimmten faktischen Situation voraus. Andernfalls würde sie beispielsweise den Befehl beinhalten, „den Himmel mit dem Finger zu berühren“47. Wie Luzzati zu Recht anmerkt, setzt das Rechtssicherheitsprinzip die Möglichkeit voraus, zumindest teilweise die Rechtssicherheit als wirksame Praxis zu verwirklichen48. Andererseits impliziert Rechtssicherheit als faktische Situation auch einen Typus positiver Bewertung und verkörpert in dieser Hinsicht sowohl einen wertenden als auch einen normativen Aspekt49. Und schließlich erfolgt die Bewertung, dass Rechtssicherheit ein rechtsbestimmendes Element ist, das bloße Element eines definiens, aufgrund der Bedeutsamkeit des Rechtssicherheitsprinzips für die Institution und für die Anwendung der Rechtsnormen. Als bestimmendes Element setzt Rechtssicherheit somit ihre wissenschaftliche Bewertung als Rechtsprinzip voraus. Wir wollen mit diesen Erwägungen behaupten, dass die analytische Differenzierung der verschiedenen Formen der Untersuchung der Rechtssicherheit deren konkrete Beziehung oder gar deren wechselseitige semantische Beziehung weder aufhebt noch, umgekehrt, die wechselseitige begriffliche Beziehung die analytische Differenzierung der drei Begriffe hinfällig macht. Mit Bezug auf die Rechtssicherheit lässt sich noch anführen, dass sie (als Tatsache, Wert oder Norm) auf der Metaebene der Rechtslehre, also in unterschiedlichen Weisen verwendet werden kann: man kann sowohl die Rechtssicherheit beschreiben („es gibt Rechtssicherheit in Brasilien“) als auch sie positiv bewerten („Rechtssicherheit ist ein grundlegendes Erfordernis“), zusammen oder getrennt50. Alle vorstehenden Anmerkungen verfolgen den Zweck, zu zeigen, dass man unter der Behauptung, ein und denselben Gegenstand in gleicher Perspektive darzu­stellen, unterschiedliche Gegenstände in gleicher oder unterschiedlicher Per­ spektive untersuchen kann. Die Abgrenzung des Gegenstands und seiner Untersuchungsperspektive ist wirklich die unwiderlegbare Voraussetzung seines tatsächlichen Verständnisses. Die Untersuchung der Rechtssicherheit kann sich diesen wissenschaftstheoretischen Bedingungen nicht entziehen. In der vorliegenden Arbeit wird Rechtssicherheit primär in der Qualität der Rechtsnorm der Spezies „Prinzip“ untersucht, d. h. als Vorschrift an die Legislative, Judikative und Exekutive, welche die Suche nach einem Zustand der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung aufgrund ihrer Erkennbarkeit anordnet. Wie weiter unten im einzelnen dargelegt werden wird, handelt es sich um einen normativen Begriff von Rechtssicherheit, der bestimmte Eigenschaften (in mehreren Graden realisierbare Sachverhalte), deren Bestand von der Umsetzung bestimmter Rechtsbedingungen abhängig ist, konnotiert. Wie man sieht, handelt

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Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 43. Claudio Luzzati, L’interprete e il legislatore, S. 254; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 66. 49 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 37. 50 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 42. 48

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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es sich um einen normativen, bestimmte Eigenschaften indizierenden Begriff, der auf mehr oder weniger verwirklichte Sachverhalte verweist. Als Rechtsbegriff ist die Rechtssicherheit von Regeln zu unterscheiden. Diese sind Normen, die das Erlaubte, Verbotene und Gebotene beschreiben51. Deswegen wird gesagt, dass sie aus einem (unterstellten oder vorangehenden) Tatbestand bestehen, dem ein Gebot, eine Folge oder ein Rechtssatz zugeordnet werden, und als assoziative Form die deontische Kopula haben, welche die normative Zurechnung darstellt52. So muss, um ein einfaches Beispiel zu nennen, derjenige, der in Brasilien ein Einkommen in einem bestimmten Veranlagungsjahr bezieht, dem Bund eine Einkommensteuer zum Satz von 27,5 % des bezogenen Einkommens zahlen. Wenn das Verhalten vorliegt, ist die Folge anzuwenden. Deshalb kann man das deontische Regelmodell durch den Ausdruck „wenn, dann“ darstellen. In diesem aus einem Tatbestand und einer Rechtsfolge zusammengesetzten Regelmodell sind verschiedene auf jeden dieser Teile bezogene Aspekte zu untersuchen, um das zu wählende Verhalten festzustellen. Hinsichtlich des Tatbestands ist zu fragen, welches Verhalten vorgesehen ist (materialer Aspekt), welcher Zeitraum zu berücksichtigen ist (zeitlicher Aspekt) und auf welchen Raum der Tatbestand sich bezieht (räumlicher Aspekt). Hinsichtlich der Rechtsfolge ist zu fragen, wer das aktive und passive Subjekt ist (persönlicher Aspekt) und wie hoch der durch die Bemessungsgrundlage und den Steuersatz ausgewiesene geschuldete Betrag (quantitativer Aspekt) ist53. Anders gesagt sind (aufgrund der Normstruktur der Regeln) die wesentlichen Fragen für das Verständnis der Bedeutung und Reichweite des Tatbestands „was“, „wann“ und „wo“, und hinsichtlich der Rechtsfolge „wer“ und „wieviel“. Der Ausdruck „Matrixregel des Tatbestands“ bezeichnet also die wesentlichen Elemente der Besteuerungsregel, deren Zweck die Identifikation und vertiefte Erkenntnis ihrer irreduziblen Einheit vermittels der Vorlage eines operativen und praktischen formalen Schemas ist54. Man sieht sofort, dass das Verfahren der Auslegung und Anwendung von Regeln primär eine abschließende Operation der begrifflichen Entsprechung der vorher genannten Aspekte und der faktischen Situation beinhaltet. Daher die Bedeutung der analytischen Zerlegung der Tatbestandsmerkmale und der Rechtsfolge der Besteuerungsregel für deren angemessene Auslegung und Anwendung. Ein ähnliches Auslegungs- und Anwendungsverfahren fehlt jedoch im Fall der Rechtsprinzipien wie z. B. der hier untersuchten Rechtssicherheit. Rechtsprinzipien sind eben die einen Idealsachverhalt statuierenden Normen, für dessen Verwirklichung die Wahl von Verhaltensweisen notwendig ist, die einen Beitrag zur Förderung dieses Idealsachverhalts leisten. Deswegen sagt man auch, 51

Aulis Aarnio, Reason and Authority, S. 174 ff.; Ota Weinberger, Norm und Institution, S. 87. Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 21. Aufl., S. 262. 53 Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 21. Aufl., S. 263. 54 Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 21. Aufl., S. 381. 52

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

dass sie einen Zweck (Sachverhalt) und Mittel (für seine Förderung notwendige Verhaltensweisen) beinhalten55. In einer einfachen Veranschaulichung lässt sich behaupten, dass die Gewährleistung eines Sittlichkeitszustands die Wahl ernsthafter, loyaler, motivierter und beständiger Verhaltensweisen erfordert. Kurz, um den Zweck zu erreichen, sind Verhaltensweisen zu wählen, deren Folgen zur Erreichung beitragen. Deshalb kann man behaupten, dass das Prinzipienmodell durch den Ausdruck „um zu, also ist notwendig“ symbolisiert werden kann. Wie man sieht, umfasst das Verfahren der Auslegung und Anwendung von Prinzipien primär die Untersuchung der Korrelation zwischen Sachverhalten, Wirkungen und Verhaltensweisen. Die zu berücksichtigenden und beweisenden Elemente sind demnach anders als die auf Regeln bezogenen. Dass will nicht bedeuten-und dies ist der normalerweise von der Rechtslehre vergessene grundlegende Punkt –, dass die Prinzipien nicht eines Modells bedürfen, das ihre Strukturelemente zu entdecken und erkennen erlaubt, d. h. die Strukturelemente, ohne deren Entdeckung und Erkenntnis sie nicht vernünftig verstanden und angewandt werden können. Carvalho hat vollkommen Recht, wenn er die Unmöglichkeit der Objektivität im Umgang mit immer durch ihren Subjektivismus gekennzeichneten Prinzipien feststellt: „Und niemand wird den Mut verlieren, wenn wir den Prinzipien keinen Anstrich von Objektivität geben können. Das wird nie geschehen, sonst wären sie nicht mehr Prinzipien“56. In der Tat, wenn der verwendete Objektivitätsbegriff der semantische Begriff ist, demzufolge das Ziel dem Subjekt äußerlich und über eine Beschreibung fassbar ist, können Prinzipien wirklich nicht objektiv untersucht werden, zumal sie die Analyse der Wirkungen und Zwecke einschließen und nicht vorwegnehmend beschreibbar sind. Aufgrund ihrer strukturellen Unterscheidung finden die Elemente der Prinzipien also keinen Parallelismus mit den in Regeln vorfindlichen Elementen: während Regeln sich aus einem „Tatbestand“ (Beschreibung einern Tatsache) und einer „Rechtsfolge“ (Vorschrift einer Rechtsbeziehung) zusammensetzen, setzen sich Prinzipien aus einem „Zweck“ (Beschreibung eines idealen Sachverhalts) und „Mitteln“ (Vorschrift von Verhaltensweisen, deren Wahl zur Förderung des Sachverhalts beiträgt) zusammen. Der Gehalt eines Prinzips besteht aus den Mitteln zur Erreichung des Ergebnisses, das zu erreichen es anordnet57. Wenn man jedoch an Stelle der semantischen Objektivität-die in der unanschaulichen Erkenntnis oder in der gefühlsmäßigen Erfassung von etwas dem Subjekt Äußerlichem enthalten ist, dann anzutreffen, wenn etwas Wirkliches in der Welt ist, unabhängig sogar von der Erkenntnis-und an Stelle der logischen Objektivität-die dann entsteht, wenn formale Stimmigkeit und die Abwesenheit von Vag 55

Humberto Ávila, Teoria dos princípios, 15. Aufl., S. 70; Humberto Ávila, Theorie der Rechtsprinzipien, S. 39.  56 Paulo de Barros Carvalho, O princípio da anterioridade em matéria tributária, in: RDT 63 (o. J.), S. 104. 57 César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 43.

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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heit in den Sätzen vorliegt-nach einem anderen Begriff von Objektivität sucht, der dann verifizierbar ist, wenn es die Fähigkeit zur Kontrolle der Elemente und Funktionsweise einer bestimmten Art von Normen gibt, dann lässt sich in der Tat von einer Art Objektivität bei der Behandlung der Rechtsprinzipien sprechen, nämlich der diskursiven oder methodologischen Objektivität, die auf der Neutralität und Gleichheit des auslegenden und anwendenden Verfahrens beruht, wie Marmor betont, oder der Objektivität im schwachen oder bescheidenen Sinn, die in einem Diskurs verankert ist, der auf öffentlichen, intersubjektiven Prinzipien beruht, auf Prinzipien, die ihre Erkenntnisansprüche rechtfertigen, wie Villa es ausdrückt58. Wesentlich ist, dass auf der Suche nach dieser diskursiven Objektivität bei der Behandlung der Prinzipien mehrere auf jedes ihrer Strukturelemente bezogene Aspekte spezifiziert werden müssen, damit man feststellen kann, welches die zu wählenden Verhaltensweisen sind, um den Sachverhalt zu fördern, dessen Verwirklichung von ihnen bestimmt wird. Hinsichtlich des Zwecks (finalistische Aspekte) ist festzustellen, welches der dem Sachverhalt zugeschriebene Sinn (materialer Aspekt) ist, auf welchen Gegenstand er sich bezieht (objektiver Aspekt), wer ihm als Parameter dient (subjektiver Aspekt), welcher Zeitpunkt berücksichtigt wird (zeitlicher Aspekt) und in welchem Maß er zu erreichen ist (quantitativer Aspekt). Und hinsichtlich der Mittel (instrumentelle Aspekte), ist festzustellen, welches Verhalten zur Förderung des Zwecks notwendig ist (materialer Aspekt) und wer es wählen muss (subjektiver Aspekt). Anders gewendet, aufgrund der Normstruktur der Prinzipien sind die wesentlichen Fragen für das Verständnis ihrer Bedeutung und Reichweite anders, da wir an Stelle eines Tatbestands und einer Rechtsfolge einen Zweck und die zu seiner Förderung notwendigen Mittel haben. Rechtssicherheit, wie weiter unten nachzuweisen sein wird, ist ein Normprinzip, da sie einen Zweck des Rechts statuiert59. Wenn wir Rechtssicherheit als Beispiel verwenden, stellen sich hinsichtlich ihres Verständnisses folgende wesentlichen Fragen: Sicherheit in welchem Sinn (finalistisch-materialer Aspekt)? Sicherheit wessen (finalistisch-objektiver Aspekt)? Sicherheit für wen, in wessen Sicht und durch wen (finalistisch-subjektiver Aspekt)? Sicherheit wann und wann feststellbar (finalistisch-zeitlicher Aspekt)? Sicherheit in welchem Maß (finalistisch-quantitativer Aspekt)? Sicherheit wie (instrumentell-materialer Aspekt)? Sicherheit durch wen (instrumentell-personaler Aspekt)? Wie im Laufe dieser Arbeit deutlich werden wird, hat eben das Fehlen der Gestaltung dieser Elemente zur paradoxalen Unsicherheit in der Behandlung der Rechtssicherheit sowohl auf metatheoretischwissenschaftlicher Ebene als auch auf der theoretischen Ebene des Verbots argumentativer Willkür beigetragen.

58

Andrei Marmor, Positive Law and Objective Values, S. 112 ff. sowie 119, 153; Andrei Marmor, An Essay on the Objetivity of Law, in: Bix, Brian (Hrsg.), Analysing Law – New ­Essays in Legal Theory, S. 4 ff.; Vittorio Villa, Construtivismo e teorie del Diritto, S. 161. 59 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 4.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

In der Tat lässt sich, wie noch nachzuweisen sein wird, der normative Gehalt der Rechtssicherheit strenggenommen nicht verstehen, wenn man die vorgenannten Aspekte nicht spezifiziert.60 Einige Fragen können dies besser veranschaulichen. Sicherheit in welchem Sinn-als Erkennbarkeit oder Bestimmung? Als Verlässlichkeit oder Unveränderlichkeit? Als Berechenbarkeit oder Vorhersehbarkeit? Wenn z. B. als Vorhersehbarkeit, als absolute oder relative Vorhersehbarkeit? Absolut und relativ in welchem Sinn? Vorhersehbarkeit aufgrund von Normen oder Erfahrungsmaximen? Sicherheit wovon-der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit oder Berechenbarkeit einer allgemeinen Norm, einer Entscheidung, der Rechtsordnung, der Rechtswissenschaft, des Rechts, des eigenen Verhaltens, des fremden Verhaltens, einer Unterlassung, einer Tatsache oder der normativen Folgen? Des Rechts als einer Norm oder als argumentierender Tätigkeit? Der Entscheidung so wie sie in ihren Gründen vorgesehen ist oder wie sie tatsächlich von den staatlichen Akteuren umgesetzt wird? Sicherheit für wen, in der Sicht wessen und durch wenn? Für den Staat oder den Steuerzahler? Aus der Sicht des Laien oder des Fachmanns? Durch die Legislative, die Judikative oder die Exekutive? Sicherheit, wann zu verwirklichen: heute, gestern oder morgen? Wann feststellbar: heute oder morgen? Falls morgen, wann? Falls morgen, durch welches Instrument oder mit Hilfe welchen Parameters? Sicherheit in welchem Maß: als völlige Vorhersehbarkeit für alle oder als partielle Vorhersehbarkeit für die Mehrheit? Sicherheit wie: durch Verhaltensweisen oder deren Auswirkungen? Durch welche Verhaltensweisen? Durch welche Auswirkungen? Und wie wären die Auswirkungen festzustellen? Sicherheit durch wessen Verhalten: des Staates oder seiner Akteure? Welcher Akteure? Allein diese Fragen, denen im Fortgang dieser Arbeit andere zur gebührenden Beantwortung hinzuzufügen sind, genügen, um aufzuzeigen, dass das Problem der Rechtssicherheit-und der Rechtsprinzipien im Allgemeinen, insbesondere der materialen Rechtsprinzipien-von der fortschreitenden Spezifizierung ihrer verschiedenen Aspekte abhängt. Zwei Beispiele mögen dieses Argument verdeutlichen. Erstes Beispiel: einige Juristen sehen Rechtssicherheit als unerreichbares Ziel (als Illusion, Mythos oder Chimäre), während andere sie für erreichbar halten. Die in der Einleitung genannte Diskussion von Frank und Bobbio zeigt das auf sehr schöne Weise. Frank behauptet, dass Rechtssicherheit ein Mythos oder ein grundlegender Wahn sei, der sich vom infantilen Wunsch der Menschen herleite, das vom Vater vermittelte Sicherheitsgefühl durch eine Institution zu ersetzen, die ihm scheinbar ein ähnliches Gefühl vermitteln werde. Oder, in seiner eigentümlichen Sprache: „Warum suchen die Menschen nach einer im Recht nicht realisierbaren Sicherheit? Weil sie, wie wir behaupten, noch nicht den infantilen Wunsch nach einem autoritätsbewehrten Vater aufgegeben haben und unbewusst im Recht einen Ersatz für diese während der Kindheit dem Vater zugeschriebenen Eigenschaften der Festigkeit, Überzeugung (sureness), Gewissheit und Unfehlbarkeit zu finden

60

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 193.

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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versucht haben“61. Bobbio sieht dagegen die Rechtssicherheit nicht nur als möglich an, sondern schreibt ihr, nachdem er die Untersuchung seines Vorgängers als „vereinfachenden und einseitigen Szientismus“ gekennzeichnet hat, das Merkmal des konstitutiven Elements der Rechtsidee selbst zu62. Eine eingehendere Analyse der jeweiligen Behauptungen lässt erkennen, dass Frank sich eigentlich auf Rechtssicherheit als Pflicht zur Erreichung eines Ideals absoluter Gewissheit oder völliger Vorhersehbarkeit bezieht, die nur durch eine „endgültige, gewisse und mechanische“ Anwendung gewährleistet ist; Bobbio hingegen bezieht sich auf die Pflicht zur Erreichung des Ideals einer relativen Gewissheit oder hochgradigen Berechenbarkeit. Beide Juristen stellen also auf unterschiedliche Gegenstände bezogene Behauptungen auf: der erste bezieht sich auf die Rechtssicherheit in strikt personaler Hinsicht, als Faktum auf der Seinsebene, d. h. als Fähigkeit, genau und konkret das vorauszusehen, was eintreten wird, während der zweite Rechtssicherheit in ihrer gesellschaftlichen und geschichtlichen Dimension untersucht, als Norm, auf der Sollensebene, bezogen auf einen mehr oder weniger erreichbaren Sachverhalt, d. h. als eine allgemeine Pflicht der Einhaltung einer Summe von Regeln für einen bestimmten Normbereich63. Zweites Beispiel: einige Juristen verstehen Rechtssicherheit als ein Prinzip, das dem Demokratieprinzip entgegensteht, da es zu einer „Eingipsung“ der Institutionen führe64; andere sehen in ihm ein mit dem Demokratieideal durchaus vereinbares Prinzip65. Eine eingehendere Untersuchung dieser Behauptungen der Rechtslehre bringt zutage, dass Erstere sich eigentlich auf Rechtssicherheit als Pflicht zur Suche nach einem Ideal normativer Unveränderlichkeit beziehen, vermittels des absoluten Verbots legislativer Abänderungen bestimmter Themen, während Letztere sich auf die Pflicht beziehen, ein Ideal der Kontinuität der Rechtsordnung durch sanfte und schützende Veränderungen legitimer Erwartungen zu erreichen. Anders gewendet, beziehen sich die Juristen auf verschiedene Gegenstände. Diese beiden Beispiele, denen andere hinzugefügt werden könnten, zeigen, dass ohne den genannten analytischen Prozess der Reduktion der Zweideutigkeiten das Rechtssicherheitsprinzip nicht nur willkürlich manipulierbar ist, sondern auch eine Reihe von scheinbaren Diskussionen oder bloßen Wortgefechten hervorrufen und somit eine enorme Konfusion und einen wahren Dialog von Taubstummen veranlassen kann66. Dieses Phänomen verdanken wir dem Umstand, dass der Aus-

61

Jerome Frank, Law and the Modern Mind, S. 22. Noberto Bobbio, La certezza del Diritto é un mito?, in: Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 28 (1951), S. 150 f. 63 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 20; Über die Irrtümer von Frank, s.: Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 144 ff. 64 Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 376 ff. 65 Christian Waldhoff, Vertrauensschutz im Steuerrechtsverhältnis, in: Pezzer, Heinz-­Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 142. 66 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 15 sowie 162. 62

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

druck „Rechtssicherheit“ wie andere Wörter, wie etwa „Freiheit“, extrem vage ist, infolge der großen Zahl von Gegenständen, die intrinsisch ungewiss sind, um in die vom Ausdruck denotierte Klasse aufgenommen oder nicht aufgenommen zu werden (extensionale Vagheit), oder infolge des hohen Grads an Unbestimmtheit der Menge der Eigenschaften, die diese Gegenstände konnotieren (intensionale Vagheit)67. Ohne diesen Prozess der Reduktion von Zweideutigkeiten, der noch durch andere Untersuchungen zu ergänzen ist, lassen sich also weder der „Zweck“ noch die für die Verwirklichung des Rechtssicherheitsprinzips notwendigen „Mittel“ bestimmen. In anderen Worten: es ist unmöglich, einerseits die Bedingungen der Verwirklichung des Rechtssicherheitsprinzips festzulegen und dieses Prinzip andererseits gemäß den Forderungen des wissenschaftlichen Diskurses nach Klarheit und Präzision zu behandeln.68 Wesentlich ist, dass ein Verständnis seiner Bedeutung und seiner Reichweite ohne die Ausleuchtung der verschiedenen Aspekte der Sicherheit unmöglich ist. So sind Behauptungen wie die von Cavalcanti Filho, Pintore und Jori, nach denen die Rechtssicherheit eine Möglichkeit des Subjekts ist, vor dem Handeln die Bewertung seiner Handlungen durch die Rechtsordnung zu erfahren, zwar wichtig, aber unzureichend69. „Wissen“ in welcher Hinsicht: der Verfügung des materialen Zugangs zur Norm oder des intellektuellen Zugangs zu ihrem Inhalt? Falls Letzteres, absoluten oder relativen intellektuellen Zugang, in einem oder in allen Fällen, für alle oder nur für einige Menschen? „Wertung“ in welchem Sinn: als Zuschreibung konkreter Folgen oder als bloß abstrakte Qualifikation? „Rechtsordnung“ in welchem Sinn: als Menge normativer Texte, als Menge abstrakter Normen, die allgemein in der Verfassung und Gesetzgebung vorgesehen sind, oder auch als Einzelfallentscheidungen der Gerichtsbarkeit oder der Entscheidungsorgane der Verwaltung? Wir sehen also, dass dieser Begriff, der hier nur als repräsentatives Beispiel unter vielen anderen genannt wird, deutlich macht, dass der Begriff der Rechtssicherheit fortschreitend zu spezifizieren ist, wenn er nicht zu einem Instrument der Rechtsunsicherheit verkommen soll. Das Gleiche gilt, wenn Rechtssicherheit als Notwendigkeit bestimmt wird, dass das Recht seine Ordnungsfunktion wahrnimmt und die Normstruktur der sozialen und politischen Beziehungen in einem Gemeinwesen ist, wie das bei Arcos Ramírez, wenn auch einleitend, der Fall ist70. Diese Definition ist so vage, dass sie nicht einmal verstanden werden kann. Was bedeutet es denn, eine Ordnungsfunktion wahrzunehmen oder die normative Struktur sozialer Beziehungen zu sein? Wahrnehmen in welchem Sinn und in welchem Maß? Was bedeutet genau Ordnungsfunktion? Und welches ist der Sinn von „sozialen Beziehungen“? Zusammen mit anderen ähnlichen Begriffen ist dieser Terminus so hochgradig unbestimmt, dass er jede Art praktischer Funktionalität 67

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 15. Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 13, 29. 69 Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 59; Mario Jori / Anna Pintore, Manuale di teoria generale del Diritto, 2. Aufl., S. 194. 70 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 32. 68

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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und selbst jede Art von wissenschaftlicher Falsifizierung behindert. Man denke nur an ein ähnliches Phänomen der Unbestimmtheit im Steuerrecht, das emsig die Rechtssicherheit nach Art von Douet als Pflicht zu bestimmen versucht, dem Steuerzahler den festgelegten Steuerbetrag so zu gewährleisten, dass jeder Einzelne das Ergebnis vorhersehen und berechnen kann71, ohne jede Art von semantischer Reduktion der Bedeutung der Wörter „gewährleisten“, „vorhersehen“ und „berechnen“ und vor allem des Ausdrucks „Steuerbetrag“. Alle diese Definitionen leiden also unter „analytischer Anämie“. Obwohl das Rechtssicherheitsprinzip die allen Prinzipien gemeinsame genannte finalistische Struktur aufweist, weist es ebenfalls Elemente auf, die es von allen weiteren Prinzipien und Regeln unterscheiden: es setzt die Vermittlung einer Rechtswirklichkeit voraus. So sieht eine Besteuerungsregel in ihrem Tatbestand die Beschreibung einer Tatsache vor, deren Eintritt die Entstehung der Steuerpflicht verursacht. Ihre Auslegung erfordert die Korrespondenz zwischen dem Normbegriff und dem Begriff der faktischen Situation. Ihre Anwendung erfordert also die Herstellung der Beziehung zwischen dem normativen und dem faktischen Element oder, in einer nicht rigorosen, aber direkteren elliptischen Erklärung, die Herstellung der Beziehung zwischen „einer Norm und einer Tatsache“. Ein materiales Prinzip wie das Prinzip des Schutzes der Privatsphäre erfordert die Bemühung um einen Zustand der Achtung der Individualität, deren Verwirklichung ihrerseits die Wahl von Verhaltensweisen erfordert, die einen Beitrag zu seiner Förderung leisten, wie im Fall der Unverletzlichkeit der Wohnung. Seine Anwendung erfordert die Korrelation der Auswirkungen eines Verhaltens und eines Sachverhalts, der mit der Wahl dieses Verhaltens zu verwirklichen ist. Korreliert werden also auch ein normatives und ein faktisches Element oder, in einer schlichteren Erklärung, „eine Norm und eine Tatsache“. Das materiale Prinzip bearbeitet also eine Wirklichkeit, die Gegenstand der Normierung ist. Im Fall des Rechtssicherheitsprinzips geschieht jedoch etwas leicht anderes. Die Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips erfordert tatsächlich ihre Beziehung auf eine Rechtswirklichkeit. Einfacher ausgedrückt, setzt seine Anwendung den Vergleich einer Norm (Rechtssicherheitsprinzip) mit einer anderen Norm (gesetzliche, Verwaltungs- oder gerichtliche Norm) voraus. In diesem Sinn ist festzustellen, ob die im Rang niedrigere Norm mit dem Rechtssicherheitsprinzip übereinstimmt, so etwa, ob sie nicht rückwirkend ist, ob das Gesetz Übergangsregeln enthält, ob der normative Akt nicht über das Gesetz, das auszulegen er bestimmt ist, hinausgeht, ob das Urteil die legitime Erwartung des Bürgers beachtet hat usf. Festzustellen ist also die Vereinbarkeit einer Norm von niedrigeren Rang mit dem Rechtssicherheitsprinzip. Dieses Prinzip bezieht sich also auf eine bestimmte Gestaltung der Wirklichkeit vermittels der Rechtsinstitute: seine Anwendung beinhaltet nicht die Analyse der Subsumtion einer Voraussetzung de facto 71 Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 11.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

unter eine Norm, sondern den Kontrast zwischen einer Verfassungsnorm und einer Rechtswirklichkeit, sei es der einer Norm oder der Anwendung einer Norm72. Die genannte Unterscheidung ist also in der Einschaltung einer Norm zwischen der höherrangigen Norm und der faktischen Wirklichkeit angesiedelt: während ein beliebiges materiales Prinzip die Korrelation der Auswirkungen eines Verhaltens und des Sachverhalts, das dieses Verhalten zu verwirklichen anordnet, erfordert, erfordert das Rechtssicherheitsprinzip die Korrelation der Auswirkungen einer Norm und des Sachverhalts, dessen Verwirklichung es statuiert. Der Gegenstand des Rechtssicherheitsprinzips ist sozusagen nicht unmittelbar die Gestaltung der Wirklichkeit, sondern die Gestaltung des Rechts oder eines Rechts als Instrument zur Gestaltung der Wirklichkeit. Wie an passender Stelle zu zeigen sein wird, wird das Rechtssicherheitsprinzip eben aus diesem Grund in seiner Normqualität als „instrumentelles Prinzip“ und in seiner Rechtsqualität als eine Art „Gewährleistungsrecht“ bestimmt: seine Funktion besteht darin, ein Instrument der Verwirklichung von Prinzipien oder Rechten zu sein. Diese Unterscheidung ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Rechtssicherheitsprinzip aus einem Sachverhalt besteht, dessen Verwirklichung von der Wahl der (Rechts)Mittel abhängt, deren Wirkungen zu dieser Verwirklichung beitragen. Das Prinzip der Rechtssicherheit ist also vermittels eines analytischen Verfahrens so zu strukturieren, das seine Doppeldeutigkeiten fortschreitend reduziert werden können, vor allem durch die Angabe seiner Dimensionen, Aspekte und Elemente. Hier ist allerdings ein letzter Vorbehalt von zentraler Bedeutung anzubringen. Obwohl der Konstruktion einer Art „Matrixprinzip“ des Rechtssicherheitsprinzips dieselbe Klärungsabsicht der analytischen Organisation der Regeln zugrundeliegt, hat sie nicht dieselbe Starre und die gleiche Exaktheit-die sie nicht einmal haben will und auch niemals eifern könnte. Da die Zergliederung der Kompetenzregeln in verschiedene Aspekte die staatliche Besteuerungsgewalt gestaltet, verfolgt sie den Zweck, die Elemente aufzuweisen, ohne die eine staatliche Kompetenz sich nicht einstellen würde. So gibt es ohne die Übertragung des Wareneigentums im Inland keine bundesstaatliche Kompetenz zur Erhebung der Warenumsatzsteuer; und ohne die vergütete menschliche Arbeit, die sich aus einer im Hoheitsgebiet der Gemeinde ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeit ergibt, gibt es keine Kommunalkompetenz zur Erhebung der Dienstleistungssteuer usf. Der Eintritt von Tatsachen, die auf die Aspekte des Steuertatbestands passen, ist eine Bedingung, ohne die keine auszuübende staatliche Kompetenz sich bildet. Bei Prinzipien und insbesondere beim Rechtssicherheitsprinzip ist dies nicht der Fall. In der Tat ist, wie weiter unten noch deutlich werden wird, die Gestaltung eines jeden Elements nie „ja oder nein“, sondern immer „mehr oder weniger“. So setzt

72

César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 43 ff.

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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beispielsweise die Orientierungssicherheit die Erkennbarkeit von Normen voraus, die von der Menge der den Adressaten gelieferten Informationen abhängt. Ein „Zuviel an Information“ provoziert jedoch Komplexität, die keine orientierende Wirkung entfaltet; andererseits ist ein „Zuwenig an Komplexität“ nicht verhaltensleitend und damit auch nicht orientierend. Dosis facit venenum73. Außerdem ist die Anwesenheit eines Elements immer mit der eines anderen zu koordinieren. So muss der Staat im Interesse der Verlässlichkeit des Rechts Grundrechte durch ihren Schutz und ihre Nichtverletzung gewährleisten. Um seine Schutzpflichten zu erfüllen, muss der Staat über normative Instrumente und Informationen verfügen. Je mehr er sich jedoch dieser Instrumente bedient, desto mehr wird er die Ausübung individueller Freiheit beschränken. Schützt er zuviel, beschränkt er; schützt er zuwenig, gewährleistet er nicht74. Diese kurzen Erwägungen sollen nur zeigen, dass die Rechtssicherheit bildenden Elemente trotz ihrer Strukturiertheit individuell bemessen und gemeinsam koordiniert sein müssen, was nicht mit der strukturellen Untersuchung der Tatbestandsregeln der Fall ist. So paradox dies scheinen mag, kann ihre Verabsolutierung der Rechtssicherheit selbst als Instrument der Gewährleistung der Freiheit, Gleichheit und Würde ein Ende bereiten. Nach der Untersuchung der Unverzichtbarkeit der Strukturanalyse des Rechtssicherheitsprinzips müssen wir jetzt zur Untersuchung ihrer verschiedenen Aspekte fortschreiten. Bei dieser ersten Annäherung werden die möglichen Bedeutungen eines jeden Aspekts untersucht. Die Feststellung der zu wählenden Bedeutungen bleibt einem späteren Zeitpunkt nach der Untersuchung der normativen Grundlagen der Rechtssicherheit vorbehalten. e) Finalistische Aspekte – der zu erreichende Zustand aa) Sachlicher Aspekt (welches ist der Inhalt von Rechtssicherheit?) (1) Die Bedeutungen von „Sicherheit“ (a) Zweckbezogen (aa) In statischer und zeitloser Hinsicht: Bestimmung vs. Erkennbarkeit Hinsichtlich der Rechskenntnis gibt es zwei Positionen, die zu didaktischen Zwecken fortentwickelt werden können. Einerseits kann man behaupten, dass die Rechtssicherheit die Fähigkeit des Bürgers erfordert, exakt den Inhalt der Rechts 73

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 690. Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 160. 74

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

normen zu verstehen, seien sie nun allgemein oder individuell. In diesem Sinn spricht man von (absoluter) Bestimmtheit und Gewissheit des Rechts bzw. von „Eindeutigkeit der Ergebnisse“75. Ebenfalls in diesem Sinn kennzeichnet ein Teil der Rechtslehre, insbesondere die frühen Arbeiten von Kelsen und die Arbeiten von Frank, die Rechtssicherheit als eine „Illusion“, einen „Mythos“ oder eine „Chimäre“76. Und gleichfalls in diesem Sinn bezieht sich die Rechtslehre, insbesondere die steuerrechtliche, aber auch die verwaltungsrechtliche, auf das Prinzip der „strikten“ Legalität oder „geschlossenen“ materialen Tatbestandsmäßigkeit als einer absoluten Bestimmung, die Norminhalten vorangeht77. Der beste Ausdruck für diese Bedeutung ist also „Bestimmtheit“ als Fähigkeit der vollkommenen Erkenntnis der Norminhalte. Das Recht ist, um einen emphatischen Ausdruck von Frank zu gebrauchen, „fertig“ (ready-made), besteht schon vor den richterlichen Entscheidungen78. Andereseits lässt sich aber auch die Position vertreten, dass die Rechtssicherheit die hochentwickelte Fähigkeit des Bürgers erfordert, die möglichen Bedeutungen eines Normtexts-ausgehend von Bedeutungskernen-zu verstehen, die vermittels intersubjektiv kontrollierbarer Argumentationsprozesse zu rekonstruieren sind. In diesem Sinn spricht man von (relativer) Bestimmbarkeit und Gewissheit des Rechts. Und in diesem Sinn kennzeichnet ebenso ein Teil der Rechtslehre die Rechtssicherheit als etwas schrittweise Erreichtes. Kelsen selbst verwendet in einer späteren Arbeit nicht mehr den Terminus „Illusion“, jedoch den Terminus „Fiktion“, um ein „annäherungsweise realisierbares“ Ideal zu beschreiben79. Auch in diesem Sinn bezieht sich die Rechtslehre, vor allem im Steuerrecht, auf das Prinzip der „strikten“ Legalität oder „offenen“ materialen Tatbestandsmäßigkeit80. Das angemessenste Wort, um diese Bedeutung zu denotieren, ist nicht „Bestimmtheit“, sondern „Bestimmbarkeit“ von Norminhalten. Da die Forderung nach Bestimmbarkeit sehr eingeschränkt ist, jedoch nicht notwendig Aspekte umfasst, die auf die materiale Existenz der Quelle, von der ausgehend die Rechtsnorm rekonstruiert wird, bezogen sind, kann man den Terminus „Erkennbarkeit“ oder „Verständlichkeit“ benutzen, im Sinn von formaler oder materialer Fähigkeit der Erkenntnis möglicher Norminhalte eines gegebenen Normtexts oder von Argumentationspraktiken zu seiner Rekonstruktion. Man bemerke, dass dieser Ausdruck noch umfassender ist als „Bestimmbarkeit“, da er sowohl materiale Aspekte bezogen auf die Zugäng 75

César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 113. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, in: Jestaedt, Matthias (Hrsg.), Studienausgabe der 1. Auflage 1934, S. 109; Jerome Frank, Law and the Modern Mind, S. 35. 77 Alberto Xavier, Os princípios da legalidade e da tipicidade da tributação, S. 92. Neuerdings analog: Alberto Xavier, Tipicidade da tributação, simulação e norma antielisiva, S. 18. 78 Jerome Frank, Law and the Modern Mind, S. 35. 79 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 353. 80 Marciano Seabra de Godoi, O quê e o porquê da tipicidade tributária, in: Ribeiro, Ricardo Lodi / Rocha, Sérgio André (Hrsg.), Legalidade e tipicidade no Direito Tributário, S. 96; Fernando Aurélio Zilvetti, Tipo e linguagem: a gênese da igualdade na tributação, in: Ribeiro, Ricardo Lodi / Rocha, Sérgio André (Hrsg.), Legalidade e tipicidade no Direito Tributário, S. 30–51. 76

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lichkeit des Inhalts (wie beispielsweise Veröffentlichung und Bekanntgabe) und auf seine Reichweite, wie auch materiale Aspekte bezogen auf seine Verständlichkeit (wie beispielsweise Klarheit und Bestimmbarkeit) umfassen kann. (bb) In dynamischer und intertemporaler Hinsicht (α) Vergangenheitsorientiert: Unveränderlichkeit vs. Verlässlichkeit Hinsichtlich der Rechtsänderung und des Bezugs auf die zuvor Änderung existierenden Normen sind ebenfalls zwei Auffassungen möglich. Einerseits kann man es so verstehen, dass Rechtssicherheit die Suche nach dem Ideal der Unveränderlichkeit bestimmter Normen beinhaltet. In dieser Bedeutung wird der Ausdruck „Unveränderlichkeit des Rechts“ benutzt, und in dieser Bedeutung benutzt die öffentlichrechtliche Literatur auch den Terminus „Stabilität“ oder selbst den manchmal pejorativen Ausdruck „Versteinerung des Rechts“81. In dieser Bedeutung bindet die Rechtssicherheit das zukünftige Recht unerbittlich an das vergangene Recht. Wie Gutierrez behauptet, ist die Unveränderlichkeit, gekennzeichnet als Eigenschaft desjenigen, was nicht geändert werden kann, eng an die Idee der Unberührbarkeit gebunden82. Andererseits kann man jedoch Rechtssicherheit als Forderung nach „Stabilität im Wandel“ verstehen, d. h. als Schutz individualrechtlich schon gewährleisteter subjektiver Situationen und als Forderung nach Kontinuität der Rechtsordnung vermittels Übergangsregeln und Billigkeitsklauseln. Das konsistenteste Wort zur Denotierung dieser Bedeutung ist also „Verlässlichkeit“, verstanden als Forderung nach einer Erwartungen schützenden und stabile Veränderungen gewährleistenden Rechtsordnung. Cavalcanti Filho hat diese wechselseitige Beziehung von Stabilität und Wandel zutreffend bemerkt: „Es ist also unvermeidlich, dass es eine Spanne von Ungewissheit und Unsicherheit im Recht gibt, denn andernfalls wäre das Recht ja ein Instrument der gesellschaftlichen Stagnation. Diese Ungewissheit und Unsicherheit sind jedoch der Preis menschlichen Fortschritts und der Suche nach gerechteren Formen gesellschaftlichen Organisation“83. In diesem zweiten Sinn statuiert die Rechtssicherheit nur Forderungen bezüglich des Übergangs vom vergangenen zum zukünftigen Recht. Sie beabsichtigt also keine Unveränderlichkeit, aber eine Stabilität und Vernünftigkeit im Wandel, die gewaltsame Veränderungen vermeidet84. Wie Vedel erinnert, kann „ein Flugzeug

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Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 33. Monica Madariaga Gutierrez, Derecho Administrativo y seguridad jurídica, S. 7 sowie 49. 83 Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 162. 84 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 17; César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 88; Jean-Baptiste Racine / Fabrice Siiriainen, Sécurité juridique et Droit Économique: 82

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

stabil sein, selbst wenn es die schnellste Route wählt“85. So paradox dies scheinen mag, ist die Bewegung die Bedingung der Stabilität, hierin vergleichbar einer Fahrradtour: wenn der Fahrradfahrer anhält, fällt er um. Wenn der Eisläufer über der schwachen Eisfläche innehält, bricht er ein. Das Recht darf also nicht häufig, plötzlich und drastisch geändert werden; es hat sich vielmehr der neuen Wirklichkeit anzupassen, wenn es die wirtschaftliche Tätigkeit nicht bremsen will86. Gesucht wird in Wahrheit die Sicherheit der Bewegung87. Wesentlich ist, dass „die evolutionäre Natur des Rechts Kristallisierungen und Stagnation verabscheut“, wie Machado Derzi zutreffend bemerkt88. (β) Zukunftsorientiert: Vorhersehbarkeit vs. Berechenbarkeit Hinsichtlich der zukünftigen Wirksamkeit der Rechts lassen sich ebenfalls zwei Konzeptionen heuristisch skizzieren: einerseits lässt sich behaupten, dass Rechtssicherheit die vollkommene Fähigkeit vorschreibt, die Rechtsfolgen des (eigenen oder fremden) Verhaltens vorwegzunehmen89. Die Termini „Vorhersehbarkeit“ und „absolute Gewissheit“ denotieren diese Bedeutung. In diesem Sinn gewährleistet Rechtssicherheit der Privatperson das Recht, heute genau das Recht von morgen zu kennen und den Inhalt der zukünftigen Entscheidung, die eine heute begangene Handlung rechtlich qualifiziert, vorwegzunehmen. Andererseits kann man behaupten, dass die Rechtssicherheit nur die hochentwickelte Fähigkeit der Mehrheit der Menschen beinhaltet, die Rechtsfolgen von Handlungen oder Tatsachen vorauszusehen. In diesem Sinn gewährleistet sie, dass man weitgehend Auslegungsalternativen und normative Wirkungen von Rechtsnormen vorwegnehmen kann. Das korrekteste Wort zur Bezeichnung dieser Bedeutung wäre nicht „Vorhersehbarkeit“, sondern „Berechenbarkeit“90. Berechenbarkeit bedeutet also die Fähigkeit des Bürgers, weitgehend die Grenzen des Eingriffs staatlicher

Propos introductifs, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 13. 85 Georges Vedel, Discontinuité du Droit Constitutionnel et continuité du Droit Administratif: le rôle du juge, in: Le juge et le Droit: Mélanges offerts à Marcel Waline, Bd. 2, S. 779. 86 Jean-Baptiste Racine / Fabrice Siiriainen, Sécurité juridique et Droit Économique: Propos introductifs, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 21. 87 Cármen Lúcia Antunes Rocha, O princípio da coisa julgada e o vício de inconstitucionalidade, in: Antunes Rocha, Carmén Lúcia (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada. Estudos em homenagem a José Paulo Sepúlveda Pertence, S. 168; Leandro Paulsen, Segurança jurídica, certeza do Direito e tributação, S. 26. 88 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 284. 89 José Luiz Palma Fernández, La seguridad jurídica ante la abundancia de normas, S. 38. 90 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 391; Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 159.

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Gewalt in die von ihm begangenen Handlungen vorauszusehen und vorwegnehmend den Umfang des freien Ermessens für staatliche Handlungen zu kennen91. (b) Bezogen auf das Fundament (aa) Sicherheit als Ergebnis der Rechtsidee Rechtssicherheit wird oft mit der Idee des Rechts selbst in Verbindung gebracht, unabhängig von ihrer Positivierung in einer bestimmten Rechtsordnung. Auf dieser Argumentationslinie stellt Radbruch trotz seiner anfänglichen Behauptung, dass die zentrale Idee des Rechts die Gerechtigkeit ist, später fest, dass Rechtssicherheit, Sicherheit des Rechts und Zweckmäßigkeit ebenfalls seinen Kern bilden92. Die Rechtssicherheit ist nach dieser Auffassung ein Wert, der neben der Gerechtigkeit und dem sozialen Frieden jede Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit inspiriert93. Fuller zählt gleichfalls verschiedene Elemente auf, die Teile der „Sittlichkeit des Rechts“ sind und neben anderen Zielen die Gewährleistung des gesellschaftlichen Verkehrs aufgrund der Wechselseitigkeit der Erfahrungen anstreben, d. h. in einem Umfeld, in dem die Bürger nach Kenntnis der geltenden Regeln handeln können, indem sie vorwegnehmen, wie andere Menschen ebenfalls handeln werden94. Ähnlich verfährt z. B. Luhmann, wenn er das Recht als wesentlich und begrifflich an die Rechtssicherheit gebunden vorstellt: da die soziale Welt Komplexität (es gibt immer mehr Möglichkeiten der Handlung als diejenigen, die tatsächlich gewählt werden können) und Kontigenz (die Erfahrung muss nicht unbedingt mit den Erwartungen kongruieren) bietet, muss der Bürger einerseits wählen und andererseits Frustrationsrisiken eingehen, weshalb das Recht präzise als Instrument der Reduktion von Komplexität und Kontingenz durch die Gewährleistung von allen Bürgern gemeinsamen Erwartungen fungiert95. Es kommt darauf an, dass Rechtssicherheit in dieser Konzeption mehr als ein positivierter Wert ist, nämlich eine der Rechtsidee selbst innewohnende Vorstellung96. Rechtssicherheit ist ein rechtskonstitutiver Wert, da man ohne ein Minimum an Gewissheit, Wirksamkeit und Abwesenheit von Willkür strenggenommen

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Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 224; Eros Roberto Grau, O Direito posto e o Direito pressuposto, 7. Aufl., S. 103. 92 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, 2. Aufl., S. 73. S. zu diesem Thema: Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 75. 93 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 6. 94 Lon Fuller, Anatomy of law, S. 73. 95 Niklas Luhmann, Vertrauen  – Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 4. Aufl., S. 27; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 24. 96 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 112.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

nicht von einem Rechtssystem sprechen kann97. Die erste Funktion des Rechts ist eine Gewährleistungsfunktion98. Das erklärt auch die Behauptung, dass die Rechtssicherheit, vor allem im Steuerrecht, ein Pleonasmus ist, denn es gehört zum Wesen des Rechts, Sicherheit zu gewährleisten99. Man bemerke jedoch, dass die Sorge dieser Juristen definitorischer Natur ist. Sie wollen beweisen, inwiefern die Rechtssicherheit zum Rechtsbegriff selbst gehört. Hier muss man aber feststellen, dass die einfache Annahme dieser Bindung, obwohl sie bedeutsam ist, wenig für das „Wie“ der Verwirklichung von Rechtssicherheit besagt. Dazu reicht es, wie in dieser Arbeit vertreten wird, nicht aus, die „Idee“ der Rechtssicherheit als an die „Idee“ des Rechts gebunden zu akzeptieren; Rechtssicherheit ist so zu bestimmen, dass sie operationalisierbar wird, was also sowohl die Wahl einer analytischen Perspektive erfordert, die ihre verschiedenen Dimensionen und Aspekte offenlegen kann, als auch eine dogmatische Perspektive, die unter den verschiedenen Dimensionen und Aspekten diejenigen ausweisen kann, die angesichts einer bestimmten Rechtsordnung zu wählen sind. (bb) Sicherheit als Ergebnis positiven Rechts Eben deswegen kann Rechtssicherheit als eine spezifische Norm einer bestimmten Rechtsordnung erklärt werden, also nicht einfach als eine der Rechtsidee immanente Vorstellung. Der Unterschied ist präzise in der Tatsache begründet, dass Rechtssicherheit als Norm schon deutlichere Konturen erlangt, da die Rechtsordnung schon selbst sich anschickt, die für die fortschreitende Reduktion ihrer Unbestimmtheit notwendigen Fragen zu beantworten, so die nach der Ideale welche sie enthält, so die Fragen nach den Gegenständen, auf die sie sich bezieht, nach den Personen, die sie schützt, oder nach dem Gewicht, das ihr im Zusammenprall mit anderen Normen zukommt. Festzuhalten ist überdies Folgendes: wenn es nur sinnvoll ist, von Rechtswirksamkeit der Rechtssicherheit als Norm zu sprechen, gilt dies nicht in Bezug auf die Rechtssicherheit als bestimmendes Element, Tatsache, politisches Ideal oder Wert. Die Berücksichtigung der Rechtssicherheit als Norm einer bestimmten Rechtsordnung schließt ihre Qualifikation als wesentliches Element der Rechtsidee selbst nicht aus. Was sie tut, ist die Bestimmung ihres Inhalts gemäß den mittel- und unmittelbaren Grundlagen einer bestimmten Rechtsordnung. Anders gewendet, er 97

Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 120. Gérard Farjat, Observations sur la sécurité juridique, le lien social et le Droit Économique, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 47. 99 Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 1; Jacques Chevallier, Le Droit Économique: l’insécurité juridique ou nouvelle sécurité juridique?, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 559. 98

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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laubt ihre Bewertung als Norm, wie wir im Fortgang dieser Arbeit darlegen wollen, die Feststellung, dass sie, obwohl sie der Rechtsidee immanent ist, sich nicht in allen Rechtsordnungen auf die gleiche Art äußert wie in der brasilianischen, die hier untersucht wird, in der sie eine hohe systematische Bedeutung erlangt und mehrere ihrer Subelemente spezifisch geregelt sind. In der deutschen Rechtsordnung durchzieht die Idee des Rechtsstaats das ganze Grundgesetz und wird ausdrücklich in den Artikeln 16 Abs. 2, 20 Abs. 1 bis 3, 23 Abs. 1 und 28 Abs. 1 zitiert; außerdem sind die Subelemente der Rechtssicherheit in der Verfassung ausgedrückt oder können aus ihr abgeleitet werden, wie im Fall der Gesetzmäßigkeit (Art. 2 Abs. 1) und dem Rückwirkungsverbot im Steuerrecht, das sich aus dem Rechtsstaat (Art. 20) ergibt und den Schutz des Vertrauens des Steuerzahlers fordert. Das Verständnis der Rechtssicherheit als Norm ermöglicht somit die Feststellung, wie und inwiefern sie zu verwirklichen ist. Nach der Untersuchung der möglichen Bedeutungen der Vokabel „Sicherheit“ ist es nun notwendig, die Bedeutungsextension des Worts „Recht“ zu untersuchen. Dies soll im Folgenden Abschnitt erfolgen. (2) Die Bedeutungen des Worts „Recht“ (a) Hinsichtlich der Bezogenheit auf das „Recht“ Erstens kann Rechtssicherheit verstanden werden als „Sicherheit des Rechts“ (legal certainty, securité juridique, seguridad del derecho, segurança jurídica, certezza del diritto), sowohl in dem Sinn, dass das Recht, um als „sicheres Recht“ zu gelten, bestimmte objektive Qualitäten wie Klarheit und Bestimmtheit haben muss, als auch in dem Sinn, dass das Recht, um als „Recht mit Sicherheit“ angesehen zu werden, unpersönliche und einheitliche Anwendungsprozesse beinhalten muss100. Diese Dimension sucht folgende Frage zu beantworten: „ist das Recht selbst sicher?“ Man bemerke, dass in diesem Satz das Wort „Recht“ das Subjekt ist, d. h. das Element, von dem etwas ausgesagt wird, während „sicher“ die Funktion des Kerns eines Nominalprädikats in Form eines Adjektivs hat, das denotiert, was man vom Subjekt aussagt und dieses durch Angabe einer Eigenschaft kennzeichnet. Sicherheit ist also ein Attribut des Rechts. Diese Bedeutung von Sicherheit des Rechts (sei es als Sicherheit der Normen, sei es als Sicherheit in ihrer Anwendung) privilegiert Aspekte der Rechtssicherheit, die 100

César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 25; Fede­ rico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 29; José Afonso da Silva, Constituição e Segurança Jurídica, in: Antunes Rocha, Carmén Lúcia (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada. Estudos em homenagem a José Paulo Sepúlveda Pertence, S. 17; Christof Münch, Rechtssicherheit als Standortfaktor. Gedanken aus Sicht der vorsorgenden Rechtspflege, in: Weber, Albrecht (Hrsg.), Währung und Wirtschaft. Das Geld im Recht. FS für Hugo J. Hahn, S. 674.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

objektiv genannt werden, da sie mehrere Eigenschaften umfasst, die eine Rechtsordnung haben muss, unabhängig von ihrer konkreten Wirksamkeit in Bezug auf bestimmte Subjekte, wie die Untersuchung der Zugänglichkeit, der Reichweite und Verständlichkeit von Rechtsnormen erweisen wird. In der ersten Bedeutung (sicheres Recht), die auch als „Bedeutungssicherheit“ bezeichnet werden kann, wird jedoch den statischen Elementen, welche die Rechtsordnung anfangs enthalten muss, ein größeres Gewicht eingeräumt, unabhängig vom Eintritt von im Anwendungsprozess erzeugten zukünftigen Elementen. Und in der zweiten Bedeutung (Recht mit Sicherheit), die auch „Anwendungssicherheit“ genannt werden kann, werden dynamische Aspekte unterstrichen, die im Prozess der Rechtsanwendung selbst zu berücksichtigen sind. Zu klären ist jedoch, dass die Bestimmung der Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts nichts über die Art und Weise ihres Verständnisses aussagt. Selbst wenn sie so definiert wird, kann sie als Selbstzweck oder Mittel zur Gewährleistung anderer Zwecke verstanden werden: so im ersten Fall, wenn die Rechtssicherheit selbst, unabhängig von der indirekten Gewährleistung anderer Werte, als wichtig gilt (certainty for its own sake)101; so im zweiten Fall, wenn die Rechtssicherheit als Instrument zur Gewährleistung anderer Werte wie Freiheit, Eigentum und Würde dient102. Zweitens kann Rechtssicherheit als Sicherheit durch Recht verstanden werden, sowohl in dem Sinn, dass das Recht das Instrument sein soll, um vermittels des Inhalts seiner Normen die Sicherheit zu gewährleisten, als auch im Sinn, dass das Recht vermittels der von ihm festgelegten Verfahren als Mittel dazu dienen soll, Erwartungen zu gewährleisten (Sicherheit durch das Recht, certainty through law, securité pour le droit, seguridad por el derecho, segurança pelo direito, certezza per il diritto).103 Rechtssicherheit in diesem Sinn ist eine Form der Gewährleistung von Sicherheit, d. h. der „Gewährleistung“ von Rechten und Pflichten. Zugrunde liegt dieser Bedeutung folgende Frage: „Gibt es Sicherheit durch das Recht?“ Man bemerke, dass in diesem Satz das Wort „Recht“ als Verbalprädikat vermittels des Gebrauchs einer instrumentalen Adverbialbestimmung („durch das Recht“) fungiert. Diese Art des Verstehens von Rechtssicherheit privilegiert den formalen und prozeduralen instrumentalen Aspekt: den formalen, weil sie das Recht als gewährleistendes Instrument bestimmter Erwartungen versteht, worin diese immer auch bestehen mögen; den prozeduralen, da sie die Verwaltungs- und Gerichtsverfahren als Mittel der Gewährleistung bestimmter Werte versteht. In 101

Frederick Schauer, Profiles, probabilities and stereotypes, S. 261. Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 15; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 79. 103 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 89; José L. Mezquita del Cacho, Seguridad jurídica y sistema cautelar, in: Teoría de la seguridad jurídica, S. 67; José Afonso da Silva, Constituição e Segurança Jurídica, in: Antunes Rocha, Carmén Lúcia (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada. Estudos em homenagem a José Paulo Sepúlveda Pertence, S. 24. 102

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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diesem Sinn kann man von „Verfahrenssicherheit“ sprechen. Hier ist das Recht das Instrument der Sicherheit. Und Sicherheit stellt sich neutral dar: das Recht kann verschiene Arten von Sicherheit gewährleisten (des Rechts, von Rechten, eines Rechts), wie weiter unten gezeigt werden soll. Im Rahmen dieser zweiten Bedeutung-Sicherheit durch Recht-kann die Rechtssicherheit einerseits als Sicherheit der Rechte verstanden werden, in dem Sinn, dass das Recht das Instrument zur „Gewährleistung“ jeglicher anderer Rechte wie der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit oder selbst des Rechts auf Rechtssicherheit sein kann. Diese Auffassung privilegiert den dynamischen Aspekt der Rechtssicherheit, zumal sie die sich aus der Anwendung des Rechts für die Bürger im Allgemeinen ergebenden Wirkungen umfasst. Sicherheit bedeutet hier Gewährleistung von Rechten angesichts der Äußerungsformen des Rechts selbst104. Diese Bedeutung ergibt sich aus der Antwort auf folgende Frage: „sind Rechte sicher oder gewährleistet?“ Man bemerke, dass das Wort „Rechte“ (hier im Plural, verweisend auf eine Menge subjektiver Rechte) in diesem Satz die Rolle des Subjekts spielt, d. h. das Element ist, von dem etwas ausgesagt wird, während „sicher“ durch die Benutzung des Adjektivs die nominalprädikative Funktion hat, das denotiert, was man über das Subjekt aussagt, und dieses durch Angabe einer Eigenschaft kennzeichnet. Sicherheit ist also die Eigenschaft der Rechte. Man bemerke, dass „Rechte“ im Plural steht: es handelt sich nicht um das Recht eines bestimmten Subjekts, sondern um die Menge von der Rechtsordnung statuierten Rechte. Dies ist eine der von Torres der Rechtssicherheit zugeschriebenen Bedeutungen: „Rechtssicherheit ist die Gewissheit und Gewährleistung der Rechte“ und bedeutet vor allem „Sicherheit der Grundrechte“105. Andererseits, noch im Rahmen der Bedeutung von Sicherheit durch Recht, kann man Rechtssicherheit in einem vom vorherigen subtil abgeänderten Sinn verstehen: die Sicherheit bezieht sich nicht auf das Recht im Allgemeinen, auch nicht auf die Rechte der Bürger in kollektiver Hinsicht, sondern stattdessen auf „ein Recht“, auf ein spezifisches Recht einer bestimmten Person in einer konkreten Situation. Wie nachfolgend zu sehen sein wird, bezieht sich diese Bedeutung nicht eigentlich auf das Prinzip der Rechtssicherheit als objektive Norm, welche die Verwirklichung eines Zustands der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts erfordert, ge 104

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 257; José Afonso da Silva, Constituição e Segurança Jurídica, in: Antunes Rocha, Carmén Lúcia (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada. Estudos em homenagem a José Paulo Sepúlveda Pertence, S. 17. 105 Ricardo Lobo Torres, Segurança jurídica e as limitações ao poder de tributar, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação, S. 430; Ricardo Lobo Torres, Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, in: Silva Martins, Ives Gandra da (Hrsg.), Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, S. 74; Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional, Financeiro e Tributário. Bd. 2. Valores e Princípios Constitucionais Tributários, S. 168; Ricardo Lobo Torres, Liberdade, Segurança e Justiça, in: Carvalho, Paulo de Barros (Hrsg.), Justiça tributária, S. 686.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

gründet auf seiner Erkennbarkeit, sondern auf die reflexive Wirksamkeit dieser Norm in Bezug auf ein bestimmtes Subjekt. Es handelt sich also um das subjektive Recht auf den Schutz des legitimen Vertrauens106. Diese Bedeutung ergibt sich aus der Antwort auf folgende Frage: „ist das Recht sicher?“ Man bemerke, dass das Wort „Recht“ (im Singular, als subjektives Recht und nicht als Recht oder objektive Ordnung) gleichfalls die Funktion des Subjekts hat und „sicher“ die Funktion des Nominalprädikats vermittels des Gebrauchs eines Adjektivs hat. Sicherheit kann in dieser Bedeutung sowohl eine Eigenschaft eines spezifischen Rechts eines bestimmten Subjekts offenbaren als auch ein Instrument für seinen Schutz bezeichnen. In beiden Fällen ist Sicherheit jedoch das Instrument der Gewährleistung eines Rechts. Der Schutz der wohlerworbenen Rechte, der vollendeten Rechtshandlungen und der Rechtskraft fällt in diesen Bereich. Drittens kann Rechtssicherheit als Sicherheit vor dem Recht verstanden werden, sowohl in dem Sinn, dass das Recht prozedurale Bedingungen anbieten muss, damit der Einzelne sich gegen dessen Äußerungsformen verteidigt, durch Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren, die angesichts der Ausübung von Macht durch eine gegebene Obrigkeit verwendet werden können, als auch in dem Sinn, dass das Recht bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, damit der Einzelne sich vor ihm selbst schützen kann, so etwa bei der Veröffentlichung und Bekanntgabe bei Verwaltungshandlungen107. Diese Bedeutung ergibt sich aus der Antwort auf folgende Frage: „gibt es Sicherheit gegenüber dem Recht?“ Das Wort „Recht“ ist hier kein Instrument der Gewährleistung der Sicherheit, sondern das diese verursachende Objekt. Paradoxerweise sind rechtliche Instrumente notwendig, um die sich aus dem Recht ergebende Unsicherheit anzugehen. Wir sehen hier das Recht als Ursache und Lösung der Rechtssicherheit. Diese Bedeutung wird der Rechtssicherheit von Lambert zugeschrieben, wenn er feststellt, dass das Rechtssicherheitsprinzip dem Schutz des Bürgers „gegen“ eine vom Recht selbst ausgehende Gefahr dient108. Viertens kann Rechtssicherheit als Sicherheit des Einzelnen unter dem Einzelschutz des Rechts verstanden werden. In dieser Hinsicht stehen nicht die allgemeinen und abstrakten Normen im Vordergrund, sondern die Einzelnormen, die jemandem etwas gewährleisten, so im Fall des Gerichtsurteils oder einer Entscheidung einer Verwaltungsbehörde. Wie man sehen kann, handelt es sich um eine Bedeutungsversion der Sicherheit durch das Recht und durch Rechte. Fünftens kann man die Rechtssicherheit benutzen, um sich nicht auf „das Recht“, „Rechte“ oder „ein Recht“ zu beziehen, sondern, stattdessen, „als Recht“. Der Ausdruck „rechtlich“ bezieht sich dann also nicht auf den Gegenstand der Sicherheit, sondern auf deren normative Kennzeichnung. Diese Bedeutung be 106 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 171. 107 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 3 sowie 16, 159. 108 Pierre Lambert, Le principe général de la sécurité juridique et les validations législatives, in: Les Cahiers de l’Institut d’études sur la Justice 4 (2003), S. 6.

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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weist nur, dass das Rechtssicherheitsprinzip aus konkreter und subjektiver Sicht als subjektives Recht funktionieren kann: als Rechtsnorm erzeugt es, wenn auch mittelbar, vom Bürger einklagbare Pflichten und Verbote für den Staat, wenn die Klagefähigkeit vorliegt, weshalb man auch vom „Recht auf Rechtssicherheit“ spricht109. Diese Kennzeichnung ist natürlich nicht unstrittig. Einige Autoren sind der Meinung, dass „es kein subjektives Recht auf Rechtssicherheit gibt. In der Tat würde die Einführung eines subjektiven Rechts auf Rechtssicherheit vielleicht (und sicher!) einer Öffnung der Büchse der Pandora gleichkommen“110. Weit entfernt davon, Übertreibungen zuzulassen, ist die Begriffsbestimmung der Rechtssicherheit nichts anderes als der subjektive Reflex des objektiven Rechtssicherheitsprinzips. Wenn einerseits sicher ist, dass die Rechtssicherheit als Zweck positiviert wird, als vom Staat in legitimer Ausübung seiner Gestaltungsfreiheit konkretisierbar, was den Anspruch des Einzelnen auf gerichtliche Forderung spezifischer public policies zu ihrem Schutz hinfällig werden lässt, ist es andererseits nicht weniger zutreffend, dass das Ausbleiben der Realisierung der staatlichen Schutzpflicht sie normativ bis zu dem Punkt verdichten kann, an dem sie nicht allgemeine Ansprüche an public policies, aber Einzelansprüche erzeugen kann, die sie minimal konkretisieren sollen111. Das subjektive Recht entsteht in Bezug auf das „Falls“, nicht in Bezug auf das „Wie“ staatlichen Handelns112. Diese Feststellung steht Behauptungen wie der von Torres, dass die Rechtssicherheit „ein wahres Grundrecht ist“, nicht entgegen113. Im Lauf dieser Arbeit werden die Umrisse der ausgehend von der Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips erzeugbaren Rechte deutlich hervortreten, so beispielsweise der Rechte auf den Schutz des legitimen Vertrauens oder auf die Einführung von Übergangsregeln oder Gleichheits klauseln. Rechtssicherheit kann sechstens einen Zustand der Sicherheit vermittels des Rechts,-nicht des Rechts, sondern eines spezifischen Rechts-bedeuten, so beispielsweise des Rechts auf Anhörung der anderen Partei. In diesem sehr spezifischen Sinn lässt sich behaupten, dass der Bürger, wenn er z. B. das Recht erhält, anläss 109

César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 41 f. Jean-Baptiste Racine / Fabrice Siiriainen, Sécurité juridique et Droit Économique: Propos introductifs, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 12; Ingo Wolfgang Sarlet, A eficácia do direito fundamental à segurança jurídica: dignidade da pessoa humana, direitos fundamentais e proibição de retrocesso social no Direito Constitucional brasileiro, in: Antunes Rocha, Carmén Lúcia (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada. Estudos em homenagem a José Paulo Sepúlveda Pertence, S. 92. 111 Winfried Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 132; Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 652. 112 Jutta Limbach, Ist die kollektive Sicherheit der Feind der individuellen Freiheit?, S. 5. 113 Ricardo Lobo Torres, Segurança jurídica e as limitações ao poder de tributar, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação, S. 433; Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional, Financeiro  e Tributário. Bd. 2. Valores  e Princípios Constitucionais Tributários, S. 170; Ricardo Lobo Torres, Liberdade, Segurança e Justiça, in: Carvalho, Paulo de Barros (Hrsg.), Justiça tributária, S. 687. 110

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

lich der Hinzufügung einer neuen Unterlage zu den Akten vorgeladen zu werden, seinen Zustand der Berechenbarkeit der Stellungnahme der Gegenpartei verstärkt sehen wird. Die diese Bedeutung betreffende Behauptung wäre dann etwa: „Ich fühle mich sicher vermittels des Rechts auf Anhörung der anderen Partei“. So könnte der Bürger nicht durch eine Schlussentscheidung überrascht werden, deren Grundlage Unterlagen wären, von deren vollem Inhalt er durch Bekanntgabe nicht erfahren hätte, um dann ordnungsgemäß Stellung zu nehmen. Es handelt sich hier um eine Sicherheit vermittels eines Rechts. Ein Recht ist das Instrument der Rechtssicherheit. Hier gewährleistet sozusagen die Rechtssicherheit (vermittels einer prozessrechtlichen Bestimmung) die Rechtssicherheit (eines Rechts, von Rechten oder des Rechts). Rechtssicherheit kann siebtens nicht eigentlich die Sicherheit „des Rechts“ oder „durch das Recht“ angeben, sondern stattdessen die Sicherheit „im Recht“. Wie später noch deutlicher werden wird, befördert das Verständnis des Rechts als eines vorgegebenen Gegenstands, den der Interpret vorfindet, die Auffassung der Rechtssicherheit als Sicherheit „des“ Rechts: Sicherheit ist eine immanente Qualität des Rechts oder seiner Normen, etwas, was das Recht „enthält“ oder dessen „Träger“ es ist. In diesem Sinn behauptet man, dass das Recht sicher oder nicht sicher ist. Das Fundament dieser Meinung ist das Verständnis des Rechts selbst als eines Gegenstands, der dank einem bloßen abstrakten Erkenntnisakt vom Wissenschaftler beschrieben oder vom Adressaten verstanden werden kann. Wenn jedoch das Recht nicht mehr ein vorgegebenes Element ist, dessen Existenz dem Auslegungsprozess vorangeht, um etwas zu sein, das zuallererst realisiert werden muss, dessen Existenz vom Auslegungs- und Anwendungsprozess abhängt, muss man, mehr als von Sicherheit „des“ Rechts, von Sicherheit „im“ Recht sprechen: Rechtssicherheit ist ein Idealzustand, den man im Prozess der Auslegung und Anwendung des Rechts selbst erobert114. Dieser letzte Ausdruck-Sicherheit „im“ Recht-umfasst in gewisser Weise die vorherigen Auffassungen, von denen seine Verwirklichung abhängt. Man kann daher behaupten, dass er die Rechtssicherheit im weitesten Sinn bezeichnet115. Alle vorher genannten Bedeutungen sind jedoch nicht parallel. Die Sicherheit durch das Recht, d. h. die Gewährleistung eines Sicherheitszustands vermittels des Rechts, kann sich durch die Gewährleistung „eines Rechts“ (gewährleistet wird ein wohlerworbenes Recht), „von Rechten“ (gewährleistet werden die Rechte der Bürger auf einen Mindestlohn) oder „über ein Recht“ (gewährleistet wird ein Recht vermittels des Rechts auf Anhörung der anderen Partei) konkretisieren. Damit soll nur gesagt werden, dass es keine konkret getrennten Bedeutungen gibt, sondern sich kreuzende Äußerungsmodi. Selbst analytisch trennbare Vorstellungen sind funktional nicht zu trennen. So kann man z. B. den Begriff der Sicherheit des Rechts vom Begriff der Sicherheit vermittels des Rechts unterscheiden. Aber wie, wenn Sicherheit des Rechts nur vermittels von Normen, also vermittels des 114 115

Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 19 sowie 23, 55. Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 66.

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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Rechts, gewährleistet wird? Umgekehrt: wie erhält man die Sicherheit vermittels des Rechts, ohne die das Recht selbst sicher ist? Das bedeutet, dass alle diese Begriffe-„Sicherheit des Rechts“, „Sicherheit durch das Recht“, „Sicherheit eines Rechts“, „Sicherheit von Rechten“, „Sicherheit angesichts des Rechts“, „Sicherheit unter dem Recht“, „Sicherheit als Recht“, „Sicherheit vermittels eines Rechts“mitimpliziert werden, obwohl sie in analytischer Perspektive auseinandergehalten werden können. Hervorzuheben ist noch, dass mehrere dieser Rechtssicherheitsbegriffe sich auf die Konkretisierung des Rechtssicherheitsprinzips als Sicherheit des Rechts beziehen, wie etwa im Fall der „Sicherheit eines Rechts“, der „Sicherheit von Rechten“, der „Sicherheit als eines Rechts“ und der „Sicherheit vermittels eines Rechts“. Das bedeutet, in anderer Perspektive, dass trotz des Vorliegens mehrerer Begriffe von Rechtssicherheit diese nicht eine parallele Beziehung bilden, sondern eine Beziehung von Gattung und Art und allgemein und konkret. Aus all diesen Gründen beziehen wir uns, wenn wir vom Rechtssicherheitsprinzip sprechen, nicht auf eine einzige Modalität der Rechtssicherheit (Sicherheit des Rechts, durch das Recht, als Recht, angesichts des Rechts, unter dem Recht, eines Rechts bzw. von Rechten oder im Recht). Falls jedoch eine einzige Bedeutung als diejenige benutzt werden müsste, die den in dieser Arbeit vertretenen Begriff der Rechtssicherheit am meisten abdecken würde, würde die Wahl auf den Begriff „Sicherheit im Recht“ fallen, da er besser das Verständnis veranschaulicht, dass Rechtssicherheit nicht eine immanente Eigenschaft des Rechts oder seiner Normen ist, die an deren vorgängige Bestimmtheit gebunden ist, sondern ein Produkt, dessen Existenz in höherem oder niedrigerem Grad vom Zusammenspiel einer Reihe von Argumentationskriterien und -strukturen abhängt, die im Lauf des Rechtsanwendungsprozesses selbst festzustellen sind. Dies wird bei einer Untersuchung der verschiedenen Bedeutungen des Worts „Recht“ deutlicher werden.

(b) Hinsichtlich auf den Sinn von „Recht“ Die gerade durchgeführte Untersuchung der verschiedenen Bedeutungen des im Ausdruck „Rechtssicherheit“ enthaltenen Begriffs „Recht“ ist noch recht ungenügend, da selbst bei der Behauptung, dass sie sich auf das Recht bezieht, zumindest in groben Umrissen anzugeben ist, was unter Recht zu verstehen ist. Erstens kann sich die Vokabel „Recht“ auf Recht als Gegenstand beziehen. Diesem klassifikatorischen Begriff von Rechtssicherheit entspricht eine auf das Ergebnis konzentrierte objektivistische Konzeption der Auslegung, derzufolge dem Interpreten vermittels einer statischen und deterministischen, ausschließlich auf semantische Aspekte konzentrierten Tätigkeit nur die Offenbarung eines dem Auslegungsprozess selbst vorgängigen Norminhalts obliegt. Der vorweg und vollständig ermittelbare Norminhalt entspricht einem Punkt, mit dem die Wirklichkeit

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

übereinstimmt bzw. nicht übereinstimmt. In dieser Perspektive wird Recht als gegebenes Objekt wahrgenommen, unabhängig vom Subjekt und seinem Auslegungsund Anwendungsprozess. Jeder Regel entspricht eine Auslegungsalternative oder eine Normbedeutung (R = A). So ist das Rechtssicherheitsproblem wesentlich ein auf die Vorausbestimmung der Bedeutung beschränkes semantisches Problem. Rechtssicherheit ist die Forderung der Erkennis ex ante der materialen Grenzen legislatorischer Kompetenzausübung116. Wir stehen hier vor einer objektivistischen, auf materiale Regeln gegründeten Konzeption der Auslegung (rule-dependent certainty of law)117. Folglich ist die Konzeption der Rechtssicherheit selbst dual, da sie auf den Extremen „Sicherheit-Unsicherheit“ (Gewissheit-Ungewissheit) beruht118. In dieser Perspektive ist das Recht von den es realisierenden Auslegungs- und Argumentationsprozessen unabhängig. In der Folge wird Rechtssicherheit als Forderung nach semantischer Vorausbestimmung von etwas gekennzeichnet, das diesen späteren Prozessen vorausgeht und von ihnen unabhängig ist. Zweitens kann das Wort „Recht“ sich auf Recht nicht als einen Gegenstand, sondern als eine (in diesem Fall: argumentative) Praxis beziehen. Diesem nichtklassifikatorischen Begriff von Rechtssicherheit entspricht eine argumentative Auslegungskonzeption, die auf einem Prozess basiert, vermittels dessen man zu einem Ergebnis kommt, in dem Sinn, dass es dem Interpreten obliegt, durch eine dynamische und vermittelnde, sich nicht nur auf semantische Aspekte, sondern auch auf argumentative Strukturen konzentrierende Tätigkeit einen Norminhalt ausgehend von miminalen allgemeinen semantischen Kernen zu rekonstruieren. Der vorweg nur in Bezug auf mögliche Auslegungsalternativen ermittelbare Norminhalt und die Kriterien für seine Abgrenzung entsprechen einem Spektrum, dem sich die Wirklichkeit in größerem oder geringerem Maß anpasst. Das Recht gilt in dieser Bedeutung als vom Auslegungs- und Anwendungsprozess abhängige Aktivität. Jeder Regel entsprechen einige Auslegungsalternativen bzw. Normbedeutungen (R = A, B oder C), die durch von Metanormauslegungsregeln gelieferte Argumentationsstrukturen wie die Postulate der Verhältnismäßigkeit, der Stimmigkeit und der Zumutbarkeit zu bestimmen sind. So ist das Problem der Rechtssicherheit wesentlich ein argumentatives Problem, das sich auf die Vorausbestimmung minimaler möglicher Bedeutungen durch wohldefinierte Argumentationsstrukturen und ihre Korrelation mit konkreten Elementen durch normative Anwendungspostulate beschränkt. Wir stehen hier vor einer prozeduralen Konzeption der Auslegung, gestützt auf rationale Verfahren (procedure-dependent certainty of law)119. Aus diesem Grund ist die Konzeption der auf Rechtssicherheit bezogenen Sach-

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Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 47. Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 14; Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 100. 118 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 30. 119 Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 301; Gianluigi Palombella, Dopo la Certezza – Il Diritto in Equilibrio tra Giustizia e Democrazia, S. 12. 117

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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verhalte nicht dual, sondern gradual, im Sinne des von ihr umfassten Spektrums mit den Extremen „völlige Unsicherheit“ und „völlige Sicherheit“, weshalb man von „keiner“, „geringer“ oder „beträchtlicher“ Sicherheit aus faktischer Perspektive sprechen muss120. Wesentlich ist, dass das Recht nicht bloß beschrieben oder offenbart, sondern ausgehend von Bedeutungskernen von Normdispositiven rekonstruiert wird, die ihrerseits mit den faktischen Elementen im Anwendungsprozess zu verbinden sind. Das normative Material ist somit nicht vollständig, sondern nur teilweise gegeben. Rechtssicherheit ist damit nicht mehr eine Forderung der bloßen Erkenntnis eines vollständig und vorab gegebenen Inhalts, sondern wird vielmehr zur Pflicht der Rekonstruktion und Anwendung von Normbedeutungen gemäß Argumentationsregeln und hermeneutischen Postulaten (Verhältnismäßigkeit und Vernünftigkeit). bb) Objetiver Aspekt (Rechtssicherheit wovon?) (1) Der Gegenstand der Rechtssicherheit (a) Normative Sicherheit (aa) Normsicherheit Normalerweise wird der Gegenstand der Rechtssicherheit so gekennzeichnet, dass er die Rechtsfolgen von Handlungen oder Tatsachen umfasst: Rechtssicherheit liegt dann vor, wenn der Bürger fähig ist, die vom Recht seinen Handlungen zugeschriebenen Ergebnisse zu kennen und zu berechnen121. Das ist die allgemeine Feststellung. Da das Rechtssicherheitsprinzip sich an die drei Gewalten wendet, kann seine Anwendung sich auf eine allgemeine, gesetzliche oder regelnde Norm, auf einen Verwaltungsakt oder die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde oder eines Gerichts beziehen. In diesem Sinn betreffen die Ideale der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit jeden dieser Gegenstände. (α) Sicherheit der Rechtsordnung In einigen Situationen ist der Gegenstand der Rechtssicherheit nicht eine Norm, sondern die Rechtsordnung: die Erkennbarkeit richtet sich auf die Rechtsordnung im Allgemeinen, insofern diese in ihrer Gesamtheit formal und material verständlich sein muss; die Stabilität (Verlässlichkeit) kann sich auch auf die Rechtsordnung im Allgemeinen beziehen, insofern diese in ihrer Gesamtheit dauerhaft sein muss; 120 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 30; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 68. 121 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 204.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

und die Berechenbarkeit kann sich gleichfalls auf die Rechtsordnung beziehen, insofern diese in ihrer Gesamtheit nicht Gegenstand plötzlicher, drastischer und unzusammenhängender Veränderungen sein darf. Rechtssicherheit nach diesem Verständnis ist als objektives Prinzip ohne jede Bezugnahme auf ihre konkrete Subjektivierung das auf die Rechtsordnung als Ganzes bezogene Prinzip122. Die Erwähnung der Rechtsordnung im Allgemeinen hat Folgen für die zu analysierenden Elemente sowie für die eventuell vorzulegenden Beweise. Wie zu gegebener Zeit noch im einzelnen zu untersuchen sein wird, hat die Rechtssicherheit zwei Dimensionen: die erste ist objektiver Natur und betrifft die Eigenschaften, die das Recht als solches haben muss; die zweite ist subjektiver Natur und bezieht sich auf die konkrete und objektive Wirksamkeit, deren das Recht ebenfalls bedarf. Die objektive Dimension der Rechtssicherheit erfordert Stabilität und Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung, deren Einschränkung von dem, der sie vorbringt, den Nachweis verlangt, dass eine bestimmte Regel, Handlung oder Entscheidung in den Augen der meisten Menschen und nach durchschnittlichen Rationalitätskriterien eine starke Erschütterung der normalen Glaubwürdigkeit des Rechts als Institution verursachen wird. Das gilt beispielsweise für ein Gerichtsurteil, das eine ständige obergerichtliche Judikatur aufgibt und damit zahllose Bürger beeinträchtigt, die auf die Fortgeltung der früheren Rechtsprechung vertraut haben, und folglich in der Rechtsgemeinschaft zu einem allgemeinen und abstrakten Verlust des Vertrauens in die Gerichtsbarkeit und in das Recht als soziale Institutionen führt. Eine andere Situation ergibt sich, wenn die Rechtssicherheit in subjektiver Dimension verwendet wird und dann nicht die Rechtsordnung, sondern deren konkrete Anwendung auf einen bestimmten Fall und eine bestimmte Person Gegenstand der Betrachtung ist. Die subjektive Dimension der Rechtssicherheit erfordert die Unantastbarkeit subjektiver Situationen, deren Einschränkung ihrerseits den Nachweis erfordert, dass jemand im Vertrauen auf eine bestimmte Regel, Handlung oder Entscheidung konkret über seine Freiheits- und Eigentumsrechte verfügt hat. Das ist beispielsweise der Fall in einer gerichtlichen Entscheidung, die eine ständige Rechtsprechung abändert, die jemandem, der signifikante Investitionen getätigt hat, die ursächlich mit der abgeänderten Entscheidung verbunden sind, bei der vergangenen Handlung als Orientierung dienen konnte und tatsächlich gedient hat. Nun führt die neue Entscheidung zu einer beträchtlichen und unvorausseh­ baren Einschränkung der Freiheits- und Eigentumsrechte123. Diese beiden Beispiele zeigen also, dass Rechtssicherheit sich sowohl auf die Rechtsordnung als in ihrer Gesamtheit berücksichtigte Institution, vom Standpunkt der Gesellschaft aus, beziehen kann als auch auf deren individuelle und konkrete

122 Willy Zimmer, Constitution et sécurité juridique – Allemagne, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 97. 123 Bodo Viets, Rechtsprechungsänderung und Vertrauensschutz, S. 203.

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Anwendung, vom Standpunkt einer bestimmten Einzelperson aus. Außerdem zeigen diese Beispiele, dass die Kenntnis des Gegenstands der Sicherheit sich nicht auf die analytische Unterscheidung zum besseren Verständnis der Sicherheit beschränkt, sondern darüber hinaus geht und sich in den für ihre Anwendung notwendigen Erfordernissen und Beweisen niederschlägt. (β) Sicherheit einer Norm Angesichts der Vielfalt der partiellen rechtssicherheitsbildenden Ideale kann die Rechtssicherheit sich nur auf eine Norm und nicht auf die Rechtsordnung im Allgemeinen beziehen, wie schon gezeigt worden ist. Die Forderung nach Erkennbarkeit als Pflicht zum Aufbau eines zugänglichen und verständlichen Rechts kann sich auf die Rechtsordnung im Allgemeinen, aber auch auf eine spezifische Norm beziehen. In diesem letzten Aspekt beinhaltet die Diskussion um die Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit des Tatbestands, auch „materiale Tatbestandsmäßigkeit“ genannt, präzise eine an eine Norm gerichtete Forderung, die Besteuerungsregel, deren Tatbestand sich-natürlich in Abhängigkeit von der Art und Weise, in der diese Forderung verstanden wird-eines Bestimmtheitsniveaus versichern muss, das den Steuerzahlern tatsächlich als Orientierung dienen kann. Die Forderung der Verlässlichkeit, als Pflicht zur Einführung eines dauerhaften und stabilen Rechts, kann sich auch auf die Rechtsordnung im Allgemeinen und ebenso auf eine spezifische Norm beziehen. In diesem letzten Aspekt beinhaltet die Diskussion um die Unberührbarkeit subjektiver Situationen aufgrund des Vertrauensschutzprinzips gerade eine an die Anwendung einer vorherigen Norm gerichtete Forderung, die nicht revidierbar ist, falls Dispositionshandlungen im Hinblick auf sie erfolgt sind. Gegenstand der Rechtssicherheit kann auch nicht die Rechtsordnung oder selbst eine allgemeine Norm sein, sondern Statt dessen ein Verwaltungsakt oder ein normativer Akt. Die Bedeutung der Gegenstandsbestimmung ergibt sich in diesem Fall aus dem Umstand, dass angesichts eines Verwaltungs- oder normativen Akts die Voraussetzungen für die Realisierung oder Einschränkung des Rechtssicherheitsprinzips unterschiedlich sind: wenn es sich um einen Verwaltungsakt handelt, der durch seine konkreten Wirkungen gekennzeichnet ist, richtet sich die Forderung nach Erkennbarkeit an die diesbezügliche Bekanntgabe, die Triftigkeit und die angemessene Begründung; die Forderung nach Verlässlichkeit bezieht sich auf die eventuelle Unantastbarkeit subjektiver Situationen, die ihren Widerruf oder ihre Aufhebung für individuelle und konkrete Fälle ausschließen; die Forderung nach Berechenbarkeit zielt auf die Durchsetzung von Übergangsregeln oder Billigkeitsklauseln, um die die Folgen der Änderung abzumildern. Handelt es sich jedoch beim Gegenstand der Rechtssicherheit um einen normativen Akt, ändern sich die sich aus der Rechtssicherheit ergebenden Pflichten: die Forderung nach Erkennbarkeit bezieht sich dann auf Veröffentlichung der Normen

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und hinlängliche Bestimmtheit; die Forderung nach Verlässlichkeit bezieht sich auf die eventuelle Unantastbarkeit rückwirkende Folgen verhindernder subjektiver Situationen; und die Forderung nach Berechenbarkeit zielt auf die Durchsetzung von Übergangsregeln oder Billigkeitsklauseln, um die Verlässlichkeit in der Entscheidungen der Verwaltungsbehörde auf allgemeinem und abstrakten Niveau zu schützen. Gegenstand der Rechtssicherheit kann gleichermaßen die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde oder eines Gerichts sein, mit allgemeinen oder individuellen Auswirkungen, was sich auch bei den sich aus ihr ergebenden Forderungen bemerkbar macht: die Erkennbarkeit fordert eine Bekanntgabe oder Veröffentlichung, Triftigkeit und angemessene Begründung; die Forderung nach Verlässlichkeit wirkt sich auf die Pflicht der Zuschreibung einer prospektiven Wirksamkeit aufgrund des Verbots der Rückwirkung der Judikatur aus, wenn die Rückwirkung die Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung komprommitiert oder subjektive Situationen auf ungerechtfertigte Weise in Mitleidenschaft zieht; die Forderung nach Berechenbarkeit zielt auf die Durchsetzung prospektiver Wirkungen durch Übergangsregeln oder Billigkeitsklauseln um die Errungenschaften der Vergangenheit mit den Zukunftsaussichten auszugleichen. Wichtig bei den Unterscheidungen zwischen Sicherheit „der Rechtsordnung“, Sicherheit „einer Norm“ oder Sicherheit „der Entscheidungsnorm“ ist der Umstand, dass diese nicht nur die Ausweisung des Gegenstands der Rechtssicherheit und damit die Feststellung der für ihre Anwendung bei jedem Tatbestand unerlässlichen Voraussetzungen erlauben, sondern auch beweisen, dass Rechtssicherheit vorliegen kann, ohne dass sie auch bezüglich eines anderen Gegenstands verwirklicht sein müsste. Es kann z. B. sowohl Sicherheit „einer Norm“ ohne Sicherheit „der Rechtsordnung“ geben, wenn die Rechtsnormen trotz ihrer Zugänglichkeit und Verständlichkeit in hohem Grad unstabil sind, als auch im umgekehrten Fall Sicherheit „der Rechtsordnung“ ohne Sicherheit „der Norm“, wenn die Rechtsnormen trotz ihrer Stabilität unverständlich sind, da sie eine hochgradige Unbestimmtheit oder übermäßige Ausführlichkeit, Mangel an Klarheit und eine hohe Zahl von Rückverweisen aufweisen. Diese Unterscheidungen beweisen also, dass man strenggenommen nicht von Rechtssicherheit ohne die klare Angabe des Gegenstands, auf den sie sich bezieht, sprechen kann. (bb) Sicherheit der Normanwendung Gegenstand der Rechtssicherheit kann gleichermaßen nicht die Norm im eigentlichen Sinn, sondern ihre einheitliche und nicht-willkürliche Anwendung sein. Daher spricht man von „Sicherheit der Normanwendung“ an Stelle von „Normsicherheit“. Sie hängt von argumentativen und prozessrechtlichen Elementen ab. Erstere beziehen sich auf klare und objektive Denkstrukturen, die dann vorliegen, wenn die Prämissen und Folgerungen juristischen Denkens geklärt und in der Rechtsord-

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nung begründet werden, wie auch ihre Konstruktion rationalen, auf ihrer formalen Konsistenz und materialen Stimmigkeit beruhenden Argumentationskriterien genügt.124 Letztere beziehen sich auf ein verwaltungsbehördliches oder gerichtliches Verfahren, das die umfassende Verteidigung und die Anhörung der anderen Partei zulässt und berücksichtigt sowie auch die logische und schriftliche Begründung der Entscheidungen gewährleistet, wie weiter unten darzulegen sein wird. Diese Unterscheidung ist ebenfalls operativ, da eine Norm als sicher gelten kann, solange sie zugänglich und verständlich ist, jedoch auf willkürliche Weise anwendbar sein kann, ohne objektive und einheitliche Kriterien und ohne eine angemessene Rechtfertigung und Begründung. Ohne die Anwendungssicherheit wäre die Rechtssicherheit der Norm durch die Unsicherheit ihrer Anwendung aufgehoben. So können wir also mit einer Figur darstellen, dass die Sicherheit, welche zur einen Tür eingetreten wäre, später das Haus durch die andere Tür verlassen würde. (b) Verhaltenssicherheit (aa) Sicherheit des eigenen (Nicht-)Handelns Neben der Sicherheit einer Norm gibt es auch die Sicherheit des Verhaltens. Rechtssicherheit kann in der Tat auch als Möglichkeit bestimmt werden, die Reaktion der Rechtsorgane gegen das Verhalten der Bürger und, im Falle des Steuerrechts, der Steuerzahler vorauszusehen.125 Diese Konzeption kann sich auf die der Handlung selbst zuschreibbaren Wirkungen beziehen: der eine Ware verkaufende Steuerzahler muss von Anfang an wissen können, ob ihm die Warenumsatzsteuer auferlegt wird und, falls ja, zu welchem Steuersatz. Man bemerke, dass die genannte Verhaltenssicherheit sich sowohl auf die Sicherheit einer Norm als auch auf eine soziale Sicherheit beziehen kann, wobei diese nicht als Sicherheit „des Rechts“, sondern als Sicherheit „der gesellschaftlichen Beziehungen“ zu verstehen ist. In dieser Hinsicht verfügt die französische Sprache über zwei verschiedene Begriffe: „securité“ im Sinn von Sicherheit und „sûreté“ im Sinn von Verlässlichkeit gesellschaftlicher Beziehungen.126

124

Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 7. Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 13 sowie 204. 126 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 157. 125

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(bb) Sicherheit des (Nicht-)Handelns einer Drittperson Dieselbe Rechtssicherheit kann stattdessen oder damit verbunden die Möglichkeit beinhalten, die Reaktion der staatlichen Organe auf das Verhalten Privater vorauszusehen. In diesem Fall handelt es sich um Vorwegnahme des Fremden an Stelle der Wirkungen des eigenen Verhaltens. Da sich jedoch aus der Begehung einer eigenen Handlung normative Folgen ergeben, diese aber von rechtlichen Qualifikationen abhängen, die gänzlich oder teilweise (selbst wenn durch stillschweigende Anerkennungen) durch die anwendenden Organe erfolgen, ist es korrekt, von Rechtssicherheit als Fähigkeit zur Vorhersage der Reaktion der anwendenden Organe auf die Vornahme eigener Handlungen zu sprechen. Deshalb unterstreicht Torres, dass die Rechtssicherheit „zu einem Grundwert des Rechtsstaats wird, da der Kapitalismus und der Liberalismus der Gewissheit, Berechenbarkeit, Gesetzmäßigkeit und Objektivität der Rechtsbeziehungen und der Vorhersehbarkeit im staatlichen Handeln bedürfen“.127 In diesem Sinn dient die Rechtssicherheit als Kriterium der Voraussage dessen, was andere tun und fordern können.128 Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass der Gegenstand der Sicherheit auch eine Untätigkeit der anwendenden Organe beinhalten kann, d. h. eine Rechtsfolge, in der das Ausbleiben staatlichen Handelns im Fall der Begehung einer bestimmten Handlung liegt.129 Diese Hervorhebung ist wichtig, falls die Privatperson aufgrund der Auslegungsalternativen einer Besteuerungsregel vorsätzlich und tatsächlich eine Handlung begeht, die nicht mit irgendeiner der in der Besteuerungsregel vorgesehenen Alternativen übereinstimmt. In diesem Fall würde das Rechtssicherheitsprinzip der späteren Entscheidung, welche die Besteuerung der genannten Handlung anordnen würde, durch Frustrierung und die sich daraus ergebende Überraschung des Steuerzahlers entgegenstehen. Im Hinblick auf diesem Aspekt ist übrigens daran zu erinnern, dass die Handlungen, auf welche sich die Rechtssicherheit beziehen kann, wirklich oder vorgestellt sein können: der Bürger muss nicht nur die Rechtsfolgen der von ihm in der Vergangenheit oder Gegenwart begangenen oder in Zukunft zu begehenden Handlungen vorhersehen können, sondern auch die Handlungen, die er zu begehen sich einbilden könnte – eben deshalb, weil die Berechenbarkeit für den Bürger im präzisen Sinn die Fähigkeit beinhalten muss, Handlungslinien festzustellen, so dass er besser das wählen kann, was er tun bzw. unterlassen wird. Dieser Um 127

Ricardo Lobo Torres, Segurança jurídica e as limitações ao poder de tributar, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação, S. 430; Ricardo Lobo Torres, Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, in: Silva Martins, Ives Gandra da (Hrsg.), Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, S. 74; Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional, Financeiro e Tributário. Bd. 2. Valores e Princípios Constitucionais Tributários, S. 168; Ricardo Lobo Torres, Liberdade, Segurança e Justiça, in: Carvalho, Paulo de Barros (Hrsg.), Justiça Tributária, S. 686. 128 Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 7. 129 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 225.

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stand erklärt z. B. die Existenz der Steueranfragen, worunter die Instrumente zu verstehen sind, mit denen der Steuerzahler anlässlich eines konkreten Vorhabens die Stellungnahme der Verwaltungsbehörden zur Erwartbarkeit oder Nichterwartbarkeit der steuerlichen Veranlagung von Handlungen beantragt, die er begangen hat oder will. So muss strenggenommen die Berechenbarkeit nicht nur die Folgen vorgenommener Handlungen oder eingetretener Tatsachen umfassen, sondern auch Handlungen (eigenes oder fremdes Tun bzw. Unterlassungen), die vorgefallen sind oder, falls sie vorgefallen wären, vermutlich bestimmte Folgen nach sich gezogen hätten. Kurz, die Berechenbarkeit beinhaltet nicht nur die Vorhersehbarkeit der tatsächlichen Reaktion der Entscheidungsorgane auf verübte Handlungen oder vorgefallene Tatsachen, sondern auch ihre vermutliche Reaktion, falls sie zur Entscheidung über Handlungen, die vorgenommen worden sein könnten, oder über Tatsachen, die hätten vorfallen können, befugt wären. In diesem Zusammenhang bezieht sich die Rechtssicherheit nicht allein auf vorgefallene Handlungen oder Tatsachen, die strittig und deren Rechtsfolgen heteronom und zwangsweise auferlegt worden wären, sondern gleichfalls auf Handlungen oder Tatsachen, die vorfallen könnten und auch nicht strittig sind und deren Rechtsfolgen autonom und spontan werden.130 (c) Faktische Sicherheit Rechtssicherheit umfasst nicht nur Handlungen, sondern auch Tatsachen, worunter diejenigen Vorkommnisse fallen, die unmittelbar vom menschlichen Handeln abhängen.131 Man denke beispielsweise nur an die Verschlechterung des Zustands und der Funktionsweise einer Maschine: ihr Eintritt ist von Bedeutung, wenn es darum geht, die auf den Abzug der Wertminderung bei ihrer Abschreibung anwendbaren Regeln zu kennen. Oder man denke an den Ablauf der Zeit: er ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, den Eintritt der Verjährung oder des Verfalls im Steuerrecht festzustellen usf. Wichtig ist, dass im Spektrum der Rechtssicherheit auch die Fähigkeit enthalten sein muss, die Folgen zu kennen und vorwegzunehmen, die von den rechtsanwendenden Organen nicht nur den eigenen oder fremden Handlungen zugeschrieben werden können, sondern gleichermaßen den Tatsachen, die eintreten können und sich mittel- oder unmittelbar auf die Rechtssphäre des Steuerzahlers auswirken.

130 131

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 243 f. Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 228.

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(d) Wissenschaftliche Sicherheit Schließlich gibt es eine letzte bedeutsame Version der Sicherheit: die wissenschaftliche Sicherheit. Wenn nämlich die Rechtssicherheit untersucht wird, werden normalerweise die Voraussetzungen untersucht, aufgrund derer das Recht als sicher gelten kann (Sicherheit des Rechts) oder aufgrund derer es als Instrument der Gewährleistung von Rechten dienen kann (Sicherheit durch Recht und Rechte). Die Rechtssicherheit betrifft sozusagen das Recht und die Rechte, d. h. die präskriptiven Aussagen allgemeiner oder individueller Natur, welche die Objektsprache in den verschiedenen normativen Erscheinungsformen des Rechts bilden. Man kann aber auch – und viele tun das, ohne es zu merken – die Rechtssicherheit nicht nur in Bezug zum Recht benutzen, sondern in Bezug auf seine Behandlungsart. Rechtssicherheit betrifft in diesem Aspekt die deskriptiv-erklärenden oder rekonstruierenden Aussagen, welche die Metasprache der Wissenschaft bilden. In dieser Interpretation beziehen wir uns also auf die Klarheit, die Reichweite, die (formale) Konsistenz und die (materiale) Stimmigkeit nicht der Normen (Sprache), sondern der wissenschaftlichen Aussagen, die sie betreffen (Metasprache), einschließlich diejenigen, die sich auf das Rechtssicherheitsprinzip selbst beziehen. Dies erklärt, warum einige Autoren behaupten, dass die Rechtssicherheit „auf unsichere Weise“ von der Wissenschaft behandelt worden ist – von einer Wissenschaft, die es, in der emsigen Sorge um die Gewissheit und in Ermangelung einer klaren Definition und verständlicher Kriterien, zugelassen hat, dass sie minimal reduziert oder gar eliminiert wird.132 Es handelt sich, um es in einem Wort zu sagen, um Rechtssicherheit als Sicherheit der „Rechtswissenschaft“. Ein Teil der Unsicherheit, mit der die Rechtssicherheit behandelt worden ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass sie, statt eine Normregel zu sein, ein Normprinzip ist und als solches keine duale Struktur von Tatbestand und Rechtsfolge aufweist, sondern eine Verbindung von Zwecken und Mitteln, deren Analyse von der Erforschung der Auswirkungen und der Förderung von Sachverhalten abhängt. Anders gewendet, ergibt sich die Unsicherheit, mit der das Rechtssicherheitsprinzip behandelt worden ist, auch aus seiner eigenen Struktur: wer bei ihrer Untersuchung eine aus einem Tatbestand und einer Rechtsfolge gebildete deontische Struktur vorzufinden hofft, ist enttäuscht, wenn er eine Norm mit einer Struktur vorfindet, die Zwecke und Mittel und die Hervorbringung von Wirkungen umfasst. Wie jedoch schon behauptet worden ist, geht dieses negative Urteil von einer semantischen Objektivitätskonzeption aus, die auf der Vorstellung beruht, dass Objektivität nur da besteht, wo es die Erkenntnis von etwas Äußerem unabhängig vom erkennenden Subjekt gibt. Wenn jedoch statt dieser Konzeption eine diskursive Vorstellung von Objektivität gewählt wird, wie die in dieser Arbeit vertretene semantisch-argu-

132 Massimo Corsale, Il problema della certezza del Diritto in Italia dopo il 1950, in: Oñate, Flavio Lopez de, La certezza del Diritto, S. 288.

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mentative Kontrollierbarkeit des praktischen Rechtsdiskurses, wird die geforderte wissenschaftliche Sicherheit sich anders darstellen. (2) Der Verstehensmodus des Gegenstands der Rechtssicherheit (a) Hinsichtlich der Art des Verstehens (aa) Eindeutige Auffassung des Gegenstands Wer jedoch einfach behauptet, dass Rechtssicherheit die Kenntnis und Berechenbarkeit einer Norm beinhaltet, abwendet das zentrale Problem, das darin besteht, zu wissen, was es denn bedeutet, „den Inhalt einer Norm zu kennen und zu berechnen“: imstande zu sein, ihr einziges Ergebnis exakt und vollständig zu kennen und vorwegzunehmen, oder imstande zu sein, ein Spektrum allgemeiner alternativer Ergebnisse, die mit dem Normtext vereinbar sind, zu kennen und vorwegzunehmen? Anders gewendet: das Problem des Gegenstands der Rechtssicherheit liegt nicht primär bei der (gesetzlichen, verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen) Normquelle, sondern bei dem ihm zugeschriebenen Ergebnistyp – der eindeutigen oder alternativen Bedeutung. Da die Verwaltungsakte und Entscheidungen aufgrund ihrer Individualität ein höheres Konkretisierungsniveau als die Gesetze haben, liegt das Problem mit höherer Intensität bei der Festlegung der Bedeutung der Kenntnis und Berechnung des Inhalts einer gesetzlichen Norm133. Hier kann man zwischen zwei Aspekten unterscheiden. Man kann der Auffassung sein, dass das, was zu verstehen und zu berechnen ist, nur eine Bedeutung hat: Die Regel X hat die Bedeutung A (X = A). Dieses Verständnis geht von der Voraussetzung aus, dass Rechtsnormen Träger objektivierter und einziger Bedeutungen sind. Wenn man also von Bestimmung und Vorhersehbarkeit spricht, bezieht man sich auf die Fähigkeit des Bürgers im Allgemeinen und des Steuerzahlers im Besonderen, den Inhalt einer Norm, die er befolgen wird, zu kennen und den ihr von der Verwaltung oder Gerichtsbarkeit zu gebenden Sinn vorwegzunehmen. So verstanden bedeutet „Bestimmbarkeit“ die allgemeine Fähigkeit, den exakten Sinn zukünftiger Normentscheidungen vorwegzunehmen. Das ist die Position von Lièvre-Gravereaux, für die Vorhersehbarkeit „bedeutet, dass die Struktur und Formulierung des Texts dazu neigen muss, eine eindeutige Interpretation und Kennzeichnung der Tatsachen zu erlauben.“134 Und das ist die schon vor langer Zeit von Frank kritisierte Position, der sie als fundamentale Illusion

133

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 208. Amélie Lièvre-Gravereaux, La rétroactivité de la loi fiscale: une necessité en matière de procédures, S. 33. Ähnlich über Klarheit: Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 24. Kritisch zum Thema: Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 13 sowie 205–209. 134

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oder Mythos bezeichnet hat135. Rechtssicherheit wird also als die Gewährleistung gekennzeichnet, dass der Bürger die vom Recht seinen Handlungen zuzuschreibenden Folgen allgemein kennen und exakt vorhersehen kann. Seine Voraussicht ist dann erfolgreich, wenn der von den entscheidenden Organen abschließend zugeschriebene Sinn genau derjenige ist, der aufgrund der gesetzlichen Regel schon vorher aus dieser hätte abgeleitet werden können. Im Steuerrecht äußert sich diese Auffassung in der Diskussion über den Inhalt des Gesetzmäßigkeitsprinzips, das aus der Sicht des Staates als Pflicht der Legislative verstanden wird, bei der Festlegung der Besteuerungsregel unzweideutig alle Elemente der Steuerpflicht zu bestimmen, und, aus der Sicht der Steuerzahlers, als dessen Fähigkeit, den Sinn der zu befolgenden Regel genau zu verstehen. In diesem Kontext wird die Existenz des sog. „Prinzips der geschlossenen Tatbestandsmäßigkeit“ vertreten, als die Verpflichtung, in der Formulierung von Xavier, dass die Steuernorm „in sich alle Elemente der Bewertung der Tatsachen und der Hervorbringung der Wirkungen enthält, ohne jeglichen Rückgriff auf ihr fremde Elemente zu benötigen und ohne jegliche Bewertung zu dulden, welche die im Tatbestand vorgesehene ersetzt oder ergänzt“136. Rechtssicherheit in diesem Aspekt ist gleichbedeutend mit „eindeutiger Bestimmtheit“137 oder „objektiver Bestimmtheit“ der Steuerpflichten138. (bb) Alternative Auffassung des Gegenstands Man kann andererseits die Meinung vertreten, dass das, was man verstehen und berechnen muss, alternative Bedeutungen hat. Das alternative Verständnis des Gegenstands kann jedoch auf unterschiedliche Weisen erfolgen. Man kann erstens die Abwechselungvertreten und behaupten, dass die Regel X die möglichen Bedeutungen A, B und C haben kann (X = A, B oder C)139. Diese Konzeption kann unbestimmte Konzeption der Auslegung genannt werden, da sie die völlige oder weitgehende Unbestimmtheit der in den Regeln vorfindlichen Sprache vertritt und der Interpret folglich unfähig ist, sowohl den Sinn einer Rechtsregel zu kennen als auch ihn vorauszusehen. Es handelt sich um eine radikale Konzeption, die, wenn man sie konsequent zu Ende denkt, die Vorstellung der Rechtsregel selbst ablehnt, da diese keinen Sinn bis zu der Entscheidung enthält und damit nur die gerichtliche Entscheidung zählt. Dies ist die extrem realistische Konzeption 135

Jerome Frank, Law and the Modern Mind, S. 37. Alberto Xavier, Os princípios da legalidade e da tipicidade da tributação, S. 92. Neuerdings analog: Alberto Xavier, Tipicidade da tributação, simulação e norma antielisiva, S. 18. 137 Wilhelm Hartz, Mehr Rechtssicherheit im Steuerrecht: Ziele, Wege, Grenzen, in: StbJb (1965/1966), S. 77. 138 Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 17. 139 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Segurança jurídica, coisa julgada e justiça, in: Revista do Instituto de Hermenêutica Jurídica 3 (2005), S. 264. 136

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von Frank140. Die Wahl dieser Konzeption impliziert das Eingeständnis, dass jede gerichtliche Entscheidung rückwirkend ist, da es vor ihr nichts gab. Mehr noch: sie bedeutet die implizite Verneinung der eigenen Fähigkeit zur Realisierung des Prinzips des Rückwirkungsverbots. Man kann zweitens die Abwechselung verteidigen, von einem anderen Blickwinkel aus, und behaupten, dass die Regel X eine Vorstellung (X = A) vorsieht, diese Vorstellung jedoch mehrere Elemente enthält, die nicht vollständig auftreten müssen, sondern stattdessen verzichtbar sind, so dass es ausreicht, dass eines oder einige von ihnen sich einstellen. Diese Konzeption kann auch typologische Auslegungskonzeption genannt werden, da sie auf der Idee beruht, dass die Regeln an Stelle der klassifikatorischen Begriffe, deren Verifizierung von der notwendigen Existenz aller abstrakt vorgesehenen Elemente abhängt (A= a + b + c), Typen enthalten, d. h. allgemein wertende Vorstellungen, deren Feststellung von der konkreten Gestaltung der allgemeinen Idee und damit von der Existenz eines oder mehrerer, aber nicht notwendig aller Elemente abhängt (A = a, b, und / oder c)141. Man kann drittens den Abwechselung in einer noch anderen Perspektive vertreten, indem man behauptet, dass die Regel X den Begriff (X = A) vorsieht, dieser jedoch, obwohl er einen Hof von Gewissheit oder einen Bedeutungskern aufweist, ebenso Unbestimmtheitsbereiche in höherem oder geringeren Maße aufweisen kann (A = A+ oder A-), je nach der Art der ihn vorsehenden (begrifflichen oder finalistischen) Regel und der sie betreffenden (Rechtssicherheit oder Gerechtigkeit privilegierenden) Prinzipien. Diese Konzeption kann als bestimmbare Auslegungskonzeption gekennzeichnet werden, da sie auf der Vorstellung beruht, dass Regeln Begriffe enthalten, diese jedoch aufgrund der Natur der Sprache in gewissem Maß unbestimmt und in einem anderen Maß bestimmt (im Allgemeinen durch die Praxis der Rechtsprechung oder durch den Konsens in der Rechtslehre) oder bestimmbar (individuell durch den normativen und den faktischen Fallkontext) sind. Diese schon intersubjektiv durch die Rechtslehre oder die Rechtsprechung festgelegten Bedeutungskerne können vom Interpreten nicht ignoriert werden. Obwohl unterschiedlich, gehen diese beiden letzten Sichtweisen von der gemeinsamen Voraussetzung aus, dass die in Sprache gefassten Rechtsnormen – in einem bestimmten, höheren oder geringeren Maß – notwendig unbestimmt sind142. Aus diesem Grund sind sie fähig, alternative Bedeutungen zu haben143. Und wegen dieser Feststellung verwendet man statt „Bestimmung“ und „Vorhersehbarkeit“ die Wörter „Bestimmbarkeit“ und „Berechenbarkeit“, wenn man die Fähig 140

Jerome Frank, Law and the Modern Mind, S. 37 ff. Ricardo Lobo Torres, O princípio da tipicidade no Direito Tributário, in: Ribeiro, Ricardo Lodi / Rocha, Sérgio André (Hrsg.), Legalidade e tipicidade no Direito Tributário, S. 137. 142 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 215; Über die offene Sprachtextur s. vor allem: H. L. Hart, The Concept of Law. 143 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 13 sowie 205; Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 72. 141

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keit des Bürgers im Allgemeinen und der Steuerzahlers im Besonderen meint, die möglichen Bedeutungen der Norm, die sie befolgen werden, zu kennen und die dieser von der Verwaltung und Gerichtsbarkeit zu gebenden Konkretisierung zu kontrollieren. In diesem Sinn bedeutet Bestimmbarkeit die Fähigkeit, die alternativen Bedeutungen der Norm zu kennen, und Berechenbarkeit die Fähigkeit, die alternativen Bedeutungen zukünftiger Normentscheidungen zu kontrollieren144. Rechtssicherheit ist demnach die Garantie, dass der Bürger fähig ist, die vom Recht Handlungen oder Tatsachen zuschreibbaren alternativen Rechtsfolgen zu kennen und zu berechnen, so dass die tatsächlich in der Zukunft angewandte Rechtsfolge sich im Rahmen der reduzierten und vorweggenommen Alternativen verorten lässt. Ihre Vorhersage ist nicht dann erfolgreich, wenn die abschließend durch die Entscheidungsorgane zugeschriebene Bedeutung genau die einzige vorweggenommene Bedeutung ist, sondern wenn die getroffene Entscheidung sich im Bereich der vorwegnehmbaren Auslegungsalternativen und der abstrakt vorausgesehenen Rechtsfolgen verorten lässt. Die von der Verfassungsordnung gezogene materiale Beschränkung ist hierbei ein wertvolles Instrument der Eingrenzung der möglichen Norminhalte der Gesetzgebung.145 Obgleich alternativ, können diese Bedeutungen durch gerichtliche Entscheidung in einer einzigen Bedeutung zusammengeschlossen werden, wodurch, wie Machado Derzi zutreffendbemerkt, eine veritable normative Verhaltenserwartung für alle zur selben Fallgruppe gehörenden Bedeutungen entsteht146. Angesichts der Unmöglichkeit einer eindeutigen Bedeutungskonzeption ist diese letzte Konzeption die angemessenste. Dies bedeutet jedoch, dass die zentrale Achse der Rechtssicherheit nicht so sehr die inhaltliche Vorhersehbarkeit, sondern vielmehr die entscheidungsmäßige Kontrollierbarkeit ist147. Die Gleichung „Vorhersehbarkeit vs. Bestimmung“ wird zugunsten der Gleichung „Kontrollierbarkeit vs. Willkürfreiheit“ aufgegeben. Dies ist der allgemeine Weg, selbst ohne die angemessene Angabe der Kriterien, den Gianformaggio, Habermas und Palombella, um nur einige Namen zu nennen, eingeschlagen haben148. Im Steuerrecht äußert sich diese Auffassung auch in der Diskussion um den Inhalt der Forderung nach Gesetzmäßigkeit. Diese wird aus staatlicher Sicht als Pflicht der Legislative verstanden, bei der Einführung der Besteuerungsregel mit 144

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 13 sowie 208. Luigi Ferrajoli, The past and the future of the rule of law, in: Costa, Pietro / Zolo, Danilo (Hrsg.), The Rule of Law – History, Theory and Criticism, S. 329. 146 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 188. 147 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 326; Letizia Gianformaggio, Certezza del Diritto, in: Diciotti, Enrico / Velluzzi, Vito (Hrsg.), Filosofia del Diritto e ragionamento giurídico, S. 85. 148 Letizia Gianformaggio, Certezza del Diritto, in: Gianformaggio, Letizia (Hrsg.), Studi sulla giustificazione giuridica; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 239–291; Gianluigi Palombella, Dopo la Certezza – Il Diritto in Equilibrio tra Giustizia e Democrazia, S. 8. 145

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größtmöglicher Bestimmbarkeit die allgemeinen Parameter der Steuerpflicht und aus der Sicht des Steuerzahlers mit größtmöglicher Bestimmbarkeit die alternativen Bedeutungen der vom ihm zu befolgenden Regeln anzugeben. In diesem Zusammenhang wird die Existenz des sog. „Prinzips der offenen Tatbestandsmäßigkeit“ vertreten149. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Bedeutung der Wörter „Erkennen“ und „Berechnen“ des Rechts untersucht worden. Hier muss man nun zur Untersuchung der Bedeutung des Terminus „Recht“ zurückkehren, da je nach dem gewählten Typus der Erkenntnistheorie und des Rechts die Erkenntnis und Berechenbarkeit sich nicht ausschließlich auf eine Norm beziehen können, sondern stattdessen auf ein rationales Verfahren der (Re)Konstruktion einer Norm, was etwas leicht anderes ist. Wenn man also zugibt, dass die Rechsfolgen in der Rechtsnorm eingekapselt sind und es dem Interpreten obliegt, sie dieser zu entnehmen, ist der Gegenstand der Rechtssicherheit wirklich eine Norm. Wenn man jedoch akzeptiert, dass Rechtsfolgen wesentlich von einem Argumentationsprozess der Rekonstruktion der Normbedeutung abhängen, ist die Norm nicht oder zumindest nicht der alleinige Gegenstand der Rechtssicherheit. Gegenstand der Rechtssicherheit ist dann vielmehr ein Argumentationsprozess. In dieser Hinsicht kann man also das Vorliegen der Rechtssicherheit dann annehmen, wenn der Bürger fähig ist, das Recht als semantischen Inhalt der Rechtsnormen zu erkennen und zu berechnen oder wenn er imstande ist, das als Struktur und Kriterien der zur Rekonstruktion des Gehalts von Rechtsnormen notwendigen Argumentation verstandene Rechtzu erkennen und berechnen. Diese beiden Konzeptionen des Gegenstands des Verständnisses und der Berechnung seitens des Bürgers werden im Folgenden untersucht. (b) Hinsichtlich des Gegenstands des Verstehens (aa) Objektivistische Rechtsauffassung In dieser Konzeption wird das Recht als vom Interpreten vollständig aufzudeckender Gegenstand anerkannt. Die Rechtsnorm enthält eine Bedeutung, so dass die Tätigkeit des Interpreten darin besteht, die von der Norm vorgegebene Bedeutung vermittels einer statischen und deterministischen Aktivität zu entdecken. Das Recht beinhaltet in dieser Sichtweise vor allem ein semantisches Problem, die Auslegung eine objektivistische Aktivität. Und die Rechtssicherheit umfasst demzufolge ein Problem der „Sicherheit des Gegenstands“: das Recht ist etwas, das dem Interpreten vorgesetzt wird, und die Aktivität des Interpreten besteht darin, es passiv zu offenbaren.

149 Ricardo Lobo Torres, O princípio da tipicidade no Direito Tributário, in: Ribeiro, Ricardo Lodi / Rocha, Sérgio André (Hrsg.), Legalidade e tipicidade no Direito Tributário, S. 137.

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(bb) Argumentative Rechtsauffassung In diesem anderen Verständnis wird Recht als argumentative Struktur verstanden, vermittels derer die möglichen semantischen Alternativen einer Norm mit Hilfe hermeneutischer Kriterien rekonstruiert werden. Die Rechtsnorm enthält im Allgemeinen nicht eine einzige Bedeutung, sondern semantische Alternativen und Bedeutungskerne, so dass die Tätigkeit des Interpreten in der Rekonstruktuion von Entscheidungsalternativen vermittels einer dynamischen und argumentativen Arbeit besteht. Recht beinhaltet in dieser Perspektive vor allem ein argumentatives Problem, und die Auslegung ist eine vermittelnde Tätigkeit. Die Rechtssicherheit ist dann schließlich ein Problem der „Argumentationssicherheit“. Statt Sicherheit des Gegenstands ist die Rechtssichterheit also eine Sicherheit der Vernunft und Argumentation150. Diese Betrachtungen, zu denen wir wieder zurückkehren werden, weisen hinlänglich nach, dass der Ausdruck „Rechtssicherheit“ sich auf zwei verschiedene Gegenstände beziehen kann: einerseits auf Sicherheit eines Gegenstands (ein durch eine Norm offenbartes Ergebnis), andererseits auf Sicherheit einer auf einen Gegenstand bezogenen Tätigkeit (ein Mittel, mit Hilfe dessen man eine Normbedeutung rekonstruiert)151. cc) Subjektiver Aspekt (Wer sind die Sicherheitssubjekte?) (1) Einleitende Betrachtungen Pacteau erinnert daran, dass „die Sicherheit der einen nicht die Sicherheit der anderen“ ist152. Das bedeutet, je nach der Perspektive, aus der die Zustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit untersucht werden, dass sie existieren oder nicht existieren bzw. in einem höheren oder geringeren Maß existieren können. Für den Fachmann mag ein Gesetz selbstverständlich sein, nicht dagegen für den Normalbürger153. Für die einen mag ein Gesetz oder ein Verwaltungsakt augenscheinlich null und nichtig sein, für die anderen mag es bzw. er gelten154. Eben deshalb beinhaltet die Frage nach der Rechtsgewissheit eigentlich einen subjektiven Aspekt155. 150 Neil MacCormick, Rhetoric and Rule of Law, in: Dyzenhaus, David (Hrsg.), Recrafting the Rule of Law – The Limits of Legal Order, S. 163. 151 Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 294. 152 Bernard Pacteau, La sécurité juridique, un principe que nous manque?, in: AJDA 20 (1995), S. 154. 153 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 260. 154 Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Pública de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei Nr. 9.784/99), in: RDA 237 (2004), S. 300. 155 Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 22.

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Daraus ergibt sich, dass eine Untersuchung der Rechtssicherheit ohne die Durchleuchtung ihres personalen Aspekts auf eine unsichere Behandlung der Rechtssicherheit hinausliefe. (2) Perspektive des Nutznießers der Rechtssicherheit (Sicherheit für wen?) (a) Rechtssicherheit für den einzelnen Bürger Das erste in subjektiver Hinsicht zu untersuchende Element bezieht sich auf die Perspektive des Nutznießers der Rechtssicherheit. Die Klarheit der Normen bezeichnet eine objektive Forderung, da ihre Präzision objektiv bewertbar ist. Gleiches trifft allerdings nicht für ihre Verständlichkeit zu. Diese ist durch eine subjektive Dimension gekennzeichnet, da sie aus der Sicht des Normadressaten bewertet wird: je nach dem Autor der Untersuchung kann sie mehr oder weniger verständlich sein156. Dies verdankt sich der Subjektivierung der Sicherheit, aufgrund derer man unterscheiden kann, ob etwas sicher ist und jemandem sicher zu sein scheint157. Rechtssicherheit kann eine strikt individuelle Dimension annehmen, wenn ihre Verwendung dem Schutz partikularer Interessen des Einzelnen dient.158 Die Rechtsordnung enthält mehrere Normen, die diese Dimension schützen, wie in den Fällen des Schutzes des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft, in denen die Rechtssicherheit konkret und reflexiv bezüglich eines bestimmten Subjekts zum Tragen kommt. Analysiert werden individuelle, nicht kollektive Fragen. (b) Rechtssicherheit für alle Bürger Rechtssicherheit kann jedoch auch eine kollektive Dimension annehmen, wenn ihr Gebrauch den Zweck verfolgt, die Rechtsordnung als Ganzes im Interesse der Gesellschaft zu erhalten. Die Rechtsordnung enthält auch mehrere Normen, die diese Dimension schützen, wie im Fall der Kompetenz des brasilianischen Obersten Bundesgerichtshofs, wenn dieser bei der abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit die Entscheidungswirkungen der Erklärung der Verfassungswidrigkei aufgrund der Rechtssicherheit zeitlich variiert. Dies ist auch der Fall bei der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit, wenn bei der außerordentlichen Be 156 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 287. 157 Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 159. 158 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 19.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

rufung (recurso extraordinário) die allgemeine Auswirkung anerkannt wird. In diesem Fall werden allgemeine Fragen untersucht, die sich auf die Geltung der Rechtsordnung oder eines ihrer Bereiche beziehen, wie zum angemessenen Zeitpunkt darzulegen sein wird. (c) Rechtssicherheit für den Staat? Äußerst wichtig ist die Frage, ob der Staat Nutznießer der Rechtssicherheit sein kann. In Bezug auf diesen Aspekt müssen wir erst einmal definieren, in welchem Sinn „Rechtssicherheit“ zu verstehen ist. Falls Rechtssicherheit im Sinn eines objektiven Prinzips gebraucht wird, sind selbstverständlich die Erkennbarkeit, die Verlässlichkeit und die Berechenbarkeit der Rechtsordnung im Allgemeinen auch unverzichtbar für die Funktionsweise des staatlichen Akteurs selbst. Abstraktion und Typisierung sind technische Instrumente der Gewährleistung der dem Rechtssicherheitsbegriff immanenten Gewissheitsfunktion, wobei diese Gewissheit in der Perspektive des Senders der normativen Befehle bewertbar ist, wie Ferraz Júnior versichert159. Aus eben diesem Grund spricht die Rechtslehre von „Funktionsfähigkeit des Staates“, um die Idee zu bezeichnen, dass ohne Rationalität das Funktionieren des Staates selbst nicht zu gewährleisten ist160. Im Hinblick auf diese Bemerkungen darf man z. B. die prospektive Wirksamkeit (ex nunc) einer Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs postulieren, indem man behauptet, dass die Zuschreibung einer normal rückwirkenden Wirksamkeit (im Sinne einer deklaratorischen Wirksamkeit ex tunc) eine sehr große normative oder institutionelle Instabilität verursachen würde oder gar die „Funktionsweise“ des Staates beeinträchtigen könnte. Wie nachstehend gezeigt wird, hängt diese Möglichkeit nicht nur vom tatsächlichen Nachweis der genannten Instabilität ab, sondern auch von einer Abwägung aller Folgen für das Sicherheitsprinzip selbst, die sich aus einer Wahl der einen oder anderen Wirksamkeitszuschreibung der Entscheidung ergeben würden: in einigen Situationen würde die Beibehaltung der vergangenen Wirkungen der Norm oder des für verfassungswidrig erklärten Akts die Stabilität der Rechtsordnung schützen, ohne Berechenbarkeitsprobleme hervorzurufen; in anderen Situationen würde jedoch die Beibehaltung der genannten Wirkungen paradoxerweise zum Verlust der Glaubwürdigkeit, Stabilität und Berechenbarkeit der Rechtsordnung beitragen. Dies ist der später noch näher zu untersuchende Fall, in dem die prospektive Wirksamkeit der Entscheidung im Namen der Stabilität der Rechtsordnung darauf hinausläuft, der Erlass der verfassungswidrigen Norm nicht zu entwerten und damit den Staat anzuregen, in Zukunft erneut 159 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Segurança jurídica e normas gerais tributárias, in: RDT 17–18 (1981), S. 55. 160 Paul Kirchhof, Schriften des Instituts Finanzen und Steuern 362 (1998), S. 28.

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verfassungswidrige Normen zu verkünden, wegen der sich aus der Rechtswidrigkeit selbst ergebenen Vorteile. In diesem Fall wird im Namen der Rechtssicherheit (in ihrer dynamischen Dimension, unter dem objektiven Aspekt der Verlässlichkeit durch Stabilität) noch mehr Unsicherheit (in ihrer dynamischen Dimension, unter dem objektiven Aspekt der Verlässlichkeit durch Glaubwürdigkeit und durch die Wirksamkeit und Verlässlichkeit durch Kontinuität) geschaffen. Wenn stattdessen die Rechtssicherheit im subjektiven Sinn verwendet wird, als reflexive Anwendung des auf ein Subjekt bezogenen Prinzips der Rechtssicherheit, bestehen schon ernsthafte normative Hürden gegen seine Berücksichtigung zugunsten des Staates. Diese Hürden sind zweierlei Art. Einerseits und im Allgemeinen wird die reflexive und subjektive Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips als Vertrauensschutz unter dem Einfluss der Grundrechte, nicht primär des Rechtsstaatsprinzips entwickelt. Und die Grundrechte können in ihrer abwehrenden und schützenden Wirksamkeit nur von den Bürgern angerufen werden, nicht vom Staat. Diesem fehlt nämlich das personale Substrat, die Bindung an die Ausübung der Freiheit, die Beziehung zur Menschenwürde und die Stellung des Normadressaten: der Staat ist eine objektive Institution, nicht eine menschliche Person; er übt nicht Freiheit aus, sondern Kompetenz und Macht; er hat keine Würde; er ist nicht Normadressat, sondern Normgeber. Aus diesem Grund kann er sich nicht auf das Prinzip des Vertrauensschutzes berufen, um bestimmte vergangene Wirkungen mit dem Argument unantastbar zu machen, dass er im Vertrauen auf die Fortgeltung der später für verfassungswidrig erklärten Norm gehandelt hätte, in Ansehung des Umstands, dass dieses Prinzip auf den Grundrechten der Freiheit und des Eigentums, deren Träger er nicht ist, beruht. Andererseits und insbesondere im Fall des Steuerrechts erhält das Rechtssicherheitsprinzip, wie wir noch sehen werden, eine den Bürger schützende Funktion, da seine auf die Besteuerung bezogenen Grundlagen (Gesetzmäßigkeit, Vorzeitigkeit, Rückwirkungsverbot, Vertrauensschutz, Gleichheit) die Begrenzung staatlichen Handelns und nicht dessen Ausübung bezwecken. Aus diesem Grund kann sich der Staat nicht, wie später noch zu zeigen sein wird, auf das Prinzip des Vertrauensschutzes im Rahmen des Steuerrechts berufen, um bestimmte vergangene Wirkungen unantastbar zu machen, in Ansehung des Umstands, dass dieses Prinzip den Steuerzahler, nicht den Staat begünstigt. (3) Perspektive desjenigen, der Maßstab zur Feststellung der Rechtssicherheit ist (Sicherheit aus wessen Sicht?) (a) Rechtssicherheit vom Standpunkt des Normalbürgers betrachtet Der subjektive Aspekt beinhaltet neben der Antwort auf die Frage, wer von der Rechtssicherheit profitieren wird, auch die Untersuchung, wer für sie den Bewertungsmaßstab abgeben soll. Rechtssicherheit kann erstens die Erkenntnis des

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Rechts, das Vertrauen auf das Recht und seine Berechenbarkeit seitens des Normalbürgers beinhalten. Diese Auffassung ergibt sich aus der Berücksichtigung des Normadressaten, die denen als Orientierungsinstrument dient, die den Normvorschriften unterworfen sind161. Auf steuerrechtlicher Ebene wirkt sich diese Forderung auf die von der Legislative selbst verwendeten Begriffe aus: so wird es z. B. Erkennbarkeit geben, wenn der Steuerzahler selbst, also nicht sein Anwalt oder Buchhalter, Zugang zur Norm haben kann, die er befolgen soll und deren Inhalt er verstehen kann. Diese Perspektive ist auch wichtig, um zu wissen, ob das Vertrauen des Steuerzahlers geschützt oder nicht geschützt ist, wenn die das Vertrauen erzeugende Grundlage (ein Gesetz, eine Rechtsverordnung, eine Verwaltungsentscheidung oder ein Gerichtsurteil) offensichtlich gesetzwidrig oder dunkel ist. In Hinblick darauf haben das Zivil- und später das Verwaltungsrecht die Argumentationsfigur der „Durchschnittsbürger“ (citoyens moyens) oder der „guten Familienväter“ (bons pères de famille) entwickelt, um den Normalbürger zu kennzeichnen, den Nichtfachmann in Rechtsdingen, der gutgläubig, umsichtig und informiert ist.162 Pfersmann weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der so verstandene Bürger die Norm „ohne intellektuelle Gymnastik“ (exercises de gymnastique intellectuelle) verstehen können muss.163 Die Perspektive dessen, nach dem die Normqualität bewertet wird, erlangt also eine wesentliche Bedeutung, da man nicht wissen kann ob ein Akt offensichtlich oder augenscheinlich gesetzwidrig ist, ohne die Sichtweise dessen zu kennen, der die Gesetzwidrigkeit feststellen muss. Einige Fehler sind für einen Fachmann in Steuerrecht halbwegs voraussehbar, für den Laien in dieser Materie aber nicht bemerkbar. Aus eben diesem Grund bezieht sich Doung auf eine zumutbare Sicherheit, insofern sie vom Inhalt des diesbezüglichen Normtexts, von seiner Reichweite und von der Anzahl und Beschaffenheit seiner Adressaten abhängt.164 (b) Rechtssicherheit vom Standpunkt des Rechtsarbeiters betrachtet Zweitens kann die Rechtssicherheit die Erkenntnis des Rechts, das Vertrauen auf das Recht und die Berechenbarkeit des Rechts vermittels eines Fachmanns in der regelungsbedürftigen Materie beinhalten. Dieses Verständnis ergibt sich aus der 161

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 202 f.; Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 155. 162 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 367 sowie 378. 163 Otto Pfersmann, Constitution et sécurité juridique – Autriche, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 116. 164 Lémy Duong, La sécurité juridique et les standards du Droit Économique: la notion de raisonnable, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 217 sowie 229.

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in den Normen abgehandelten Materie, deren angemessene Regelung nicht ohne Rekurs auf präzise Fachausdrücke bewerkstelligt werden kann. Auf steuerrechtlicher Ebene wirkt sich dieses Verständnis auch auf die von der Legislative verwendeten Begriffe aus: so wird es Erkennbarkeit z. B. dann geben, wenn die Techniker in der Lage sein werden, die steuerrechtlichen Begriffe zu entschlüsseln, wobei es unwichtig ist, ob der Steuerzahler dies auch ohne Beratung tun kann. (c) Rechtssicherheit vom Standpunkt des Staates betrachtet? Die Bewertbarkeit der Rechtssicherheit aus staatlicher Perspektive ist eine problematische Frage. Diese Möglichkeit ist sofort zu verneinen, da die steuererhebenden Normen an den Steuerzahler adressiert sind, nicht an den Staat. Dieser statuiert die vom Steuerzahler zu befolgende Norm. Wenn dies zutrifft, ist es völlig abwegig, die Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Norm nach Maßgabe der Sicht des Normverkünders statt nach Maßgabe der Sicht dessen zu bewerten, der die Norm im Interesse ihrer Befolgung verstehen, ihr vertrauen und auf ihrer Grundlage die Rechtsfolgen berechnen können muss. (4) Perspektive desjenigen, der Sicherheit gewährleistet (Sicherheit durch wen?) (a) Rechtssicherheit durch die gesetzgebende Gewalt Der subjektive Aspekt beinhaltet schließlich die Antwort auf die Frage, wer Rechtssicherheit gewährleisten soll. Hier ist daran zu erinnern, dass Rechtssicherheit durch die drei Gewalten, die Legislative, die Exekutive und die Judikative zu gewährleisten ist165. Da jede Gewalt eine unterschiedliche Funktion wahrnimmt, fällt die Realisierung der Rechtssicherheit entsprechend unterschiedlich aus. So ist die Tätigkeit der Legislative in der Regel zukunftsorientiert, insofern die Gesetze sich auf Tatbestände beziehen, die nach ihrer Verkündung eintreten werden. Der Gesetzgeber befasst sich also mit der Zukunft, wünscht ein „neues“ Recht aufzubauen und orientiert sich dabei an dem, was normalerweise eintritt166. 165 Maria Sylvia Zanella Di Pietro, Os princípios da proteção à confiança, da segurança jurídica e da boa-fé na anulação do ato administrativo, in: Motta, Fabrício (Hrsg.), Direito Público Atual: estudos em homenagem ao Professor Nélson Figueiredo, S. 297; José Joaquim Gomes Canotilho, Direito Constitucional e teoria da Constituição, 7. Aufl., S. 257; Andreas Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, S. 336; Xavier Philippe, Constitution et sécurité juridique, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 81; José L. Mezquita del Cacho, Seguridad jurídica y sistema cautelar, in: Teoría de la seguridad jurídica, S. 87 ff. 166 Gerhart Husserl, Recht und Zeit, S. 54.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Eben deswegen werden Gesetze als generelle und abstrakte Normen gekennzeichnet, da sie an eine unbestimmte Anzahl von Personen und Situationen adressiert sind. Auf diese Weise wird die gleichförmige Behandlung der Bürger im Allgemeinen und der Steuerzahler im Besonderen gewährleistet. Infolge der in der Einleitung dieser Arbeit dargelegten gesellschaftlichen und rechtlichen Gründe hat die Gesetzgebung Probleme der Erkennbarkeit, der Verlässlichkeit und der Berechenbarkeit verursacht: Probleme der Erkennbarkeit wegen der Unbestimmtheit und Komplexität der Gesetze; Probleme der Verlässlichkeit wegen der Instabilität oder Einschränkung konsolidierter Situationen in der Vergangenheit oder gar der gewährleisteten Erwartungen; und Probleme der Berechenbarkeit wegen der Plötzlichkeit der Novellierungen und der mangelhaften Stimmigkeit bei der Entwicklung der Rechtsordnung. Aufgrund dieser Probleme muss die Legislative verschiedene Pflichten erfüllen, um die Rechtssicherheit zu wahren. Zu ihnen gehört die Pflicht der Bestimmbarkeit der Tatbestände, das Verbot der Einschränkung wohlerworbener Rechte, vollendeter Rechtshandlungen oder der Rechtskraft, das Verbot der rückwirkenden Gesetzgebung, die das legitime Vertrauen erschüttern kann, die Pflicht zur Einführung von Übergangsregeln oder Billigkeitsklauseln usf. (b) Rechtssicherheit durch die vollziehende Gewalt Der vollziehenden Gewalt obliegt primär die Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben. So befasst sich die Verwaltung mit der Gegenwart. Sie wünscht das gesetzte Recht zu konkretisieren, indem sie es fallweise bewertet167. Diese Funktion erfüllt sie manchmal nicht nur durch Nichtbeachtung gesetzlicher Bestimmungen, sondern auch durch den Erlass von Verwaltungsakten, normsetzenden Akten oder Verwaltungsverträgen, die ebenfalls Probleme der Erkennbarkeit, Verlässlichleit und Berechenbarkeit des Rechts verursachen: Probleme der Erkennbarkeit infolge der Nichtbeachtung gesetzlicher Bestimmungen, wodurch der Steuerzahler vor einer Hürde bei der Erkenntnis der zu befolgenden Bestimmung steht, oder infolge des Übermaßes an Einzelbestimmungen und widersprüchlichen normativen Akten; Probleme der Verlässlichkeit wegen Verwaltungsbestimmungen, die andere Akte, unter denen in der Vergangenheit Situationen konsolidiert worden sind, rückgängig machen oder für nichtig erklären, oder wegen normativer Auslegungsakte, die frühere gesetzliche Bestimmungen rückwirkend auszulegen beanspruchen; und Probleme der Berechenbarkeit aufgrund ausbleibender Übergangsregeln für Änderungen der Auffassung der Verwaltungsbehörden, um ein Beispiel zu nennen. Diese Hürden machen es notwendig, dass auch die vollziehende Gewalt mehrere Pflichten übernimmt, um die Rechtssicherheit zu wahren, darunter das Verbot der Aufhebung oder Nichtigkeitserklärung früherer Akte, im Vertrauen auf die der 167

Gerhart Husserl, Recht und Zeit, S. 52.

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Steuerzahler disponiert hat, ebenso die Pflicht zum Erlass von Übergangsregeln, wenn die Meinung abrupt geändert wird, usf. (c) Rechtssicherheit durch die rechtsprechende Gewalt Die Tätigkeit der rechtsprechenden Gewalt ist primär vergangenheitsorientiert, da die Entscheidungen von den Parteien vorgetragene Tatsachen betreffen, die vor der Verkündung der Entscheidung, in der die Rechtssprechungsleistung ihren Abschluss findet, vorgefallen sind. Der Richter befasst sich infolgedessen mit der Vergangenheit, orientiert sich an den geltenden Normen und prüft die vor seiner Entscheidung vorgefallenen Tatsachen168. Wie Machado Derzi erklärt, besagt das nicht, dass die Stellungnahmen der rechtsprechenden Gewalt, obwohl ihre Wirksamkeit sich auf die Vergangenheit richtet, keine Wirkungen für die Gegenwart und Zukunft entfalten: je nach der beabsichtigten Wirksamkeit, die deklaratorisch, begründend, verurteilend sein kann, schlagen sie auch in die Gegenwart und Zukunft durch. Jede Entscheidung hat eine mehrdimensionale Wirksamkeit, in der sich Vergangenheit und Zukunft mischen169. Aufgrund der in der Einleitung dieser Arbeit dargelegten gesellschaftlichen und rechtlichen Ursachen hat jedoch auch die Rechtsprechung Probleme der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit verursacht: Probleme der Erkennbarkeit infolge des ausbleibenden adäquaten Begründung der Entscheidungen oder infolge der Divergenzen zwischen Entscheidungen, Organen und Gerichten; Probleme der Verlässlichkeit infolge der Änderung der Rechtsprechung und damit erfolgenden Aufgabe früher konsolidierter Urteilspraxis mit Rückwirkung sogar für diejenigen, die aufgrund der aufgegebenen Rechtsprechung Handlungen vorgenommen hatten, mit denen sie über ihre Grundrechte verfügt hatten; und Probleme der Berechenbarkeit infolge der abrupten Änderungen der Rechtsprechung oder gar der mangelnden Stimmigkeit in der Auslegung der Rechtsordnung. Aufgrund dieser Probleme müssen gleichfalls zahlreiche Pflichten von der rechtsprechenden Gewalt übernommen werden, um die Rechtssicherheit zu wahren. Unter ihnen befinden sich die Pflicht zur ausreichenden und rationalen Begründung richterlicher Entscheidungen, das Verbot der legitimes Vertrauen erschütternden rückwirkenden Änderung der Rechtsprechung, die Pflicht der Verwendung von Mechanismen der Moderation bei der Änderung von Präzedenzfällen usf. Wesentlich ist, dass das Rechtssicherheitsprinzip an die drei Gewalten adressiert ist und jede eine wesentliche Rolle bei seiner Verwirklichung spielt.

168

Gerhart Husserl, Recht und Zeit, S. 58. Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 236 sowie 246. 169

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

dd) Zeitlicher Aspekt (oder: Rechtssicherheit wann?) (1) Moment der Verwirklichung des Sollzustands Das zeitliche Problem bezüglich der Rechtssicherheit stellt sich normalerweise, wenn die Zeit in ihrer Eigenschaft als bloße Perspektive berücksichtigt wird, mit Hilfe derer die Subelemente des genannten Prinzips untersucht werden. So wird beispielsweise behauptet, dass die Forderung nach Stabilität des Rechts durch Unantastbarkeit bestimmter Situationen sich auf die Vergangenheit beziehe, während die Pflicht der Gewährleistung der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns sich auf die Zukunft beziehe. Die Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sind hier nur Perspektiven, über welche die Subelemente der Rechtssicherheit untersucht werden, und dienen daher nur vornehmlich klassifikatorischen Kriterien. Hier soll etwas anderes bewiesen werden: nämlich, dass die Untersuchung des zeitlichen Aspekts das Kriterium sein kann – und sein soll, wie später noch zu begründet sein wird –, um die Verwirklichung des Rechtssicherheitsprinzips nachzuweisen. Zwei Beispiele können diesen Ansatz besser verdeutlichen. Man sehe in einem ersten Beispiel die Alternativen zum inneren Inhalt der möglichen Entscheidungen bei der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit: bei einem von einer unbefugten Behörde erlassenen Verwaltungsakt und im Fall einer Materie, die außerhalb des Kompetenzbereichs dieser Behörde liegt, kann der brasilianische Oberste Bundesgerichtshof die Nichtigkeit des Akts und seiner Wirkungen erklären oder statt dessen seine Geltung und ihre Wirkungen bestätigen. Man nehme nun an, dass das Gericht die Geltung des Akts und seine Folgen aufgrund des Rechtssicherheitsprinzips bestätigen will, mit dem Argument, dass der Schein der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungsakts und der Ablauf einer langen Zeitspanne seit seiner Vornahme eine faktische Situation konsolidiert haben, die das genannte Prinzip als rechtlich unantastbar zu erklären erfordert. In diesem Fall bestätigt der Oberste Bundesgerichtshof die Geltung des Akts und aller seine Wirkungen. Man stelle sich nun in einem zweiten Beispiel die Alternativen der äußeren Wirksamkeit der Entscheidungen vor, die anlässlich einer abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gefällt worden sind: angesichts der Unvereinbarkeit einer unterverfassungsrechtlichen Norm mit der Verfassung kann der Oberste Bundesgerichtshof die Nichtigkeit der verfassungswidrigen Norm ex tunc erklären oder stattdessen ihre Ungültigkeit ex nunc oder pro futuro erklären. Nehmen wir nun an, dass der Bundesgerichtshof die Verfassungswidrigkeit der Norm erst für die Zukunft erklärt und die durch die Norm in der Vergangenheit verursachten Wirkungen unter Berufung auf das Rechtssicherheitsprinzip bestätigt mit der Begründung, dass eine Nichtigkeitserklärung einen „Zustand der Rechtsunsicherheit“ zur Folge hätte. In diesem Fall erklärt der Gerichtshof die Unvereinbarkeit der Norm mit der Verfassung, beschränkt aber durch seine Entscheidung ihre Wirkungen auf die Zukunft.

I. Bedeutung der Rechtssicherheit 

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In diesen beiden Fällen stellt die genannte Argumentation den „Zustand der Rechtsunsicherheit“ und spiegelbildlich das Rechtssicherheitsprinzip auf dichotomisch-dualistische Weise in der Formel „Sicherheit vs. Unsicherheit“ dar, ohne jedoch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Verwirklichung der Rechtssicherheit zu einem Zeitpunkt deren Einschränkung zu einem anderen Zeitpunkt implizieren kann. Wenn in Bezug auf das erste Beispiel die Geltung und Wirkungen des Verwaltungsakts bestätigt werden, löst sich in der Tat das Unsicherheitsproblem hinsichtlich des in der Vergangenheit Vorgefallenen; gleichzeitig entsteht jedoch ein Unsicherheitsproblem hinsichtlich der Gegenwart und Zukunft: hinsichtlich der Gegenwart, da diese Entscheidung eine Unsicherheit in Bezug auf die Gültigkeit und Geltung der Normen erzeugt, sei es, weil die Bürger keine Klarheit im Hinblick auf die zu befolgenden Normen haben (wobei zu berücksichtigen ist, dass auch ungültige Normen Wirkungen zeitigen können), sei es, weil die Verwaltungsbehörden die Grenzen ihrer Befugnis nicht genau kennen, da auch unzuständig vorgenommenen Handlungen eventuell Wirkungen zeitigen können; hinsichtlich der Zukunft, da diese Entscheidung eine Unsicherheit in Bezug auf die zukünftig durch die Rechtsordnung den in der Gegenwart begangenen Handlungen zuzuschreibenden Wirkungen erzeugt, sowohl für die Bürger, die nicht vorhersehen können, welches die zukünftigen Wirkungen dieser Handlungen sind-wobei zu berücksichtigen ist, dass auch ungültige Handlungen Wirkungen hervorrufen können –, als auch für die Verwaltungsbehörden, die sich angeregt fühlen können, Handlungen außerhalb ihres Befugnisbereichs zu begehen, indem sie damit rechnen, dass sie selbst so Wirkungen in der Zukunft hervorrufen werden. In Bezug auf das zweite Beispiel lässt sich ein ähnliches Phänomen feststellen: wenn die Erklärung der Verfassungswidrigkeit nur Wirkungen pro futuro erzeugt, löst sich zwar das Unsicherheitsproblem hinsichtlich der Vergangenheit, entsteht jedoch gleichzeitig und gleichermaßen ein Unsicherheitsproblem hinsichtlich der Gegenwart und der Zukunft: hinsichtlich der Gegenwart, da diese Entscheidung eine Unsicherheit in Bezug auf die allgemeine Wirksamkeit gerichtlicher Entscheidungen erzeugt, sei es, weil die Bürger keine Klarheit im Hinblick auf die zu befolgenden Normen haben-wobei zu berücksichtigen ist, dass auch verfassungswidrige Gesetze Wirkungen hervorrufen können –, sei es, weil die Verwaltungsbehörden die Grenzen ihrer Befugnis nicht genau kennen, da auch die verfassungswidrige Ausübung der Staatsgewalt Wirkungen hervorrufen kann; hinsichtlich der Zukunft, da diese Variation von Entscheidungswirkungen eine Unsicherheit in Bezug auf die zukünftig durch die Rechtsordnung den in der Gegenwart außerhalb des verfassungsmäßigen Befugnisbereichs vorgenommenen Handlungen zuzuschreibenden Wirkungen erzeugt, sei es, weil die Bürger die zukünftigen Wirkungen dieser Handlungen nicht vorhersehen können-wobei zu berücksichtigen ist, dass auch verfassungswidrige Gesetze Wirkungen hervorrufen können –, sei es, weil die gesetzgebende Gewalt sich gelegentlich veranlasst sehen kann, verfassungswidrige Gesetze aufgrund des Ausbleibens negativer Folgen zu verkünden, die

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

von der rechtsprechenden Gewalt wegen der Verletzung der Verfassung verhängt worden sind. Diese beiden Beispiele belegen, dass man zur Verwirklichung des Rechtssicherheitsprinzips nicht das tun darf, was in bloß analytischer Hinsicht im Interesse des Verständnisses zu empfehlen ist: die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu spalten. Zur Verwirklichung des Rechts muss vielmehr in einheitlicher Perspektive der zeitliche Zusammenhang, d. h. müssen die drei Zeitmodi, untersucht werden: Sicherheit heute, gestern und morgen. Nach der sehr treffenden Kennzeichnung von Machado Derzi beinhaltet das Vertrauen sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart und Zukunft: die in der Vergangenheit verortete Tatsache des Vertrauens, das in der Gegenwart anhaltende Vertrauen und das in die Zukunft ausgreifende Vertrauen170. (a) Rechtssicherheit heute In Bezug auf die gegenwärtige Sicherheit muss der statische oder strukturelle Aspekt der Rechtssicherheit festgestellt werden, der sich auf das Vorliegen eines Zustands von mehr oder weniger materialer Erkennbarkeit bezieht, durch die Zugänglichkeit und Reichweite der Normen und die größere oder geringere intellektuelle Erkennbarkeit, vermittels der Klarheit und Bestimmbarkeit der Norm. In dieser Dimension wird die Fähigkeit des Bürgers ermittelt, die von ihm zu befolgenden Normen zu verstehen. Jede Entscheidung, welche die „Sicherheit der Existenz und Geltung“ und die „Sicherheit des Inhalts“, die zu gegebener Zeit zu untersuchen sind, einschränkt, ist also als Entscheidung zu kennzeichnen, welche „die gegenwärtige Dimension des Sicherheitszustands“ einschränkt. Neben dieser Dimension gibt es allerdings noch zwei andere, die der Vergangenheit und die der Zukunft. (b) Rechtssicherheit gestern In Bezug auf die vergangene Sicherheit muss der dynamische oder intertemporale Aspekt der Rechtssicherheit untersucht werden, um dann festzustellen, ob die Bedingungen der Unberührbarkeit der vergangenen Situationen wirklich vorliegen. Hinsichtlich des globalen Verständnisses des zeitlichen Aspekts der Rechtssicherheit ist das Problem nicht auf den vergangenen Zeitabschnitt bezogen, da in der Regel in ihm die Entscheidungen anstreben, einen „Sicherheitszustand“ zu verwirklichen. Die Hürde bezieht sich eigentlich auf die Rechtsfolgen, welche die Suche nach Sicherheit in der Vergangenheit im Hinblick auf die Sicherheit der Gegenwart und Zukunft zeitigen kann. 170 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. XXIV.

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(c) Rechtssicherheit morgen In Bezug auf die zukünftige Sicherheit ist, immer noch im Rahmen des dynamischen Aspekts der Rechtssicherheit, zu untersuchen, ob die Erhaltung der Sicherheit der Vergangenheit nicht die Verwirklichung der Sicherheit in der Zukunft beeinträchtigt. In einigen Situationen führt die Erhaltung der allgemeinen oder individuellen Normwirkungen, welche der Rechtsordnung (oder, besser, einem Teil von ihr, normalerweise dem auf die formalen Prinzipien oder die Kompetenzregeln bezogenen) entgegenstehen, dazu, dass die Normadressaten, insbesondere der Staat, sich ermutigt fühlen, rechtswidrige Verhaltensweisen zu wählen, in der Hoffnung, dass trotzdem die Rechtsfolgen der rechtswidrigen Handlung auufrecht erhalten werden. Hier liegt genau das größte Problem: die Entscheidung zugunsten der Erhaltung der Norm oder ihrer Wirkungen in der Vergangenheit kann in höherem oder geringerem Maß die Einschränkung des Sicherheitszustands in der Gegenwart und Zukunft nach sich ziehen, aus dem einfachen Grund, dass dieser Entscheidungstyp eine „Gegenanordnung“ enthält. Diese „Gegenanordnung“ äußert sich im Vorliegen einer späteren Anordnung (Entscheidung, welche die Wirkungen einer ungültigen Norm aufrechterhält), die sich gegen eine vorherige Anordnung (Regel, die Wirkungen einer ungültigen Handlung ausschließt) richtet. In einfachen Worten: diese Gegenanordnung äußert sich in der Einschränkung der Orientierungs- und Anwendungssicherheit, die sich aus der Aufrechterhaltung der Wirkungen rechtswidriger Normen ergeben: wenn die Normen den Bürgern zur Orientierung dienen und Grenze und Grundlage der Ausübung der Macht seitens der Behörden sind, wird immer dann, wenn ein den im Augenblick seiner Durchführung geltenden Normen entgegenstehender Akt aufrechterhalten wird, heute die Rechtswidrigkeit von gestern bestätigt, womit heute die Rechtswidrigkeit von morgen angeregt werden kann. Das Recht, das orientieren sollte, desorientiert und schränkt damit seine morgige Befolgung ein. So entsteht also ein Konflikt bezüglich der Rechtsfolge, die der Normadressat zu erwarten hat: entweder wartet er ab, dass die verfassungswidrigen Normen für nichtig und damit folgenlos erklärt werden oder er rechnet damit, dass sie für gültig erklärt und ihre Folgen aufrechterhalten werden. Wenn jedoch – und hier zeigt sich das Problem in voller Brisanz – der Bürger nicht weiß, was er zu erwarten hat, kann er auch nicht vorhersehen, und wenn er nicht vorhersehen kann, kann er sich nicht am Recht orientieren. Wenn dies eintritt, geht die Sicherheit der Vergangenheit auf Kosten der Sicherheit der Zukunft. Im Rechtsstaat müssen die Bürger jedoch legitimerweise erwarten, dass verfassungswidrige Normen als solche erklärt werden und diese Erklärung ihre tatsächliche Ausmerzung aus der Rechtsordnung zur Folge hat171. Wenn der Bürger in Erwartung der Verfassungsgemäßheit die Verfassungswidrigkeit vorfindet bzw. wenn er Steine statt Brot erhält (des pierres à la place de pain), wird das Recht einen Teil seiner Wirksamkeit und 171

César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 183.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

in der Folge einen Teil der Sicherheit, die zu erhalten es anstrebt, verlieren172. Und wenn der Staat im Bewussstsein des Ausbleibens der konkreten Bestätigung der abstrakt vorgesehenen Rechtsfolgen auf die zukünftige Aufrechterhaltung gegenwärtiger verfassungswidriger Akte setzt, wird er versucht sein, seine Einnahmen mit verfassungswidrigen Abgaben zu finanzieren173. Diese Bemerkungen, die zu gegebener Zeit wieder aufgegriffen werden sollen, haben eine große praktische Bedeutung, da sie den Nachweis führen, dass die Verwirklichung des „Sicherheitszustands“, obwohl dieser analytisch in begrifflich autonome Zeiteinheiten zergliedert werden kann und muss, nur als Ganzes untersucht werden kann. Wie im dem Inhalt der Rechtssicherheit gewidmeten Teil dieser Arbeit gezeigt werden soll, ist diese Feststellung für das Steuerrecht von entscheidender Bedeutung, da die Aufrechterhaltung der Wirkungen von verfassungswidrigen Steuergesetzen unter dem Vorwand der Förderung der Rechtssicherheit in Wahrheit und in einem größeren Maß die Einschränkung der Rechtssicherheit zur Folge haben kann. Diese Bemerkungen rechtfertigen die in dieser Arbeit formulierte These, dass die Rechtssicherheit in allen Aspekten untersucht werden muss und, im Hinblick auf ihren zeitlichen Aspekt, in ihrer die drei Zeitmodi umfassenden Dimension „Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft“. Die „ambivalente Natur“ des Sicherheitsprinzips, dass zugleich Bewahrung und Innovation, Starre und Flexibilität verlangt, darf also nicht unberücksichtigt bleiben174. Aus eben diesem Grund stellt sich notwendig eines der drei Probleme, wenn nur eine der Zeitdimensionen untersucht wird: wenn nur die Gegenwart untersucht wird, gehen die narrative Kohärenz des Rechts und die Rechtfertigung selbst in der Entscheidungszeit verloren; wenn ausschließlich die Vergangenheit beachtet wird, riskiert man die Unbeweglichkeit, so wie zur Nichteinhaltung zukünftigen Rechts ermutigt werden kann; und wenn nur die Zukunft untersucht wird, verschwindet die Wirklichkeit des Rechts aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit, wobei dann die Gegenwart und Vergangenheit, von der die Zukunft profitiert, vernachlässigt werden175. Wie noch zu zeigen sein wird, macht sich dieses Risiko vor allem bei der Aufrechterhaltung rechtswidriger Verwaltungsakte und verfassungswidriger Gesetze bemerkbar, namentlich im Argument, dass die Nichtigkeitserklärung einen Zustand der Instabilität erzeugen würde. Wenn die Stabilität bezüglich der vergangenen Wirkungen des rechtswidrigen Akts gewährleistet wird, wird die Förderung der Rechtswidrigkeit in der Zukunft aufs Spiel gesetzt.

172 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 226. 173 Gerdhardt Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, S. 54. 174 Heike Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, S. 178. 175 Gerhart Husserl, Recht und Zeit, S. 50.

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(2) Moment der Feststellung oder Voraussage des Sollzustands Der Zeitfaktor dient auch als Kriterium für die Analyse des Moments, in dem die Berechenbarkeit festzustellen ist. In diesem Sinn es wichtig, hervorzuheben, dass die Reaktionszeit für die Anwendung der Folgen ein entscheidendes Element für die Steigerung des Grads der normativen Berechenbarkeit ist. Je größer nämlich die Fähigkeit des Bürgers ist, den Moment vorauszusehen, in dem die auf Rechtsakte oder Tatsachen anwendbare Rechtsfolge zu bestimmen ist, desto größer wird seine Fähigkeit sein, Aktionspläne in Bezug auf das, was er tun will, zu entwerfen176. Wenn beispielsweise der Steuerzahler weiß, dass der Verwaltungsprozess lange Zeit dauert, kann er beschließen, sich nicht auf ihn einzulassen und stattdessen sofort ein gerichtliches Verfahren anzustrengen; wenn er weiß, dass das Gerichtsverfahren lange Zeit dauert, kann er sich für eine gerichtliche Maßnahme entscheiden, die ihn gegen den Ablauf der Zeit schützt, so wie er sich für die gerichtliche Hinterlegung entscheiden kann, um die spätere Einziehung eines über eine lange Zeit aufgelaufenen Steuerrückstands zu vermeiden. Diese Feststellung ist von großem Wert, um die Rechtssicherheit zu verstehen. Wenn nämlich die Berechenbarkeit als bloße Fähigkeit definiert wird, Rechtsfolgen vorauszusehen, wird es umso mehr Rechtssicherheit geben, je geringer die abgelaufene Zeit zwischen der Voraussage der Folgen und deren Eintreten sein wird. Die ideale Berechenbarkeit gäbe es in dem Rechtssystem, im dem die Voraussage und Definition der Folgen fast gleichzeitig erfolgen. In diesem Sinn gäbe es keine Berechenbarkeit in den Systemen, in denen die Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren lange Zeit dauern. Wenn jedoch die Berechenbarkeit als Fähigkeit zur Voraussage des Folgespektrums und des für ihre Definition notwendigen Zeitspektrums definiert wird, wird es desto mehr Rechtssicherheit geben, je größer die Fähigkeit sein wird, die Rechtsfolgen und den Augenblick ihrer Definition vorauszusagen. In diesem anderen Sinn kann Berechenbarkeit selbst dann vorliegen, wenn die Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren bis zur endgültigen Lösung viel Zeit in Anspruch nehmen177. Im Hinblick auf diese Betrachtungen muss die Rechtssicherheit als Forderung der Berechenbarkeit begrifflich als Fähigkeit bestimmt werden, das Spektrum der Handlungen oder Tatsachen zuschreibbaren Folgen und das Zeitspektrum innerhalb denendie anwendbare Rechtsfolge definiert wird, vorauszusehen. Nachdem der zeitliche Aspekt der Rechtssicherheit erkundet ist, ist jetzt ihr quantitativer Aspekt zu untersuchen. Eben dies ist der Gegenstand der folgenden Erörterungen.

176 177

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 229. Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 231.

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ee) Quantitativer Aspekt (oder: Rechtssicherheit in welchem Maß?) (1) Hinsichtlich der Größe (a) Rechtssicherheit als Gewissheit Rechtssicherheit wird beispielsweise mit dem Vorhersehbarkeitsideal assoziiert. Der Bürger muss die seinen Handlungen zuschreibbaren Folgen vorhersehen können. Die so gefasste wissenschaftliche Formulierung dieses Vorhersehbarkeitsideals offenbart allerdings sehr wenig über den Inhalt dieses Ideals, da sie nichts in Bezug auf die Bedeutung von „vorhersehen“ aussagt, ebensowenig über die „Handlung“, auf die sich diese Voraussicht bezieht. In diesem Rahmen kann man die Sicherheit als Verwirklichung in allen Fällen und auf absolute Weise der sie vertrendenden Ideale verstehen, wie in Bezug auf das Vorhersehbarkeitsideal, immer und alles vorauszusehen. Man kann stattdessen Sicherheit als Verwirklichung in den meisten Fällen und in hohem Maß der sie ausmachenden Ideale verstehen, wie, noch im Fall der Vorhersehbarkeit, recht viel von fast allem vorauszusehen. Hier unterscheiden sich die Vorstellungen von absoluter und relativer Rechtssicherheit (oder Rechtsgewissheit)178. In der Tat steht Rechtssicherheit sehr oft für einen Idealzustand (absoluter) Gewissheit, als Möglichkeit des Bürgers, exakt den Inhalt der Normen, die er jetzt und in Zukunft zu befolgen hat, und die seinen Handlungen zugeschriebenen Rechtsfolgen vorauszusehen. In diesem Sinn bedeutet Sicherheit die inhaltliche Gewissheit der Norm und die exakte Vorhersehbarkeit der den verübten Handlungen zuzuschreibenden Folgen, veranschaulicht durch den pleonastischen Ausdruck „absolute Gewissheit“. Ihr Begriff ist also klassifikatorisch, „alles oder nichts“, ohne eine Unbestimmtheitsspanne179. Diesem klassifikatorischen Rechtssicherheitsbegriff entspricht eine objektivistische Auslegungskonzeption, die sich auf das Ergebnis konzentriert, in dem Sinn, dass es dem Interpreten vermittels einer statischen und deterministischen, auf ausschließlich semantische Aspekte konzentrierten Tätigkeit obliegt, nur den dem Auslegungsprozess vorgängigen Norminhalt offenzulegen. Der vorab und gänzlich vorwegnehmbare Norminhalt entspricht einem Punkt, mit dem die Wirklichkeit übereinstimmt bzw. nicht übereinstimmt. Das Recht wird in dieser Perspektive als gegebenes Objekt gesehen, unabhängig vom Subjekt und seinem Auslegungs- und Anwendungsprozess. Jedem Gesetz entspricht eine Auslegungsalternative oder eine normative Bedeutung (R = A). So ist das Rechtssicherheitsproblem wesentlich ein auf die Vorherbestimmung der Bedeutung konzentriertes semantisches Problem. Wie schon oben dargelegt, handelt es sich um eine auf materiale Regeln gestützte objektivistische Konzeption der Auslegung (rule-dependent certainty of 178 179

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 13. Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 11.

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law)180. Infolgedessen ist die Konzeption von Rechtssicherheit selbst dual, zumal sie auf den Extremen Sicherheit – Unsicherheit (Gewissheit – Ungewissheit) beruht.181 Mehr noch: diese Konzeption stellt zwei unterschiedliche Wirklichkeiten auf eine gleiche Ebene: die Norm und die Entscheidungsnorm182. Im steuerrechtlichen Bereich wird diese Konzeption direkt oder indirekt durch das Verständnis des Gesetzmäßigkeitsprinzips als Forderung nach absoluter Bestimmung der wesentlichen Elemente der Steuerpflicht repräsentiert. Dieses Prinzip wird auch Prinzip der geschlossenen Tatbestandsmäßigkeit genannt. Der Steuerzahler kann auf diese Weise von vornherein die normative Bedeutung durch die Auslegung der Besteuerungsregel erkennen. Der gesetzgebenden Gewalt obliegt deren vollständige Festlegung im Tatbestand. (b) Sicherheit als Bestimmbarkeit Rechtssicherheit steht, anders gewendet, für den Idealzustand (relativer) Gewissheit, verstanden als Möglichkeit des Bürgers, mit einem hohen Bestimmtheitsgrad den Inhalt der materialen und prozeduralen Normen vorauszusehen, die er befolgt und befolgen wird, oder die argumentative Struktur, vermittels deren der Inhalt dieser Normen bestimmt wird. Sicherheit in diesem Verständnis wird mit der inhaltlichen Bestimmbarkeit der Norm assoziiert, mittels vorgängiger argumentativer Prozesse der Bestimmung oder Vorausbestimmung der argumentativen Struktur, durch welche die Normen ausgelegt und angewendet werden, unter deutlicher Angabe der argumentativen Kriterien und Strukturen. Sicherheit wird hier durch das Oxymoron „relative Gewissheit“ dargestellt. In Bezug auf den Norminhalt hat der Sicherheitsbegriff einen nicht-klassifikatorischen Charakter, mit einer unvermeidlichen Indeterminationsspanne183. In Bezug auf den Prozess juristischer Argumentation ist der Sicherheitsbegriff argumentativ, gegründet auf intersubjektiv kontrollierbare Kriterien184. Rechtssicherheit in diesem Sinn ist vor allem die rationale Kontrolle argumentativer Willkür185. Diesem nicht-klassifikatorischen Begriff von Rechtssicherheit entspricht seinerseits eine argumentative Konzeption der Auslegung, gegründet auf einen Prozess, durch den man zu einem Ergebnis auf die Weise gelangt, dass es dem Interpreten dank einer dynamischen und vermittelnden Tätigkeit, die nicht nur auf semantische Aspekte, sondern auch auf argumentative Strukturen konzentriert ist, obliegt, einen Norminhalt im Ausgang von minimalen allgemeinen semantischen 180

Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 14. Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 30. 182 Eros Roberto Grau, Ensaio e discurso sobre a interpretação / aplicação do Direito, 4. Aufl., S. 28. 183 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 12. 184 Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 293. 185 Aulis Aarnio, The Rational as Reasonable, S. 3. 181

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Kernen zu rekonstruieren. Der vorwegnehmend nur in Bezug auf die möglichen Auslegunsalternativen ermittelbare Norminhalt entspricht einem Spektrum, dem die Wirklichkeit sich in höherem oder geringerem Maß anpasst. Das Recht wird in dieser Auffassung als vom Auslegungs- und Anwendungsprozess abhängende Tätigkeit angesehen. Jeder Regel entsprechen einige Auslegungsalternativen oder Normbedeutungen (R = A, B oder C), die durch von Metanormen der Interpretation gelieferte argumentative Strukturen zu bestimmen sind, wie etwa die Postulate der Verhältnismäßigkeit, der Kohärenz und der Zumutbarkeit. So ist das Problem der Rechtssicherheit im Wesentlichen ein argumentatives Problem, beschränkt auf die Vorausbestimmung minimaler möglicher Bedeutungen vermittels wohldefinierter argumentativer Strukturen. Es handelt sich hier um eine prozedurale Auslegungskonzeption, gegründet auf rationale Verfahren186. Infolgedessen ist die Konzeption der Rechtssicherheit nicht dual, sondern graduell. Sie bezeichnet das Spektrum zwischen den Extremen der völligen Unsicherheit und der völligen Sicherheit. Aus eben diesem Grund ist es angebracht, von „keiner Sicherheit“, „wenig Sicherheit“ oder „viel Sicherheit“ aus faktischer Sicht zu sprechen187. Im steuerrechtlichen Bereich wird diese Konzeption direkt oder indirekt durch das Verständnis des Prinzips der Gesetzmäßigkeit als Forderung nach Bestimmbarkeit der wesentlichen Elemente der Steuerpflicht repräsentiert. Der Steuerzahler kann somit nur von vornherein die reduzierten möglichen normativen Bedeutungen durch die Auslegung der Besteuerungsregel erkennen. Der gesetzgebenden Gewalt obliegt deren vollständige Festlegung im Tatbestand, der rechtsprechenden Gewalt obliegt mit Hilfe von rationalen Anwendungsverfahren die Entscheidung darüber, welches Element korrekt ist, wenn eine Meinungsverschiedenheit bezüglich des Vorliegens von mehr als einem Element auftritt, hinsichtlich einer spezifischen Situation, was, wie hervorzuheben ist, kaum der Fall ist, angesichts des Vorliegens früherer argumentativer Prozesse der Sprachbestimmung gesetzlicher, richterlicher oder sogar rechtswissenschaftlicher Natur. Wie Dourado betont, „ist die Unbestimmtheit in einigermaßen reifen Rechtsordnungen nicht so häufig wie die Skeptiker fürchten, da wir unter den Unbestimmtheitsfällen (Lückendisziplinen in einfachen Gesetzsystemen, Widersprüchen zwischen den Gesetzen in sehr fortschrittlichen oder komplexen Gesetzsystemen und Gesetzen, die nicht eine einzige Antwort in einem konkreten Fall gewährleisten) normalerweise nur in den schwierigen Fällen Gesetze finden, deren Argumente nicht eine einzige Antwort rechtfertigen[…]“188. Wie später noch deutlicher werden wird, sind das Verständnis des Rechts als argumentative Praxis und die Akzeptanz der These, dass die Norm nicht nur eine Bedeutung beinhaltet, sondern alternative Normbedeutungen, worauf wir noch 186

Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 301. Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 30. 188 Ana Paula Dourado, O princípio da legalidade fiscal – tipicidade, conceitos jurídicos indeterminados e margem de livre apreciação, S. 767. 187

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später eingehen werden, kein Hinderungsgrund für die Bemühung um die Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, weil einerseits die argumentative Natur des Rechts durch hermeneutische und anwendungsbezogene Postulate eingeschränkt wird, die vor allem den Entscheidungsbereich verringern, wie im Fall der Postulate (oder Metanormen der Anwendung) der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit, und weil andererseits das Spektrum, in dem die alternativen normativen Folgen liegen, durch die rechtswissenschaftliche und gerichtliche Praxis eingeschränkt wird, die allmählich einige Bedeutungsoptionen als die korrektesten oder am meisten durch die Verfassungsordnung abgesicherten ausweist. Die realistische Konzeption, derzufolge die richterliche Entscheidung von frivolen Aspekten abhänge, beispielsweise ob der Richter eine gute Nacht verbracht und gut gefrühstückt hätte, ist allerdings völlig wirklichkeitsfremd, da die Entscheidung niemals im luftleeren Raum ergeht, sondern neben anderen Faktoren die der Sprache intersubjektiv assimilierten Bedeutungen und die Jahrhunderte der Auslegung und der von den Rechtskundigen geteilten Bedeutungen berücksichtigt189. Cardozo stellt dieses Problem auf unvergleichliche Weise vor: „Selbst wenn der Richter frei ist, ist er nicht völlig frei. Er ist kein Wanderer, der aus freien Stücken nach seinem eigenen Ideal der Schönheit oder Güte sucht. Er muss seine Erleuchtung in anerkannten Prinzipien suchen. Er ist nicht da für spasmodische Gefühle und vages und ungeregeltes Wohlwollen. Er muss seinen Ermessensspielraum nutzen, indem er sich von der Tradition unterrichten lässt, methodisch nach dem Analogieprinzip verfährt, vom System diszipliniert wird und sich der primären Notwendigkeit, das Leben der Gesellschaft zu organisieren, unterwirft.“190

Schließlich muss man mit Grau festhalten, dass „die Öffnung der Rechtstexte, obwohl zureichend, um zu erlauben, dass das Recht weiterhin der Wirklichkeit dient, nicht absolut ist. Jeder Interpret wird immer von ihnen gebunden und durch sie zurückgehalten sein. Aus dem Bruch dieses Verhältnisses durch den wahren Interpreten wird sich die Subversion des Texts ergeben“191. Bis zu diesem Punkt sind zwei gegensätzliche Konzeptionen von Rechtssicherheit hinsichtlich ihrer Größe untersucht worden – die (absolute) Vorhersehbarkeit und die (relative) Berechenbarkeit. Unzureichend ist jedoch noch die Behauptung, dass Rechtssicherheit die Berechenbarkeit als Fähigkeit, zukünftige Rechtsfolgen mehr oder weniger vorauszusehen, beinhaltet. Um wieviel mehr oder weniger? Man muss also zumindest annähernd den Berechenbarkeitsgrad kennen, der vorliegen muss, damit man von Rechtssicherheit sprechen darf. Hier ist zwischen der Tiefe und dem Ausmaß der Fähigkeit zur Vorwegnahme des Bürgers zu unterscheiden192. 189 Alex Kozinski, What I Ate for Breakfast and Other Mysteries of Judicial Decision Making, in: O’Brien, David M. (Hrsg.), Judges on Judging, S. 74. 190 Benjamin Cardozo, The Nature of Judicial Process, S. 141. 191 Eros Roberto Grau, Ensaio e discurso sobre a interpretação / aplicação do Direito, 4. Aufl., S. 56. 192 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 269.

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Einerseits bezieht sich die quantitative Tiefe oder vertikale Dimension der Vorwegnahme auf die Tatsächlichkeit, Exaktheit und das zeitlicheAusmaß der Voraussicht. So gibt es eine große Fähigkeit der Berechenbarkeit zukünftiger normativer Folgen, wenn der Einzelne imstande ist, eine reduzierte Anzahl voraussehbarer Folgen im Rahmen eines überschaubaren Zeitraums festzustellen. Unter überschaubarem Zeitraum soll hier der Zeitraum verstanden werden, der eine Entscheidung über die juristisch orientierte strategische Planung erlaubt, je nach der Tätigkeit, auf die man sich bezieht. Andererseits bezieht sich das Ausmaß oder die horizontale Dimension der Vorwegnahme auf die Verbreitung der Sicherheit in einer bestimmten Klasse vorhersehender Personen. So gibt es eine große Fähigkeit der Berechenbarkeit zukünftiger normativer Folgen, wenn der größte Teil der Steuerzahler, um das Steuerrecht als Beispiel zu nennen, imstande ist, die genannte Anzahl voraussehbarer Folgen im Rahmen eines überschaubaren Zeitraums festzustellen. Eine selbst für Fachleute äußerst komplexe Rechtsnorm bzw. eine Rechtsnorm, deren Tatbestand auf unzählige Weisen auslegbar ist, lässt diese Berechnbarkeit nicht zu. Berechenbarkeit, wie immer wieder zu unterstreichen ist, bezieht sich nicht auf die Voraussicht zukünftiger Ereignisse. Es ist bekannt, dass nur die Vergangenheit und die Gegenwart existieren; die Zukunft existiert per definitionem nicht193. Berechenbarkeit im hier festgelegten Sinn bezieht sich nicht auf die Vorwegnahme von Ereignissen, sondern vielmehr auf die Fähigkeit, in zumutbarem Maß der Tiefe und des Ausmaßes die Rechtsfolgen vorwegzunehmen, deren Durchsetzung die Rechtsordnung vorsieht. Vorweggenommen wird nicht die Zukunft, sondern die normative Bedeutung der Gegenwart in der Zukunft oder, um es technischer zu sagen, die normative Bedeutung der Handlung oder Unterlassung in der Gegenwart durch eine in Zukunft zu treffende Entscheidung. (2) Hinsichtlich der Messung (a) Faktische Prüfung Neben der Bestimmung der Bedeutungen von Verstehbarkeit und Berechenbarkeit ist die Formulierung einer weiteren Frage unvermeidlich: wie soll man den Grad der Erkennbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts messen? Zwei Wege bieten sich an, die didaktisch wie folgt unterschieden werden können. Einerseits kann man den Grad an Rechtssicherheit vermittels der Gegenüberstellung vergangener Voraussichten und zukünftiger Entscheidungen untersuchen, um festzustellen, ob und in welchem Grad es eine Entsprechung zwischen der vo 193 Mark van Hoecek, Time and Law. Is it the nature of law to last? A conclusion, in: Ost, François / van Hoecke, Mark. (Hrsg.), Temps et Droit. Le Droit a-t-il pour vocation de durer?, S. 452.

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raussichtlich zu treffenden Entscheidung und der faktisch getroffenen Entscheidung gibt. Die Untersuchungsmethode wäre statistischer Art und würde ein Tatsachenmaterial betreffen: je mehr Voraussichten eintreffen würden, desto sicherer wäre das Recht. Ob Rechtssicherheit vorliegt, lässt sich dann nur a posteriori feststellen.

(b) Normative Prüfung Andererseits kann man den Grad der Rechtssicherheit untersuchen, indem man eine Analyse bestimmter theoretischer normativer Bedingungen vornimmt, die vorab und abstrakt vorhergesehen werden. Die Methode ist also juristischer Art: je mehr abstrakt vorhergesehene Bedingungen festgestellt werden, desto sicherer ist das Recht. In diesem Sinn kann man ex ante erfahren, ob Rechtssicherheit vorliegt. Wie im Laufe dieser Arbeit nachgewiesen werden soll, beinhaltet der vorgeschlagene Rechtssicherheitsbegriff die Festlegung von Sachverhalten (Zwecken), deren Existenz von der Wahl von Verhaltensweisen (Mitteln) abhängt, die Wirkungen zeitigen, die ihrerseits zur Förderung der Rechtssicherheit beitragen. Wenn dem so ist, werden eben die Definitionen der Zwecke und Mittel die Voraussetzungen bilden, deren Erfüllung das Eintretten bzw. Nichteintretten der Rechtssicherheit und ihres Ausmaßes erlauben wird. Unter Rückgriff auf ein Beispiel, das nur im weiteren Verlauf dieser Arbeit verständlicher sein wird, kann man sagen, dass die Rechtssicherheit das Vorliegen eines Zustands normativer Erkennbarkeit erfordert; er liegt dann vor, wenn die Bedingungen der Zugänglichkeit und Verständlichkeit der Normen vorliegen; Zugänglichkeit der Normen liegt dann vor, wenn der Steuerzahler imstande ist, die zu befolgenden Normen zu kennen, und Verständlichkeit liegt dann vor, wenn er ihren Inhalt minimal verstehen kann; erkennen kann der Steuerzahler, wenn er imstande ist, materialen Zugang zur zu befolgenden geltenden Norm zu haben und wenn er minimal ihren Inhalt verstehen kann, soweit dieser deutlich und bestimmbar ist; und – um diese lange, aber notwendige Verkettung von Elementen zu beenden – der Steuerzahler ist imstande, materialen Zugang zur zu befolgenden geltenden Norm zu haben, wenn diese veröffentlicht worden ist oder die Entscheidung, die sie vorsieht, Gegenstand einer persönlichen Bekanntgabe sein wird, und ihr Inhalt ist dann bestimmbar, wenn die Auslegungsalternativen begrenzt, reduziert und dem Normalbürger verständlich sind. In einem Wort  – und damit kommen wir zum Punkt, der uns hier interessiert  – wird es Rechtssicherheit als Erkennbarkeitszustand dann geben, wenn die Voraussetzungen der Veröffentlichung, Bekanntgabe, zugänglichen Sprache und reduzierten Menge der vorgesehenen Rechtsfolgen vorliegen. Um zu bestätigen, ob Rechtssicherheit vorliegt, ist es also nicht notwendig – um weiterhin das herangezogene Beispiel zu verwenden – herauszufinden, ob die Steuerzahler und wieviele Steuerzahler die Rechtsnormen kennen bzw. nicht kennen. Feststellen muss man stattdessen, ob die

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Rechtsordnung Regeln bezüglich der Veröffentlichung, Bekanntgabe, Sprache der Gesetze und deren Reichweite kennt194. Man kann also wissenschaftlich feststellen, welches die theoretischen Bedingungen sind, deren Vorliegen zur Existenz der Rechtssicherheit aus prinzipiellen Gründen führt. (3) Hinsichtlich des zureichenden Maßes (a) Geringe Unsicherheit Eine sehr wichtige Frage bezieht sich auf das zu vermeidende oder zu ertragende zureichende Maß der Unsicherheit. Rechtssicherheit im Sinn eines objektiven Prinzips beinhaltet die Forderungen nach Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts im Allgemeinen. In diesem Sinn kann man verstehen, dass eine nicht sehr klare Norm, eine etwas instabile oder nicht vollständig voraussehbare Rechtsordnung das Rechtssicherheitsprinzip verletzen. Rechtssicherheit im subjektiven Sinn beinhaltet den Schutz der Handlungen, in denen der Bürger über Freiheits- und Eigentumsrechte aufgrund einer Norm (oder einer Regel, eines Verwaltungsakts, eines normativen Akts oder einer Entscheidung der Verwaltungsbehörde oder eines Gerichts) verfügt. In dieser Interpretation kann man verstehen, dass jede Art von Erwartungsenttäuschung schon die Anwendung des Vertrauensschutzprinzips legitimiert. Im hier analysierten Aspekt stellt also jegliche Einschränkung der Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit von Normen schon eine Verletzung des Rechtssicherheitsprinzips dar. Dem für diese Verletzung erforderlichen geringen Ausmaß an Unsicherheit entspricht ein absoluter Begriff von Rechtssicherheit. (b) Große Unsicherheit Andererseits kann man jedoch verstehen, dass nur eine hochgradig unbestimmte Norm oder eine hochgradig unstabile oder unvoraussehbare Rechtsordnung zur Verletzung der objektiven Dimension des Rechtssicherheitsprinzips führen können und nur eine signifikante Enttäuschung der Erwartung die Anwendung des Vertrauensschutzprinzips legitimieren kann. In diesem spezifischen Sinn führt also nicht jegliche Einschränkung der Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit von Normen zu einer Ver 194

Christof Münch, Rechtssicherheit als Standortfaktor. Gedanken aus Sicht der vorsorgenden Rechtspflege, in: Weber, Albrecht (Hrsg.), Währung und Wirtschaft. Das Geld im Recht. FS für Hugo J. Hahn, S. 675.

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letzung des Rechtssicherheitsprinzips. Dem für diese Verletzung erforderlichen hohen Ausmaß an Unsicherheit entspricht ein relativer Begriff von Rechtssicherheit. Die Festlegung des für die Verletzung des Rechtssicherheitsprinzips zureichenden Maßes an Unsicherheit ist also von entscheidender Bedeutung. Kann der Staat beispielsweise im Namen der Rechtssicherheit die Variation der Auswirkungen der Feststellung der Verfassungswidrigkeit pro futuro postulieren, mit dem Argument, dass die Aufhebung der vergangenen Wirkungen Instabilität zur Folge haben wird? Welche Instabilität, oder, besser, wieviel Instabilität ist notwendig, um die Aufgabe der Regel der Wirksamkeit ex tunc der Entscheidungen zu rechtfertigen? Ist das Loch im Staatshaushalt ein Grund der Instabilität der Rechtsordnung? Ein weiteres Beispiel: kann der Steuerzahler mangelnde Loyalität des Staates, der sein Vertrauen enttäuscht hat, anführen, wenn der Staat minimal und schrittweise die Steuernorm ändert, um sie den Bedürfnissen des Außenhandels anzupassen? Diese und andere Fragen sind zu beantworten, bevor man die Verletzung oder Nichtverletzung des Rechtssicherheitsprinzips feststellt. ff) Rechtfertigungsaspekt (oder: Rechtssicherheit wozu und warum?) (1) Sicherheit mit funktionalem Wert Rechtssicherheit kann als Wert in sich (als bloß funktionaler Wert) oder als In­ strument der Verwirklichung anderer Werte (instrumenteller Wert) untersucht werden. Rein funktionale Werte haben keinen zusätzlichen Wert jenseits des Werts, der von ihrer Funktion verkörpert wird195. So kann ein Messer nur deswegen gut sein, weil es geschliffen ist und etwas schneiden kann; was es schneidet, ist unwichtig, weshalb das Messer einen Wert hat, der sich aus seinem Schliff ergibt, unabhängig von jedem anderen zusätzlichen Element. Das Messer kann aber auch als gut bezeichnet werden, weil es bestimmte Dinge schneiden kann; dann wird es positiv oder negativ nach dem Wert dessen bewertet, was es schneiden kann. Ein Messer bloß danach zu bewerten, dass es geschärft ist, ohne jeden zusätzlichen Wert, bedeutet, ihm einen bloß funktionalen Wert zuzuschreiben. Ihm zusätzlichen Wert durch Angabe der Gegenstände, die es schneiden kann, zu geben, bedeutet, ihm einen instrumentellen Wert zuzuschreiben. Was in diesem einfachen, bloß zur Veranschaulichung vorgestellten Beispiel des Messers der Fall ist, gilt auch für die Rechtssicherheit: sie kann aus dem einfachen Grund positiv bewertet werden, dass sie Verständlichkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit ermöglicht, ohne jeden zusätzlichen Wert, oder sie kann aufgrund der Werte bestimmt werden, deren Verwirklichung sie dient. Im ersten Fall hat sie einen bloß funktionalen Wert-sie ist einfach deswegen wichtig, weil sie die Vorausetzung für Orientierung von Menschen ist; im zweiten Fall hat sie einen instrumentellen Wert-sie ist wertvoll, da sie, 195

Andrei Marmor, Law in the age of pluralism, S. 9.

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indem sie die Voraussetzung der Orientierung von Menschen ist, die Berücksichtigung der Ausübung der Freiheit und der menschenwürdigen Behandlung erlaubt. So wird der Rechtssicherheit ein funktionaler Wert zugeschrieben, wenn man davon ausgeht, dass sie einen Wert in sich hat, also eine Forderung darstellt, die unabhängig davon, ob sie Instrument anderer Werte ist, einen Wert in sich hat: eine Rechtsordnung, die Rechtssicherheit gewährleistet, ist schon als solche wünschenswert. Sicherheit in diesem Aspekt kann aber noch auf zwei Weisen verstanden werden. Einerseits kann die Rechssicherheit einen immanenten Wert haben, unabhängig vom Wert der Gerechtigkeit. Zu diesem Verständnis gelangt man, wenn man berücksichtigt, dass Sicherheit an sich schon ein Wert ist. Man spricht von Sicherheit ihrer selbst zuliebe („certainty for its own sake“). Dieses Verständnis kennzeichnet einen normativen Formalismus, unter dem die Auffassung vom Recht zu verstehen ist, nach welcher zumindest irgendeine Regelung immer besser ist als nur gerechte Regelungen. In anderen Worten: vertreten wird die Sicherheit trotz der Ungerechtigkeit, da Sicherheit eine Form der allgemeinen Gerechtigkeit ist. Ein voraussehbares, stabiles und gewisses System ist wichtig, vor allem um Willkür, Kasuistik und die Erwartungsenttäuschung zu vermeiden196. Andererseits kann die Rechtssicherheit einen immanenten Wert darin haben, dass sie andere Werte einschließt, in dem Sinn, dass sie selbst in einer ungerechten Rechtsordnung einen zusätzlichen Wert gewährleistet. Trotz Ungerechtigkeit gäbe es zumindest Sicherheit. Zugrundeliegt die Idee, dass selbst im Fall von Ungerechtigkeit das Vorliegen der Rechtssicherheit den Bürgern zusätzliche Vorteile bringt, da sie strategisch handeln und damit versuchen können, ungerechtere Praktiken zu vermeiden. Diese Feststellung würde einen immanenten Wert der Rechtssicherheit in dem Sinn aufzeigen, dass ein ungerechtes System mit Rechtssicherheit besser als ohne Rechtssicherheit ist. Maccormick und Summers scheinen diese Position zu vertreten197. Rechtssicherheit in einem ungerechten System hätte also zumindest die Funktion, größere Ungerechtigkeiten zu vermeiden198. (2) Sicherheit mit instrumentellem Wert Die Rechtssicherheit kann andererseits als andere, die Autonomie des Einzelnen betreffende Rechte gewährleistendes Instrument gesehen werden199. Man sprich daher von Leben, Freiheit und Eigentum in Sicherheit wegen der stabilisierenden 196

Brian Z. Tamanaha, Law as a Means to an End – Threat to the Rule of Law, S. 230. Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, S. 63; Robert Summers, Lon L. Fuller, S. 66. 198 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 170. 199 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 220 sowie 228; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 668. 197

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und gewährleistenden Rolle der zur Ausübung der Freiheit notwendigen Bedingungen200. Diese Ausübung der Autonomie des Einzelnen setzt die Kenntnis der bestehenden und geltenden Normen sowie ihre Stabilität in der Zeit voraus, da ohne diese Elemente die Menschen nicht mehr imstande wären, ihre Zukunft zu planen und zu entwerfen201. Dies erklärt, warum Rümelin die Rechtssicherheit immer in Verbindung mit den Interessen des Bürgers untersucht, in Verbindung also mit den Interessen der Bestimmtheit, der Gleichheit, Freiheit, des Beweissicherungsnteresses, der Stabilität und Kontinuität202. Die Behandlung vom Interessenstandpunkt aus ist eine subjektivierte und damit instrumentelle Form der Untersuchung der Rechtssicherheit. Daher auch die Behauptung von Recasens Riches, dass das „Rechtliche nicht ein Zweck in sich ist, sondern ein besonderes Mittel im Dienst der Verwirklichung mehrerer Zwecke“203. Aus eben diesem Grund hat Reale die Rechtssicherheit in die Klasse der „Mittelwerte“, aufgenommen, im Gegensatz zu den „Zweckwerten“ wie etwa im Fall der Gerechtigkeit204. Rechtssicherheit würde also der Autonomie des Einzelnen dienen205. Ataliba hat dies sehr emphatisch wie folgt herausgestellt: „Die Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns, die sich aus dem Schema der starren Verfassung ergibt, und die Repräsentativität des gesetzgebenden Organs gewährleisten den Bürgern mehr noch als die in Art. 5 aufgeführten Rechte den Frieden und die Atmosphäre des Vertrauens, die sie psychisch instandesetzen zu arbeiten, sich zu entwickeln, sich zu behaupten und ihre Persönlichkeit auszuweiten“206.

Da Rechtssicherheit bestehen muss, damit andere Rechte ebenfalls bestehen können, wird sie von Grau als Zielwert und von anderen Autoren als „Gewährleistungsrecht“ bezeichnet207. Sie ist keine „Gewährleistung“ wie das Sicherungsmandat (mandado de segurança)  oder das Habeas corpus in der Sprache der brasilianischen Bundesverfassung von 1988, da die Gewährleistung ein äußeres, 200

Winfried Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 102; Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 162. 201 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 221; Neil MacCormick, Diritto, ‚Rule of Law‘, e democrazia, in: Comanducci, Paolo / Guastini, Riccardo (Hrsg.), Analisi e Diritto, S. 194. 202 Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, S. 9 ff. 203 L.  Recasens Siches, Tratado General de Filosofía del Derecho, S. 222. Vgl. Ebenfalls: Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 84. 204 Miguel Reale, Geleitwort zu Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. VI. 205 Hanns Uhlrich, La sécurité juridique en Droit Économique allemand: observations d’un privatiste, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 92. 206 Geraldo Ataliba, República e Constituição, 2. Aufl., S. 169. 207 Eros Roberto Grau, O Direito posto e o Direito pressuposto, 7. Aufl., S. 186; Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 53 ff. sowie 456.

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normalerweise prozessrechtliches, dem Schutz eines Rechts dienendes Instrument ist. Das Grundgesetz sieht Habeas corpus nicht ausdrücklich vor, aber Art. 104 Abs. 2 und 3 GG gewährleistet das Recht der Bürger darauf, dass ein Richter über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung entscheidet. Hinsichtlich des Sicherungsmandats (mandado de segurança) handelt es sich um eine schnellere Klage, die ausdrücklich in der brasilianischen Verfassung vorgesehen ist und deren Zweck der Schutz des Bürgers gegen Verletzungen wohlerworbener und sicherer Rechte seitens einer staatlichen Behörde ist. Deshalb werden beide als Beispiele prozessrechtlicher Gewärleistungsinstrumente zum Schutz verfassungsrechtlich verbriefter Rechte verstanden. Die Rechtssicherheit ist demgegenüber ein „Gewährleistungsrecht“, d. h. ein Recht, dessen Verwirklichung der Verwirklichung eines anderen Rechts dient208. Im Hinblick auf diese subtile Unterscheidung behauptet Torres einerseits, dass die Unterprinzipien des Rechtssicherheitsprinzips wie die Gesetzmäßigkeit, das Rückwirkungsverbot und die Vorzeitigkeit „prinzipielle Sicherheiten“ darstellen209, betont aber andererseits, dass das Prinzip der Rechtssicherheit selbst nicht mit anderen prozessrechtlichen Instrumenten zu verwechseln ist wie dem Sicherungsmandat ebensowenig mit prozessrechtlichen Garantien wie dem Recht auf umfassende Verteidigung und auch nicht mit institutionellen Garantien wie der rechtsprechenden Gewalt210. Wenn der Terminus „Sicherheit“ als Garantie verwendet wird, will man damit nur die instrumentelle Natur der Rechtssicherheit in Bezug auf andere Rechte veranschaulichen, denn „Garantie“ bedeutet nichts anderes als ein Rechte gewährleistendes Instrument211. Wesentlich ist also, dass die Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns in diesem Verständnis, um Carvalho zu zitieren, Raum für die Planung zukünftiger Handlungen eröffnet, deren rechtliche Normierung die Bürger kennen können212. Nun ist darauf hinzuweisen, dass die Annahme der instrumentellen Natur der Rechtssicherheit einerseits nichts über die Werte aussagt, zu deren Verwirklichung sie das Instrument abgibt, andererseits aber nichts über den Wert dieser instrumentellen Natur selbst aussagt, also nichts darüber, ob der Wert in sich zureichend oder nicht zureichend ist, um diese anderen Werte zu gewährleisten. Dies erklärt die Notwendigkeit, in der Rechtsordnung die Fundamente der instrumentellen Bindung der Rechtssicherheit aufzufinden. Diese Vorkehrung ist-wie wir noch einmal unterstreichen-unabdingbar, wenn Sicherheit nicht zum Instrument irgend 208

Paul Roubier, Théorie générale du Droit, 2. Aufl., S. 334; Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 53. 209 Ricardo Lobo Torres, Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, in: Silva Martins, Ives Gandra da (Hrsg.), Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, S. 64. 210 Ricardo Lobo Torres, Segurança jurídica e as limitações ao poder de tributar, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação, S. 434; Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional, Financeiro  e Tributário. Bd. 2. Valores  e Princípios Constitucionais Tributários, S. 172; Ricardo Lobo Torres, Liberdade, Segurança e Justiça, in: Carvalho, Paulo de Barros (Hrsg.), Justiça tributária, S. 687. 211 José Souto Maior Borges, O princípio da segurança jurídica na criação e aplicação do tributo, in: RDDT 22 (1997), S. 25. 212 Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 21. Aufl., S. 166.

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einer Konzeption verkommen soll. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Untersuchung des Generals Göring, bezeichnenderweise aus dem Jahr 1935, in welcher der Verfasser behauptet, dass Rechtssicherheit ein ausschließliches Ins­ trument der „Volksgemeinschaft“ sei und niemals egoistischen Zielen des Einzelnen dienen dürfe213. Im Hinblick auf den ersten Aspekt wird die vorliegende Arbeit, wie noch an angemessener Stelle hervorzuheben sein wird, die These vertreten, dass die Rechtssicherheit ein Instrument zur Verwirklichung der Werte der Freiheit, Gleichheit und Würde ist: sie ist ein Instrument zur Verwirklichung der Freiheit. Je besser nämlich der materielle und geistige Zugang des Bürgers zu den von ihm zu befolgenden Normen ist und je höher die Stabilität dieser Normen ist, desto bessere Bedingungen wird der Bürger haben, um sein Leben in der Gegenwart zu entwerfen und seine Zukunft zu planen. Rechtssicherheit ist ein Instrument zur Verwirklichung der Gleichheit. Je allgemeiner und abstrakter nämlich die Normen sind und je gleichförmiger sie angewandt werden, desto mehr werden die Bürger gleich behandelt werden. Rechtssicherheit ist schließlich auch ein Instrument zur Verwirklichung der Würde. Je zugänglicher und stabiler nämlich die Normen sind und je besser gerechtfertig sie angewandt werden, desto intensiver wird der Bürger als der Selbstbestimmung fähiges Wesen behandelt werden, sei es durch die Achtung der in der Vergangenheit ausgeübten Autonomie in der Gegenwart oder durch die Achtung der in der Gegenwart ausgeübten Autonomie in der Zukunft. Die Rechtssicherheit übernimmt damit eine Gewährleistungsfunktion214. In Hinblick auf den zweiten Aspekt können, selbst wenn man den instrumentellen Wert der Rechtssicherheit im Verhältnis zu anderen Werten anerkennt, der instrumentellen Natur selbst unterschiedliche Werte zugeschrieben werden: einerseits kann Rechtssicherheit als notwendiger und hinreichender Wert zur Gewährleistung der Freiheit verstanden werden, in dem Sinn, dass nach der Gewährleistung der Rechtssicherheit die Freiheit automatisch geschützt ist, wie dies Hayek tut215; andererseits kann die Rechtssicherheit als notwendiger, aber nicht hinreichender Wert verstanden werden, in dem Sinn, dass das Recht, obwohl voraussehbar, Inhalte haben kann, die der selbständigen Ausübung der Freiheit entgegenstehen, wie es Rawls und Waldron vertreten216. In diesem letzten Sinn kann man behaupten, dass ohne Rechtssicherheit keine Freiheit bestehen kann, mit Rechtssicherheit aber nicht notwendig Freiheit gegeben ist. Hervorzuheben ist jedoch, dass diese letztgenannte Konzeption sich nur vertreten lässt-wie später noch deutlicher werden wird –, wenn man einen Begriff 213 Hermann Göring, Die Rechtssicherheit als Grundlage der Volksgemeinschaft, in: Frank, Hans (Hrsg.), Schriften der Akademie für Deutsches Recht, S. 6. 214 Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 69. 215 Friedrich A. Hayek, The Constitution of Liberty, S. 155. 216 John Rawls, A Theory of Justice, S. 235 ff.; Jeremy Waldron, The Rule of Law in Contemporary Liberal Theory, in Ratio Juris 2 (1989), S. 85.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

der Rechssicherheit im Sinn von Sicherheit des Rechts vermittels der strukturellen Anforderungen an die Rechtsordnung wählt: das Recht kann voraussehbar und stabil sein und dennoch nicht die autonome und freie Ausübung der Freiheit zulassen, etwa bei willkürlicher Anwendung. Wenn jedoch eine umfassendere Konzeption von Rechtssicherheit gewählt wird, die nicht nur die statischen und strukturellen Elemente der Rechtsordnung umfasst, sondern auch ihre dynamischen und funktionellen Elemente, wie die Kontinuität und das Willkürverbot, wird das Freiheitsmaß umso höher sein, je höher der Grad an Rechtssicherheit ist. Ataliba erinnert zu Recht daran, dass man ohne Verlässlichkeit und Berechenbarkeit in einer Marktwirtschaft weder arbeiten, produzieren, unternehmerisch tätig sein noch handeln kann217. Wesentlich ist bis zu diesem Punkt der vorliegenden Arbeit, das Verständnis zu festigen, dass Rechtssicherheit die Voraussetzung der Freiheit ist. GURY drückt dies auf suggestive Weise wie folgt aus: „Sicherheit ist Verfassungsvoraussetzung, Freiheit ist Verfassungsinhalt“.218 Rechtssicherheit ist somit ein wesentlicher Wert, ohne dessen Vorliegen die übrigen Werte schwerlich verwirklicht werden können, wie Villegas bemerkt219. Nach der Untersuchung der die Struktur des Rechtssicherheitsprinzips ausmachenden finalistischen Aspekte müssen wir jetzt zur Analyse der instrumentellen Aspekte der Rechtssicherheit übergehen. Das sind diejenigen Aspekte, die sich auf die zur Förderung der Idealzustände notwendigen Mittel beziehen. f) Instrumentelle Aspekte – die notwendigen Mittel zur Erreichung des Ziels aa) Sachaspekt (1) Menschliches Verhalten In ihrer Eigenschaft als Normgattung wurde Rechtssicherheit oben als Prinzip bestimmt. Als solches erfordert sie die Verwirklichung eines Sachverhalts, dessen graduelle Förderung von der Wahl bestimmter Verhaltensweisen abhängt. Diese Verwaltensweisen, wie etwa die Veröffentlichung eines Gesetzes oder die Einführung von Übergangsregeln, erzeugen also „Mittel“, „tatsächliche Bedingungen“ oder „Rechtsgüter“, die für die Verwirklichung des Zustands der Rechtssicherheit notwendig sind220. So gibt es so etwas wie eine Kette von zu berücksichtigenden Elementen: das Rechtssicherheitsprinzip setzt die Verwirklichung von Idealzu 217

Geraldo Ataliba, República e Constituição, 2. Aufl., S. 178. Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 154. 219 Héctor Villegas, Principio de seguridad jurídica en la creación y aplicación del tributo, in: RDT 66 (o. J.), S. 15. 220 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 252. 218

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ständen (der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit) durch; die Förderung dieser Idealzustände hängt vom Vorliegen der faktischen Bedingungen ab; das Vorliegen dieser faktischen Bedingungen hängt seinerseits von der Wahl von Verhaltensweisen ab; die Wahl dieser Verhaltensweisen wird entweder mittelbar durch die konkrete Einführung von Regeln (Entscheidungen) oder unmittelbar durch die abstrakte Voraussicht der das Rechtssicherheitsprinzip konkretisierenden Regeln bestimmt. Diese Elemente (Verhaltensweisen à faktische Bedingungen à Sachverhalt à Rechtssicherheit) machen die Struktur des Rechtssicherheitsprinzips aus. Wir können somit behaupten, dass Rechtssicherheit eine Rechtsnorm ist, welche die Wahl menschlicher Verhaltensweisen bestimmt, die zur Förderung eines Zustands der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts beitragen, wobei die Konkretisierung dieses Zustands von abstrakten oder konkreten Regeln abhängt. Rechtssicherheit ist, anders gewendet, eine Norm, welche die Verwirklichung eines Sachverhalts bestimmt, der, wie schon ausgeführt worden ist, durch die Fähigkeit des Einzelnen bestimmt ist, sein Handeln in Würde strategisch zu planen, in Kenntnis und Achtung der Rechtsordnung. (2) Wirkungen Die Anwendung einer Regel beinhaltet die Untersuchung, ob der Begriff der in ihrem Tatbestand vorgesehenen Tatsache oder Handlung mit dem Begriff der vorgefallenen Tatsache oder ausgeübten Handlung korrespondiert. Die geschuldete Verhaltensweise ist mittel- oder unmittelbar im Tatbestand vorgesehen. Dies ist aber bei Prinzipien nicht der Fall. Hier kann die geschuldete Verhaltensweise nicht durch ihre begriffliche Bestimmung festgestellt werden, sondern durch die auf einen Sachverhalt bezogenen Wirkungen. Ihre Definition erfolgt nicht durch Beschreibung, sondern durch Feststellung der Wirkung. So sind die geforderten Verhaltensweisen diejenigen, die zur Förderung des Sachverhalts beitragen, dessen Förderungspflicht ihre Wahl rechtfertigt. Beim Rechtssicherheitsprinzip ist also festzustellen, welches die Verhaltensweisen sind, deren Wahl einen Beitrag zur Förderung der faktischen Bedingungen leistet, welche die Idealzustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts ausmachen. Das ganze erste Kapitel des zweiten Teils dieser Arbeit ist der Abgrenzung dieser Verhaltensweisen gewidmet. Einige davon sind schon Gegenstand abstrakter Regeln, andere hängen von der Veröffentlichung konkreter Entscheidungen ab: Verkündung von Gesetzen, Bekanntgabe bei Verwaltungsakten und Entscheidungen, Bestimmung der allgemeinen Parameter der Steuerpflichten, Ausschluss normativer Innovationen bezüglich wohlerworbener, konsolidierter und zugesicherter Rechte, Einführung von Übergangsregeln, verschobene und prospektive Wirkungen im Falle von Änderungen der Verwaltung bzw. der Rechtsprechung usf. Hier kommt es darauf an, hervorzuheben, dass diese Verhaltensweisen so verpflichten

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

wie die in den Rechtsregeln vorgesehenen. Die Normierung des Verhaltens durch Wirksamkeitsimplikation ist nicht weniger obligatorisch als die durch Beschreibung des Tatbestands. Es handelt sich nur um unterschiedliche und ergänzende Formen der Normierung menschlichen Verhaltens. bb) Personaler Aspekt (1) Adressat der Handlungspflicht Die Verhaltensweisen, deren Wahl zur Förderung der die Rechtssicherheit ausmachenden Ideale beiträgt, sind drei Gewalten einzuhalten221. So hat die gesetzgebende Gewalt bei der Verkündung von Gesetzen die Bestimmbarkeit der Tatbestände zu gewährleisten, aus ihrem Normbereich die wohlerworbenen Rechte und die durch legitimen Vertrauensschutz gewährleisteten Rechte auszuschließen, die Überraschung durch Übergangsregeln oder Zumutbarkeitsklauseln zu mindern, und so weiter. Die vollziehende Gewalt darf keine früheren Akte aufheben oder für nichtig erklären, aufgrund derer der Steuerzahler Dispositionshandlungen getätigt hat; sie muss Übergangsnormen schaffen, wenn eine plötzliche Änderung der Auffassung eintritt, und so weiter. Und die rechtsprechende Gewalt muss ihre Entscheidungen zureichend und rational begründen, rückwirkende Änderungen der Rechtsprechung vermeiden, Mechanismen der Temperierung oder Mäßigung in der Änderung von Präzedenzfällen verwenden, und so weiter. Wesentlich ist, dass die drei Gewalten, jede in ihrem Befugnisbereich, mitverantwortlich für die Wahl von Verhaltensweisen sind, die zur Förderung der Ideale der Erkennbarkeit, der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Normen beitragen durch diese Ideale konkretisierende Regeln. (2) Nutznießer der Handlungspflicht Der spiegelbildliche Teil zum Adressaten der Handlungspflicht ist ihr Nutznießer. Obwohl die Gesellschaft der letzte Adressat des Sicherheitsprinzips ist, können sowohl seine objektive Dimension als auch seine reflexive Anwendung von dem gefordert werden, der das Ausbleiben seiner Verwirklichung nachweisen kann. Natürlich kann der Einzelne, da die Rechtssicherheit normativ als Zweck gesetzt wird, dessen Erreichung von der Gestaltung der drei Staatsgewalten in ihrem jeweiligen Befugnisbereich abhängt, nicht die Durchführung allgemeiner public policies, die ihn schützen sollen einklagen. Dies besagt jedoch nicht, dass diejenigen, die vom Ausbleiben der Einhaltung der ihren Innhalt ausmachenden 221 Maria Sylvia Zanella Di Pietro, Os princípios da proteção à confiança, da segurança jurídica e da boa-fé na anulação do ato administrativo, in: Motta, Fabrício (Hrsg.), Direito Público Atual: estudos em homenagem ao Professor Nélson Figueiredo, S. 297.

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spezifischen Verhaltensweisen betroffen sind, die Wahl dieser Verhaltensweisen nicht einklagen können. Wer beispielsweise von einem Verwaltungsakt betroffen wird, der in eine Situation eingreift, die durch die Zeit oder durch das Vorliegen eines wohlerworbenen Rechts unantastbar geworden ist, wer durch ein Gesetz betroffen wird, das in seinen Tatbestand einen schon eingetretenen Steuertatbestand oder die irreversible Ausübung der induzierten Freiheit aufnimmt, oder wer von einer gerichtlichen Entscheidung betroffen ist, die eine vorher konsolidierte Auffassung der Rechtsprechung nicht berücksichtigt, hat Anspruch auf eine gericht­liche Anerkennung der Nichterfassung seiner Situation durch diesen Normbereich. Die Nutznießer der Pflicht zur Handlung, die zum Schutz des Sicherheitsprinzips notwendig ist, sind Träger von Rechten, welche die Verwirklichung des Sicherheitsprinzips erzwingen können222. Bis zu diesem Punkt ist untersucht worden, was Rechtssicherheit „bedeuten kann“, d. h. welches ihre Aspekte und welches die verschiedenen Bedeutungen sind, die diese annehmen können. Die Wahl dieses Verfahrens der Zweideutigkeitsreduktion beweist, dass Rechtssicherheit ohne eine fortschreitende Abgrenzung ihrer verschiedenen Aspekte und Dimensionen eigentlich nicht angemessen begrifflich bestimmbar und folglich auch nicht korrekt anwendbar ist. Die wissenschaftliche Untersuchung der Rechtssicherheit setzt, in anderen Worten, die Zerlegung ihrer verschiedenen Aspekte (materialer, objektiver, subjektiver, zeitlicher, quantitativer Aspekt und Rechtfertigungsaspekt) voraus. Wenn bis zu diesem Punkt untersucht worden ist, was Rechtssicherheit „bedeuten kann“, ist es allerdings notwendig, zu untersuchen, was sie „bedeuten soll“: unter den verschiedenen Bedeutungen, die Rechtssicherheit innerhalb eines jeden Aspekts annehmen kann, ist es nun notwendig, zu untersuchen, welcher Aspekt oder welche Aspekte ausgewählt werden müssen. Wie Vonkilch in Anschluss an Schneider sagt, muss die Diskussion vom hermeneutischen „Kopf“ auf die verfassungsrechtlichen „Füße“ gestellt werden223. Dieses Verfahren hängt von der Prüfung der Fundamente der Rechtssicherheit in der Rechtsordnung ab: die brasilianische Bundesverfassung von 1988 wird die Bedeutungen angeben, die unter den möglichen Bedeutungen zu wählen sind. Das soll im Folgenden geschehen. Wie im Vorwort und in dieser deutschen Ausgabe mehrfach ausgeführt wird, bestimmt das deutsche Grundgesetz Bedeutungen von Rechtssicherheit, die den von der brasilianischen Bundesverfassung bestimmten ähnlich sind. Dies wird in der Untersuchung des nächsten Titels deutlicher werden. 222 Ricardo Lobo Torres, Segurança jurídica e as limitações ao poder de tributar, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação, S. 433; Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional, Financeiro e Tributário. Bd. 2. Valores e Princípios Constitucionais Tributários, S. 170; Ricardo Lobo Torres, Liberdade, Segurança e Justiça, in: Carvalho, Paulo de Barros (Hrsg.), Justiça tributária, S. 687; Winfried Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 132. 223 Andreas Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, S. 312.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

II. Begründung der Rechtssicherheit (oder: welches ist die Grundlage der Rechtssicherheit?) „Von welcher Seite man seine Idee auch immer bestimmen mag: das Gesetz ist die Einrichtung der Sicherheit.“ (Giovanni Carmignani, Teoria delle leggi della sicurezza sociale, S. 151) „Die Achtung desRechtsstaats ist notwendig, wenn das Recht die Menschenwürde achten soll. Die Achtung der Menschenwürde beinhaltet die Behandlung der Menschen als Personen, die fähig sind, ihre Zukunft zu planen und zu gestalten. Die Achtung der Würde einer Person schließt also die Achtung seine Autonomie, sein Recht auf Kontrolle seiner Zukunft ein.“ (Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 221) „Unsere Gesetze sind nicht allgemein bekannt, sie sind Geheimnis der kleinen Adelsgruppe, welche uns beherrscht. Wir sind davon überzeugt, dass diese alten Gesetze genau eingehalten werden, aber es ist doch etwas äußerst Quälendes, nach Gesetzen beherrscht zu werden, die man nicht kennt.“ (Franz Kafka, Zur Frage der Gesetze – Fragment, 1920/22) „Gerechtigkeit darf nicht nur geschehen. Sie muss auch gesehen werden, um zu geschehen.“ (Eivind Smith, Constitution et Sécurité Juridique-Norvège, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 234)

Nach einer Behauptung von Cavalcanti Filho „ist der eigentliche Grund des Rechts die Forderung nach Gewissheit und Sicherheit in den sich in der Gesellschaft bildenden Beziehungen“224. Da sie dem Recht innewohnt, wäre die Rechtssicherheit schon durch die Rechtsidee selbst begründet und bedürfte also keiner positiven Begründung. Diese Behauptung ist zwar zutreffend, aber, wie zu gegebener Zeit hervorzuheben sein wird, nicht zureichend, um die Bedeutungen zu benennen, die der Ausdruck „Rechtssicherheit“ annehmen kann und muss. Anders gewendet: obwohl Rechtssicherheit der Rechtsidee selbst immanent ist, kann nur die Rechtsordnung sie normativ als Rechtsprinzip verdichten, das staatliches Handeln wirklich einzuschränken imstande ist. Das Wort „Sicherheit“ steht ausdrücklich im Grundrechtskatalog der CF/88 (Art. 5). Es steht auch in einer Reihe von Bestimmungen der Verfassung: Recht auf Erhalt von Informationen von staatlichen Organen, vorbehaltlich der für die „Sicherheit der Gesellschaft und des Staats unverzichtbaren“ (Art. 5, XXXIII); Recht auf Minderung der mit der Arbeit verbundenen Risiken durch Normen zur Förderung der Gesundheit, Hygiene und „Sicherheit“ (Art. 6, XXII); gemeinsame Kompetenz zur Einführung und Durchsetzung einer Politik der Erziehung für „Verkehrssicherheit“ (Art. 23, XII); Einführung der Amtspflichtverletzung wegen eines Anschlags gegen die „innere Sicherheit des Landes“ (Art. 85, IV); Einführung der 224

Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 52.

II. Begründung der Rechtssicherheit 

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Kompetenz des Rats für Nationale Verteidigung, Kriterien und Bedingungen der Verwendung von Gebieten vorzuschlagen, die für die „Sicherheit des brasilianischen Hoheitsgebiets“ unverzichtbar sind (Art. 91, § 1, III); Einführung der Kompetenz zur Verkündung eines Leitsatzes zur Vermeidung einer schwerwiegenden „Rechtsunsicherheit“ (Art. 103A, § 1); Einführung von auf „öffentliche Sicherheit“ bezogenen Normen (Art. 144); Erfordernisse der direkten Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit durch den Staat aufgrund von Imperativen der „nationalen Sicherheit“ (Art. 173); Bedingungen für die Verbuchung von Spesen, abzüglich der auf „nationale Sicherheit und Verteidigung“ bezogenen (ADCT, Art. 35, § 1, II); Einführung der Erbpacht für Grundstücke im „Sicherheitsstreifen“ (ADCT, Art. 49, § 3). Im deutschen Grundgesetz steht das Wort Sicherheit in einer Reihe von Bestimmungen: Regelung der Beschränkungen zum Zweck der „Sicherung des Bundes oder eines Landes“ (Art. 10Abs. 2 S. 2), Richtervorbehalt im Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung zur „Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ (Art. 13 Abs. 4 S. 1) und „zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ (Art. 13 Abs. 7), Möglichkeit der Einordnung in ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ zur „Wahrung des Friedens“ (Art. 14 Abs. 2), Möglichkeit der Anforderung der Unterstützung des Bundesgrenzschutzes zur „Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ (Art. 35 Abs. 2 S. 1), ausschließliche Gesetzgebung des Bundes für die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder „zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes“ (Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b), konkurrierende Kompetenz für die Gesetzgebung über die „wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 a), Regelung der „Aufgaben der Flugsicherung“ (Art. 87 d Abs. 1 S. 2) und Regelung der „notwendigen Standards und Sicherheitsanforderungen“ bei der „Kommunikation zwischen ihren [scil. des Bunds und der Länder] informationstechnischen Systemen“ (Art. 91 c Abs. 2 S. 1). Der Oberste Bundesgerichtshof hat schon mehr als einmal die verfassungsrechtliche Dignität des Rechtssicherheitsprinzips bestätigt. Wir erinnern hier an Aussagen des Richters Gilmar Mendes, derzufolge das Rechtssicherheitsprinzip: „wie man weiß, auch bei uns verfassungsrechtlichen Rang hat“ und: „Hinsichtlich der Rechtssicherheit besteht kein Zweifel daran, dass sie im Allgemeinen von der in- und ausländischen Rechtswissenschaft akzeptierten Rechtsstaatsprinzip selbst ihren Ausdruck findet“225. Die Erforschung des Fundaments der Rechtssicherheit könnte also überflüssig anmuten. Das Rechtssicherheitsprinzip wäre schon statuiert, es müsste vom Interpreten nicht eigens konstruiert und nicht einmal rekonstruiert werden. Es würde 225

HC Nr. 82.959, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 01. 09. 06. Votum des Richters Gilmar Mendes, S. 64, 76. In derselben Richtung: Geschäftsordnungsfrage im Antrag Nr. 2.900, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 01. 08. 03; MS Nr. 24.268, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 17. 09. 04.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

ausreichen, es als fix und fertig zu entdecken, seine Erfindung wäre nicht im geringsten notwendig. Dieser anfängliche Eindruck löst sich sofort auf, wenn wir folgende Fragen stellen: bezieht sich der von der CF/88 verwendete Begriff der „Sicherheit“ auf Rechtssicherheit als leitende Idee des Rechts, oder auf physische Sicherheit als Garantie der Unversehrtheit des Bürgers gegen äußere Bedrohungen oder gegen Bedrohungen des Hoheitsgebiets, im Hinblick auf Invasionen durch andere Länder? Wenn er sich auf das Rechtssicherheitsprinzip bezieht und wenn er auch durch den Obersten Bundesgerichtshof anerkannt ist, verbleibt noch die Frage: was genau erfordert dieser Begriff? Erfordert er Sicherheit des Rechts, vermittels des Rechts, vor dem Recht, unter dem Recht, von Rechten, durch ein Recht oder als ein Recht? Falls er Sicherheit des Rechts erfordert: erfordert er „Sicherheit“ in welchem Sinn: als absolute Vorhersehbarkeit oder nur als relative Kenntnis seiner Normen? Falls Sicherheit vermittels des Rechts: erfordert er Sicherheit, um die Ausübung der Freiheit für den Bürger zu gewährleisten oder um die Erreichung staatlicher Zwecke durch den Staat zu erlauben oder um beides zu erreichen? Die Antwort auf diese und andere Fragen beginnt erst nach der Berücksichtigung der Fundamente der Rechtssicherheit. Heißt das, dass die bloße Feststellung, dass die CF/88 die „Sicherheit“ im wörtlichen Sinn gewährleistet, nicht erlaubt, auf einige fundamentale mit Sicherheit zusammenhängende Fragen zu antworten: welche Sicherheit? Sicherheit wovon? Sicherheit auf welche Weise? Sicherheit durch wen? Sicherheit für wen? Sicherheit aus wessen Sicht? Sicherheit wann? Sicherheit mit welchem Gewicht? Sicherheit wie festgestellt? Die gleichen Fragen sind auch bei der Untersuchung des Themas im deutschen Grundgesetz zu stellen. Obwohl die Rechtssicherheit sich unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip herleitet (Art. 20 und 28 Abs. 1), ist diese Garantie-addiert zu den anderen Sicherheitsgarantien im Verfassungstext-nicht ausreichend, um einige grundlegende auf sie bezogene Fragen zu beantworten, wie etwa: welche Sicherheit? Sicherheit wovon? Sicherheit wie? Sicherheit für wen? Usw. Die Sichtung der genannten Verfassungsbestimmungen offenbart jedoch die Komplexität der CF/88: im Unterschied zu anderen Verfassungen enthält sie nicht nur den ausdrücklichen Schutz der „Sicherheit“, mit welcher Bedeutung auch immer; sie sieht auch mehrere der Elemente, die der Sicherheit normalerweise von der Rechtswissenschaft zugeschrieben werden, ausdrücklich vor: die Garantien der Gesetzmäßigkeit, des Rückwirkungsverbots und der Vorzeitigkeit, die Pflichten der Öffentlichkeit und Sittlichkeit, das Recht auf umfassende Verteidigung und das ordnungsgemäße Verfahren, um einige Beispiele zu nennen226. Wenngleich auch mittelbar, sieht auch das Grundgesetz mehrere Elemente vor, die normalerweise 226

Paulo de Barros Carvalho, Segurança jurídica e modulação dos efeitos, in: Revista da Fundação Escola Superior de Direito Tributário 1 (2008), S. 207; Ingo Wolfgang Sarlet, A eficácia do direito fundamental à segurança jurídica: dignidade da pessoa humana, direitos fundamentais e proibição de retrocesso social no Direito Constitucional brasileiro, in: Rocha, Cármen Lúcia Antunes (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada. Estudos em homenagem a José Paulo Sepúlveda Pertence, S. 91.

II. Begründung der Rechtssicherheit 

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der Idee der „Sicherheit“ zugeschrieben werden, wie die Garantien der Gesetzmäßigkeit (Art. 2 Abs. 2), der Nichtrückwirkung der Strafbarkeit (nulla poena sine lege, Art. 103 Abs. 2) und der Öffentlichkeit (Art. 82), sowie andere, die aus dem Verfassungstext abgeleitet werden können, so vor allem das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 und 28 Abs. 1 S. 1), die Menschenwürde (Art. 1), der Schutz der Freiheit (Art. 2) und das Gleichheitsprinzip (Art. 3). In dieser Vielzahl von Bestimmungen müssen wir also einen Bezugspunkt wählen, um ihre Fundamente zu entdecken, da man ja nur etwas vorab Bestimmtes suchen kann. So paradox dies anmuten mag, hängt die Suche nach dem Fundament von der vorgängigen Bestimmung des zu Suchenden ab227. Das Finden geht der Suche sozusagen voraus. Man kann nicht nichts, sondern nur etwas suchen. Anders gesagt: die Bestimmung geht das Finden voraus. In diesem Sinn und deswegen wurde eine einleitend minimale Definition von Rechtssicherheit gewählt, wie im vorherigen Kapitel ausgeführt worden ist. Ihr Gegenstand ist das, was Rümelin die drei Elemente der Rechtssicherheit genannt hat, obwohl er weder die Fundamente noch die Kriterien angegeben hat: Verständlichkeit, Verlässlichkeit oder Ernsthaftigkeit und Berechenbarkeit des Rechts228. Die Vorstellung von Rechtssicherheit ist somit an die Ideen der Stabilität und Vorhersehbarkeit gebunden229. So ist es erforderlich, im Ausgang von diesem Anfangspunkt in der CF/88 die Rechtsnormen zu suchen, die direkt die Mittel vorsehen, um diesen Zustand der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit herbeizuführen (Regeln), oder die auf diese Zustände verweisen, wobei es dem Anwender überlassen bleibt, die Mittel unter den für die Herbeiführung dieser Zustände geeigneten Mitteln zu wählen (Prinzipien). Die gleiche Arbeit ist für das Grundgesetz durchzuführen. In diesem Rahmen kann man einen Normarchetyp konstruieren, der-mit Verlaub für das Bild-die verschiedenen normativen Nebenflüsse offenbart, die in den großen Fluss der Rechtssicherheit einmünden. Wichtig ist einstweilen die Feststellung, dass die Rechtssicherheit nicht notwendig eine schriftliche Grundlage erfordert, was sie keinesfalls des verfassungsrechtlichen Fundaments beraubt230. Obwohl diese Untersuchung trivial anmuten mag, ist sie komplex, da die brasilianische CF/88 direkte und indirekte Fundamente der Rechtssicherheit statuiert, wie sie hier vorläufig definiert worden ist. Die direkten Fundamente entsprechen dem ausdrücklichen Schutz der „Sicherheit selbst“ (Art. 5, ) oder dem Schutz der

227

Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, S. 9 ff. Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, S. 9 ff. In der gleichen Richtung Oscar Adolf Germann, Rechtssicherheit, in: DERS., Methodische Grundfragen. 6. Aufsätze, S. 55; Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 114; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 104; Rafael Maffini, O princípio da proteção substancial da confiança no Direito Administrativo brasileiro, S. 50. 229 Odete Medauar, Segurança jurídica  e confiança legítima, in: Ávila, Humberto (Hrsg.), Fundamentos do Estado de Direito, S. 115. 230 Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 47. 228

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

reflexiven Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips selbst vermittels der Gewährleistung des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft (Art. 5, XXXVI). Die indirekten Fundamente bestehen aus Regeln und Prinzipien, die je nach dem Gesichtspunkt, von dem aus sie untersucht werden, mal die weniger umfassenden Mittel oder Zwecke offenbaren, von denen aus die strukturierenden Elemente der Rechtssicherheit induktiv ableitbar sind, mal die umfassenderen Zwecke, von denen dieselben Elemente deduktiv ableitbar sind. Diese indirekten Grundlage werden auf unterschiedliche Weisen durch die Verfassungsordnung statuiert231. Das Grundgesetz statuiert auch Grundlagen der Rechtssicherheit, vor allem mittelbare Grundlagen. Erstens erfordert die CF/88 die Suche nach umfassenderen Zwecken (Rechtsstaat und sozialer Rechtsstaat), welche die Ableitung von eingeschränkteren Zwecken, die für die Erreichung der Rechtssicherheit notwendig sind (Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit) erlauben. In dieser Situation hat die Verfassung an Stelle von Mitteln oder eingeschränkeren Zwecken weitere Zwecke statuiert, die ihrerseits die Deduktion von eingeschränkteren Zwecken erlauben, die in ihrer Gesamtheit die Ideale der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der (und durch die) Rechtsordnung kennzeichnen. Hier erfolgt die Entdeckung der Elemente der Rechtssicherheit deduktiv im Ausgang von Oberprinzipien, welche die Verwirklichung der umfassenderen Zwecke hinsichtlich der Rechtssicherheit durchsetzen (in schematischer Darstellung: Rechtsstaat → Rechtssicherheit → Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit)232. In diesem Aspekt funktioniert die Rechtssicherheit als Mittel zur Erreichung anderer Zwecke. Diese Argumentation ist auch im Fall des Grundgesetzes anwendbar. Es fordert gleichfalls diese umfassenderen Zwecke: in Art. 20 Abs. 1 wird die Bundesrepublik Deutschland als „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ bestimmt, und in Art. 28 Abs. 1 wird die Achtung vor den „Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechsstaates“ gefordert. Zweitens bestimmt die CF/88 die Verwirklichung spezifischer Zwecke (Zustände des Schutzes der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit), welche die Ableitung geringerer für die Erreichung der Rechtssicherheit notwendiger Zwecke (Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit) erlauben. In diesem Punikt statuiert die Verfassung, statt direkt die eingeschränkteren Mittel oder Zwecke vorzusehen, spezifische Zwecke, die ihrerseits nur durch das Vorliegen der Voraus­ setzungen, die in ihrer Gesamtheit die Rechtssicherheit offenbaren, voll verwirklicht werden. Hier erfolgt die Entdeckung der Elemente der Rechtssicherheit induktiv im Ausgang von spezifischen Prinzipien, welche die für die Verwirklichung der Rechtssicherheit notwendigen Elemente voraussetzen (in schematischer Dar 231

Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 380. 232 Otto Pfersmann, Constitution et sécurité juridique – Autriche, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 114.

II. Begründung der Rechtssicherheit 

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stellung: Freiheit, Eigentum, Gleichheit → Rechtsssicherheit → Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit). In diesem Aspekt funktioniert die Rechtssicherheit als instrumentelle Voraussetzung der Verwirklichung anderer Zwecke. Diese spezifischen Zwecke sind auch im Grundgesetz vorgesehen, das gleichfalls Zustände der Gewährleistung der Freiheit (Art. 2), des Eigentums (Art. 14) und der Gleichheit (Art. 3) vorsieht. Drittens erfordert die CF/88 die Suche nach eingeschränkteren Zwecken (Zustände der Sittlichkeit und Öffentlichkeit der Verwaltung), die einerseits eine Ableitung der für ihre Verwirklichung notwendigen Verhaltensweisen erlauben (Wahl von seriösen und loyalen Verhaltensweisen, Veröffentlichung der allgemeinen und individuellen Normen und Bekanntgabe unter Mitteilung dessen, was ihn angeht und, andererseits, eine induktive Ableitung der höheren Zwecke, die den Zustand der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der (und durch die) Rechtsordnung erlauben. Vermittels dieser Normierung statuiert die CF/88, statt die Mittel vorzusehen, die, sobald sie gewählt sind, zur Existenz der die Rechtssicherheit ausmachenden Elemente beitragen, eingeschränktere Zwecke, die ihrerseits als Mittel zur Erreichung des umfassenderen Zwecks der Gewährleistung und Erhaltung der Rechtssicherheit fungieren. Die Entdeckung der Elemente der Rechtssicherheit erfolgt hier induktiv im Ausgang von Unterprinzipien, die als weniger umfassende Zwecke in Bezug auf den Zweck fungieren, dessen Erreichung durch das Rechtssicherheitsprinzip angeordnet wird (in schematischer Darstellung: Veröffentlichung und Vorladung → Sittlichkeit, Öffentlichkeit → Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit → Rechtssicherheit). Unter diesem Aspekt funktioniert die Rechtssicherheit auch als Zweck. Auch hier gibt es eine Entsprechung zum Grundgesetz. Wenngleich die Öffentlichkeit auch nicht als Grundrecht formuliert ist, ist sie in Art. 82 vorgesehen (Verkündung der Gesetze und Rechtsverordnungen im Bundesgesetzblatt). Jedenfalls können sowohl die Öffentlichkeit als auch die Sittlichkeit nicht nur aus dem Begriff des sozialen und demokratischen Rechtsstaats (Art. 20 und 28) abgeleitet werden, sondern auch aus der Forderung, dass die Staatsgewalten die in Kap. I (Art. 1 Abs. 3) aufgezählten Grundrechte achten müssen, und auch noch aus der Garantie der Prinzipien des Schutzes der Menschenwürde, der Freiheit, der Gesetzmäßigkeit und der Gleichheit (Art. 1, 2 und 3). Viertens schreibt die CF/88 bestimmte Verhaltensweisen vor (Erlass eines Gesetzes im formellen Sinn, um Abgaben einzuführen; den Beginn des auf das Jahr der Veröffentlichung folgenden Kalenderjahrs abzuwarten, um die Steuern einzufordern, in den Tatbestand nur Ereignisse aufzunehmen, die nach dem Beginn der Geltung des die Abgabe einführenden Gesetzes eintreten werden), deren Wahl Wirkungen hervorruft, die zur Förderung des Zustands der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der (und durch die) Rechtsordnung, gegründet auf ihre Erkennbarkeit, beitragen. Durch diesen Normierungstypus sieht die CF/88 die Mittel vor, die, einmal gewählt, zur Existenz der die Rechtssicherheit strukturierenden Elemente beitragen. Die Entdeckung der Elemente der Rechtssicherheit erfolgt hier induktiv im Ausgang von Regeln (in schematischer Darstellung: Gesetzmäßigkeit,

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Vorzeitigkeit und Rückwirkungsverbot → Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit → Rechtssicherheit). Mit Verlaub für den bildhaften Ausdruck lässt sich sagen, dass die Rechtssicherheit im Ausgang von diesen Regeln gewisser­ maßen „sich von innen heraus aufbaut“233. Unter diesem Aspekt funktioniert sie als ein Zweck. Obwohl das Grundgesetz nicht so minutiös das Finanzsystem regelt, schreibt es ebenfalls Verhaltensweisen vor, deren Wahl Wirkungen hervorbringt, die einen Beitrag zur Förderung des Zustands der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit leisten, etwa bei der Statuierung der Notwendigkeit des Gesetzes bei Eingriffen in Freiheitsrechte (Art. 2 Abs. 2). Die bisherigen Bemerkungen sollten den Nachweis führen, dass die Konstruktion des Rechtssicherheitsprinzips trotz ihrer hohen Komplexität klar durch deduktive und induktive Operationen erklärt werden kann, welche die Fundamente der sie strukturierenden Elemente freilegen. Anders formuliert: die CF/88 schützt die Rechtssicherheit gleichzeitig auf verschiedene Weisen: sie schützt sie unmittelbar, indem sie die Suche nach den sie voraussetzenden Idealen anordnet, Ideale statuiert, die sie instrumentalisieren, oder gar auch Verhaltensweisen vorsieht, die für die Verwirklichung der partiellen sie bildenden Ideale notwendig sind. Es ist offenkundig, dass diese Schlussfolgerung auch für das Grundgesetz zutrifft. Die Untersuchung der Fundamente, so wie sie in dieser Arbeit erfolgt, ist hauptsächlich aus drei Gründen: Erstens, weil keines der nachfolgend untersuchten Fundamente ein ausschließliches Fundament aller die Rechtssicherheit strukturierenden Elemente ist234. Erst eine gemeinsame Analyse wird die Konstruktion aller Fundamente erlauben. Und die Kenntnis aller Fundamente erlaubt die Feststellung der Existenz einer wechselseitigen Beziehung zwischen ihnen, deren Bedeutung dann anerkannt wird, wenn die Untersuchung der Wirksamkeit der Rechtssicherheit vorgenommen wird, denn je ausgedehnter die Fundamente eines Prinzips und je unabhängiger diese Fundamente selbst sind, desto stärker wird ihre Verankerung in der Verfassung sein, desto stärker wird sie auch im Vergleich zu anderen Prinzipien ins Gewicht fallen235. Die Untersuchung der Fundamente ist zweitens, obwohl sie nebensächlich scheinen mag, notwendig, da, obwohl dies nebensächlich scheinen mag, die Untersuchung der Fundamente sehr viele praktische Folgen hat. Einerseits wird die Wirksamkeit der Rechtssicherheit, wenn diese nur auf einer ein individuelles Grundrecht gewährleistenden Norm gegründet ist, sich auf den Schutz des Bürgers beschränken, dessen Freiheit oder Eigentum eingeschränkt ist. Die Wirksamkeit der Rechtssicherheit wird also bloß reflexiv und individuell sein. Wenn statt dessen die Rechtssicherheit ihren Ursprung in Normen hat, die bestimmte Forderungen für 233

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 662. Stefan Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 29–58. 235 Aleksander Peczenik, Scientia Juris, S. 144. 234

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die Produktion von allgemeinen oder individuellen Rechtsnormen statuieren oder den staatlichen Akteuren bestimmte Verhaltensweisen der Loyalität vorschreiben, wird ihre Wirksamkeit die individuelle Dimension überschreiten, um auch eine objektive Dimension zu erreichen, die beispielsweise die Nichtigkeitserklärung einer bestimmten Norm erlauben kann, selbst wenn diese Norm nicht irgendeine subjektive reflexive Wirksamkeit in Bezug auf ein bestimmtes Individuum erfahren hat. Andererseits, wenn die Rechtssicherheit sowohl durch Individualrechte gewährleistende als auch durch staatliche Zwecke statuierende Normen gestützt wird, wird eine Untersuchung des Gewichts, den die CF/88 jedem dieser Fundamente zuschreibt, notwendig sein und sich auf die gleiche Weise um das Gewicht bemühen, welches das Grundgesetz jedem dieser Fundamente zuschreibt. Damit wird man beispielsweise feststellen können, ob die Rechtssicherheit nur individuelle oder auch staatliche Ansprüche stützen kann. Letzteres wäre der Fall beim Versuch, die Wirksamkeit der Erklärung der Verfassungswidrigkeit von Steuernormen mit dem Argument, dass der Gliedstaat auf die Verfassungsmäßigkeit der Abgabe und der sich daraus ergebenden Einkünfte vertraut hätte, pro futurozu beschränken. Die Untersuchung der Fundamente ist drittens notwendig, da der Ausdruck „Rechtssicherheit“ Träger verschiedener Bedeutungen ist und daher nur die Untersuchung der Verfassungsordnung die Erkenntnis seiner normativen Dimension erlauben wird (ob diese eine Tatsache, ein Wert oder eine Norm ist), desgleichen die Erkenntnis seiner Normgattung (Regel oder Prinzip), die Feststellung der Bedeutung von „Sicherheit“ (Erkennbarkeit oder Bestimmung, Verlässlichkeit oder Unveränderlichkeit, Berechenbarkeit oder Vorhersehbarkeit), die Feststellung der Bedeutung von „Recht“ (des Rechts, durch das Recht, vor dem Recht, unter dem Recht, von Rechten, als ein Recht, im Recht), die Feststellung seines Bezugsgegenstands (Rechtsordnung, Norm oder Verhaltensweise), die Feststellung des von der Rechtssicherheit geschützten Subjekts (Steuerzahler oder Staat oder beide), die Feststellung der Perspektive, in der sie konzipiert wird (Sicht des Normalbürgers oder des Fachmanns), die Feststellung der sie schützen sollenden Instanz (Legislative, Exekutive oder Judikative), die Angabe des Zeitpunkts ihrer Verwirklichung (heute oder morgen), die Angabe des Ausmaßes ihrer Gewährleistung (relativ oder absolut) und die Angabe des Grundes ihres Schutzes (als Zweck oder Mittel). Nur eine sorgfältige Untersuchung der Rechtsordnung wird die Antwort auf diese unverzichtbaren Fragen erlauben, ohne welche, wieder mit Verlaub für die bildhafte Formulierung, diese Untersuchung einem Fechtkampf gegen Windböen ähneln würde. Wir dürfen jedoch die „Fundamente“ des Rechtssicherheitsprinzips nicht mit seinen „Elementen“ verwechseln. Erstere beziehen sich auf die normative Grundlage, die ihre Berücksichtigung als Rechtsprinzip rechtfertigt, und beantworten folgende Frage: woher kommt das Rechtssicherheitsprinzip bzw. auf welcher Grundlage wird es errichtet? Letztere beziehen sich auf die Sachverhalte, deren Verwirklichung vom Rechtssicherheitsprinzip angeordnet wird, und beantworten

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

folgende Frage: was beinhaltet das Rechtssicherheitsprinzip? Das erklärt, warum das Rechtssicherheitsprinzip nicht mit der Regel der Gesetzmäßigkeit oder dem Öffentlichkeitsprinzip zusammenfällt, sich jedoch auf zirkelhafte Weise aus ihnen ergibt und sich vermittels ihrer konkretisiert. Die Untersuchung der Fundamente der Rechtssicherheit ist also ein unverzichtbares Mittel des Beginns der Konstruktion ihres Inhalts, ihrer Dimensionen und Wirkungen. Diese Untersuchung ist sowohl in der Gesamtheit der Rechtsordnung als auch an ihren Teilen durchzuführen, wie es nachfolgend geschehen soll.

1. Die Grundlagen im Verfassungsüberbau: die Gesamtsicht Die Untersuchung der Fundamente der Rechtssicherheit hat mit folgender Frage zu beginnen: welche Verfassungsnormen schützen mittel- oder unmittelbar die Erkennbarkeit oder Bestimmtheit, die Verlässlichkeit oder Unveränderlichkeit, die Berechenbarkeit oder Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung? Wir können die Frage auch einfacher formulieren: welche Verfassungsnormen sollen in höherem oder niedrigerem Maß erlauben, dass der Bürger wissen kann, welche Norm in seinem Fall gilt und anwendbar ist, welches ihr Inhalt ist und wie er gewährleisten kann, dass diese bekannte und geltende Norm tatsächlich angewandt wird, bindend und stabil ist? Die Untersuchung der CF/88 zum Zweck der Beantwortung dieser Fragen ergibt eine erste große Überraschung: es handelt sich nicht nur um eine die Rechtssicherheit schützende Verfassung, sondern um eine Verfassung, welche die Rechssicherheit selbst verkörpert. Das bedeutet also, dass sie nicht nur eine Verfassung für die Rechtssicherheit ist, sondern eine Verfassung der Rechtssicherheit par excellence. Damit soll gesagt werden, dass die Verfassung nicht nur die Kompetenz zur späteren Einführung eines Sicherheitssystems (auf unterverfassungsrechtlicher Ebene) vorsieht, sondern dieses System selbst (auf Verfassungsebene) konstituiert. In einem Wort: mehr als die Rolle der Verwirklichung der Sicherheit vorzuschreiben, übernimmt die Verfassung in weitem Maß, wenn auch nicht vollständig, diese Last. Diesen Bemerkungen entspricht auch die an die italienische Verfassung gerichtete, aber noch intensiver auf die brasilianische Verfassung anwendbare Formulierung von Pizzorusso, dass die Rechtssicherheit „ein grundlegendes Prinzip ist, dass die Verfassung insgesamt kennzeichnet, selbst wenn es nicht ausdrücklich und spezifisch in einem ihrer Artikel enthalten ist“236. Wenn man die Ähnlichkeit zwischen der CF/88 und dem Grundgesetz und die Statuierung ähnlicher Rechte in ihren jeweiligen Texten berücksichtigt, drängt sich bei einer Lektüre des Grundgesetzes dieselbe Schlussfolgerung auf. Zu dieser Feststellung kommt man über die Untersuchung des verfassungsrechtlichen Überbaus. Von ihrem Ausmaß her betrachtet ist die CF/88 eher eine Ver 236

Alessandro Pizzorusso / Paolo Passaglia, Constitution et sécurité juridique – Italia, in: Anuaire International de Justice Constitutionnelle, S. 221 f.

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fassung von Regeln als eine Verfassung von Prinzipien. Nach einem einleitenden Teil, in dem die Grundprinzipien der Föderativen Republik Brasilien (Art. 1) und die-übrigens größtenteils durch Regeln gewährleisteten-Individual- und Sozialrechte und-garantien statuiert werden (Art. 5 und 6), erweist sich die Verfassung als großer Katalog von Regeln, die Kompetenzen festlegen und Verfahren und Garantien statuieren. In Wahrheit ist die CF/88 eben keine Prinzipienverfassung, sondern eine regelnde Verfassung. Sie bemüht sich von Anfang an festzulegen, wer die zuständigen Behörden sind, welche Akte zu verkünden sind, welche Materien regelungsbedürftig sind, welche Verfahren zu befolgen sind, welche Materien zu behandeln sind usf. Man kann zusammenfassend behaupten, dass die CF/88, da extrem detailliert in der Normenproduktion, selbst auf folgende Fragen zu antworten versucht: Wer? Was? Wie? Wann? In welchem Maß? Das ganze Verfassungssystem im Allgemeinen und das ganze brasilianische Steuersystem im Besonderen ist darauf angelegt, Antworten auf diese Fragen zu geben. Diese Antworten sind übrigens Lösungen, die präzise dazu berufen sind, Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der und vermittels der Rechtsordnung anzubieten. In nochmaliger Zusammenfassung lässt sich behaupten, dass die CF/88 nicht vertagt hat, die Antworten bezüglich der Ausübung der staatlichen Gewalt und der Verwirklichung der Freiheits-, Eigentums- und Gleichheitsrechte zu geben. Sie selbst hat schon die Ergebnisse geliefert und bis an die Grenze kasuistischer Formulierungen ein System der Rechtssicherheit eingeführt, erkennbar an der unübersichtlichen Menge ihrer Regeln und Prinzipien237. Obwohl das Grundgesetz weit weniger umfangreich als die CF/88 ist, die insgesamt 250 Artikel hat, kann man nicht behaupten, dass es eine bloße Prinzipienverfassung iseist. Es enthält ebenfalls zahlreiche Regeln, wie etwa bei der Normierung des Gesetzgebungsverfahrens (Art. 76 bis 78) und der Festlegung der Gesetzgebungskompetenzen (Art. 73 f.). Indem sie Regeln für den Gesetzgebungsprozess statuiert, so beispielsweise bei der Festlegung von Kompetenzen, der Einführung von Verfahren und der Angabe spezifischer Materien und Quellen für die Normproduktion, begünstigt die CF/88 die Rechtssicherheit bildenden Ideale: wenn der Bürger weiß, wer Normen produzieren kann und welches Verfahren hier einzuhalten ist, kennt und versteht er die von ihm zu befolgenden Normen nicht nur besser, sondern kann ihre zukünftigen Änderungen auch leichter vorwegnehmen und beobachten, so dass er heute die zukünftigen Folgen seiner Handlungen berechnen kann. Indem die Verfassung die Regeln der Tätigkeit der Exekutive statuiert, ebenfalls durch die Festlegung von Kompetenzen, Verfahren und spezifischen Materien und Quellen für die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden, schützt sie die Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung. Wenn der Adressat des Verwaltungshandelns also weiß, welche Behörde handeln darf und muss, was sie tun darf und soll und welches Verfahren sie wählen soll, kennt er nicht nur besser die von ihm zu befolgenden Normen und die Akte, die seine Tätigkeit einschränken oder bestimmten Bedin 237

Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 404 f.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

gungen unterwerfen können, sondern kann gleichfalls die zukünftige Tätigkeit der staatlichen Verwaltung besser vorwegnehmen und seine eigenen Tätigkeiten mit größerer Autonomie planen. Und indem die CF/88 die Regeln der Tätigkeit der Judikative statuiert, ebenfalls durch Festlegung der Kompetenzen und Verfahren der richterlichen Tätigkeit, fördert sie wiederum die Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung: wenn der Beteiligte eines Rechtsstreits weiß, wer seinen Fall wie bearbeiten soll, kennt und versteht er nicht nur besser die Möglichkeiten zur Wahrnehmung seiner Interessen, sondern weiß vor allem von vornherein, dass er nicht willkürlich durch die Einschränkung seiner Tätigkeiten überrascht werden kann, sondern Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Verfahren hat, mit allen schon spezifizierten Garantien. Dieselben Regelungsarten lassen sich auch im Grundgesetz feststellen. Erstens legt es gleichfalls die Regeln des Gesetzgebungsprozesses fest (Art. 70 bis 82) durch Einführung von Kompetenzen und Festlegung von Materien. Zweitens sind dort die Regeln der Tätigkeit der Exekutive ebenfalls spezifiziert (Art. 83 bis 91), wiederum durch Festlegung von Kompetenzen und Normierung der Tätigkeit der Exekutive. Und drittens ist die Tätigkeit der Judikative im Grundgesetz ebenfalls geregelt (Art. 92 bis 104), nämlich durch Festlegung der Verfahren und Statuierung der Kompetenzen. Dies zeigt, dass das Grundgesetz bei der Normierung der Tätigkeit der Legislative, Exekutive und Judikative auch der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung den Vorrang gibt. Diese schlichten Bemerkungen, denen andere (fast von der Länge des Verfassungstexts) hinzugefügt werden könnten, offenbaren nur das von der Verfassung geschaffene Sicherheitssystem: entgegen anderen Verfassungen hat die CF/88 sich für ein System der Vorhersehbarkeit durch detaillierte Regelung der Kompetenzen, Materien, Verfahren und Quellen entschieden238. Damit ermöglicht sie den Bürgern die Kenntnis der Grenzen der Ausübung ihrer Freiheit239. Die Gestaltungsmacht des Gesetzgebers ist keine theoretische, sondern eine rechtsdogmatische Argumentationsfigur: der konkrete Bereich gesetzgeberischer Freiheit entspringt direkt den materialen Verfassungsregeln240. Das genannte System äußert sich noch deutlicher im steuerrechtlichen Bereich: das nationale Abgabensystem besteht aus einer Menge von Normen, deren Zweck es ist, es transparent zu machen, welche Abgaben eingeführt werden können (Art. 145, 148 und 149, 153 ff., 155 ff., 156 ff., 195 ff.), wie sie erhoben werden sollen (Art. 150, I), wann sie gefordert werden können (Art. 150, I u. III) und in welchem Maß sie die Grundrechte der Steuerzahler einschränken können (Art. 150, II u. 150, IV). Das nationale Abgabensystem ist also ein System, das auf Verfassungsebene die Befugnisse des Staates und die Garantien des Steuerzahlers vorbestimmbar zu 238

Geraldo Ataliba, Sistema Constitucional Tributário Brasileiro, S. 39. Vgl. Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 20. 240 Anja Bräunig, Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Wiedervereinigung, S. 177. 239

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machen versucht. „Was“, „Wie“, „Wann“ und „In welchem Maß“ sind Fragen, die schon die CF/88 selbst in Rechtsregeln beantwortet hat241. Indem sie so vorgeht, fördert sie die Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung: indem der Steuerzahler weiß, durch wen Abgaben erhoben werden können, auf welche Tatbestände sie erhoben werden können, durch welche Verfahren sie eingeführt werden können, ab wann und in welchem Maß sie erhoben werden können, kennt und versteht er die von ihm zu entrichtenden Abgaben nicht nur besser und weiß auch nicht nur besser, wie und wann sie erhoben werden können, sondern kann seine Grundrechte der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit auch besser ausüben und zukünftige Besteuerung genauer vorwegnehmen. Obwohl die Regelung des Finanzsystems nicht so eingehend ist wie in der CF/88, beweist die weitläufige Normierung der Aufteilung der Steuerarten schon, dass auch das Grundgesetz sich für ein System der Vorhersehbarkeit vermittels der Regelung der Kompetenzen, Materien, Verfahren und Quellen entschieden hat. Man darf behaupten, dass die Rechtssicherheit sich aus dem Verfassungssystem insgesamt ergibt. Das bedeutet, dass eines ihrer Fundamente nicht in der Verfassung enthalten ist, sondern die Verfassung selbst ist. Rechtssicherheit-um es noch einmal auf andere Weise zu sagen- ergibt sich also nicht nur aus dem von der Verfassung Statuierten, sondern auch aus der Weise dieser Statuierung. Unter Rückgriff auf Metaphern, die schon durch vielfältigen Gebrauch und die Zeit abgenutzt, jedoch noch sehr erklärungsmächtig sind, kann man einerseits die Rechtsordnung mit einem Wald und ihre Normen mit den Bäumen vergleichen; andererseits kann man sie mit einem Gebäude und ihre Normen mit dessen Säulen ineinssetzen. In dieser bildlichen Sprache kann man behaupten, dass die Rechtssicherheit nicht nur durch die Bäume, sondern auch durch den Wald selbst geschützt wird, nicht nur durch die Säulen, sondern gleichermaßen durch die Architektur des Gebäudes. Dieses „Rechtssicherheitssystem“, sichtbar in der Untersuchung der Verfassungsordnung in ihrer Gesamtheit, äußert sich auch in den Teilen der Verfassung, wie nachfolgend zu zeigen ist.

2. Die Grundlagen in der Verfassungsstruktur: die Teilansicht a) Unmittelbare Grundlagen aa) Allgemeiner Schutz der „Sicherheit“ Wie schon bemerkt, sieht die CF/88 ausdrücklich den Schutz der „Sicherheit“ vor. In der Präambel erklärt sie, dass die Vertreter des brasilianischen Volks sich in der Verfassunggebenden Versammlung eingefunden haben, um einen demokra­ 241

Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 464.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

tischen Staat einzurichten, „dessen Zweck die Gewährleistung […] der Sicherheit, des Wohlstands, der Entwicklung, Gleichheit und Gerechtigkeit als oberste Werte einer brüderlichen, pluralistischen und vorurteilslosen Gesellschaft ist, die in der Harmonie der Gesellschaft begründet und in der inneren und äußeren politischen Ordnung sich auf die friedfertige Lösung von Streitfällen verpflichtet“. Wenn wir also die Wörter dieses Passus kombinieren, können wir behaupten, dass die Verfassung einen Demokratischen Staat einrichtet, dessen Ziel die „Gewährleistung der Sicherheit, des Wohlstands, der Entwicklung, der Gleichheit und Gerechtigkeit als oberster Werte einer auf soziale Harmonie gegründete und auf Ordnung verpflichteten Gesellschaft“ ist242. Die Rechtssicherheit erscheint mindestens fünfmal in diesem Passus: „gewährleisten“ (assegurar) bedeutet sicher machen; „Sicherheit“ (segurança) bezeichnet einen schutzwürdigen Zustand; „Wert“ ist etwas, das würdig ist, gewährleistet zu werden; „soziale Harmonie“ verweist auf einen Zustand der Stabilität und Vorhersehbarkeit, also der Sicherheit; und „Ordnung“ bezeichnet gleichfalls einen ersehnten Zustand der Stabilität, damit der Sicherheit243. Man kann damit sagen, dass die Verfassung schon in der Präambel gewissermaßen die Sicherheit zur „fünften Gewalt“ erhebt, wenn sie mit emphatischer Redundanz etwas statuiert wie „die Sicherheit sicher zu machen als etwas, das in einer sicheren Gesellschaft gewährleistet (assegurado, sichergestellt) werden kann“. Zum Vergleich die Präambel des Grundgesetzes: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-­Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“ Anders als die Präambel der CF/88 enthält die Präambel des deutschen Grundgesetzes also keine direkte Bezugnahme auf die Sicherheit, spielt aber indirekt auf die Vorstellung der Rechtssicherheit an, wenn sie nach Jahrhunderten kriegerischer Konflikte in Europa den „Willen […], in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, erwähnt und damit auf einen ersehnten Zustand der Stabilität und Vorhersehbarkeit verweist. Man füge dem die Tatsache hinzu, dass die Präambel schon durch ihre Natur einerseits eine intertemporale Verpflichtung statuiert, d. h. eine Verpflichtung, die in der Zukunft bestehen soll, in augenscheinlicher Verbindung mit der Idee der Kontinuität der Rechtsordnung, und andererseits die Bindung an die gerade 242

Maria Sylvia Zanella Di Pietro, Os princípios da proteção à confiança, da segurança jurídica e da boa-fé na anulação do ato administrativo, in: Motta, Fabrício (Hrsg.), Direito Público Atual: estudos em homenagem ao Professor Nélson Figueiredo, S. 296. 243 Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 8 sowie 39.

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erst eingerichtete Ordnung ausdrückt und damit eine Stabilitätszusage gibt244. Die Einrichtung einer neuen Ordnung impliziert Sicherheit durch die Voraussetzung eines Zustands, der zu suchen und zu erhalten ist245. Es ist nicht sinnvoll, eine Norm zu schaffen oder eine Rechtsordnung zu statuieren, die nicht zumindest eine bestimmte Zeit dauern soll246. Art. 5 statuiert dieselbe Verfassung noch, dass alle vor dem Gesetz gleich sind, ohne jegliche Unterscheidung, und gewährleistet den brasilianischen und ausländischen in Brasilien wohnhaften Staatsangehörigen die Unverletzlichkeit des „Rechts auf Sicherheit“ neben anderen Rechten247. Die in der Präambel vorgesehene Sicherheit ist eindeutig ein sozialer Wert. Die Verfassung ist hier überhaupt nicht zweideutig: sie statuiert den demokratischen Staat, dessen Ziel die „Gewährleistung der Sicherheit als Wert“ ist. Dieser Ausdruck bezeichnet also die Verwendung von Rechtssicherheit als „Sicherheit durch das Recht“, zumal das Recht ein Sicherheit gewährleistendes Instrument sein muss (assegurar a segurança, „Gewährleistung der Sicherheit“). Hier stellt sich folgende Frage: welche Sicherheit gewährleisten-die nicht rechtliche Sicherheit, als Schutz gegen äußere Bedrohungen, oder die Rechtssicherheit im eigentlichen Sinn? Indem die Verfassung den demokratischen Staat einrichtet, dessen Ziel die Gewährleistung der „Sicherheit als Wert“ ist, d. h. als etwas, das über den Einzelnen hinausgeht und einen axiologischen Inhalt vor der Gesellschaft als ganzer erhält, lässt sie erkennen, dass sie sich für den zweiten Sinn entscheidet: Rechtssicherheit. Kurz, die Präambel der Verfassung schützt also unmittelbar die Rechtssicherheit durch das Recht. Da diese Sicherheit nur möglich ist, wenn das Recht selbst sicher ist, wie später noch zu zeigen sein wird, schützt die Verfassung letztlich auch mittelbar die Sicherheit als Sicherheit des Rechts. Die Statuierung im Art. 5 ist schon nicht so deutlich wie die Verwendung des Terminus in der Präambel der Verfassung. In dieser Bestimmung wird die Unverletzlichkeit des „Rechts auf Sicherheit“ gewährleistet. Es springt in die Augen, dass Sicherheit ein Recht des Einzelnen ist, ein vom Staat selbst zu gewährleistendes Abwehrrecht, wegen des Kapitels, in das dieser Ausdruck eingefügt ist. Anfangs wird aber nicht klar, ob der Terminus „Sicherheit“ sich auf die individuelle Sicherheit bezieht, als körperliche Unversehrtseit, oder auf die Rechtssicherheit, als Forderung nach einer erkennbaren, verlässlichen und berechenbaren Ordnung. Die genannte Bestimmung gewährleistet in der Tat das „Recht auf Sicherheit“, ohne irgendeine Kennzeichung des Terminus „Sicherheit“. In Wahrheit sind mehrere 244 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 381 sowie 390. 245 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 20. 246 Mark van Hoecke, Time and Law. Is it the nature of law to last? A conclusion, in: Ost, François / van Hoecke, Mark (Hrsg.), Temps et Droit. Le Droit a-t-il pour vocation de durer?, S. 466. 247 Geraldo Ataliba, República e Constituição, 2. Aufl., S. 182.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

der in diesen Bestimmungen genannten Werte und Rechte Träger von hochgradiger Zweideutigkeit, da sie sich dazu eignen, sowohl physiche als auch wertende Aspekte zu bezeichnen: der Schutz des Rechts auf das Leben kann sowohl den Schutz des biologischen Lebens als auch die Erhaltung einer Menge von für ein menschenwürdiges Leben notwendigen Rechtsgütern bedeuten; das Recht auf Freiheit kann sowohl die Gewährleistung der Freizügigkeit als auch das Recht auf selbständige Gestaltung des eigenen Lebens sein. Die offene Sprache der Verfassung, die keinerlei Bedeutungseinschränkung enthält, begünstigt die Auslegung, derzufolge der Terminus „Sicherheit“ sowohl Rechtssicherheit als auch Sicherheit im nichtrechlichen Sinn umfasst. Die Lektüre des ganzen Art. 5 führt jedoch zum Schluss, das der Terminus „Sicherheit“ im strikten Sinn von Rechtssicherheit verwendet wird: erstens, weil er das Recht auf Sicherheit neben dem Recht auf Freiheit, Gleichheit und Eigentum gewährleistet. Da nun Freiheit, Gleichheit und Eigentum objektive gesellschaftliche Werte darstellen, nicht bloß individuelle psychische Zustände, ist der Schutz der Sicherheit parallel zur Gewährleistung dieser anderen Werte ein deutlicher Indikator, dass der Terminus im Sinn von Rechtssicherheit verwendet worden ist, angesichts des Umstands, dass die körperliche Unversehrtheit diese Eigenschaften nicht erkennen lässt. Zweitens, da unter den in den Sätzen von Art. 5 katalogisierten Grundrechte verschiedene Grundrechte erwähnt werden, die sich sowohl auf die körperliche und individuelle Sicherheit beziehen (wie die Fälle des Wohnungsschutzes und der Institution der Garantie des Habeas Corpus gegen missbräuchliche Freiheitseinschränkungen) als auch auf spezifische Äußerungen der Freiheit (wie in den Fällen der Meinungsfreiheit, der Gewissens- und Glaubensfreiheit, der Freiheit intellektuellen, künstlerischen und wissenschaftlichen Ausdrucks und der Kommunikationsfreiheit oder der Vereinigungsfreiheit zu erlaubten Zwecken), was zur Schlussfolgerung führt, dass die Vorschrift des Art. 5, um halbwegs sinnvoll zu sein, sich nur auf Sicherheit im allumfassenden Sinn beziehen kann, einschließlich im Sinn von Rechtssicherheit, sei es als Rechtssicherheit, sei es als Sicherheit des Rechts, sei es als Sicherheit durch Recht. Wenn die Sätze schon die körper­liche Unversehrtheit gewährleisten, erlangt die Vorschrift des Art. 5 des genannten Artikels nur Bedeutung, um ein anderes Gut zu schützen. Daher die treffende Bemerkung von Ataliba, dass die Wurzel, die alle Bestimmungen in Art. 5 bündelt und ihnen vollen Sinn gibt, die Rechtssicherheit ist248. Es muss auch gesagt werden, dass selbst eine restriktive Verwendung des Terminus „Sicherheit“ nur im Sinn von Befreiung, als Gegensatz zur Vorstellung der Angst, der Gefahren und Bedrohungen von Außen, selbst so noch diese Bedeutung zur Konstruktion der Rechtssicherheit beitragen würde, weil die äußere Sicherheit eines der ersten Bildungselemente der Rechtssicherheit ist: der Einzelne, anfangs besorgt um die Abwehr äußerer Gefahren und Bedrohungen seiner körperlichen Unversehrtheit, strebt dann auch den psychischen Zustand der Unbesorgtheit im 248

Geraldo Ataliba, República e Constituição, 2. Aufl., S. 182.

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Hinblick auf andere Überraschungen an, und ab dann ist die Sicherheit ein internes Element (ein Gefühl), das einen Zustand des Vertrauens im Bürger hervorruft und später nicht mehr eine persönliche Eigenschaft ist, sondern ein gesellschaftlicher und rechtlicher Wert wird, wenn seine Verwirklichung von rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen abhängt249. Wie die vorstehenden Bemerkungen beweisen, qualifiziert sich die Statuierung der „Sicherheit“ in der Präambel und im Obersatz von Art. 5 als Schutz der Rechtssicherheit, verstanden als Sicherheit des Rechts und Sicherheit durch das Recht, des Bürgers gegenüber dem Staat, zu verwirklichen durch den Staat vermittels von Regeln und Verfahren, die Sicherheit als Recht des Einzelnen und als gesellschaftlichen Wert verwirklichen können. Das Grundgesetz seinerseits statuiert nicht ausdrücklich ein Recht auf Sicherheit, wie die CF/88. Das Wort „Sicherheit“ wird im Verfassungstext im Sinn von öffentlicher Sicherheit oder Gewährleistung der Ordnung verwendet. Jedenfalls kann der Begriff der Rechtssicherheit aus dem Grundgesetz abgeleitet werden, vor allem aus dem Rechtsstaatsprinzip, das in der Tat ausdrücklich statuiert ist. bb) Gezielter Schutz der „Rechtssicherheit“ Nur in einer von der Verfassungsänderung Nr. 45/04 eingefügten Bestimmung bezieht sich die brasilianische CF/88 ausdrücklich auf die Rechtssicherheit. Art. 103-A ermächtigt den Obersten Bundesgerichtshof, nach wiederholten Entscheidungen über eine verfassungsrechtliche Materie von Amts wegen oder auf Antrag, durch Beschluss von zwei Dritteln seiner Mitglieder, einen Leitsatz zu genehmigen, der nach seiner Veröffentlichung im Bundesanzeiger die übrigen Organe der Judikative und der mittelbaren und unmittelbaren staatlichen Verwaltung auf Bundes-, Bundesstaats- und Kommunalebene bindet. Der erste Absatz dieses Artikels statuiert, dass „Ziel des Leitsatzes die Geltung, Auslegung und Wirksamkeit bestimmter Normen sind, über die zwischen den Organen der Judikative oder zwischen diesen und der staatlichen Verwaltung gegenwärtige Unstimmigkeit herrscht, die eine schwerwiegende Rechtsunsicherheit und relevante Multiplikation von Verfahren über identische Gegenstände zur Folge hat“ (hervorgehoben von uns). Natürlich wird der Ausdruck „Rechtssicherheit“ ohne Definition verwendet. Trotzdem erlaubt die Untersuchung des Normbereichs, in den sie eingefügt worden ist, die Eingrenzung ihres Inhalts: wenn die Verkündung eines Leitsatzes als Ziel „die Geltung, Auslegung und Wirksamkeit bestimmter Normen [hat], über die zwischen den Organen der Judikative oder zwischen diesen und der staatlichen Verwaltung gegenwärtige Unstimmigkeit herrscht“, bezieht sich der zitierte Passus auf zwei hauptsächliche materiale Aspekte: die Erkennbarkeit der Rechtsordnung, 249

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 63.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

als Forderung nach Klarheit und Verständlichkeit der Normen und ihrer Anwendung, und die Berechenbarkeit der Rechtsordung, als Forderung nach Vorhersehbarkeit und normativer Bindung. Dies bedeutet, dass die CF/88 selbst, wenngleich auch durch Verfassungsänderung, die Rechtssicherheit als grundlegendes Element ansieht, so wie sie sie als Forderung nach Erkennbarkeit und Berechenbarkeit der Orientierung und Anwendung des Rechts bestimmt. Hierzu gibt es keine ähnliche Bestimmung über die Verwendung von Leitsätzen im Grundgesetz, das jedoch festlegt, dass ein Bundesgesetz „die Verfassung und das Verfahren“ des Bundesverfassungsgerichts „regelt […] und bestimt, in welchen Fällen seine Entscheidungen Gesetzeskraft haben“ (Art. 94 Abs. 2). Berücksichtigt man aber, dass das Grundgesetz den Rechtsstaat als Verfassungsprinzip wählt (Art. 20), besteht kein Zweifel daran, dass es auch die Rechtssicherheit als Grundelement der Verfassungsordnung anerkennt. cc) Schutz vor einer der Folgen der Rechtssicherheit Indem die CF/88 statuiert, dass das Gesetz nicht „das wohlerworbene Recht, die vollendete Rechtshandlung und die Rechtskraft“ (Art. 5, XXXVI) beeinträchtigen wird, schützt sie die Rechtssicherheit selbst in der Wirksamkeit eines ihrer Teilelemente der Verlässlichkeit der Rechtsordnung. Der Schutz des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft sind Erscheinungsformen der Prinzipien des Vertrauensschutzes und von Treu und Glauben, die ihrerseits die reflexive Wirksamkeit des Prinzips der Rechtssicherheit, orientiert an einem bestimmten Subjekt und einem bestimmten konkreten Fall, darstellen250. Indem sie diese Rechte schützt, hat die CF/1988 gewissermaßen durch eine Regel die reflexive Wirksamkeit des objektiven Rechtssicherheitsprinzips gewährleistet, deren Zweck die Erhaltung von einer vermittels des Rechts in der Vergangenheit zustandegekommenen Errungenschaft ist. Sie regelte den vergangenheitsorientierten subjektiven Aspekt eines Prinzips, das nicht nur eine objektive Dimension hat, sondern supraindividuelle Interessen schützt und sich sogar einem bestimmten Einzelinteresse entgegenstellen kann, wie etwa dann, wenn ein subjektives Recht nicht geltend gemacht wird und deshalb verjährt oder verwirkt ist251. Indem sie so verfährt, hat die Verfassung nach der Formulierung von Carvalho und Carrazza252 eine Art „Gewährleistung der Vergangenheit“ statuiert.

250 Stefan Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 63; Constantin Yannakopoulos, La notion de droits acquis en Droit Administratif français, S. 53; Enrico Riva, Wohlerworbene Rechte  – Eigentum  – Vertrauen, S. 79; Miguel Reale, Revogação e anulamento do ato administrativo, 2. Aufl., S. 81. 251 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 153 sowie156. 252 Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 21. Aufl., S. 166; Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 441 sowie 900.

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In anderen Worten: der ausdrückliche Schutz dieser weiter unten noch im Detail zu behandelnden Rechte beweist, dass die CF/88 die Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts und Sicherheit durch das Recht gewährleistet, als Sicherheit eines Bürgers gegen den Staat, von diesem zu gewährleisten durch Regeln, Akte und Verfahren, welche die aus der reflexiven Wirksamkeit der Sicherheit als objektives Prinzip der Rechtsordnung sich ergebenden Individualrechte verwirklichen können. Obwohl es im Grundgesetz keine entsprechende Bestimmung über diese Garantien gibt, verbietet Art. 103 Abs. 2 die Rückwirkung von Strafgesetzen als grundrechtsgleiches Recht des Bürgers vor den Gerichten mit der Feststellung, dass eine „Tat […] nur bestraft werden [kann], wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“. Damit hat das Grundgesetz, wenn auch auf weniger explizite Weise, die Aufrechterhaltung einer Errungenschaft des Rechts in der Vergangenheit angeordnet und somit die Rechtssicherheit selbst im Hinblick auf die Verlässlichkeit der Rechtsordnng, also eines ihrer Teilelemente, geschützt. b) Mittelbare Grundlagen aa) Durch Deduktion (1) Strukturierende objektive Prinzipien (a) Rechtsstaatsprinzip Die CF/88 statuiert nicht nur unmittelbar die Sicherheit, sondern verlangt auch die Suche nach umfassenderen Zwecken, welche die Ableitung der für ihre Verwirklichung notwendigen eingeschränkteren Zwecke erlauben. Diese umfassenderen Zwecke bezeichnen in ihrer Gesamtheit die Ideale der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der (und durch die) Rechtsordnung. Hier werden die Elemente der Rechtssicherheit durch Deduktion ermittelt, ausgehend von Oberprinzipien, welche die Verwirklichung von umfassenderen Zwecken hinsichtlich der Rechtssicherheit beabsichtigen253. Diese Analyse der Forderung nach umfassenderen Zwecken, welche die Ableitung von für ihre Verwirklichung notwendigen eingeschränkteren Zwecken erlaubt, wird auch vom Grundgesetz ausgehend durchgeführt. Die CF/88 statuiert zu Beginn in Art. 1, dass die Föderative Republik Brasilien, gebildet durch die unauflösliche Union der Bundesstaaten, der Gemeinden und des Bundesdistrikts, sich als demokratischer Rechtsstaat konstituiert. Das Grundgesetz beginnt seinerseits mit der Gewährleistung der Menschenwürde, bezeichnet aber in Art. 20 Abs. 1 die Bundesrepublik Deutschland als „demokratische[n] und soziale[n] Bundesstaat“ und fordert in Art. 28 Abs. 1 die Achtung der „Grundsätze […] 253 Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 411; Willy Zimmer, Constitution et sécurité juridique – Allemagne, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 93.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes“. Hier ist nicht der Ort, um das Rechtsstaatsprinzip in seiner vollen Ausdehnung zu untersuchen; festzustellen ist hier jedoch, inwiefern das Rechtsstaatsprinzip zum Inhalt des Prinzips der Rechtssicherheit beiträgt und somit von entscheidender Bedeutung ist. In der Tat wird das Rechtssicherheitsprinzip normalerweise vom Rechtsstaatsprinzip abgeleitet254. Einer Formulierung von Carrazza zufolge „logiert“ dieses Prinzip „in den Falten des Rechtsstaats“255. Das Rechtsstaatsprinip wird nicht nur mit der Universalität und Willkürfreiheit des Rechts assoziiert, sondern auch mit der Forderung, dass staatliches Handeln durch allgemeine, klare, bekannte, in der Zeit relativ beständige, prospektive und widerspruchsfreie Regeln angeleitet wird256. Ein Rechtsstaat ist gleichfalls durch das Ideal des Rechtsschutzes und der staatlichen Verantwortung gekennzeichnet, das nur durch eine verständliche, verlässliche und voraussehbare Rechtsordnung erreichbar ist: staatliche Tätigkeit wird nicht durch das Recht begründet und eingeschränkt, wenn die Befugnisse und Verfahren nicht voraussehbar, stabil und kontrollierbar sind (Sicherheit des Rechts); und Grundrechte sind nicht wirksam, wenn der Bürger nicht vorab weiß, innerhalb welcher Grenzen er seine Freiheit voll ausüben kann (Sicherheit von Rechten) und ob es nicht Instrumente gibt, die seine Erwartungen gewährleisten (Sicherheit durch Recht) und ihnen Wirksamkeit im Fall von ungerechtfertigten Einschränkungen verleihen können (Sicherheit vor dem Recht). Wenn Rechtsstaat Schutz des Einzelnen gegen Willkür bedeutet, kann nur eine zugängliche und verständliche Rechtsordnung diese Funktion erfüllen257. Der Rechtsstaat ist entweder sicher oder kein Rechtsstaat. Raz hat dies gut beschrieben: „Die Einhaltung des Rechtsstaats ist notwendig, falls das Recht die Menschenwürde achten will. Die Achtung der Menschenwürde beinhaltet die Behandlung der Menschen als Personen, die ihre Zukunft planen und gestalten können. Sie schließt also die Achtung 254

Klaus Stern, Der Rechtsstaat, in: Kölner Universitätsreden (1971), S. 8; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 665 sowie 671; Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 163 sowie 390 ff.; Philip Kunig, Der Rechtsstaat, in: Badura, Peter / Dreier, Horst (Hrsg.). FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Klärung und Fortbildung des Verfassungsrechts, Bd. 2, S. 440; Delf Buchwald, Prinzipien des Rechtsstaats, S. 181 ff.; Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 422; Karl Albert Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 359; Lúcia Valle Figueiredo, Planejamento, Direito Tributário e segurança jurídica, in: RTDP 12 (1995), S. 14; Carlos Alberto Alvaro de Oliveira, O formalismo-valorativo no confronto com o formalismo excessivo, in: Revista Forense 15 (o. J.), Sonderdruck, S. 388. 255 Roque Antônio Carrazza, Segurança jurídica e eficácia temporal das alterações jurisprudenciais – competência dos Tribunais Superiores para fixá-la – questões conexas, in: Ferraz Júnior, Tércio Sampaio u. a. (Hrsg.), Efeito ex nunc e as decisões do STF, S. 41. 256 Jeremy Waldron, The Rule of Law in Contemporary Liberal Theory, in: Ratio Juris 1 (1989), S. 84; Hans-Wolfgang Arndt, Das Rechtsstaatsprinzip, in: JuS 27 (1987), S. L41 bis L44. 257 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 115.

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ihrer Selbständigkeit, ihres Rechts auf Kontrolle ihrer Zukunft ein“258. Diese Bemerkungen bestimmen die Triftigkeit der Behauptung von Maior Borges über die Rechtssicherheit, „ohne die Brasilien sich nicht einmal als demokratischer Rechtsstaat definieren könnte“259. Das Rechtsstaatsprinzip hängt in der Tat mit dem Prinzip der Rechtssicherheit in seinen zwei Dimensionen zusammen. Seine formale Dimension bezieht sich auf die Gewaltenteilung, die Hierarchisierung von Normen und den gerichtlichen Schutz260. Die Gewaltenteilung begünstigt die Ausübung der Macht und ihre Verteilung mit Hilfe von Kompetenzregeln, also Elementen, die zu einem Zuwachs an Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung beitragen. Als Quelle allgemeiner und abstrakter Normen, die sich gerade an eine unbestimmte Anzahl von Personen und Situationen wenden, begünstigt das Gesetz die Stabilität der Rechtsordnung, dadurch es ist nicht notwendig ist, Normen zu ändern aufgrund des Wechsels von Personen und Umständen. Im Rechtsstaat unterwerfen sich die Regierenden dem Gesetz, nicht dem eigenen Willen261. Die Hierarchisierung der Normen, die jeweils einen Geltungsgrund in einer höherstehenden Norm erfordern, steigert die Vorhersehbarkeit und Kontrolle staatlichen Handelns. Diese formale Struktur begünstigt die Zugänglichkeit der Normen, da der Bürger beispielsweise wissen kann, dass die untere Norm mit der oberen Norm übereinstimmen muss diese wiederum mit einer noch höheren Norm übereinstimmen muss bis zur Verfassungsebene. So trägt, dass das Fundament der Gesetze in der Verfassung steht, obwohl sie einerseits Unsicherheit verursacht, da die Geltung des Gesetzes von seiner nicht immer leicht feststellbaren vertikalen Vereinbarkeit mit der Verfassung abhängt, andererseits auch zur Sicherheit bei, da sie die möglichen Bedeutungen des Gesetzes einschränkt262. Und der gerichtliche Rechtsschutz ist ein Instrument der Gewährleistung von Rechten und der Wirksamkeit der Rechtsordnung insgesamt. Die formale Strukturierung des Rechts ist also ein die Verwirklichung von Rechtssicherheit gewährleistendes Element. Alle diese Elemente einer formalen Rechtsstaatskonzeption tragen zu den Idealen der Rechtssicherheit (Klarheit, Gewissheit, Genauigkeit, Verständlichkeit, Allgemeinheit und Abstraktion) bei263.

258

Joseph Raz, The Rule of Law and its Virtue (1977), in: The Authority of Law. Essays on Law and Morality, S. 221. 259 José Souto Maior Borges, Segurança jurídica: sobre a distinção entre competências fiscais para orientar e atuar o contribuinte, in: RDT 100 (o. J.), S. 20. 260 Robert Summers, A formal theory of the Rule of Law, in: Essays in Legal Theory, S. 169; Brian Z. Tamanaha, On The Rule of Law, S. 91; Manoel Gonçalves Ferreira Filho, Estado de Direito e Constituição, 4. Aufl., S. 86 ff. 261 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 408. 262 Luigi Ferrajoli, The Past And The Future of The Rule of Law, in: Costa, Pietro / Zolo, Danilo (Hrsg.), The Rule of Law – History, Theory and Criticism, S. 329. 263 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 35 sowie 39.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Natürlich sind diese Rechtsstaatselemente für die Erzeugung eines Rechtsicherheitszustands nur notwendig, aber nicht hinreichend: Kompetenzregeln können miteinander in Konflikt geraten; die Regel der Gesetzmäßigkeit erfordert nur die Institution neuer Verpflichtungen in formalen Rechtsquellen, ohne eine größere oder geringere, im Sprachgebrauch unvermeidliche Unbestimmtheitsmarge zu behindern und ohne den Argumentationsprozess der Auslegung zu vermeiden; die Hierarchisierung der Normen kann zu antagonistischen Ergebnissen führen, wenn nicht eine, sondern eine Vielfalt von Normen vorliegt, von denen viele hochgradig unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, usf. Das Rechtsstaatsprinzip ist also im Hinblick auf die Rechtssicherheit zweideutig: wenn es zum Beispiel den Eingriff in die Freiheitsrechte einem Gesetz vorbehält, erweist sich das Vorliegen der Gesetzmäßigkeit als Ursache der unkontrollierten Zunahme der Gesetze; das Gleichheitsgebot führt dazu, dass die Unterschiede entweder im Gesetz oder in seiner Anwendung berücksichtigt werden, wodurch die Gesetzgebung komplex oder ihre Anwendung uneinheitlich wird, usf.264.Diese Feststellung entbindet das Rechtsstaatsprinzip jedoch nicht von der grundlegenden Rolle der Gestaltung des gesamten Rechtssystems. Die materiale Dimension des Rechtsstaats begünstigt ebenfalls die Ideale der Rechtssicherheit. Da diese Dimension eine Rechtsmenge schützen soll, funktioniert die Rechtssicherheit als Prinzip, das diese Rechte selbst gewährleisten soll. Aus diesem Grund hat man die Bezeichnung „Gewährleistungsrechte“ („Stützrechte“, Rechte auf Rechtsgewährleistung oder Schutzrechte“) geprägt, welche diejenigen Rechte beschreibt, die andere Rechte gewährleisten sollen, wie z. B. die Meinungs- und Kommunikationsfreiheit, die Instrumente der Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips sind265. Das Rechtssicherheitsprinzip ist auf eine gewisse Weise ein „Gewährleistungsrecht“, da seine Verwirklichung der effektiven Ausübung bestimmter Grundrechte vorausgeht. Zu unterstreichen ist, dass diese Rechte bestimmt sind, dem Einzelnen die Ausübung seiner Autonomie zu ermöglichen. Aus diesem Grund muss die Rechtsstaatskonzeption selbst „robust“ sein. Damit soll gesagt werden, dass sie materiale Aspekte beinhaltet, ohne welche der Rechtsstaat kein Instrument der Verwirklichung der Menschenwürde sein kann266. Hervorzuheben ist, dass das Rechtsstaatsprinzip ein Instrument der Gewährleistung der Rechtssicherheit ist, nicht der sog. Polizeistaat und auch nicht der Gesetzesstaat. Der Polizeistaat kommt gerade deswegen nicht in Frage, weil es in ihm keine Grenze der Machtausübung gibt und damit die Machtausübung nicht nur unvoraussehbar, sondern bedrückend wird; und der Gesetzesstaat kommt nicht in Frage, da er nur die Vorschriften des Gesetzes ohne die sich aus den Grundrechten ergebenden Beschränkungen fordert, damit zu einer Art Allmacht der Legislative 264

Klaus-Michael Groll, In der Flut der Gesetze: Ursachen, Folgen, Perspektiven, S. 32 ff. Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 50. 266 Sebastián Urbina, Legal Method and the Rule of Law, S. 227. 265

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führt und nicht die willkürliche Ausübung der Staatsgewalt durch die Einverleibung materialer Grundrechte wie die Gleichheit vor dem Gesetz vermeidet267. All diese Bemerkungen, denen andere hinzugefügt werden könnten, erklären, warum der Oberste Bundesgerichtshof das Rechtssicherheitsprinzip als Unterprinzip des Rechtsstaatsprinzips ansieht, wie folgender Passus aus dem Votum des Richters Gilmar Mendes im Verfahren über das Sicherungsmandat Nr. 24.268-0 beispielhaft zeigt: „Heute hat dieses Thema in Brasilien verfassungsmäßigen Rang (Rechtsstaatsprinzip). Es ist teilweise auf Bundesebene im Gesetz Nr. 9.784 vom 29. Januar 1999 normiert (s. Art. 2). Wie man sieht, hat die Rechtssicherheit als Unterprinzip des Rechtsstaatsprinzips einen einzigartigen Wert im Rechtssystem und spielt eine herausragende Rolle bei der Verwirklichung der materialen Gerechtigkeit“268.

In einem Wort: die Institution des Rechtsstaatsprinzips beweist, dass die Verfassung vermittels der Einführung eines umfassenderen zu erreichenden Ideals Rechtssicherheit gewährleistet als Sicherheit des Rechts, durch das Recht, vor dem Recht, der Rechte der Bürger vor dem Staat, als vom Staat mit Hilfe von Regeln, Akten und Verfahren zu erreichen, die imstande sind, die Individualrechte zu verwirklichen und die legitime Ausübung der Staatsgewalt sicherzustellen. Chevallier zufolge ist jede Staatstheorie konstruiert worden, um die Staatsgewalt zu zähmen und einzuschränken269. Ein nicht vom Recht geregelter Staat ist in seinem Verhalten unberechenbar und auch willkürlich. Er verursacht, um es mit einem Wort zu sagen, Rechtsunsicherheit. Man sieht sofort, dass die Begründung des Rechtssicherheitsprinzips im Rechtsstaatsprinzip signifikante Rückwirkungen auf seinen Inhalt mit sich bringt, weil eben das Rechtsstaatsprinzip, wie schon seine Bezeichnung selbst anschaulich zeigt, vorab gegen die Erhaltung rechtsverletzender Akte steht: die Beibehaltung gesetzoder verfassungswidriger Akte beeinträchtigt die Erkennbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns, da sie zur Begehung neuer rechtswidriger Handlungen anspornen kann und damit den Bürger an der Vorwegnahme der Regierungsakte hindert; sie trägt mangels objektiver das Staatshandeln regelnder Kriterien zur staatlichen Willkür bei; sie verringert die Kontrolle staatlicher Akte durch die Aufrechterhaltung rechtswidriger Akte; sie erschüttert die Gleichheit vor dem Gesetz, da sie den Bürger unterschiedlich behandelt, je nachdem, ob er klagt oder nicht klagt270. Damit wollen wir nur behaupten, dass die Begründung des Rechtssicherheitsprinzips im Rechtsstaatsprinzip die Bedeutung von Rechtssicherheit 267 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 36; Michel Troper, Le concept d’État de Droit, in: Cahiers de philosophie politique et juridique 24 (1993), S. 28. 268 MS Nr. 24.268, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 17. 09. 04, S. 183 des Urteils. 269 Jacques Chevallier, L’État de Droit, 2. Aufl., S. 11. 270 Robert Summers, A formal theory of the Rule of Law, in: Essays in Legal Theory, S. 169.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

stark begrenzt. Man kann allein im Namen des Rechtssicherheitsprinzips als eines Unterprinzips des Rechtsstaats, nur wenn man daneben nicht auf andere Begründungen zurückgreift, kein staatliches Handeln akzeptieren, das nicht durch allgemeine, klare, bekannte, relativ zeitbeständige, prospektive und widerspruchsfreie Regeln normiert ist. (b) Prinzip des sozialen Rechtsstaats Obwohl die CF/88 nur den „demokratischen Rechtsstaat“ (Art. 1) namentlich einführt, enthält sie eine Reihe von Bestimmungen, die in ihrer Gesamtheit das Ideal des sozialen Rechtsstaats bilden: in der Präambel ist die Institution des demokratischen Staats vorgesehen, um die Ausübung der sozialen und individuellen Rechte, der Gleichheit und Gerechtigkeit als höchste Werte einer brüderlichen, pluralistischen und vorurteilsfreien, auf soziale Harmonie gegründeten Gesellschaft zu gewährleisten; in Art. 3 werden die Grundziele der Föderativen Republik Brasilien statuiert, darunter der Aufbau einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, die Ausrottung der Armut und Marginalisierung und die Verringerung der sozialen Ungleichheit; in Art. 5 wird das Recht auf vollständige und kostenlose Prozesskostenhilfe all denen gewährleistet, die ihre Bedürftigkeitnachweisen können; in Art. 6 werden die sozialen Rechte auf Erziehung, Gesundheit, Arbeit, Wohnung, Freizeit, Sicherheit, Sozialversorgung, Mutter- und Kinderschutz und Versorgung bedürftiger Menschen gewährleistet. Und im Kapitel, das sich auf die allgemeinen Prinzipien der wirtschaftlichen Tätigkeit bezieht, gewährleistet die CF/88 eine auf die positive Bewertung der menschlichen Arbeit gegründete Wirtschaftsordnung mit dem Zweck, allen Bürgern ein menschenwürdiges Dasein nach der Angabe der sozialen Gerechtigkeit zu garantieren (Art. 170). Das deutsche Grundgesetz hat hingegen ausdrücklich einen „demokratische[n] und soziale[n] Bundesstaat“ statuiert (Art. 20 Abs. 1, hervorgehoben von uns). Die Bindung des Prinzips des sozialen Rechtsstaats an die Rechtssicherheit ist in der Tatsache begründet, dass eine Sozialordnung die Ordnung ist, die soziale Sicherheit gewährleistet, d. h. eine Ordnung, die nicht nur die Schaffung, sondern auch die Erhaltung von Institutionen und Maßnahmen, die den Bürgern präventiv oder kurativ die Mittel gewährleisten, ein menschenwürdiges Leben führen zu können271. Von diesem Norminhalt lässt sich die Pflicht zur Berücksichtigung der Positionen und Erwartungen der Bürger ableiten272. Dieses Prinzip erfordert also, dass die Bürger nicht ohne eine schwerwiegende rationale Rechtfertigung durch Risiken überrascht werden, welche die Risiken des Lebens selbst übersteigen und 271 Alexia Bierweiler, Soziale Sicherheit als Grundrecht in der Europäischen Union, S. 135. Im selben Sinn Wilhelm Hartz, Mehr Rechtssicherheit im Steuerrecht. Ziele, Wege, Grenzen, in: StbJb, S. 89. 272 Stefan Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 31.

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gegen die Risiken die Sozialversicherung schützen muss, damit die Bürger nicht in eine Situation geraten, die mit den gesellschaftlichen Mindestbedingungen des Überlebens unvereinbar ist.273 In Wahrheit hat aber das Prinzip des sozialen Rechtsstaats, da es keine eminent schützende Natur hat, nicht mehr die Funktion des Erwartungsgaranten. Diese Rolle spielt das Rechtsstaatsprinzip. So stellen sich gerade diese beiden Prinzipien gegeneinander: das Prinzip des sozialen Rechtsstaats postuliert, dass der Staat seine die Gesellschaft planende und induzierende Funktion wahrnimmt, indem er gesellschaftliche Veränderungen durchführt, vor allem durch die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums; das Rechtsstaatsprinzip funktioniert als erwartungsgewährleistender Kontrapunkt, indem es bestimmte Veränderungen verhindert274. Das Sozialstaatsprinzip verlangt eine Art von stabiler Veränderung der Rechtsordnung, eine Kompromisslösung zwischen Innovation und Kontinuität275. Und die Kontinuität ist eines der Elemente der Rechtssicherheit. Im Hinblick auf diesen Aspekt ist daran zu erinnern, dass der Staat im Zeitalter des Sozialstaats, obwohl er intensiver agiert, auch um Ungleichheiten und Ungleichgewichte zu korrigieren, nicht auf die mit den allgemeinen und abstrakten Normen stärker übereinstimmende Unparteilichkeit und das Willkürverbot verzichten kann, falls er die soziale Gerechtigkeit selbst nicht korrumpieren will276. Entweder harmoniert das Sozialstaatsprinzip mit dem Rechtsstaatsprinzip und damit mit der Rechtssicherheit, oder die isonomische und nichtwillkürliche Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips wird kompromittiert. Aus diesem Grund fordert Schoueri zu Recht, dass eine Anpassung des Rechtssicherheitsprinzips in dem Sinn stattfinden muss, dass einerseits die klassischen Garantien des liberalen Staats erhalten bleiben und andererseits Mechanismen vorgesehen werden, die eine gewisse notwendige Flexibilität erlauben, um den von der Wirtschaftsordnung angestrebten Zweck zu erreichen277. Das Prinzip des sozialen Rechtsstaats statuiert außerdem einen gewissen Primat des menschlichen Lebens über andere Werte sowie eine Art Immanenz bestimmter Rechte im Menschen, nicht nur durch Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeiten seitens der Privatleute, sondern auch durch Einforderung von Leistungen und Umverteilungen beim Staat278. Diese Funktionen schlagen auch auf die Zustände der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Normen durch. So schließt beispielsweise die Achtung der Menschenwürde aus, Normen zu schaffen, 273

Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 300; Ricardo Lobo Torres, O direito ao mínimo existencial, S. 83. 274 Stefan Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 33; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 351. 275 Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 2. 276 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 361. 277 Luís Eduardo Schoueri, Segurança na ordem tributária nacional e internacional: tributação do comércio exterior, in: Barreto, Aires Fernandino u. a. (Hrsg.), Segurança jurídica na tributação e Estado de Direito, S. 382 f. 278 Francisco Gonzalez Navarro, El Estado Social y Democratico de Derecho, S. 61 sowie 98 ff.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

die den Menschen zu einem reinen Objekt degradieren, wie im Fall der verhaltenslenkenden Gesetze mit Rückwirkung, die unter dem Vorwand der Beeinflussung des menschlichen Verhaltens auch schon gewählte Verhaltensweisen erfassen, die als solche völlig unbeeinflussbar sind. Kurz, die Institution des Prinzips des sozialen Rechtsstaats beweist, dass die CF/88 über ein umfassenderes anzustrebendes Ideal die Rechtssicherheit als Sicherheit durch Recht und der Rechte, der Bürger vor dem Staat schützt, wobei die Rechtssicherheit vom Staat mit Hilfe der Regeln, Akte und Verfahren zu verwirklichen ist, die minimale soziale Bedingungen der Verwirklichung der Individualrechte bereitstellen können. Diese Schlussfolgerung gilt auch für das deutsche Grundgesetz. (c) Prinzip der Gewaltenteilung Das Prinzip der Gewaltenteilung erfordert eine Aufteilung der Funktionen und Aufgaben der Legislative, Exekutive und Judikative. Dies ist jedoch nur möglich, wenn das Recht minimal die Fremdbeschränkung ebenderselben Gewalten bewirken kann: nur ein zugängliches, verständliches und stabiles Recht kann erlauben, dass die Judikative vorwiegend auf deklarative und nichtkreative Weise agiert und die Exekutive entsprechend den vorher von der Legislative vorgegebenen Anweisungen agiert279. Wenn die CF/88 also in Art. 2 das Prinzip der Gewaltenteilung statuiert, fordert sie ein Minimum an Zugänglichkeit, Verständlichkeit und Stabilität des Rechts. Das besagt auf keinen Fall, dass die minimalen Bedeutungen der Normtexte nicht vom normativen und faktischen Gesichtspunkt aus zu kontextualisieren sind. Es besagt vielmehr, dass es semantische Grenzen gibt, die bei der Normrekonstruktion, die von der Judikative vorzunehmen ist, nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Die Gewaltenteilung ist auch ein Strukturprinzip des deutschen Grundgesetzes, das in Art. 20 Ausdruck findet: „(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

279

Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 86; Christoph Möllers, Gewaltenteilung, S. 133; Christoph Möllers, Die drei Gewalten, S. 118 sowie 153; Eros Roberto Grau, O direto posto e o direito pressuposto, 7. Aufl., S. 226.

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(2) Demokratieprinzip Das Demokratieprinzip bleibt dem Rechtssicherheitsprinzip verbunden, da es auf ein Vertrauensverhältnis zwischen den Vertretenen und ihren Vertretern gegründet ist und dieses Verhältnis auch erfordert. Die in periodisch stattfindenden Wahlen überprüfte Beständigkeit dieses Verhältnisses hängt von der Bestätigung des den Vertretern entgegengebrachten Vertrauens ab280. Eben deshalb setzt das Demokratieprinzip nicht nur Vertrauen voraus und fordert dieses Vertrauen, sondern führt auch zur Stabilität, zumal die Erhaltung des Vertrauens auch die Beständigkeit der Machtstrukturen zur Folge hat. Redor formuliert anschaulich: „im Umstand, dass der Staat das gegebene Wort hält, ist das begründet, was man als Höhepunkt der Demokratie bezeichnhen kann“281. So trägt das Demokratieprinzip besonders zur Erreichung des Ideals der Verlässlichkeit bei, das zum Rechtssicherheitsprinzip gehört. Wenn das Demokratieprinzip die Beteiligung der Bürger bei der Gestaltung und Durchführung von public policies fordert, funktioniert es auch noch als staatliche Transparenz gewährleistendes Element: effektive Bürgerbeteiligung bei der Kontrolle staatlicher Tätigkeiten ist ja nur möglich, wenn es Transparenz im Hinblick auf Ergebnisse, Prozesse, Inhalte und Verantwortlichkeiten gibt282. Das Demokratieprinzip begründet so die Forderung nach Informationstransparenz, die zur Verwirklichung des Ideals der Erkennbarkeit staatlichen Handels beiträgt, auch vermittels der finanziellen Transparenz. Das deutsche Grundgesetz statuiert wie schon erwähnt einen „demokratische[n] und soziale[n] Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1, hervorgehoben). (3) Subjektive Freiheitsprinzipien (a) Vermögensbezogene Prinzipien (aa) Prinzip des Eigentumsschutzes Außer der Festlegung umfassenderer Ideale, aus denen die Elemente der Rechtssicherheit ableitbar sind, statuiert die CF/88 ebenfalls die Erreichung spezifischerer Zwecke, die im Hinblick auf ihre Wirksamkeit das Vorliegen der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung voraussetzen. Die Prinzipien des Eigentums- und Freiheitsschutzes wurden, wie Carrazza richtig bemerkt, von der Verfassung außerordentlich hoch bewertet283.

280 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 61. 281 Marie-Joële Redor, De l’État légal à l’État de Droit, S. 291. 282 Jürgen Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, S. 377. 283 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 446.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Die CF/88 gewährleistet den Bürgern die Unverletzlichkeit des Eigentumsrechts (Art. 5, Obersatz, XXII und XXIII). Dasselbe Eigentumsrecht wird auch als Wirtschaftsordnungsprinzip statuiert (Art. 170, II und III). Das deutsche Grundgesetz erkennt gleichfalls ausdrücklich das Recht auf Privateigentum und Erbrecht in Art. 14 Abs. 1 an: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.“ Es schreibt außerdem vor, dass „[e]ine Enteignung […] nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig“ ist und nur aufgrund eines Gesetzes und gegen eine gerechte Entschädigung erfolgen darf (Art. 14 Abs. 3). Das Eigentumsrecht wird dann für die Rechtssicherheit wichtig, wenn es als Schutzfaktor bestimmter vermögensbezogener Rechtspositionen verstanden wird: der Bürger kann bestimmte Rechtspositionen ausüben, wenn er auf die Stabilität der ihn betreffenden Rechtsbeziehungen vertrauen darf, deshalb ist der Schutz des Vertrauens auf seine Beständigkeit dem Eigentumtsrecht selbst immanent284. Der eigentumsrechtlich begründete Vertrauensschutz schließt jedoch nicht das Vorliegen des Schutzes immaterieller Rechte auf anderen Grundlagen aus. Wesentlich in Ansehung des hier untersuchten spezifischen Punkts ist die Tatsache, dass der Eigentumsschutz einen Dauerhaftigkeitsanspruch beinhaltet: geschützt wird ein Vermögensbereich, der dem Bürger zur freien Nutzung zur Verfügung steht, was einen Anspruch auf Dauerhaftigkeit dieses Unantastbarkeitszustands voraussetzt, denn falls der Bereich ständig und ungerechtfertigt geändert werden könnte, würde sein Eigentümer über ihn ja nicht frei verfügen können285. Das Eigentumsrecht setzt die Beständigkeit so sehr voraus, dass die CF/88 nur seine Einschränkung vermittels spezifischer Verfahren vorsieht, desgleichen auch die Enteignung in außerordentlichen Fällen, nach dem Eintritt von Voraussetzungen, die nicht leicht erfüllt sind, und vermittels einer verhältnismäßigen Entschädigung. Das bedeutet in anderen Worten, dass selbst die Einschränkung des Eigentumsrechts auf voraussehbare Weise erfolgen muss. Mehr noch: die ausdrückliche Festlegung des Rechts auf Testierfreiheit ist ebenfalls eine indirekte Form der Erhaltung der Kontinuität: das Recht auf Übertragung des Vermögens an die Erben ist eine Form der Beständigkeit des Verstorbenen in der Person seiner Nachfolger286. Diese Bemerkungen zeigen einerseits, dass der dem Eigentumsrecht immanente Anspruch auf Dauer erlaubt, daraus die Teilideale der Rechtssicherheit abzuleiten: indem sie den Vermögensbereich schützt und ihn zu einer Regel macht, die nur ausnahmsweise unter Einhaltung eines strengen Verfahrens nach Eintritt schwerwiegender Voraussetzungen außer Kraft gesetzt werden kann, schützt die CF/88 indirekt die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung: wenn der 284 Stefan Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 41; Paul Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, in: StuW 2000, S. 230. 285 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 136; Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 290. 286 Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 292.

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Bürger weiß, dass er dieses in der Regel nicht einschränkbare Recht hat, kann er mit mehr Autonomie seine eigenen Tätigkeiten planen und dieses Recht zu einem Mittel der Verwirklichung seiner Freiheit machen. Geschützt wird so die Rechts­ sicherheit als Sicherheit des Rechts, durch das Recht und von Rechten. Andererseits zeigen die vorstehenden Bemerkungen auch, dass die Ideale der Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit Voraussetzungen der vollen Ausübung des Grundrechts auf Eigentum werden: ohne eine erkennbare, verlässliche und berechenbare Rechtsordnung kann man nicht minimal seine vermögensbezogenen Freiheitsrechte autonom ausüben287. Damit wird die Rechtssicherheit als Sicherheit von Rechten aufgrund der Sicherheit des Rechts geschützt. Das Grundrecht auf Eigentum funktioniert darüberhinaus in Verbindung mit dem Grundrecht auf Handlungsfreiheitals Fundament des Schutzes der vergangenen Ausübung dieses Rechts: wer sein Eigentum aufgrund staatlicher Orientierung gestaltet hat, hat Anrecht auf den Vertrauensschutz, falls dessen Voraussetzungen vorliegen288. (bb) Prinzipien der Berufsfreiheit und der freien wirtschaftlichen Betätigung Schon im Kapitel der Grundprinzipien statuiert die CF/88, dass die Föderative Republik Brasilien ein demokratischer Rechtsstaat ist, dessen Grundlagen die Werte der Arbeit und der freien Initiative sind (Art. 1). Später gewährleistet sie im auf die individuellen Rechte und Garantien bezogenen Teil die Freiheit der Ausübung jeder Tätigkeit, jeden Handwerks oder Berufs (Art. 5, XIII). Und im auf die allgemeinen Prinzipien der wirtschaftlichen Tätigkeit bezogenen Kapitel gewährleistet sie eine Wirtschaftordnung, die auf die Wertschätzung der menschlichen Arbeit und der freien Initiative gegründet ist (Art. 170, Obersatz), indem sie allen Personen die freie Ausübung einer jeden wirtschaftlichen Tätigkeit „gewährleistet“, unabhängig von der Ermächtigung durch die staatlichen Behörden, vorbehaltlich der gesetzlich geregelten Fälle. Und selbst im nationalen Abgabensystem erlaubt die Verfassung keine Ungleichbehandlung aufgrund der ausgeübten beruflichen Tätigkeit (Art. 150, II), womit sie elliptisch jede Art von beruflicher Tätigkeit schützt. Weniger redundant, aber gleichfalls ausdrücklich gewährleistet das deutsche Grundgesetz allen Deutschen die freie Wahl des Berufs, Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1) und stellt damit seine Befürwortung des Prinzips der freien Berufsausübung und freien wirtschaftlichen Tätigkeit unter Beweis. Die freie Ausübung einer Arbeit oder einer wirtschaftlichen Tätigkeit funktioniert als Instrument, das dem Einzelnen die Gestaltung seines eigenen Lebens erlaubt. Vermittels der Arbeit und der wirtschaftlichen Tätigkeit konstruiert der Bürger selbständig seine Individualität. Diesen Grundrechten kommt also zentrale 287 288

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 663. Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 152.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Relevanz für die Selbstbestimmung und menschenwürdige Selbstverwirklichung der Person zu. Die Freiheit funktioniert als eine Art „Status“: nur der kontinuierliche Schutz der Handlungsfähigkeit erlaubt die effektive Ausübung der Freiheit und die autonome Bildung der Persönlichkeit. Anders als beim oft wechselnden Eigentum begleitet der Beruf als dauerhafte Fähigkeit den Einzelnen während seines ganzen Lebens und stellt sich in dieser Eigenschaft als ein in ständiger Entwicklung begriffener Gegenstand dar. Er ist nichts anderes als die dauerhafte Verwirklichung einer Lebensgrundlage289. Das Grundrecht auf Berufsfreiheit setzt also eine Zeitdimension voraus, die sich durch den Anspruch auf Beständigkeit auszeichnet: dem Staat obliegen der kontinuierliche Schutz und die Nichteinschränkung der Berufsausübung290. Erkennbar ist dieser Stabilitätsanspruch noch einmal in der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der von Eingriffen in Freiheitsrechte auf ihre Verfassungsmäßigkeit, einschließlich der berufsbezogenen: als verfassungsmäßig gilt nur die geeignete Beschränkung. Dies bedeutet im Hinblick auf das gerade untersuchte Problem, dass die Bedingungen der Ausübung des Berufs stabil bleiben müssen, vorbehaltlich eines ihre Beschränkung verhältnismäßig rechtfertigenden Grundes291. Dasselbe passiert mit dem Grundrecht auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit: da es die freie Wahl und die freie Ausübung einer bestimmten Tätigkeit voraussetzt, schließt es abrupte Änderungen der Gesetzgebung oder des Verhaltens der Verwaltungsbehörden aus292. Die Vorhersehbarkeit der Wirkungen zukünftiger Entscheidungen und ihre Stabilität sind notwendige Bedingungen der rationalen und funktionalen Ausübung der Freiheit, besonders wenn man berücksichtigt, dass die Autonomie im Recht begründet und innerhalb seiner Grenzen ausgeübt wird293. In Bezug auf die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit ist diese Forderung nach Dauerhaftigkeit eine Folge bestimmter Tätigkeiten: so hat zum Beispiel die Investition, die Immobilien oder industrielle Aktivitäten beinhaltet, eine ausgedehnte Dauer; der Investor investiert also nur, falls er aufgrund der Steuerrechts langfristig urteilen und berechnen kann.294 Diese Darlegungen beweisen, dass der Dauerhaftigkeitsanspruch auch den Freiheitsrechten der Berufsausübung und der wirtschaftlichen Tätigkeit, aus denen die Teilideale der Rechtssicherheit ableitbar sind, immanent ist: indem die CF/88 die 289

Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 315. Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 163 f.; Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 314. 291 Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 318. 292 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 171. 293 Hanns Uhlrich, La sécurité juridique en Droit Économique allemand: observations d’un privatiste, in: Boy, Laurence u. a. (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 77. 294 Karl Heinrich Friauf, Steuerrechtsänderungen und Altinvestitionen. Zum Verfassungsgebot der steuerlichen Investitionssicherheit, in: StbJb (1986/1987), S. 279; Herbert Wiedemann, Rechtssicherheit – ein absoluter Wert? Gedanken zum Bestimmtheitserfordernis zivilrechtlicher Tatbestände, in: PAULUS, Gotthard u. a. (Hrsg.), S. 204 f. 290

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Handlungssphäre des Einzelnen schützt, sei es in seinem Beruf, sei es in seiner Arbeit oder in irgendeiner wirtschaftlichen Tätigkeit, und dem Staat die Verhängung unverhältnismäßiger oder exzessiver Beschränkungen verbietet, bewahrt sie mittelbar die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung: als Träger des Rechts auf aktive Selbstbestimmung darf der Bürger handeln und seine Tätigkeiten planen. Gewährleistet wird damit die Rechtssicherheit als Sicherheit von Rechten vermittels der Sicherheit des Rechts, selbst vor dem Recht. Über die Gewährleistung der Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung hinaus kann die konkrete Ausübung der Freiheit die subjektive Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips durch den Vertrauensschutz erzeugen: wer seine Freiheit in Ausrichtung am Recht in bestimmten, später noch zu untersuchenden Fällen ausübt, darf keinen Schaden erleiden295. (a) Nichtvermögensbezogene Prinzipien (aa) Prinzip des Freiheitsschutzes Die CF/88 beruht auf dem Schutz der Freiheit nicht nur in ihrer Gesamtheit, wie schon analysiert, sondern auch in ihren Teilen. Schon in der Präambel führt sie einen demokratischen Staat ein, dessen Zweck die Gewährleistung der Freiheit ist. Und das Kapitel der individuellen Rechte und Garantien eröffnet sie, indem sie allen Bürgern die Unverletzlichkeit des Rechts auf Freiheit gewährleistet, um anschließend eine Reihe von spezifischeren Rechten (Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit und Glaubensfreiheit, Freiheit der geistigen, künstlerischen, wissenschaftlichen Tätigkeit und der Kommunikationstätigkeit, Vereinigungsfreiheit) und Garantien zu statuieren, mit dem Zweck der Verwirklichung der Freiheit (Erhalt von Informationen von den staatlichen Behörden, Einreichung eines Antrags auf Sicherungsmandat oder Habeas Corpus). Das deutsche Grundgesetz beruht ebenfalls auf dem Schutz der Freiheit. Schon in Art. 2 statuiert es, dass jeder das „Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ hat und dass die „Freiheit der Person unverletzlich“ ist und in sie „nur auf Grund eines Gesetzes“ eingegriffen werden darf (Abs. 1 f.). Noch im den Grundrechten gewidmeten Kap. I statuiert es eine Reihe von spezifischeren Rechten: die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4), die Meinungs- und Pressefreiheit, Rundfunk- und Filmfreiheit, Freiheit der Kunst und der Wissenschaft (Art. 5), die Versammlungsfreiheit (Art. 8), die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9) und die Freizügigkeit (Art. 11). Es wäre müßig, alles zu wiederholen, was über die Prinzipien der Freiheit der Berufausübung und der wirtschaftlichen Tätigkeit gesagt worden ist. Mit Bezug auf das Freiheitsprinzip im Allgemeinen gilt alles bisher Gesagte, aber auf noch 295

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 162.

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umfassendere Weise: diese allgemeine Freiheitsprinzip schützt subsidiär jede nicht durch irgendein spezifisches Freiheitsprinzip geschützte Einschränkung, darüberhinaus aber auch die Selbstbehauptung und Selbstbestimmung (Fähigkeit der Festlegung der eigenen Identität), den Selbstschutz (Fähigkeit, sich zu verwahren und zurückzuziehen, sowohl rechtlich, in der Privat- und Intimsphäre, als auch physisch, durch Rückzug in die eigene Wohnung) und die Selbstexponierung (Fähigkeit, von Selbstdarstellungen abzusehen, die man als Angriff auf die eigene Person versteht, und Fähigkeit, zu entscheiden, was man über sich bekanntgeben will)296. Rechtliche Freiheit bezeichnet also die Macht zur Wahl zwischen zwei Verhaltensalternativen, die rechtliche Risiken vermeiden oder verringern, d. h. prognostizierungs- und kontrollfähige Rechtsfolgen, die Entscheidungen von Einzelnen beeinflussen297. Freiheit beinhaltet somit Autonomie, und letztere steht im Gegensatz zu einem Leben von erzwungenen Wahlen oder ohne Wahlmöglichkeiten298. Die Untersuchung des Inhalts der Freiheitsprinzipien erbringt den Nachweis, dass die Verlässlichkeits- und Berechenbarkeitsideale als Voraussetzungen für ihre Wirksamkeit funktionieren. Ohne eine erkennbare, verlässliche und berechenbare Rechtsordnung kann man die vermögensbezogenen Freiheitsrechte nicht mit minimaler Autonomie ausüben, ebensowenig die Freiheit der Selbstbestimmung: um zu arbeiten oder einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen, muss der Bürger wissen, wie die Normen, die seine Tätigkeit regeln, erlassen werden, was ihr Inhalt ist, und wie sie die Wahl des Berufs oder der Tätigkeit und deren ständige Ausübung bedingen. Ohne zu wissen, welches die Normen sind und welche Behörden sie erlassen können, und ohne minimal stabile und die Behörden bindende Normen ist der Bürger strenggenommen nicht in der Lage, in Freiheit zu handeln und zu planen299. Daher die Behauptung, dass die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns die Fundamente für das Handeln und die Planung des einzelnen, einschließlich im wirtschaftlichen Bereich, abgeben300. Daraus ergibt sich auch die notwendige Korrelation zwischen Freiheit und Sicherheit. Oder, in der Formulierung von Arnauld: „Ein selbstbestimmtes Leben zu führen, bedeutet, sein Leben planen zu können“301. Und, in der Formulierung von Vogel: „Sicherheit des objektiven Rechts ist Voraussetzung für die Sicherheit subjektiver Rechte“302. Hey hat das folgendermaßen ausgedrückt: „Freiheit gedeiht nur im Vertrauen,

296

Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, Staatsrecht II: Grundrechte, 23. Aufl., S. 87. Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 155. 298 Joseph Raz, The Morality of Freedom, S. 371. 299 Christoph Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 164. 300 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 37 sowie 118, 155, 162. 301 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 668. 302 Klaus Vogel, Rechtssicherheit und Rückwirkung zwischen Vernunftrecht und Verfassungsrecht, in: JuristenZeitung 43 (1988), S. 833. 297

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Vertrauen nur in der Freiheit“303. Kurz, der Schutz der Freiheit funktioniert als mittelbare Garantie der Rechtssicherheit als Sicherheit von Rechten durch Sicherheit des Rechts. Die eigentums- und freiheitsbezogenen Grundrechte sind von entscheidender Bedeutung, wenn es um die Feststellung des Vorliegens der reflexiven Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips geht. Obwohl in einigen Situationen die Glaubwürdigkeit der ganzen Rechtsordnung noch nicht vorliegt, hat der Steuerzahler schon, über sein Vermögen und seine Freiheit mit derartiger Intensität und auf Dauer verfügt, dass die Vorstellung, dass eine spätere Änderung ihm Schaden zufügen kann, nicht erträglich ist. Mehr noch: oft bezieht sich das Problem nicht nur auf das Vorliegen von frei und spontan vom Steuerzahler begangenen Verfügungshandlungen; in einigen Fällen ist es der Staat selbst, der den Steuerzahler zu bestimmten Tätigkeiten anreizt, anzieht oder gar verpflichtet. In solchen Situationen sind rückwirkungsbezogene Probleme so zu lösen, dass die Ausübung der Eigentums- und Freiheitsrechte berücksichtigt wird, nicht einfach nach Maßgabe der rückwirkenden oder retrospektiven Wirksamkeit der abändernden Norm. Damit soll behauptet werden, dass die Berücksichtigung der Grundrechte des Steuerzahlers das Verständnis des Rechtssicherheitsprinzips selbst signifikant ändert: wenn das Rechtssicherheitsprinzip nicht nur den Schutz der Kontinuität der Rechtsordnung bezeichnet, sondern auch den Schutz der Ausübung bestimmter Grundrechte, können Probleme, die sich aus der Änderung der Rechtsordnung ergeben, nicht mehr ausschließlich aus der bloßen Perspektive der zeitlichen Beziehung zwischen Normen gelöst werden, indem man feststellt, ob der Steuerzahler seine Handlung während der Geltung der vorherigen Gesetze begangen oder nicht begangen hat; diese Probleme sind vielmehr aus der Perspektive der Einschränkung von Grundrechten zu lösen, vermittels der Untersuchung der Intensität des Eingriffs und des Gewichts der Rechtfertigung dieses Eingriffs, selbst wenn möglicherweise die Handlungen nicht in der Vergangenheit stattgefunden haben. Anders gewendet: die grundrechtliche Begründung der Rechtssicherheit ändert die Kriterien, nach denen die Wirksamkeit von Normänderungen festgestellt werden, selbst, die nicht mehr ausschließlich im Rechtsstaat, sondern in den staatliches Handeln gestaltenden Grundrechten und Prinzipien begründet sind. Diese Neubegründung des Rechtssicherheitsprinzips führt zu Auswirkungen in der Prüfung der Mittel seiner Verwirklichung. So ist zum Beispiel an Stelle eines tatbestandsbezogenen Rückwirkungsbegriffs ein handlungsbezogener Rückwirkungsbegriff zu konstruieren; statt einer unbegrenzten Befugnis der Verwaltung zur Änderung von Rechtsakten eine Verfügungshandlungen über Freiheit und Vermögen begrenzte Befugnis, usf.304. Die grundrechtliche Begründung der Rechtssicherheit schlägt auf die positive Bewertung der Elemente durch, die nicht notwendig vom Standpunkt der Tatbe 303 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 120; Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 280. 304 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 215 sowie 237.

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stände der Besteuerungsregeln aus relevant sind. In vielen Situationen wird die Tätigkeit des Steuerzahlers vom Standpunkt des Rechtssicherheitsprinzips aus relevant sein, selbst wenn aus der Perspektive der verfassungsrechtlichen Regeln des Rückwirkungsverbots die Handlungen nicht während der Geltung der vorherigen Norm begangen worden sind. (bb) Prinzip des Familienschutzes Die CF/88 statuiert, dass die Familie vom Staat besonders zu schützen ist (Art. 226). Darüber hinaus statuiert sie eine Reihe von familienbezogenen Rechten und Garantien, so u. a. den Schutz der Ehe und der eheähnlichen Gemeinschaft (Art. 226), den Schutz der kleinbäuerlichen Landwirtschaft (Art. 5, XXVI), den das Überleben der Familien sichernden Mindestlohn (Art. 7, IV), den Familienzuschlag (Art. 7, XII) und die Sozialhilfe für Familien (Art. 203, I). Das deutsche Grundgesetz statuiert auch ausdrücklich, dass „Ehe und Familie […] unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung [stehen]“ (Art. 6 Abs. 1). Der Schutz der Familie beinhaltet im weiteren Verständnis die Gewährleistung der Beständigkeit und den Vertrauensschutz gegen Einschränkungen, welche die Familie als Institution und Grundrecht bedrohen, was wiederum minimale und vor allem stabile gesellschaft­ liche Bedingungen voraussetzt305. Familienschutz bezeichnet die Pflicht, Bedingungen für die Erhaltung der Familie zu schaffen306. Der Schutz stabiler sozialer Institutionen wie der Familie und der Ehe setzt wiederum die Schaffung eines Zustands institutioneller Stabilität voraus, der präzise eines der Elemente des Rechtssicherheitsprinzips ausmacht: Verlässlichkeit durch Beständigkeit. Indem sie die Familie schützt, schützt die CF/88 die Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts und von Rechten. Alle vorstehenden Bemerkungen über die vermögensbezogenen und nichtvermögensbezogenen Freiheitsrechte belegen, dass die CF/88 die Rechtssicherheit als Sicherheit der Rechte schützt, die ihrerseits Sicherheit des Rechts und eines jeden Bürgers vor dem Staat voraussetzt, die vom Staat mit Hilfe von Normen, Einzelakten und Verfahren, die Individualrechte gewährleisten können, zu verwirklichen ist. Angesichts dessen beweisen alle Betrachtungen über die vermögensbezogenen und nichtvermögensbezogenen Freiheitsrechte, dass auch das deutsche Grundgesetz so wie die CF/88 durch Statuierung spezifischer anzustrebender Ideale die Rechtssicherheit als Sicherheit der Rechte schützt.

305

Stefan Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 48; Paul Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, in: StuW 2000, S. 229. 306 Misabel de Abreu Machado Derzi, A família e o Direito Tributário, in: RDT 65 (o. J.), S. 162.

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(4) Gleichheitsprinzip Nachdem die Verfassung in der Präambel einen demokratischen Staat zwecks Gewährleistung der Gleichheit einrichtet, gewährleistet sie im Kapitel der Individualrechte und -garantien die Unverletzlichkeit des Gleichheitsrechts (Art. 5, Obersatz) im Allgemeinen und die Gleichheit der Rechte und Verpflichtungen zwischen Männern und Frauen (Art. 5 I) im Besonderen, neben anderen indirekten Erscheinungsformen der Gleichheit. Das deutsche Grundgesetz bestimmt seinerseits schon in Art. 3 Abs. 1: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Außerdem statuiert es in § 2 desselben Artikels die Gleichberechtigung von Männern und Frauen und erlegt damit dem Staat die Pflicht auf, für die tatsächliche Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frauen durch Abschaffung noch bestehender Benachteiligungen zu sorgen. Und in Abs. des Artikels statuiert das Grundgesetz schließlich: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Und in Art. 33 heißt es: „Jeder Deutsche hat in jedem Lande die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ (Abs. 1) und „Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte“ (Abs. 2). Obwohl dies nicht der Fall zu sein scheint, ist der Gleichheitsschutz eine indirekte Form des Rechtssicherheitschutzes. Dies geschieht hauptsächlich auf zwei Weisen. Einerseits durch die Pflicht der Gleichbehandlung vor dem Gesetz: da die allgemeinen und abstrakten Normen auf gleichförmige und unpersönliche Weise ohne Ansehen der Person anzuwenden sind, muss der sich in einer entsprechenden Situation befindende Bürger die gleiche Behandlung erhalten307. Die allgemeinen und abstrakten Normen liefern den Adressaten feste Verhaltensparameter und erlauben ihnen, die Folgen ihrer Handlungen und das Verhalten der übrigen Bürger vorwegzunehmen. Wenn dem so ist, erzeugt die Kenntnis eines Verwaltungsakts oder einer verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Entscheidung im Bürger die Erwartung, dass bei Eintritt eines ähnlichen Falls dieselbe Lösung zur Anwendung kommt308. Aus dieser Forderung der sich aus dem Gleichheitssatz ergebenden Anwendungsgleichheit lassen sich die Rechtssicherheit ausmachenden Elemente der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit ableiten: die Verlässlichkeit, da die Pflicht der gleichförmigen Anwendung die Pflicht der Beibehaltung derselben Entscheidung für gleiche Fälle erzeugt und damit die Stabilität und bindende Natur des Rechts fördert; die Berechenbarkeit, da der Bürger dieselbe Lösung für gleiche Fälle vorhersehen und damit seine Tätig-

307

Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 160. Misabel de Abreu Machado Derzi, Mutações, complexidade, tipo e conceito, sob o signo da segurança e da proteção da confiança, in: Torres, Heleno (Hrsg.), Estudos em homenagem a Paulo de Barros Carvalho, S. 284.

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keiten planen kann, in dem Wissen, dass der gleichen Handlung dieselbe Rechtsfolge zugeschrieben werden soll309. Andererseits, aufgrund der Gleichheit in der Zeit und der Gleichbehandlung der Bürger, vorbehaltlich der Rechtfertigung der ungleichen Behandlung, weiß der Bürger, dass ein Verwaltungsakt oder eine verwaltungsbehördliche oder gerichtliche Entscheidung Bestand haben müssen, wenn keine wesentliche Änderung der Situation eingetreten ist, die dem Erlasses des Akts oder der Verkündung der Entscheidung zugrundeliegt. Aus dieser Forderungder Gleichheit in der Zeit oder der systematischen Gleichheit, die sich aus dem Gleichheitssatz ergibt, lassen sich auch die Rechtssicherheit ausmachenden Elemente der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit ableiten: die Verlässlichkeit, da die Pflicht zur Beibehaltung der Entscheidung, wenn ihre Änderung nicht ausnahmsweise gerechtfertigt ist, die Ideale der Stabilität und bindenden Natur des Rechts fördert; die Berechenbarkeit, da der Bürger die Beibehaltung des Akts oder der Entscheidung vorhersehen können muss, wenn es keinen neuen Rechtfertigungsgrund für eine Änderung gibt. Gleichheit ist somit ein Instrument der Sicherheit durch die sich aus diesen Elementen ergebenden Gleichförmigkeit und Unparteilichkeit310. Außerdem stellen verschiedene berechenbarkeitsbezogene Rechtsfragen auch ein Gleichheitsproblem dar. Man beachte z. B. das Rückwirkungsproblem: wenn zwei Personen, A und B, in einem bestimmten Augenblick sich in derselben rechtlichen Situation befinden, aber eine, A, ein Verhalten wählt, dessen Folge später geändert wird, während die andere, B, dieses Verhalten nicht wählt, ist B in einer günstigeren Lage als A, aus Gründen, auf die beide keinen Einfluss haben311. In anderen Worten: die Rückwirkung macht rechtlich gleiche Personen ungleich: der einzige Unterschied zwischen dem von der neuen Regel Betroffenen und dem Nichtbetroffenen ist die Zeit, obwohl beide Verhaltensweisen dieselben waren312. Die Feststellung fällt nicht schwer: der Gleichheitsschutz führt zur Garantie der Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts und der Rechte eines jeden Bürgers vor dem Staat, zu verwirklichen vom Staat durch die kohärente und konsistente Anwendung der Rechtsordnung auf alle in einer gleichwertigen Situation befindlichen Personen. (5) Menschenwürdeprinzip Es mag übertrieben anmuten, das Prinzip der Menschenwürde zu den Fundamenten des Rechtssicherheitsprinzips zu rechnen. Eine sorgfältigere Analyse zeigt 309

Michael Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 499. Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 386. 311 Ake Frändberg, Retroactivity, Simulactivity, Infraactivity, in: ARSP 64 (1995), S. 70. 312 Ben Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, S. 212. 310

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jedoch einen engen Zusammenhang mit den Forderungen der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts. Diese das größere Rechtssicherheitsideal bildenden Teilideale sind die Voraussetzungen der Selbstverwirklichung des Menschen: ohne eine minimal verständliche stabile und voraussehbare Rechtsordnung kann der Mensch sich nicht frei entfalten, seine Gegenwart nicht gestalten und auch seine Zukunft in Freiheit und Autonomie nicht planen. Ohne diese Bedingungen kann er sich also nicht als autonomes und würdiges Subjekt definieren. Die Rechtssicherheit ist somit die recht­ liche Voraussetzung, um die Menschenwürde zu verwirklichen. Deshalb kann man sagen, dass die Menschenwürde ein indirektes Fundament der Rechtssicherheit ist, ohne welche die Menschenwürde als aktive und mitverantwortliche Teilhabe an den Schicksalen des eigenen Lebens und des Zusammenlebens mit anderen Menschen empfindlich eingeschränkt wird313. Außerdem provoziert die Missachtung der Rechtssicherheit gleichfalls die Verletzung des Menschenwürdeprinzips. Man nehme den Fall der Rückwirkung der Gesetzgebung. Damit der Einzelne frei und selbständig seine Gegenwart gestalten und seine Zukunft planen kann, muss er gleichfalls durch die in der Zeit, in der er handelt, geltenden Regeln angeleitet werden. Wenn jedoch die Änderung der Gesetzgebung rückwirkende Folgen hat, wird seine Handlung nach Regeln bewertet, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung nicht vorlagen. Die Regeln wirken nicht auf seinen Willen ein, da sie erst nach dessen Betätigung auftreten. So handelt der Einzelne unter dem Einfluss des zum Zeitpunkt seiner Handlung geltenden Gesetzes, wird aber durch ein zu diesem Zeitpunkt nicht geltendes Gesetz angeleitet. Er wird also manipuliert, handelt aufgrund einer Norm, wird aber von einer anderen angeleitet. Er wird auch getäuscht, handelt im Glauben, durch eine Norm angeleitet zu sein, wird aber in Zukunft von einer anderen Norm angeleitet. Am Ende wird er wie ein Objekt behandelt, nicht wie ein Mensch, der Achtung verdient und die Möglichkeit hat, seine eigene Wahl frei innerhalb des ihm bekannten Normenrahmens zu treffen. Diese Betrachtungen erklären die Behauptung von Della Valle, dass die in peius rückwirkende Norm den Menschen „vom Subjekt zum Objekt“ degradiert314. Der Grund dieser Degradierung springt ins Augen: wenn das Menschenwürdeprinzip die Schaffung von Bedingungen dafür erfordert, dass der Mensch auf verantwortliche, freie und rationale Weise seine Persönlichkeit entwickeln kann, steht die rückwirkende Geltung diesem Prinzip entgegen, da sie den Menschen einfach an der Entscheidung und Reaktion hindert315.

313 Ingo Wolfgang Sarlet, A eficácia do direito fundamental à segurança jurídica: dignidade da pessoa humana, direitos fundamentais e proibição de retrocesso social no Direito Constitucional brasileiro, in: Rocha, Cármen Lúcia Antunes (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada. Estudos em homenagem a José Paulo Sepúlveda Pertence, S. 94. 314 Eugenio Della Valle, Affidamento e certezza del Diritto Tributario, S. 92. 315 Heike Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, S. 198.

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Außerdem wählt ein rationaler Mensch Verhaltensweisen durch Prüfung der Folgen, die sich an die verschiedenen Verhaltensalternativen knüpfen. Einige dieser Folgen werden von der Rechtsordnung zugeschrieben. Das Handeln des Einzelnen kann sich also aufgrund der Rechtsfolgen, die seinem Verhalten zugeordnet sind, ändern. Wenn nun die Rechtsordnung einem bestimmten Verhalten zu einem gegebenen Zeitpunkt eine bestimmte Folge zuordnet, sie aber nach der Realisierung des Verhaltens ändert, wird die normative Begründung der Handlung automatisch geändert. Wäre es dem Einzelnen gegeben, die nach seiner Handlung eintretenden Folgen zu erkennen, würde er vielleicht nicht den Handlungsverlauf, für den er sich letztlich entschieden hat, gewählt haben. Nun liegt aber die Einschränkung der Menschenwürde in der Tatsache, dass der Adressat von einer nicht erwarteten Rechtsfolge betroffen und von einer erwarteten Rechtsfolge nicht betroffen wird. Der Gesetzgeber spielt also mit dem Adressaten, als ob dieser ein Objekt wäre, vor allem, indem er dessen Autonomie zerstört, da der Adressat, da er schon aufgrund der damals geltenden Norm gehandelt hat, sein Verhalten durch Berücksichtigung der erst danach in Geltung tretenden Norm nicht mehr ändern kann. Da die ihn betreffenden Rechtsfolgen schon vollständig von einem bereits gewählten Verhalten bestimmt worden sind, wird ihm die Möglichkeit genommen, andere Pläne unter Berücksichtigung unterschiedlicher Rechtsfolgen zu entwerfen316. Dies erklärt auch, warum Marmor eine rückwirkende Norm als Beleidigung der Menschenwürde und der Freiheit kennzeichnet: die Menschen verdienen eine rationale und würdige Behandlung, weshalb das Recht vorgängig die Verhaltensmodelle fest­ legen muss, um ihnen damit zu ermöglichen, sich freiwillig für den Gehorsam oder Ungehorsam zu entscheiden317. Deswegen sagt man auch, dass die Achtung der Autonomie des Einzelnen die Achtung seiner Planungsfähigkeit einschließt; diese erfordert ihrerseits die Achtung seiner Fähigkeit, sich in seinem Handeln auf das Recht zu verlassen. Diese Achtung verhindert somit, dass das Recht etwas anderes ist als das, was es tatsächlich zum Zeitpunkt der Handlung gewesen ist318. Man untersuche gleichfalls den Fall der ausbleibenden Verfahrenssicherheit durch Gewährleistung des Widerspruchsrechts und der umfassenden Verteidigung. Der Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz erfordert, dass die Parteien über die im Verfahren erfolgten Akte und die dazugehörige Elemente unterrichtet werden, damit sie zu den quaestiones facti und iuris Stellung nehmen und ihre Argumente auf unabhängige, unparteiliche und begründete Weise berücksichtigt wissen können. Wo diese Garantien nicht eingehalten werden, wo also der Bürger von seine Rechte einschränkenden Entscheidungen oder Akten überrascht wird und nicht selbständig auf sie reagieren kann, erleidet er nicht nur eine Einschränkung seines Rechts auf Rechtssicherheit im Verfahren (wegen ausbleibender Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Verhaltens der Verwaltungsbehörde oder des Gerichts), sondern wird auch in seiner Würde ungerechtfertigt beschnit 316

Ake Frändberg, Retroactivity, Simulactivity, Infraactivity, in: ARSP 64 (1995), S. 70. Andrei Marmor, Law in the age of pluralism, S. 20. 318 Ben Juratowitch, Retractivity and the Common Law, S. 49. 317

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ten. Daher sind die Bemerkungen des Richters am Obersten Bundesgerichtshof Cezar Peluso in der Bearbeitung des Sicherungsmandats Nr. 24.268, in dem die Aussetzung einer während eines langen Zeitraums gewährten Pension wegen angeblicher arglistiger Täuschung angefochten wurde. Der Richter verwies auf das Widerspruchsrecht und auf das Recht auf umfassende Verteidigung der Partei: „Sie ist anzuhören, denn die Nichtanhörung unter dem Vorwand der angeblichen scheinhaften Täuschung verwandelt den Menschen in ein Objekt: es wird über ihn verfügt, ohne dass er Gelegenheit erhält, angehört und als Subjekt behandelt zu werden“319. Schließlich ist zu erwähnen, dass die zuvor genannten Grundrechte (des Eigentums, der Freiheit, Gleichheit und Würde) am Anfang der Verfassung unmittelbar nach den Grundrechten eingeführt worden sind. Mehr noch, sie wurden durch Art. 5 Abs. 1 für unmittelbar anwendbar erklärt, sind also nach Maior Borges selbstanwendbar320. In diesem Sinn hat ihnen die Verfassung selbst, wie Machado Derzi hervorgehoben hat, Selbstanwendbarkeit, Vorrangigkeit, Kohärenz, Unumkehrbarkeit und Unerschöpflichkeit zuerkannt321. Symptomatisch ist auch die Tatsache, dass diese Grundrechte in hohem Maß immer durch kategorische Formulierungen statuiert werden, um ihre Einschränkung zu behindern, so z. B. „ist unverletzlich“, oder um ihnen Wirksamkeit zu gewährleisten, so z. B. „ist vollständig“. Die Art und Weise, auf welche die Verfassung die Grundrechte festlegt, ist ein Indikator der Wirksamkeit, mit der sie sie objektiv ausstatten will. Die hier aufgezählten Grundrechte sind gleichfalls in Kap. I des deutschen Grundgesetzes statuiert und „binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“, wie Art. 1 Abs. 3 ausdrücklich festlegt. bb) Durch Induktion (1) Verwaltungsrechtliche Prinzipien (a) Sittlichkeitsprinzip Die CF/88 statuiert nicht nur umfassende und spezifische Ideale, welche die Ableitung der Strukturelemente der Rechtssicherheit erlauben, sondern postuliert auch die Suche nach strikteren Idealen, von denen aus höhere Zwecke, welche die Zustände der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der (und durch die) Rechtsordnung ausmachen, induzierbar sind. In diesem Fall obliegt dem Juristen in der anschau­ 319

MS Nr. 24.268, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 17. 09. 04, S. 189 des Urteils. 320 José Souto Maior Borges, Segurança jurídica: sobre a distinção entre competências fiscais para orientar e atuar o contribuinte, in: RDT 100 (o. J), S. 20. 321 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 463.

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lichen Formulierung, die Carvalho bezogen auf die Rechtssicherheit gebraucht, die Prüfung der „Prinzipien, die im Verbund die Fundamente, auf denen sie [scil. die Rechtssicherheit] ruht, bilden würden“322. Die CF/88 hat neben den Grundprinzipien gleichfalls auf das Rechtssicherheitsprinzip durchschlagende Verwaltungsprinzipien statuiert. Zu ihnen gehört das Prinzip der Sittlichkeit der Verwaltung (Art. 37). Trotz seiner Weite kann man aus ihm die Forderung nach seriösen und loyalen Verhaltensweisen seitens der öffentlichen Verwaltung ableiten: seriös sollen diese Verhaltensweisen sein, da sie begründet und gerechtfertigt sein müssen; loyal, da sie das Vertrauen und die legitimen Erwartungen des Bürgers nicht enttäuschen dürfen323. Eben diese Forderungen nach Seriosität und Loyalität machen das Rechtssicherheitsideal aus. In höherem oder geringerem Maß finden sie Ausdruck in der Bemühung um ein wahres, nicht mit dem Interesse des Staatsapparats oder der Finanzverwaltung zu verwechselndes öffentliches Interesse an der Achtung der privaten Interessen und des objektiven Prinzips von Treu und Glauben324. Obwohl das Prinzip der Sittlichkeit der Verwaltung im deutschen Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt wird, lässt es sich unschwer nicht nur vom Begriff des „demokratische[n] und soziale[n] Bundesstaats“ ableiten (Art. 20 Abs. 1), sondern auch von der Bindung der Staatsgewalten an die in Art. 1 ff. spezifizierten Grundrechte (Art. 1 Abs. 3). Alle diese Garantien spiegeln die Forderung der Verfassung nach seriösen und loyalen Verhaltensweisen seitens der staatlichen Verwaltung wider, was die Entscheidung für das Prinzip der Sittlichkeit der Verwaltung beweist. Die Forderung nach Seriosität ist ein Mittel, um den auf die Erkennbarkeit gegründeten Zustand der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung zu erreichen: die Pflicht zur Wahl ernsthafter Verfahren, im Sinn von begründeten und gerechtfertigten Verfahren, erlaubt dem Bürger den Zugang zu den Verwaltungsakten und den Bedingungen, welche erlauben deren Motivation zu verstehen, wodurch er sich organisieren und seine eigenen Tätigkeiten vorausplanen kann; und die Pflicht zur Wahl loyaler Verfahren, die ein Klima des wechselseitigen Vertrauens zwischen dem Staat und dem Bürger schaffen, erlaubt dem Bürger, zu handeln, ohne in der Ausübung seiner Freiheit überrascht zu werden. Das Sittlichkeitsprinzip hatt somit eine zweifache Funktion: für den Staat vermeidet es illoyale und nicht begründete Verhaltensweisen; für den Bürger wirkt es verhaltensorientierend, indem es ihm Enttäuschungen und Überraschungen erspart. Man kann also behaupten, dass das Sittlichkeitsprinzip eine individuelle und eine staatliche Komponente hat. Dieser Dualismus führt dazu, dass das auf ihm beruhende Rechtssicherheitsprinzip ebenfalls eine Zwitternatur hat: es schützt den 322 Paulo de Barros Carvalho, Segurança jurídica e modulação dos efeitos, in: Revista da Fundação Escola Superior de Direito Tributário 1 (2008), S. 206. 323 Celso Antônio Bandeira de Mello, Legalidade e Moralidade, in: RDT 69 (2001), S. 183. 324 Marçal Justen Filho, O princípio da moralidade pública e o Direito Tributário, in: RTDP 11 (1995), S. 52 ff.

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Bürger und regelt das staatliche Verhalten. Diese schlichte und scheinbar bedeutungslose Feststellung erhält bei der Konkretisierung des Rechtssicherheitsprinzips eine besondere Bedeutung. So greift z. B. der Schutz des legitimen Vertrauens (wie später anlässlich der Untersuchung der zeitlichen Dimension der Rechtssicherheit zu zeigen sein wird) nur ein, wenn es eine Vertrauensgrundlage gibt. Unter dieser ist diejenige eindeutige staatliche Äußerung zu verstehen, die Erwartungen wecken kann. Einer in der Rechtswissenschaft verbreiteten Ansichtzufolge gibt es keine legitime Erwartung, wenn die Vertrauensgrundlage unpräzise und dunkel oder gar rechtswidrig ist325. Wenn jedoch der Vertrauensschutz auf mangelnde Normklarheit zurückgeht, wird die Erwartung der Bürger umso weniger geschützt sein, je dunkler das Recht ist, an dem sich ihr Handeln orientiert hat. Dieses Verständnis ist jedoch mit dem Sittlichkeitsprinzip unvereinbar: wenn der Vertrauensschutz wegen des bloßen Ausbleibens der Normklarheit entfällt, wird der Staat„ gleichzeitig durch deren Übernahme begünstigt, in schlagender Verletzung der Pflicht zur Wahl seriöser und loyaler Verhaltensweisen. Im Hinblick auf die Beibehaltung rechtswidriger Akte hat das Prinzip des Vertrauensschutzes eine zwiespältige Wirksamkeit. Einerseits erzeugt der Ablauf einer langen Zeitspanne den Schein der Legalität, die bei Abänderung der gesetzlichen Grundlage ein widersprüchliches Verhalten des Staates zur Folge hat: je länger die Zeitspanne, desto höher die Erwartung, dass der Akt gültig ist und der Staat ihn nicht als rechtswidrig behandelt326. Die Revision verwaltungsbehördlicher Akte nach Ablauf einer langen Zeitspanne ist ein Beispiel für illoyales Verhalten der Verwaltung327. Andererseits widerspricht dasselbe Prinzip der staatlichen Sittlichkeit der Beibehaltung rechtswidriger Akte: da es ein loyales, seriöses und begründetes Verhalten des Staats erfordert, ist rechtswidriges Handeln illoyal, besonders wenn die Rechtswidrigkeit von Anfang an der handelnden Person bekannt ist. Diese Zweideutigkeit wird durch die Nichtigkeitserklärung rechtswidriger Akte aufgehoben, wenn die Behörde, welche die Akte erlassen hat, oder die Einzelnen, die von ihnen profitiert haben, von ihrer Rechtswidrigkeit Kenntnis hatten oder auf zumutbare Weise Kenntnis haben konnten, vorbehaltlich der Fälle, in denen, davon unabhängig, ein anderes Element zur Behebung des Defizits der normativen Grundlage vorliegt, wie etwa der Ablauf einer langen Zeitspanne oder die synallagmatische Natur der mit der Verwaltungsbehörde eingegangenen Beziehung, wie später noch nachzuweisen sein wird. Dieses und andere Beispiele sollen darlegen, dass das Sittlichkeitsprinzip die Ausgestaltung des Rechtssicherheitsprinzips selbst ändert, da es ihm die Funktionen der Anpassung staatlicher Akte und des Schutzes der Erwartungen der Bürger zuschreibt. 325 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 252; Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 301. 326 Johannes Mainka, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, S. 32. 327 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 99.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

(b) Öffentlichkeitsprinzip Die CF/88 statuiert nicht nur, dass die Verwaltung das Öffentlichkeitsprinzip zu befolgen hat (Art. 37, Obersatz), sondern schreibt auch vor, dass das Gesetz die Öffentlichkeit von Verfahrensakten nur dann einschränken darf, wenn der Schutz der Privatsphäre oder das gesellschaftliche Interessie dies gebieten (Art. 37, LX). Indem sie so verfährt, statuiert sie Ideale, die Teile der Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung sind328. Das deutsche Grundgesetz statuiert das Öffentlichkeitsprinzip in Art. 82 (Verkündung der Gesetze und Rechtsverordnungen im Bundesgesetzblatt). Außerdem gibt es eine Reihe von Forderungen im Verfassungstext, die sich auf das Öffentlichkeitsprinzip beziehen, so z. B. die Bestimmung, dass die Sitzungen des Deutschen Bundestags öffentlich sind (Art. 42 Abs. 2), wie auch die Sitzungen des Bundesrats (Art. 52 Abs. 3). Die Bemühung um einen Zustand der Öffentlichkeit hängt einerseits von der Wahl bestimmter Verhaltensweisen ab, die zu seiner Förderung beitragen, wie im Fall der Schriftform für normsetzende und verwaltungsbehördliche Akte, der Veröffentlichung der Gesetze und verwaltungsbehördlichen und gerichtlichen Akte, der Bekanntgabe bei verwaltungsbehördlichen und gerichtlichen Akten und der Begründungspflicht für verwaltungsbehördliche Akte. Das bedeutet, dass die Einführung des Öffentlichkeitsprinzips dazu führt, dass die für seine Verwirklichung notwendigen Verhaltensweisen gewählt werden. Die Öffentlichkeit ist der Zweck, von dem die für seine Verwirklichung notwendigen Mittel abzuleiten sind. Andererseits gehört die Pflicht, einen Zustand der Öffentlichkeit herzustellen, zum höheren Ideal der Gewährleistung des auf die Erkennbarkeit gegründeten Zustands der Verlässlichkeit und der Berechenbarkeit der Rechtsordnung. Die Öffentlichkeitspflicht trägt in der Tat zur Steigerung der Verständlichkeit der Rechtsordnung bei, da der Bürger infolge der Veröffentlichung und Bekanntgabe bessere Bedingungen des Zugangs zu den Normen und ihrem Verständnis hat329. Öffentlichtkeit ist das Mittel, von welchem eines der die Rechtssicherheit bildenden Teilideale abgeleitet wird. Die Einführung der Sittlichkeit und der Öffentlichkeit als Verwaltungsprinzipien führt also zur Gewährleistung der Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts und durch das Recht, der Bürger vor dem Staat, zu verwirklichen durch den Staat in der seriösen, loyalen und transparenten Ausübung seiner Verwaltungsbefugnisse. (2) Verfahrensprinzipien Indem die brasilianische Bundesverfassung statuiert, dass das Gesetz keine Verletzung oder Bedrohung eines Rechts von der Prüfung durch die Gerichtsbarkeit 328

Jürgen Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, S. 159 ff. Alessandro Pizzorusso / Paolo Passaglia, Constitution et sécurité juridique – Italie, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 202. 329

II. Begründung der Rechtssicherheit 

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ausschließt (Art. 5, XXXV), dass niemand belangt noch verurteilt wird, es sei denn durch eine befugte Behörde (Art. 5, LIII), dass niemand der Freiheit oder seiner Güter ohne ein ordnungsgemäßes Verfahren beraubt wird (Art. 5, LIV) und dass den Parteien im verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren und den Angeklagten im Allgemeinen die Rechte auf Anhörung der anderen Partei und die Rechte auf umfassende Verteidigung gewährleistet werden, zudem die einschlägigen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe (Art. 5 LV), statuiert sie gleichfalls die Förderung der Rechtssicherheit, sowohl in ihrer Dimension der Sicherheit durch das Recht als auch in ihrer Dimension der Sicherheit vor dem Recht. Die Förderung der Sicherheit durch das Recht erfolgt durch die Festlegung von Verfahren, durch die der Bürger seine Rechte verteidigen kann, wie im Fall der Garantien des ordnungsgemäßen Verfahrens, der umfassenden Verteidigung und der Anhörung der anderen Partei, auch gegen Manifestationen des Rechts selbst. Das deutsche Grundgesetz enthält ebenfalls eine Reihe von Verfahrensprinzipien: Art. 17 gewährleistet das Petitionsrecht als Grundrecht, Art. 19 Abs. 4 den Rechtsweg jedem, der durch den Staat in seinen Rechten verletzt wird, Art. 101 Abs. 1 den gesetzlichen Richter und Art. 103 schließlich (Abs. 1) den Anspruch auf rechtliches Gehör, (Abs. 2) das Rückwirkungsverbot im Strafrecht und (Abs. 3) ne bis in idem. Die Einführung von staatsgewaltbeschränkenden und prozessrechtsgewährleistenden Regeln fördert die Ideale der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung: der Verlässlichkeit, da der Bürger nicht einfach durch die Einschränkung seiner Rechte überrascht werden kann, ohne dass er sich verteidigen kann, wodurch die Rechtsordnung an Stabilität gewinnt; der Berechenbarkeit, da der Bürger das staatliche Handeln vorhersehen und sich dagegen durch angemessene prozessrechtliche Instrumente schützen kann330. Infolge dieser Verbindung zwischen Rechtssicherheit und prozessrechtlichen Schutzinstrumenten spricht man sogar vom „Grundsatz der Rechtsmittelsicherheit“: der Bürger darf nicht durch die Änderung der Verfahrensregeln, denen er vertraut hat und mit denen er seine Grundrechte schützen kann, überrascht werden, deshalb muss jede Änderung nicht nur an der Intensität der Einschränkung, die sie in diesen Rechten verursacht, gemessen, sondern nach den Kriterien der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit geprüft werden331. Die Einführung von Kompetenzregeln und prozessualen Rechten führt also zur Gewährleistung der Rechtssicherheit als Sicherheit durch das Recht und vor dem Recht, des Bürgers vor dem Staat, und ist vom Staat durch nichtwillkürliche Ausübung der verwaltungsbehördlichen Kompetenzen und Verwirklichung der Verfahrensrechte umzusetzen. 330

Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren, in: Kirchhof, Paul / Isensee, Josef (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, 2. Aufl., S. 634. 331 Michael Koch, Die Grundsätze des intertemporalen Rechts im Verwaltungsprozess – Vertrauensschutz im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, S. 256.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

(3) Regeln (a) Verfassungsänderungsverbot Die CF/88 statuiert spezifische Bedingungen für ihre Änderung. Einerseits sieht sie Formvorschriften vor: sie kann nur durch Vorschlag von mindestens einem Drittel der Mitglieder des Abgeordnetenhauses oder des Senats (Art. 60 Abs. I) geändert werden, durch Vorschlag des Präsidenten der Republik (Art. 60 Abs. II) oder durch Vorschlag von mehr als der Hälfte der Gliedstaatsparlamente, wobei in jedem Vorschlag der Parlamente die relative Mehrheit ihrer Mitglieder vertreten sein muss (Art. 60 Abs. III); über den Vorschlag wird in jeder Kammer des Nationalkongresses diskutiert und abgestimmt, in zwei Wahlgängen, wobei der Vorschlag als angenommen gilt, der in beiden Kammern drei Fünftel der Stimmen der jeweiligen Mitglieder erhält (Art. 60 Abs. 2). Andererseits statuiert die Verfassung inhaltliche Vorschriften: ein Änderungsvorschlag, der die Bundesstaatsform, die direkte, geheime, allgemeine und periodisch stattfindende Wahl, die Gewaltenteilung und die individuellen Rechte und Garantien tendenziös abschafft, kann nicht verhandelt werden (Art. 60, Abs. 4). Das deutsche Grundgesetz statuiert ebenfalls spezifische Bedingungen für seine Änderung. Jede Verfassungsreform „bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates“ (Art. 79 Abs. 2); „unzulässig“ ist außerdem eine „Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden“ (Art. 79 Abs. 3). Mit den genannten spezifischen Bedingungen schützt die CF/88 mittelbar die Rechtssicherheit, da sie die Förderung der Ideale der Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung begünstigt: das Ideal der Verlässlichkeit, da die Form- und Inhaltserfordernisse zur Stabilität der Rechtsordnung beitragen, sowohl durch Vermeidung der Änderung einiger Materien, als auch durch die Bindung der Änderung an die Einhaltung einer Reihe von Formerfordernissen; das Ideal der Vorhersehbarkeit, weil die Form- und Inhaltserlaubnisse dem Bürger erlauben, vorab zu wissen, was änderbar bzw. nicht änderbar ist. In anderen Worten: die Verkündung einer Verfassung, deren Änderung nur durch ein beschwerlicheres Verfahren erlaubt ist, impliziert einen Beständigkeitsanspruch und postuliert damit das Rechtssicherheitsideal. Barroso formuliert das folgendermaßen: die „Verfassung markiert also die Bereiche der Öffentlichkeit und des Privaten, indem sie die politische Gewalt organisiert und Grundrechte definiert. Sie ist zur Beständigkeit berufen und mit Rigidität ausgestattet“332.

332 Luis Roberto Barroso, A segurança jurídica na era da velocidade e do pragmatismo, in: RTDP 43 (2003), S. 53.

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(b) Gesetzmäßigkeit Die CF/88 legt nicht nur anzustrebende Ideale vor, von deren Analyse sich eingeschränktere oder umfassendere Ideale ableiten lassen, welche die Wahl bestimmter Verhaltensweisen seitens des Staates rechtfertigen können, sondern entscheidet sich auch für die Vorschrift bestimmter Verhaltensweisen, deren Wahl Wirkungen erzeugt, die zur Förderung des auf die Erkennbarkeit der Rechtsordnung gegründeten Zustands der Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit der (und durch die) Rechtsordnung beitragen. Das deutsche Grundgesetz verfährt gleichermaßen. Indem die CF/88 vorschreibt, dass niemand gezwungen wird, etwas zu tun oder nicht zu tun, es sei denn aufgrund eines Gesetzes (Art. 5 II), dass es keinen Straftatbestand ohne ein ihn vorher definierendes Gesetz noch eine Strafe ohne vorgängige gesetzliche Androhung gibt (Art. 5, XXXIX), bestimmt sie auf elliptische Weise, dass der Staat Abgaben nur durch Gesetz einführen kann333. Darüber hinaus macht die Verfassung im nationalen Abgabensystem die Einführung und Erhöhung der Abgaben vom vorgängigen Erlass eines Gesetzes abhängig (Art. 150, I), einschließlich durch Verbot der Gewährung einer nicht in einem besonderen Gesetz vorgesehenen steuerlichen Vergünstigung (Art. 150 Abs. 6). Indem das deutsche Grundgesetz der Gesetzmäßigkeit über die allgemeine Handlungsfreiheit mittelbar grundrechtsähnliche Wirkungen beilegt(Art. 2 Abs. 2) und das Prinzip nulla poena sine lege einführt (Art. 103 Abs. 2), statuiert es, wenngleich auf elliptische Weise, dass der Staat Abgaben nur durch Gesetz einführen darf. Außerdem ergibt sich die Notwendigkeit eines parlamentarischen Verfahrens zur Erhebung von Abgaben aus dem Bundesprinzip selbst. Art. 105 Abs. 3 statuiert ausdrücklich: „Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder den Gemeinden (Gemeindeverbänden) ganz oder zum Teil zufließt, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates.“ Das bloße Erfordernis eines Gesetzes ist schon ein Instrument der Rechtssicherheit. Wo allgemeine und abstrakte, an eine unbestimmte Anzahl von Personen und Situationen adressierte Normen postuliert, trägt sie einerseits dazu bei, die sich sowohl aus ungeschriebenen Normen als auch aus dem Dezisionismus und Ad-HocEntscheidungen ergebende Überraschung zu vermeiden; andererseits begünstigt sie die Stabilität des Rechts, da das geltende Recht nur mit Hilfe bestimmter Verfahren geändert werden kann334. Die Forderung der Gesetzmäßigkeit begünstigt nicht nur das Ideal demokratischer Teilhabe; sie verspricht den Bürgern Gelassenheit, Vertrauen und Gewissheit im Hinblick auf die Besteuerung335.

333

Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 236 ff. Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 220. 335 Sacha Calmon Navarro Coelho, Princípios reitores da tributação: legalidade e tipicidade, in: RDT 33 (1985), S. 206. 334

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Die Verbindlichkeit des vorgängigen Erlasses eines Gesetzes zur Einführung und Erhöhung von Abgaben ist ein Instrument zur Förderung der Ideale der Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit der (und durch die)  Rechtsordnung, denn das Erfordernis des Gesetzes begünstigt: die Verständlichkeit der Rechtsordnung, weil der Steuerzahler über bessere Bedingungen des Zugangs zu den zu befolgenden Normen und zum Verständnis ihres Inhalts verfügt; die Verlässlichkeit der Rechtsordnung, weil gesetzliche Normen nur durch andere gesetzliche Normen geändert werden können, was zu ihrer Stabilität beiträgt; und die Berechenbarkeit der Rechtsordnung, weil der Steuerzahler bessere Möglichkeiten hat, seine zukünftigen Steuerpflichten vorauszusehen. Man bemerke, dass die Allgemeinheit des Gesetzes keine Bedingung seiner Vorhersehbarkeit ist, da eine Einzelnorm einerseits ein viel effizienteres Planungsinstrument für Adressaten abgeben kann und andererseits eine allgemeine Norm, die nicht bekannt und stabil ist, für den Einzelnen auch nicht das angemessene Mittel ist, seine eigenen Ideale zu entwerfen336. Die Allgemeinheit ist in Wahrheit ein Planungsinstrument für alle und nicht nur für einige Personen. Die Grundlage dieses Instruments ist die Forderung nach Gesetzmäßigkeit zusammen mit der Forderung nach Gleichheit. (c) Vorzeitigkeit Die CF/88 verbietet die Einführung und Erhöhung von Abgaben im selben Finanzjahr, in dem das die Abgaben einführende oder erhöhende Gesetz veröffentlicht worden ist (Art. 150 III b), und vor Ablauf von neunzig Tagen nach dem Datum der Veröffentlichung dieses Gesetzes (Art. 150 III c). Damit schützt die Verfassung mittelbar die Rechtssicherheit337. Das deutsche Grundgesetz enthält keine so minutiösen Regeln wie die CF/88. Trotzdem lässt sich die Vorzeitigkeitsregel aus der gemeinsamen Prüfung der im Grundgesetz statuierten Prinzipien ableiten, so z. B. aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20) und dem Prinzip nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2). Das Verbot der abrupten Einführung von Abgaben trägt zur Förderung der Verständlichkeit der Rechtsordnung bei, da der Steuerzahler über bessere Befähigung verfügt, um den Inhalt der von ihm zu befolgenden Rechtsnormen zu verstehen. Es trägt gleichfalls zur Verwirklichung der Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung bei, da der Steuerzahler über bessere Befähigung verfügt, um die zukünftigen Änderungen der Rechtsordnung vorwegzunehmen338. Man bemerke noch, dass beide Garantien, die der Gesetzmäßigkeit und die der Vorzeitigkeit, der Dynamismus nicht widersprechen und deshalb Milderungen be 336

Jeremy Waldron, The Rule of Law in Contemporary Liberal Theory, in: Ratio Juris 1 (1989), S. 82. 337 Francisco Pinto Rabello Filho, O princípio da anterioridade da lei tributária, S. 83. 338 Eduardo Maneira, Direito Tributário – princípio da não-surpresa, S. 161.

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züglich bestimmter Steuern zulassen. Dies ist der Fall der Zwangsanleihe und der Steuern über Ein- und Ausfuhr, industrielle Verarbeitung und Finanzgeschäfte, deren Steuersätze durch Verordnung geändert werden können, zu den gesetzlich festgelegten Bedingungen und innerhalb der gesetzlich festgelegten Grenzen, mit Geltung im selben Finanzjahr ihrer Änderung (Art. 150 Abs. 1, Art. 153, Abs 1). Das bedeutet in anderen Worten, dass die Verfassung selbst, obwohl sie Voraussehbarkeit gewährleistet hat, nicht unterlassen hat, sich für die Bewahrung der Flexibilität im Hinblick auf das verhaltensinduzierende staatliche Handeln einzusetzen339. (d) Rückwirkungsverbot Durch das Verbot der Erhebung von Abgaben, die sich auf vor Beginn der Geltung der Gesetzes, das sie eingeführt oder erhöht hat, eingetretene Tatbestände beziehen (Art. 150 III a) hat die CF/88 gleichfalls die Förderung der Ideale der Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit der (und durch die) Rechtsordnung statuiert: da die Wirkungen der heute geltenden Rechtsnormen nicht Gegenstand der Veränderung durch zukünftige Normen sein können, ist der Steuerzahler besser in der Lage, sowohl auf die Beständigkeit der Normen und ihrer Wirkungen als auch auf die Verbindlichkeit der Rechtsordnung insgesamt zu vertrauen340. Wie schon erwähnt wurde, wird das Prinzip des Rückwirkungsverbots ausdrücklich im deutschen Grundgesetz genannt: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ (Art. 103 Abs. 2) Alle obigen Betrachtungen über die Verfassungsregeln beweisen, dass die Verfassung durch Festlegung der zu wählenden Verhaltensweisen die Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts, des Bürgers dem Staat gegenüber schützt, die vom Staat durch die Einführung und Erhebung von Abgaben zu verwirklichen ist. Das Rückwirkungsverbot ist keine Ausnahme dieser Regel, wie noch gezeigt werden wird. Aus eben diesem Grund hat der Oberste Bundesgerichtshof den Leitsatz Nr. 654 veröffentlicht, demzufolge die „in Art. 5, XXXVI der Bundesverfassung vorgesehene Garantie des Rückwirkungsverbots des Gesetzes, darf nicht vom Staatsorgan, welches das Gesetz veröffentlicht hat, aufgerufen werden“. Im hier vorgeschlagenen Vergleich der CF/88 mit dem deutschen Grundgesetz kann diese Schlussfolgerung zweifellos auch am Ende einer Untersuchung des Grundgesetzes stehen.

339 Luís Eduardo Schoueri, Segurança na ordem tributária nacional e internacional: tributação do comércio exterior, in: Barreto, Aires Fernandino u. a. (Hrsg.), Segurança jurídica na tributação e Estado de Direito, S. 389. 340 Maria Luiza Vianna Pessoa De Mendonça, O princípio constitucional da irretroatividade da lei – a irretroatividade da lei tributária, S. 74.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

(e) Verbot einer Abgabe mit Konfiskationswirkung Durch das Verbot der Einführung einer Abgabe mit Konfiskationswirkung trägt die CF/88 zur Erhöhung der Berechenbarkeit seitens des Steuerzahlers bei: der Steuerzahler erfährt nicht nur über die Kompetenzregeln, welches die besteuerbaren Tatbestände sind, sondern kann auch aufgrund des Konfiskationswirkungsverbots gewiss sein, dass die Besteuerung die minimalen Bedingungen der Ausübung der Freiheit und des Eigentums nichtkompromittieren darf341. Das Verbot eines Steuersystems mit Konfiskationswirkung wird vom deutschen Grundgesetz nicht ausdrücklich formuliert, lässt sich jedoch unschwer aus den Grundrechten der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit und des Eigentums ableiten. Zudem verbietet das Grundgesetz ausdrücklich die Antastung der Grundrechte in ihrem „Wesensgehalt“ (Art. 19 Abs. 2). Das bedeutet mit anderen Worten, dass der Bürger vorab mit einem unantastbaren Freiheitsbereich rechnen kann, innerhalb dessen er nicht überrascht werden darf. Obwohl er das genaue Ergebnis der zukünftigen Besteuerung nicht zu kennen vermag, kann er zumindest von vornherein die Grenzen des staatlichen Eingriffs in seine Freiheitsrechte erkennen. Man bemerke hierzu, dass die angeführten Normen-Gesetzmäßigkeit, Vorzeitigkeit, Rückwirkungsverbot, Verbot einer Abgabe mit Konfiskationswirkung-nicht nur in das nationale Abgabensystem aufgenommen worden sind, sondern verfassungsmäßigen Rang als „Grenzen der Besteuerungsgewalt“ haben. Diese Kennzeichnung schreibt ihnen eine eminent den Bürger gegen den Staat schützende Funktion zu. Man kann also unter Berufung auf Machado Derzi behaupten, dass es im Steuerrecht anders als in anderen Systemen eine Verstärkung der Rechts­ sicherheit gibt342. In der CF/88 sind diese Garantien in eine Sektion „Über die Grenzen der Besteuerungsgewalt“ aufgenommen worden. Das Grundgesetz kennt diese Einteilung nicht, aber diese Prinzipien sind mehrheitlich im „Die Grundrechte“ überschriebenen Kap. I formuliert. (f) Ergänzungsgesetzvorbehalt Die CF/88 behält die Entscheidung über Kompetenzkonflikte in steuerrecht­ lichen Sachen zwischen dem Bund, den Bundesstaaten und den Gemeinden (Art. 146 I) und die Statuierung allgemeiner Steuergesetzgebungsnormen (Art. 146 III), besonders zum Zweck der Festlegung der Steuerarten und ihrer wesentlichen 341

Cassiano Menke, A proibição aos efeitos de confisco no Direito Tributário, S. 110 ff.; Estevão Horvath, O princípio do não-confisco no Direito Tributário, S. 41 ff. sowie 118. 342 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 469; Misabel de Abreu Machado Derzi, A irretroatividade do Direito, a proteção da confiança, a boa-fé e o RE n. 370.682-SC, in: Rocha, Valdir de Oliveira (Hrsg.), Grandes questões atuais do Direito Tributário 11 (2007), S. 317.

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Elemente (Art. 146 III a) und zum Zweck der Festlegung der Grundrichtlinien für die Einführung und Abschaffung von Steuerpflichten (Art. 146 III b), einem Ergänzungsgesetz vor. Außerdem verbietet die Verfassung dem Bund, eine Abgabe einzuführen, die nicht einheitlich im gesamten Bundesgebiet ist oder eine unterschiedliche Behandlung oder Vorzugsbehandlung eines Bundesstaats, des Bundesdistrikts oder einer Gemeinde zu Lasten anderer beinhaltet (Art. 151). Indem sie so verfährt, schreibt sie schließlich auch die Förderung der Ideale der Erkennbarkeit (durch Zugänglichkeit, Umfang und Verständlichkeit der sich aus den allgemein anwendbaren Normen ergebenden Pflichten, die im gesamten Hoheitsgebiet auf alle Gliedstaaten anwendbar sind), der Verlässlichkeit (durch die sich aus der größeren Schwierigkeit der Änderung der allgemeinen Normen ergebende Stabilität) und der Berechenbarkeit (durch die materiale Bindung der allgemeinen Normen) vor343. Das Erfordernis eines Ergänzungsgesetzes, dessen Annahme von einer qualifizierten Mehrheit abhängt (Art. 69), begünstigt die Stabilität der Rechtsordnung, da sie deren Änderung an die Einhaltung von schwieriger zu erfüllenden Voraussetzungen knüpft. Die Zuschreibung der Funktion der Vermeidung von Kompetenzkonflikten zwischen den Gliedstaaten des Bundes trägt zur Verständlichkeit der Rechtsordnung bei, sei es seitens der Gliedstaaten untereinander, die im Allgemeinen den Konflikt um die Ausübung der Besteuerungskompetenz gelöst sehen, sei es seitens der Steuerzahler, die besser in der Lage sind, zu wissen, welchem Gliedstaat sie ihre Steuern zahlen müssen. Und die Zuschreibung der Funktion der Festlegung der für die Einführung und Abschaffung der Steuerpflichten grundlegenden Richtlinien, die im ganzen Hoheitsgebiet und von allen Gliedstaaten zu beachten sind, begünstigt die Verständlichkeit der Rechtsordnung durch die Zunahme der Zugänglichkeit, des Umfangs und der Verständlichkeit der Normen. Die Einführung einer Vorbehaltsregel für den Erlass ergänzender Gesetze über bestimmte Materien und für die Erreichung bestimmter Zwecke führt folglich zur Gewährleistung der Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts und durch das Recht, um ein wechselseitiges Vertrauen sicherzustellen, nicht nur zwischen dem Bürger und den Gliedstaaten des Bundes, sondern auch unter den Gliedstaaten des Bundes untereinander. Deutschland kennt keine eigene Normspezies, die diese Rolle bei der Statuierung allgemeiner Normen spielt. Im Steuerrecht übernehmen die Bundesgesetze selbst diese Aufgabe (Art. 105). (g) Finanzielle Aktivität des Staates Die CF/88 enthält noch eine Reihe von Regeln zur Normierung der finanziellen Aktivität des Staates. Beispiele dafür sind die Regeln, die den Haushaltsplan, das 343 Fábio Canazaro, Lei Complementar Tributária na Constituição de 1988, S. 108; Frederico Araújo Seabra de Moura, Lei Complementar Tributária, S. 331 ff.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Haushaltsplanrichtliniengesetz und die Mehrjahrespläne einführen (Art. 165 ff.). Diese Bestimmungen finden sich gleichfalls im deutschen Grundgesetz. Dieses enthält ein besonderes Kapitel über „Das Finanzwesen“ (Kap. X), in dem die wichtigsten finanzrechtlichen Vorschriften zusammengefasst sind: die Verteilung der staatlichen Finanzhoheit nach Maßgabe des die Organisation der Länder regelnden Rechts und die Haushaltswirtschaft. Diese Regeln erfordern die Planung staatlichen Handelns und begünstigen somit die Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts: das Ideal der Erkennbarkeit, weil es dem Bürger erlaubt, auf zugängliche und umfassende Art die Quelle der staatlichen Einnahmen und Ausgaben zu kennen; das Ideal der Verlässlichkeit, da es das Handeln stabiler macht wegen der Beständigkeit des staalichen Handelns über ein Finanzjahr hinaus; und das Ideal der Berechenbarkeit, da es erlaubt, dass der Steuerzahler das zukünftige verwaltungsbehördliche Handeln vorab berechnen kann. Diese Finanznormen haben gleichfalls die Funktion der Kontrolle und Gewährleistung der Öffentlichkeit der staatlichen Tätigkeit. Sie erlauben der gesetzgebenden Gewalt und den Bürgern die Kontrolle der finanziellen Tätigkeit des Staats344. Zu unterstreichen ist jedoch, dass diese Regeln sich auf die Organisation und Kontrolle der Einnahmen beziehen und nichts über ihren Eingang aussagen. Die einnahmeregelnden Normen sind die Besteuerungskompetenzregeln, deren Funktion präzise in der Abgrenzung der Besteuerungsgewalt vermittels der Beschreibung der materialen Aspekte ihrer Tatbestände besteht. Der Gesetzgeber wollte damit die Tatsache unterstreichen, dass die Haushaltsregeln, obwohl sie zur Verwirklichung der Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung beitragen, nicht ein Instrument der Legitimation des vorherigen Moments des Erhalts der Einnahme sind, sondern die Normierung des späteren Moments der kontrollierbaren Verwendung der Einnahme erlauben. Diese Bemerkung ist sehr wichtig, um von Anfang an eine Bindung des Rechtssicherheitsprinzips an das Haushaltsmanagement abzuwenden, in dem Sinn, dass die bloße Erwartung der Einnahme in der Haushaltsplanung eine legitime Erwartung des tatsächlichen Eingangs rechtfertigen würde, selbst gegen die Kompetenzregeln, und dass diese Erwartung nicht durch die Erklärung der Verfassungswidrigkeit ex tunc von Abgabengesetzen enttäuscht werden könnte. Wie im Fall der Variation der Wirkungen von Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs über die Verfassungswidrigkeit deutlich werden wird, dürfen Haushaltsargumente nicht dem Rechtssicherheitsbegriff assimiliert werden, ganz zu schweigen vom Begriff der Rechtssicherheit im Steuerrecht.

344 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 266; Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional Financeiro e Tributário, 3. Aufl., S. 173 sowie 203.

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(h) Interventionstätigkeit des Staates Die CF/88 hat Garantien für die Steuerzahler vorgesehen, von denen ausgehend das Ideal der Vorhersehbarkeit konstruiert werden kann. Darüberhinaus gewährleistet sie auch die von Art. 174 für die Planung geforderte notwendige Kohärenz und Vorhersehbarkeit345. Es ist wichtig, in Anlehnung an Schoueri festzustellen, dass diese Vorschrift eine systematische Korrektur des Rechtssicherheitsbegriffs selbst impliziert. Weshalb wenn die steuerrechtlichen Garantien Vorhersehbarkeit erfordern, das verhaltensinduzierende Staatshandeln Flexibilität impliziert, um dem Staat zu erlauben, die positiven und negativen Anpassungen vorzunehmen, die erforderlich sind, um den Wirtschaftsbereich in der vom Steuerzahler bevorzugten Richtung zu halten. Aus eben diesem Grund hat die CF/88 Kompetenzen festgelegt, um die Volkswirtschaft auch auf steuerrechtlichem Gebiet zu regeln (Art. 146 A). Das deutsche Grundgesetz kennt keine vergleichbare Bestimmung. (i) Legitimation für direkte Aktionen Die CF/88 behält nur einigen Organen oder Institutionen die Antragsberechtigung einer direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit (Staatspräsident, Präsidium des Senats, Präsidium des Abgeordnetenhauses, Präsidium des Landtags, Gouverneur eines Bundesstaates, Generalbundesanwalt, Bundesrat der Brasilianischen Anwaltskammer, im Nationalparlament vertretene politische Partei, Gewerkschaftsverband oder Arbeitgeberverband auf nationaler Ebene) vor. Der einzelne Bürger hat keine Aktivlegitimation. Ein Grund dieser Einschränkung ist die Kontinuität der Rechtsordnung. Im deutschen Grundgesetz darf jeder Bürger eine Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung erheben, dass er vom Staat in seinen Grundrechten oder in einem der in den Artikeln 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechten verletzt worden ist (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a). Außerdem sind die Gemeinden und Gemeindeverbände befugt, Verfassungsbeschwerden gegen „Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Artikel 28“ zu erheben (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b). Da die normale Wirkung der direkten Klage die Erklärung der Verfassungswidrigkeit einer im Rang unter der Verfassung stehenden Norm ist, mit der sich daraus ergebenden Änderung der Rechtsordnung selbst, hat die CF/88, um die Bedeutung des Bestands der Rechtsordnung hervorzuheben, die Anzahl der Personen, die ihre Änderung veranlassen können, eingeschränkt. In diesem Sinn bezieht sich eine der dieser Beschränkung des Antragsrechts zugrundeliegenden Ideen auf die Garantie des Bestands der Rechtsordnung: eine Rechtsordnung, die durch den An 345 Luís Eduardo Schoueri, Segurança na ordem tributária nacional e internacional: tributação do comércio exterior, in: Barreto, Aires Fernandino u. a. (Hrsg.), Segurança jurídica na tributação e Estado de Direito, S. 376.

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fechtungswillen eines beliebigen Bürgers jederzeit geändert werden könnte, wäre allzu unsicher im Sinne von unstabil346. c) Zwischenergebnis Am Ende erlaubt uns die Prüfung der Fundamente der Rechtssicherheit einige wichtige Schlussfolgerungen allgemeiner Natur. Wie schon in diesem Kapitel über die Prüfung der Grundlagen der Rechtssicherheit in der Verfassungsstruktur festgestellt worden ist, enthält das deutsche Grundgesetz Bestimmungen und Festlegungen hinsichtlich des Schutzes der Rechtssicherheit, die den in der CF/88 gefundenen Bestimmungen und Festlegungen recht ähnlich sind. Aus diesem Grund sind die nachstehenden Schlussfolgerungen voll anwendbar auch auf die deutsche Rechtsordnung, die, wie wir gesehen aben, auch alle Dimensionen der Rechts­ sicherheit wiederholt und nachdrücklich schützt. Erstens erlaubt die Prüfung der Fundamente der Rechtssicherheit den Schluss, dass die CF/88 die „Rechtssicherheit“ schützt. Sie tut dies unmittelbar, indem sie „die Sicherheit gewährleistet“, als „Recht“ und „Wert“, oder indem sie ihre reflexive Wirksamkeit vermittels des Schutzes des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtsandlung und der Rechtskraft regelt, und sie tut dies mittelbar, indem sie Verhaltensweisen vorsieht, deren Wahl die Ideale der Berechenbarkeit und Verlässlichkeit fördert, welche die Rechtssicherheit ausmachen, oder indem sie umfassende, eingeschränkte oder spezifische Ideale statuiert, deren Verwirklichung das Vorliegen der Ideale der Rechtssicherheit voraussetzt oder impliziert. Rechtssicherheit ist somit ein eindeutig positives Prinzip der CF/88. Zweitens erlaubt die Prüfung der Fundamente den Nachweis, dass die CF/88 nicht nur die Rechtssicherheit gewährleistet, sondern sie auch in mehreren Dimensionen schützt. In der Tat führt die Festlegung von Regeln und den übereinstimmende Prinzipien zur Gewährleistung der Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts, durch das Recht, vor dem Recht und der Rechte. Für alle Dimensionen ist das Vorliegen der Elemente der Erkennbarkeit, der Verlässlichkeit und der Berechenbarkeit der Rechtsordnung notwendig. Drittens erlaubt die Prüfung der Fundamente die Feststellung, dass die Verfassung die Rechtssicherheit nicht nur in allen Erscheinungsformen schützt, sondern dies auch durch die Zuschreibung einer hohen verfassungsrechtlichen Relevanz bewerkstelligt. Dies ist mehrfach erkennbar: – an der Art und Weise, in der die Rechtsicherheit durch die ganze Verfassung und ihre Teile gewährleistet wird: der verfassungsrechtliche Überbau drückt Rechtssicherheit aus und die Struktur der Verfassung sieht die Rechtssicherheit vor, sei es als Grundprinzip, sei es als Grundrecht; 346

César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 50.

II. Begründung der Rechtssicherheit 

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– an der Insistenz, mit der die CF/88 die Rechtssicherheit schützt: es gibt nicht nur eine Bestimmung, von der ausgehend sie konstruiert werden kann, sondern ein breites Spektrum von Bestimmungen, die mittel- und unmittelbar zu den auf die Erkennbarkeit der Rechtsordnung gegründeten Idealen der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit hinführen; – an der Unabhängigkeit ihrer Fundamente: sie wird auf unterschiedliche Weise und durch verschiedene Bestimmungen geschützt, so dass ihre Wirksamkeit selbst nach der Entfernung eines oder sogar mehrerer Fundamente erhalten bleibt; bildlich gesprochen ist die Rechtssicherheit wie ein Bauwerk, das auf so vielen unterschiedlichen Pfeilern ruht, dass die Entfernung eines oder mehrerer Pfeiler die Statik nicht beeinträchtigt und das Gebäude somit nicht ins Wanken geraten würde; – an der wechselseitigen Wirksamkeit derselben Fundamente: so setzt beispielsweise die Wirksamkeit des Rechtsstaatsprinzips das Vorliegen von Indivualrechten und der Garantien der Gesetzmäßigkeit und des Rückwirkungsverbots voraus, und die Wirksamkeit der Individualrechte und der Garantien der Gesetzmäßigkeit und des Rückwirkungsverbots setzen ihrerseits das Vorliegen eines Rechtsstaats voraus. Da sowohl das Rechtsstaatsprinzip als auch die genannten Rechte und Garantien ausdrücklich vorgesehen sind, hängt die Auslegung jenes von der umfassenden Berücksichtigung dieser und die Auslegung dieser vom gleichzeitigen Verständnis jenes ab, so dass man von einer wechselseitig erzeugenden und auslegenden Wirksamkeit der Fundamente der Rechtssicherheit sprechen darf. Viertens ermöglicht die Prüfung der Fundamente den Schluss, dass die CF/88 die Rechtssicherheit so schützt, dass man erfahren kann, welche Sicherheit geschützt wird, wessen Sicherheit geschützt wird, durch wen die Rechtssicherheit zu verwirklichen ist, für wen sie eingeführt wird und wie sie zu verwirklichen ist. Die Analyse all dieser Fundamente der Rechtssicherheit erlaubt die Feststellung, dass die Verfassung einerseits auf der Einführung der Rechtssicherheit zugunsten des Bürgers und gegen den Staat besteht, anders, als man eventuell in anderen Systemen behaupten kann, in denen sie ein Spielraum staatlichen Handelns ist347. Diese Schutzkonnotation der Rechtssicherheit verdankt sie der Form und dem Inhalt ihrer Fundamente: – der Form, da die Fundamente Individualrechte und -garantien mit einer Schutzkonnotation beinhalten, wobei einige Garantien sogar sich selbst „Grenzen der Besteuerungsgewalt“ nennen; Verwaltungsprinzipien mit einer die willkürliche Ausübung der Staatsgewalt einschränkenden Konnotation; und schließlich strukturierende Prinzipien mit einer gleichfalls die Staatsgewalt einschränkenden und die Individualrechte schützenden Konnotation;

347 Amélie Lièvre-Gravereaux, La rétroactivité de la loi fiscale: une necessité en matière de procédures, S. 43.

208

B. Bestimmung der Rechtssicherheit

– dem Inhalt, da die Fundamente, die Verhaltensweisen oder Ideale festlegen, die Sicherheit zugunsten der Freiheitsrechte seitens des Einzelnen implizieren oder voraussetzen. Die sorgfältige Prüfung der Fundamente der Rechtssicherheit erlaubt also die Schlussfolgerung, dass die Verfassung alle Dimensionen der Rechtssicherheit schützt und ihr, wie an der Art und Weise und an der Insistenz deutlich wird, mit der sie ihre voneinander unabhängigen Fundamente vorsieht, eine hohe Bedeutung als verfassungsrechtliches Prinzip zuschreibt, das den Einzelnen schützt und dazu bestimmt ist, einen auf Erkennbarkeit gegründeten Zustand der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der und durch die Rechtsordnung zu gewährleisten. Alle diese Feststellungen sind sowohl für das Verständnis des Inhalts des verfassungsrechtlichen Rechtssicherheitsprinzips als auch für die Abgrenzung seiner Wirksamkeit extrem wichtig. Die Verfassung, um es noch einmal zu sagen, schützt nicht nur die Rechtssicherheit. Sie schützt sie im Übermaß. Dieser übermäßige Schutz ist eng mit dem Rechtsstaatsprinzip verbunden, sowohl in seiner formalen Dimension, welche die Staatsgewalt zu normieren und zu teilen bezweckt, als auch in seiner materialen Dimension, deren Zweck die Einschränkung der Ausübung der Staatsgewalt durch den Grundrechtsschutz ist348. Diese Bemerkungen sind auch entscheidend wichtig, um bestimmte unterverfassungsrechtliche Normen, deren Anwendung von der Bedeutung, die man dem Ausdruck „Rechtssicherheit“ zuschreibt, abhängt, mit Sinn zu erfüllen. Dies ist beispielsweise der Fall des Gesetzes Nr. 9.868/98, das in Art. 27 statuiert, dass der Oberste Bundesgerichtshof anlässlich der Erklärung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder normativen Akts und „unter Berücksichtigung von Gründen der Rechtssicherheit oder eines außerordentlichen gesellschaftlichen Interesses“ die Wirkungen dieser Erklärung einschränken oder entscheiden kann, dass die Erklärung nur nach dem Eintritt ihrer Rechtskraft oder zu einem anderen festzulegenden Zeitpunkt wirksam sein wird. Schließlich ist hervorzuheben, dass die Prüfung der Fundamente der Rechtssicherheit auch einige wichtige spezifische Schlussfolgerungen über die steuerrechtliche Rechtssicherheit erlaubt: die Zustände der Erkennbarkeit, der Verlässlichkeit und der Berechenbarkeit haben nicht nur im Subsystem Steuerrecht besondere Bedeutung, sondern darüber hinaus auch einen stärker schützenden Sinn. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt man über die Prüfung der Normen des nationalen Abgabensystems: es gibt spezifische und emphatische Normen; sie sind – ein Instrument zur Gewährleistung der Verständlichkeit des Rechts durch Bestimmbarkeit der Tatbestände (Regel der Gesetzmäßigkeit und System der Kompetenzregeln), 348 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 32.

II. Begründung der Rechtssicherheit 

209

– ein Instrument zur Gewährleistung der Verlässlichkeit des Rechts durch die Stabilität in der Zeit (Regel des Kompetenzvorbehalts, damit ein Ergänzungsgesetz Verjährung und Verwirkung normiert), durch die Geltung (Rückwirkungsverbotsregel) und durch das Verfahren (ausdrückliche Regeln der Öffnung der Subsystems Steuerrecht in Richtung nicht vorgesehener Rechte und Garantien, wie im Fall des Schutzes des wohlerworbenen Rechts, der Rechtskraft und der vollendeten Rechtshandlung); – ein Instrument zur Gewährleistung der Berechenbarkeit des Rechts durch das Überraschungsverbot (Vorzeitigkeitsregel). Es gibt sozusagen, um einen Ausdruck von Maior Borges zu zitieren, eine Wiederholung im Abgabenbereich, die den Inhalt „verdichtet“ oder, jetzt in der Formulierung von Machado Derzi, eine Insistenz auf dem Schutz der Rechtssicherheit im Steuerrecht, die sich als „Verstärkung“ ihrer Garantie äußert349. Diese Verstärkung der Rechtssicherheit im Steuerrecht äußert sich vor allem in der Tendenz der zugunsten des Steuerzahlers vorgesehenen Garantien. Die direktesten Fundamente der Rechtssicherheit im Kapitel über das „nationale Abgabensystem“ beweisen, dass die CF/88 nicht nur Garantien zugunsten des Steuerzahlers eingeführt hat, sondern auch das Vorliegen von anderen Garantien deutlich gemacht hat, die sich aus in der Verfassung vorgesehenen Prinzipien und Rechten ergeben. Die Einführung von Garantien zugunsten des Steuerzahlers macht aus der Rechtssicherheit im Steuerrecht ein an die Grundrechte des Steuerzahlers gebundenes Prinzip. So müssen mehrere Probleme, die nur nach dem Rechtsstaatsprinzip gelöst werden könnten, aus der Perspektive der Grundrechte gelöst werden. Es sind Elemente, die aus der Sicht der Steuernormen für irrelevant gehalten werden könnten, aus der Sicht der Grundrechte auf Freiheit und Eigentum jedoch eine entscheidende Bedeutung erhalten, wie im Fall der Verfügung über Rechte, die zum Zeitpunkt der Geltung von später abgeänderten Gesetzen erfolgt ist. So ist es, falls die Behauptung zutrifft, dass das Rechtssicherheitsprinzip einen dem Bürger zugeneigten Zustand der Sicherheit erfordert, auch angemessen, die These zu vertreten, dass das Rechtssicherheitsprinzip im Steuerrecht einen Zustand der Sicherheit erfordert, der mit noch stärkerer Intensität dem Steuerzahler zugeneigt ist.

349

José Souto Maior Borges, O princípio da segurança jurídica na criação e aplicação do tributo, in: RDDT 22 (1997), S. 25; Misabel de Abreu Machado Derzi, Mutações, complexidade, tipo e conceito, sob o signo da segurança e da proteção da confiança, in: Torres, Heleno (Hrsg.), Estudos em homenagem a Paulo de Barros Carvalho, S. 275 f.

210

B. Bestimmung der Rechtssicherheit

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit (was heißt Rechtssicherheit?) „Das Recht war immer, ist heute und wird immer sehr vage und veränderlich sein.“ (Jerome Frank, Law and the Modern Mind, S. 6) „[…] das Recht ist gewiss oder es ist nicht einmal Recht.“ (Norberto Bobbio, La certezza del diritto é un mito?, in: Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 28 (1951), S. 150) „In dem Zweck sind wir einig: wir wollen Grundlage eines sicheren Rechts, sicher gegen Eingriff der Willkühr und ungerechter Gesinnung; desgleichen Gemeinschaft der Nation und Concentration ihrer wissenschaftlichen Bestrebungen auf dasselbe Object.“ (Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 161) „[…] die Menschen benötigen Normen, die gewiss, angenommen, anerkannt sind, sonst gibt es weder Freiheit noch Sicherheit noch Eigentum.“ (Giandomenico Romagnosi, Assunto primo della scienza del diritto naturale, 3. Aufl., S. 127)

Im 2. Kapitel des ersten Titels des Ersten Teils sind die verschiedenen Bedeutungen untersucht worden, die der Ausdruck „Rechtssicherheit“ je nach dem Aspekt, unter dem er untersucht wird, annehmen kann. Im 3. Kapitel des zweiten Titels des Ersten Teils sind die Fundamente des Rechtssicherheitsprinzips gemäß der CF/88 untersucht worden. So müssen wir jetzt nur noch herausfinden, welche Bedeutungen unter all diesen möglichen Bedeutungen und innerhalb eines jeden berücksichtigten Aspekts von der Verfassung der Rechtssicherheit wirklich zugeschrieben werden. Rechtssicherheit kann ja sehr viel bedeuten. Was muss sie aber nach der CF/88 bedeuten? Hier ist es notwendig, die teilweise schon gegebenen Antworten auf folgende Fragen zusammenzufassen: welches ist die normative Dimension der Rechtssicherheit nach der CF/88: Tatsache, Wert oder Norm? Falls eine Norm, welches ist die Normart: Regel oder Prinzip? Welches ist der materiale Aspekt der Rechtssicherheit nach der CF/88? Bezeichnet das Wort „Sicherheit“ einen Zustand der Erkennbarkeit oder der Bestimmtheit, der Verlässlichkeit oder Unveränderlichkeit, der Berechenbarkeit oder Vorhersehbarkeit? Und bezeichnet das Wort „Recht“ Sicherheit „des Rechts“, „durch das Recht“, „vor dem Recht“ oder „unter dem Recht“, „von Rechten“, „als ein Recht“ oder „im Recht“? Welches ist der objektive Aspekt der Rechtssicherheit aufgrund der CF/88: Sicherheit der Rechtsordnung, einer Norm oder eines Verhaltens? Falls einer Norm: einer allgemeinen oder Einzelnorm? Falls eines Verhaltens: des eigenen oder fremden Verhaltens? Welches ist der subjektive Aspekt der Rechtssicherheit nach der CF/88? Wer ist ihr Nutznießer: schützt sie den Steuerzahler oder den Staat? Hinsichtlich des Subjekts, welches das Kriterium der Bewertung der Sicherheit abgibt, ist zu fragen, ob es Rechtssicherheit aus der Perspektive des Normalbürgers oder des Fachmanns in Steuerrecht geben soll. Hin-

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

211

sichtlich des Subjekts, das sie gewährleisten muss, ist zu fragen, ob die Gewährleistung der gesetzgebenden, der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt obliegt. Welcher ist der zeitliche Aspekt der Rechtssicherheit nach der CF/88? Soll Rechtssicherheit gestern, heute oder morgen angestrebt werden? Welcher ist der quantitative Aspekt der Rechtssicherheit? Soll Sicherheit ganz oder nur teilweise gewährleistet werden? Und schließlich: Worin rechtfertigt sich das Prinzip der Rechtssicherheit? Ist Sicherheit ein Zweck in sich oder ein Instrument zur Erreichung anderer Zwecke? Diese Fragen sind von entscheidender Bedeutung. Daher werden sie nachfolgend beantwortet. Dieselbe Untersuchung kann auch anhand des deutschen Grundgesetzes durchgeführt werden.

1. Begriff der Rechtssicherheit Der in dieser Arbeit konzipierte Begriff der Rechtssicherheit hängt von der Antwort auf eine Reihe von Fragen ab, die insgesamt die finalistischen Aspekte der Sicherheit ausmachen. In diesem Sinn werden jetzt die zentralen Fragen beantwortet, woraus am Ende der Begriff der Rechtssicherheit gebildet werden wird. Welches ist die Bedeutung des Worts „Sicherheit“ in der CF/88? „Rechts“-sicherheit oder „körperliche“ Sicherheit? Die Antwort lautet: Rechtssicherheit. Erstens, weil sich die CF/88 in Art. 1 anlässlich der Einführung des demokratischen Rechtsstaats, dessen Zweck „die Gewährleistung der Sicherheit als eines Werts“ ist, auf ein gesellschaftliches Ziel bezieht, das die bloß psychische oder körperliche Dimension überschreitet. Zweitens, weil Art. 5 anlässlich der Gewährleistung des „Rechts auf Sicherheit“ neben dem Recht auf Freiheit, Gleichheit und Eigentum, die als objektive gesellschaftliche Werte und nicht bloß als psychische Zustände des Einzelnen gekennzeichnet werden, am Ende die Sicherheit parallel zur Gewährleistung dieser anderen Werte schützt, d. h. als Rechtswerte. Drittens, weil es unter den in den Sätzen des Art. 5 katalogisierten Grundrechten mehrere gibt, die sich sei es auf die körperliche und individuelle Sicherheit (Schutz der Wohnung und Garantie des habeas corpus gegen missbräuliche Freiheitsbeschränkungen), sei es auf spezifische Äußerungsformen der Freiheit (Gedankenfreiheit, Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, der Wissenschaft und der Kommunikation oder der Vereinigung zu gesetzlich erlaubten Zwecken) beziehen, was einen größeren Umfang der Festlegung im Obersatz des genannten Artikels voraussetzt. Wie schon festgestellt worden ist, verwendet das deutsche Grundgesetz anlässlich der Normierung von Fragen der Sicherheit und öffentlichen Ordnung den Terminus Sicherheit in der Bedeutung körperlicher Sicherheit. Das schließt aber nicht

212

B. Bestimmung der Rechtssicherheit

die unverrückbare Überzeugung aus, dass die Rechtssicherheit ein sich aus dem im Verfassungstext verbrieften Rechtsstaat selbst ergebendes Verfassungsprinzip ist. Welches ist die normative Dimension der Rechtssicherheit nach der CF/88: Tatsache, Wert oder Norm? Falls eine Norm, welches ist die Normart: Regel oder Prinzip? Die Rechtssicherheit wird als Rechtsnorm der Spezies Normprinzip gekennzeichnet, da man bei der Prüfung ihrer Struktur und ihrer Teile feststellt, dass sie den Schutz eines Sachideals anordnet, dessen Verwirklichung von Verhaltensweisen abhängt, von denen viele schon ausdrücklich vorgesehen sind. Alle vorher genannten mittel- oder unmittelbaren, deduktiv oder induktiv erschlossenen verfassungsrechtlichen Fundamente drücken nicht nur die Bindung an die festgelegten Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit aus, sondern definieren auch diese Ideale hinsichtlich ihrer verschiedenen Aspekte. Die Kennzeichnung der Rechtssicherheit als Rechtsnorm neutralisiert keinesfalls den axiologischen Aspekt des Prinzips: sie zeigt nur, dass sie sich als Prinzip einen Wert auf einer höheren Konkretisierungsebene einverleibt und positiviert350. Auch im deutschen Grundgesetz lässt sich feststellen, dass die normative Dimension der Rechtssicherheit eine Art Normprinzip ist, weil sie ebenfalls eie Reihe von mittel- und unmittelbaren verfassungsrechtlichen Grundlagen enthält, die deduktiv oder induktiv erschlossen worden sind und die Bindungsnatur der Ideale ausdrücken, die dem Rechtssicherheitsbegriff immanent sind. Welches ist der materiale Aspekt der Rechtssicherheit nach der CF/88? Bezeichnet das Wort „Sicherheit“ einen Zustand der Erkennbarkeit oder der Bestimmtheit, der Verlässlichkeit oder Unveränderlichkeit, der Berechenbarkeit oder Vorhersehbarkeit? „Sicherheit“ bezeichnet einen Zustand der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Den Zustand der Erkennbarkeit bezeichnet sie aus theoretischen oder normativen Gründen. Die theoretischen Gründe, die zur Erkennbarkeit führen, statt zur Bestimmtheit, beziehen sich auf die Unbestimmtheit der Sprache: man kann nicht behaupten, dass diese vollständig andere Bedeutungen noch vor Beginn der Auslegungstätigkeit enthält. So kann man nicht eine eindeutige Auslegungskonzeption vertreten. Das besagt aber nicht-und diese Feststellung ist von grundlegender Bedeutung –, dass die Normsprache nicht schon von der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung allmählich bestimmte Bedeutungskerne enthält351. So besteht, obwohl streitig ist, welche Fälle unter das Tatbestandsmerkmal „Dienstleistung“ bei der Erhebung der Kommunalsteuer über Dienstleistungen 350 351

Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional Financeiro e Tributário, Bd. 2, S. 198. José Souto Maior Borges, Curso de Direito Comunitário, S. 10.

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

213

jeder Art im einzelnen subsummiert werden können, ein hoher Grad an Konsens in der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, dass „Dienstleistung“ eine Verpflichtung, etwas zu tun, beinhaltet, nicht eine Verpflichtung, etwas zu geben. In diesem Sinn muss die Idee der Erkennbarkeit als Fähigkeit des Steuerzahlers anerkannt werden, materialen und intellektuellen Zugang zum Normbegriff zu haben, auch wenn man weiß, dass dieser Begriff, obwohl er einen Hof von Gewissheit oder einen Bedeutungskern hat (Dienstleistung ist die Verpflichtung, etwas zu tun), in einem höheren oder geringeren Maß Unbestimmtheitsmargen aufweisen kann (ist etwa ein Leasing-Geschäft eine Dienstleistung?). Gewählt wird also eine bestimmbare Auslegungskonzeption, in dem Sinn, dass die Regeln Begriffe enthalten, diese jedoch aufgrund der Sprache in einem gewissen Maß unbestimmt sind, allerdings Bedeutungskerne haben, die von der Rechtswissenschaft oder der Rechtsprechung im Laufe ihres Gebrauchs schon intersubjektiv festgelegt worden sind und von denen der Interpret sich nicht entfernen darf. Die zur Erkennbarkeit führenden normativen Gründe betreffen Rechtsnormen, die auf irgendeine Weise der Bestimmung entgegenstehen: die Regel der Gesetzmäßigkeit ist mit mehreren Prinzipien zu verbinden wie dem Demokratieprinzip und dem Gewaltenteilungsprinzip, die einen begrenzten Gestaltungsspielraum für die vollziehende Gewalt voraussetzen, indem sie verlangen, dass die gesetzgebende Gewalt die normativen Standards ohne nähere Befassung mit technischen Fragen, die von berechtigte Verwaltungsorganen festgelegt werden sollen. Man muss also den Bestimmbarkeitsbegriff übernehmen, verstanden als materiale und intellektuelle Fähigkeit des Verständnisses der Auslegungsalternativen und der für seine Konkretisierung unverzichtbaren Kriterien, an Stelle des Begriffs der Bestimmtheit als Fähigkeit der Erkenntnis einer einzigen vorgängigen Normbedeutung. Wie Grau bemerkt, „gibt es keine vorab strukturierten Lösungen juristischer Probleme, nach Art von auf einer Montagestraße gefertigter Halbware“352. Den Zustand der Verlässlichkeit, an Stelle der Unveränderlichkeit, bezeichnet die Rechtssicherheit, da die CF/88 neben dem Einbau von Ewigkeitsklauseln (cláusulas pétreas), die eine Änderung erschweren, ihre Möglichkeit jedoch voraussetzen, das Prinzip des sozialen Rechtsstaats vorsieht. Dieses Prinzip postuliert, dass der Staat seine gesellschaftsplanende und -induzierende Funktion wahrnimmt, indem er gesellschaftliche Veränderungen durchführt, vor allem durch die Umverteilung des Reichtums. Derartige Veränderungen müssen allerdings die Stabilität und Kontinuität der Normen gewährleisten, da die Eigentums- und Freiheitsrechte ein Minimum an Beständigkeit der geltenden Regeln voraussetzen, nämlich als Bedingung der freien Lebensgestaltung, und da das Recht auf freie Berufswahl die Dauerhaftigkeit der Lebensbedingungen erfordert. Da das Ideal der Verlässlichkeit des Rechts vom Rechtssicherheitsprinzip gefordert wird, ist die Behauptung von Seiller in Anlehnung an Rivero, dass die „Rechtssicherheit hier notwendig dem 352 Eros Roberto Grau, Ensaio e discurso sobre a interpretação / aplicação do Direito, 4. Aufl., S. 36.

214

B. Bestimmung der Rechtssicherheit

vermuteten Rechtsfortschritt geopfert wird“353, unangebracht. Das deutsche Grundgesetz legt sowohl die Einschränkung der Änderung einiger Materien fest (Art. 79 Abs. 3), als es auch einen demokratischen und sozialen Bundesstaat (Art. 20 und 28) statuiert, was auch die Durchführung einiger gesellschaftlicher Veränderungen mit sich bringt. Den Zustand der Berechenbarkeit an Stelle der (absoluten) Vorhersehbarkeit als vollständige Fähigkeit der Vorwegnahme der Norminhalte bezeichnet die Rechtssicherheit, da die Natur des Rechts- wie im einzelnen im zweiten Teil dieser Arbeit zu zeigen sein wird –, das in einer weitgehend unbestimmten und bei der Rekonstruktion der Bedeutungen von Argumentationsverfahren abhängigen Sprache formuliert ist, eindeutige Rechtssätze unmöglich macht, obwohl die CF/88 eine Reihe von Regeln enthält, die eine Vorwegnahme staatlichen Handels erlauben sollen, wie in den Fällen der Regeln der Gesetzmäßigkeit und der Vorzeitigkeit. Deswegen ist es richtiger, von Berechenbarkeit in zwei Dimensionen zu sprechen: § 1 Mit Bezug auf die Norminhalte, die den zum Zeitpunkt einer Handlung geltenden Normen zuzuschreiben sind, wie die hochentwickelte Fähigkeit, das Spektrum der abstrakt den eigenen oder fremden Rechtsgeschäften oder Realakten zuschreibbaren Rechtsfolgen vorauszusehen, sowie das Zeitspektrum, innerhalb dessen die Rechtsfolge bestimmt wird, vermittels eines Prozesses der argumentativen Rekonstruktion der Minimalbedeutungen der Bestimmungen. Der Begriff der Vorhersehbarkeit als Fähigkeit der vollständigen Vorwegnahme des Inhalts der Rechtsnormen und des endgültigen staatlichen Handelns wird also nicht übernommen. § 2 Mit Bezug auf die Änderbarkeit der Normen ist die Berechenbarkeit zu verstehen als die hochentwickelte Fähigkeit, das Spektrum der Rechtsfolgen vorauszusehen, die zukünftige Normen den durch vergangene Normen geregelten Sachverhalten zuschreiben können: obwohl die gesetzgebende Gewalt befugt ist, die Rechtsordnung zu erneuern, werden die Grundrechte nur dann effektiv geachtet, wenn die Neuerungen nicht abrupt, drastisch und illoyal erfolgen. So gibt es keine Berechenbarkeit, wenn der Steuerzahler, obwohl er wissen muss, dass die Norm zukünftig geändert werden kann, nicht wissen kann, innerhalb welcher Grenzen oder in welchem Maß sie geändert werden wird. Die Änderung eines Steuersatzes um 5 % kann nicht der Änderung eines Steuersatzes um 600 % gleichgesetzt werden, da der Steuerzahler im zweiten Fall, außer dem Umstand, in eine unumkehrbare Lage gebracht zu werden, vielleicht seine Handlung nicht begangen hätte, wenn er wüsste, dass die Änderung so intensiv sein würde. Die Berechenbarkeit beinhaltet also die Fähigkeit, das Spektrum der Folgen, denen der Steuerzahler in Zukunft unterworfen sein wird, vorauszusehen. Diese Forderung wird dann nicht erfüllt, wenn der Steuerzahler nur fähig ist, vorauszu-

353

Bertrand Seiller (Hrsg.), La rétroactivité des décisions du juge administratif, S. 17.

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

215

sehen, dass die Norm sich ändern kann, jedoch nicht einmal minimal in der Lage ist, zu wissen, in welchem Maß sie sich ändern kann354. Man muss also eine alternative Konzeption von Berechenbarkeit wählen, die dann feststellbar ist, wenn der Handelnde in der Lage ist, die verschiedenen Modi zu bestimmen, durch welche die anwendenden Organe die Rechtsnorm rekonstruieren können, ebenso die minimale Anzahl der Rechtskennzeichnungen, die der faktischen Situation zugeschrieben werden können, und in weitem Maß die abstrakten Rechtsfolgen zu berechnen, die jeder dieser Kennzeichnungen zugeschrieben werden können355. Der Steuerzahler muss also die Fakten, die abstrakten Rechtskennzeichnungen rekonstruieren können und mit großer Annäherung nicht die zukünftige einzelne Folge voraussehen, die seinen Handlungen tatsächlich zugeschrieben werden wird, sondern die alternativ anwendbaren minimalen Folgen, die seinen Handlungen tatsächlich zugeschrieben werden können, und das Zeitspektrum, innerhalb dessen die endgültige Folge bestimmt werden wird. Nun ist hervorzuheben, dass die Wahl eines an einen Zustand der Berechenbarkeit gekoppelten Begriffs von Rechtssicherheit nicht das Ausbleiben der Kontrolle der Voraussagen impliziert. Einerseits, weil die Auslegung, obwohl sie einen gewissen Grad von Unbestimmtheit hat, weder abgekoppelt noch unabhängig von Legitimationskriterien ist, wie der Verhältnismäßigkeit und der Zumutbarkeit356. Andererseits, weil die Wahl der Bedeutung gleichfalls von externen Strukturen abhängt, die von materialen und prozeduralen Regeln vorgegeben werden, wie den Regeln der Verwaltungs- oder Gerichtszuständigkeit oder den Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren357. Außerdem ist die Auslegungstätigkeit rekonstruktiv in dem Sinn, dass sie einerseits konstitutiv ist, aber andererseits nicht nach freiem Ermessen verfährt, da die Entscheidungsnorm durch die Textbedeutungen gestaltet wird358. Selbst die Akzeptanz der Unbestimmtheitsmarge der Sprache ermächtigt nicht zu einem „erlaubt ist, was gefällt in Auslegung oder zu einer Manipulation „à la diable“ der Normelemente, wie Machado Derzi zu Recht feststellt, aufgrund der Notwendigkeit der begründeten Bezugnahme des Anwenders auf die internen Elemente des Rechtssystems. Andernfalls würde nicht nur das Rechtsstaatsprinzip verletzt, sondern gleichermaßen auch das Gewaltenteilungsprinzip359. Nicht zulässig ist die schlichte Missachtung der Tatsache, dass die Anwendung von Normen, 354

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 285. Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 211. 356 Ricardo Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional Financeiro  e Tributário, Bd. 2, S. 203 ff. 357 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 81. 358 Eros Roberto Grau, Ensaio e discurso sobre a interpretação / aplicação do Direito, 4. Aufl., S. 28 sowie 66. Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 106. 359 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 105 sowie 110. 355

216

B. Bestimmung der Rechtssicherheit

einschließlich steuerrechtlicher Normen, in höherem oder geringerem Maß einen gewissen Ungewissheitsgrad beinhaltet, der sich aus der Unbestimmtheit der Normen oder der Vielfalt ihrer wechselseitigen Beziehungen und ihrer Verbindung mit den Sachverhalten, auf die sie sich beziehen, ergibt360. Die hier vertretene Konzeption von Rechtssicherheit folgt einer Konzeption des Rechts, die sich im Schlepptau einer zwischen den objektivistischen und argumentativen Konzeptionen angesiedelten intermediären Konzeption befindet. Für Erstere ist das Recht ein vorgängig gegebenes Objekt, dessen Inhalt primär von erkennenden Tätigkeiten abhängt, die vorbestimmte Bedeutungen offenbaren. Für Letztere ist das Recht eine Tätigkeit, deren Durchführung im Kern von im Entscheidungsprozess zu verwendenden Argumentationsstrukturen abhängt361. Was hier vertreten wird, ist ein Verständnis des Rechts als einer harmonischen Verbindung semantischer und argumentativer Tätigkeiten: die Tätigkeit des Rechtsarbeiters geht von Rekonstruktionen von Normbedeutungen vermittels Argumentationsregeln aus, aber ihre Anwendung hängt von hermeneutischen und Anwendungspostulaten ab. Das Recht ist also nicht ein bloßes Objekt, dessen Verwirklichung von Argumentationsstrukturen abhängt, oder eine bloße Argumentationstätigkeit ohne jede sich aus vorgängigen Normbedeutungen ergebende Fremdbegrenzung; es ist eine Art „Aktivitäts-Objekt“, da es zu seiner Verwirklichung der Rekonstruktion von Bedeutungen und Argumentationsstrukturen der Legitimation und Begründung bedarf. Man kann ja den Argumentationscharakter des Rechts nicht leugnen. MacCormick hat dies sehr gut wie folgt charakterisiert: „Das Recht ist eine argumentative Disziplin. Über welches Problem man auch immer nachdenken mag: wenn wir es als eine Rechtsfrage oder ein Rechtsproblem formulieren, suchen wir nach einer Lösung oder Antwort im Sinn einer Aussage, die als juristisches Problem sinnvoll oder zumindest vertretbar anmutet, obwohl vorzugsweise schlüssig. Um herauszubekommen, ob diese Lösung sinnvoll oder wirklich vertretbar ist, denken wir in Argumenten, die für den Vorschlag einer Antwort oder Lösung verwendet werden könnten.“362

Dworkin schlägt den gleichen Weg ein, wenn er sagt, dass die „Gesetzpraxis, anders als so viele andere gesellschaftliche Phänomene, argumentativ ist. Jeder Akteur in der Praxis versteht, dass das, was er erlaubt oder beantragt, in Wahrheit von bestimmten Aussagen abhängt, die nur aus und in der Praxis Sinn erhalten; die Praxis besteht weitgehend in der Verwendung und Vertretung dieser Aussagen“363. Rechtssicherheit ist folglich nicht mehr eine reine Forderung der Vorausbestimmung und wird zu einer Pflicht der rationalen und argumentativen Kontrolle.

360

César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 122. Aulis Aarnio, The Rational as Reasonable, S. 4; Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 13 ff. 362 Neil MacCormick, Rhetoric and Rule of Law, in: Dyzenhaus, David (Hrsg.), Recrafting the Rule of Law – The Limits of Legal Order, S. 163. 363 Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 13. 361

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

217

Dieser Perspektivenwechsel beweist, dass Rechtssicherheit Elemente einschließt, die den Prozess der Anwendung des Rechts durchwirken müssen und nicht einfach in seinem Ergebnis anwesend sein dürfen. Daher die zutreffende Bemerkung von Habermas, dass Rechtssicherheit nicht „Ergebnissicherheit“ bedeutet, sondern die diskursive Klärung der normativen und faktischen Elemente, die durch ein ordnungsgemäßes Verfahren zustandekommt, das die zur Entscheidung führenden Argumente benennen kann. Da Rechtssicherheit sowohl an eine logisch-seman­ tische als auch an eine pragmatische Dimension des argumentativen Begründungsprozesses gebunden ist, ist sie also als „verfahrensabhängige Rechtssicherheit“ zu verstehen364. Wie Neves sehr gut herausstellt, ist die Begründung im Recht nicht mehr bloß semantisch. Sie wird diskursiv und beinhaltet damit das Problem der rationalen Annehmbarkeit der Entscheidung vermittels eines legitimitätserzeugenden Verfahrens der Rechtsproduktion365. Diese Begriffsbestimmung der Rechtssicherheit nähert sich der Forderung nach Transparenz staatlichen Handelns. Das Rechtssicherheitsprinzip kann jedoch dem Transparenzprinzip nicht vollständig assimiliert werden, weil die Forderung nach Transparenz einen an die Informationsidee gekoppelten Begriffskern hat, dessen Zweck die Gewährleistung der Öffnung in jedem staatlichen Verfahren ist, um ihr Verständnis und ihre Effektivität zu ermöglichen366. Obwohl der hier vorgeschlagene Rechtssicherheitsbegriff auch Transparenz voraussetzt, konzentriert er sich nicht auf die bloß informative Frage, sondern auf die rational-argumentative Frage: mehr als informieren will das Rechtssicherheitsprinzip Rationalität und Effektivität dem Recht insgesamt gewährleisten. Hinsichtlich des Worts „Recht“, bezeichnet es Sicherheit „des Rechts“, „durch das Recht“, „vor dem Recht“ oder „unter dem Recht“, „von Rechten“, „als ein Recht“ oder „im Recht“? Es bezeichnet alle diese Möglichkeiten, je nach dem Kontext und der Perspektive: Sicherheit des Rechts, da die CF/88 anlässlich der Statuierung der Regeln der Gesetzmäßigkeit, Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots die Bedingungen dafür geschaffen hat, dass das Recht selbst sicher wird, vermittels der Klarheit seiner Sätze und der Vorhersehbarkeit seiner Normen. So hat sie beispielsweise bei der Einführung der Prinzipien der Sittlichkeit und Öffentlichkeit die Begründung und Veröffentlichung als Voraussetzungen der Geltung von Rechtsnormen postuliert. Wie wir schon gesehen haben, hat das deutsche Grundgesetz sich in seinem Text gleichfalls für diese Option entschieden.

364

Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 270 sowie 277. Marcelo Neves, Entre Têmis e Leviatã: uma relação difícil – o Estado Democrático de Direito a partir e além de Luhmann e Habermas, S. 107 sowie 112, 118. 366 Jürgen Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, S. 376. 365

218

B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Sicherheit durch das Recht, da die CF/88 einerseits anlässlich der Einführung des demokratischen Staates in Art. 1 zum Zweck der „Gewährleistung der Sicherheit als Wert“ statuiert hat, dass das Recht ein Gewährleistungsinstrument der Sicherheit sein muss; andererseits, weil die Festlegung von Verfahren, vermittels derer der Bürger seine Rechte wahrnehmen kann (wie im Fall der Garantien des ordnungsgemäßen Verfahrens, der umfassenden Verteidigung und des Rechts auf Anhörung der anderen Partei, oder selbst des Sicherungsmandats und des habeas corpus), dazu dient, dass die Bürger das Recht als ein ihre Rechte schützendes Instrument nutzen. Alle diese Hypothesen sind auch im deutschen Grundgesetz bezeichnet, wie wir in der im vorstehenden Kapitel durchgeführten Prüfung feststellen konnten. Sicherheit vor dem Recht, da das staatliche Handeln, das nur vermittels der Ausübung von in Kompetenzregeln vorgesehenen Befugnissen und vermittels der im Recht vorgesehenen Organen und Verfahren erfolgen kann, keine rechtsförmig erworbenen Rechte des Einzelnen beeinträchtigen darf. Sicherheit von Rechten, da der Schutz des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandung und der Rechtskraft in Art. 5 XXXVI die reflexive Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips darstellen, die auf ein bestimmtes Subjekt und einen bestimmten konkreten Fall ausgerichtet ist und die Ausübung spezifischer Rechte gewährleistet. Obwohl diese Regel im deutschen Grundgesetz nicht ausdrücklich zu fnden ist, kann man behaupten, dass dieser Schutz sich direkt aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt (Art. 20 und 28). Sicherheit als ein Recht, da die reflexive Wirksamkeit des objektiven Rechtssicherheitsprinzips für ein bestimmtes Subjekt das Recht auf ein bestimmtes staatliches Verhalten begründet, ohne das die Zustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit sich nicht minimal konkretisieren. Sicherheit im Recht im Hinblick darauf, dass die Rechtssicherheit, wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, ihren Kern nicht in der Forderung nach Kenntnis der vollständig und vorgängig bestimmten Inhalte hat, sondern in der Kontrollierbarkeit von bei der Rekonstruktion und Anwendung von Normbedeutungen geforderten Argumentationsstrukturen. Rechtssicherheit gibt sich also im Verlauf des Rechtsverwirklichungsprozesses zu erkennen367. Diese Bedeutung – Sicherheit im Recht – veranschaulicht auf umfassendere Weise die allgemeine Bedeutung des Rechtssicherheitsprinzips, das sich nicht mehr auf die vorgängige Kenntnis der Rechtswirkungen bezieht, um insbesondere die Kontrollierbarkeit argumentativer Prozesse zu erfassen368.

367 368

Arthur Kaufmann, Die ontologische Begründung des Rechts, S. 482. Stefano Bertea, Certezza del Diritto e argomentazione giuridica, S. 113.

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

219

Welches ist der objektive Aspekt der Rechtssicherheit aufgrund der CF/88: Sicherheit der Rechtsordnung, einer Norm oder eines Verhaltens? Falls einer Norm: einer allgemeinen oder Einzelnorm? Falls eines Verhaltens: des eigenen oder fremden Verhaltens? Die Antwort lautet: Sicherheit der Rechtsordnung, einer Norm und eines Verhaltens. Auch hier schließen sich diese Bedeutungen nicht aus: jede existiert nach Maßgabe des Kontexts, in dem die Rechtssicherheit zur Anwendung gelangt. Sicherheit der Rechtsordnung, da mehrere Prinzipien, wie beispielsweise der Rechtsstaat oder der soziale Rechtsstaat, sich auf die Rechtsordnung insgesamt und nicht eine besondere Erscheinungsform von ihr beziehen. Sicherheit einer Norm, sowohl der allgemeinen Norm, da mehrere Regeln die Geltungsbedingungen der Normschöpfung festlegen, wie im Fall der steuerrechtlichen Regel des Rückwirkungsverbots, als auch der Einzelnorm, da mehrere Regeln durch Gerichtsurteil oder Verwaltungsakt gewährleistete individuelle Positionen schützen, wie im Fall der die vollendete Rechtshandlung, die Rechtskraft und das wohlerworbene Recht schützenden Regel. Sicherheit eines Verhaltens, namentlich des staatlichen Verhaltens, angesichts des Umstands, dass die CF/88 neben der Einführung der Prinzipien der Öffentlichkeit und Sittlichkeit auch noch eine Reihe von prozeduralen und materialen Regeln enthält, welche die Kenntnis und Begründung staatlichen Handelns fördern. Im Verbund mit den Kompetenzregeln (der Ausübung, der materialen und prozeduralen Abgrenzung) erlauben diese Prinzipien dem Steuerzahler die Antizipation der Folgen, welche die Rechtsordnung an sein Verhalten knüpft. Hinsichtlich des Subjekts, das die Rechtssicherheit gewährleisten muss: obliegt ihre Gewährleistung der gesetzgebenden, der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt? Subjekt sind die drei Gewalten369: – die gesetzgebende Gewalt, da die CF/88 Regeln über die Normproduktion statuiert, wie im Fall der Regeln der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots, und der gesetzgebenden Gewalt die Pflicht auferlegt, vermittels eines Gesetzes im formellen Sinn Verpflichtungen festzulegen, Tatsachen vorherzusehen, die nach einem bestimmten Zeitraum eintreten, und Situationen zu erfassen, die erst nach der Veröffentlichung des Gesetzes eintreten; – die vollziehende Gewalt, da die CF/88 Normen statuiert, die auf die einheitliche Anwendung der Gesetzgebung abzielen, wie im Fall des Gleichheitssatzes, und

369 Bertrand Mathieu, Constitution et sécurité juridique – France, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 178 ff.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

ebenso Normen, die sich auf, die Befolgung der von der gesetzgebenden Gewalt festgelegten Regeln beziehen, wie z. B. die Regel der Gesetzmäßigkeit; und – die rechtsprechende Gewalt, da die CF/88 neben der Forderung nach Festlegung einheitlich anzuwendender allgemeiner Regeln eine Reihe von Regeln enthält, die der Begründung und Öffentlichkeit richterlichen Handelns dienen. Diese Bindung der drei Gewalten ergibt sich auch noch aus der unmittelbaren Geltung der auf sie alle bezogenen Grundrechte, wie Art. 5 der CF/88 vorschreibt370. Das deutsche Grundgesetz fordert ebenfalls die Gewährleistung der Rechtssicherheit durch die drei Staatsgewalten. Seine Forderungen sind den Forderungen der CF/88 recht ähnlich. Außerdem bindet es ausdrücklich die Staatsgewalten an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3). Welches ist der subjektive Aspekt der Rechtssicherheit aufgrund der CF/88? Wer ist ihr Nutznießer: schützt sie den Steuerzahler oder den Staat? Nutznießer der Rechtssicherheit ist der Steuerzahler, insofern das Telos der Verfassungsnormen einerseits die Ermöglichung der Vorwegnahme staatlichen Handelns ist, wie die Prinzipien der Sittlichkeit und Öffentlichkeit zeigen, andererseits die Ermöglichung der Kenntnis derRechtsfolgen, die das Handeln des Steuerzahlers auslösen kann, wie die Gesamtheit der Zuständigkeitsregeln und der Regeln der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots im Steuerrecht zeigen. Rechtssicherheit ist somit, in der treffenden Formulierung von Machado Derzi, „keine Zweibahnstraße“. Das Rückwirkungsverbot, der Schutz des Vertrauens und Treu und Glauben dürfen nicht angerufen werden, um z. B. die Staatskasse gegen die Auswirkungen des Rechtsprechungswandels zu schützen371. Hisichtlich des Subjekts, welches das Kriterium zur Bewertung der Sicherheit abgibt, ist zu fragen, ob es Rechtssicherheit aus der Perspektive des Normalbürgers oder des Fachmanns im Steuerrecht geben soll. Rechtssicherheit muss es aus der Perspektive des Normalbürgers geben, da das Rechtsstaatsprinzip die Kenntnis der Normen bei allen Bürgern voraussetzt, auch als Instrument ihrer demokratischen Teilhabe, und die Prinzipien der Öffentlichkeit und Sittlichkeit keinen spezifischen Adressaten haben, sondern sich eher an alle Bürger wenden. Die Rechtsnormen im Allgemeinen und die steuerrechtlichen Normen im Besonderen bezwecken, dass bestimmte Verhaltensweisen erlaubt, verboten oder geboten sind; deshalb müssen sie, um eine praktische Wirkung zu 370

Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 415. Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 160; Misabel de Abreu Machado Derzi, Mutações jurisprudenciais em face da proteção da confiança e do interesse público no planejamento da receita e da despesa do Estado, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação 2 – os princípios da ordem econômica e a tributação, S. 746. 371

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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erzielen, von denen, die etwas tun dürfen oder nicht dürfen oder zu diesem Tun verpflichtet sind, verstanden werden. Da die Normen ein Instrument der Orientierung ihrer Adressaten sein sollen, muss die Perspektive ihrer Befolgung die der Adressaten sein, einschließlich unter den Bedingung, dass die Sicherheit ein Instrument ihrer individuellen Autonomie ist372. Da also der Bürger den Bezugspunkt für die Bewertung der Klarheit und Verständlichkeit der Normen abgeben soll, müssen die Normen „benutzerfreundlich“ und „adressatenverständlich“ sein373. Im Bereich des Steuerrechts ist darauf hinzuweisen, dass das in der CF/88 enthaltene nationale Abgabensystem spezifische Regeln über die Erkennbarkeit, Verständlichkeit und Berechenbarkeit enthält, die den Steuerzahler als Bezugspunkt wählen. In diesem Sinn werden die Regeln der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots als „Grenzen der Besteuerungsgewalt“ positiviert. Sie sind somit Instrumente des Schutzes des Steuerzahlers vor dem Staat; außerdem werden die genannten Regeln „Garantien“ genannt, worunter diejenigen Normen zu verstehen sind, die als Gewährleistungsinstrumente der Individualrechte gegenüber dem Staat fungieren. Die Definition dieser Normen als „Grenzen der Besteuerungsgewalt“ und „Garantien“ zeigt deutlich die Absicht der Verfassung, den Steuerzahler und nicht ein anderes Subjekt zum Bezugspunkt für die Feststellung der Zustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts zu machen. Obgleich das deutsche Grundgesetz weniger direkt formuliert, ist nicht zu verkennen, dass es ebenfalls Garantien aus der Sicht der Steuerzahler festlegt, da es sowohl formale als auch materiale Rechtsprinzipien enthält, welche die Besteuerungsgewalt materialiter begrenzen, vor allem durch die Garantie der Menschenwürde (Art. 1), des Gleichheitsprinzips (Art. 3) und des Grundrechts auf Familie (Art. 6). Schließlich ist daran zu erinnern, dass die allgemeinen Abgabennormen wie beispielsweise die in der nationalen Abgabenordnung enthaltenen Regeln für die Festlegung von Modi der direkten Berechnung und Vorauszahlung der Abgaben durch den Steuerzahler selbst (Art. 150) und für den Ausschluss der Auferlegung von Sanktionen gegen Steuerzahler, die jeder vom Finanzamt angefangene Kontrollmaßnahme zuvorkommen (Art. 100), die spontane Befolgung der Abgabennormen durch den Steuerzahler selbst voraussetzen, unabhängig von der Beteiligung von Rechtsanwälten in Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren oder von der Beteiligung von Behörden in Verwaltungsverfahren. Rechtssicherheit ist also aus der Perspektive des Adressaten zu bewerten. Im Steuerrecht bedeutet dies, dass es dann Sicherheit gibt, wenn der Steuerzahler in der Lage ist, in hohem Maß das Recht zu kennen, auf es zu vertrauen und seine Wirkungen zu berechnen. Die Forderung der Bestimmbarkeit wird desto höher sein, je intensiver die Grundrechte der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit beschränkt werden374. Dies ist auf 372

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 202. Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 230. 374 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 263. 373

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

grund der belastenden und induzierenden Wirkung der Steuernormen präzise der Fall des Steuerrechts. Eine Einschränkung ist hier jedoch zu machen: da die Rechtssicherheit nicht nur einen Aspekt, sondern verschiedene Aspekte beinhaltet, wird dieses allgemeine Kriterium der Prüfung ihres Vorliegens aus der Perspektive des Steuerzahlers nicht immer durchgehalten, weil es je nach dem objektiven und subjekten materialen Aspekt notwendig sein kann, nicht nur einen Steuerzahler zu berücksichtigen, sondern mehrere oder gar alle oder am Ende sogar die vollziehende Gewalt. Wenn also das Problem sich auf die Verständlichkeit bezieht, kann sowohl eine adressatenorientierte als auch eine finanzamtsorientierte Steuernorm geprüft werden, obwohl in diesem Fall die genannte Norm strenggenommen vorwiegend verwaltungsrechtlicher statt steuerrechtlicher Natur ist; wenn das Problem sich auf die Verlässlichkeit bezieht, muss man in Erfahrung bringen, ob es sich um eine Frage der Stabilität des einzelnen Steuerpflichtigen handelt, wo dann nur die Sicht des betroffenen Steuerzahlers von der reflexiven Anwendung der Rechtssicherheit zu berücksichtigen ist, oder ob eine auf die Rechtsordnung insgesamt bezogene Frage zur Diskussion steht, wo dann die Perspektive der Steuerzahlergemeinschaft zu berücksichtigen ist. Diese Betrachtungen zeigen also, dass die Rechtssicherheit im Steuerrecht aus der Sicht des Adressaten zu bewerten ist, wenn kein Grund zur Berücksichtigung einer anderen Sichtweise vorliegt. Wie weit reicht die subjektive Ausdehnung der Rechtssicherheit? Muss es Rechtssicherheit für den Einzelnen oder ein Recht des Einzelnen geben, für die Gesellschaft oder für die Rechtsordnung insgesamt? Das hängt von den anwendbaren Normen ab. Rechtssicherheit kann in der Tat sowohl als objektives Prinzip der Rechtsordnung angesehen werden als auch eine reflexive Anwendung auf ein spezifisches Subjekt erfahren. Deshalb sagt man, dass die Rechtssicherheit sowohl eine objektive und unpersönliche Dimension, die auf das gesamtgesellschaftliche oder allgemeine Interesse der Erhaltung der Ordnung bezogen ist, als auch eine strikt personale, an Einzelinteressen gekoppelte Dimension annehmen kann375. Im ersten Fall haben wir das Rechtssicherheitsprinzip; im zweiten das sog. Vertrauensschutzprinzip. Obwohl beide zusammenhängen, sind sie unterschiedlich: das Vertrauensschutzprinzip bezieht sich allgemein und ab­ strakt auf die Rechtsordnung, unabhängig vom spezifischen Interesse einer Person, und kann sogar ein Instrument zur Brüskierung von Individualinteressen sein; das Vertrauensschutzprinzip bezieht sich auf eine subjektive und konkrete Situation und bezweckt einzig und allein die Erhaltung einer für ein bestimmtes Subjekt günsti-

375

Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 170; Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 19; Rafael Maffini, O princípio da proteção substancial da confiança no Direito Administrativo brasileiro, S. 55 sowie 61.

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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gen Rechtslage376. Man kann in diese Richtung argumentierend behaupten, dass das Rechtssicherheitsprinzip ein Instrument des Schutzes „der Vertrauensbezeigungen“ (der Bürger im Allgemeinen, angesichts einer Rechtsordnung in globaler Hinsicht) ist, während das Prinzip des Vertrauens ein Mittel der Garantie „des Vertrauens“ (eines Bürgers aufgrund einer besonderen Äußerung der Rechtsordnung) ist. Das genannte Vertrauensschutzprinzip schützt also nicht nur „die Stabilität des Rechts für alle“, wie das Rechtssicherheitsprinzip, sondern „das Vertrauen einer Person in die Stabilität einer Äußerung des Rechts“, angesichts derer der Bürger eine Handlung begangen hat, was etwas subtil Anderes bedeutet. Wie Calmes zutreffend bemerkt, zielt das Rechtssicherheitsprinzip auf die Neutralisierung der NichtVorhersehbarkeit, vornehmlich der Rückwirkung, „unter welcher Erscheinungsform auch immer“ (soit qu’il soit), und auf die Neutralisierung der Instabilität der Rechtsordnung im Allgemeinen, unter welcher Erscheinungsform auch immer377. Deswegen ist es eigentlich korrekter, von einem subjektiven Recht auf Vertrauensschutz an Stelle des Vertrauensschtzprinzips zu sprechen378. Um zu wissen, wann die Rechtssicherheit Einzelinteressen und wann sie gesellschaftliche Interessen schützen soll, müssen der normative und faktische Kontext ihrer Verwendung untersucht werden. Wenn es etwa um den Schutz des wohlerworbenen Rechts geht, der vollendeten Rechtshandlung, der Rechtskraft und des Vertrauens, erfährt das Rechtssicherheitsprinzip eine reflexive Anwendung auf partikulare Interessen, sei es, weil die die genannten Rechtslagen schützenden Normen „Individualgarantien“ genannt werden, sei es, weil sie individuelle Umstände zum Thema haben. Wenn jedoch die im Art. 27 des Gesetzes Nr. 9.868/98 vorgesehene Regel geprüft wird, die dem Obersten Bundesgerichtshof anlässlich der abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit erlaubt „unter Berücksichtigung der Rechtssicherheit oder eines außergewöhnlichen Interesses der Gesellschaft“ die Folgen der Erklärung eines Gesetzes oder einer anderen Rechtsnorm für verfassungswidrig zu variieren, bezweckt das Rechtssicherheitsprinzip den Schutz der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung insgesamt – sei es, weil diese Regel sich auf die konzentrierte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit mit dem Ziel der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des jeweiligen Gesetzes ohne primäre Berücksichtigung partikularer Interessen bezieht, sei es, weil bei dieser Kontrolle offen bleibt, für die Anwendung des sog. Vertrauensprinzips unverzichtbaren Voraussetzungen (Vertrauensbasis, Vertrauen, Kausalitätsbezug zwischen Basis und Vertrauen, Bestätigung des Vertrauens und seine Enttäuschung) vorliegen, unter Berücksichtigung des Umstands, dass dieser Nachweis nur auf dem Weg der sog.

376 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 167; Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 237. 377 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 170. 378 Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 507.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

diffusen Kontrolle und in einem umfassenden und erschöpfenden Erkenntnisverfahren erbracht werden könnte. Wie wir im zweiten Teil dieser Arbeit sehen werden, bedeutet die Tatsache, dass Rechtssicherheit eine individuelle und eine transindividuelle normative Dimension haben kann, nicht, dass diese Dimensionen keine Beziehungen untereinander haben und – wichtiger noch – nicht harmonisiert werden müssen. Wenn man beispielsweise analysiert, ob die Voraussetzungen der Gestaltung der Unantastbarkeit einer De-facto-Situation vorliegen, obwohl konkrete und individuelle Voraussetzungen analysiert werden müssten, muss man feststellen, ob der individuelle Schutz der Rechtssicherheit die kollektive Verwirklichung der Rechtssicherheit beeinträchtigen kann. Dies kann etwa geschehen, wenn die Wirkungen rechtswidriger Verwaltungsakte unter derartigen Umständen beibehalten werden, dass die Entscheidung der Beibehaltung infolge ihrer Wiederholbarkeit die zukünftige Zuständigkeitsüberschreitung seitens der Verwaltungsbehörden anregen kann. In diesem Fall würde der Schutz der Stabilität der individuellen Akte am Ende die Berechenbarkeit der Rechtsordnung beeinträchtigen, in dem Maß, in dem viele Verwaltungsbehörden sich angeregt sehen könnten, außerhalb ihrer Zuständigkeit zu handeln und auf ihre zukünftige Unantastbarkeit durch Zeitablauf zu setzen. Um es verkürzt zu sagen: die individuelle Stabilität ginge auf Kosten der allgemeinen Berechenbarkeit379. Anders gesagt: der Schutz der Sicherheit (durch Stabilität) würde einen Sicherheitsverlust (durch Berechenbarkeit) provozieren. Rechtssicherheit würde also Rechtsunsicherheit verursachen. Wie wir im der Wirksamkeit der Rechtssicherheit gewidmeten Teil dieser Arbeit sehen werden, handelt es sich hier um einen Konflikt der Rechtssicherheit mit sich selbst – um einen Binnenkonflikt der Rechtssicherheit. Obwohl eine der Dimensionen der Rechtssicherheit für vorrangig erklärt werden kann, je nach dem Normkontext, wird in dieser Arbeit die These vertreten, dass die Verwirklichung einer Dimension niemals um den Preis der Vernichtung einer anderen erfolgen und die Verwirklichung einer Dimension nicht die Nichtverwirklichung aller Dimensionen implizieren darf. Dies erklärt auch, warum das Rechtssicherheitsprinzip als Forderung der Verwirklichung eines Zustands von „mehr“ Sicherheit bestimmt wird. Welcher ist der zeitliche Aspekt der Rechtssicherheit nach der CF/88? Soll Rechtssicherheit in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft angestrebt werden? Rechtssicherheit soll in den drei einheitlich untersuchten Zeitdimensionen angestrebt werden: In der Gegenwart, da die CF/88 Regeln für die Rechtsschöpfung aufstellt, um dem Bürger zu ermöglichen, die von ihm bei der gegenwärtigen Ausübung seiner 379 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 20.

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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Tätigkeiten zu befolgenden Normen zu kennen. Wie im Folgenden Kapitel gezeigt werden wird, statuiert die Verfassung eine Reihe von Pflichten bezüglich Existenz (Veröffentlichung der Norm und Bekanntgabe der Beteiligte), Geltung (Vorzeitigkeit und Rückwirkungsverbot) und Inhalt (Klarheit und Bestimmbarkeit) und gewährleistet somit eine statische Art von „Orientierungssicherheit“. In der Vergangenheit, da die CF/88 Normen aufstellt, die schon vom Recht selbst in der Vergangenheit vorgefundene Situationen schützt, wie die Garantien des wohlerworbenen Rechts, der Rechtskraft und der vollendeten Rechtshandlung. Wie im Folgenden Kapitel spezifiziert werden wird, statuiert die Verfassung eine Reihe von Vorschriften für die Rechtsänderung und gewährleistet folglich einen dynamischen Typus von „Rhythmussicherheit“. In der Zukunft, da die CF/88 Normen über die bindende Natur des Rechts mit dem Ziel aufstellt, dass der Bürger heute wissen kann, welchen Bindungsgrad die Normen morgen haben werden. Wie ebenfalls im nächsten Kapitel im Einzelnen zu zeigen sein wird, stellt die Verfassung mehrere Normen über die Vorzeitigkeit und die Wirksamkeit der Normsetzung auf und gewährleistet somit eine Art „Anwendungssicherheit“. Auch im deutschen Grundgesetz verdienen die drei Zeitdimensionen den Schutz der Rechtssicherheit. Geschützt wird die Gegenwart, da das Grundgesetz Regeln für die Rechtschöpfung festlegt, mit Pflichten, die sich z. B. auf das Vorliegen und die Geltung von Gesetzen beziehen (Art. 82). Geschützt wird die Vergangenheit, da der Schutz der schon vom Recht in der Vergangenheit geschützten Situationen sowohl aus dem Rechtsstaatsbegriff (Art. 20 und 28) als auch aus der ausdrücklichen Erwägung des Prinzips nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2) erschlossen werden kann. Geschützt wird schließlich die Zukunft, da das Grundgesetz auch Normen über die bindende Natur des Rechts statuiert, damit der Bürger heute wissen kann, welchen Bindungsgrad die Normen morgen haben. Welcher ist der quantitative Aspekt der Rechtssicherheit? Soll Sicherheit ganz oder nur teilweise gewährleistet werden? Sicherheit soll ohne Abstriche gewährleistet werden. Diese Frage, deren spätere Untersuchung ihren hohen Komplexitätsgrad zeigen soll, entspricht nicht dem Dualismus „absolut vs. relativ“, sondern will stattdessen den Nachweis erbringen, dass Rechtssicherheit mehr gefördert als eingeschränkt werden muss. Da sie nicht nur ein einheitliches Ideal beinhaltet, sondern einen vielfältigen Idealkomplex, können Binnenkonflikte zwischen mehreren ihrer Aspekte ausbrechen: wenn man die Stabilität des Rechts vermittels des Schutzes der legitimen Erwartung einer Person gewährleistet, kann man damit sowohl die Verständlichkeit des Rechts für die anderen Bürger, die keine Gewissheit über das von der Rechtsordnung Erlaubte oder Verbotene haben werden, als auch die bindende Natur des Rechts beeinträchtigen, da ein formales Prinzip seine Wirksamkeit punktuell verliert; und wenn die Stabi­

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

lität einer legitimen Erwartung bewahrt wird, wird die Sicherheit der Vergangenheit geschützt, aber die Sicherheit der Zukunft in dem Maß beeinträchtigt, dass man die Wette wagen kann, dass die Wirkungen rechtswidriger Akte durch die Beibehaltung einer konsolidierten Lage geschützt werden können. Diese Beispiele, denen noch weitere Fälle hinzugefügt werden, zeigen, dass es Konflikte der Rechtssicherheit „mit sich selbst“ geben kann, d. h. Konflikte zwischen mehr als einem Aspekt der Rechtsicherheit selbst – wie etwa Konflikte zwischen Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, Sicherheit des Rechts und Sicherheit durch das Recht, Sicherheit der Vergangenheit und Sicherheit der Zukunft usf. Aus eben diesem Grund wird hier die These vertreten, dass das Rechtssicherheitsprinzip nur herangezogen werden darf, wenn seine Anwendung im Durchschnitt ihrer verschiedenen Aspekte mehr zu seiner Förderung als zu seiner Einschränkung führt. In anderen Worten: das Rechtssicherheitsprinzip darf nur als Fundament einer Entscheidung herangezogen werden, wenn man auf rationale und argumentative Weise den Nachweis erbringen kann, dass seine Verwendung im Durchschnitt einen höheren Gradseiner Aspekte fördert. In diesem Sinn fördert beispielsweise eine Entscheidung, welche die Auswirkungen eines rechtswidrigen Akts der Vergangenheit für ein Subjekt unantastbar macht, aber die bindende Natur der Rechtsordnung für die Mehrheit der Bürger beeinträchtigt, nur scheinbar das Rechtssicherheitsprinzip, da man zum Zweck der Erhaltung der Rechtssicherheit der Vergangenheit für einen Bürger in einem höheren Maß die Rechtssicherheit der Zukunft für die Mehrheit der Bürger einschränkt. Summa summarum und verkürzt gesagt: die Rechtssicherheit wird (wenig) geschützt, indem sie (sehr) eingeschränkt wird. Man schützt ein Glied und vergisst darüber den Körper. Deshalb wird das Rechtssicherheitsprinzip nur gefördert, wenn die Synthese seiner Aspekte deren stärkere gemeinsame Förderung offenbart. Bildlich gesprochen kann man das also folgendermaßen ausdrücken: Rechtssicherheit ist entweder ganz oder keine Rechtssicherheit. Und schließlich: welches ist der Rechtfertigungsaspekt der Rechtssicherheit? Ist Sicherheit ein Zweck in sich oder ein Instrument zur Erreichung anderer Zwecke? Rechtssicherheit ist ein Instrument zur Erreichung anderer Zwecke: einerseits ein Instrument zur Verwirklichung der Grundrechte der Freiheit und des Eigentums, da ohne Stabilität und Berechenbarkeit staatlichen Handelns der Einzelne sein Recht auf freie Selbstbestimmung eines menschenwürdigen Lebens nicht ausüben kann; andererseits ein Instrument der Erreichung der Staatszwecke, nämlich in Ansehung der Tatsache, dass die Durchführung einer Handlung und der staatlichen Planung mittel- und langfristig (Art. 70 ff. in der CF/88 und Art. 104a im Grundgesetz) die Beständigkeit der geltenden Regeln voraussetzt. Diese Beständigkeit nützt jedoch nicht dem Staat, sondern der Privatperson, die einerseits die staatliche Tätigkeit kontrollieren und andererseits ihre eigenen Tätigkeiten planen kann. Diese instru-

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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mentelle Natur ist im Steuerrecht noch sichtbarer, da die Prinzipien und Regeln, die als „Garantien“ und „Grenzen der Besteuerungsgewalt im nationalen Abgabensystem der CF/88 verankert sind und sich auf die Rechtssicherheit beziehen, den Steuerzahler, nicht den Staat schützen. Die instrumentelle Natur der Rechtssicherheit führt zu einer äußerst wichtigen Anpassung der Begriffe Erkennbarkeit und Berechenbarkeit, ohne die das Rechtssicherheitsprinzip diese instrumentelle Natur verlöre. Erkennbarkeit wurde als Fähigkeit des Verständnisses der auf einen Normtext rückführbaren Bedeutungsalternativen definiert und Berechenbarkeit als Fähigkeit der Vorwegnahme des Spektrums der Folgen, die alternativ auf Rechtshandlungen oder Tatsachen anwendbar sind, und als Fähigkeit der Vorwegnahme des Zeitspektrums, innerhalb dessen die Folge tatsächlich zur Anwendung gelangt. In diesem Kontext stellt sich jedoch folgende Frage: kann Erkennbarkeit vorliegen, falls die Alternativen der Normbedeutung sehr zahlreich sind? Kann Berechenbarkeit vorliegen, falls die Folge- und Zeitspektren allzu weit in der Zukunft liegen? Anders gewendet: liegt er vor, wenn Erkennbarkeit der Bürger zu wissen imstande ist, dass es zehn Bedeutungsalternativen für eine gegebene Norm gibt, und wenn der Bürger vorauszusehen vermag, dass es zehn Rechtsfolgen gibt, die seinem Handeln im Zeitraum von zehn Jahren zugeschrieben werden können? Falls Rechtssicherheit als notwendiges Instrument verstanden wird, damit der Einzelne seine Zukunft planen und entwerfen kann durch Ausweitung seines Spektrums freier Handlung, fällt die Antwort negativ aus: der Einzelne kann seine Zukunft nicht planen und entwerfen, wenn das Spektrum der normativen Folgen von Rechtshandlungen oder Tatsachen zu weit oder zu auseinanderstrebend und falls das Zeitspektrum, innerhalb dessendie Rechtsfolgen eintreten, zu ausgedehnt ist380, weil es nicht möglich ist, in Autonomie und Freiheit eine juristisch informierte strategische Planung durchzuführen, wenn die normativen Folgen sehr zahlreich oder gar zahllos sind und sich sehr voneinander unterscheiden. Die weitreichende Ungewissheit bezüglich der normativen Folgen der Handlung führt zur Untätigkeit, weil nicht einmal eine minimale Kontrolle der Zukunft möglich ist. Die Allgemeinheit der Erwartung führt, wenn sie sehr hochgradig ist, zum Mangel an Information, der seinerseits zur Unmöglichkeit der Planung führt. So besteht das Problem nicht in der Fähigkeit, die normativen Folgen vorauszusehen, sondern in der Fähigkeit, eine verringerte und nicht sehr unterschiedliche Anzahl normativer Folgen vorauszusehen. Der Bürger muss nur zwei Folgen für seine Handlung vorhersehen, aber wenn eine mögliche Folge die Auferlegung eines Bußgelds in Höhe von 1.000,00 Euro und die andere die Auferlegung der lebenslänglichen Freiheitsstrafe ist, gibt es streng genommen keine Berechenbarkeit, da der Einzelne ja nicht die Folgen seiner Handlungen ermessen kann. Und wenn der Steuerzahler nur zwei Folgen für die Begehung einer Handlung vorhersehen kann, eine Folge aber die Verpflichtung zur Zahlung einer Abgabe von 1.000,00 Euro und 380

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 232.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

die andere die auf dieselbe Handlung bezogene Verpflichtung zur Zahlung einer Abgabe von 1. 000. 000,00 Euro ist, gibt es strenggenommen auch keine Berechenbarkeit. Berechenbarkeit umfasst also Alternativen normativer Folgen, setzt jedoch voraus, dass diese weder sehr ausgedehnt noch untereinander sehr unterschiedlich sind und ihre Festlegung einen zumutbaren Zeitraum nicht übersteigt. Die Erwartung einer geringen Zahl ungewisser Folgen oder einer hohen Zahl gewisser Folgen kann nicht Berechenbarkeit genannt werden. So ist eine hinsichtlich der Anzahl und Vielfalt der Folgen unbegrenzte oder allzuweite Berechenbarkeit und eine hinsichtlich des Zeitraums für ihre Festlegung unbegrenzte oder allzuweite Berechenbarkeit keine Berechenbarkeit. Deswegen hängt die Berechenbarkeit auch von der zumutbaren Dauer des Verfahrens ab, wie später noch zu zeigen sein wird. Wegen dieser Betrachtungen ist Berechenbarkeit zu bestimmen als ein Sachverhalt, in dem der Bürger weitgehend imstande ist, das reduzierte und wenig variable Spektrum der Rechtsfolgen eigener oder fremder Rechtshandlungen oder Tatsachen und das reduzierte Zeitspektrum, innerhalb dessen die endgültige Folge eintreten wird, vorwegzunehmen und zu ermessen. Ohne diesen Vorbehalt schlägt Berechenbarkeit in NichtVorhersehbarkeit um. Dies erklärt, warum die Forderung nach Berechenbarkeit vermittels der Kontinuität der Rechtsordnung nicht nur abrupte, wenn auch nicht drastische, sondern auch drastische, wenn auch nicht abrupte Veränderungen ausschließt. Je nach Fall wird die Veränderung sogar zugelassen, aber sie muss respektvoll erfolgen, mit Vertrauensschutz, mit Übergangsregeln und Billigkeitsklauseln, wenn sie nicht, wie OST das ausgedrückt hat, „trop brutal“ sein will381. Ein weiterer Punkt ist noch hervorzuheben: die Fähigkeit, das reduzierte und wenig variable Spektrum der abstrakt Rechtshandlungen oder Tatsachen zuschreibbaren Folgen und das reduzierte Zeitspektrum, innerhalb dessen die endgültige Folge angewandt wird, vorwegzunehmen und zu ermessen, kann vorliegen, und trotzdem ist es möglich, dass Berechenbarkeit nicht vorliegt, weil der Bürger, obwohl er wissen kann, dass es zwei mögliche Rechtsfolgen einer Handlung gibt (sagen wir X und Y), er ihre Bedeutung genau kennen kann (X = A und Y = B) und in der Lage ist, das Zeitspektrum anzugeben, in dem die anwendbare Folge festgelegt wird (zwischen Z1 und Z2), er vielleicht nicht wissen kann, ob irgendeine dieser Folgen (X oder Y) tatsächlich von den staatlichen Organen angewandt wird. Aus diesem Grund muss die Rechtswirksamkeit oder Rechtseffektivität Teil des Begriffs von Rechtssicherheit selbst sein382. Deswegen muss Berechenbarkeit begrifflich bestimmt werden als Fähigkeit, das reduzierte und wenig variable Spektrum der abstrakt Rechtshandlungen oder Tatsachen zuschreibbaren Folgen 381

François Ost, Le temps du Droit, S. 291. Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 237; Erhard Denninger, Rechtsstaat oder Rule of Law – was is das heute?, in: Prittwitz, Cornelius u. a. (Hrsg.), FS für Klaus Lüderssen, S. 49; Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts – Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 271. 382

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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und das reduzierte Zeitspektrum, in dem die endgültige Folge tatsächlich angewendet wird, vorwegzunehmen und zu ermessen. Diese Rechtswirksamkeit hängt vom Zugang zur rechtsprechenden Gewalt und von der Existenz gewährleistender Prozessinstrumente ab. All diese Aspekte werden im zweiten Teil dieser Arbeit, dessen Thema der Inhalt und die Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips ist, vertieft werden. Trotzdem ist es schon möglich, einen allgemeinen Rechtssicherheitsbegriff und einen allgemeinen Begriff von Rechtssicherheit im Steuerrecht zu skizzieren. Nach dem Bisherigen kann man die Rechtssicherheit als Normprinzip definieren, das von der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt die Wahl von Verhaltensweisen verlangt, die zugunsten der Bürger und aus ihrer Perspektive einen größeren Beitrag zur Existenz„ eines Zustands der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts, auf der Grundlage seiner Erkennbarkeit, leisten, vermittels der juristisch-rationalen Kontrollierbarkeit der Argumentationstrukturen allgemeine und individuelle Normen rekonstruieren, als gewährleistende Instrument zur Achtung der Fähigkeit ihre Gegenwart ohne Irrtum, Enttäuschung, Überraschung und Willkür menschenwürdig und veratwortlich zu planen und eine juristisch informierte strategische Planung ihrer Zukunft auszuarbeiten. In dieser Definition bedeutet Erkennbarkeit einen Sachverhalt, bei dem die Bürger in hohem Maß die Fähigkeit des materialen und intellektuellen Verständnisses der Argumentationsstrukturen besitzen, die allgemeine und individuelle, materiale und prozedurale minimal effektive Normen rekonstruieren vermittels ihrer Zugänglichkeit, Reichweite, Klarheit, Bestimmbarkeit und Vollstreckbarkeit besitzen. Die Verlässlichkeit bezeichnet ihrerseits einen Sachverhalt, bei dem die Freiheitsgrundrechte betreffenden Dispositionsakte vermittels des Rechts geachtet werden dank der Stabilität, Dauerhaftigkeit und Nichtrückwirkung der Rechtsordnung. Und die Berechenbarkeit bezeichnet einen Sachverhalt, bei dem die Bürger weitgehend die Fähigkeit haben, das reduzierte und wenig variable Spektrum der Argumentationskriterien und -strukturen, welche die Rechtsfolgen bestimmen, die eigenen oder fremden Rechtshandlungen oder Tatsachen, die eingetreten sind oder eintreten können, kontrovers oder nicht kontrovers sind, heteronom und zwangsweise oder autonom und spontan eintreten können, ungefähr vorwegzunehmen und zu ermessen, sowie das zumutbare Zeitspektrum, in dem die endgültige Rechtsfolge eintreten wird, vermittels der Vorzeitigkeit und der Kontinuität der Änderungen und der bindenden Kraft ihrer allgemeinen und individuellen Normen. Hervorzuheben ist, dass die hier vorgeschlagene Definition von Rechtssicherheit nicht auf die intrinsische Qualität einer Norm verweist. Sie bezieht sich vielmehr auf einen idealen Zustand der durch eine Rechtsnorm bewirkten Verwirklichung, deren Existenz in höherem oder geringerem Maß von einem Komplex normativer, faktischer und rationaler Bedingungen abhängt. Es handelt sich sozusagen um eine

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

„Rechtssicherheit de facto“, die von „theoretischen normativen Bedingungen“ abhängt, die ihrerseits semantische und argumentative Aspekte enthalten. Wie schon in der Einleitung festgestellt worden ist, ist der oben vorgestellte Begriff ein nichtklassifikatorischer Rechtsbegriff, der vermittels eines analytischen Prozesses der Zweideutigkeitsreduktion konstruiert worden ist. Er ist nichtklassifikatorisch, da er, statt nur auf einem Dualismus des Sachverhalts „Sicherheit-Unsicherheit“ zu gründen und nur die Feststellung „alles oder nichts“ dieser Zustände zuzulassen wie bei den zweiwertigen Klassifikationsbegriffen, abstrakte Voraussetzungen hat, die sich auf schrittweise festzustellende faktische Bedingungen beziehen. Er ist ein Rechtsbegriff nicht nur, weil er auf die Verfassung gegründet ist und normative Vorschriften impliziert, sondern auch, weil er keine Elemente angibt, deren Feststellung von der tatsächlich und faktisch beobachtbaren Festlegung von Sachverhalten abhängt, wie im Fall der Realbegriffe und der empiristischen Begriffe, sondern Eigenschaften konnotiert, deren Kontrollierbarkeit von der Einhaltung bestimmter theoretischer Bedingungen abhängt, die das Potenzial für die Förderung eines bestimmten Zustands angeben können. Seine Konstruktion erfolgt in einem analytischen Prozess der Reduktion von Zweideutigkeiten: an Stelle der Beschreibung seiner historischen und wissenschaftlichen Entwicklung wählt die vorliegende Arbeit einen Zugriff, der auf der Demontage der verschiedenen Aspekte beruht, die man im Hinblick auf Rechtssicherheit unterscheiden kann. Die unterschiedlichen Bedeutungen und Dimensionen dieser Aspekte werden dabei geklärt. Angesichts der verschiedenen Dimensionen der Rechtssicherheit sind folgende Fragen unabweisbar: welche dieser Dimensionen bezeichnet den „wahren“ Kern der Rechtssicherheit? Wenn es keine gibt, ist zu fragen: welche dieser Dimensionen ist die wichtigste? Hier wird der Standpunkt vertreten, dass der Rechtssicherheit nicht nur eine einzige Dimension und nicht einmal eine wichtigste Dimension zugeordnet werden kann. Um sie zu verstehen, müssen notwendig alle genannten Dimensionen erfasst werden. In anderen Worten: Rechtssicherheit ist Sicherheit des Rechts und durch das Recht und Sicherheit der Rechte vor dem Recht. Ohne die Bündelung dieser unterschiedlichen Dimensionen der Rechtssicherheit erreicht man nicht den Minimalzustand der Verlässlichkeit und der Berechenbarkeit der Rechtsordnung, dessen Grundlage ihre Erkennbarkeit ist, da der von einer Dimension errungene Sicherheitszustand beim Ausbleiben irgendeiner der anderen Dimensionen untergraben wird. Nochmals in anderen Worten: behauptet wird, dass es einen Voraussetzungzusammenhang oder eine Wechselseitigkeitsbindung zwischen den verschiedenen Dimensionen der Rechtssicherheit gibt, nämlich in dem Sinn, das eine ohne die andere nicht funktioniert. Kann denn das Recht Sicherheit gewährleisten ohne selbst sicher zu sein, d. h. kann das Recht Erwartungen erfüllen, ohne minimal erkennbar, verlässlich und berechenbar zu sein? Kann es sicher

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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sein, ohne es zu sein, um andere Werte zu gewährleisten, d. h. kann das Recht erkennbar, verlässlich und berechenbar sein, ohne dass diese Elemente im Dienst anderer Werte stehen? Kann das Recht Sicherheit gewährleisten, ohne Sicherheit vor sich selbst zuzulassen, d. h. kann es Berechenbarkeit und Verlässlichkeit gewährleisten, ohne bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen, damit der Einzelne sich vor ihm schützen kann? Und so weiter. Die Antwort auf diese Fragen ist eine der Aufgaben, die sich diese Arbeit gestellt hat. Diese globale Art des Verständnisses der Rechtssicherheit erklärt, warum ihre partielle Prüfung mit dem Eindruck der Nutzlosigkeit dieser Prüfung verbunden ist: wenn die Prüfung der Rechtssicherheit auf eine der nicht immer angemessen beschriebenen Dimensionen der Rechtssicherheit beschränkt wird, liegen nicht einmal minimale Bedingungen für die Wirksamkeit der Rechtssicherheit vor. Dies erklärt beispielsweise, warum das Verständnis der Rechtssicherheit, fixiert auf das Binom „Bestimmung-Vorhersehbarkeit“ im Lauf der Zeit an Bedeutung verloren hat, bis es als steril gekennzeichnet wurde: indem man die Rechtssicherheit ausschließlich in einer für absolut gehaltenen Dimension suchte, ohne die anderen Dimensionen zu berücksichtigen, erwartete man von einer Dimension, was sie alleine nicht leisten konnte. Daher der Versuch, eine auf anderen Fundamenten aufbauende globale Sicht von Rechtssicherheit vorzustellen. Das Ergebnis all dessen ist ein komplexerer und umfassenderer Begriff von Rechtssicherheit, der sich nicht auf eines ihrer Elemente beschränkt, auf eine ihrer Dimensionen oder auf einen ihrer Aspekte, sondern sie als Norm vorstellt, die sich aus einer Vielfalt von gemeinsam und gleichgewichtig zu berücksichtigenden Idealen, Dimensionen und Aspekten zusammensetzt. Vorgeschlagen wird somit ein Rechtssicherheitsbegriff, der nicht ausschließlich auf die Idee der Gewissheit fixiert ist, sondern auf die Vorstellung eines Gleichgewichts, wie auch Palombella verfährt, obgleich in bloß apologetischer Haltung383. Die Forderung nach Gleichgewicht ist ein Ergebnis der facettenreichen Natur des Rechtssicherheitsprinzips, die seine Analyse in verschiedenen Perspektiven erlaubt, je nach dem gerade untersuchten Aspekt. Aus diesem Grund wird das Rechtssicherheitsprinzip mit Janus verglichen, dem doppel-, wenn nicht gar vierköpfigen römischen Gott384. Wer eine integrale Analyse der Rechtssicherheit fordert, vertritt also die Unverzichtbarkeit der Prüfung aller Aspekte und Perspektiven. So sind also zeitlich die drei Perspektiven – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: nicht nur Gegenwart ohne Vergangenheit und Zukunft, nicht nur Vergangenheit ohne Gegenwart und Zukunft und nicht nur Zukunft ohne Vergangenheit und Gegenwart  – zusammen und ausbalanciert zu berücksichtigen. Wie Machado Derzi in präziser Argumentation in der Nachfolge Heideggers ausführt, muss die Analyse der Zeit 383

Gianluigi Palombella, Dopo la Certezza – Il Diritto in Equilibrio tra Giustizia e Democrazia, S. 9. 384 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 671; Jutta Limbach, Ist die kollektive Sicherheit der Feind der individuellen Freiheit?, S. 77.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

vierdimensional sein, also die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft und die Einheit dieser drei Dimensionen berücksichtigen385. Mehr noch als von diesen Dimensionen könnte man vom Augenblick, der Dauer, der Ewigkeit oder selbst den Beziehungen der Gleichzeitigkeit („gleichzeitig“) oder der Folge („eine nach der anderen“) sprechen386. Falls diese bildhafte Ausdrucksweise erlaubt ist, kann die Unverzichtbarkeit einer Analyse der drei Dimensionen in einheitlicher Perspektive – also die vierdimensionale Analyse – mit einer Darstellung in Farben verglichen werden: man darf das Farbphänomen nicht ohne die Berücksichtigung jeder einzelnen Farbe analysieren, da dies nur eine Farbe ergeben würde, schwarz, also die völlige Farblosigkeit; man darf aber auch nicht nur die Primärfarben blau, rot und gelb getrennt analysieren; idealiter sollte man die Gesamtheit aller Farben, vertreten durch die Farbe weiß, analysieren. Angewandt auf die drei Zeitperspektiven, muss diese gleichzeitige Analyse im Hinblick auf jede Perspektive eines jeden Aspekts der Rechtssicherheit durchgeführt werden: im Hinblick auf den materialen, objektiven, subjektiven, quantitativen und instrumentellen Aspekt. Hervorzuheben ist noch, dass der hier vorgeschlagene Begriff eine Verschiebung der verschiedenen Aspekte der Diskussion über die Rechtssicherheit mit sich bringt. Statt einen ausschließlich an die Gewissheit vermittels der Erkenntnis der vorgängigen und abstrakten Bestimmung der Tatbestände gekoppelten und durch eine Beschreibung der Sprache feststellbaren Rechtssicherheitsbegriff vorzuschlagen – für den das Recht eine bloße Schöpfung einer Staatsgewalt ist und als etwas vollständig Vorgegebenes seiner eigenen Anwendungstätigkeit vorausgeht –, wird ein Rechtssicherheitsbegriff vorgeschlagen, der sich auf die argumentative Kon­ trolle konzentriert und vermittels des Sprachgebrauchs, also der Kenntnis von Kriterien und hermeneutischen Strukturen, nachprüfbar ist und für den das Recht das Produkt der Erfahrung ist und sich aus der Bündelung der objektiven und subjektiven Aspekte ergibt, die seiner Anwendung innewohnen. Die Rechtssicherheit ist somit in ihrem Kern nicht mehr ein auf der vorgängigen Bestimmungen von Tatbeständen beruhender Sprachfaktor und konzentriert sich auf eine Gesamtheit von Prozessen der Bestimmung, Legitimation, Argumentation und Begründung von Prämissen, Methoden und Ergebnissen, die mit der Bestimmung der allgemeinen und individuellen Normen befasst sind. An Stelle eines fertigen Konstrukts („Recht als Sicherheit“) bezeichnet die Rechtssicherheit ein Construendum („Recht auf Sicherheit“); an Stelle der „semantischen Gewissheit“, die „argumentative Kontrollierbarkeit“; an Stelle der „beschreibenden Tätigkeit“ eine „Menge rekonstruktiver und entscheidender Tätigkeiten“. Damit soll der Versuch unternommen werden, das Verständnis der im Begründungsparadigma fundierten Rechtssicherheit als Inhaltsgarantie in Richtung einer Rechtssicherheit als Achtungsgarantie zu überwinden. Das Fundament dieser Achtungsgarantie ist die semantisch-argumentative 385

Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 197. 386 François Ost, Conclusions générales: le temps, la justice et le droit, in: Gaboriau, Simone /  Pauliat, Hélène (Hrsg.), Le Temps, la Justice et le Droit, S. 359.

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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Kontrollierbarkeit. Ihre Verwirklichung hängt von Elementen, Dimensionen und Aspekten ab, die im Verbund, synthetisch und gleichgewichtig zu bewerten sind. Schließlich ist auf einem Punkt zu bestehen. Die Verlagerung des Kerns der Rechtssicherheit von der semantischen zur argumentativen Frage bedeutet nicht die Annahme staatlicher Willkür. Auf ersten Blick könnte man denken, dass die Forderung nach Gewissheit mit der argumentativen Natur des Rechts unvereinbar wäre. MacCormick formuliert das Problem zutreffend: „Viele Menschen, zu denen ich sicherlich gehöre, finden sowohl die obengenannte These als auch die obengenannte Antithese attraktiv. Ich glaube an die argumentative Natur des Rechts und finde das wunderbar in einer offenen Gesellschaft. Wir sollten jede Seite eines jeden wichtigen Problems besehen und nicht einem Vorurteil oder einer scheinbaren Gewissheit auf den Leim gehen. Wir müssen jedes Argument hören und die argumentative Qualität, die dem Recht einverleibt zu werden scheint, nicht beklagen, sondern preisen. Ich glaube aber auch an den Rechtsstaat und meine, dass unser Leben in Gemeinschaft anderer Menschen durch ihn enorm bereichert wird. Ohne ihn besteht keine Aussicht auf Verwirklichung der Würde von Menschen als unabhängigen, wenn auch wechselseitig abhängigen Wesen, die an öffentlichen und privaten Tätigkeiten in einer Gesellschaft beteiligt sind. Würde dieser Art und Unabhängigkeit inmitten der wechselseitigen Abhängigkeit sind meines Erachtens grundlegende moralische und menschliche Werte. Wie kann man an beides glauben? Kann das etwas anderes sein als Wunschdenken? Dies sind einige Fragen, die sich uns stellen. Können wir den Gemeinplatz der ‚argumentativen Natur des Rechts‘ mit der Ideologie des ‚Rechtsstaats‘ versöhnen?“387

Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man feststellt, dass die argumentative Natur des Rechts Gegenstand der Kontrolle durch die schon genannten Prozesse der Bestimmung, Legitimierung, Argumentation und Begründung ist. Und die argumentative Natur, die diese Prozesse durchwirkt, hängt sowohl von Bedingungen der Rationalität als auch von Bedingungen der Kohärenz ab. Rationalität wird durch rationale Argumentationsregeln gewährleistet, zu denen die Notwendigkeit der Rechtfertigung und Verallgemeinerung gehört. So kann keine Behauptung ohne die Hinzufügung eines Arguments aufgestellt werden388. Diese Rechtfertigung hängt ihrerseits von ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit ab: immer wenn eine bestimmte Tatsache eintritt, muss eine bestimmte Folge zur Anwendung kommen, das gilt für alle Fälle mit gleichen Merkmalen. Kohärenz wird durch die Rückführung der Entscheidung auf eine innerlich formal und material konsistente Menge von Prinzipien und Regeln gewährleistet, vor allem dank der materialen Stützung durch Grundprinzipien389. Dies verhindert sowohl, dass man von Null ausgeht, um jeden neuen Fall zu entscheiden, als auch, dass man eine willkürliche 387 Neil MacCormick, Rhetoric and Rule of Law, in: Dyzenhaus, David (Hrsg.), Recrafting the Rule of Law – The Limits of Legal Order, S. 165 f. 388 Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 261 ff.; Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, S. 272 ff. 389 Neil MacCormick, Rhetoric and Rule of Law, in: Dyzenhaus, David (Hrsg.), Recrafting the Rule of Law – The Limits of Legal Order, S. 166 sowie 169.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Entscheidung ad hoc fällt. Falls nun diesen Regeln argumentativer Rationalität und substantieller Kohärenz Regeln der Bestimmung, Legitimierung, Argumentation und Begründung hinzugefügt werden, wird der Kontrollstandard recht hoch sein. Mit diesen Vorkehrungen lässt sich die argumentative Natur des Rechts mit den sich aus dem Rechtssicherheitsprinzip ergebenden Forderungen der Erkennbarkeit und Berechenbarkeit vereinbaren. Unzulässig ist es – und damit kommen wir zum entscheidenden Punkt der Diskussion  –, im Namen der Rechtssicherheit die Tatsache zu verkennen, dass die Pflicht zur Bestimmung der gesetzlich vorgesehenen Tatbestände, selbst wenn es schon Begriffe gibt, die Gegenstand vorheriger Konnotierungsprozesse sind, nicht imstande ist, die verschiedenen ihrer Anwendung immanenten Probleme vollständig zu neutralisieren, wie Maccormick überzeugend nachgewiesen hat390: Erstens die Beweisprobleme: die Entstehung der Steuerpflicht erfordert das Vorliegen des Steuertatbestands, der jedoch nur „als vorgefallen gelten“ kann, wenn sein Eintritt nachgewiesen ist, wie übrigens auch Art. 142 der ationalen Abgabenordnung vorschreibt391. Damit also die Pflicht der Dienstleistungssteuer entsteht, muss erst einmal die Dienstleistung nachgewiesen werden. Zweitens die Kennzeichnungsprobleme: was als vorgefallen gilt muss aus der Sicht des Rechts „gekennzeichnet“ oder „klassifiziert“ sein. Um bei demselben Beispiel zu bleiben, muss man ermitteln, ob die als vorgefallen geltende menschliche Tätigkeit als Dienstleistung im Sinne der Dienstleistungssteuer angesehen oder nicht angesehen werden kann. Drittens die Interpretationsprobleme: die Kennzeichnung der eingetretenen und nachgewiesenen Tatbestände hängt von einer vorherigen Begriffsbestimmung ab, ohne welche die Tatbestände juristisch nicht definierbar sind. Um eine Tätigkeit als Dienstleistung kennzeichnen zu können, ist es notwendig, einerseits vom normativen Standpunkt aus zu definieren, was „Dienstleistung“ bedeutet, und andererseits vom faktischen Standpunkt aus zu definieren, „was vorgefallen ist“. Um zu wissen, ob ein Leasing-Geschäft die Pflicht zur Zahlung der Dienstleistungssteuer erzeugt, muss sowohl die Bedeutung von Leasing als auch die Bedeutung von Dienstleistung definiert werden. Viertens die Relevanzprobleme: unter den zahllosen Elementen der faktischen Situation ist es notwendig, einigen auf Kosten anderer Bedeutung zuzuschreiben, 390 Neil MacCormick, Rhetoric and Rule of Law, in: Dyzenhaus, David (Hrsg.), Recrafting the Rule of Law – The Limits of Legal Order, S. 175. 391 Dieser Artikel ordnet an: „Der Verwaltungsbehörde obliegt ausschließlich die Festlegung der Steuerschuld durch Veranlagung, worunter das Verwaltungsverfahren zu verstehen ist, dessen Zweck die Feststellung des Steuertatbestands der entsprechenden Verpflichtung, die Bestimmung der besteuerbaren Materie, die Berechnung des geschuldeten Steuerbetrags, die Identifikation des passiven Subjekts und, falls notwendig, die Beantragung der angemessenen Strafsanktion ist.“

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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um das Vorgefallene juristisch zu beschreiben. Um zu wissen, ob ein LeasingGeschäft eine Dienstleistung ist, muss man einigen Elementen wie der Bildung eines finanziellen Fonds, der Kreditanalyse, der Ausarbeitung des Vertrags und seiner Unterschrift, der Aushändigung des Fahrzeugs, der Nutzung desselben, der monatlichen Zahlung für die Nutzung des Fahrzeugs, der Kaufoption u. a. mehr oder weniger Bedeutung zuschreiben. Die jedem dieser Elemente zugeschriebene Relevanz wird nicht nur das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer „Dienstleistung“ angeben, sondern auch den Ort ihrer Leistung bestimmen. Nun zeigen alle diese Probleme, dass – obwohl der Tatbestand Ausdrücke enthält, deren Bedeutung hochgradig bestimmt ist (es besteht Klarheit in den zahlreicheren einfachen Fällen) – diese Bestimmtheit trotzdem keine absolute Vorhersehbarkeit der Wirkungen garantiert, die den vom Steuerzahler begangenen Handlungen in Zukunft zugeschrieben werden, denn das Getane muss in einem ordnungsgemäßen Verfahren bewiesen, gekennzeichnet, ausgelegt und deutlich gemacht werden. Außerdem hängt die Auslegung von Anpassungen an vorherige Auslegungen ab und erfordert oftmals die Herstellung einer Verbindung zwischen mehreren Fragmenten von Bestimmungen392. Das bedeutet u. a., dass die Unmöglichkeit einer absoluten Vorhersehbarkeit nicht nur, wie normalerweise behauptet wird, aus der sprachimmanenten Zweideutigkeit und Vagheit ergibt. Sie ergibt sich insbesondere aus den der Rechtsauslegung selbst immanenten Problemen der Beweisführung, der Kennzeichnung, der Auslegung und der Relevanz. Die anfäng­lichen syllogistischen Alternativen (X = A, B oder C) liefern nur eine „vermeintliche Gewissheit“, die MacCormick zufolge in einem langen Argumentations- und Beweisprozess durch eine Entscheidung zu bestätigen ist393. Diese Entscheidung – das ist der springende Punkt – hält sich im Rahmen der wenigen und geringfügig voneinander abweichenden anfänglichen Alternativen, muss aber darüberhinaus Gegenstand einer sorgfältigen rationalen und argumentativen Kontrolle und außerdem Gegenstand einer späteren Begründung sein. Eben deswegen behauptet Günther: „Die Erwartungssicherheit der Teilnehmer an institutionalisierten Anwendungsdiskursen müßte sich von der Rechtssicherheit, die durch stabilisierte Bedeutungen und Paradigmen verbürgt wird, auf die Verfahrensgewißheit verlagern, die durch ein dichtes Netz von Verfahrensrechten gewährleistet wird“394.

Diese Betrachtungen beweisen, dass die Willkür nicht durch die bloße Forderung nach Tatbestandsbestimmtheit behoben wird. Wenn die Anwendung dieses Tatbestands nicht argumentativ hinterfragbar ist, wird es Willkür geben, so paradox dies anmuten mag. Es ist illusorisch, sich vorzustellen, dass es immer dann 392

Andrei Marmor, Interpretation and Legal Theory, S. 126. Neil MacCormick, Rhetoric and Rule of Law, in: Dyzenhaus, David (Hrsg.), Recrafting the Rule of Law – The Limits of Legal Order, S. 175. 394 Klaus Günther, Universalistische Normbegründung und Normanwendung in Recht und Moral, in: ARSP 45 (1992), S. 75; zu diesem Thema auch Tobias Lieber, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, S. 318. 393

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

keine Willkür gibt, wenn bei Vorliegen des Tatbestands die Rechtsfolge durchgesetzt wird, wenn das Problem der Definition der „Tatsache“ und des Nachweises ihres Eintritts und das Problem der Definition der „Folge“ und der Abgrenzung ihrer Reichweite nicht argumentativ hinterfragbar sind. Diese Feststellung führt jedoch zum Schluss, dass die argumentative Natur des Rechts der Rechtssicherheit nicht entgegensteht, sondern ihre Voraussetzung ist: ohne die Fähigkeit, vermittels einer rationalen (allgemeinen und kohärenten) Argumentation den Eintritt des Steuertatbestands und die normative Folge zu hinterfragen, wird die Willkür zugelassen, weil es eben unmöglich ist, das dem Recht ontologisch Immanente anzufechten – nämlich Probleme der Beweisführung, der Kennzeichnung, der Auslegung und der Relevanz. So ist, um es nochmals zu sagen, die argumentative Natur des Rechts nicht ein Hindernis, sondern eine Voraussetzung der Rechtssicherheit. MacCormick definiert diesen Punkt mit Präzision, wenn er sich am Beispiel einer Anklage auf die den Problemen der Beweisführung, Kennzeichnung, Auslegung und Relevanz immanenten argumentativen Herausforderungen bezieht: „Es gibt keine Sicherheit gegen eine willkürliche Regierung, es sei denn, dass diese Herausforderungen frei zugelassen und einer Beurteilung durch staatliche Behörden unterworfen werden, die von den anklagenden Behörden getrennt und abstehend sind“395. Man sehe, dass die Willkür nicht aus der argumentativen Natur des Rechts hervorgeht: sie entsteht dann, wenn diese Natur negiert wird, als ob sie nicht wäre. D. h., wie widersprüchlich dies auch immer scheinen mag: es gäbe Willkür, wenn die Steuerpflichten sich aus dem Eintritt des Steuertatbestands ergäben, ohne dass die Steuerzahler den „Eintritt“ desselben Steuertatbestands selbst in einem ordnungsgemäßen Verfahren argumentativ anfechten könnten. Aus diesem Grund auch sagt Torres, dass der Glaube, Rechtssicherheit vermittels der Tatbestands­ bestimmung zu erreichen, naiv sei396. Man muss an der Tatsache festhalten, dass die Begriffsbestimmung wichtig bleibt, weil es Argumentationsprozesse gibt, die der Auslegung und Anwendung gewisser Bestimmungen vorangehen und aufgrund ihrer Verwendung vom Gesetzgeber schon begrifflich bestimmt sind. Wenn man jedoch die Rechtssicherheit weiterhin – und ausschließlich, wie hervorzuheben ist – an die Forderung der Begriffsbestimmung bindet, trotz der argumentativen Natur des Rechts und als ob sie eine Pathologie wäre, stellt man sie auf klare und bestimmte – allerdings tönerne – Füße. Das kommt, um es in einem anderen Bild zu sagen, dem Versuch gleich, ein Flugzeug durch einen Plastikballon zum Absturz zu bringen. Zu erwähnen ist noch, dass die Idee, dass es bei Vorliegen von Unbestimmtheit (in jedem Maß) Willkür geben wird, von der Prämisse ausgeht, dass die Unbestimmtheit nicht nur der Rechtssicherheit entgegensteht, sondern auch notwendig Willkür beinhaltet, da sie Subjektivität, Inkonsistenz und Ungewissheit zulässt. Diese Prämisse ist jedoch zu revidieren. Falls Sprache in einem gewissen Maß 395

Neil MacCormick, Rhetoric and Rule of Law, in: Dyzenhaus, David (Hrsg.), Recrafting the Rule of Law – The Limits of Legal Order, S. 176. 396 Ricardo Lobo Torres, Legalidade tributária e riscos sociais, in: RDDT 59 (2000), S. 101 sowie 103; S. zum Thema Ricardo Lodi Ribeiro, A segurança jurídica do contribuinte, S. 31 ff.

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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immer vage ist, ist das durch sie vermittelte Recht gleichfalls notwendigerweise vage. Nun ist – und damit kommen wir zum Kernpunkt – Präzision nicht notwendig gut, noch macht die präzise Formulierung das Recht immer auch präzise: sie kann negative Wirkungen zeitigen, wenn man beispielsweise, statt eine „zumutbare Frist“ für die Einreichung von Informationen oder den Abschluss eines Verfahrens anzuordnen, eine bestimmte Frist nennt, deren Anwendung sich dann als unzumutbar erweisen kann, wenn die Informationsmenge oder die Situation nicht normal sind, so dass die Zunahme der Präzision paradoxerweise die Willkür im Sinn der Irrationalität steigern kann. Auch die präzise Formulierung einer Regel führt nicht zur Rechtsgewissheit, wenn ihre Anwendung auf flexible Weise erfolgt, so dass die Zunahme der Präzision nicht notwendig die Anhebung der Behandlungsgleichheit zur Folge hat397. Wenn das Recht also notwendig vage ist, ist das Ideal der Gewissheit als Abwesenheit von Vagheit unerreichbar. Diese Schlussfolgerung wird aber vermieden, wenn das Rechtssicherheitsprinzip an Stelle einer vollständigen Bindung, Konsistenz und Vorhersehbarkeit, an denen man sein Verhalten in allen Situationen orientieren kann, einfach die rationale und zumutbare Anwendung des Rechts postuliert398. Das-um es nochmals zu wiederholen – entbinden aber nicht von einem hohen Grad der Bestimmtheit der Tatbestände, vornehmlich der auf die Hauptsteuerverpflichtungen bezogenen, wenn es Termini gibt, deren Bedeutung schon durch vorherige Prozesse der Begriffsbestimmung festgelegt worden ist. Damit soll nur gesagt werden, dass man die Verwirklichung des Rechtssicherheitsprinzips nicht ausschließlich durch das Ideal der absoluten Bestimmtheit vertreten kann, weil dieses nicht nur unerreichbar wäre, sondern zudem nicht die Willkür in der Produktion und Anwendung des Rechts eliminieren würde. Das Verständnis der Rechtssicherheit als Garantie der Achtung, gegründet auf das Paradigma der semantisch-argumentativen Kontrollierbarkeit und in seiner Verwirklichung abhängig von Elementen, Dimensionen und Aspekten, die gemeinsam zu bewerten sind, setzt also die Beachtung folgender Faktoren voraus: – Prüfung, ob die Verfassung unterverfassungsrechtliche vorkonstitutionelle Begriffe in den Normen, die sie statuiert, aufgenommen oder vorausgesetzt hat, weil sie frühere Prozesse der Begriffsbestimmung vorgefunden hat: in diesem Fall darf die gesetzgeberische und verwaltungsbehördliche Tätigkeit sich von ihnen nicht entfernen; die zur Begründung der externen Rechtfertigung juristischen Denkens bestimmte begriffliche Rekonstruktion muss unter den sprachlichen, systematischen, genetischen, historischen und pragmatischen Argumenten diejenigen stärker gewichten, die stärker durch Prinzipien des Rechtsstaats und der Rechtssicherheit geschützt werden, was zum Primat der sprachlichen und 397

Timothy A. Endicott, Law is necessarily vague, in: Legal Theory 7 (2001), S. 379 f. Timothy A. Endicott, The Impossibility of the Rule of Law, in: Oxford Journal of Legal Studies 19 (1999), S. 04 sowie 19; Timothy A. Endicott, Vagueness in Law, S. 183 ff. 398

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

systematischen Argumente führt, immer mit abschließender Untersuchung auf die substantielle Kohärenz der Argumente; – Feststellung im Hinblick auf die konkret zu normierende Situationob Termin: zur Verfügung stehen, die schon semantisch konnotiert sind und deren Verwendung für ihre Regulierung adäquat ist, und ob ihre Verwendung notwendig und verhältnismäßig ist (wobei der Gebrauch von Rechtsbegriffen, deren Bedeutung unbestimmter ist, nur zugelassen ist, wenn in einer ersten Phase keine verfassungsmäßige Begriffsbestimmung vorliegt und in einer zweiten Phase die gesetzliche Verwendung von Termini anzutreffen ist, die schon vorherige argumentative Bestimmungsprozesse durchlaufen haben); in diesem Fall muss aber die Kontrolle der Zumutbarkeit der verwaltungsbehördlichen Konkretisierung strenger ausfallen; – Nachweis, dass bei der normativen Konkretisierung durch irgendeine Staats­ gewalt die Gegenargumente des Steuerzahlers berücksichtigt und bewertet worden sind und die Probleme der Beweisführung, Kennzeichnung, Auslegung und Relevanz gebührend behandelt werden konnten. Dies setzt sowohl eine echte rationale Rechtfertigung voraus (verstanden als diejenige, welche die Verallgemeinerung und Kohärenz in der Argumentation bewahrt und die zu bewertenden Elemente und die intersubjektiv kontrollierbaren Kriterien angeben kann, die zu ihrer Anwendung unverzichtbar sind), als auch das ordnungsgemäße Verfahren, in dem die Transparenz gewährleistet wird, die dann vorliegt, wenn Unparteilichkeit, Öffentlichkeit, Recht auf umfassende Verteidigung, Recht auf rechtliches Gehörund Begründung gewährleistet sind; – Vergewisserung, dass alle vorherigen Prozesse in einer klaren und logisch schlüssigen Weise gerechtfertigt worden sind, mit einem hohen, von den Adressaten geprüften Informationsgrad. Kurz, das Prinzip der Rechtssicherheit impliziert Prozesse der Bestimmung, Legitimierung, Argumentation und Begründung, welche die semantisch-argumentative Kontrollierbarkeit staatlichen Handelns einerseits und den Respekt vor dem Handeln des Steuerzahlers andererseits ermöglichen, sowie, spiegelbildlich, die auf dieses Handeln bezogene Reflexion. In der Tat macht diese Forderung argumentativer Transparenz die Rechtsanwendung sichtbar. Wie Ferraz Júnior im Hinblick auf das Entscheidungsverfahren hervorhebt, erfordert das Rechtssicherheitsprinzip einen „voraussehbaren Ablauf dieses Entscheidungsverfahrens“399. Hier ist an das anschauliche Dictum von Smith zu erinnern: „Gerechtigkeit sollte nicht nur geübt werden. Sie sollte auch gesehen werden, um geübt werden zu können“400. Im Anschluss an diese Behauptung könnten wir sagen, dass das Rechtssicherheitsprinzip in diesem Verständnis des Respekts nicht nur vor dem Handeln, sondern auch vor 399

Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Segurança jurídica, coisa julgada e justiça, in: Revista do Instituto de Hermenêutica Jurídica 3 (2005), S. 271. 400 Eivind Smith, Constitution et sécurité juridique – Norvège, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 234.

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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der diesbezüglichen Argumentation nicht nur Rücksicht erfordert, sondern auch Transparenz der Hochachtung für den Steuerzahler. Bei einer Betrachtung des Problems von dieser Seite aus könnten wir von diskursiver Objektivität in der Behandlung der Prinzipien sprechen, um im intersubjektiven Diskurs die Verständlichkeit der Unstimmigkeiten sicherzustellen401.

2. Begriff der Steuerrechtssicherheit Der Rechtssicherheitsbegriff schlägt gleichfalls auf das Steuerrecht durch402. Es gibt keine zwei Rechtssicherheitsprinzipien, ein allgemeines und ein spezifisch steuerrechtliches, sondern nur die sektorspezifische Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips. Trotzdem sind einige Nuancen zu benennen. Sie ergeben sich entweder aus der Art und Weise, in welcher die Rechtssicherheit in der CF/88 positiviert worden ist, oder aus der Natur der Steuerpflichtbeziehung selbst und verleihen dem Prinzip der Steuerrechtssicherheit eine besondere Eingenart. Erstens-wie schon im auf die Begründung der Rechtssicherheit bezogenen Teil hervorgehoben worden ist – gewinnen die Zustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit im Subsystem Steuerrecht nicht nur ein besonderes Profil, sondern auch eine stärker schützende Bedeutung, weil es im nationalen Abgabensystem spezifische und emphatisch formulierte Normen gibt, die ein Instrument zur Sicherstellung der Verständlichkeit des Rechts durch Bestimmbarkeit der Steuertatbestände (Regel der Gesetzmäßigkeit und System der Kompetenzregeln) sind, sodann ein Instrument zur Sicherstellung der Verlässlichkeit des Rechts (Regel des Ergänzungsgesetzsvorbehalts für die Regelung von Verjährung und Verwirkung) durch Geltung (Rückwirkungsverbotsregel) und Verfahren (ausdrückliche Regeln der Öffnung des Abgabensystems zu in ihm nicht vorgesehenen Rechten und Garantien, wie im Fall der Maßnahmen zum Schutz wohlerworbener Rechte, der Rechtskraft und der vollendeten Rechtshandlung), und schließlich ein Instrument der Sicherstellung der Berechenbarkeit des Rechts durch die Vermeidung von Überraschungen (Vorzeitigkeitsregel). Diese spezifischen Normen statten die Ideale gewissermaßen mit einer Widerstands- oder Schutzeigenschaft aus, deren Verwirklichung vom Rechtssicherheitsprinzip festgelegt wird. Sie schreiben ihm also eine Art qualifizierten Inhalt zu403. Mehr noch: wie Carrazza präzis formuliert hat, grenzen sie den möglichen Inhalt der Gesetze ein404. Um eine schon aufgestellte Behauptung zu wiederholen: das Steuerrecht ist imAallgemeinen ein Recht der Rechtssicherheit. Es existiert vor allem, wie Machado zutreffend unterstreicht, 401

Andrei Marmor, An Essay on the Objetivity of Law, in: Bix, Brian (Hrsg.), Analysing Law: New Essays in Legal Theory, S. 31. 402 César García Novoa, El princípio da seguridad jurídica en materia tributaria, S. 91 sowie 104. 403 Leandro Paulsen, Segurança jurídica, certeza do Direito e tributação, S. 74. 404 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 433.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

„um die staatliche Macht zu beschränken“405. Die Feststellung, dass das Prinzip der Steuerrechtssicherheit die Interessen der Steuerzahler schützt, impliziert nicht die Abwendung von seiner Behandlung in ihrem reflexiven und konkreten Aspekt. Man darf nicht das „die Bürger schützende objektive Prinzip“ mit dem „konkreten Schutz eines Bürgers aufgrund eines objektiven Prinzips“ verwechseln. Eine Sache ist die subjektive Ausrichtung eines objektiven Prinzips, eine andere die subjektive Dimension als reflexive und konkrete Anwendung eines objektiven Prinzips. Wer im Hinblick auf diesen Aspekt dem Steuerrechtssicherheitsprinzip eine Schutzeigenschaft zuschreibt, will nur den Nachweis erbringen, dass die Idealzustände, deren Verwirklichung von ihm angeordnet wird, eine schützende Funktion ausüben, was, wie noch zu zeigen sein wird, ihre Wirksamkeit verändert. Zweitens erhalten die Zustände, deren Verwirklichung durch das Rechtssicherheitsprinzip angeordnet wird, infolge der genannten Schutzfunktion ein auf eventuelle Außenkonflikte bezogenes besonderes Gewicht. Falls also das Prinzip der Steuerrechtssicherheit mit einem anderen Prinzip in Konflikt gerät, wird, da das Prinzip der Steuerrechtssichterheit einen abstrakten Primat hat, der Vorrang des anderen Prinzips von einer differenzierten Argumentationslast abhängen, wie im der Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips gewidmeten Teil dieser Untersuchung zu zeigen sein wird. Drittens können die durch die Konkretisierung der Steuerpflicht eingeschränkten Rechtsgüter, die normalerweise mit Freiheit, Eigentum und Gleichheit zusammenhängen, eine stärker akzentuierte Schutzfuktion beanspruchen, je intensiver die Einschränkung der Grundrechte sein wird406. Asorey stellt fest: „wenn das Steuerrecht ein verfassungsrechtlich formuliertes Erhebungsrecht ist, ergibt sich daraus, dass das Rechtssicherheitsprinzip aufgrund seiner grundlegenden Bedeutung im Steuerwesen eine alles beherrschende Stellung einnimmt“407. Wie im Verlauf dieser Arbeit zu zeigen sein wird, ist das Rechtssicherheitsprinzip je nach dem Gegenstand, der Intensität und dem Zweck der Grundrechtseinschränkung noch stärker in seiner Schutzfunktion zu berücksichtigen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Besteuerung einen außerfiskalischen Zweck verfolgt: wenn der Steuerzahler aufgrund der vom Staat selbst vorgegebenen Orientierung einer Tätigkeit nachgegangen ist, ist sein ausgeübtes Vertrauen schutzwürdig, selbst wenn er mit dem zukünftigen Wandel rechnen müsste und es schon deshalb Gründe gibt, dass sein Vertrauen nicht legitim ist. Dieses Beispiel, dem noch andere hinzugefügt werden sollen, beweist nur, dass Steuernormen aufgrund der unterschiedlichen Zwecke, denen sie dienen können, und der unterschiedlichen Wirkungen, die sie hervorrufen können, eine andere Behandlung erfordern. 405

Hugo de Brito Machado, Curso de Direito Tributário, 30. Aufl., S. 6. Herbert Wiedemann, Rechtssicherheit – ein absoluter Wert? Gedanken zum Bestimmtheitserfordernis zivilrechtlicher Tatbestände, in: Paulus, Gotthard u. a. (Hrsg.), FS für Karl Larenz. München, S. 212. 407 Rubén Asorey, Seguridad juridica y Derecho Tributário, in: RDT 52 (1990), S. 36. 406

III. Begriffsbestimmung von Rechtssicherheit 

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Klarzustellen ist, dass die Stärke des Schutzes, der vom Rechtssicherheitsprinzip gefordert wird, von dem eingeschränkten Grundrecht und der Intensität dieser Einschränkung abhängt, da das Rechtssicherheitsprinzip auch in den Grundrechten begründet ist und die Einführung von Abgaben deren Einschränkung zur Folge hat. In einigen Situationen kann die Einkommensteuer für natürliche Personen das Grundrecht auf Bildung einer Familie einschränken, wenn es keine Sonderbehandlung von Steuerzahlern mit Kindern oder keinen Abzug von Erziehungsspesen gibt. In anderen Situationen kann die Einkommensteuer für juristische Personen das Grundrecht auf Eigentum einschränken, da sie nicht das Geschäftsergebnis sondern seine Grundlage betrifft oder frühere Investitionen ohne die Festlegung von Übergangsregeln ignoriert. In wiederum anderen Situationen kann die genannte Steuer das Grundrecht auf Freiheit der Berufsausübung einschränken, da sie einen bestimmten Beruf ohne Rechtfertigung benachteiligt, und so weiter408. Diese Betrachtungen beweisen nur, dass infolge der belastenden Natur des Steuerrechts die auf die Menschenwürde, Familie, Freiheit, das Eigentum und die Gleichheit bezogenen Grundrechte eingeschränkt werden und das Rechtssicherheitsprinzip damit einen Sonderschutz beansprucht, weil, wie zu bemerken ist, diese Grundrechte ohne Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Normen nicht minimal wirksam sein können. Das Prinzip der Steuerrechtssicherheit kann also als Normprinzip definiert werden, das von der gesetzgebenden, ausführenden und rechtsprechenden Gewalt die Wahl von Verhaltensweisen verlangt, die zugunsten der Steuerzahler und aus ihrer Perspektive mehr zur Realisierung eines hohen Zustands der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts beitragen, und zwar aufgrund seiner verstärkten Erkennbarkeit und vermittels der rechtlich-rationalen Kontrollierbarkeit der Argumentationsstrukturen, die allgemeine und individuelle Normen rekonstruieren, als gewährleistende Instrument zur Achtung der Leistungsfähigkeit ohne Irrtum, Enttäuschung, Überraschung oder Willkür ihre Gegenwart in Würde und Verantwortung zu gestalten und ihre Zukunft juristisch informiert strategisch zu planen. Diese Definition zeigt einerseits, wie wir noch einmal nachdrücklich feststellen, dass das Rechtssicherheitsprinzip in der formalen Struktur seiner Elemente und Dimensionen im Bereich des Steuerrechts kein abweichendes Profil hat; andererseits zeigt sie, dass das Rechtssicherheitsprinzip im Hinblick auf seine Fundamente und seine Wirksamkeit im Bereich der Steuerrechts durchaus ein anderes Profil hat, nämlich aufgrund der unterschiedlichen sektorspezifischen Normen und der besonderen Zwecke, die diese Normen erhalten können. Im Bereich des Steuerrechts wird nicht wie im Bereich des Privatrechts auf die Ausübung der Privatautonomie geachtet, vermittels derer die Subjekte für sich Beschränkungen schaffen und die Zustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit sich auf Selbstbeschränkungen des Vermögens und der Freiheit beziehen. Im Bereich des Steuerrechts ist die Privatperson stattdessen aufgrund unterschiedlicher 408

Paul Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, in: StuW 2000, S. 229–231.

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B. Bestimmung der Rechtssicherheit

Zwecke Fremdbeschränkungen ihrer Grundrechte unterworfen, was den Gegenstand der Erkenntnis, des Vertrauens und der Berechnung abwandelt. Wenn nun das Rechtssicherheitsprinzip, wie später noch genauer zu zeigen sein wird, einen Zustand der Achtung des Staates vor der privaten Freiheitsausübung verlangt, erhält es einen anderen Inhalt und eine andere Wirksamkeit, wenn die Ausübung der Freiheit sich gleichfalls bestimmten Unterschieden unterwirft, wie es im Fall des Steuerrechts geschieht. Da die Rechtssicherheit als auf das Paradigma der semantisch-argumentativen Kontrolle gegründete Gewährleistung der Achtung gekennzeichnet worden ist und ihre Verwirklichung von gemeinsam zu bewertenden Elementen, Dimensionen und Aspekten abhängt, sind als nächstes eben diese Elemente, Dimensionen und Aspekte in ihrer Anwendung auf das Steuerrecht zu prüfen. Das soll im Folgenden geschehen.

C. Gehalt der Rechtssicherheit „Wie kann Glauben bestehen an Jemand, der selbst nicht weiß, was er will, der beständig ändert, was er kaum selbst geschaffen hat, der kein Vertrauen in sich selbst hat, der nicht die entfernteste Sicherheit darbietet, daß irgend etwas Bestimmtes, ja irgend etwas überhaupt in einiger Zeit noch bestehe? Zu wem ich aber kein Vertrauen habe, an wen ich nicht glaube, auf den stelle ich auch nichts, an dem hänge ich nicht, für den setze ich nichts ein.“ (Robert von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht, Politik, Bd. 1) „Die Vorhersehbarkeit der Verhaltensweisen, sowie ihre Bewertung, ist der Beweggrund, weshalb das Gesetz nicht an besondere und gegenwärtige Dinge denkt, sondern an allgemeine und zukünftige, nach der genialen Intuition von Aristoteles. Damit ermöglicht das Gesetz die Kontinuität, welche die gegenwärtige Handlung mit der zukünftigen Handlung und die Menschen miteinander verbindet.“ (Piero Calamandrei, La certezza del diritto e le responsabilità della dottrina, in: Rivista di Diritto Commerciale 1 (1942), S. 341) „[…] wo dieser wesentliche Wert der Rechtssicherheit verschwunden ist, vermag kein anderer Wert bestehen.“ (Paul Roubier, Théorie Générale du Droit, 2. Aufl., S. 334) „Was Rechtssicherheit in der ersten Bedeutung [als Wert] angeht, wäre die Fähigkeit, Rechts­ entscheidungen vorhersehen zu können so schön (und ebenfalls so schön die auf eine verleugene Voraussicht folgende Desillusion) wie das Voraussehen des Beginns und Endes eines Krieges, der Entwicklung des Wechselkurses, der Produktion, des Wetters am nächsten Tag oder der Gewinnzahl in einer Lotterie.“ (Letizia Gianformaggio, Certezza del Diritto, in: Diciotti, Enrico / Velluzzi, Vito (Hrsg.), Filosofia del Diritto e ragionamento giuridico, S. 85) „Was die Menschen Stabilität nennen ist nicht Unbeweglichkeit, sondern die langsame und einheitliche Bewegung des Ganzen, die eine bestimmte allgemeine Form der Dinge, an die sie gewohnt sind, bestehen lässt.“ (Maurice Hauriou, Précis de Droit Constitutionnel, S. 6) „Rechtssichterheit ist ein so allgemeiner Begriff, dass wir ihn das bedeuten lassen können, was wir wollen.“ (Sophie Boissard, Comment garantir la stabilité des situations juridiques sans priver l’autorité administrative de tous moyens d’action et sans transiger sur le respect du principe de legalité? Le difficile dilemme du juge administratif, in: Les Cahiers du Conseil Constitutionnel 11 (2001), S. 70)

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

I. Gehalt der Rechtssicherheit (was fordert das Rechtssicherheitsprinzip?) Die Rechtssicherheit kann in ihren verschiedenen bereits untersuchten Aspekten schon besser verstanden werden, wenn sie in zwei Dimensionen analysiert wird: einer statischen Dimension, deren Zweck die Untersuchung des Inhalts des Rechts ist, und einer dynamischen Dimension, deren Zweck die Untersuchung der Autorität des Rechts ist, in der von Mathieu und Valembois vorgeschlagenen Richtung, wenn auch mit anderem Inhalt1. Die meisten Autoren unterscheiden nicht zwischen diesen Dimensionen; einige verwechseln sogar zuweilen „Dimensionen“ mit „Teilen“. Andere wiederum schlagen eine Richtung ein, die der in dieser Arbeit gewählten ähnlich ist, und nehmen nicht immer dieselben Elemente in jede Dimension auf, sondern verwenden unterschiedliche Begriffe, um, wenngleich auch auf unterschiedliche Weise und nicht immer unter kommensurablen Gesichtspunkten, eine ähnliche Idee der begrifflichen Trennung von statischer und dynamischer Dimension der Rechtssicherheit und der Zeit im Recht zu bezeichnen: statische und pragmatische Dimension (Carvalho), Orientierungs- und Verwirklichungsdimension (Geiger, Novoa), Quellen-, Anwendungs- und Auslegungsdimension (Mezquita del Cacho), strukturale und funktionale Dimension (Perez Luño), qualitative und zeitliche Dimension (Mathieu, Calmes, Zimmer), synchrone oder strukturale und diachrone oder historische Dimension (Jackson), synchrone und diachrone Dimension (Della Valle), intrinsische und extrinsische oder referentielle Dimension (Azoulai), formale und substantielle Dimension (Aarnio, Peczenik, Reis), objektive und subjektive Dimension (Duong, Asorey)2. 1 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 13 sowie 16; Bertrand Mathieu, Constitution et sécurité juridique – France, in: Anuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 157. 2 Paulo de Barros Carvalho, Segurança jurídica e modulação dos efeitos, in: Revista da Fundação Escola Superior de Direito Tributário 1 (2008), S. 206; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl., S. 64 f.; César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 81; José L. Mezquita del Cacho, Seguridad jurídica y sistema cautelar, in: Teoría de la seguridad jurídica, S. 87 ff.; Antonio-Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 22 ff.; Bertrand Mathieu, Constitution et sécurité juridique – France, in: Anuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 157; Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 158; Willy Zimmer, Constitution et sécurité juridique – Allemagne, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 94; Bernard Jackson, On the atemporality of legal time, in: Ost, François / van Hoecke, Mark. (Hrsg.), Temps et Droit. Le Droit a-t-il pour vocation de durer?, S. 225; Eugenio Della Valle, Affidamento e certezza del Diritto Tributario, S. 1; Loïc Azoulai, La valeur normative de la sécurité juridique, in: Boy, Laurence u. a. (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 26; Aulis Aarnio, Reason and Authority, S. 189 ff. Aulis Aarnio, The Rational as Reasonable, S. 3–8 sowie 44; Aleksander Peczenik, On Law and Reason, S. 31; Patrice Reis, Les méthodes d’interprétation, analyse formelle, analyse substancielle et sécurité juridique, in: Boy, Laurence u. a. (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 193; Lémy Duong, La sécurité juridique et les standards du Droit Économique: la notion de raisonnable, in: Boy, Laurence u. a. (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 209; Rubén Asorey, Seguridad juridica y Derecho Tributário, in: RDT 52 (1990), S. 34.

I. Gehalt der Rechtssicherheit 

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Die statische Dimension bezieht sich aber auf das Erkenntnisproblem des Rechts, auf sein Wissen, oder auf das Kommunikationsproblem im Recht und offenbart, welche Eigenschaften das Recht haben muss, um für „sicher“ gehalten zu werden und damit dem Bürger im Allgemeinen und dem Steuerzahler im Besonderen als Orientierungsinstrument zu dienen. Unter diesem Aspekt muss das Recht verständlich und wirksam sein3. Es muss verständlich in dem Sinn sein, dass es dem Bürger die materiale und intellektuelle Kenntnis des Rechts ermöglicht. Wenn das Recht zu befolgen ist, muss es imstande sein, das Verhalten seiner Subjekte anzuleiten, was nur dann der Fall sein kann, wenn diese wissen, was es bedeutet, und auf seiner Grundlage handeln können4. Diese Erkennbarkeit liegt also nur dann vor, wenn das Recht zugänglich und verständlich ist und wenn das, was verstanden wird, später auch verwirklicht wird5. Die statische Dimension bezieht sich, wie man sehen kann, mehr auf Rechtssicherheit als auf Rechtssicherung. Sie behandelt damit die Eigenschaften, die das Recht haben muss, um vom Bürger für sicher gehalten werden zu können. „Sicher“ hat hier die Bedeutung von certus6. Und Rechtssicherheit bedeutet in Bezug auf Normen „Geltungsgewissheit“ (certezza della sua vigenza), „Gewissheit ihrer Hinlänglichkeit“ (certezza della sua sufficienza) und „Bedeutungsgewissheit“ (certezza del suo significado), so dass jeweils die Geltung, die Bestimmtheitund der Inhalt der zu befolgenden Norm gewährleistet sind7. Sie kennzeichnet nach Arcos Ramírez eine Art der Sicherheit für den Einzelnen vor dem Recht, die er vom Recht selbst erhält8. Die dynamische Dimension bezieht sich ihrerseits auf das Problem der Handlung in der Zeit und schreibt vor, welche Ideale zu gewährleisten sind, damit das Recht dem Bürger Rechte „gewährleisten“ und ihm damit als Schutzinstrument dienen kann. In diesem Sinn muss das Recht verlässlich und berechenbar sein. Es muss verlässlich in dem Sinn sein, dass es dem Bürger zu wissen erlaubt, welche Veränderungen vorgenommen bzw. nicht vorgenommen werden können, und damit vermeidet, dass der Bürger in seinen Rechten enttäuscht wird. Diese Verlässlichkeit liegt nur vor, wenn der Bürger sehen kann, dass die Wirkungen, die ihm gestern vom Recht gewährleistet worden sind, auch heute gewährleistet werden, wenn er also „die Vergangenheit vergegenwärtigen“, d. h. sie in der Gegenwart 3 Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, S. 9; Antonio-Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 106; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 38; Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 2; Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 158; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 167. 4 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 214. 5 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 16. 6 Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl., S. 64. 7 Guido Alpa, La certezza del Diritto nell’età dell’incertezza, S. 37. 8 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 16.

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

sicherstellen kann oder wenn, anders gewendet, es „Sicherheit der Vergangenheit“ gibt (genauer, ohne die Ellipse: Stabilität der vom Recht den Handlungen aus der Vergangenheit zugeschriebenen Rechtsfolgen). Wie noch zu beweisen sein wird, hängt dies von der Existenz eines Zustands der Unantastbarkeit vergangener Situationen ab, eines Zustands der Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung und des Rückwirkungsverbots neu erlassener Normen. Das Recht muss berechenbar in dem Sinn sein, dass der Bürger wissen kann, wie und wann die Veränderungen durchgeführt werden, damit seine Überraschung vermeidend. Diese Berechenbarkeit liegt nur dann vor, wenn der Bürger heute die Wirkungen kontrollieren kann, die das Recht morgen hervorbringt, wenn er, in einem Wort, „die Zukunft vergegenwärtigen“ kann, d. h. wenn er die Zukunft in der Gegenwart sicherstellen kann, damit seine Handlungsmöglichkeiten erweiternd9, oder, anders formuliert, wenn es „Sicherheit der Zukunft“ (genauer, ohne die Ellipse: Berechenbarkeit der vom Recht den Handlungen aus der Gegenwart zugeschriebenen Rechtsfolgen) gibt. Diese Betrachtung macht die Behauptung von Kaufmann verständlich, nach welcher die Zukunft die „Dimension der Freiheit“ ist: der Mensch kann nur als „frei“ gelten, wenn er „Zukunft“ hat, was nur dann der Fall ist, wenn er in strategischer Perspektive die Zukunft „verwirklichen“, wenn auch über sie noch nicht verfügen kann10. Aus eben diesem Grund behauptet Blegvad in demselben Sinn, dass „jede gesellschaftliche Ordnung eine Tendenz zur Zukunftsbindung impliziert“11. Dieses „Schließen“ der Zukunft hängt, wie noch zu zeigen sein wird, vom Vorliegen eines Zustands der Kontinuität und der bindenden Natur der Normen ab. Ohne ihn verliert das menschliche Handeln seinen Sinn und rechtfertigt den melancholischen Gedanken des portugiesischen Dichters Pessoa: „Ich lebe immer in der Gegenwart. Die Zukunft kenne ich nicht. Die Vergangenheit habe ich schon nicht mehr. Erstere lastet auf mir als Möglichkeit von allem, letztere als Wirklichkeit von nichts. Ich habe keine Hoffnungen und keine Sehnsüchte.“12 Wie leicht ersichtlich ist, befasst sich die dynamische Dimension mehr mit Rechtssicherung als mit Rechtssicherheit. Sie bezieht sich auf die Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit das Recht Rechte und Erwartungen „gewährleisten“ kann. „Sicher“ bedeutet hier securus, nicht certus13. Und Rechtssicherheit bedeutet im Hinblick auf die Normen „Gewissheit ihrer Dauer“ (certezza della sua durata), so dass die Stabilität der zu befolgenden Norm gewährleistet wird14. 9

Niklas Luhmann, Vertrauen  – Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 4. Aufl., S. 15; Francis Delpérée / Anne Rasson-Roldand / Marc Verdussen, Constitution et sécurité juridique – Belgique, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 121. 10 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 159. 11 Mogens Blegvad, Vorwort, in: ARSP 64 (1995), S. 7. 12 Fernando Pessoa, Livro do desassossego, S. 129. 13 Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl., S. 65. 14 Guido Alpa, La certezza del Diritto nell’età dell’incertezza, S. 37.

I. Gehalt der Rechtssicherheit 

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Rümelin erinnert daran, dass diese Dimension dem Bürger folgende Erklärung erlauben muss: „Mein Recht, auf das ich vertrauen durfte, muß mir doch bleiben, es muß von der Gemeinschaft geschützt und darf mir nicht willkürlich entzogen oder beeinträchtigt werden“15. Die statische und dynamische Dimension des Rechtssicherheitsprinzips offenbaren im Verbund die anzustrebenden Idealzustände der Erkennnbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Diese Ideale sind jedoch nicht auf derselben horizontalen Fläche parallel angeordnet, sondern bilden eher eine allgemeine Zweck-Mittel-­ Beziehung. So ist in der Tat das Erkennbarkeitsideal eine Voraussetzung der Konkretisierung der Ideale der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, und zwar in dem Sinn, dass vergangenes Recht nur dann in der Gegenwart gewährleistet werden kann oder zukünftiges Recht nur in der Gegenwart kontrollierbar ist, wenn der Bürger das Recht, seine Rechte und die Instrumente seiner Verwirklichung zu erkennen vermag sowie seine Verwirklichung erzwingen kann, sofern das nicht aus freien Stücken erfolgt. Rümelin hat also Recht mit dem Hinweis darauf, dass die Bestimmung des Rechts „Voraussetzung“ der Rechtssicherheit ist16. Aus diesem Grund trifft die Behauptung zu, dass die statische Dimension sich in einer Beziehung der Voraussetzung gegenüber der dynamischen Dimension des Rechtssicherheitsprinzips befindet: Verlässlichkeit und Berechenbarkeit setzen Erkennbarkeit voraus, da man sich nicht auf die Achtung dessen verlassen kann, was man nicht kennt bzw. was nicht verpflichtet, noch die Beständigkeit dessen, was man nicht kennt bzw. was nicht verpflichtet, berechnen kann. Diese Voraussetzungsbeziehung zwischen den Idealen ist, wie schon gesagt worden ist, eine interne Zweck-Mittel-Beziehung. Sie geht jedoch nicht immer in nur eine Richtung. In einigen Fällen, die zu gegebener Zeit zu erörtern sind, ist diese Voraussetzungsbeziehung wechselseitig. Wenn also die Behauptung normalerweise korrekt ist, dass die Erkennbarkeit der Rechtsordnung eine Voraussetzung ihrer Verlässlichkeit ist, kann auch das Gegenteil der Fall sein. Ein Beispiel möge diesen Gedanken veranschaulichen: damit das Recht stabil ist, muss es bekannt sein, da man dem, was man nicht kennt, nicht vertrauen kann; wenn aber das Recht an einer hochgradigen Instabilität leidet, kann es schwerlich seinen Adressaten einigermaßen bekannt sein. Man kann also sowohl behaupten, dass die Erkennbarkeit der Rechtsordnung eine Voraussetzung ihrer Verlässlichkeit ist, als auch, dass die Verlässlichkeit der Rechtsordnung die Bedingung ihrer Erkennbarkeit ist. Diese Wechselseitigkeitsbeziehung zwischen den Elementen kann auch nachgewiesen werden, wenn ihre Voraussetzungen auf ihr Vorliegen geprüft werden. Damit beispielsweise die Rechtsordnung stabil ist, muss sie erkennbar sein; damit sie erkennbar ist, muss sie klar sein; damit sie stabil ist, muss sie die legitimen Erwartungen der Bürger achten; diese Erwartungen werden jedoch nur dann geach 15

Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, S. 1. Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, S. 9; im selben Sinn Antonio-Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 20. 16

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

tet, wenn es eine „verlässliche Vertrauensgrundlage“ gibt, die ihrerseits nur dann existieren kann, wenn die Grundlage klar und genau ist. Der Mangel an Klarheit der Vertrauensgrundlage behindert also ihren Schutz17. In diesem Sinn kann man einer jeden Dimension des Rechtssicherheitsprinzips auch im Hinblick auf die Voraussetzungen der Anwendung Elemente bescheinigen, dass es eine Beziehung der wechselseitigen Abhängigkeit des Inhalts zwischen ihnen gibt: ohne Erkennbarkeit gibt es keine Verlässlichkeit; ohne Verlässlichkeit keine Erkennbarkeit. Die Synthese der statischen und dynamischen Dimension des Rechtssicherheitsprinzips ermöglicht den Nachweis, dass dieses Prinzip einen idealen Zustand der Achtung des Menschen gewährleisten will, der ihn gegen Täuschung, Enttäuschung, Überraschung und Willkür immunisiert. Die Achtung der Menschenwürde in der schon wiederholten Behauptung von Raz beinhaltet die Behandlung der Menschen als Personen, die ihre Zukunft planen und entwerfen können18. Eben weil das Rechtssicherheitsprinzip  – durch Vermeidung der Täuschung, Enttäuschung und Überraschung bezüglich des Rechts  – als Instrument der Gewährleistung der Achtung des Einzelnen dient, wird es dem Willkürverbot in seiner Einführung und Anwendung assoziiert19. Aus keinem anderen Grund dient die Rechtssicherheit als Kern des Rechtsstaatsprinzips der Gewährleistung der Wertschätzung und Achtung der Menschen als Bürger20. Sypnowich bezieht sich zutreffend auf den Rechtsstaat im Sinn der Rechtssicherheit als Ethik der Höflichkeit: „Er [scil. der Rechtsstaat] leitet die Regierung an, den Bürgern mit Achtung zu begegnen, sie mit allgemeiner und abstrakter, nicht in ihre Privatsphäre einbrechender und distanzierter Wertschätzung zu behandeln“21. Aus diesem Grund erwähnt Garlicki auch, dass Rechtssicherheit in Polen das umfasst, was die Rechtswissenschaft „Prinzipien der ehrbaren Gesetzgebung“ nennt22. Diese Betrachtungen erlauben die Feststellung, dass das Rechtssicherheitsprinzip in seiner dynamischen Dimension den achtungsvollen Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart vermittels der Erkenntnis des Rechts bezweckt. Es ist in der auf das Werk von Oñate bezugnehmenden anschaulichen Formulierung von Carnellutti ein Instrument, um „vorher zu sehen“, aber auch, um „nachher zu sehen“23, 17

Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 252. 18 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 221. 19 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 4; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 35. 20 José Roberto Vieira, Medidas provisórias tributárias e segurança jurídica: a insólita opção estatal pelo „viver perigosamente“, in: Barreto, Aires Fernandino u. a. (Hrsg.), Segurança jurídica na tributação e Estado de Direito, S. 317. 21 Christine Sypnowich, Utopia and the Rule of Law, in: Dyzenhaus, David (Hrsg.), Recrafting the Rule of Law – The Limits of Legal Order, S. 194. 22 Leszek Garlicki, Constitution et sécurité juridique – Pologne, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 241. 23 Francesco Carnellutti, La certezza del Diritto, in: Onãte, Flavio Lopez, La certezza de Diritto, S. 195.

I. Gehalt der Rechtssicherheit 

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oder, um Pacteau zu zitieren, ein Instrument des „Wissens (oder Erkennens)“ und der „Voraussicht“24, oder, um Luhmann zu zitieren, ein Instrument, um die Kontrolle der auf die Zukunft und auf die Sicherheit der gegenwärtigen Lage bezogenen Ergebnisse zu erlangen25. Unabhängig von der gewählten Perspektive ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die statische (oder strukturale bzw. systemische)  Dimension nicht von der dynamischen (oder funktionalen bzw. operativen) Dimension der Rechtssicherheit getrennt werden kann26. Mit Bezug auf Ferraz Júnior darf man sagen, dass beide Dimensionen aus der Perspektive des Zeitablaufs den Zweck verfolgen, dass eine Vergangenheit nicht plötzlich fremd wird, eine Zukunft etwas undurchsichtig und ungewiss und die Dauer eine Ansammlung von das Leben destabilisierenden Überraschungen27. Die Zeit im Recht ist, wie noch einmal unterstrichen wird, nicht die psychisch-objektive Zeit („es ist acht Uhr“, „die Reise dauert drei Stunden“), auch nicht die subjektive Zeit („ein einminütiger Kuss auf den Mund der Geliebten dauert eine Stunde“, „eine Minute auf glühenden Kohlen sitzen dauert eine Ewigkeit“), sondern vielmehr die gesellschaftlich-historische Zeit, festgelegt durch die Bedeutungen der Zeit und ihrer Dauer zugeschrieben werden28. Aufgrund dieser Erwägungen wird das Rechtssicherheitsprinzip, statt als Norm definiert zu werden, die das Streben nach – parallel aufeinanderfolgend aufgestellten – Idealen der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit vorschreibt, in diesem Text neu bestimmt als Norm, die das Streben nach den Idealen der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts vorschreibt, die ihrerseits die Zwecke aufgrund ihrer internen Voraussetzung, der Erkennbarkeit, vorgeben. Diese Dimensionen und Ideale sollen später noch untersucht werden. Hervorzuheben ist noch, dass die genannten Ideale, die nicht neben- oder übereinandergestellt werden, sich in das Binom „statisch vs. dynamisch“ einfügen, statt in das Binom „formal vs. material“ eingefügt zu werden. Wenn wir andere, später eingehend behandelte Gründe beiseitelassen würden, würde die Verwendung des Worts „formal“ im Sinne vom Norminhalt völlig unabhängiger Normqualitäten, 24

Bernard Pacteau, La sécurité juridique: un principe que nous manque?, in: AJDA 20 (1995), S. 154. 25 Niklas Luhmann, Vertrauen  – Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 4. Aufl., S. 17. 26 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 13 ff; César García Novoa, El princípio da seguridad jurídica en materia tributaria, S. 81. 27 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Anterioridade e irretroatividade no campo tributário, in: RDDT 56 (2001), S. 125; Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Segurança jurídica, coisa julgada e justiça, in: Revista do Instituto de Hermenêutica Jurídica 3 (2005), S. 264; Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Coisa julgada em matéria tributária e as alterações sofridas pela legislação da contribuição social sobre o lucro (Lei n. 7.689/88), in: RDDT 125 (2006), S. 73. 28 François Ost, Conclusions générales: le temps, la justice et le droit, in: Gaboriau, Simone /  Pauliat, Hélène (Hrsg.), Le Temps, la Justice et le Droit, S. 359.

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

um die Forderungen der Zugänglichkeit und Verständlichkeit von Normen zu kennzeichnen, zur Idee führen, dass die Rechtssicherheit vermittels der Wahl technischer Verfahren unabhängig vom Inhalt der Rechtsnormen geschützt wäre. Dies ist aber nicht der Fall für die Rechtssicherheit, wie sie in dieser Arbeit vertreten wird: Erstens deshalb nicht, weil man strenggenommen nicht wissen kann, ob die Norm veröffentlicht worden ist oder ob sie ohne die Prüfung subjektiver Aspekte bestimmt wird, da die Öffentlichkeit und Bestimmtheit (obwohl sie objektive Eigenschaften der Normen sind) nur von einem subjektiven Standpunkt aus feststellbar sind. Zu wissen, ob die Norm erkannt oder nicht erkannt werden kann, setzt das Wissen voraus, wer und unter welchen Umständen sie erkennt. Zu wissen, ob die Norm bestimmt oder nicht bestimmt ist, setzt das Wissen voraus, aus wessen Sicht und in welchem Maß sie bestimmt oder nicht bestimmt ist. Aus diesem Grund sind im der Bedeutung von Rechtssicherheit gewidmeten Teil die verschiedenen Bedeutungen untersucht worden, die beim subjektiven Aspekt der Rechtssicherheit gewählt werden können, und die Frage, welche Bedeutung tatsächlich von der Rechtsordnung gewählt wird (in der Regel die Perspektive des steuerzahlenden Adressaten). Zweitens, weil nur festgestellt werden kann, ob die Normeigenschaften erfüllt werden, wenn man von vornherein wissen kann, welchen Zwecken diese Eigenschaften dienen. Zu wissen, ob die Norm bestimmt ist, setzt das Wissen voraus, welchem Zweck die Bestimmtheit dient, denn nur so kann man erfahren, welches die Informationen sind, ohne deren Verständnis man einen bestimmten Sachverhalt nicht realisieren kann. Ein Inhalt ist nicht ein blinder Punkt, sondern ein Element, dessen Kenntnis das Instrument für eine bestimmte Handlung abgibt. Aus diesem Grund wurden im auf die Bedeutung der Rechtssicherheit bezogenen Teil die verschiedenen Bedeutungen untersucht, die beim axiologischen Aspekt der Rechtssicherheit gewählt werden können, und unter ihnen diejenige Bedeutung bestimmt, die tatsächlich von der Rechtsordnung gewählt wird (Rechtssicherheit als Instrument der Verwirklichung der Grundrechte der Freiheit, Gleichheit und Würde). Diese Betrachtungen sollen rechtfertigen, warum der Inhalt der Rechtssicherheit in die Teile „statisch“ und „dynamisch“ aufgeteilt worden ist, statt nach den Dimensionen „formal“ und „material“. Ähnliche Gründe dienen der von einigen Autoren übernommenen Abweisung der Trennung zwischen objektiven und subjektiven Elementen29. Obwohl einige Elemente als objektiv beschrieben werden können im Sinn von objektiv durch die Rechtsordnung geregelt, wie der Verfall oder der Schutz des wohlerworbenen Rechts, beziehen sie sich auf die Art und Weise der reflexiven Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips, ausgerichtet an bestimmten Subjekten, was auf eine gewisse Weise ihre Ausweisung als subjektive Elemente erlauben würde. Natürlich hängt die Bezeichnung sowohl von den Be 29

Antonio-Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 69; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 71.

I. Gehalt der Rechtssicherheit 

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deutungen ab, die den Termini „objektiv“ und „subjektiv“ zugeschrieben werden, als auch von den für ihre Untersuchung gewählten Perspektiven, wobei ein und dasselbe Element als objektiv oder subjektiv gekennzeichnet werden kann, je nach der gewählten Bedeutung und Perspektive. Dies ist der Fall bei der Forderung nach Stabilität der Rechtsordnung: sie wird von Canotilho als objektives Element der Rechtssicherheit gekennzeichnet, während von Arnauld die Stabilität als Gattung behandelt, in der man den Schutz des legitimen Vertrauens als eines wesentlich subjektiven Elements prüft30. Dies erklärt sich aus den unterschiedlichen von den Autoren gewählten Perspektiven: der erste Autor bewertet die Objektivität der Voraussetzungen, der zweite die Subjektivität der Wirkungen. Die Wahl der statischen und dynamischen Dimension umgeht das Problem und zeigt, dass einige Elemente hinsichtlich der objektiven oder subjektiven, formalen oder materialen Aspekte neutral sind. Die vorstehenden Betrachtungen erlauben auch den Nachweis, warum hier gegen andere Autoren eine zutreffender als material bezeichnete Konzeption übernommen worden ist31. Da das Erkennbarkeitsideal von subjektiven Perspektiven und von Kriterien abhängt, die von Grundrechten der Freiheit, Gleichheit und Würde geliefert werden, ist die Verwirklichung der Rechtssicherheit nicht vom Inhalt der Normen unabhängig: die Forderungen der Rechtssicherheit werden nur erfüllt, wenn die Rechtsnormen Eigenschaften haben, die für die Verwirklichung bestimmter Inhalte unverzichtbar sind. Nach diesen einleitenden Betrachtungen müssen wir jetzt zur Untersuchung der statischen und dynamischen Dimension der Rechtssicherheit fortschreiten.

1. Statische Dimension a) Einleitende Betrachtungen Die statische Dimension des Rechtssicherheitsprinzips bezieht sich auf die strukturalen Voraussetzungen, die das Recht erfüllen muss, um ein Instrument der Orientierung abgeben zu können. Sie umfasst also alle Voraussetzungen, ohne die der Bürger eigentlich nicht imstande ist, sich dem Recht zu unterwerfen. Aus diesem Grund bezieht sich diese Dimension grundsätzlich auf Probleme der Erkenntnis und der Kommunikation und versucht auf folgende Frage zu antworten: welches sind die Elemente, die notwendig sind, damit der Bürger ohne Irrtum, in Freiheit und Autonomie seine Gegenwart in Würde rechtskonform gestalten kann? 30 José Joaquim Gomes Canotilho, Direito Constitucional e teoria da Constituição, 7. Aufl., S. 256; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 284. 31 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 221; Robert Summers, A Formal Theory of the Rule of Law, in: Ratio Juris 6 (1993), S. 127–142; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 3.

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

Unter diesem Aspekt werden die Bedingungen oder Eigenschaften untersucht, die dem Recht erlauben, Gegenstand der Erkenntnis sowohl vom materialen als auch vom intellektuellen Standpunkt aus zu sein: um eine Rechtsnorm zu befolgen, muss der Bürger nicht nur Zugang zu ihr haben durch Erfüllung von Voraussetzungen, die diese Norm als existent und geltend anzusehen erlauben; er muss gleichzeitig verstehen können, was diese Norm anordnet, verbietet oder erlaubt. Eben deshalb müssen, wie noch nachzuweisen sein wird, die Normen zugänglich, umfassend, klar und hinlänglich bestimmt sein. Das Recht und die Rechtsnormen, individuell betrachtet, und die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit müssen also „sicher“ im Sinn von gewiss sein32. Ein interessantes Problem wirft die Frage auf, ob die Normen oder die Normtexte verständlich sein müssen. Wenn die Normen die ausgelegten Texte sind, sind sie selbstverständlich der Gegenstand des Verstehens: da die Norm der verstandene Text oder der Textsinn ist, ist der Ausdruck „verständliche Norm“ tautologisch, da er sich auf die Forderung des Verstehens des schon Verstandenen bezieht. In diesem Sinn sind Normtexte tatsächlich der Gegenstand der Forderung nach Erkennbarkeit. Falls jedoch die Forderung nach Erkennbarkeit der Norm nicht nur das „Verstehen“ als bloße Fähigkeit der Sinnerfassung beinhaltet, sondern auch das „Verstehen“ als Fähigkeit des Handelns gemäß einer Vorschrift, die man versteht, sind nicht eigentlich die Texte der Gegenstand des Verstehens, sondern die Rechtsnormen als Minimalbedeutungen von Normtexten. Wir stehen hier ersichtlich vor einer Definitionsfrage. Wie dem auch sei, ist der Gebrauch des Ausdrucks „statische Dimension“ als struktural und nicht unbeweglich zu verstehen, weil die Prüfung seiner Elemente auch gewissermaßen eine Bewegung und damit Dynamik erfordert: so veranschaulichen beispielsweise die Zugänglichkeit und Verständlichkeit der Normen die Fähigkeit des Adressaten, die Bedeutung von Normtexten zu verstehen, was auf eine gewisse Weise den Übergang vom Text zur Norm voraussetzt. Diese Betrachtungen mögen ausreichen, um zu beweisen, dass der Ausdruck „statische Dimension“ im Gegenzug zu „dynamischer Dimension“ im hier definierten Sinn die strukturalen Elemente bezeichnet, die das Recht haben muss, um Verhaltensorientierung und Fundament und Grundlage der Ausübung staatlicher Gewalt sein zu können. Obwohl die Rechtssicherheit normalerweise mit den Voraussetzungen der Bestimmtheit und Klarheit assoziiert und zuweilen ausschließlich auf sie bezogen wird, wird ihre nachfolgende Untersuchung zeigen, wie sehr diese Elemente einer erneuten Prüfung bedürfen.

32

Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl., S. 64.

I. Gehalt der Rechtssicherheit 

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b) Materiale Erkennbarkeit: „Bestands- und Geltungssicherheit“ durch Zugänglichkeit, Reichweite und Möglichkeit der normativen Identifikation aa) Normative Zugänglichkeit (1) Über die normative Bestimmung (a) Veröffentlichung Verstehen erfordert Kenntnis, Kenntnis Zugang33. Menschen können nur durch Normen angeleitet werden, deren Existenz sie kennen34. Diese beiden Dimensionen sind also untrennbar: materiale Zugänglichkeit ist ohne intellektuelle Zugänglichkeit sinnlos, aber intellektuelle Zugänglichkeit ohne materiale Zugänglichkeit unmöglich. Die notwendige Bedingung der Zugänglichkeit ist die von der Veröffentlichung abhängige Öffentlichkeit. Daher darf man Öffentlichkeit (oder öffent­ liche Verbreitung) nicht mit Veröffentlichung verwechseln: diese ist ein technisches Geschehen formaljuristischer Art und ein Mittel, um jene als Zweck zu erreichen35. Ohne vorgängige und öffentliche Existenz des Normtextes kann das Recht seine Orientierungsfunktion strenggenommen nicht wahrnehmen. Eben deshalb muss das auf die „Existenzgewissheit“ und die „Geltungsgewissheit“ bezogene Element in den Rechtssicherheitsbegriff aufgenommen werden: man kann nicht durch etwas orientiert werden, dessen Existenz und Geltung unbekannt sind36. Aus eben diesem Grund behandelt Novoa diese Voraussetzungen als Teile der normativen Orientierungssicherheit und damit des Erkennbarkeitsideals37. Das Öffentlichkeitsideal wird so zu einem Element der Rechtssicherheit und die Veröffentlichung zu einer ihrer Bedingungen, nicht nur im Hinblick auf die Erkennbarkeit des Rechts, sondern gleichfalls im Hinblick auf seine Verlässlichkeit und Berechenbarkeit38. Die Rechtsprechung folgt diesem Verständnis39. Wenn also die ein Edikt veröffentlichende Zeitung nicht eine hohe Auflagezahl hat und weit verbreitet ist, taugt sie nicht zum Medium der Veröffentlichung40; wenn eine 33

Ben Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, S. 130. Andrei Marmor, Law in the age of pluralism, S. 7. 35 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 246. 36 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 37. 37 César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 77. 38 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 14, 190; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 36 sowie 249. 39 AgR im RESP Nr. 753469/SP, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Luiz Fux, DJ 27. 03. 06, S. 203. ED no AG. REG. in RESP Nr. 572.642/RS, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Luiz Fux, DJ 29. 08. 05 p. 148. 40 AgR im Ag Nr. 650055/PR, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Humberto Martins, DJ 20. 04. 07, S. 332. AgR im Ag Nr. 650.055/PR, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Humberto Martins, DJ 20. 04. 07, S. 332. 34

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Materie nicht wirklich geheim ist, besteht kein Grund zu einer Ausnahme von der Regel der Öffentlichkeit richterlicher Entscheidungen41; eine Veröffentlichungsdienstleistungen untersagende Verwaltungsanordnung ist eine schwere Verletzung der öffentlichen Ordnung42, und so weiter. Alle vorstehenden Bemerkungen beweisen, dass Öffentlichkeit durch Veröffentlichung ein wichtiger Faktor der Rechtssicherheit ist.43 Ihre Funktion kann jedoch nur dann wahrgenommen werden, wenn sie mit zwei Fiktionen kombiniert wird: Einerseits mit der Fiktion, dass nach der Veröffentlichung und dem Ablauf der Frist der vacatio legis die Gesetze ihren Adressaten bekannt sind: neminem ignorantia legis excusat. Ohne diese Fiktion ist strenggenommen keine Rechtssicherheit hinsichtlich der von der Rechtsordnung den Handlungen von Drittpersonen zugeschriebenen Rechtsfolgen möglich. Daher die Notwendigkeit des Vertrauens der Bürger, dass alle sich den Gesetzen unterwerfen, unabhängig von ihrer tatsächlichen Kenntnis. Dieses Vertrauen würde verschwinden, wenn Normen nur dann wirksam wären, falls ihre Adressaten wirklich ihren Inhalt kennen würden44. Die Annahme dieser im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch positivierten Fiktion verursacht eine Art Binnenkonflikt der Rechtssicherheit: falls sie einerseits die Kenntnis des Rechts als Voraussetzung seiner Geltung statuiert, verachtet sie andererseits die Kenntnis des Rechts als Bedingung eben dieser Geltung. Das bedeutet also, dass mal die Kenntnis, mal die Unkenntnis für die Fasslichkeit des Rechts relevant ist45. Diese Feststellung beweist, das strenggenommen nicht die Kenntnis des Rechts die Voraussetzung der Rechtssicherheit ist, sondern seine Erkennbarkeit, d. h. die Möglichkeit des materialen und intellektuellen Zugangs zum Recht, die etwas ganz anderes ist. Andererseits hängt die Öffentlichkeit auch von einer anderen Fiktion ab, die sich auf die Vollständigkeit der Rechtsordnung bezieht, nämlich in dem Sinn, dass die Rechtsordnung, wenngleich auch nicht unmittelbar, das allgemeine Kriterium zur Lösung gesellschaftlich bedingter Interessenkonflikte ist: wenn das Recht als Erzeuger von Gewissheit und Vertrauen hinsichtlich seiner Inhalte auftreten will, darf es keinen Interessenkonflikt unbeantwortet lassen46. Die Annahme dieser Fiktion impliziert nicht das Einverständnis mit der Vorstellung, dass jeder beliebige Interessenkonflikt in einer gegebenen abstrakten Einzelnorm eine fix und fertige spezifische Antwort vorfindet. Diese Konzeption würde ja die Annahme der These 41

HC Nr. 91/DF, Dritte Kammer, Berichterstatter: Richter Arnaldo Esteves Lima, DJ 16. 04. 05, S. 164. 42 AgR in STA Nr. 29, Berichterstatter: Richter Edson Vidigal, DJ 06. 12. 04, S. 180. 43 Hugo De Brito Machado, Os princípios da anterioridade e da irretroatividade das leis tributárias e a publicação da lei, in: Cadernos de Direito Tributário e Finanças Públicas 8 (1994), S. 107. 44 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 249. 45 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 250. 46 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 283.

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der Eindeutigkeit von Normsätzen implizieren. Dies ist aber nicht annehmbar, da „nicht einmal der Richter Herkules (Dworkin) in der Lage ist, für jeden Fall eine wahre Antwort zu finden, zumal die Antwort, welche die einzige korrekte Antwort wäre, einfach nicht existiert“47. Die Annahme dieser Fiktion bedeutet vielmehr, dass das Recht insgesamt und in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und nicht eine sich aus einer bestimmten Quelle ergebende Spezialnorm der archimedische Punkt sein muss, um die Kriterien zur Lösung eines jeden Konflikts durch Akte einer zuständigen Behörde zu finden. Damit es also Rechtssicherheit als Fasslichkeit gibt, muss es nicht eine statische, sondern eine dynamische Vollständigkeit des Rechts geben. (b) Bekanntgabe Die Bekanntgabe ist die Materialisierung der Notwendigkeit der Erkennbarkeit und Berechenbarkeit auf individueller und prozeduraler Ebene. Ohne Kenntnis der Akten oder Fakten seines Interesses zu haben, kann der Bürger strenggenommen nicht rechtskonform handeln noch, wo nötig, sein Recht auf umfassende Verteidigung ausüben. Das ordnungsgemäße prozedurale Verfahren setzt in der Tat voraus, dass die Parteien über die während des Prozesses vorgefallenen Akte und deren Elemente in Kenntnis gesetzt werden, damit sie zu der Sach- und Rechtlage Stellung nehmen und ihre Argumente auf unbefangene, unparteiliche und begründete Weise berücksichtigt werden können, wie sogar schon der Oberste Bundesgerichtshof entschieden hat48. Gibt es bei verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Handlungen oder Verfahren keine Bekanntgabe, wird die Partei durch Entscheidungen oder Verfügungenüberrascht, die ihre Rechte einschränken, und kann nicht selbständig auf sie reagieren. Wenn dies eintrifft, erleidet die Partei eine Einschränkung ihrer prozeduralen Rechtssicherheit, da die verwaltungsbehördliche oder gerichtliche Autorität nicht von der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit erfasst wird. Außerdem wird die Menschenwürde der Partei mittelbar ohne Rechtfertigung beinträchtigt, da über die Partei verfügt wird, ohne dass sie Gelegenheit zur Stellungnahme, Reaktion oder Verteidigung erhält und damit nicht zum autonomen Subjekt wird, das sein Leben aktiv in Verantwortung gestalten kann, sondern zum Objekt, das von etwas betroffen wird, auf das es nicht reagieren kann.

47

Eros Roberto Grau, Ensaio e discurso sobre a interpretação / aplicação do Direito, 4. Aufl., S. 40. 48 MS Nr. 24.268, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 17. 09. 04, S. 189 des Urteils.

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(2) Über die Geltung Der Bürger darf nicht von einem rückwirkenden Recht angeleitet werden, da dieses zum Zeitpunkt seines Handelns nicht existiert hat49. Eben deshalb muss er nicht nur die von ihm zu befolgende Norm kennen, sondern auch Kenntnis von ihrer Geltung haben. Aus diesem Grund hat die CF/88 die später noch ausführlicher zu untersuchende Vorzeitigkeitsregel statuiert, um dem Steuerzahler zu erlauben, dass er vorab wissen kann, wann die von ihm zu befolgenden steuerrechtlichen Normen in Kraft treten werden. Aus demselben Grund hat auch die nationale Abgabenordnung in den Artikeln 101 ff. Normen über die Geltung der Steuerregeln für die Fälle vorgesehen, in denen die Norm selbst nicht den Zeitraum ihrer Geltung angibt. So hat die nationale Abgabenordnung, obwohl die auf die Geltung im Allgemeinen bezogenen Rechtsnormen auf das Abgabenrecht anwendbar sind, in Art. 103, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, spezifische Regeln für die Fälle statuiert, in denen die Steuernorm nicht den Zeitpunkt des Beginns ihrer Geltung bestimmt: für Verwaltungsakte am Tag ihrer Veröffentlichung; für Verwaltungsentscheidungen, hinsichtlich ihrer normativen Wirkungen, dreißig Tage nach dem Tag ihrer Veröffentlichung; für die Abkommen zwischen den Bundesstaaten das in diesen Abkommen genannte Datum. Diese Sorge ist auch leicht im deutschen Grundgesetz erkennbar, auch wenn sie dort weniger direkt ist. Sie kann sowohl aus dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 und 28) als auch aus den Regeln über die Geltung der Gesetze (Art. 82) und dem ausdrücklichen Verbot der Rückwirkung strafrechtlicher Gesetze (Art. 103 Abs. 3) abgeleitet werden. Da die Geltungsgewissheit ein Aspekt der Erkennbarkeit ist, die ihrerseits ein Element der Rechtssicherheit ist, ist auf einem Punkt zu bestehen: der Bürger muss wissen können, welche Norm er zu befolgen hat, widrigenfalls nicht angeleitet werden zu können. Anders gesagt: ohne Inhalts- und Geltungssicherheit gibt es keine Orientierungsrechtssicherheit. Und ohne diese gibt es auch keine autonome und verantwortliche Ausübung der Grundrechte der Freiheit und des Eigentums. bb) Normative Reichweite (1) Kodifizierung Die Kodifizierung ist eines der wichtigsten Instrumente der normativen Reichweite, da sie die logische Bündelung in einem einzigen Dokument vom Standpunkt der Materie und des Anwendungsbereichs der allgemeinen Bestimmungen 49 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 214; César García Novoa, El princípio da seguridad jurídica en materia tributaria, S. 76.

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aus erlaubt50. Die Verbindung zwischen der Kodifizierung und den Idealen der Erkennbarkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung ist unschwer erkennbar: die Bündelung in einem einzigen Dokument fördert die materiale Zugänglichkeit, da der Bürger durch den leichteren Zugang und die Reichweite des Dokuments über bessere Möglichkeiten verfügt, zu erfahren, wo er die anwendbare gesetzliche Bestimmung suchen muss; die systematische Anordnung ist ihrerseits das Instrument der intellektuellen Zugänglichkeit, da sie dem Bürger durch Anordnung der Teile ermöglicht, größere Klarheit im Hinblick auf den Inhalt der zu befolgenden Normen zu erhalten. Nach den Kriterien der Echtheit, Vollständigkeit und Darstellung ausgearbeitet, ist die Kodifizierung somit ein Mittel zur Förderung der Rechts­ sicherheit51. Aus keinem anderen Grund hatte schon Savigny die Kodifizierung als Instrument der Gewährleistung von mehr „Gewissheit“ verteidigt52. Er präzisierte das mit folgendem Argument: um das Recht zu kennen, darf dieses nicht zerstreut, sondern muss konzentriert sein. Deshalb fügt Münch als Element des Rechtssicherheitsprinzips selbst neben der Bestimmtheit, der Verständlichkeit, der Wirksamkeit und der Kontinuität auch die „Rechtskonzentration“ ein53. Die Akzeptanz, dass die Kodifizierung ein wichtiger Faktor der Rechtssicherheit ist, impliziert nicht die Annahme, dass sie von sich aus Rechtssicherheit bietet. Sie ist nur ein Mittel unter anderen, um die Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts zu steigern54. Und dieses Mittel erweist sich heute so wertvoll wie die Kodifikationen des 19. Jahrhunderts: wenn sie das verstreute Gewohnheitsrecht zu vereinheitlichen strebten, um Zugänglichkeit und Verständlichkeit der Normen zu gewährleisten, stellt sich das gleiche Problem in der Gegenwart aufgrund der hohen Zahl von leges speciales, die den Umständen geschuldet und daher vorübergehender Natur sind, deren Gesamtheit einem „Rechtslabyrinth“ ähnelt und die unsere heutige Rechtsordnung, wie Ferrajoli bemerkt hat, dieser vormodernen Rechtsordnung sehr angleichen55. (2) Allgemeine Normen Die CF/88 behält einem Ergänzungsgesetz die Funktion vor, allgemeine steuerrechtliche Normen einzuführen, insbesondere über Steuerpflicht, Steuerkredit, 50 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 289; Eugenio Della Valle, Affidamento e certezza del Diritto Tributario, S. 32. 51 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 211 sowie 214. 52 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 20. 53 Christof Münch, Rechtssicherheit als Standortfaktor. Gedanken aus Sicht der vorsorgenden Rechtspflege, in: Weber, Albrecht (Hrsg.), Währung und Wirtschaft. Das Geld im Recht, S. 675. 54 Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 32. 55 Luigi Ferrajoli, The past and the future of the rule of law, in: Costa, Pietro / Zolo, Danilo (Hrsg.). The Rule of Law – History, Theory and Criticism, S. 342.

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Steuerverfall und Steuerverjährung. Allgemeine Normen haben vornehmlich die Aufgabe, Sicherheit und Stabilität in einem Bundesstaat zu gewährleisten, sei es zwischen den einzelnen Gliedstaaten, sei es zwischen diesen und den Steuerzahlern56. Wie schon festgestellt wurde, gibt es in Deutschland keinen eigenen Normtypus, der diese Einführung allgemeiner Normen regelt. Die Bundesgesetze selbst erfüllen diese Aufgabe (Art. 105). Ziel der brasilianischen Ergänzungsnormen ist die Gewährleistung zweier koimplizierter Ziele: der Vereinheitlichung und der Vielfalt. Die Vereinheitlichung besteht in der einheitlichen normativen Behandlung der autonomen Gliedstaaten: alle müssen sich denselben (allgemeinen) Normen unterwerfen. Damit erfahren beispielsweise verjährungs- und verwirkungsbezogene Regeln an Stelle der Nichtvereinheitlichung eine gemeinsame Behandlung, die der Vielfalt eines jeden Bundesstaats normative Einheitlichkeit verleiht. Indem sie diese normative Homogenität gewährleistet, begünstigt die Forderung nach allgemeinen steuerrechtlichen Normen die Teilideale, deren Verwirklichung vom Rechtssicherheitsprinzip verlangt wird, für die Steuerzahler und die Bundesstaaten, in ihrer horizontalen Beziehung zu anderen Gliedstaaten oder in der vertikalen Beziehung zu den Steuerzahlern: – die Erkennbarkeit, da jeder Bundesstaat leichteren materialen und intellektuellen Zugang zu den Regeln hat, die seine Beziehungen zu anderen Instanzendurch Eingrenzung von Konfliktzonen im Bundesgebiet gestalten, sowie ihre Beziehung zu den Steuerzahlern im Hinblick auf die Pflichten jeder Partei; – die Verlässlichkeit infolge der höheren Stabilität der Normen, da ihre Änderung schwieriger wird, weil ihre Ausarbeitung Gegenstand des qualifizierten Gesetzesvorbehalts ist; und – die Berechenbarkeit wegen der Kontinuität der allgemeinen Normen, die durch die größere Schwierigkeit ihrer Änderung und durch ihre bindende Natur postuliert wird. Letztere ergibt sich aus dem Verbot gegenüber den Gliedstaaten, bei finanziellen Schwierigkeiten ihre gesetzgeberischen Kompetenzen ohne Einhaltung der allgemeinen Normen auszuüben. Diese föderative Vereinheitlichung gewinnt im Fall der brasilianischen Förderation an Bedeutung, weil nicht nur drei föderative Ordnungsebenen existieren – der Bund, der Staat und die Gemeinde –, sondern die Gliedstaaten darüberhinaus sehr zahlreich sind: 26 Bundesstaaten zuzüglich des Bundesdistrikts und über 5.500 Gemeinden. Außerdem sind, wenn wir die geographischen, sozialen und ökonomischen Faktoren in Rechnung stellen, die Gliedstaaten zutiefst ungleich. Um dies deutlich zu machen, genügt der Hinweis auf die Tatsache, dass die normative Vereinheitlichung als zentripetale Kraft um gleichheitsorientierte normative Ideale herum angelegt ist. Diese Ideale tragen zur höheren Verständlicheit, Sta 56 Fábio Canazaro, Lei Complementar Tributária na Constituição de 1988, S. 108; Frederico Araújo Seabra De Moura, Lei Complementar Tributária, S. 331 ff.

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bilität und Vorhersehbarkeit der Normen bei, denen die Gliedstaaten in den sich konkretisierenden steuerrechtlichen Beziehungen unterworfen sind. Die Vielfalt besteht in der normativen Behandlung im Hinblick auf die föderative Autonomie der Gliedstaaten: obwohl alle sich denselben Normen unterwerfen müssen, hat jeder die Macht, um die Normsetzungsbefugnisse, die ihm die Verfassung zuerkennt, autonom auszuüben. So können beispielsweise die Gemeinden unter Beachtung der durch ein Ergänzungsgesetz festgelegten Grenzen unterschied­ liche Sätze für die Besteuerung von Dienstleistungen in ihrem Hoheitsgebiet vorsehen; die Bundesstaaten können, immer im Rahmen der durch die allgemeinen Normen statuierten Richtlinien, den Verkauf von Waren in ihrem Hoheitsgebiet unterschiedlich besteuern, und so weiter. Man bemerke jedoch, dass die Autonomie, obgleich vorhanden, begrenzt ist: die Schaffung, die Beitreibung und die Zwangsvollstreckung von Steuerschulden müssen sich an die im Ergänzungsgesetz statuierten allgemeinen Normen halten. Eine unbeschränkte Autonomie ist keine, sondern Souveränitat. Und die Gliedstaaten haben keine Steuersouveränität, eben weil die Ausübung ihrer verfassungsrechtlich festgelegten Kompetenzen einheitlich sein muss, wobei diese Vereinheitlichung durch die Einhaltung gemeinsamer allgemeiner Normen gewährleistet wird. Man sieht sofort, dass es eine Beziehung der Koimplikation zwischen den Idealen der Vereinheitlichung und Vielfalt in der Föderation gibt, da die Anhebung des einen die Absenkung des anderen mit sich bringt: ein Zuviel an Vereinheitlichung zerstört am Ende die Autonomie des Gliedstaats und verwandelt den Bund in einen Einheitsstaat; ein Zuviel an Vielfalt hebt am Ende die Vereinheitlichung auf und verwandelt die Gliedstaaten in bloße unabhängige Staaten. Obwohl es keine Formel gibt, die genau den Zeitpunkt festlegen kann, an dem ein Bundesstaat zerfällt, kann man abstrakt behaupten, dass keines der beiden Ideale übermäßig angestrebt werden sollte. In den verschiedenen historisch konsolidierten Gestalten hat der Bundesstaat Vielfalt und Einheitlichkeit zu harmonisieren. Die allgemeinen Normen über die Schaffung und das Erlöschen von Steuerpflichten wurden in der nationalen Abgabenordnung konsolidiert. Diese wurde durch ein einfaches Gesetz eingeführt, das seinerseits von der CF/88 den Status eines Ergänzungsgesetzes erhalten hat, da die Nationale Abgabenordnung die dieser Normquelle von der Verfassung zugeschriebene Funktion hat. Dieses Gesetz bündelt, bildlich gesprochen, die Grundregeln der Geburt, des Lebens und Sterbens der Steuerpflichten. Das besagt nicht, dass es keine anderen Ergänzungsgesetze allgemeiner Natur gibt, wie diejenigen, deren Zweck die Gewährleistung derselben vereinheitlichenden Absichten im Hinblick auf spezifische Steuern ist. Man erinnere sich diesbezüglich an das Ergänzungsgesetz, das allgemeine Normen über die bundesstaatliche Warenumsatzsteuer und die Dienstleistungen im Transportund Kommunikationswesen einführt (Ergänzungsgesetz Nr. 87/86), und an das Ergänzungsgesetz, das die Ausübung der Gemeindekompetenz zur Einführung der Steuer über Dienstleistungen jeglicher Art normiert (Ergänzungsgesetz Nr. 116/03).

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Bei der Erörterung des vorliegenden Themas interessiert uns die Tatsache, dass die allgemeinen Normen unverzichtbare Mechanismen für die Gewährleistung der Zustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung sind. Sie sind Mittel im Dienst der Gewissheitsfunktion wegen der Abstraktion und Typisierung, und Mittel im Dienst der Gleichheitsfunktion wegen ihrer Allgemeinheit in puncto Festlegung von Kompetenzen bei der Konkretisierung der Beziehung zwischen den Steuerzahlern und einem bestimmten Bundesmitglied und zwischen den Gliedstaaten untereinander, und zwar mit der höheren Funktion der Rationalisierung der Ausübung der Besteuerungskompetenzen, wodurch sie eine nichtrealisierbare spontane Ordnung vermeiden57. Ohne sie – und dies mag genügen, um ihre Bedeutung zu verdeutlichen – kann der Steuerzahler nicht seiner wirtschaftlichen Tätigkeit in der Gegenwart nachgehen und auch keine rechtlich informierte strategische Planung seiner Zukunft im gesamten Hoheitsgebiet der Föderativen Republik Brasilien durchführen, da Reichweite, Zugänglichkeit, Stabilität und Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung nicht vorliegen. Eben deshalb haben die allgemeinen Normen auch eine oft verkannte expletive Funktion. Die Lektüre der Bestimmungen der nationalen Abgabenordnung kann allerdings zum Schluss verleiten, dass mehrere Bestimmungen überflüssig sind58. Man betrachte nur einige Beispiele: Man kann behaupten, dass es tautologische Bestimmungen gibt, wie diejenigen, die statuieren, dass die nationale Abgabenordnung das Abgabensystem regelt (Art. 1 und 2) oder diejenige, die bei der Einführung zum Kapitel der Auslegung und Anwendung von steuerrechtlichen Normen statuiert, dass diese gemäß den Bestimmungen im Kapitel (Art. 107) ausgelegt und angewandt werden. Diese Bestimmungen erinnern an den Kalauer auf dem Schild des Malers: „Ich streiche Häuser zuhause.“ Man könnte ebenso sagen, dass es repetitive Bestimmungen gibt, die einfach schon in der Verfassung enthaltene Artikel wiederholen: so reproduzieren die Art. 9 bis 11 die in den Art. 150 ff. vorgesehenen verfassungsrechtlichen Beschränkungen der Besteuerungsgewalt; die Art. 19 bis 85 der Abgabenordnung die Aspekte der in den Art. 153 bis 156 normierten Tatbestände der Kompetenzregeln; Art. 97 reproduziert die in Art. 150 Abschnitt I enthaltene Regel der Gesetzmäßigkeit; Art. 104 wiederholt Art. 150 III b; Art. 105 und 106 reproduzieren die in Art. 150 III a vorgesehene Bestimmung. Man kann gleichfalls behaupten, dass es Bestimmungen gibt, die implizite Normen festlegen, d. h. Normen, deren Inhalt schon durch eine systematische Auslegung der Verfassung selbst ableitbar ist: so ergibt sich die in den Art. 6 und 7 enthaltene Bestimmung, dass die Kompetenz nicht delegierbar ist und auch von 57

Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Segurança jurídica e normas gerais tributárias, in: RDT 17/18 (1981), S. 53 sowie 55. 58 Zu diesem Thema s. stellvertretend für alle anderen Autoren Ricardo Lobo Torres, Normas de interpretação e integração do Direito Tributário, 3. Aufl., S. 21 ff.

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der Beitreibungsfunktion zu unterscheiden ist, aus der Natur der Kompetenzregel selbst und des Postulats des Vorrangs der Verfassung; die in Art. 14 vorgesehene Bestimmung, nach der die Immunität von der Einhaltung verfassungsrechtlicher Voraussetzungen abhängt, ergibt sich aus dem Inhalt selbst der in den Paragraphen von Art. 150 der Verfassung vorgesehenen Regeln; die Bestimmung in Art. 108 §§ 1 und 2, nach der die Analogie nicht die Beitreibung einer nicht im Gesetz vorgesehenen Steuer rechtfertigen kann und die Billigkeit nicht zur Befreiung von der geschuldeten Steuer führen kann, ist eine Spezifizierung, die sich schon aus der in Art. 150 I vorgesehenen Regel der Steuergesetzmäßigkeit ergibt; die Bestimmung in Art. 109, derzufolge Rechtsbegriffe des Privatrechts nicht zur Änderung von Steuerwirkungen taugen, ergibt sich aus dem Vorrang der verfassungsrechtlichen Kompetenzregeln und der Spezialität der Steuernormen; die Bestimmung von Art. 110, dass Verfassungsbegriffe nicht vom Steuergesetzgeber geändert werden können, ergibt sich aus der beschränkenden Natur der Kompetenzregeln und dem Vorrang der Verfassung; die Bestimmung in Art. 111 der nationalen Abgabenordnung, dass Steuervorteile wörtlich auszulegen sind, kann durch die Prüfung der Ausnahmenatur der Steuerentlastung gemäß der Bestimmung in Art. 150 I und § 6 der Verfassung konstruiert werden; die Bestimmung in Art. 112, nach der die Strafen auf eine dem Angeklagten günstige Weise zu verhängen sind, kann aus der in Art. 5 der Verfassung verbotenen Rückwirkung der Strafe abgeleitet werden; die Bestimmung in Art. 142, derzufolge der Steuerveranlagungsakt gebunden ist, kann aufgrund der Regel der Gesetzmäßigkeit und der in Art. 37 der Verfassung statuierten Verwaltungsprinzipien (vor allem der Forderungen nach Gesetzmäßigkeit, Unpersönlichkeit und Sittlichkeit) konstruiert werden, und so weiter. Strenggenommen kann man sogar sagen, dass die auf den Begriff der Abgabe bezogenen Bestimmungen (Art. 3) und die auf die bei der Abgrenzung der Abgabentypen zu berücksichtigenden Elemente bezogenen Bestimmungen (Art. 4) auch bloße materiale Implikationen von Verfassungsnormen sind: einerseits führt die Gesamtprüfung der verfassungsrechtlichen Abgabennormen zum Schluss, dass der Begriff der Abgabe gesetzlich statuierte Geldleistungen beinhaltet, die keine Sanktionen für rechtswidrige Handlungen sind; andererseits erlaubt schon die Auslegung der in den Kompetenzregeln enthaltenen Elemente die genaue Angabe der rechtsrelevanten Elemente für die Gestaltung eines jeden Abgabentypus, unabhängig davon, ob sie Tatsachen (Steuern) sind, Voraussetzungen (Beiträge zum Eingriff in die Wirtschaft und Zwangsanleihen) oder Zwecke (Sozialversicherungsbeiträge), ob sie getrennt oder zusammen auftreten. Wenn wir somit die tautologischen, repetitiven, impliziten und konkretisierenden Bestimmungen außer Acht lassen, einschließlich der bloß begrifflichen oder didaktischen Bestimmungen wie derjenigen, welche Begriffe wie „Steuergesetzgebung“ (Art. 96), „Ergänzungsnormen“ (Art. 100), „Steuertatbestand“, „Hauptpflicht“ und „Nebenpflicht“ (Art. 113) definieren oder einfach privatrechtliche Begriffe aufnehmen, wie diejenigen, welche die „Haftung“ normieren (Art. 128 ff.), bleibt die Frage, wozu die Nationale Abgabenordnung überhaupt gut ist.

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Wir verkennen nicht, dass die Einführung einer Abgabenordnung mit allgemeinen Normen die Aufmerksamkeit vom grundlegenden Normierungsinstrument, nämlich der Verfassung, ablenkt. Der Einsatz von Ataliba und Carrazza beweist dies zur Genüge59. Wir verkennen ebensowenig, dass die Wiederholung und Konkretisierung von Verfassungsbestimmungen negative Wirkungen zeitigt. Man denke nur an Artikel, die wiederholt werden, jedoch ohne die vollständige Berücksichtigung der Bestimmung, die Gegenstand der Wiederholung ist, wie in den Fällen der Art. 21 und 25 der nationalen Abgabenordnung, die sich auf die Außenhandelssteuern beziehen und das verdichtet haben, was die CF/88 in Art. 150 § 1 der Verfassung bestimmen würde. In der Tat: statt nur die Prärogative der ausführenden Gewalt zur Änderung der „Sätze“ dieser Steuern zu nennen, haben sie diese Befugnis auch im Hinblick auf die „Berechnungsgrundlage“ vorgesehen, entgegen der Verfassung. Man denke auch an den Fall von Art. 110, der den Steuergesetzgeber an der Änderung von Begriffen des „Privatrechts“ hindert, die von der Verfassung verwendet worden sind, um Kompetenzen festzulegen oder zu beschränken, und keine Begriffe des öffentlichen Rechts (Lohn) oder gar des Steuerrechts (Umsatz) erwähnt, die ebenfalls von der Verfassung zum gleichen Zweck verwendet werden. Kurz: Wiederholung, die angeblich helfen soll, richtet nur Schaden an. Selbst wenn man dieses Risiko berücksichtigt, darf man nicht die Orientierungsfunktion der allgemeinen Normen verkennen, womit wir endlich zum Punkt kommen, um den es hier geht. Zweck der allgemeinen Normen ist die Steigerung des materialen und intellektuellen Zugangs zu den Steuernormen für alle Rechtsanwender, unabhängig davon, ob sie das Steuerrecht studieren, Steuerzahler sind, die sich auf alle Abgaben als „Gebühren“ und auf den früheren Beitrag über Finanztransaktionen als „Schecksteuer“ betrachten, oder gar Beamte sind, die sich im Verwaltungsrecht gut auskennen, im Steuerrecht aber Laien sind. Hier ist die expletive Funktion ein Instrument der Rechtssicherheit. Wie viele Adressaten von Abgabennormen können denn leicht verstehen, dass die Nichtdelegierbarkeit der Besteuerungsgewalt sich aus der föderativen Struktur des Steuerwesens herleitet, oder dass die Unveränderlichkeit der steuerrechtlichen Begriffe sich aus der einschränkenden Natur der Kompetenzregeln und des Vorrangs der Verfassung ergibt? Sousa sah in der nationalen Abgabenordnung ein Instrument der Erkennbarkeit und Berechenbarkeit des Steuerrechts durch Festlegung „bestimmter Allgemeinprinzipien, die obligatorisch von den Steuergesetzen des Bundes, der Bundesstaaten und der Gemeinden zu befolgen sind“60 – also nicht mehr als ein Instrument der Rechtssicherheit im Steuerrecht. Maior Borges formuliert hier kategorisch: „Die Nationale Abgabenordnung ist ein Magazin allgemeiner steuerrechtlicher Normen im Dienst der Rechtssicherheit“61. Ferraz Júnior schlägt ebenfalls diesen Weg ein, 59

Geraldo Ataliba, Sistema constitucional tributário brasileiro, S. 15; Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 54. 60 Rubens Gomes De Sousa, Compêndio de Legislação Tributária, S. 190. 61 José Souto Maior Borges, Segurança jurídica: sobre a distinção entre competências fiscais para orientar e atuar o contribuinte, in: RDT 100 (o. J.), S. 24.

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wenn er einräumt, dass „die Existenz allgemeiner steuerrechtlicher Normen von grundlegender Bedeutung für die Rechtssicherheit ist, sei es aus der Perspektive des Senders (Gewissheitsfunktion), sei es aus der Perspektive des Empfängers (Gleichheitsfunktion)“62. Dieselben Bemerkungen hinsichtlich der Nutzlosigkeit einiger Bestimmungen der nationalen Abgabenordnung können auch in Bezug auf die CF/88 gemacht werden. Auch hier gibt es Bestimmungen, die strenggenommen bloß expletive Versionen von in der Verfassung schon implicite oder explicite vorgesehenen Normen sind. Einige Beispiele zeigen dies: so ist die Bestimmung in Art. 145 § 1, die den Gliedstaaten verbietet, Steuerzahler in gleichwertiger Situation ungleich zu behandeln bei Verbot jeglicher Unterscheidung aufgrund der beruflichen Tätigkeit oder Funktion derselben, eine notwendige Folge des allgemeinen Gleichheitsprinzips, das schon im Obersatz von Art. 5 enthalten ist; die Bestimmung in Art. 145 § 1, nach der Steuerzahler nach ihrer Leistungsfähigkeit zu behandeln sind, ist eine Folge des Gleichheitsprinzips, das die Wahl differenzierender Kriterien erfordert, die mit dem Differenzierungszweck verbunden sind; die Bestimmung in Art. 150 I, derzufolge nur das Gesetz Abgaben einführen oder erhöhen kann, ist eine Implikation der Prinzipien des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung, die staatliches Handeln fordern, das an die Bestimmung in abstrakten und allgemeinen Regeln gebunden ist, und die schon in den Art. 1 und 2 positiviert sind; die Bestimmung in Art. 159 III a, die den Gliedstaaten die Eintreibung von Abgaben verbietet, die sich auf vor Inkrafttreten des sie einführenden oder erhöhenden Gesetzes eingetretene Steuertatbestände beziehen, ist eine mittelbare Folge der in CF/88 Art. 1. bzw. 5 statuierten Prinzipien des Rechtsstaats und der Rechtssicherheit; die Bestimmung in Art. 150 IV, derzufolge die Bundesstaaten keine Steuer mit Konfiskationswirkung erheben dürfen, ist eine logische Implikation der Positivierung der Grundrechte der Freiheit und des Eigentums, deren Kern nicht ohne den Verlust ihrer Wirksamkeit einschränkbar ist; die Bestimmung in Art. 151 I, welche die Einführung einer Abgabe verbietet, die nicht im gesamten Hoheitsgebiet Brasiliens vereinheiticht ist oder einen Unterschied zugunsten bzw. eine Bevorzugung eines Bundesstaats, des Bundesdistrikts oder einer Gemeinde zu Lasten eines anderen Bundesstaats, des Bundesdistrikts oder einer Gemeinde impliziert, eine Folge des in CFR/88 Art. 1 statuierten Bundesprinzips, und so weiter. Ebensowenig wird verkannt, dass diese Bestimmungen auch negative Wirkungen zeitigen können. Die Bestimmung der Regel des an den Steuertatbestand gebundenen Rückwirkungsverbots kann, wie später noch zu beweisen sein wird, irrtümlich als Ermächtigung zur Einführung retrospektiver Wirkungen in allen Fällen verstanden werden, in denen der Steuertatbestand noch nicht eingetreten ist. Die Bestimmung über das Verbot der Einführung einer Abgabe mit Konfiskationswirkung kann irrtümlicherweise so ausgelegt werden, als ob die Verfassung 62 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Segurança jurídica e normas gerais tributárias, in: RDT 17/18 (1981), S. 55.

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mit dem Verbot einer konfiskatorisch wirkenden Abgabe ein übermäßiges Bußgeld erlaubt hätte. Selbst so – und hiermit kommen wir zum Punkt zurück, um den es hier geht – erfüllt die CF/88 eine wertvolle Orientierungsfunktion für die Ausübung der in den Kompetenzregeln vorgesehenen Macht, zumal nicht alle Behörden und nicht alle Steuerzahler in dieser ausgedehnten Föderation, die aus Tausenden von Bundesmitgliedern besteht, halbwegs in der Lage sind, von vornherein und klar Normen zu erkennen, die nur eine komplexe logische Implikation aufdecken kann. In Deutschland stellt sich dieses Problem nicht, zumal, wie schon bei der Prüfung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Rechtssicherheit festgestellt wurde, das Grundgesetz viel knapper und direkter als die CF/88 bei der Statuierung der Garantien und Grundrechte verfahren ist. (3) Zugehörigkeit Eines der Probleme, welche die Verständlichkeit der Normen behindern, ist die Einführung von Normen über ganz unterschiedliche Themen in einem einzigen Gesetzgebungstext. Diese auch „Omnibusgesetze“ genannten Gesetze sind normalerweise dadurch gekennzeichnet, dass sie in ihrem Schlussteil und ganz aleatorisch verschiedene Sachbereiche normieren, auch durch Aufnahme von Bestimmungen mit unbestimmtem Widerruf („Gegenteilige Bestimmungen werden hiermit aufgehoben“) oder von Bestimmungen mit komplexem Widerruf („Bestimmungen aller nachfolgend aufgezählten Gesetze werden widerrufen“). Es springt ins Auge, dass diese Lösung direkt gegen die Pflicht der Verständlichkeit des Rechts verstößt, da sie einen hohen Grad von Ungewissheit belässt63. Damit die gesetzgeberische Innovation in dieser Lage das Rechtssicherheitsprinzip befolgt, bedarf es einerseits der Behandlung eines einzigen Themas an Stelle von mehreren in jedem Gesetz. FürSteuervorteile hat die CF/88 ausdrücklich gefordert, dass ihre Einführung durch ein sie ausschließlich regelndes Gesetz erfolgt (Art. 150 § 6). Diese für die Steuerbefreiung geltende Forderung muss auch für die Steuerbelastung gelten. Das Ergänzungsgesetz Nr. 95/98 hat ebenfalls statuiert, dass mit Ausnahme von Kodifikationen jedes Gesetz nur einen Gegenstand behandelt und auch keine diesem Gegenstand fremde oder mit ihm nicht durch Verwandschaft, Zugehörigkeit oder Konnexion verbundene Materie enthält (Art. 7 I und II). Andererseits muss, wie in der Vergangenheit in Spanien üblich, die neue Bestimmung ausdrücklich die früheren, teilweise oder gänzlich aufgehobenen Bestimmungen enthalten64. Diese Forderung steht auch im Ergänzungsgesetz 63

Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 78 sowie 84. 64 Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 94.

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Nr. 95/98, wenn es in der Fassung des Ergänzungsgesetzes Nr. 107/01 bestimmt, dass die Widerrufsklausel ausdrücklich die aufgehobenen Gesetze bzw. gesetzlichen Bestimmungen enthält. Das deutsche Grundgesetz enthält diese spezifische Forderung nicht, aber Art. 105 Abs. 3 statuiert: „Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) ganz oder zum Teil zufließt, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates.“

cc) Möglichkeit der normativen Identifikation (1) Anwendbare Norm Die Bürger können Kenntnis von der Existenz und Geltung von Normen im Allgemeinen, jedoch nicht ein Mindestmaß an Gewissheit in Bezug auf die zu befolgende Norm innerhalb des ausgedehnten Kosmos der modernen Rechtsordnungen haben. Man kann zweifeln, welche Gesetzesnorm im Fall des Widerspruchs zwischen den Normen zu befolgen ist. In einigen Fällen kann man sogar Gewissheit hinsichtlich der zu befolgenden Gesetzesnorm haben, aber diese Gewissheit schlägt in Zweifel um, wenn gerichtliche Entscheidungen vorliegen, welche die Anwendbarkeit der genannten Gesetzesnorm infragestellen und ihre Verfassungswidrigkeit behaupten, sei es für alle Bürger oder für einen besonderen Bürger. In diesem Fall ist die anwendbare Gesetzesnorm bestimmt, nicht jedoch ihre Geltung. In emblematischeren Fällen gibt es konträre gerichtliche Positionen hinsichtlich der Geltung der anwendbaren Norm. Dieser Antagonismus ist manchmal synchron: zu einem gegebenen Zeitpunkt gibt es zwei widersprüchliche Entscheidungen verschiedener Spruchkörper ein und desselben Gerichts oder verschiedener Gerichte. In anderen Fällen ist der Konflikt diachron: dasselbe Spruchkörper fällt zu einem bestimmten Zeitpunkt eine und zu einem anderen Zeitpunkt eine andere Entscheidung über dieselbe Gesetzesnorm. Der Adressat weiß dann zwar, welche Norm er zu befolgen hat, nicht aber, ob sie auch vom juristischen Standpunkt aus Befolgung verdient wegen der Kontroverse hinsichtlich ihrer Geltung zu einem Zeitpunkt oder in einem Zeitabschnitt. Ein Beispiel möge dies verdeutlichen: 1996 wurde das Gesetz Nr. 9.430/96 verkündet, dessen Art. 56 die vorher durch Art. 6 II des Ergänzungsgesetzes Nr. 70/91 gewährte Steuerbefreiung aufhob. So mussten ab 1996 die Dienstleistungsgesellschaften bürgerlichen Rechts in einem geregelten Beruf vom Standpunkt der anzuwendenden Gesetzesnorm einen Sozialbeitrag auf ihre Einnahmen entrichten. Man kann behaupten, dass es vom Standpunkt des Gesetzgebers aus durchaus Klarheit über die anwendbare Norm gab. Diese Norm wurde jedoch vor Gericht angefochten. Zwischen 2002 und 2003 fällte dann das Oberste Bundesgericht Entscheidungen über die Verfassungswidrigkeit der Beitreibung mit dem Argument, dass es eine hierarchische Beziehung zwischen dem Ergänzungsgesetz und dem einfachen Gesetz gäbe, weshalb die in diesem Gesetz enthaltene Norm nicht eine in jenem Gesetz befindliche Norm

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aufheben könnte65. Diese Auffassung des Gerichts wurde 2003 in der Leitsatzentscheidung Nr. 276 aufgegeben, derzufolge die Steuerzahler nicht den Beitrag auf die Einnahmen entrichten müssten66. 2007 hat der Obergerichtshof der Justiz (Superior Tribunal de Justiça) zuerst in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (ação cautelar) und dann auf ein außerordentliches Rechtsmittel (recurso extraordinário) entschieden, dass es keine hierarchische Beziehung zwischen dem Ergänzungsgesetz und dem einfachen Gesetz gäbe, wenn die Materie nicht von der Verfassung dem Ergänzungsgesetz vorbehalten sei67. Die Gesellschaften bürger­ lichen Rechts für Dienstleistungen in einem geregelten Beruf müssten die Beiträge auf ihre Einnahmen entrichten. 2008 wurde diese Auffassung in einer Entscheidung über eine direkte Klage auf Verfassungswidrigkeit bestätigt68. Dieser Fall, der hier in seinen allgemeinen Aspekten untersucht worden ist, ohne die für andere Probleme relevanten Fragen zu erörtern, beweist die Ungewissheit im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Gesetzesnormen: zwischen 1996 und 2003 gab es eine klare Gesetzesnorm, welche die Steuerzahler den Beitrag auf die Einnahmen zu zahlen anwies; ab 2002 hat der Obergerichtshof der Justiz entschieden, dass diese Zahlungspflicht nicht bestehe, und damit die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit des Steuergesetzes ins Wanken gebracht; 2003 hat dieses Gericht in einer vereinheitlichenden Leitsatzentscheidung festgelegt, dass der besagte Beitrag nicht zu zahlen sei; 2007 hat der der Oberste Bundesgerichtshof dann entschieden, dass die 1996 verkündete Gesetzesnorm verfassungsmäßig sei. Welche Norm ist nun anwendbar: die Gesetzesnorm mit Geltungsvermutung, die nie vom Obersten Bundesgerichtshof für verfassungswidrig erklärt worden ist, oder die vom Obergerichtshof der Justiz ausgelegte Gesetzesnorm, die er für mit dem angeblich höherrangigen Ergänzungsgesetz unvereinbar erklärte? Welche Norm ist aus der Sicht der Adressaten anwendbar: die Gesetzesnorm oder die gerichtlich ausgelegte Gesetzesnorm? Und falls es die vom Gericht ausgelegte Gesetzesnorm ist, wird sie von welchem Gericht ausgelegt: vom Obergerichtshof der Justiz oder vom Obersten Bundesgerichtshof? Diese Betrachtungen, denen andere hinzugefügt werden könnten, beweisen, dass die materiale Erkennbarkeit nicht nur von der Kenntnis der anwendbaren Normen 65

RESP Nr. 227939, Erste Sektion, Berichterstatter: Richter Milton Luiz Pereira, DJ 12. 03. 01; RESP Nr. 260960, Erste Sektion, Berichterstatter Humberto Gomes de Barros, DJ 26. 03. 01; AgR im RESP Nr. 297461, Erste Sektion, Berichterstatter: Richter Franscisco Falcão, DJ 03. 09. 01; RESP Nr. 422741, Erste Sektion, Berichterstatter: Richter José Delgado, DJ 09. 09. 02; EDcl im AgRg no RESP Nr. 422342, Erste Sektion, Berichterstatter: Richter Paulo Medina, DJ 17. 03. 03; RESP Nr. 221710, Zweite Sektion, Richter Peçanha Martins, DJ 18. 02. 02; ED im AgRg im RESP Nr. 258630, Zweite Sektion, Richterin Eliana Calmon, DJ 09. 09. 02. 66 Leitsatz Nr. 176, Erste Sektion, DJ 02. 06. 03. 67 AC-MC-AgR Nr. 1717, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 28. 09. 07. RE Nr. 377.457, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, entschieden am 19. 09. 08, DJe 19. 12. 08. RE Nr. 381.964, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, entschieden am 17. 09. 08. DJe 29. 09. 08. 68 ADI Nr. 4.071, Plenum, Berichterstatter: Richter Menezes Direito, DJe 13. 10. 08.

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abhängt, sondern auch von der Kenntnis der anwendungsbezogenen Normen. Anders gesagt, besteht Klarheitsbedarf nicht nur im Hinblick auf Normen ersten Grades (Objektnormen), sondern auch im Hinblick auf Normkonflikte regelnde Normen (Antinomieregeln), welche ihre Anwendung strukturieren (normative Postulate) und ihre Bedeutung und Geltung bestätigen (Gerichtsentscheidungen). Außer der Normklarheit besteht sozusagen Bedarf an Klarheit über die Normen der Normen. Wenn es Sicherheit hinsichtlich der Existenz und Geltung gibt, aber keine Sicherheit in der Identifizerung, kann man strenggenommen nicht mit minimaler Gewissheit wissen, welche Norm auf den Fall anwendbar ist69. Man kann die „Rechtsordnung“ nicht befolgen, auch nicht ausschließlich „Prinzipien“, wenn es um die Einhaltung punktueller Steuerpflichten geht. So wenig sinnvoll die Anordnung „beobachte!“ ohne den Verweis auf den aufmerksamkeitswürdigen Gegenstand ist, da man nicht alles beobachten kann, ist die Erfüllung einer nicht in einer Regel der Rechtsordnung enthaltenen Verhaltenspflicht70. In diesem Sinn muss die anwendbare Norm diejenige sein, die vermutbar gilt und unmittelbar auf das jeweils untersuchte Verhalten anwendbar ist. Zu diesem Verständnis gelangt man durch die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Regeln der Gesetzmäßigkeit, sowohl der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, nach der man alles tun oder lassen darf, solange nicht ein Gesetz etwas anderes bestimmt (Art. 5), als auch der steuerrechtlichen Gesetzmäßigkeit, nach der man nur aufgrund eines Gesetzes Abgaben einführen bzw. erhöhen kann (Art. 150). Im deutschen Grundgesetz ist das Prinzip der Gesetzmäßigkeit in Art. 2 Abs. 2 enthalten, wonach Freiheitsrechte „nur auf Grund eines Gesetzes“ eingeschränkt werden dürfen, und in Art. 19 Abs. 1, wo gefordert wird, dass dieses Gesetz „allgemein und nicht nur für den Einzelfall“ gilt. Anders formuliert: der Steuerzahler muss das Gesetz befolgen. Falls es einen Konflikt zwischen den gesetzlichen Regeln gibt, ist ein Rekurs auf die Regeln der Auflösung von Antinomien notwendig: die höherrangige Norm verdrängt die niedrigere Norm (hierarchisches Kriterium); die spätere Norm verdrängt die ältere, wie Art. 2 des Einführungsgesetzes des Bürgerlichen Gesetzbuchs bestimmt (chronologisches Kriterium), und die Spezialnorm verdrängt die allgemeine Norm (Spezialitätskriterium). Hier ist nicht der Ort, um das kontroverse Thema der Antinomien zu erörtern. Trotzdem ist es im Hinblick auf das zur Diskussion anstehende Thema wichtig, eine Vermutung über die Anwendbarkeit zugunsten der gültigen gesetzlichen Spezialnorm auszusprechen. Sie muss der Adressat ja befolgen, vorbehaltlich natürlich einer gerichtlichen Entscheidung mit allgemeiner Wirkung oder einer gegenteiligen gerichtlichen Entscheidung, deren Rechstkraft nur den Adressat erfasst. Ob die Norm anwendbar ist, richtet sich also nach den Kriterien der normativen Kraft (des Gesetzes oder der Gerichtsentscheidung mit allgemeiner Wirksamkeit) und der Spezialität (spezifische Regel oder adressatenbezogene Einzelentscheidung). 69 70

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 106. José Souto Maior Borges, Obrigação tributária – uma introdução metodológica, S. 7.

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

Obwohl es eine gültige allgemeine Gesetzesnorm geben kann, da diese noch nicht vom Obersten Bundesgerichtshof für verfassungswidrig mit Wirksamkeit erga omnes erklärt worden ist, kann die Vermutung ihrer Verfassungsgemäßheit bezweifelt werden, so dass der Adressat schon nicht mehr weiß, ob er der gesetzlichen Norm oder der vom Gericht ausgelegten gesetzlichen Norm folgen soll. In diesen Situationen muss man wissen, in welchen Fällen die gerichtliche Entscheidung nicht nur die Parteien des Verfahrens, in dem sie gefällt wird, sondernalle Bürger bindet. Die CF/88 selbst antwortet also auf diese Frage. Die Entscheidungen mit allgemeiner Wirksamkeit sind nur diejenigen, die in der abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gefällt werden (direkte Klage auf Verfassungsmäßigkeit, Klage auf Feststellung der Verfassungsmäßigkeit), oder in der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit mit Bezug auf ein Gesetz, das Gegenstand eines Senatsbeschlusses (mit Suspension seiner Wirksamkeit) oder Gegenstand einer Leitsatzentscheidung gewesen ist (mit Bindung der unteren Gerichtsinstanzen und der gesamten Verwaltung). Das deutsche Grundgesetz antwortet nicht direkt auf diese Frage, ordnet aber an, dass ein Bundesgesetz die „Verfassung und das „Verfahren“ des Bundesverfassungsgerichts regelt „und bestimmt, in welchen Fällen seine Entscheidungen Gesetzeskraft haben“ (Art. 94 § 2). Diese Entscheidungen haben präskriptive Kraft: sie schaffen gerichtlich erzwingbare Verpflichtungen. Solange es nun einen strenggenommen scheinbaren Konflikt zwischen einer Gesetzesnorm und einer gerichtlichen Entscheidung mit bindender Wirksamkeit gibt, hat der Bürger zweifelsfrei die gerichtliche Entscheidung zu befolgen, aus dem einfachen Grund, dass diese bindende Kraft für alle entfaltet und in diesem Sinn die vorher anwendbare Norm ersetzt bzw. ihren Gehalt verdichtet. Es gibt allerdings Entscheidungen, die zwar keine allgemeine Wirksamkeit entfalten, jedoch einen gesellschaftlichen Orientierungszweck verfolgen, wie die einiger Spruchkörper und Gerichte, die spezifisch als Orientierung direkt an unterinstanzliche Gerichte und indirekt an die Adressaten der ausgelegten Normen gerichtet sind, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern. Dies ist z. B. der Fall bei den Entscheidungen des Obersten Bundesgerichts in Rechtsprechungs­ divergenzen (embargos de divergências) und Leitsatzentscheidungen. Ihre Funktion besteht nicht nur in der Schlichtung eines Parteienkonflikts, sondern auch in der Orientierung der Gerichte und der dem Gericht unterworfenen Bürgern in Bezug auf die Auslegung einer bestimmten Rechtsnorm. Wie Alvaro De Oliveira hervorhebt, „profiliert sich unter den vornehmlich der Vereinheitlichung der Rechtsprechung dienenden Instituten besonders deutlich der Wert Sicherheit, angesichts der Gefährdung des Gleichheitsprinzips für ähnliche oder identisch gelagerte Fälle“71. Da es darum geht, zu wissen, welche Norm anwendbar und vom Adressaten zu befolgen ist, ist nicht zu vergessen, dass die CF/88 selbst festgelegt hat, dass dies die gültige und wirksame spezifische Gesetznorm sein muss, wenn sie nicht 71

Carlos Alberto Alvaro de Oliveira, Do Formalismo no Processo Civil, 3. Aufl., S. 81.

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durch eine direkte Klage auf Verfassungswidrigkeit, Klage auf Feststellung der Verfassungsmäßigkeit oder im außerordentlichen Rechtsmittelverfahren verworfen worden ist, weil das Gesetz durch einen Senatsbeschluss oder die Veröffentlichung eines bindenden Leitsatzes suspendiert worden ist. Es kann Fälle geben, in denen eine Entscheidung, obwohl sie keine allgemeine Wirksamkeit hat, trotzdem einige Besonderheiten aufweist, die sie den Adressaten als vertrauenswürdig erscheinen lassen, wie ihr Richtigkeitsanspruch, ihre Einfügung in eine Kette von gleichgerichteten Entscheidungen, ihr Orientierungszweck usf. Obwohl sie nicht bindend ist, kann sie Wirkungen in Bezug auf diejenigen entfalten, die auf ihrer Grundlage Rechtshandlungen der Disposition über ihre Grundrechte der Freiheit und des Eigentums vorgenommen haben. Diese Elemente werden im auf den subjektiven Aspekt der Forderung nach Verlässlichkeit des Rechts bezogenen Teil dieser Arbeit untersucht werden.

(2) Wert der anwendbaren Norm Orientierungssicherheit erfordert auch, dass der Adressat nicht nur weiß, welche Norm er befolgen soll, sondern auch ihren Wert kennt. Obwohl diese Frage später im Teil über Verlässlichkeit durch Rechtssicherheit erneut aufgegriffen wird, muss die Verbindung zwischen Erkennbarkeit und Verlässlichkeit schon jetzt herausgestellt werden. Erkennbarkeit des Rechts bedarf der Klarheit über die allgemeine Folge der Nichtbefolgung der anwendbaren Gesetzesnormen. Hier geht es nicht um die Wirksamkeit des Rechts als Vorliegen institutioneller und prozeduraler Bedingungen der Rechtsgeltung, ebensowenig um Wirklichkeit oder soziale Wirksamkeit der Rechtsordnung, verstanden als durchschnittliche Befolgung der Rechtsnormen durch ihre Adressaten. Vielmehr wird stattdessen die Pflicht der Klarheit im Hinblick auf die abstrakten und allgemeinen Folgen untersucht, die bei Nichtbefolgung der Rechtsnormen eintreten: falls der Adressat, selbst wenn er die anwendbare Norm kennt, nicht minimal die ihrer Nichtbefolgung zugeschriebenen Wirkungen kennt, liegt keine Erkennbarkeit des Rechts vor. Das hier erörterte Thema hat Bedeutung sowohl für die Bestätigung ungültiger Verwaltungsakte als auch für die Erhaltung zurückliegender Wirkungen verfassungswidriger Akte durch die Variation der Wirkungen in der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit. Beide Fälle werden im auf die Verlässlichkeit des Rechts bezogenen Teil untersucht werden. Hier interessiert nur ein Teil der Diskussion: falls es eine Institutionalisierung der Bestätigung ungültiger Akte anlässlich einer diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit und der Beibehaltung der Wirkungen verfassungswidriger Akte oder Normen durch Variation der Wirksamkeit der Entscheidungen anlässlich einer abstrakten oder konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gibt, sei es durch ihre Transformation in eine Regel statt in eine Ausnahme, sei

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es durch die Abwesenheit von Klarheit im Hinblick auf die orientierenden Kriterien und der Fälle, in denen sie heranzuziehen sind, wird es auch ein Problem der Erkennbarkeit der Rechtsordnung geben: die Adressaten werden nicht mehr deutlich wissen, ob die Regel gilt oder nicht gilt und ob sie deshalb die Regel befolgen oder auf das Fehlen von Wirkungen setzen sollen, die bei Nichtbefolgung eintreten sollen. Diesbezüglich ist es notwendig, dass der Grundsatz weiterhin so ist, dass jede Nichtbefolgung der Gesetzesnorm die Anwendung der abstrakten und allgemein vorgesehenen Folge mit sich bringt. Nur Ausnahmefälle können die Abwendung von der normalen Folge, die der Nichtbefolgung der anwendbaren Gesetzesnorm zugeschrieben ist, rechtfertigen: im Fall der Verwaltungsakte nur diejenigen, die nicht leicht wiederholbare Umstände wie z. B. mit Legitimitätsvermutung während eines langen Zeitraums begangene Akte oder Akte beinhalten, die eine belastende oder synallagmatische Beziehung herstellen; im Fall der Gesetze, nur diejenigen, hier beispielhaft erwähnten, die schon Wirkungen hervorgerufen haben, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können oder deren Wirksamkeitsverlust gewiss den gemeinsamen Schutz der Grundrechte und die Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung selbst in Mitleidenschaft ziehen würde, wie schon im auf die Verlässlichkeit des Rechts bezogenen Kapitel untersucht worden ist. Wesentlich für das Vorliegen der Erkennbarkeit des Rechts ist, dass es Regeln und Ausnahmen gibt, die Ausnahmen jedoch in den meisten Fällen aufgrund minimal objektiver Kriterien merklich und kontrollierbar sein können. Wenn jedoch die Institutionalisierung der Ausnahme oder ihre allmähliche Umwandlung in eine Regel erfolgt, werden die Adressaten schon nicht mehr wissen, welche Norm sie befolgen sollen – ob die spezifische, anwendbare Gesetzesnorm oder eine andere eventuell von der Judikative angeordnete Norm. Im Extremfall wird man nicht mehr wissen, was richtig und falsch ist. Und wenn dies eintritt, wie Machado Derzi rigoros zeigt, verliert das Recht eine seiner grundlegenden Funktionen, die darin besteht, in dem Binom „Recht / Unrecht“ normative Verhaltenserwartungen zu verallgemeinern und zu stabilisieren72. Was das Recht kennzeichnet, ist die Tatsache, dass es Träger des binären Codes Recht / Unrecht ist, so dass es trotz seiner kognitiven Offenheit operativ geschlossen ist73. In pragmatischer Hinsicht dies wird natürlich durch die Transformation von Recht und Unrecht vermieden. Hier ist Preiser zu zitieren: „Je mehr Ausnahmen ein Staat hinsichtlich seiner Pflicht, das Vertrauen seiner Bürger in die Geltung seiner Gesetze zu schützen, macht, um so mehr verliert er das Vertrauen seiner Bürger und um so weiter entfernt er sich von dem Wesen eines Rechtsstaates.“74 72 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 308. 73 Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 140; Marcelo Neves, Entre Têmis e Leviatã: uma relação difícil – O Estado Democrático de Direito a partir e além de Luhmann e Habermas, S. 80 f. 74 Friedrich Preiser, Rechtsstaatswidrige Rechtsunsicherheit. Vorschläge zur Erzielung von Rechtsunsicherheit, in: DVBl 83 (1968), S. 545.

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c) Intellektuelle Erkennbarkeit: „Inhaltssicherheit“ durch Normverständichkeit aa) Verständlichkeit durch Normklarheit Normative Vorschriften können das menschliche Verhalten nur dann anleiten, wenn ihre Adressaten das, was ihnen vorgeschrieben wird, auch verstehen können75. Sicherheit, sagte schon Thomas Von Aquin, ist auf eine kognitive Fähigkeit des Menschen bezogen: „certitudo est proprietas cognitivae virtutis“76. Allzuallgemeine Beschreibungen sind also zu vermeiden, ebenso eine übertrieben genaue Schilderung77. Unter diesem Aspekt ist zu berücksichtigen, dass die Allgemeinheit oder Universalität des Adressaten ein wichtiges Instrument der Normverständlichkeit ist, jedoch weder eine notwendige noch hinreichende Bedigung, um die Vorhersehbarkeit zu erlauben. Eine an eine einzige Person gerichtete bekannte und stabile besondere Norm kann dem Einzelnen bei der Planung seines eigenen Lebens mehr helfen als eine abstrakte und allgemeine Norm78. Dies ist natürlich nur annehmbar, wenn Rechtssicherheit als Instrument verstanden wird, mit dem der Einzelne die Folgen seines eigenen Handelns vorhersehen kann. Wenn stattdessen die Vorhersehbarkeit der Folgen fremder Handlungen sowie die Bewertung der allgemeinen Vorhersehbarkeit zur Diskussion stehen, nicht bloß die Vorhersehbarkeit beim Einzelnen, wird die Allgemeinheit ein wesentliches Element. So hilft bei einer besonderen Norm, die nur ihr Adressat zur Kenntnis genommen hat, obwohl sie für ihn ein Planungsinstrument abgeben kann, den anderen Bürgern überhaupt nicht Wissen, wie der Adressat sich verhalten wird. Die Allgemeinheit ist also ein unverzichtbares Instrument für die Rechtssicherheit und die Rechte aller. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Vorliegen von besonderen Normen mit dieser Sicherheit unvereinbar ist, falls diese Normen in Übereinstimmung mit den allgemeinen Normen über ihren Erlass und ihre Abänderung und Veränderung veröffentlicht werden79. Genau das erfolgt in Brasilien mit der Forderung nach allgemeiner Norm. Klarheit wird nur durch einen hohen Grad an Information erreicht. Informationsmangel verursacht Unsicherheit: ohne die angemessene Spezifizierung der zu befolgenden Verhaltensnorm wird der Adressat unfähig, sie zu befolgen, da das 75

Andrei Marmor, Law in the age of pluralism, S. 7. Thomas von Aquin, zit nach Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit: Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘ (Teil 1), in: Archiv für Begriffsgeschichte 34 (1991), S. 169. 77 César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 79; José Juan Ferrero Lapatza, El principio de seguridad jurídica en la creación y aplicación del tributo, in: CT 1968, S. 52; Jacques Chevallier, Le Droit Économique: l’insécurité juridique ou nouvelle sécurité juridique?, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 564. 78 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 227. 79 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 215. 76

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zu wählende Verhalten nicht festgelegt wird. Der Adressat weiß, dass er etwas tun muss, aber dieses Etwas ist nicht bestimmt. Das Übermaß an Informationen verursacht ebenfalls Unsicherheit: eine übermäßige Menge sich je nach dem Blickwinkel, aus dem sie untersucht werden, kreuzender und widersprechender Spezifikationen hindert den Adressaten mangels Festlegung des zu befolgenden Befehls gleichfalls, einem Befehl Folge zu leisten,. Der Adressat weiß, dass er etwas tun muss, aber dieses Etwas ist widersprüchlich definiert. Daher die Feststellung von Arnauld, dass sowohl ein „Übermaß“ als auch ein „Untermaß an Information“ nicht verhaltensleitend sind. Man muss also die richtige Dosis wählen: dosis facit venenum 80. bb) Verständlichkeit durch Normbestimmtbarkeit (1) Über die Norm (a) Sprachliche Klarheit Wenn das Recht dazu dient, die Mensche anzuleiten, müssen sie wissen können, was es bedeutet. Deshalb muss seine Bedeutung klar sein, da ein zweideutiges, vages, obskures oder ungenaues Recht am Ende diejenigen, die von ihm angeleitet werden wollen, täuscht oder zumindest verwirrt81. Daher die Behauptung, dass die Fasslichkeit der Normen Klarheit und Genauigkeit erfordert, wobei diese die Existenzbedingung jener ist82. Aus keinem anderen Grund legt das Ergänzungsgesetz Nr. 95/98 selbst Kriterien fest, um sowohl die Klarheit als auch die Genauigkeit der Normen zu steigern (Art. 11 I bzw. II). Diese Klarheit hängt jedoch vom Maß der Normpräzisierung ab: zuviel Genauigkeit führt zur Komplexität und behindert damit die Verständlichkeit sowie kompromittiert die Allgemeinheit der Norm selbst, was seinerseits ihre Stabilität einschränkt; zuwenig Genauigkeit verhindert ihrerseits, dass das Recht seine Orientierungsfunktion wahrnimmt und hindert darüberhinaus den Bürger daran, die Rechtsfolgen seiner Handlungen vorauszusehen. Deshalb hat Zimmer gesagt, dass die Klarheit von der Durchsetzung einer „goldenen Mitte“ („juste milieu“) abhängt83. Die von der Rechtssicherheit geforderte Klarheit ist jedoch nicht mit Eindeutigkeit zu verwechseln84, da es die einzige mögliche Bedeutung nicht gibt, sondern 80

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 690. Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 214. 82 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 15. 83 Willy Zimmer, Constitution et sécurité juridique – Allemagne, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 100. 84 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 259. 81

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eine Skala zwischen dem im höchsten Grad Selbstverständlichen und dem im höchsten Grad Anfechtbaren85. (b) Inhaltsbestimmbarkeit Außer der Klarheit müssen die Normen auch eine „hinlängliche Dichte“ haben, um von den Adressaten und Anwendern befolgt werden zu können86. Die Rechtsprechung hat sich das Verständnis zueigen gemacht, wonach steuerrechtliche Normen alle Elemente der Steuerverpflichtung genau bestimmen müssen. Unter Verwendung unterschiedlicher Nomenklaturen wird behauptet, dass das Steuergesetz sich einem prononcierten Bestimmtheitsgebot unterwirft. Einige Entscheidungen des Obergerichthofs der Justiz veranschaulichen das sehr gut: „Es ist allseits bekannt, dass das Prinzip der Gesetzmäßigkeit, das im steuerrechtlichem Bereich durch Art. 150 I der Verfassung unterstrichen wird, die Notwendigkeit ausdrückt, dass das Gesetz mit absoluter Genauigkeit die Abgabetypen definiert. Dieses das Steuerrecht strukturierende Prinzip enthält das Prinzip der Typizität, nach dem das geschriebene Gesetz – im formellen und materiellen Sinn – alle Strukturelemente der Abgabe enthalten muss, näherhin den Tatbestand – materiales, räumliches, zeitliches und personales Kriterium – und die jeweilige Rechtsfolge, entsprechend der Bestimmung in Art. 97 der nationalen Abgabenordnung.“87 „In Befolgung der Prinzipien der Legalität und der Typizität, die dem Steuerrecht immanent sind, darf die Verwaltung dem Steuerzahler die Last der Besteuerung nur dann auferlegen, wenn eine strikte Adäquanz von Tatsache und Steuertatbestand vorliegt, d. h. zwischen Tatsache und ihrer tatbestandsmäßigen Beschreibung, wie aus den Akten ersichtlich ist.“88 „Das brasilianische Abgabensystem hat die Prinzipien der strikten Gesetzmäßigkeit und der Typizität übernommen, d. h. der Tatbestand muss mit allen seinen Elementen im Gesetz stricto sensu festgelegt sein (Art. 97 der Nationalen Abgabenordnung).“89 „Das im Text der Verfassung in Stein gehauene Prinzip der Gesetzmäßigkeit schreibt vor, dass niemand verpflichtet ist, etwas zu tun oder zu unterlassen, es sei denn kraft eines Gesetzes (Art. 5 II). Im Steuerrecht bedeutet das, dass keine Abgabe eingeführt, abgeschafft, erhöht oder gesenkt werden kann, es sei denn durch ein Gesetz (Art. 150 I der CF/88 und Art. 97 der nationalen Abgabenordnung). Das ist das Prinzip der strikten Gesetzmäßigkeit.“90 85

Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, S. 197. José Joaquim Gomes Canotilho, Direito Constitucional e teoria da Constituição, 7. Aufl., S. 258. 87 RESP Nr. 724779/RJ, STJ, Erste Sektion, Berichterstatter: Richter Luiz Fux, DJ 20/11/2006, S. 278. 88 AgRg im RESP Nr. 636377/SP, STJ, Zweite Sektion, Berichterstatter: Richter Humberto Martins, DJ 02/10/2006, S. 248. 89 RESP Nr. 395143/RS, STJ, Zweite Sektion, Berichterstatterin: Richterin Laurita Vaz, DJ 27/05/2002, S. 165. 90 RESP Nr. 1015855/SP, STJ, Erste Sektion, Berichterstatter: Richter José Delgado, DJ 30/04/2008. 86

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Diese Entscheidungen widerspiegeln einigermaßen die alte Diskussion über die strikte Gesetzmäßigkeit im steuerrechtlichen Bereich, die sich besonders, aber nicht ausschließlich auf das Werk von Xavier bezieht91. Es gibt jedoch zwei hier abgekürzt untersuchte Positionen, die zu berücksichtigen sind: die von Machado Derzi und die von Torres. Nach Meinung von Machado Derzi überwiegt im Steuerrecht die klassifikatorische Begriffstendenz in Anbetracht der auf die Rechtssicherheit bezogenen steuerrechtlichen Prinzipien92. Ihre Analyse geht von der Unterscheidung von „Typus“ und „Begriff“ aus: der Typus ist ein Konzept, dessen Eigenschaften alternativ sind; nicht alle sind im konkreten Fall zu verifizieren, da das Entscheidende der Gesamtzusammenhang oder ihre allgemeine Idee ist. Der Begriff hingegen konnotiert Eigenschaften, die notwendig vorliegen müssen, ohne die er nicht verifizierbar wäre93. Soweit die Position von Machado Derzi. Wir übergehen zahlreiche Probleme, die eine eingehende Untersuchung verdienen würden, und wenden uns nur einer Frage zu, die erhöhte Aufmerksamkeit verdient. Machado Derzi weist darauf hin, dass das Rechtssicherheitsprinzip im Steuerrecht nicht zulässt, dass Tatbestände Elemente enthalten, die im Interesse der Entstehung der Steuerpflicht verifiziert oder nicht verifiziert werden können, ohne dass man damit die Tatsache aus den Augen verliert, dass es mehr oder weniger unbestimmte „Begriffshöfe“ gibt und dass typologische Reste nicht geleugnet werden können, obwohl man von einer klassifikatorischen Begriffstendenz sprechen kann94. Machado Derzi beeilt sich zu klären: „Die Tatsache. dass klassifikatorische Begriffe im Recht zugelassen werden, bedeutet nicht, dass die Historizität des Rechts negiert wird, ebensowenig die Negation der Öffnung des Systems in seiner Gesamtheit“95. Da der Gesetzgeber jedoch in Rechtsgebieten, in denen das Sicherheitsbedürfnis höher ist, sich für einen klassifikatorischen Begriff entschieden hat und der Tatbestand die Zensuren „a, b und c“ vorsieht, erfordert eine Subsumtion, dass alle diese Elemente in der faktischen Situation vorliegen96. Diese Betrachtung ist, neben anderen Faktoren, der Tatsache zu verdanken, dass das Rechtssystem einer operationalen Schließung bedarf, so dass Verlässlichkeit erzeugende Verhaltensstandards möglich werden. Deshalb müssen die Legislative und Judikative der Vergangenheit zugewandt sein infolge der sich aus der Verfassung und den Gesetzen ergebenden Bindungen97. 91 Alberto Xavier, Os princípios da legalidade e da tipicidade da tributação, S. 92; Alberto Xavier, Tipicidade da tributação, simulação e norma antielisiva, S. 18. 92 Misabel de Abreu Machado Derzi, Direito Tributário, Direito Penal e Tipo, S. 191 sowie 248. 93 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 77 ff. 94 Misabel de Abreu Machado Derzi, Direito Tributário, Direito Penal e Tipo, S. 195 sowie 294; Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 122 ff. sowie 144. 95 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 120. 96 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 71. 97 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 57.

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Obwohl eine zusammengefasste Analyse immer riskant ist, können wir sagen, dass Machado Derzi das Sicherheitsprinzip „von innen her“ benutzt, d. h. als axiologisch höheres Prinzip im Vergleich zu den verfassungsrechtlichen Kompetenzregeln und den Gesetzestatbeständen, um die Auslegung seines Inhalts nicht nur in dem Sinn „einzuengen“, dass sie keine Analogie oder extensive Auslegung der Abgaben einführenden oder erhöhenden Normen duldet, sondern auch, um den Nachweis zu führen, dass die Normstruktur selbst mit den abstrakt nicht festgelegten Elemente nicht vereinbar sein kann. Sie hat Recht: Gesetzestatbestände müssen feste Zensuren erhalten, wenn eines der Elemente des Rechtssicherheitsprinzips – die Erkennbarkeit – minimal verwirklicht werden kann. Torres seinerseits weist nach, dass es auf der sprachlichen Ebene nicht möglich ist, die Welt in kompletten Tatbeständen einzufangen, weil Sprache notwendig unbestimmt ist98. Seine Analyse geht einerseits von der Unmöglichkeit der absoluten sprachlichen Bestimmung aus: Rechtssicherheit sei durch den naiven Glauben an die Möglichkeit der Schließung der Rechtsbegriffe unerreichbar. Andererseits geht seine Analyse von der Notwendigkeit aus, dass in einer durch Ambivalenz, Unsicherheit und die Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Aufgaben der staatlichen Institutionen und der Gesellschaft selbst gekennzeichneten Risiko­ gesellschaft es sogar unvorstellbar sei, zu verlangen, dass die Tatbestände geschlossene Begriffe enthielten, besonders im Fall gewidmeter Abgaben, der Sozialbeiträge und der Gebühren, die auf äußerst komplexe und technologisch wechselnde Aktivitäten erhoben werden und sich daher der klassifikatorischen Begriffsstarre entziehen99. Das will keinesfalls besagen, dass Torres die Bedeutung des Rechtssicherheitsprinzips nicht beachtet und völlig unbestimmte Tatbestände zulässt. Obwohl wiederum eine zusammengefasste Analyse immer riskant ist, können wir sagen, dass Torres das Sicherheitsprinzip „von außen her“ und in Verbindung dem, was er Legitimationsprinzipien (wie Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit) nennt, benutzt. Anders gesagt, ist er der Meinung, dass die Rechtssicherheit als allgemeines Prinzip der Rechtsordnung Prinzipien benötigt, die in der Ausarbeitung der Normen und ihrer Anwendung den Unbestimmtheitsbereich der Gesetzestatbestände einschränken und damit die Willkür staatlicher Macht einhegen. So können bestimmte Abgaben gerechtfertigt unbestimmter sein, wie z. B. die Gebühren und Beiträge, die den Anwender auf changierende, nicht in klassifikatorische Be 98 Ricardo Lobo Torres, Legalidade tributária e riscos sociais, in: Revista Dialética de Direito Tributário 59 (2000), S. 95–112; Ricardo Lobo Torres, O princípio da tipicidade no Direito Tributário, in: RDA 235 (2004), S. 207; Ähnlich Ricardo Lodi Ribeiro, Legalidade tributária, tipicidade aberta, conceitos indeterminados e cláusulas gerais tributárias, in: RDA 229 (2002), S. 313 ff.; Sérgio André Rocha, Existe um princípio da tipicidade no Direito Tributário?, in: Revista Dialética de Direito Tributário 136 (2007), S. 68–79. 99 Ricardo Lobo Torres, Legalidade tributária e riscos sociais, in: Revista Dialética de Direito Tributário 59 (2000), S. 101 sowie 103; Ricardo Lobo Torres, Interação entre princípios constitucionais tributários e princípios da ordem econômica, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação 2 – os princípios da ordem econômica e a tributação, S. 504; S. zu diesem Thema auch Ricardo Lodi Ribeiro, A segurança jurídica do contribuinte, S. 31 ff.

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griffe einschließbare Wirklichkeiten verweisen; andere Abgaben können jedoch bestimmter sein, wie z. B. die Eigentumssteuern. Wesentlich ist, dass es keine einheitliche Bestimmung der Gesetzestatbestände geben kann, da die Abgaben sich auf unterschiedliche Wirklichkeiten beziehen und nicht alle sich gleichermaßen der wechselnden gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Schutz diffuser Interessen anpassen. Außerdem will die Tatsache, dass einige Abgaben einen unbestimmteren Tatbestand haben, nicht besagen, dass ihre Konkretisierung nicht kontrolliert erfolgen kann: die Forderungen nach Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit werden das regelhafte staatliche Handeln einschränken, um festzustellen, ob die Unbestimmtheit notwendig war und die Zwangsvollstreckungsinstrumente zumutbare Unterscheidungen zwischen normierten Situationen festgelegt haben100. Diese flüchtigen Bemerkungen, denen zahlreiche andere hinzugefügt werden könnten, verfolgen ein bescheidenes Ziel: sie wollen den Nachweis erbringen, dass der Zustand der Erkennbarkeit, nicht der der Bestimmtheit, dessen Verwirklichung vom Rechtssicherheitsprinzip postuliert wird, auf mehr als einem Weg erreichbar ist. Man kann in der Tat seine Verwirklichung auf die Tatbestände der Besteuerungsregeln aufbauen, indem man die Unvereinbarkeit unbestimmter Tatbestände (durch Wechsel oder Unbestimmtheit ihrer Elemente) mit dem Ideal der Normverständlichkeit hervorhebt, so wie man seine Konkretisierung auf Legitimationsmechanismen aufbauen kann, welche die unumgängliche Unbestimmtheit der Norm mit anderen Zwecken, die der Staat gleichfalls erreichen muss, mischt. Weit entfernt davon, gegensätzlich zu sein, sind diese Lösungen komplementär. Da die Sprache unvermeidlich unbestimmt ist, wird das höhere oder geringere Ausmaß von Unbestimmtheit von der zu regelnden Situation und der Struktur der Abgabe, die sich mit ihr befassen wird, abhängen. Damit wird der größeren Unbestimmtheit des Tatbestands eine stärkere Kontrolle der Aktivitäten der ausführenden und der rechtsprechenden Gewalt nach den Postulaten der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit entsprechen. Man bemerke, dass hinter dieser Diskussion verschiedene Formen der Auffassung des Rechts selbst stehen: man kann es als Gegenstand sehen und infolgedessen die Verwirklichung der Rechtssicherheit durch die vorgängige Pflicht untersuchen, die höchstmögliche semantische Schließung der Normen mit der Zurückweisung hochgradig unbestimmter Normen zu gewährleisten, unbeschadet eines unumgänglichen Randbereichs von Unbestimmtheit; man kann es andererseits als argumentative Praxis sehen und infolgedessen die Einhaltung der Rechtssicherheit erstens durch die vorgängige Pflicht der höchstmöglichen semantischen Bestimmtheit untersuchen, aber unter Zulassung einer breiteren Unbestimmtheitsmarge, falls die Veränderlichkeit und Verbreitung des Inhalts nicht eine größere semantische Schließung erlauben, und zweitens die Einhaltung der Rechtssicherheit durch eine Kontrolle der Legitimität und Argumentation der Prozesse der 100 Ricardo Lobo Torres, Legalidade tributária e riscos sociais, in: Revista Dialética de Direito Tributário 59 (2000), S. 105.

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Normsetzung und -anwendung analysieren. Mit diesen knappen Bemerkungen soll gesagt werden, dass beide Haltungen, obgleich auf unterschiedlichen Wegen, die (übermäßige oder unnötige)  Unbestimmtheit der Tatbestände ablehnen und die Kontrolle staatlicher Willkür postulieren: die erste überwiegend durch seman­ tische, die zweite überwiegend durch argumentative Kontrolle. Weit entfernt davon, den bequemen Weg des Eklektizismus einschlagen zu wollen, wählt diese Arbeit auf der Grundlage der schon dargelegten Fundamente eine Antwort, die semantische und argumentative Elemente verbindet. Rechtssicherheit beinhaltet somit eine Art semantisch-argumentative Kontrollierbarkeit auf der Grundlage folgender Methoden: 1) Legitimation: da sich die normativen Tatbestände auf unterschiedliche Normwirklichkeiten beziehen, können sie nicht einen einheitlichen Bestimmtheitsgrad haben, zumal einige Wirklichkeiten komplexer und instabiler sind als andere, was in einigen Fällen ihre klassifikatorisch-begriffliche Erfassung unmöglich macht. In diesem Sinn ist die Legitimation für die Anwendung der Gesetzestatbestände mit einem höheren Unbestimmtheitsgrad an den Postulaten der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit zu kontrollieren. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert, dass die staatlichen Maßnahmen im strikten Sinn geeignet, mildestes Mittel und angemessen sind: die Geeignetheit ist Ausfluss der Positivierung eines zu erreichenden Ziels und erfordert, dass die eingesetzten Mittel Wirkungen hervorrufen, die zur graduellen Erreichung des Ziels beitragen; die Forderung nach dem mildesten Mittel ist Ausfluss der Positivierung mehrerer gleichzeitig zu erreichender Zwecke und erfordert, dass unter allen gleichermaßen geeigneten Mitteln zur Erreichung eines Ziels das in Bezug auf andere Zwecke am wenigsten restriktive ausgesucht wird; die Angemessenheit ist Folge der Positivierung einer Menge von Zwecken, die global zu verwirklichen sind, und erfordert, dass die Beziehung zwischen den aus der Förderung eines Zweckes sich ergebenden positiven Wirkungen und den sich aus der Einschränkung anderer Zwecke ergebenden negativen Wirkungen verhältnismäßig bleibt101. Im Fall der Bestimmung der Gesetzestatbestände schreibt das Verhältnismäßigkeitsprinzip vor, dass Tatbestände, die Träger unbestimmterer Begriffe sind, vom Gesetzgeber nur dann gewählt werden können, wenn es keine Begriffe gibt, die genauere Eigenschaften aufweisen. Andernfalls wird die Unbestimmtheit unnötig und folglich illegitim sein. So können beispielsweise bestimmte Umweltabgaben, deren Ziel der Umweltschutz ist, Tatbestände mit einem höheren Unbestimmtheitsgrad haben. Das bedeutet aber nicht, dass sie willkürlich konkretisierbar sind. Hier ist das Zumutbarkeitspostulat heranzuziehen, um das Vorliegen der Kongruenz, Äquivalenz und Billigkeit bei ihrer Konkretisierung zu kontrollieren.

101 Ricardo Lobo Torres, A legitimação dos direitos humanos e os princípios da ponderação e da razoabilidade, in: Torres, Ricardo Lobo (Hrsg.), Legitimação dos direitos humanos, 2. Aufl., S. 502 ff.

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Die Zumutbarkeits erfordert unter anderen Geboten die Konkretisierung des Begriffs unter aufmerksamer Berücksichtigung der Besonderheiten des konkreten Falls, ohne unzumutbare Behandlungen von Subjekten in gleichwertiger Situation102. So führt die Tatsache, dass der Tatbestand unbestimmter ist, nicht zwangsläufig zur Willkür bei seiner Anwendung. Da die Exekutive den (weniger) bestimmten Begriff durch sekundäre Norminstrumente, welche den Besonderheiten der konkreten Fälle Rechnung tragen, vermittels einer zumutbaren Unterscheidung zwischen den Steuerzahlern konkretisieren muss, wird der gesamte Konkretisierungsprozess der gerichtlichen Kontrolle unterstellt. Deshalb müssen die sekundären Normakte, die sich in norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften, Typisierungsvorschriften und ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften ausdrücken, mit den Idealen der Gleichheit und Billigkeit übereinstimmen103. 2) Bestimmtheit: der Interpret muss die minimalen Bedeutungen der von der Verfassung verwendeten Ausdrücke rekonstruieren, um festzustellen, ob die benutzten Termini nicht Begriffe haben, die schon Gegebstand argumentativer Objektivierungsprozesse gewesen sind. Wenn beispielsweise die Verfassung der Terminus „Lohn“ benutzt, bezieht sie sich am Ende auf den schon im Bereich der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung und Wissenschaft gebräuchlichen Sinn; wenn sie den Terminus „Umsatz“ benutzt, bezieht sie sich auf den von der vorverfassungsrechtlichen einfachen Gesetzgebung verwendeten Begriff, insbesondere auf die Gesetzesverordnung Nr. 2.397/87 und auf das Aktiengesellschaftsgesetz. In diesem Sinn ist die Auslegungstätigkeit nicht frei, da sie von Begriffen ausgeht, die schon durch die vorgängige argumentative Verwendung hochgradig bestimmt worden sind, so dass die Verwendung bestimmter Ausdrücke einen Prozess der begrifflichen Einverleibung benennt, aus dem der Interpret nicht ausscheren darf. Vermieden wird damit die Konzeption, derzufolge die Norm ausschließlich ante casum konstruiert wird, als ob es vor dem Fall keine intersubjektivierten Bedeutungen gegeben hätte, von denen der Interpret sich nicht hätte entfernen dürfen. Barzotto hat also mit seiner Behauptung Recht: „Wenn Recht Auslegung ist, müssen wir Recht und Auslegung, Gesetz und seine Auslegung identifizieren. Wo aber ist der auszulegende Gegenstand, wenn er von der Auslegung vorgegeben ist? Und falls er von der Auslegung vorgegeben ist, wie sind dann die Auslegung der Bibel, eines Kochbuchs und der Verfassung voneinander zu unterscheiden, zumal wir nicht auf einen objektiven Unterschied zwischen der Bibel, dem Kochbuch und der Verfassung vor der Auslegung rekurrieren können? Falls der auszulegende Gegenstand mit seiner Auslegung zusammenfällt, können wir nicht zwischen guten und schlechten Auslegungen mit Bezug auf den Gegenstand unterscheiden, da diesem keine Existenz außerhalb der Auslegung zukommt. Die Frage ist nicht mehr: ‚Welches ist die beste Auslegung von x?‘, da diese Formulierung unterstellt, dass x sich von der Auslegung von x unterscheidet.“104 102

Ricardo Lobo Torres, A legitimação dos direitos humanos e os princípios da ponderação e da razoabilidade, in: Torres, Ricardo Lobo (Hrsg.), Legitimação dos direitos humanos, 2. Aufl., S. 498. 103 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 21 sowie 28, 48. 104 Luis Fernando Barzotto, Filosofia do Direito: os conceitos fundamentais e a tradição jusnaturalista, S. 130 f.

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Die Auslegungstätigkeit ist also weder völlig konstruktiv noch völlig deskriptiv, sondern rekonstruktiv und situationsbezogen in Bezug auf minimale Bedeutungen von Normbestimmungen. Dieser Einverleibungsprozess ist allerdings nur möglich, wenn er durch den Verfassungskontext erlaubt wird, d. h. wenn es in der Verfassung Raum für den Begriff, den man einverleiben will, gibt. Dieser Raum wird dann existieren, wenn die Einverleibung einerseits durch die steuerrechtlichen Kompetenzregeln und andererseits durch die allgemeinen Kompetenzregeln erlaubt wird. Die Einverleibung wird erlaubt sein, wenn die gemeinsame Auslegung der steuerrechtlichen Regeln keinen anderen Begriff impliziert. Die Verfassung legt nämlich auch mittelbar Begriffe durch Implikation fest, wenn sie anlässlich der Erteilung von Befugnis an eine staatliche Instanz, nur einen Sachverhalt zu besteuern, am Ende indirekt einer anderen Körperschaft nur die Befugnis zur Besteuerung eines anderen Sachverhalts erteilt. Wenn beispielsweise die CF/88 den Bundesstaaten die Befugnis erteilt, den Verkauf von Waren, worunter das bürgerliche Recht eine „Verpflichtung, eine Sache zu verschaffen“ versteht, zu beteuern, und andererseits den Gemeinden die Befugnis zur Besteuerung von Dienstleistungen erteilt, so kann damit nur die „Verpflichtung, etwas zu tun“ gemeint sein. Da die CF/88 eine Föderative Republik einführt (Art. 1), die Gesetzgebungsautonomie der Gliedstaaten und einheitliches Handeln unter ihnen voraussetzt, wird jedem die Gewalt zur Besteuerung bestimmter Sachverhalte übertragen, deren Definition nicht mit der „ko-inzidieren“ darf, mit der die Besteuerungsgewalt einer anderen Instanz beschrieben wird. Dies bedeutet in einem ersten Schritt, dass es verfassungsrechtlichen Raum für die beabsichtige Begriffseinverleibung dann geben wird, wenn der Kontext der Steuerregeln keine vergleichbaren Termini enthält, deren gleichzeitige Verwendung eine abweichende Begriffsbestimmung impliziert. Außerdem wird die Einverleibung zu erlauben sein, wenn die gemeinsame Auslegung der allgemeinen Regeln keine andere Definition impliziert. Die Verfassung wählt ja oft ähnliche Termini bei anderen Kompetenzregeln, was dazu führt, dass die Definition, die dem in der steuerrechtlichen Regel enthaltenen Terminus zuzuschreiben ist, anders sein muss. Ein Beispiel: die CF/88 benutzte in der Fassung vor der Verfassungsänderung Nr. 20/98 den Terminus „Lohn“, um dem Bund die Kompetenz zur Einführung von Sozialbeiträgen zu erteilen. Strenggenommen gab es aber nicht nur einen einzigen Lohnbegriff, sondern zwei: Lohn gemäß dem Arbeitsrecht, auch bekannt unter dem Namen „Vergütungslohn“ (salário de remuneração) und Lohn gemäß dem Sozialversicherungsrecht, auch bekannt unter dem Namen „Beitragslohn“ (salário de contribuição). Als der Oberste Bundesgerichtshof entscheiden musste, welche der beiden Definitionen von der Verfassung übernommen worden war, kam er zum Schluss, dass der Terminus „Lohn“ in der vom Arbeitsrecht vorgesehenen Sinn verwendet worden ist, da die Verfassung selbst, als sie Eigenschaften bezeichnen wollte, die sich von denen mit dieser Definition beschriebenen unterscheiden, in Art. 201 § 5 den Ausdruck „Beitragslohn“ (salário de contribuição) als Gegensatz zur einfachen Vokabel „Lohn“ (salário) sowie in

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anderen Bestimmungen den Terminus „Arbeiter“ an Stelle des Worts „Angestellter“ verwendet hat105. Dies bedeutet, in einem zweiten Schritt, dass es verfassungsrechtlichen Raum für die beabsichtigte Begriffseinverleibung geben wird, wenn der einzuverleibende Begriff der Gesamtmenge der allgemeinen Kompetenzregeln gemäß ist, d. h. wenn der Kontext der allgemeinen Kompetenzregeln keine vergleichbaren Termini enthält, deren gleichzeitige Verwendung eine unterschied­liche Begriffsbestimmung implizieren würde. Diese Argumentation kann auch bei der Auslegung der im deutschen Grundgesetz statuierten Kompetenzen, so z. B. in Art. 105 benutzt werden. Nach alldem muss hier gesagt werden, dass die Verwendung von Termini, die schon Gegenstand einer früheren Konnotationspraxis gewesen sind, begriffliche Bezugspunkte vorgibt, die der Gesetzgeber nicht verkennen darf. 3) Argumentation: obwohl die Bezugnahme auf bestimmte Termini einen vom vorherigen Argumentationsgebrauch schon sedimentierten Prozess der begriff­ lichen Einverleibung einleitet und deswegen die Freiheit des Interpreten durch semantische Faktoren einschränkt, schließt sie nicht die Argumentation selbst aus, weil es andere nicht vorgängig semantisch bestimmte Elemente gibt. Wenn z. B. die Behauptung zutrifft, dass die Verfassung den Terminus „Umsatz“ in der in Art. 195 der CF/88 aufgestellten Regel verwendet hat, ist die Feststellung auch angemessen, dass es mindestens drei Umsatzbegriffe gibt: nach dem Handelsgesetzbuch von 1850, in dem der Begriff das Ergebnis der Verkäufe mit der Ausstellung der Rechnungen bezeichnet; nach dem Aktiengesellschaftsgesetz von 1976, in dem der Begriff das Ergebnis der Betriebstätigkeit bezeichnet; und nach der Gesetzesverordnung Nr. 2.397 von 1987, wo er das Ergebnis der Erbringung von Dienstleistungen und des Warenverkaufs bezeichnet. Als der Oberste Bundesgerichtshof sich für den handelsrechtlichen, gesellschaftsrechtlichen oder steuerrechtlichen Sinn von Umsatz entscheiden musste, kam er zum Schluss, dass dieser Terminus im steuerrechtlichen Sinn gemeint ist, wie in der Gesetzesverordnung Nr. 2.397/87 verwendet. Obwohl die Wahl nicht ausdrücklich begründet war, darf man behaupten, dass das Gericht den handelsrechtlichen Sinn unberücksichtigt ließ, weil er sehr alt und damit anachronistisch war, und den Begriff der Gesetzesverordnung Nr. 2.397/87 in Verbindung mit dem im Aktiengesellschaftsgesetz festgelegten Begriff übernahm, da er spezifischer und aktueller und damit der ihn verwendenden Kompetenzregel – einer steuerrechtlichen Kompetenzregel – angemessener war106. Diese Prüfung weist nach, dass man, wenn man wissen will, welchen Begriff die Verfassung voraussetzt, Kriterien zur Auflösung von Antinomien zusammentra-

105 Außerordentliches Rechtsmittelverfahren (Recurso Extraordinário) Nr. 166.772-9, STF, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, entschieden am 12. 05. 94, DJ 16. 12. 94, S. 34896. 106 Außerordentliches Rechtsmittelverfahren (Recurso Extraordinário) Nr. 150.755-1, STF, Plenum, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, Berichterstatter für das Urteil: Richter Sepúlveda Pertence, entschieden am 18. 11. 92, DJ 20. 08. 93, S. 16322.

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gen und dabei unter den verfügbaren Kriterien diejenige wählen muss, die sich am besten der es festlegenden Kompetenzregel anpasst. Im einem Wort, die Einverleibung geltender Begriffe aus der unterverfassungsrechtliche vorverfassungsrechtliche Rechtsordnung muss mit den steuerrechtlichen und allgemeinen Kompetenzregeln vereinbar sein. Ein mit der neuen Verfassungsordnung unvereinbarer Begriff darf nicht einverleibt werden. Diese Entscheidung ist jedoch nicht fertig vorgegeben, sondern ergibt sich aus einem Prozess der Kontextualisierung der den Termini in den Verfassungsbestimmungen zuschreibbaren Begriffe. Dieser Kontextualisierungsprozess, wie hier ausdrücklich wiederholt wird, ist von Argumenten unterschiedlichster Dimensionen durchwirkt – von sprachlichen, systematischen, genetischen, historischen und pragmatischen Argumenten107. Im Rahmen des zu lösenden Problems wird es notwendig sein, den Gebrauch der Argumente und die Vorherrschaft eines über das andere bei der beabsichtigten Normkonstruktion zu rechtfertigen108. Die wichtigste Regel ist, dass den Argumenten, die sich auf die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats zurückführen lassen, die Vorherrschaft zuerkannt wird. Auf diese Weise werden die sprachlichen und systematischen Argumente zu Lasten anderer Argumente bevorzugt109. Zu guter Letzt ist noch zu vermerken, dass die Argumentation sich nicht nur auf die Normebene beschränkt, sondern auch auf faktische Ebene erstreckt: die faktischen Elemente sind nicht vor dem Anwendungsprozess vorgefetigt, sondern hängen aber von an der Rechtsordnung ausgerichteten Wertungen ab. Obwohl es Klarheit in Bezug auf den Normbegriff geben kann, kann es Unklarheit in Bezug auf die faktische Situation geben. So können beispielsweise keine Zweifel im Hinblick auf die Verbindung des Begriffs Dienstleistung mit einer Verpflichtung, etwas zu tun, bestehen, aber es können Ungewissheiten bestehen im Hinblick darauf, ob auf der Ebene der Tatsachen eine Dienstleistung als erfolgt angesehen werden kann, weil es schwierig ist, unter den faktischen Elementen das vorwiegende zu ermitteln. Das sieht man in Fall der Besteuerung von Leasing-Geschäften oder der Industrialisierung durch Bestellung der Gemeinden an Stelle von Dienstleistungen: obwohl es Konsens in Bezug darauf gibt, dass der Begriff von Dienstleistung eine Verpflichtung etwas zu tun beinhaltet, gibt es jedoch eine Diskussion darüber, wie man wissen kann, ob diese Verpflichtung etwas zu tun auf der Ebene der Tatsachen als vorliegend angenommen werden kann. Wie schon bemerkt worden ist, folgt das daraus, dass es Probleme der Beweismittel, der Kennzeichnung, der Auslegung und der Relevanz gibt, die dem Recht immanent sind und die über bloß semantische und strikt begriffliche Fragen hinausgehen110. 107

Juha Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, S. 307. Humberto Ávila, Juristische Theorie der Argumentation, in: Heldrich, Andreas u. a. (Hrsg.), FS für Claus-Wilhelm Canaris zum 70. Geburtstag, S. 963–989. 109 Juha Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law, S. 316. 110 Neil MacCormick, Rhetoric and Rule of Law, in: Dyzenhaus, David (Hrsg.), Recrafting the Rule of Law – The Limits of Legal Order, S. 175. 108

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4) Begründung: Die Prozesse der Legitimation, Bestimmung und Argumentation müssen jedoch Gegenstand eines rationalen und schriftlichen Diskurses sein, der einerseits den Zugang zu den die Normrekonstruktion motivierenden Gründen sowie andererseits den Zugang zu den Beweisen, welche das Eintreten faktischer Elemente, auf die diese Legitimationsprozesse verweisen, gewährleisten kann. Wir unterstreichen noch einmal: die Anwendung des Rechts, einschließlich und besonders des Steuerrechts, beinhaltet sowohl Normen als Tatsachen in einer ko-implizierten Beziehung. Die Konstruktion der Tatsachen durch Sprache hängt von der Perspektive ab, aus welcher der Anwender die Tatsachen untersucht. Die anfangs anwendbare Norm kann sich am Ende als unanwendbar erweisen, je nach der Berücksichtigung der faktischen Lage111. So ist es notwendig, sowohl den normativen als auch den faktischen Teil zu begründen, indem man im Einzelnen den eingeschlagenen Weg und die für die Rechtfertigung des Ergebnisses verwendeten Fundamente angibt. Mit allen vorstehenden Betrachtungen soll gesagt werden, dass die Rechtssicherheit, wie sie hier beschrieben worden ist, sich nicht ausschließlich auf seman­tische Aspekte konzentriert, um sich stattdessen auf die Kombination semantischer und argumentativer Elemente, d. h. die Faktoren der Legitimation, Bestimmung, Argumentation und Begründung zu stützen. Mit einem Wort: statt einer Konzeption von Rechtssicherheit, die ausschließlich auf eine diskursive Methode der Begriffsbestimmung der Normprämissen gegründet ist, wird hier eine Konzeption von Rechtssicherheit vorgeschlagen, die auf eine metadiskursive und applikative Methode semantisch-argumentativer Kontrollierbarkeit gegründet ist, das heißt durch Kontrollen der Legitimation, Bestimmung, Argumentation und Begründung nicht nur der Prämissen, sondern auch der Methoden und normativen Ergebnisse. So wird an Stelle einer atomistischen Konzeption eine Art holistische Konzeption von Rechtssicherheit vorgeschlagen, gegründet auf das Gleichgewicht mehrerer Elemente112. Wir unterstreichen, dass die vorstehenden Bemerkungen nicht zur Abwendung vom sog. Tatbestandsmäßigkeitsprinzip führen. Wie schon oben gesagt worden ist, bleibt die Pflicht der Tatbestandsbestimmung so weit wie möglich bestehen113. Wenn die Materie dank der Verwendung von Termini geregelt werden kann, deren Eigenschaften schon vorher begrifflich bestimmt worden sind, ist es die Pflicht des Gliedstaats, diese Termini zu wählen und damit so weit wie möglich den Spielraum der Willkür zu reduzieren. Wo dies der Fall ist, wo die Elemente der Steuerverpflichtung gesetzlich festgelegt worden sind, darf das Handeln der Verwaltung keinesfalls über sie hinausgehen114. Immer wieder ist daran zu erinnern, dass die 111

Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 268. Gianluigi Palombella, Dopo la Certezza – Il Diritto in Equilibrio tra Giustizia e Democrazia, S. 7. 113 Luís Eduardo Schoueri, Tributação e indução econômica: os efeitos econômicos de um tributo como critério para sua constitucionalidade, in: Ferraz, Roberto (Hrsg.), Princípios e limites da tributação 2 – Os princípios da ordem econômica e a tributação, S. 163. 114 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 443 f. 112

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Regeln und Begriffe, die ihre Wörter konnotieren können, auch Werte „kristallisieren“, wie Machado Derzi formuliert, vor allem die Werte der Sicherheit und Gleichheit115. Was aber auch verstanden werden muss, ist die Tatsache, dass die Forderung nach Bestimmung nicht absolut und einheitlich für jeden Wirklichkeitsbereich ist. In einigen Fällen, die, wie wir nochmals unterstreichen, randständig sind, kann es einen geringeren Bestimmtheitsgrad geben; in anderen, allgemeinen, muss dieser Grad höher sein116. Wir weisen noch einmal darauf hin: wenn es für den Bereich, der Gegenstand der Normierung ist, bereits Termini gibt, deren Eigenschaften schon argumentative Konnotationsprozesse erfahren haben, verletzt die unnötige Verwendung von Termini mit einem hohen Abstraktionssgrad das Rechtssicherheitsprinzip. Man kann also nicht weiterhin behaupten, dass das Rechtssicherheitsprinzip sich ausschließlich oder vorwiegend durch die Bestimmung der Tatbestände konkretisiert, ohne zu akzeptieren, dass in einer modernen Gesellschaft nicht jede Wirklichkeit begrifflich „fassbar“ ist117. Eine Folge des Verständnisses der Rechtssicherheit als Forderung der Bestimmbarkeit, wie hier vertreten wird, statt absoluter Bestimmtheit, ist die Notwendigkeit, keine Strafen zu verhängen in den Fällen, in denen das Verhalten des Steuerzahlers einer der möglichen Alternativen der Normauslegung entspricht. Wenn nämlich die Rechtssicherheit im Hinblick auf die Berechenbarkeit in der Forderung nach einem Zustand besteht, in dem der Steuerzahler hochgradig imstande ist, die Bedeutungsalternativen vorwegzunehmen, wie kann er dann bestraft werden, wenn die gewählte Variante, obwohl sie sich von der später vom anwendenden Organ festgelegten unterscheidet, nach der abstrakten Norm eine der möglichen war? So führt das Verständnis des Rechtssicherheitsprinzips als Forderung nach Erkennbarkeit und Berechenbarkeit zu einer Neuinterpretation der in Art. 100 der nationalen Abgabenordnung statuierten Norm. Diese Norm schlägt die richtige Richtung ein, aber schließt nur die Verhängung von Strafen aus wenn es eine Verwaltungsentscheidung gibt, welche das Verhalten des Steuerzahlers legitimiert. Sie schließt beispielsweise nicht die Verhängung von Strafen aus, wenn der Steuerzahler auf die Geltung einer der Auslegungen des Gesetzes vertraut hat, ohne dass es eine Bedenken dafür gibt, dass der Steuerpflichtiger präventive Mechanismen zur Ausschaltung der Ungewissheit oder des Risikos der Klageerhebung ergreift, wie die Einreichung einer Anfrage oder die Erhebung einer deklaratorischen Klage mit Beantragung einer Suspensivmaßahme hinsichtlichder Fälligkeit der Steuerforderung. Bis zu diesem Punkt sind die notwendigen Voraussetzungen für die Existenz der intellektuellen Zugänglichkeit der Normen untersucht worden. Nichts wurde jedoch über den Normtypus (Regeln oder Prinzipien) gesagt, der mit der Rechts 115 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 186. 116 Ricardo Lobo Torres, Legalidade tributária e riscos sociais, in: Revista Dialética de Direito Tributário 59 (2000), S. 101 sowie 103. 117 Ricardo Lodi Ribeiro, A segurança jurídica do contribuinte, S. 58 sowie 261.

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sicherheit vereinbar ist, ebensowenig über das Maß, in dem sie mit ihr vereinbar sind. Da die Rechtssicherheit Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit erfordert, ist ein ausschließlich von Prinzipien gebildetes System mit ihr unvereinbar, da ihm minimal verständliche Verhaltenstatbestände fehlen, um die „Orientierungssicherheit“ zu gewährleisten118. Ein ausschließlich von Prinzipien gebildetes System wäre nur minimal verständlich nach seiner kontinuierlichen, einheitlichen und gerechtfertigten Anwendung durch die Judikative. In diesem Fall wären jedoch nicht die Prinzipien die erkennbarkeitsgewährleistenden Instrumente, sondern ihre sorgfältige Anwendung vermittels konkreter Vorrangsregeln. Rechtssicherheit wäre somit durch die prinzipienkonkretisierenden Regeln bereitgestellt, nicht durch die Prinzipien als solche. Daher auch die Behauptung, dass die Entscheidungsmodelle, die nicht auf vorgängige allgemeine Normen gegründet sind, sondern sich auf die Bemühung um individualisierte und fallangepasste Gerechtigkeit beschränken, mit der Rechtssicherheit unvereinbar sind119  – ein Rechtssystem also, das vorwiegend aus Regeln und nicht aus Prinzipien besteht. Unter den zahlreichen Gründen dafür ist einerseits die Tatsache zu nennen, dass Regeln, da sie beschreiben, was verboten, erlaubt oder geboten ist, die Verständlichkeit des Rechts begünstigen, andererseits der Umstand, dass Regeln, wenn ihnen ein gewisser Rigiditätsgrad zugeschrieben wird, die Gründe einschließen, die bei ihrer Anwendung zu berücksichtigen sind bzw. die Gründe ausschließen, die bei ihrer Anwendung nicht zu berücksichtigen sind120. Der Ein- und Ausschluss zu berücksichtigender Elemente fördert die rechtssicherheitsbildenden Ideale: die Erkennbarkeit, insofern die Bürger wissen, was sie berücksichtigen und was sie nicht berücksichtigen sollen; die Berechenbarkeit, da die Normanwendung, indem sie vorbestimmte Elemente positiv wertet, nicht bloß subjektiv und kapriziös, damit also willkürlich sein darf. Auf dieses Thema werden wir im der Berechenbarkeit des Rechts gewidmeten Teil zurückkommen. (2) Über die Rechtsordnung (a) Kohärenz So wie es in dieser Arbeit begrifflich bestimmt ist, erfordert das Rechtssicherheitsprinzip neben anderen Faktoren die Verwirklichung eines Sachverhalts, in dem die Bürger in hohem Maß über die Fähigkeit verfügen, die argumentativen Strukturen intellektuell zu verstehen, die mögliche Norminhalte rekonstruieren, und über die Fähigkeit, das Rechtshandlungen oder Tatsachen zuschreibbare Spek 118 Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl., S. 64; Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 50; Frederick Schauer, Thinking like a lawyer: a new introduction to legal reasoning, S. 190. 119 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 220. 120 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 230.

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trum von Folgen vorwegzunehmen und zu ermessen. Dieser Begriff setzt also die Alternativität von Inhalten und normativen Folgen voraus. Einer der Faktoren, die entscheidend zur Steigerung der Erkennbarkeit dieser Inhalte und der Berechenbarkeit der Folgen beigetragen haben, ist die Kohärenz der Rechtsordnung, die sog. materiale Konsistenz. Vom statischen Gesichtspunkt aus bezeichnet Kohärenz die graduelle Beziehung der Unterstützung, die eine bestimmte Alternative von der Rechtsordnung insgesamt erhält; vom dynamischen Gesichtspunkt aus die Forderung nach einheitlicher Anwendung der Normen121. Die statische Dimension trägt zum Abbau der Ungewissheit im Hinblick auf die Frage bei, welche Auslegungsvariante denn korrekt ist, indem sie unter den mit der Bestimmung, die Gegenstand der Auslegung ist, vereinbaren Varianten diejenige Option benennt, die von der Rechtsordnung und vor allem von deren Grundprinzipien am stärksten unterstützt wird. Die dynamische Dimension trägt zur Minderung der Ungewissheit über die in Zukunft wahrscheinlich eintretende normative Folge bei, da die Pflicht zur einheitlichen Anwendung dem Bürger erlaubt, in Kenntnis der normativen Folgen, die an vergleichbare Sachverhalte geknüpft werden, den Eintritt derselben Folge für ähnliche von ihm zu verübende Handlungen vorwegzunehmen. Auf diesen Punkt werden wir anlässlich der Forderung nach Berechenbarkeit des Rechts zurückkommen. (b) Konsistenz Die Pflicht zur Konsistenz oder formalen Kohärenz bezeichnet die Forderung nach Widerspruchsfreiheit zwischen Normen, sowohl in der Phase ihrer Verkündung durch die Legislative als auch in der Phase ihrer Anwendung122. Sie trägt gleichfalls zur Erkennbarkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung bei: da die Normen nicht miteinander in Widerspruch geraten können, reduzieren sich die möglichen semantischen Varianten auf diejenigen, die mit den axiologisch höherrangigen Normen vereinbar sind; da die Anwendung dieser Normen nicht früher gefundenen Lösungen widersprechen darf, kann der Bürger die den von ihm verübten Handlungen zugeschriebenen zukünftigen Folgen mit einem höheren Annäherungsgrad vorgwegnehmen. Daher die Behauptung, dass das Niveau der Kongruenz und Harmonie zwischen Normsätzen zum Rechtssicherheitsprinzip gehört123. 121 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 199; Susanne Bracker, Kohärenz und juristische Interpretation, S. 177; Aleksander Peczenik, Scientia Juris. Legal Doctrine as Knowledge of Law and as a Source of Law, S. 115 ff. 122 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 198. 123 Paulo de Barros Carvalho, Segurança jurídica e modulação dos efeitos, in: Revista da Fundação Escola Superior de Direito Tributário 1 (2008), S. 206.

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d) Abschließende Bemerkungen Die vorstehenden Bemerkungen erlauben folgenden vorläufigen Schluss: um von Rechtssicherheit als Forderung nach Erkennbarkeit des Rechts sprechen zu können, ist eine minimale Kenntnis der Existenz, Gültigkeit, Geltung und Wirksamkeit der Normen seitens ihrer Adressaten notwendig: sie müssen wissen, dass die Norm existiert, dass sie vermutlich gilt, dass sie Wirkungen hervorruft und wahrscheinlich mittels rechtlicher Institutionen, falls nicht spontan befolgt wird. Und damit dies eintritt, müssen die Adressaten die Norm verstehen, ihren Sinn und ihre Reichweite verstehen, ihren Wert und die Folgen ihrer Nichteinhaltung kennen. Damit soll gesagt werden, dass Erkennbarkeit entweder vollständig und mit Wirksamkeit verbunden ist oder keine Rechtssicherheit gewährleistet ist. Ein einfaches Beispiel kann dies besser veranschaulichen. Man stelle sich die Ankunft eines Brasilianers aus dem Ausland beim Zoll vor, wo ein Signalisierungssystem durch Änderung von Farben verwendet wird und „grün“ „Passieren ohne Durchsuchung“ und „rot“ „Passieren mit Durchsuchung“ durch die Zollbehörden bedeutet. Um von Normerkennbarkeit sprechen zu können, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: der Adressat muss erkennen können, um „welche Norm“ es sich handelt, in diesem Fall also wissen, dass das Durchsuchungssystem sich am Kriterium der Farbe auf der Ampel orientiert; er muss verstehen, „welchen Inhalt die Norm hat“, in diesem Fall also wissen, dass „grün“ „Passieren ohne Durchsuchung“ und „rot“ „Durchsuchung“ bedeutet; er muss verstehen, „welche Reichweite die Norm für seine Handlung hat“, in diesem Fall also wissen, dass „grün“ „Passieren“ und „rot“ „Gepäck öffnen“ bedeutet. Wie jedoch nach der Untersuchung im folgenden Teil dieser Arbeit deutlicher werden wird, reichen das Vernehmen und Verstehen des Sinns und der Reichweite der Norm nicht aus, um Sicherheit zu gewährleisten. Der Adressat muss darüberhinaus noch den Wert der Norm und die Folgen ihrer Nichtbefolgung kennen. Um bei diesem Beispiel zu bleiben, muss er wissen, ob „rot“ wirklich „rot“ bedeutet oder ob es mit Hilfe eines kleinen Tricks nicht auch „grün“ bedeuten kann oder selbst dann, wenn die Behörde es so sieht, die mit der Anwendung der Regel beauftragte Institution später diese Wertung ändern kann und dem „Rot“ dieselben Wirkungen wie „Grün“ zuschreibt. Anders formuliert: es gibt keine Rechtssicherheit, wenn der Adressat, obwohl er weiß, dass „grün“ „Passieren ohne Durchsuchung“ und „rot“ „Durchsuchung“ bedeutet und dass „grün“ „Passieren“ und „rot“ „Gepäck öffnen“ bedeutet, nicht weiß, ob der Farbe „rot“ von der Behörde als „rot“ oder „grün“ angesehen wird oder ob „rot“ von der anwendenden Behörde die gleichen Folgen wie von „grün“ zugeschrieben werden können. Rechtssicherheit erfordert also, dass das von der eingehaltenen Forderung nach Erkennbarkeit des Rechts Gewährleistete nicht durch die Nichteinhaltung der Verlässlichkeitspflicht enttäuscht wird oder, um es in einem Bild zu sagen: was vorher durch die Vordertür ins Haus gekommen ist, darf das Haus nicht durch die Hintertür verlassen. „Existenz- und Geltungssicherheit“ ohne „Anwendungssicherheit“ ergeben keine Rechtssicherheit.

I. Gehalt der Rechtssicherheit 

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So wiederholen wir hier noch einmal die These, die sich durch die ganze Arbeit zieht: Rechtssicherheit ist entweder vollständig oder existiert nicht.

2. Dynamische Dimension a) Einleitende Betrachtungen Bis zu diesem Punkt ist die statische Dimension des Rechtssicherheitsprinzips untersucht worden, d. h. der Teil der Rechtssicherheit, der sich auf die strukturellen Voraussetzungen bezieht, die das Recht erfüllen muss, um ein Orientierungsinstrument sein zu können, so dass der Bürger ohne Irrtum und in Freiheit und Autonomie seine Gegenwart rechtskonform zu gestalten vermag. Nachdem wir nun über das Problem der Rechtserkenntnis hinausgegangen sind, müssen wir seine dynamische Dimension erforschen. Sie besteht insbesondere in den Problemen der Rechtsverwirklichung und versucht folgende Frage zu beantworten: welche Elemente sind notwendig, damit der Bürger ohne Enttäuschung und Überraschung in Freiheit und Autonomie die Rechtsfolgen der in der Vergangenheit ausgeübten Freiheit und eine rechtlich informierte strategische Planung seiner Zukunft durchführen kann? Statt normbezogene Erfordernisse zu untersuchen, müsse wir Erfordernisse untersuchen, die sich auf die für die Normanwendung unverzichtbare Handlungen beziehen124. Wenn die statische Dimension sich auf die Probleme der Erkenntnis und Qualität des Rechts bezieht, bezieht sich die dynamische Dimension, deren Untersuchung hier beginnt, auf die Probleme der Handlung in der Zeit und den Übergang im Recht. Um dieses Erwünschte zu erfüllen, werden die Bedingungen der Rechtsverwirklichung untersucht: der Bürger muss wissen können, ob die gestern rechtskonform ausgeübte Freiheit heute und ob die heute rechtskonform ausgeübte Freiheit morgen geachtet wird. „Der Bürger gewinnt Vertrauen zu dem Recht, das ihm vertraut ist“ (Kirchhof125). Aber die Definition dessen, was als Element der Verlässlichkeit oder Berechenbarkeit einzufügen ist, hängt von vereinbarten Definitionen ab, da Enttäuschung oder Überraschung, obwohl begrifflich an die Idee der Zeit gebunden, nicht an irgendeine retrospektive oder prospektive Sichtweise der Analyse dieser Zeit gebunden sind. Dies erklärt beispielsweise, warum die Forderung nach Kontinuität für einige Autoren wie Arcos Ramírez untrennbarer Bestandteil der Forderung nach Verlässlichkeit durch Stabilität ist, während sie für andere, wie Hey, untrennbarer Bestandteil der Forderung nach Berechenbarkeit durch die Pflichten der systematischen Kohärenz und der Gleichheit in der Zeit ist126. Dem ist so, da

124

Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 54. Paul Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, in: StuW 2000, S. 222. 126 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 269; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 189. 125

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Termini wie „Stabilität“, „Kontinuität“ oder „Beständigkeit“ hinsichtlich ihres Inhalts und der Zeitperspektive, nach denen sie untersucht werden können, unbestimmbar sind: stabil im Sinne dessen, was sich festigt und nicht verändert, kann sich sowohl auf etwas beziehen, das in der Vergangenheit vorgefallen ist und in der Gegenwart nicht geändert werden kann, als auch auf etwas, das in der Gegenwart vorfällt und in der Zukunft nicht geändert werden kann. Dies gilt auch im Hinblick auf die Verwendung der Termini „kontinuierlich“ und „beständig“, da man sich fragen kann, ob das gestern Vorgefallene heute fortdauern oder morgen bestehen soll. Eben deshalb kann das Rückwirkungsverbot sowohl als Element der Verlässlichkeit des Rechts durch seine Stabilität eingeordnet werden, nämlich im Sinn der Veranschaulichung der Pflicht, das was gestern galt, heute zu bewahren, als auch als Element der Berechenbarkeit des Rechts durch seine bindende Natur beschrieben werden, also im Sinn von morgen bewahren, was heute gilt. Dies erlaubt uns, zu verstehen, warum das Rückwirkungsverbot von Calmes als Teil des Ideals der Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung behandelt wird127, während es von Arnauld als untrennbarer Bestandteil des Stabilitätsideals eingeordnet wird128. Aus keinem anderen Grund behauptet Ost im Bewusstsein dieser unterschiedlichen Perspektiven und unter Bezugnahme auf die Vergangenheit als „Erinnerung“ und die Zukunft als „Versprechen“, dass die Erinnerung die retrospektive Projektion des Versprechens und das Versprechen die prospektive Projektion der Erinnerung ist129. Man kann auch sagen, dass die Verlässlichkeit die retrospektive Projektion der Berechenbarkeit ist und diese letzte die prospektive Funktion der Verlässlichkeit. Beide sind zwei Seiten derselben Medaille. Ohne eine semantische Vereinbarung in Bezug auf den Gegenstand, die Perspektive und die Emphase sind also Termini wie „Verlässlichkeit“, „Beständigkeit“, „Stabilität“ und „Dauer“, weil der Gegenstand der fortgesetzten Existenz, Beständigkeit, Stabilität oder Dauer offen bleibt völlig austauschbar. Die „Zeitrichtung“ muss also (retrospektiv oder prospektiv) festgelegt werden130. Im Bewusstsein, dass Begriffe je nach der ihnen zugeschriebenen Bedeutung austauschbar sind, wurde die Bedeutung der Begriffe „Verlässlichkeit“ und „Berechenbarkeit“ in folgender These festgelegt: „Verlässlichkeit“ wird in retrospektiver Sicht (mit Blick auf die Vergangenheit, past-oriented analysis) benutzt und bezieht sich auf die Vergangenheit oder den Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart (ex post, par renvoi au passé), und zwar im Hinblick auf die Beständigkeit 127

Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 159. 128 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 324. 129 François Ost, Le Temps du Droit, S. 34; François Ost, L’Instantané ou l’institué? L’Institué ou l’instantuant? Le Droit a-t-il pour vocation de durer?, in: Ost, François / van Hoecke, Mark (Hrsg.), Temps et Droit. Le Droit a-t-il pour vocation de durer?, S. 14. 130 Mark van Hoecke, Time and Law. Is it the nature of law to last? A conclusion, in: Ost, François / van Hoecke, Mark (Hrsg.), Temps et Droit. Le Droit a-t-il pour vocation de durer?, S. 469.

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und in nachdrücklicher Konzentration auf den Gegenstand, damit die Elemente umfassend, welche die Änderung oder eine bestimmte Art von Änderung der Errungenschaft der Vergangenheit in der Gegenwart verbieten. „Berechenbarkeit“ wird in prospektiver Sicht (mit Blick in die Zukunft, future-oriented analysis) benutzt und bezieht sich auf die Zukunft oder auf den Übergang von der Gegenwart zur Zukunft (ex ante, par renvoi au futur), also im Hinblick auf den Wechsel und in nachdrücklicher Konzentration auf die Art und Weise, damit die Elemente umfassend, welche den Rhythmus des zukünftigen Wechsels des in der Gegenwart Verwirklichten vorschreiben. Anders gewendet, wird der Begriff „Verlässlichkeit“ verwendet, um das zu bezeichnen, was aus der Vergangenheit in der Gegenwart des Rechts bewahrt werden muss, während der Begriff „Berechenbarkeit“ verwendet wird, um das zu zeigen, was aus der Gegenwart beim Übergang in die Zukunft des Rechts zu bewahren ist. In der Argumentationslinie von Ost wäre die Verlässlichkeit die „Erinnerung“ des Rechts, abgemildert durch die „Verzeihung“, während die Berechenbarkeit sein „Versprechen“ wäre, flexibilisiert durch die „Anpassung“: Tradition wird gegen das Vergessen eingeleitet, und gegenüber der Ungewissheit der Zukunft wird das Versprechen eingeführt131. Diese Vereinbarung verkennt nicht die Tatsache, dass die Rechtssicherheit nicht nur notwendig das Zeitproblem beinhaltet, sondern darüberhinaus dieses in eine Doppelausrichtung zur Vergangenheit oder Zukunft einbindet. Die Juristen müssen anerkennen, dass Rechtssicherheit mal aus der Sicht der Vergangenheit, mal im Hinblick auf die Zukunft zu untersuchen ist132. Diese semantische Option ermöglicht nicht nur die klare Unterscheidung zwischen den beiden dynamischen Dimensionen der Rechtssicherheit, sondern steht auch mit dem traditionellen Gebrauch der Termini im Einklang: „Verlässlichkeit“ wird normalerweise mit der Vorstellung des Änderungsverbots assoziiert, zu der die Frage der subjektiven Unantastbarkeit und der objektiven Dauer gehört, während „Berechenbarkeit“ herkömmlich mit der Vorstellung der Sanftheit oder Beständigkeit der Veränderung verbunden ist, zu der die Frage der Kontinuität gehört133. Dies wird nun untersucht, wobei wir mit der Untersuchung der Pflicht zur Beständigkeit beginnen, bezogen auf in der Vergangenheit rechtskonform ausgeübte Freiheit, die in der Gegenwart nicht anders behandelt werden darf. Wir beginnen also mit der Untersuchung der Verlässlichkeit im hier vereinbarten Sinn.

131

François Ost, Le Temps du Droit, S. 37. Paulo de Barros Carvalho, Segurança jurídica e modulação dos efeitos, in: Revista da Fundação Escola Superior de Direito Tributário 1 (2008), S. 208 f. 133 Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 1; Johanna Hey, Steuerplanungs­ sicherheit als Rechtsproblem, S. 190. 132

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

b) Normverlässlichkeit und das Problem der Dauer: „Sicherheit des Übergangs von der Vergangenheit zur Gegenwart“ durch Normstabilität und Wirksamkeit aa) Normstabilität (1) Einleitende Betrachtungen Die Existenz der Rechtssicherheit des Rechts und durch das Recht erfordert die Erfüllung einiger Voraussetzungen. Sie können sich auf das Recht im eigentlichen Sinn oder auf subjektive Situationen beziehen. Aufgrund dieser Mehrdeutigkeit ist es unmöglich, das Thema ohne eine semantische Vereinbarung auch im Hinblick auf diesen besonderen Aspekt zu behandeln. Das Wort selbst, „Stabilität“, ist mehrdeutig und kann sich auf objektive und subjektive Aspekte wie auch statische und dynamische Aspekte beziehen. Deshalb ist eine Vereinbarung der verschiedenen Bedeutungen, die der Terminus „Stabilität“ annehmen kann, unverzichtbar. Aus diesem Grund haben wir uns einerseits für die Verwendung der Terminus „Dauerhaftigkeit“ entschieden, um die Forderung nach objektiver Stabilität der Rechtsordnung insgesamt zu bezeichnen, sodann für den allgemeinen Terminus „Verlässlichkeit“ in zwei Bedeutungen: Verlässlichkeit im objektiven Sinn, bezeichnet durch den mehr auf Gegenstände bezogenen Terminus „Verlässlichkeit“, und Verlässlichkeit im subjektiven Sinn bezeichnet durch den mehr auf Personen bezogenen Terminus „Glaubwürdigkeit“. (2) Objektive Dimension (a) Dauer der Rechtsordnung (aa) Durch Bewahrung der Gehalte: die Ewigkeitsklauseln Als die CF/88 in Art. 60 § 4 bestimmte Materien aus der Kompetenz der Verfassungsänderung ausschloss, gewährleistete sie am Ende mittelbar die Stabilität der Rechtsordnung: ein wesentlicher, grundrechtsbezogener Teil derselben muss bleiben134. Im deutschen Grundgesetz ist eine ähnliche Bestimmung in Art. 79 Abs. 3 zu finden. Die Einführung der Ewigkeitsklauseln (cláusulas pétreas) wirkt sich in der Tat auf mehrfache Weise aus. Die erste Wirkung bezieht sich auf die sich aus ihr ergebende syntaktische Hierarchie: indem sie die Änderung bestimmter Normen verbietet, schreibt die CF/88 ihnen eine höhere Bedeutung zu. Und dieser axiologische Vorrang beeinflusst die Auslegung des Rechts selbst: die Auslegung 134 Maria Sylvia Zanella Di Pietro, Os princípios da proteção à confiança, da segurança jurídica e da boa-fé na anulação do ato administrativo, in: Motta, Fabrício (Hrsg.), Direito Público Atual: estudos em homenagem ao Professor Nélson Figueiredo, S. 297.

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der verfassungsrechtlichen Prinzipien und Regeln muss sich an den Grundprinzipien orientieren. In Bezug auf die Rechtssicherheit kennzeichnet die Einführung der Ewigkeitsklauseln den Widerstand gegen die Änderung des axiologischen Kerns der Verfassung, der nicht Gegenstand einer Verfassungsänderung sein darf. In diesem Sinn hat die CF/88 selbst, wenngleich auch mittelbar, ein Ideal statuiert, das die Dauerhaftigkeit und den Wechsel harmonisiert: die Verfassung hat einen Teil, der nicht geändert werden darf, und einen anderen, der zwar geändert werden darf, aber nur in einem spezifischen Verfahren, das in Bezug auf die erforderliche Stimmenmehrheit rigider ist. (bb) Durch Bewahrung der Normen: Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung Damit das Recht das menschliche Verhalten nicht nur kurz-, sondern mittel- und langfristig leiten kann, muss die Rechtsordnung minimal stabil, dauerhaft, kontinuierlich und beständig sein. Falls sie oft geändert wird, werden die Bürger Schwierigkeiten haben, zu wissen, welche Norm sie befolgen sollen, und nur widerstrebend handeln, da sie nicht wissen, ob die ihnen bekannten Normen fortgelten werden. Die ständige Änderung behindert somit die Planung135. Deshalb behauptet Raz, dass die Stabilität der Rechtsordnung (als Beständigkeit, Dauerhaftigkeit) die Bedingung dafür ist, dass das Recht langfristig verhaltensorientierend funktionieren kann136. Wenn dem so ist, muss das Recht von Anfang an den Beruf zur dauerhaften Geltung haben. Es darf nicht die zufällige Lösung momentaner Probleme sein137. Die Forderung nach Dauerhaftigkeit als Pflicht zur Beständigkeit in der Zeit ist jedoch nicht mit der Forderung nach Unveränderlichkeit der Rechtsordnung zu verwechseln138, denn wenn es zutrifft, dass der ständige Wandel der Rechtsordnung ihre Kenntnis behindert und zum Misstrauen wegen des Autoritätsverlusts des Gesetzgebers und der wiederholten Enttäuschung des Vertrauens der Bürger führt, wenn somit der ständige Wandel gegen die Forderungen nach Erkennbarkeit und Verlässlichkeit steht, trifft es doch ebenso zu, dass das völlige Ausbleiben der Änderung zum Wirklichkeitsverlust führt, da dann das Recht, indem es mit der gesellschaftlicher Entwicklung weitgehend nicht mehr mithält, als handlungs 135

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 189. Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 215. 137 Eros Roberto Grau, O Direito posto e o Direito pressuposto, 7. Aufl., S. 185; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 265; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 193. 138 Eros Roberto Grau, O Direito posto e o Direito pressuposto, 7. Aufl., S. 188; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 269; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 193; Christof Münch, Rechtssicherheit als Standortfaktor. Gedanken aus Sicht der vorsorgenden Rechtspflege, in: Weber, Albrecht (Hrsg.), Währung und Wirtschaft. Das Geld im Recht, S. 677. 136

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orientierendes Instrument nicht mehr akzeptiert wird. Anders gesagt, erzeugt ein „Zuviel“ an Wandel Unkenntnis und Misstrauen, aber ein „Zuwenig“ mangelnde Effektivität. Aus eben diesem Grund umfasst nach Aarnio und Peczenik die Definition von Rechtssicherheit nicht nur die Abwesenheit von Willkür (Rechtssicherheit im formalen Sinn), sondern gleichermaßen die Existenz von Akzeptanz (Rechtssicherheit im materialen Sinn)139. Auch deswegen schließt Habermas in den Rechtsbegriff sowohl die Konsistenz im Entscheiden ein (liegt vor, wenn analoge Fälle auf dieselbe Weise auf der Grundlage der Rechtsordnung entschieden werden), als auch die rationale Akzeptanz (liegt vor, wenn Entscheidungen rational begründet werden, so dass sie als rationale Entscheidungen von den Adressaten angenommen werden können)140. Klarzustellen ist, dass die Forderung nach Beständigkeit, von der hier die Rede ist, im objektiven Sinn zu verstehen ist, d. h. als Anforderung an die Rechtsordnung als eines Ganzen, stabil zu sein, als Bedingung der Ausübung der bürger­ lichen Freiheiten. Die Stabilität vermittels der Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung ist also eine grundlegende Bedingung der Gewährleistung der Freiheit und des Funktionierens der Institutionen141, weil die Ausübung der Freiheiten die Glaubwürdigkeit der normativen Bedingungen und der Rechtsinstitutionen voraussetzt. Wie Hey unterstreicht, gedeiht Freiheit nur im Vertrauen, dieses wiederum nur in Freiheit, weshalb in diesem Sinn die Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung einen Wert „in sich“ darstellt, unabhängig von der Ausübung einer spezifischen Freiheit142. Die Beständigkeit der Rechtsordnung ist also eine Bedingung der Rede von Rechtssicherheit des Rechts. Die Forderung nach Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung ergibt sich somit aus der Rechtssicherheit im objektiven Sinn, bezogen auf die Rechtsordnung und zugunsten der Summe der Freiheiten, unabhängig vom Nachweis ihrer tatsächlichen individuellen Ausübung. Die Verwendung der Dauerhaftigkeitwidersetzt sich also dem Wandel selbst, da sie an sich die institutionelle Verlässlichkeit des Rechts als Voraussetzung der potenziellen Ausübung der Freiheiten beeinträchtigt. In den Worten von Zanella Di Pietro: „Beabsichtigt ist, den Glauben zu schützen, dass die vom Staat begangenen Handlungen gesetzmäßig sind.“143 Eine andere Frage ist die Forderung nach Vertrauensschutz, die später noch untersucht wird und in der subjektiven Dimension des Rechtssicherheitsprinzips, die auf die Ausübung der 139

Aulis Aarnio, Reason and Authority, S. 189 ff.; Aulis Aarnio, The Rational as Reasonable. S. 3–8, sowie 44; Aleksander Peczenik, On Law and Reason, S. 31. 140 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 243. 141 Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 30; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 129. 142 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 120 f. sowie 129, 182. 143 Maria Sylvia Zanella Di Pietro, Os princípios da proteção à confiança, da segurança jurídica e da boa-fé na anulação do ato administrativo, in: Motta, Fabrício (Hrsg.), Direito Público Atual: estudos em homenagem ao Professor Nélson Figueiredo, S. 303.

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Freiheit einer Person bezogen ist, besteht. Ihre Verwendung widerspricht nicht dem eigentlichen Wandel, sondern der Hervorbringung von Normwirkungen, welche die vergangene Ausübung einer bestimmten Freiheit bzw. bestimmter Freiheiten betreffen144. Das besagt nicht, dass das Vertrauen der Bürger nicht in der objektiven Dimension der Rechtssicherheit bewertbar ist. In diesem Fall wird jedoch nicht untersucht, in welchem Maß der Normwandel die vergangene Ausübung der Freiheit einer Person betroffen hat oder betreffen wird und damit eine ungerechtfertigte Enttäuschung ihres Vertrauens hervorgerufen hat oder hervorrufen wird, sondern vielmehr die vermutete vergangene Ausübung der Summe der Freiheiten aufgrund der geänderten Norm und die Bedeutung der Enttäuschung der Summe der Vertrauensbestätigungen für die Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung. In so gelagerten Fällen empfiehlt es sich, statt vom Vertrauen des Einzelnen zu sprechen, von systematischer Verlässlichkeit, oder, in der Formulierung von Carvalho, von „schwerwiegender Bedrohung des gesamten geltenden Gesetzgebungssystems“ zu sprechen145. Wenn dem so ist, kann nicht jede Bedrohung der Stabilität und der Glaubwürtigkeit der Rechtsordnung als Verletzung des Rechtssicherheitsprinzips angesehen werden, sondern nur eine Einschränkung, welche die institutionelle Glaubwürdigkeit des Rechts kompromittieren kann, also nur eine hochgradige Einschränkung, wie sie Gegenstand der Unterscheidung im quantitativen Aspekt gewesen ist. (b) Unantastbarkeit von einzelnen Situationen aus objektiven Gründen (aa) Durch Ablauf der Zeit (α) Verwirkung Anders als in anderen Rechtssystemen behält die CF/88 die Kompetenz zur Einführung allgemeiner steuerrechtlicher Normen einem Ergänzungsgesetz vor, „besonders über […] Verjährung imd Verwirkung“. Dies bedeutet, dass die Verfassung selbst die Bedeutung der Festlegung allgemeiner Fristen erkannt hat, um Erkennbarkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung auf Bundesebene zu gewährleisten. In Ausübung dieser Kompetenz hat die nationale Abgabenordnung besonders in den Artikeln 150 und 173 eine Verwirkungsfrist für die Festsetzung einer Steuerschuld statuiert. Wenn in diesem Zeitraum kein Bescheid des Finanzamts ergeht, verliert der Staat das Recht, eine Steuerschuld festzusetzen, allein durch Zeitablauf. Die Verwirkung ist also eine von einer unterverfassungsrechtlichen Regel 144

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 134. Paulo de Barros Carvalho, Segurança jurídica e modulação dos efeitos, in: Revista da Fundação Escola Superior de Direito Tributário 1 (2008), S. 203. 145

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eingeführte Rechtsfolge, die den unbedingten Vorrang der Rechtssicherheit über die Gerechtigkeit bezeichnet: selbst wenn der Steuerzahler Geld schuldet und dies weiß, führt der Fristablauf zum Verlust des Rechts des Finanzamts, die Steuerschuld festzusetzen146. Eingestellt wurde die Verwirkung in dieser Arbeit in den auf die Unantastbarkeit individueller Situationen durch objektive Gründe bezogenen Teil, statt im Kapitel über die Anwendung des Vertrauensschutzprinzips eingeführt zu werden. Der Grund ist die Tatsache, dass sie vom Ablauf einer Frist abhängig ist und sogar zugunsten oder gegen die nicht vertrauende Person angewandt wird. Eben deshalb darf man behaupten, dass die Verwirkung eine objektive Folge des objektiven Rechtssicherheitsprinzips ist147. Wesentlich ist, dass die Festlegung der Fristen der Stabilität der Rechtslagen und der Eliminierung der Ungewissheit zuarbeitet. Hiermit wird also, anders formuliert, das Rechtssicherheitsprinzip geschätzt148. Unter diesem Aspekt war die nationale Abgabenordnung kategorisch in der Feststellung, dass die Frist für die Festsetzung der Steuerschuld fünf Jahre Verwirklichung des Steuertatbestands beträgt. Diese Bestimmung wurde irrtümlich statuiert, da die Verwirkung durch Art. 156, Satz V, als ein Typus des Erlöschens der Steuerschuld eingefügt worden ist, wenn diese tatsächlich nicht einmal durch den Ablauf der Zeit entsteht, in der sie durch Veranlagung hätte festgesetzt werden müssen149. Worauf es jedoch im Hinblick auf die vorliegende Arbeit ankommt, ist die Tatsache, dass die nationale Abgabenordnung in Befolgung ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe den Verlust der Prärogative des Staats zur Festsetzung der Steuerschuld nach Ablauf der Fünfjahresfrist kategorisch geregelt hat. Da das Institut der Verwirkung auch privatrechtlich geregelt ist, hat die nNationale Abgabenordnung eine explizite Bestimmung formuliert, um jeglichen Zweifel in Bezug auf die Konsolidierung einer bestimmten Situation aufgrund der Nichtausübung der Befugnis zur Festsetzung der Steuerschuld durch Veranlagung zu beseitigen. Mehr noch, die nationale Abgabenordnung hat deutlich gemacht, dass selbst in den Fällen, in denen Betrug, Arglist oder Steuerhinterziehung vorliegen, die Verwirkungsfrist ablaufen wird, lediglich mit dem Unterschied, dass sie am ersten Tag des auf das Geschäftsjahr des Eintritts des Steuertatbestands folgenden Geschäftsjahres beginnt, gemäß der 146

S. zur Verwirkung im deutschen Recht Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 786; Annette Guckelberger, Die Verjährung im Öffentlichen Recht. Tübingen, 2004, S. 376 ff.; Andreas Piepenbrock, Befristung, Verjährung, Verschweigung und Verwirkung, S. 346 ff. 147 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 785. 148 Maria Sylvia Zanella Di Pietro, Os princípios da proteção à confiança, da segurança jurídica e da boa-fé na anulação do ato administrativo, in: Motta, Fabrício (Hrsg.), Direito Público Atual: estudos em homenagem ao Professor Nélson Figueiredo, S. 311. 149 Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 18. Aufl., S. 481 ff.; Luciano Amaro, Direito Tributário brasileiro, 15. Aufl., S. 406; Sacha Calmon Navarro Coelho, Curso de Direito Tributário, 9. Aufl., S. 831 ff.

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Bestimmung in Art. 173. Damit soll gesagt werden, dass die nationale Abgabenordnung die Vorhersehbarkeit und Einheitlichkeit über andere Werte wie die Gerechtigkeit gestellt hat (oder, um es genauer zu sagen, es für richtig hielt, einen Rechtsanspruch auszuschließen, wenn sie nicht innerhalb einer zumutbaren Frist ausgeübt worden ist). (β) Verjährung Die Verjährung ist ein ähnliches Phänomen, da die nationale Abgabenordnung im Rahmen des von der Verfassung in Art. 146 Geforderten die Verjährung als Form der Löschung der Steuerschuld in den Artikeln 156 V und 174 geregelt hat. Wenn der Staat also, obwohl er die Steuerschuld innerhalb der Verwirkungsfrist festgesetzt hat, binnen Fünfjahresfrist keine Zwangsvollstreckung betreibt, verliert er durch Eingreifen der allgemeinen Regel das Recht darauf. Die Verjährungsfrist begann in der ursprünglichen Fassung der nationalen Abgabenordnung mit der Veranlagung und endete mit der Bekanntgabe des Steuerschuldners, entsprechend der Bestimmung von Art. 174. Wenn also die Zwangsvollstreckungsklage im Zeitraum von fünf Jahren erhoben würde, die Bekanntgabe aber erst nach Ablauf dieser Frist erfolgte, würde die Schuld verjähren. Zugrunde liegt dem folgende Logik: der Staat, der eine Einheit ist, auch wenn er in verschiedene Organe zerfällt, soll sein Zwangsvollstreckungsanspruch innerhalb einer bestimmten Frist wahrnehmen bei Strafe ihres Verlusts. Das Ergänzungsgesetz Nr. 118 von 2005 hat diese Systematik jedoch geändert, indem es die Anordnung des Richters zur persönlichen Bekanntmachung im Zwangsvollstreckungsverfahren in die Verfahren mit Unterbrechung der Verjährungsfrist aufnahm. Obwohl diese Änderung gut ist, da sie nicht das zwangsvollstreckende staatliche Handeln bestraft, ist sie schädlich, da sie die Forderung von Steuerschulden verewigt, so dass sie in einem viel längeren Zeitraum geltend gemacht werden kann, als nach der ursprünglichen Fassung zur Lösung von Streitfällen vorgesehen ist. Im Hinblick auf das eingeschränkte hier erörterte Thema ist noch hervorzuheben, dass die nationale Abgabenordnung wie beim Thema der Verwirkung das Verjährungsinstitut ebenfalls auf spezifische Weise geregelt hat, und zwar mit dem Zweck, auf allgemeine Weise und in aller Deutlichkeit die Frist festzulegen, innerhalb derer der Staat seinen Anspruch durchsetzen muss. Damit hat sie einen Zustand der Verlässlichkeit begünstigt: der Steuerzahler kann wissen, dass dieser Anspruch, wenn er nicht in der gesetzlich vorgesehenen Frist erhoben worden ist, nicht mehr andurchgesetztgemeldet werden kann, obwohl der Staat prinzipiell die Fähigkeit dazu hätte. Anders formuliert: die nationale Abgabenordnugn selbst hat zwischen den Konflikten der Sicherheit und Gerechtigkeit eine Abwägung vorgenommen und erstere gezielt über letztere vorherrschen lassen (oder, besser, erstere als Option selbst für letztere gekennzeichnet, wobei letztere als unantastbar aus objektiven Gründen verstanden wird).

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Es gibt keine entsprechende Norm im deutschen Grundgesetz. Das bedeutet aber nicht, dass das Grundgesetz nicht die Unantastbarkeit individueller Situationen aus objektiven Gründen gewährleistet. (bb) Durch rechtliche Konsolidierung der Situationen (α) Einleitende Bemerkungen Anders als andere Verfassungen hat die CF/88 das Einschränkungsverbot der vollendeten Rechtshandlung, des wohlerworbenen Rechts und der Rechtskraft geregelt. Eben deshalb ist ihre Anwendung zwingend: wenn einer dieser Tatbestände eintritt, sind rückwirkende Folgen nicht möglich, da dann die Regel von Verfassungs wegen greift und dabei andere Gründe etwa das öffentliche Interesse bezogenen, nicht angeführt werden können, um durch Abwägung die Anwendung der Regel zu verhindern zu versuchen. In diesen Fällen, wie Couto e Silva betont, hat der Verfassungsgeber selbst abgewogen, indem er vergangene Situationen für unantastbar erklärt hat, weshalb eine neue gerichtliche Abwägung zur Erlaubnis rückwirkender Folgen unstatthaft ist150. Die Verfassung, wie Weber-Dürler sagt, „hat eine Interessenabwägung vorweggenommen“, indem sie den Konflikt vorab geregelt hat151. Nicht einmal Gründe des ordre public, die in Brasilien häufig angeführt werden, können also die von der CF/88 statuierte Rigidität überwinden152. Wesentlich ist, wie das bemerkenswerte Votum des Obersten Bundesrichters Sepúlveda Pertence klärt, dass die Auffassung, diese Regeln könnten durch Gründe des öffentlichen Interesses überwunden werden können, „Ergebnis des übereilten Imports rechtswissenschaftlicher Thesen sind, deren Fundament Rechtsordnungen sind, in denen der Schutz dieser Regeln keine verfassungsrechtliche Dignität hat […]“153. Obwohl die CF/88 die Unantastbarkeitsfälle geregelt hat, war sie insoweit zweideutig, als sie in derselben Bestimmung sowohl das wohlerworbene Recht als auch die vollendete Rechtshandlung und die Rechtskraft einschloss, da wir damit streng genommen eine Gattung (wohlerworbenes Recht) im gleichen Rang ihrer Spezies (vollendete Rechtshandlung und Rechtskraft) haben. Der Unterschied zwischen diesen Fällen ist in der Tatsache begründet, dass das wohlerworbene Recht aus dem Gesetz hervorgeht, während die vollendete Rechtshandlung sich aus einem 150 Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Pública de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei n. 9.784/99), in: RBDP 06 (2004), S. 7–59. 151 Beatrice Weber-Dürler, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, S. 125. 152 Carlos Mário da Silva Velloso, O princípio da irretroatividade da lei tributária, in: RTDP 15 (1996), S. 18; Luís Roberto Barroso, Em algum lugar do passado: segurança jurídica, Direito Intertemporal e o novo Código Civil, in: Antunes Rocha, Cármen Lúcia (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada, S. 149. 153 RE Nr. 226.855, Plenum, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, DJ 13. 10. 00.

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gesetzeskonform abgeschlossenen Rechtsgeschäft ergibt und die Rechtskraft aus einem nicht mehr anfechtbaren Urteil154. Beide sind eigentlich Situationen, die auf der Grundlage des Rechts zustandegekommen sind, weshalb sie im Hinblick auf diesen Aspekt einander angenähert werden können155. Die Unterscheidung zwischen den Spezies bezieht sich auf ihre Quelle: unmittelbar gesetzlich oder mittelbar geschäftlich oder gerichtlich, obwohl natürlich auf gesetzlicher Grundlage. In allen Fällen gibt es jedoch wohlerworbene Rechte, unabhängig davon, ob sie sich aus dem Gesetz, dem Rechtsgeschäft oder dem Urteil ableiten156. Daher wird anerkannt, dass die CF/88, obwohl sie versucht hat, von vornherein die Unantastbarkeit von bekannten Instituten zu gewährleisten, ohne den Schutz anderer zu behindern, am Ende Gattung mit Spezies und Quelle mit Wirkung verwechselt hat, als sie einen Parallelismus zwischen der vollendeten Rechtshandlung und dem wohlerworbenen Recht festschrieb. Moreira Alves hat Recht mit seiner Behauptung, dass die CF/88, wenngleich auf untechnische Weise, nur die Unantastbarkeit von bekannten Tatbeständen gewährleisten wollte, über die sie sich schon äußern konnte, und dabei andere zur Gestaltung im konkreten Fall vorsah157. Unabhängig von diesen begrifflichen Fragen kommt es im Hinblick auf das hier erörterte Thema darauf an, dass die CF/88 Regeln der Unantastbarkeit durch die abschließende Festlegung der Voraussetzungen des Vorliegens von Rechten, die sich aus einem Gesetz, einem Rechtsgeschäft oder einer gerichtlichen Entscheidung ableiten, eingeführt hat. Abgesehn vom Doppelbestrafungsverbot, enthält das deutsche Grundgesetz enthält keine andere derartige Regelung aber dieser Schutz kann aus den in ihm statuierten Prinzipien und Garantien abgeleitet werden, insbesondere aus den Grundrechten der Freiheit und des Eigentums sowie der Menschenwürde. Trotzdem ist hervorzuheben, dass das Fehlen einer verfassungsrechtlichen Regelung der Unantastbarkeitstatbestände, wie etwa im Fall des wohlerworbenen Rechts, im konkreten Fall eine Abwägung zwischen diesen Prinzipien und einem staatlichen Zweck ermöglicht. Dies ist nicht der Fall bei der CF/88, die eine ausdrückliche Regel enthält. Nach dieser einleitenden Bemerkung müssen wir nun untersuchen, welches die von der Verfassungsregel erfassten Fälle sind, angefangen mit der vollendeten Rechtshandlung.

154 José Afonso da Silva, Constituição  e segurança jurídica, in: Antunes Rocha, Cármen Lúcia (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada. Estudos em homenagem a José Paulo Sepúlveda Pertence, S. 21. 155 Jacques Petit, Les conflits de lois dans le temps en Droit Public français, S. 145 ff. 156 Luís Roberto Barroso, Em algum lugar do passado: segurança jurídica, Direito Intertemporal e o novo Código Civil, in: Antunes Rocha, Cármen Lúcia (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada, S. 155. 157 José Carlos Moreira Alves, Direito adquirido, in: Fórum Administrativo 15 (2002), S. 582.

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

(β) Vollendete Rechtshandlung Nach Art. 6 § 1 des Einführungsgesetzes zur Normen des brasilianischen Rechts ist die vollendete Rechtshandlung diejenige Handlung, die schon nach dem zu ihrer Zeit geltenden Gesetz durchgeführt worden ist. Die Schutzklausel der vollendeten Rechtshandlung kann somit als Verbot verstanden werden, dass eine neue Norm die Voraussetzungen der vollendeten Rechtshandlungen ändert, die unter Verwirklichung aller für ihre Existenz notwendigen Elemente aufgrund der früheren Norm, die zum Zeitpunkt ihrer Durchführung galt, durchgeführt worden sind158. (γ) Wohlerworbenes Recht Der Schutz des wohlerworbenen Rechts kann als Verbot der Anwendung einer neuen Norm verstanden werden, die sich auf Rechte bezieht, die durch die Konkretisierung der für die Wirksamkeit von -Tatsachen oder Rechtshandlungen notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen aufgrund einer früheren, zum Zeitpunkt ihrer Feststellung gültigen Norm, entstanden sind. Der Schutz des wohlerworbenen Rechts bezweckt das Verbot, dass eine spätere Norm die Wirkungen ändert, die durch die Vollständigkeit der für die Entstehung eines subjektiven Rechts notwendigen Voraussetzungen zustandegekommen sind. Dieser Schutz rührt aus der breiten Wirksamkeit des Rechts auf Vermögensschutz her, das sich aus den Grundrechten der Freiheit und des Eigentums ableitet. Da der Gesetzgeber bestimmte Bedingungen für die Entstehung eines subjektiven Rechts festgelegt hat, deren Erfüllung Rechtswirkungen auslösen, hat er eine so nahe Vertrauensgrundlage statuiert, dass sie in weitem Maß den Vertrauensschutz im Hinblick auf spätere Änderungen der Gesetzgebung einführt. Wenn man in diesem Fall akzeptiert, dass ein neues Gesetz die Entstehung des Rechts behindert oder seine Wirkungen einschränkt, sobald die Wirksamkeitsbedingungen erfüllt sind, akzeptiert man, dass der Gesetzgeber den Bürger zu einem bloßen Objekt seiner Willensschwankung degradiert159, als ob man dem Gesetzgeber erlauben würde, den Bürger zum Narren zu halten. Diese bündige Betrachtung zeigt schon, dass der Schutz des wohlerworbenen Rechts sich von den Grundrechten der Freiheit und des Eigentums selbst und aus dem Recht auf Würde herleitet. Trotzdem hat die CF/88, um jegliche Möglichkeit einer Einschränkung durch Abwägung der Prinzipien der Freiheit und des Eigentums mit einem staatlichen Zweck unmöglich zu machen, ausdrücklich den Vorrang der Rechtssicherheit durch Gewährleistung der Unantastbarkeit des wohlerworbenen Rechts geregelt160. In diesem Sinn wurde diese Möglichkeit in 158

Limongi França, Direito Intertemporal brasileiro, 2. Aufl., S. 426 ff. Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 189. 160 Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Pública de anular os seus próprios atos: o 159

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der brasilianischen Rechtsordnung ausgeschlossen – anders als in anderen Rechtsordnungen, in denen das wohlerworbene Recht wegen der Vorrangigkeit staatlicher Interessen außer Kraft gesetzt werden kann. Wichtig ist, dass die Unantastbarkeit der individuellen Situation sich daraus ergibt, dass die durch den eventuell verfassungswidrigen Akt produzierte Rechtswirkung einen Vermögensvorteil des Adressaten darstellt. So hat der Oberste Bundesgerichtshof in der Bearbeitung des außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens (Recurso Extraordinário) Nr. 122.202-6 entschieden, als er die Gültigkeit von Zahlungen untersuchte, die an einen Beamten aufgrund eines Gesetzes getätigt worden waren, das später als verfassungswidrig angesehen wurde. In diesem Fall war das Gericht der Auffassung, dass die erhaltenen Zahlungsbeträge nicht zurückgegeben werden müssten, da sie dem Vermögen des Adressaten einverleibt worden waren161.

(δ) Rechtskraft Die Verfassungsklausel verhindert, dass eine neue Norm auf die Wirkungen von Rechtshandlungen oder Tatsachen angewandt wird, die von einer gerichtlichen Entscheidung betroffen werden, gegen die kein Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann. Was die (formelle) Rechtskraft kennzeichnet, ist die Erschöpfung aller ordnungsgemäß im Recht zu ihrer Anfechtung zugelassenen Mittel, um zu vermeiden, dass die Diskussionen ewig fortdauern, und um die Stabilität der Rechtsbeziehungen und die Gewissheit staatlicher Akte zu fördern162. In diesem Fall versucht die CF/88 nur einen Schlusspunkt zu setzen, obwohl die Begründung ihrer Änderung auch durch Gerechtigkeitsargumente gestützt wird. Die Rechtfertigung der Rechtskraft ist präzise die Unterbrechung einer Kette von Gerichtsentscheidungen, welche die Rechtsstreitigkeiten perpetuieren und in der eine Entscheidung durch die jeweils andere endlos aufgehoben werden könnte. Um dieses endlose Anfechtungsunwesen unmöglich zu machen, setzt die Rechtskraft der Diskussion eine objektive Grenze, selbst wenn sich noch Argumente mobilisieren lassen, die sich auf die Gerechtigkeit der Entscheidung beziehen. Die Gewährleistung der Rechtskraft ist also, wie Ferraz Júnior unterstreicht, eine Erscheinungsform der Rechtssicherheit, derzufolge von der Gegenwart aus die sich aus einer vorherigen Gerichtsentscheidung ergebende Normbedeutung nicht geändert werden darf, wodurch die Rechtsbeziehung, die

prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei n. 9.784/99), in: RBDP 6 (2004), S. 7–59. 161 RE Nr. 122.202-6, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Franciso Rezek, DJ 08. 04. 94. 162 Cármen Lúcia Antunes Rocha, O princípio da coisa julgada e o vício de inconstitucionalidade, in: Antunes Rocha, Cármen Lúcia (Hrsg.), Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada. Estudos em homenagem a José Paulo Sepúlveda Pertence, S. 173 sowie 178.

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Gegenstand der Entscheidung ist, mit Sicherheit durch Stabilität ausgestattet wird, indem die Fortsetzung der Diskussion behindert wird163. Das will jedoch nicht besagen, dass es keine Situationen gibt, in denen nicht ein gravierender Zustand der Ungleichheit sich im Fall der fortdauernden Beziehungen ergeben kann, da eine Entscheidung einen Steuerzahler zu Lasten anderer begünstigt oder schädigt. In diesen Fällen ist der Umfang er Rechtskraft angesichts einer späteren Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs mit Erklärung der Verfassungsgemäßheit oder Verfassungswidrigkeit der Abgabe festzustellen164. Wenn also gegen einen Steuerzahler eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, welche die Verfassungsgemäßheit der strittigen Abgabe erklärt, und wenn in einer späteren Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs in der Bearbeitung einer Klage auf abstrakte Kontrolle der Verfassungsgemäßheit oder in einer Klage auf konkrete Kontrolle der Verfassungsgemäßheit irgendeine Maßnahme der Ausdehnung der subjektiven Wirksamkeit der Entscheidung (Suspendierung des Gesetzes durch den Senat oder Leitsatz) getroffen wird, bleibt die Geltung der Rechtskraft, die sich auf der gerichtlichen Einzelentscheidung ergibt, aufrechterhalten; nur ihre zukünftigen Wirkungen werden dann eingeschränkt – vom Tag der Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs an gerechnet165. Wenn die Entscheidung in einer Klage auf konkrete Kontrolle gefällt wird, also mit einer auf die Prozessparteien beschränkten subjektiven Wirksamkeit, wird keine Einzelnorm für Dritte geschaffen, weshalb die vorher eingetretene Rechtskraft nicht zu durchbrechen ist166. Diese Position ergibt sich aus der Verbindung von zwei Faktoren167: Einerseits aus dem Verständnis der Bestimmung des Art. 471 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, demzufolge kein Richter schon entschiedene Sachen, das heißt: mit identischem Streitgegenstand, erneut bearbeiten darf, es sei denn, dass in der fortdauernden Rechtsbeziehung eine Änderung des status facti oder status iuris erfolgt ist. In diesem Fall darf die Partei Berufung gegen das Urteil einlegen. Wenn also die Entscheidung ein bestimmtes Rechtsverhältnis betrifft, in welchem der Steuertatbestand als sofortig klassifiziert wird, wie im Fall der Steuer über die Über-

163

Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Coisa julgada em matéria tributária e as alterações sofridas pela legislação da contribuição social sobre o lucro (Lei n. 7.689/88), in: RDDT 125 (2006), S. 74. 164 Luiz Guilherme Marinoni, Coisa julgada inconstitucional, S. 137 ff.; Gustavo Sampaio Valverde, Coisa julgada em matéria tributária, S. 140 ff. 165 José Souto Maior Borges, Limites constitucionais e infraconstitucionais da coisa julgada tributária (contribuição social sobre o lucro), in: Cadernos de Direito Tributário e Finanças Públicas 27 (1999), S. 191. 166 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Coisa julgada em matéria tributária e as alterações sofridas pela legislação da contribuição social sobre o lucro (Lei n. 7.689/88), in: RDDT 125 (2006), S. 77; Gustavo Sampaio Valverde Valverde, Coisa julgada em matéria tributária, S. 169. 167 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Coisa julgada em matéria tributária e as alterações sofridas pela legislação da contribuição social sobre o lucro (Lei n. 7.689/88), in: RDDT 125 (2006), S. 77; Gustavo Sampaio Valverde Valverde, Coisa julgada em matéria tributária, S. 169.

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schreibung von Immobilien, kann man nicht von Änderung zukünftiger Wirkungen einer rechtskräftigen Entscheidung sprechen. Wenn jedoch die Entscheidung eine fortdauernde Beziehung betrifft, verstanden als eine Beziehung, die Abgaben erfasst, die als periodisch klassifiziert werden und in jedem Geschäftsjahr neu zu entrichten sind, wie im Fall der Einkommensteuer oder der Sozialbeiträge über den Umsatz, werden die zukünftigen Wirkungen – und nur sie – durch den Eingriff der vom Obersten Bundesgerichtshof in einer Klage auf abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gefällten Entscheidung oder durch eine neue Einzelentscheidung aufgrund von Art. 471 I des Bürgerlichen Gesetzbuchs eingeschränkt. Die Anwendung dieser Bestimmung setzt die Kennzeichnung der Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs als eine Art von Änderung des „Rechtszustands“ voraus. Dies ist das der Leitsatzentscheidung Nr. 239 des Obersten Bundesgerichtshofs zugrundeliegende Verständnis, derzufolge „die Entscheidung, die eine Beitreibung der Steuer in einem bestimmten Geschäftsjahr für nicht zulässig erklärt, nicht in Bezug auf die späteren Geschäftsjahre rechtskräftig wird“. Andererseits ergibt sich dieses Verständnis aus der Versöhnung des Rechtssicherheitsprinzips durch die Rechtskraft mit dem Gleichheitsprinzip, vermittels der Berufung gegen die rechtskräftige Entscheidung. Diese Harmonisierung weist sowohl die extreme Lösung der Beibehaltung der zukünftigen Wirkung der rechtskräftigen Entscheidung zurück – unabhängig vom Zustand der Ungleichheit, den sie durch die Verpflichtung einer Person, etwas zu zahlen, was niemand zahlen muss, oder durch ihre Verpflichtung, nicht etwas zahlen zu müssen, was alle zahlen müssen, verursacht, als auch die Lösung, die rechtskräftige Entscheidung vollständig zu annullieren, unabhängig vom Vertrauen, das dieser Entscheidung durch die Partei entgegengebracht worden ist, die von ihr profitiert hat. Im Fall fortdauernder Beziehungen schützt die Beibehaltung der Geltung der Rechtskraft mit der bloßen Einschränkung ihrer zukünftigen Wirkungen beide Werte, ohne damit – und das interessiert uns hier am meisten – die Stabilität der richterlichen Entscheidung zu kompromittieren. Wesentlich ist, festzustellen, dass die Rechtskraft, beschränkt auf die den Streitgegenstand, bezogen auf den Antrag insgesamt und die causa petendi, die eine im Urteilstenor erwähnte Rechtslage kennzeichnet, vorrangig sein muss, wodurch eine Fortsetzung der Beziehung und ein sie revidierendes Handeln der Exekutive oder Judikative aufgrund einer Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs nicht zum Tragen kommt168. Damit wird nicht nur die Verfassungsregel ihrer Unantastbarkeit beachtet, sondern auch der Zustand der Verlässlichkeit des Rechts durch Stabilisierung der Entscheidungen, wie dies vom Obersten Bundesgerichtshof vertreten wird. Die bloße Abschaffung der Rechtskraft durch Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs in einer KIage auf konkreten Kontrolle der Verfas-

168 Humberto Theodoro Júnior, Notas sobre sentença, coisa julgada e interpretação, in: RePro 167 (2009), S. 19.

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sungsgemäßheit ist mit dem Rechtssicherheitsprinzip unvereinbar169. Aus diesem Grund sind die neuen im Bürgerlichen Gesetzbuch eingefügten Bestimmungen (Art. 475 L § 1 und Art. 741 einziger Absatz), die selbst im Fall eines nicht vorliegenden erschöpfenden Erkenntnisverfahrens die Behauptung der Nichtforderbarkeit eines Zwangsvollstreckungstitels zulassen, allein wegen der vom Obersten Bundesgerichtshof in einer Klage auf konkrete Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit getroffenen Entscheidung, von zweifelhafter Verfassungsmäßigkeit170. Die vorstehenden Erörterungen stellen die Bindung des Instituts der Rechtskraft an das Rechtssicherheitsprinzip deutlich heraus: die durch die subjektive Wirksamkeit der Rechtskraft betroffenen Individuen vertrauen auf ihre Geltung171. Dies erklärt, warum die Rechtskraft in bestimmten Rechtsordnungen, in denen sie nicht ausdrücklich gewährleistet ist, trotzdem durch die Rechtsprechung geschützt ist: ihre unmittelbare Verfassungsgrundlage ist die Rechtssicherheit, ihre mittelbare Verfassungsgrundlage der Schutz der Grundrechte, wodurch kein Bedarf an Schutz in einer Sonderbestimmung besteht172. (ε) Eingetretener Tatbestand Wie im auf die Regel des Steuerrückwirkungsverbots bezogenen Teil gezeigt werden wird, hat der Oberste Bundesgerichtshof eine Rechtsprechung entwickelt, die sich auf CF/88 Art. 150 III a stützt, derzufolge die Besteuerungsgewalt keine „Steuertatbestände“ erfassen darf, „die vor dem Eintritt der Geltung des Gesetzes, das sie eingeführt oder erhöht hat, eingetreten sind“173. Das deutsche Grundgesetz enthält keine spezifische Festlegung des Rückwirkungsverbots im Steuerrecht, wohl aber das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen (Art. 103 Abs. 3). Diese später noch genauer zu untersuchende Rechtsprechung des brasilianischen Obersten Bundesgerichtshofs übersieht jedoch  – irrtümlich, wie wir zeigen werden  – 169 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Coisa julgada em matéria tributária e as alterações sofridas pela legislação da contribuição social sobre o lucro (Lei n. 7.689/88), in: RDDT 125 (2006), S. 79. 170 Carlos Alberto Alvaro de Oliveira, Do Formalismo no Processo Civil, 3. Aufl., S. 82. 171 Luiz Guilherme Marinoni, Coisa julgada inconstitucional, S. 67 f. 172 Enrico Riva, Wohlerworbene Rechte – Eigentum – Vertrauen, S. 08 sowie 38. 173 RE Nr. 181.664, Plenum, Berichterstatter: Richter Ilmar Galvão, DJ 19. 12. 97. In derselben Richtung AG. REG. im AI Nr. 333.209-9, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Sepúlveda Pertence, entschieden am 22. 06. 04. RE Nr. 194.612, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, DJ 08. 05. 98. Embargos de Declaração no Agravo Regimental no RE Nr. 278.466, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 06. 02. 03. Agravo Regimental no Agravo de Instrumento Nr. 511.024, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Eros Grau, entschieden am 14. 06. 05. Ebenso RE Nr. 254.459, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Ilmar Galvão, DJ 10. 08. 00. Mit abweichenden Voten des Richters Carlos Velloso s. Agravo Regimental no RE Nr. 433.878, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, entschieden am 01. 02. 05; Agravo Regimental no RE Nr. 305.212, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, entschieden am 17. 09. 02.

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andere Situationen, in denen trotz des Nichteintritts des gesetzlich vorgesehenen Steuertatbestands der Schutz der Wirkungen der unter dem vorherigen Gesetz begonnenen, aber nicht abgeschlossenen Tatsachen notwendig ist. Wichtig ist hier nur, hervorzuheben, dass die erörterte Unantatsbarkeit sich aus der bloßen Anwendung der Regel selbst ergibt, unabhängig von jedem subjektiven steuerzahlerbezogenen Element wie etwa seinem Vertrauen und Treu und Glauben sowie von jedem objektiven oder konkreten Element wie etwa der Disposition über Freiheit und Vermögen. Die Unantastbarkeit greift ausschließlich aufgrund der Rückwirkungsverbotsregel, die dann anwendbar ist, wenn der Steuertatbestand schon eingetreten ist. In diesem engen Bereich ist die Regel souverän und macht jede horizontale Abwägung unmöglich. (cc) Durch faktische Konsolidierung der Situationen In einigen außerordentlichen Situationen kann man streng genommen nicht von wohlerworbenem Recht oder einer vollendeten Rechtshandlung sprechen, da es keine die Hervorbringung von Rechtswirkungen stützende Norm gibt. Trotzdem kann sich die Lage durch Ablauf der Zeit oder infolge der Abwesenheit alternativer Mechanismen vom faktischen Gesichtspunkt aus so sehr konsolidiert haben, dass sich die retrospektive Aufhebung ihrer Wirkungen vom Standpunkt des Rechts aus verbietet. Diese Fälle kennt die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs als „konsolidierte Situation“ aufgrund der „normativen Kraft des Faktischen“, die das Recht nicht ignorieren darf. Wir stehen hier strenggenommen weder vor einem wohlerworbenen Recht noch vor einer vollendeten Rechtshandlung noch vor Fällen, die spezifischen Regeln der Verwirkung oder Verjährung subsumierbar sind. Selbst so lässt diese Situation einige Besonderheiten erkennen, die normalerweise, aber nicht ausschließlich, an die Zeit gebunden sind, in der ihre Aufhebung oder die Aufhebung ihrer Wirkungen letztlich Rechtsunsicherheit erzeugen würde. So hat zum Beispiel im Verfahren eines Sicherungsmandats der Oberste Bundesgerichtshof den Fall einer Rentnerin entschieden, die von ihrem Urgroßvater eine Woche vor dessen Tod an Krebs an Kindes Statt angenommen worden war, um Anrecht auf Rente mortis causa zu haben. Sie hatte die Rente achtzehn Jahre lang bezogen, bis die Auszahlung durch einen einseitigen und summarischen Akt des Bundesrechnungshofs ausgesetzt worden war. Der Oberste Bundesgerichtshof gab ihrem Antrag statt, um ein ordnungsgemäßes Verfahren auch im verwaltungsrechtlichen Bereich anzuordnen174. In den Diskussionen ging es jedoch um die Anwendbarkeit des Rechtssicherheitsprinzips auf diesen Fall, zumal von der Gewährung der Rente und ihrer Aussetzung durch den Bundesrechnungshof achtzehn Jahre und 174

MS Nr. 24.268, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 17. 09. 04.

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weitere zwanzig Jahre bis zur Stellungnahme des Obersten Bundesgerichtshofs zur Gültigkeit der Aussetzung ohne Einhaltung eines ordnungsgemäßen Verfahrens verstrichen waren. Der Berichterstatter, Richter Gilmar Mendes, vertrat in einer Passage, die in die Kurzfassung des Urteils aufgenommen wurde: „Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips als eines Unterprinzips des Rechtsstaats. Möglichkeit des Widerrufs von Verwaltungsakten, die nicht unbegrenzt ausdehnbar ist. Annulierungsmacht an eine zumutbare Frist gebunden. Notwendigkeit der Stabilität der durch die Verwaltung geschaffenen Situationen.“ Wichtig im Hinblick auf den hier erörterten Punkt war, dass selbst unter Berücksichtigung der Behauptung der Berichterstatterin, Richterin Ellen Gracie Northfleet, dass „hier die Betrugssituation evident, klar, ja kristallklar ist“ (S. 186 des Urteils), oder des Richters Carlos Britto, dass „es offensichtlich einen Betrug gab“ (S. 196), der Oberste Bundesgerichtshof beschloss, den Fall wieder an den Bundesrechnungshof zurückzugeben, eben wegen der Nichteinhaltung des Prinzips des ordnungsgemäßen Verfahrens. Das Gericht bekräftigte in allen Voten die Notwendigkeit, die Stabilität von Rechtslagen aufgrund der verflossenen Zeit zu erhalten. In dieser Situation stellt man fest, dass das Fehlen einer Vertrauensgrundlage und selbst des subjektiven Vertrauens infolge der missbräuchlich herbeigeführten Adoption der Urenkelin durch den Urgroßvater eine Woche vor seinem Ableben die Unantastbarkeit der Situation wegen ihrer Konsolisiderung im Lauf der Zeit nicht behinderte: die Rente wurde achtzehn Jahre lang bezogen und die Begünstigte, die nicht mehr jung war, hatte keine andere Erwerbsquelle. Das die Unantastbarkeit erzeugende Element war also strenggenommen nicht der Schutz des legitimen Vertrauens, sondern die Konsolidierung der faktischen Lage, deren Bewahrung im Fall des Ablaufs eines langen Zeitraums sogar von Treu und Glauben des Nutznießers unabhängig ist. Diese Entscheidung verdeutlicht die Bindung der Rechtssicherheit an andere Prinzipien, vor allem an die Grundprinzipien und Grundrechte der Persönlichkeit175. Entscheidend ist im Allgemeinen, dass der Ablauf der Zeit eine Situation konsolidieren kann, selbst wenn sie gesetzeswidrig ist oder ihre Grundlage eine für verfassungswidrig erklärte Norm ist. In diesem Sinn hat sich der Oberste Bundesgerichtshof auch im außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens (Recurso Extraordinário) Nr. 217.141 geäußert176. Hier ging es um einen Beamten, der am 11. April 1984 als Sektionsleiter pensioniert worden war, bevor er auf diesen Posten aufgrund des Ergänzungsgesetzes Nr. 317/83 befördert wurde. Dieses Gesetz wurde jedoch am 02. September 1987 vom Obersten Bundesgerichtshof mit Wirkung ex tunc für verfassungswidrig erklärt. So stellte sich die Frage, ob die Aufhebung der Rente des Beamten, die am 21. März 1992, also acht Jahre danach, erfolgt war, mit dem 175

Judith Martins-Costa, Almiro do Couto e Silva e a re-significação do princípio da segurança jurídica na relação entre Estado e cidadãos, in: Ávila, Humberto (Hrsg.), Fundamentos do Estado de Direito – estudos em homenagem a Almiro do Couto e Silva, S. 134. 176 RE Nr. 217.141, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 04. 08. 06.

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Rechtssicherheitsprinzip vereinbar war. Das Gericht gelangte zum Schluss, dass dies nicht der Fall war, vor allem wegen des Ablaufs einer Frist von mehr als fünf Jahren vor dem Datum der Verrentung und dem Beginn des auf Annulierung zielenden Verfahrens. Der Richter Gilmar Mendes trennte bei der Behandlung dieses Aspekts den Bereich der Erklärung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes vom konkreten Anwendungsbereich und stellte klar, dass „die aufgrund des verfassungswidrigen Gesetzes ergangenen Akte, die nicht mehr revisionsfähig scheinen, nicht von der Erklärung der Verfassungswidrigkeit beotrffen sind“. Er kam zum Schluss, dass „angesichts des Rechtssicherheitsprinzips der Verwaltungsakt, der die Beförderung bestätigt hatte, zu bestätigen ist“ (S. 699 des Urteils). Das Gericht hat hier strenggenommen keine Variation der Wirkungen vorgenommen und auch nicht das Vorliegen eines wohlerworbenen Rechts in Rechnung gestellt. Es hat schlicht und einfach die Meinung vertreten, dass die Rechtslage wegen des Ablaufs eines langen Zeitraums bis zu ihrer Annulierung unantastbar sei. Eine ähnliche Situation lag vor, als der Oberste Bundesgerichtshof die Einstellung von Mitarbeitern einer gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft ohne öffentliche Ausschreibung der Stellen prüfte. Das Gericht befand, dass „das Vorliegen einer Kontroverse zum Zeitpunkt der Einstellungen über das Erfordernis einer öffentlichen Ausschreibung im Bereich der staatlichen und gemischtwirtschaftlichen Gesellschaften, die erst nach der Konkretisierung der Einstellungsverträge gelöst worden ist, nicht die Legitimität der Bezüge in Frage stellen kann, da diese gemäß der damals geltenden Gesetzgebung ausgezahlt worden sind“. Deshalb hat es die Verfassungswidrigkeit der Akte nicht ausgesprochen. Vielmehr sah es sich, da sie durchgeführt worden und damit stabil waren, außerstande, sie als rechtswidrig anzusehen. So erhielt es die Stabilität der Rechtsbeziehungen in „Beachtung des Rechtssicherheitsprinzips“177. Das Gericht entschied gleichermaßen in der Bearbeitung des Agravo Regimental Nr. 328.232-8. Hier ging es um die Bestätigung einer Produktivitätsprämie, die einem Beamten aufgrund eines verfassungswidrigen, später in die neue Verfassungsordnung jedoch aufgenommenen bundesstaatlichen Gesetzes zugesprochen worden war178. Der Richter Carlos Velloso erfasste das Problem sehr treffend: „Das Rechtssicherheitsprinzip beruht vor allem auf Treu und Glauben und auf der Notwendigkeit der Stabilität der von der Verwaltung geschaffenen Situationen. In diesem Fall gründet der Verwaltungsakt, wie wir noch einmal wiederholen, auf dem Prinzip von Treu und Glauben, sowohl bei der Verwaltungsbehörde, welche die Vergünstigung zuerkannte, als auch und vor allem beim Beamten, was die Bestätigung der Wirkungen des Rechtsakts befürwortet, die übrigens, wie schon gesagt worden ist, durch die Verfassung von 1988 bestätigt worden sind.“ (S. 433 des Urteils) 177 MS Nr. 22357/DF, Plenum, Rel. Richter Gilmar Mendes, entschieden am 27/05/2004, DJ 05–11–2004, S. 6. RE-AgR-AgR-AgR-AgR Nr. 348364/RJ, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 11. 03. 05, S. 19. 178 AG. REG. no RE Nr. 328.232-8, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, DJ 02. 09. 05.

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Wie man feststellen kann, hat das Gericht hier die Wirkungen der Akte beibehalten, obwohl sie mit der Verfassung zum Zeitpunkt ihrer Durchführung nicht vereinbar waren, und zwar sowohl wegen des Ablaufs der Zeit, als auch wegen Vorliegens von Treu und Glauben. Es handelt sich also um einen Fall, in dem die objektiven und subjektiven Aspekte des Rechtssicherheitsprinzips gleichzeitig vorzufinden sind. (dd) Durch Ausbleiben eines Schadens In anderen Fällen ist es nicht überwiegend der Zeitfaktor, der die Situation unantastbar macht, sondern das Ausbleiben eines Schadens: obwohl das Staatshandeln gesetzwidrig war, wird der gesetzliche Zweck auf Umwegen dennoch erreicht, ohne das die betroffenen Parteien Schaden erleiden. Hierzu liegen mehrere in dieser Richtung gehende alte Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs vor. So z. B. in dem außerordentlichen Rechtsmittelverfahren (Recurso Extraordinário) Nr. 78.209. Das Gericht wurde ersucht, Stellung zu Verwaltungsakten zu nehmen, die von Beamten in der Wahrnehmung der Funktion der Gerichtsvollzieher aufgrund eines Gesetzes, dass der Oberste Bundesgerichtshof selbst später für verfassungswidrig erklärte, erlassen worden waren. Es erklärte die Beamten zu Beamten de facto und „erkannte die Pfändung durch Beamte der Exekutive, die auf Anordnung von Richtern handelten, gemäß dem Gesetz ohne Nummer vom 3. Dezember 1971 des Bundesstaats São Paulo als gültig an, vor allem in Berücksichtigung des Umstands, dass sich daraus kein Schaden für den Zwangsvollstreckten ergab“179. Der Oberste Bundesgerichtshof entschied in der gleichen Richtung in dem außerordentlichen Rechtsmittelverfahren (Recurso Extraordinário) Nr. 78.594: als er die von De-facto-Beamten in rechtswidriger Ausübung des Amts des Gerichtsvollziehers durchgeführten Akte prüfte, bestätigte er diese Akte, da sie die Verteidigung nicht behindert und dem Vollstreckenden auch keinen irreparablen Schaden zugefügt haben“180. Wichtig ist, dass in diesen Fällen das Ausbleiben des Schadens als ein den angefochtenen Akt stabilisierender Faktor fungiert. Die Wirkungen des Akts werden im Namen der Beständigkeit und Dauerhaftigkeit des Rechts beibehalten. Das Rechtssicherheitsprinzip operiert hier in seiner objektiven Dimension, unabhängig also von subjektiven Interessen oder selbst von anderen Elementen außer des schlichten Ausbleibens eines Schadens.

179 180

RE Nr. 78.209, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Aliomar Baleeiro, DJ 09. 10. 74. RE Nr. 78.594, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Bilac Pinto, DJ 30. 10. 74.

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(3) Subjektive Dimension: Unantastbarkeit individueller Situationen aus subjektiven Gründen (a) Allgemeine Bemerkungen über den Vertrauensschutz Das sogenannte Vertrauensschutzprinzip dient der Wahrnehmung der Einzelinteressen als Instrument in den Fällen, in denen der Einzelne, soweit er in irgend einem, auch dem steuerrechtlichen Bereich nicht durch ein wohlerworbenes Recht oder eine vollendete Rechtshandlung geschützt ist, seine Freiheit in höherem oder geringeren Maß ausübt, indem er auf die Geltung (oder den Schein der Geltung) einer bekannten allgemeinen oder individuellen Norm vertraut und später sein Vertrauen aufgrund des Abbruchs der Geltung oder ihrer Folgen enttäuscht sieht, sei es durch eine einfache Änderung, sei es durch Aufhebung oder auch durch die Erklärung für nichtig. Deshalb bedarf das Vertrauensschutzprinzip zu seiner Gestaltung der Existenz (a) einer Vertrauensgrundlage, (b) des Vertrauens auf diese Vertrauensgrundlage, (c) der Ausübung des genannten Vertrauens im Hinblick auf auf die Vertrauensgrundlage, die es erzeugt hat, und (d) der Enttäuschung durch einen späteren und entgegengesetzten Akt der Behörde. Da das erste Prinzip das Vertrauen der Privatperson in eine (regelmäßige oder unregelmäßige, wie man sehen wird) Äußerung des Staats erfordert, wird seine Anwendung per definitionem ein Spannungsverhältnis zu anderen Prinzipien implizieren, die ebenfalls Bestandteile des Rechtssicherheitsprinzips sind: so zum Demokratieprinzip, das der Legislative Gestaltungsfreiheit gewährt, deren Kern die Fähigkeit enthält, neue Regeln einzuführen oder die vorherigen Regeln zu ändern, um sie der Wirklichkeit anzupassen, was zu einem Bruch in der Anwendungskontinuität der vorherigen Regeln führen kann; so zum Prinzip der Gewaltenteilung, das jeder Gewalt, einschließlich der Exekutive, die Prärogative erteilt, in ihrem Kompetenzbereich, jedoch auf Grundlage von Kriterien der Angemessenheit und Opportunität, das gesetzlich festgelegte staatliche Interesse zu konkretisieren, was auch zu einer Unterbrechung durch Aufhebung einer vorherigen Norm oder zur Verkündung einer neuen Norm führen kann, in der Fortsetzung der bereits hervorgebrachten Wirkungen; und so zu anderen Prinzipien, die auf die eine oder andere Weise den Staat befähigen, neue Regeln einzuführen oder die vorherigen Regeln zu ändern. Schließlich hat die Privatperson nicht das Recht, die Erhaltung der Rechtsordnung, so wie sie sich in der Gegenwart gestaltet, zu verlangen, eben wegen der Kompetenz der Legislative, die Normwirklichkeit zu verändern181. Anders gewendet zeigt sich im Anwendungsbereich des Vertrauensschutzprinzips, wie Couto e Silva formuliert hat, der Kampf zwischen dem Alten und Neuen im Staat selbst, oder, wie Martins-Costa formuliert hat, die Spannung zwischen Beständigkeit und Bruch, Stabilität und

181

Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 296 sowie 299.

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Wandel, zwischen dem, was ewig sein kann und dem, was zum ewigen Wandel neigt182. Der Anwendungsbereich des Vertrauensschutzprinzips umfasst also nicht nur Handlungen, die aufgrund von später abgeänderten geltenden Normakten durchgeführt worden sind, ohne dass die Privatperson von den Garantien der wohlerworbenen Rechte, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft geschützt werden kann. Seine Reichweite umfasst auch die abgeschlossenen oder begonnenen Handlungen, die aufgrund von Staatsakten durchgeführt werden, die bloß dem Schein oder nicht einmal dem Schein nach gesetzmäßig waren und deren Annulierung von Anfang an eine Enttäuschung der Erwartungen des Einzelnen verursachen würde. So löst die Anwendung des Vertrauensschutzprinzips immer einen Konflikt mit dem Demokratieprinzip oder dem Prinzip der Gewaltenteilung aus, die den Staat zur Änderung seiner Orientierung befähigen, oder ein Spannungsverhältnis zu verfassungsrechtlichen Kompetenzregeln, welche die Geltung der Gesetze und Verwaltungsakte von der Einhaltung formeller und materieller Voraussetzungen abhängig machen. Anders als beim wohlerworbenen Recht, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft, die in Brasilien durch eine ausdrückliche Verfassungsregel geschützt sind, kann das auf begonnene (aber, vom Standpunkt der unmittelbar anwendbaren Regel aus gesehen, noch nicht abgeschlossene) Handlungen bezogene legitime Vertrauen sich nicht auf irgendeine ausdrückliche Verfassungsregel berufen. Dies könnte Anlass zur Auffassung sein, dass die CF/88, indem sie nur einige Situationen geschützt hat, welche die Ausübung der rechtlich orientierten Freiheit beinhalten, den Rechtserwartungen den Schutz versagt hätte. Dieses Verständnis lässt sich jedoch nicht halten. Wie wir gesehen haben, hat das deutsche Grund­ gesetz ebenso den Schutz keines Falls, der die vergangene Ausübung der rechtlich angeleiteten Freiheit beinhaltet, spezifisch normiert. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes, so wie der Schutz des wohlerworbenen Rechts selbst, kann jedoch vom Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 und 28) selbst abgeleitet werden, da es sich um eine reflexive Wirksamkeit dieses Prinzips handelt, sowie von den anderen dort ausdrücklich geschützten Grundrechten. Der Grund liegt darin, dass der Katalog der individuellen Rechte und Garantien ausdrücklich vermerkt, dass die „in dieser Verfassung ausgedrückten Rechte und Garantien schliessen nicht andere Rechte und Garantien aus, die sich aus dem von 182 Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Pública de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei n. 9.784/99), in: RDA 237 (2004), S. 276; Judith Martins-Costa, Almiro do Couto e Silva e a re-significação do princípio da segurança jurídica na relação entre Estado e cidadãos, in: Ávila, Humberto (Hrsg.), Fundamentos do Estado de Direito – estudos em homenagem a Almiro do Couto e Silva, S. 131; im selben Sinn Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 27.

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ihr gewählten Regime und ihren Prinzipien oder aus internationalen Verträgen, in denen die Föderative Republik Brasilien Partei ist, ergeben“ (Art. 5 § 2). Dieser letzte Vorbehalt ist also ausdrücklich, wenn es darum geht, sich andere von der Verfassung übernommene Rechte und Garantien einzuverleiben, wie präzise im Fall der Rechte und Garantien, die sich aus dem ausdrücklich verbrieftem Rechtssicherheitsprinzip und den gleichfalls ausdrücklich verbrieften Grundrechten ergeben. Da dem so ist und da der Vertrauensschutz eine reflexive Wirkung des Rechtssicherheitsprinzips ist, zusammen mit den Grundrechten der Freiheit und des Eigentums und mit den das staatliche Handeln festlegenden Prinzipien, besteht kein Grund, den Vertrauensschutz vorweg aus dem Katalog der von der CF/88 vorgesehenen Rechte und Garantien auszuschließen. Der Umstand, dass er nicht ausdrücklich festgelegt ist, zeitigt nur die Wirkung, dass sein Schutz von einer konkreten Abwägung mit anderen eventuell kollidierenden Prinzipien und ihrer Beziehung zu den Grundrechten der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit abhängt, im Gegensatz zu dem, was mit den Regeln geschieht, die das wohlerworbene Recht, die vollendete Rechtshandlung, die Rechtskraft und den aus der Sicht des Gesetzes eingetretenen Steuertatbestand schützen. Das Vertrauensschutzprizip (principe de protection de la confiance légitime, principle of protection of legitimate expectations) unterscheidet sich vom Rechtssicherheitsprinzip in folgenden Punkten: (a)  im Hinblick auf den Normbereich: während das Rechtssicherheitsprinzip sich auf die Rechtsordnung als ein Ganzes bezieht und sich auf den makrorechtlichen Bereich konzentriert, bezieht sich das Vertrauensschutzprinzip auf einen normativen Aspekt der Rechtsordnung und konzentriert sich auf den mikrorechtlichen Bereich; (b) im Hinblick auf den personellen Bereich: während das Rechtssicherheitsprinzip eine nicht notwendig an ein spezifisches Subjekt gebundene objektive Norm darstellt, schützt das Vertrauensschutzprinzip das Interesse einer spezifischen Person; (c) im Hinblick auf die Konkretisierungsebene: während das Rechtssicherheitsprinzip sich primär auf die abstrakte Ebene bezieht, setzt das Vertrauensschutzprinzip die konkrete Anwendungsebene voraus; (d) im Hinblick auf das subjektive Ausmaß des Schutzes: während das Rechtssicherheitsprinzip ein Instrument zum Schutz kollektiver Interessen ist, funktioniert das Vertrauensschutzprinzip als Mittel zum Schutz eines oder mehrerer Einzelinteressen; (e) im Hinblick auf die individuelle Schutznatur: während das Prinzip des Rechtssicherheitsschutzes in Bezug auf die Bürgerinteressen neutral ist und sowohl zu ihren Gunsten als auch zu ihren Ungunsten angewandt werden kann, wird das Vertrauensschutzprinzip nur zum Zweck benutzt, die Interessen derjenigen zu schützen, die sich durch die vergangene Ausübung der rechtlich orientierten Freiheit geschädigt sehen183. Die Systematisierung dieser Differenzierungen erlaubt die Behauptung, dass das Rechtssicherheitsprinzip aus makrorechtlicher Perspektive eine objektive, 183 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 167 ff.

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abstrakte und kollektive Interessen schützende Norm darstellt, die also als In­ strument des Schutzes „des Vertrauens“ oder der „Gesamtmenge des Vertrauens“ in der Rechtsordnung dient, während das Vertrauensschutzprinzip eine reflexive, subjektive und konkret ausgerichtete Anwendung des objektiven Rechtssicherheitsprinzips darstellt und ein Mittel des Schutzes „eines Vertrauens“ ist. Das Rechtssicherheitsprinzip würde also das allgemeine Antlitz der Rechtssicherheit offenbaren, indem es das Interesse aller Bürger schützt, obwohl es eventuell das Interesse einiger Bürger schützen, während das Vertrauensschutzprinzip das Interesse eines oder einiger Bürger gewährleisten würde, obwohl es eventuell das Interesse aller Bürger schützen würde. Das erste Prinzip wäre also an die allgemeine Gerechtigkeit gebunden, das zweite an die Einzelfallgerechtigkeit. Trifft das zu, lassen sich einige relevante Folgen nicht ignorieren. Erstens kann die Anwendung dieser Prinzipien zu gegenläufigen Ergebnissen führen und damit einen Binnenkonflikt in der als höherrangiges Prinzip angesehenen Rechtssicherheit selbst verursachen: wenn das Rechtssicherheitsprinzip das Ganze und das Vertrauensschutzprinzip der Teil ist, kann es ja passieren, dass die Gewährleistung dieses die Einschränkung jenes und umgekehrt zur Folge hat. Deswegen wird ja auch behauptet, dass das Vertrauensschutzprinzip strenggenommen keine bloße durch Deduktion erarbeite Folge des Rechtssicherheitsprinzips ist, sondern vielmehr eine Einschränkung oder ein begrenzender Folgerung dieses Prinzips184. In dieser Hinsicht ist es notwendig, wie schon im auf die Bedeutung des Rechtssicherheitsprinzips bezogenen Teil erklärt worden ist und später noch eingehend darzulegen sein wird, Kriterien der Harmonisierung dieser Prinzipien zu finden, so dass mehr Sicherheit als Unsicherheit produziert wird oder, anders formuliert, der die vergangene Dimension der Rechtssicherheit repräsentierende Vertrauenschutz in individueller Perspektive am Ende nicht in einem noch höheren Grad die gegenwärtige und zukünftige Dimension der Rechtssicherheit in kollektiver Perspektive kompromittiert und sie unter dem Vorwand der Stärkung verringert  – oder, nach der hier vorgenommenen Unterscheidung, so, dass der Vertrauensschutz nicht zum Verlust der Rechtssicherheit führt, oder, noch exakter und strenger, so, dass die Erhaltung der individuellen subjektiven Dimension der Rechtssicherheit nicht um den Preis des Verlusts ihrer transindividuellen objektiven Dimension erfolgt. Zweitens: da diese Prinzipien unterschiedlich im Hinblick auf den Normbereich, die personelle Dimension, die normative Ebene und das Schutzspektrum sind, sind ihr Inhalt, der Zeitpunkt seiner Feststellung und die zu seiner Umsetzung notwendigen Beweise auch unterschiedlich. Diese Feststellung ist also von grundlegender Bedeutung. Da das Vertrauensschutzprinzip eine reflexive, subjektive und konkrete Anwendung eines objektiven Prinzips ist, hängt der Nachweis der zu seiner Verwirklichung notwendigen Voraussetzungen (Vertrauensgrundlage, Vertrauen, 184 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 181.

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Ausübung des Vertrauens und Enttäuschung des Vertrauens) von konkreten Beweisen ab, die in gerichtlichen Verfahren mit einer umfassenden und erschöpfenden Beweisaufnahme erfolgen, weshalb er nicht Gegenstand der Diskussion in Verfahren sein darf, die abstrakt und abstraktendie prinzipielle Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes prüfen. Der Nachweis der Vorlage der Voraussetzungen des Vertrauensschutzpreinzips kann also nur in normalen Verfahren und anlässlich der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit, welche die konkrete Verletzung der Verfassung durch eine behördliche oder richterliche Handlung prüft, erbracht werden, nicht in direkten Klagen auf Verfassungsgemäßheit, welche die konzentrierte Kontrolle der Verfassungsgemäßheit beinhalten, die ihrerseits die prinzipielle Verletzung der Verfassung durch irgendeinen normativen Akt prüft, da in dieser Kontrolle die Aufnahme der Beweise hinsichtlich der konkreten Elemente, deren Gestaltung das Vertrauensschutzprinzip verdichtet, fehlt. Diese Feststellung beweist, dass Art. 27 des Gesetzes Nr. 9.868/98, wenn er „Gründe der Rechtssicherheit“ als Voraussetzung der Möglichkeit des Obersten Bundesgerichtshofs in der konzentrierten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit erwähnt, damit der Oberste Bundesgerichtshof die Variationswirkungen dieser Verfassungswidrigkeitserklärung bestimmen kann, sich nicht auf das Vertrauensschutzprinzip als „subjektivierte Sicherheit“ bezieht, sondern auf das Rechtssicherheitsprinzip in seiner objektiven Dimension und seinem auf das kollektive Interesse bezogenen personellen Aspekt. Das Vertrauensschutzprinzip hängt von der Betätigung des Vertrauens oder Vertrauensdisposition ab, während das Rechtssicherheitsprinzip unabhängig von der tatsächlichen Betätigung zu gewährleisten ist185. Wer somit in direkten Klagen auf Verfassungsmäßigkeit vorgibt, dass der Bürger auf einen spezifischen Verwaltungsakt oder auf eine Gerichtsentscheidung vertraut habe und damit die Erklärung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes mit allgemeiner Wirkung nur Wirkungen für die Zukunft entfalten könne, unter Berücksichtigung des konkreten Schadens des Einzelnen, führt in diese Klagen Elemente ein, die in ihnen nicht Gegenstand der Beweisführung sein können, und verwechselt darüberhinaus auch noch Fragen, die auf den internen Inhalt der Entscheidung bezogen sind, mit äußeren Fragen, die auf ihre Wirkungen bezogen sind. Dies will jedoch nicht besagen, dass das Vertrauen aller oder der Mehrheit oder selbst das Vertrauen auf sich selbst als Element, dass die Ideale der Beständigkeit und Kontinuität der Rechtsordnung gestaltet nicht im Verfahren der abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit bewertet werden kann, wenngleich auch auf hypothetische Weise, oder selbst im Verfahren der konkreten Kontrolle, wenn eine transindividuelle Reaktion auf die Feststellung der Nichtigkeit des Gesetzes vorliegt, wie es auch der Oberste Bundesgerichtshof akzeptiert186. In diesem Fall muss man jedoch nicht beweisen, dass der Wandel ungerechtfertigterweise die konkrete Ausübung der Freiheit einer Person beeinträchtigt, sondern dass er un 185 186

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 129. RE Nr. 197.917-8, Plenum, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 07. 05. 04.

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gerechtfertigterweise das abstrakte Freiheitsrecht aller einschränkt. Hier prüfen wir jedoch das objektive Antlitz des Vertrauensschutzes – nicht mehr also als das Rechtssicherheitsprinzip selbst. Zu wiederholen ist hier, dass das Vertrauensschutzprinzip eine „subjektivierte“ Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips ist187. Mehr noch als bloß zu bedeuten, dass das Vertrauensschutzprinzip sich auf eine individuelle und konkrete Dimension des Rechtssicherheitsprinzips bezieht, bedeutet dies, dass es auch in den Grundrechten des Einzelnen gründet, vornehmlich in den Freiheitsrechten und insbesondere dem Recht auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit. Zusammen mit dem Rechtsstaatsprinzip schützen diese Rechte das Vertrauen, das der Bürger auf kausaler Grundlage sowohl den Rechtsnormen als auch der Glaubwürdigkeit staatlichen Handelns – mit denen ihre Erwartungen und die Gestaltung ihrer Freiheit verbunden sind – entgegengebracht hat188. Diese Rechte erhalten eine noch höhere Relevanz im Bereich des Steuerrechts, zumal die Besteuerung aufgrund ihrer belastenden und lenkenden Wirksamkeit, je intensiver diese ist, die auf die Gestaltung seiner Freiheit und den Gebrauch seines Vermögens bezogenen Rechte des Steuerzahlers beeinträchtigt, so dass die spätere Änderung, die rückwirkend oder gar rückblickend eine frühere Handlung des Steuerzahlers betrifft, in der Regel einer Einschränkung der früheren Ausübung der Freiheit gleichkommt, die sich an den zum Zeitpunkt der Handlung geltenden Normen orientiert hat (und sich nur an ihnen orientieren konnte)189. Der Steuerzahler handelt nicht aufgrund zukünftiger Normen. In praeteritum non vivitur: er handelt aufgrund der gegenwärtigen Normen. Und gerade weil die Grundrechte das Maß des Vertrauenschutzes sind, erfolgt eine Umkehrung der Rechtfertigungslast: nicht der Steuerzahler muss einen Grund finden, um die vergangenen Wirkungen der neuen normativen Orientierung zu verhindern, sondern der Staat muss eine verhältnismäßige Rechtfertigung der Grundrechtseinschränkung aufrechtzuerhalten190. Schließlich ist hervorzuheben, dass das Vertrauensschutzprinzip, das die reflexive Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips darstellt, dem Schutz des Bürgers gegen den Staat dient. Aus diesem Grund behauptet Machado Derzi völlig zu Recht, dass der Vertrauensschutz in einer vertikalen Beziehung wie der steuerrechtlichen nur einseitig gesehen werden kann, d. h. zugunsten des Steuerzahlers, nicht des Staates191. 187

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 110. Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 145 ff.; Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 28; Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 391. 189 Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 29. 190 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 134. 191 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 266. 188

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(b) Anwendungserfordernis (aa) Vertrauensgrundlage (α) Allgemeine Bemerkungen Die Vertrauensgrundlage äußert sich in den Normen, die das Fundament des menschlichen Handelns bzw. Nichthandelns abgegeben haben192. Diese Grundlage kann sowohl generell und abstrakt sein, wie z. B. ein Gesetz, als auch individuell und konkret, wie ein Verwaltungsakt oder eine Gerichtsentscheidung. Sie kann auch positiv sein, durch freiwillige und aktive Handlungen erfolgen, wie z.B bei einer klaren und präzisen Gerichtsentscheidung, bei einem konkludenten Verwaltungsakt, der Träger eines Versprechens ist, oder bei einer ständigen und einheitlichen Praxis der Verwaltung oder auch noch bei einem normativen Akt der Legislative. Die Grundlage kann aber auch negativ sein, passiv und zuweilen unfreiwillig, wie z. B. bei der Duldung durch die Verwaltung oder bei lange Zeit ausbleibender Ausübung einer Kompetenz der Verwaltung, deren Gebrauch nicht der Verwirkungsfrist unterliegt193. Die Kenntnis der Vertrauensgrundlage, die Vertrauen erzeugen kann, ist also das erste Element des Vertrauensschutzprinzips. Das Problem der Vertrauensgrundlage ist weit entfernt davon, konsensfähig zu sein. Einige Fragen mögen genügen, um dies zu beweisen: kann eine offensichtlich verfassungswidrige Norm die Vertrauensgrundlage abgeben, desgleichen eine konfuse und dunkle Norm, oder eine Norm mit Vorbehalt späterer Änderung, oder eine Norm über ein wirtschaftskonjunkturelles Problem, oder auch eine Norm, die sich in einen bekanntlich unbeständigen Normbereich einfügt? Machen der Hinweis, dass die Gesetzgebung sich ändern wird, oder die Nachricht, dass es einen Gesetzesentwurf gibt, das Vertrauen in die geltende Rechtslage zunichte? Diese und andere Probleme beweisen, dass die Untersuchung der Vertrauensgrundlage nicht nur die Feststellung beinhaltet, welche Elemente sie gestalten können, sondern auch die Frage, wie diese Elemente miteinander interagieren, um insgesamt eine „Vertrauensbeziehung“ zu erzeugen. Hier wird die These vertreten, dass die Vertrauensgrundlage durch ihre Fähigkeit, das Fundament für die Ausübung der Freiheits- und Eigentumsrechte abzugeben, gekennzeichnet wird, nicht durch die objektiven Erfordernisse, die sie haben mag. Dies wird dann deutlich werden, wenn wir den Beweis führen, dass ungültige Verwaltungsakte und verfassungswidrige Gesetze, die nicht gemäß den für ihren Erlass geltenden objektiven Erfordernissen erlassen worden sind, ebenso ein schutzwürdiges Vertrauen erzeugen können194. 192 Sabine Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht, S. 43. 193 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 324. 194 Johanna Hey, Vertrauen in das fehlerhafte Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.). Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 91–127.

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Diese Feststellung besagt nicht, dass alle Grundlagen gleichermaßen fähig sind, rechtlich geschützes Vertrauen zu erzeugen. Dies verdankt sich wiederum der Tatsache, dass, obwohl die Natur der Normgrundlage, eine Erwartung zu erzeugen, von wesentlicher Bedeutung ist, nicht alle Normgrundlagen den gleichen Verlässlichkeitsgrad aufweisen. So wird es entscheidend wichtig, Orientierungskriterien zu finden, die den Hinweis auf die Grundlagen erlauben, die vertrauenserzeugend bzw. nicht vertrauenserzeugend sind, so dass die Rechtsprechung nicht mehr kasuistisch und foglich nicht unsicher ist195. Die normalerweise vertretene Lehre unterscheidet streng zwischen legitimen und illegitimen Vertrauensgrundlagen. Der Vertrauensschutz müsse ausgeschlossen sein, wenn die Vertrauensgrundlage rechtlich nicht vorläge oder offensichtlich ungültig wäre, eine Klausel den Vorbehalt zukünftiger Änderung enthielte, bloß experimentell oder anlassbezogen oder sich in einen bekannt unbeständigen Normbereich einfüge. In allen diesen Fällen verdiene die Vertrauensgrundlage keine Verlässlichkeit, weshalb der Bürger nicht mit ihrer Beständigkeit rechnen dürfe, sondern vielmehr mit ihrer Änderung rechnen solle. Die Erforschung des Themas wird also durch Angabe der intrinsischen Eigenschaften durchgeführt, welche die Vertrauensgrundlage haben muss, um Vertrauen zu erzeugen: sie muss gültig sein und einen Anspruch auf Beständigkeit anmelden. Die Blickrichtung der Analyse ist somit strikt formal. Die später noch vorzunehmende rechtswissenschaftliche Untersuchung zeigt jedoch, dass die Vertrauensgrundlage Verlässlichkeit selbst dann verdient, wenn sie bestimmte Eigenschaften hat, die sie auf ersten Blick als vertrauenserzeugende Quelle disqualifizieren. So behauptet man z. B., dass ein verfassungswidriges Gesetz oder ein nichtiger Verwaltungsakt kein rechtlich geschütztesVertrauen erzeugen196. Gibt es aber auch dann keinen Schutz, wenn die Privatperson infolge eines Gesetzes oder Verwaltungsakts lange Zeit hindurch tätig war und der Zustand, in dem sie sich befindet, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann? Und gibt es selbst dann keinen Schutz, wenn die Privatperson nur so gehandelt hat, weil sie vom Staat durch den Akt selbst, der später als nichtig erkannt worden ist, induziert worden ist, und wenn sie dies lange Zeit hindurch und auf kostspielige Weise durch enge Zusammenarbeit mit dem Staat bei der Erreichung staatlicher Zwecke getan hat? Die Untersuchung zeigt gerade, dass die Rechtsprechung diese Akte oder ihre Wirkungen in einigen Situationen schützt197. 195 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 33; Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 42; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 230. 196 Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 297; Stefan Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 84. 197 Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Pública de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei n. 9.784/99), in: RDA 237 (2004), S. 300.

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Diese Bemerkungen machen es notwendig, über eine klassifikatorische Konzeption schutz- und nicht schutzerzeugender Akte zugunsten einer Konzeption hinauszugehen, die nicht nur andere bei der Untersuchung zu berücksichtigende Elemente benennt, sondern auch noch Kriterien ihrer Harmonisierung an die Hand gibt. In diesem Sinn muss auch einerseits im Gedächtnis bleiben, dass nicht nur ein Element, sondern verschiedene Elemente zu berücksichtigen sind. Es gibt nicht nur Variation im Hinblick auf die Elemente, sondern auch eine Unterscheidung hinsichtlich des Aspekts der Vertrauensgrundlage, auf den sie sich beziehen. Es gibt in der Tat Elemente, die sich auf objektive oder intrinsische Eigenschaften des Vertrauensschutzes beziehen, wie den Grad ihrer Bindung, Beständigkeit, Entgeltlichkeit, Wirksamkeit in der Zeit oder Geltung, und Elemente, die sich auf die subjektiven Wirkungen der Vertrauensgrundlage beziehen, wie den Grad des Scheins der Legalität, der Verhaltenslenkung oder der Abhängigkeit des Bürgers vom Staat. Entscheidend ist, dass die Fähigkeit dieser Elemente, um der Vertrauensgrundlage Verlässlichkeit zu verleihen, sich auch aus den Wirkungen ergibt, die sie tatsächlich oder potenziell im Schutzbereich der hier eingeschlossenen Grundrechte und der auf das staatliche Handeln bezogenen Verfassungsprinzipien hervorrufen. So fordert beispielsweise ein entgeltlicher Vertrag mit extrafiskalischer Zwecksetzung, der eine enge Beziehung der Zusammenarbeit zwischen dem Staat und Steuerzahler bei der Erreichung von Staatszwecken konsolidiert und das Verhalten des Steuerzahlers so induziert, dass die schon verübten Handlungen und die schon getätigten Ausgaben ihn in eine tatsächlich irreversible Lage versetzen, die Anwendung der Prinzipien der Freiheit und des Eigentums einerseits und der Sittlichkeit andererseits. Je stärker die Beziehung der Zusammenarbeit von Bürger und Staat ist, desto größer wird der Anspruch auf Beständigkeit der rechtlichen Folgen des Handelns des Bürgers sein198. Das bedeutet, anders formuliert, dass der Vertrauensschutz aus einer bestimmten Sichtweise eine Art der reflexiven Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips, konstruiert auf der Grundlage der grundrechtsschützenden und staatliches Handeln qualifizierenden Prinzipien oder, aus anderer Perspektive, eine Art von reflexiver Anwendung dieser Prinzipien selbst ist. Daher die zutreffende Behauptung von Lehner, dass die Problematik des Vertrauensschutzes und des Rückwirkungsverbots, zuvor an die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von in der Vergangenheit gemäß den gesetzlichen Erfordernissen abgeschlossenen Handlungen gebunden, nun an die Handlung des Steuerzahlers und des Staats gebunden ist199. Der Brennpunkt der Aufmerksamkeit hat sich verschoben, mit ihm auch die Gestaltungsvoraussetzungen des Vertrauensschutzprinzips: die Achse ist nicht mehr die Geltung der Grundlage, der Abschluss des Sachverhalts nach dem vorherigen Gesetz oder die bloße zwischenzeitliche Be 198

Christof Münch, Rechtssicherheit als Standortfaktor. Gedanken aus Sicht der vorsorgenden Rechtspflege, in: Weber, Albrecht (Hrsg.), Währung und Wirtschaft. Das Geld im Recht, S. 677. 199 Moris Lehner, Das Rückwirkungsproblem im Spiegel der Abschnittsbesteuerung, in: Kirchhof, Paul / Schmidt, Karsten / Schön, Wolfgang (Hrsg.), FS für Arndt Raupach. Steuer- und Gesellschaftsrecht zwischen Unternehmerfreiheit und Gemeinwohl, S. 67.

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ziehung zwischen den Normen, sondern die Wahrnehmung der Grundrechte und das staatliche Handeln, ohne dass die Geltung der Grundlage und der Abschluss der Fakten unter der Geltung der vorherigen Norm per se schutzausschließende Faktoren sind200. Anders gesagt, spiegelt der Vertrauensschutz weniger die auf die formale Regelhaftigkeit der vom Staat verübten Handlungen bezogenen intrinsischen Aspekte widerund mehr die Aspekte, die sich auf die Wirksamkeit beziehen, die sie in den mit Freiheit, Eigentum, Gleichheit und dem staatlichen Handeln selbst verbundenen Prinzipien hervorrufen. Wesentlich ist also nicht, ob die Vertrauensgrundlage ordnungsgemäß, endgültig, eindeutig, präzis, positiv oder konkludent ist bzw. nicht ist, wie die Rechtswissenschaft im Allgemeinen behauptet201. Wesentlich sind nun die Wirkungen der Grundlage bezüglich der Grundrechte und Grundprinzipien, selbst dann, wenn die Vertrauensgrundlage nicht ordnungsgemäß, vorübergehend, zwei- oder mehrdeutig, unpräzis, negativ oder nichtkonkludent ist. Vertrauensschutz gibt es dann, wenn die Beziehung zwischen den Elementen dieser Grundlage und ihre Verbindung mit den Grundrechten dies rechtfertigen, wie noch zu beweisen sein wird. Die Untersuchung der traditionellen Rechtsprechung beweist jedoch, dass lange Zeit hindurch und auf eine gewisse Weise bis zum heutigen Tag die Anwendung des Sicherheitsprinzips auf die Gesetzgebung durch das Rückwirkungsverbot, auf die Verwaltungsakte durch die vollendete Rechtshandlung oder das wohlerworbene Recht und auf die Gerichtsentscheidungen durch die Rechtskraft im Hinblick auf den Staat sich immer auf die formelle Regelhaftigkeit des Akts und im Hinblick auf die Privatperson sich immer auf die abschließende Natur oder die Vollendung der normativen Voraussetzungen konzentriert hat. Das ist so sehr der Fall, dass die mit der Materie zusammenhängenden Verfassungsregeln selbst sich auf die abschließende Natur der Akte beziehen: Art. 5 Satz XXXVI schützt das wohlerworbene Recht, die vollendete Rechtshandlung und die Rechtskraft (im Portugiesischen mit Partizip Perfekt Passiv, coisa julgada), und Art. 150 III b verbietet die Rückwirkung des Gesetzes in Bezug auf Tatsachen, die sich vor dem Beginn ihrer Geltung ereignet haben202. Probleme, die auf den Anwendungsbereich der Prinzipien der Freiheit und der Verwaltungsprinzipien und ihre Einschränkung bezogen waren, wurden nicht als Probleme wahrgenommen und behandelt. Das technische und formale Kriterium des Abschlusses lässt nur ein „Ja“ oder „Nein“ als Antwort zu, niemals ein „mehr oder weniger“203.

200

Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 119. Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 305–332. 202 Da das deutsche Grundgesetz keine spezifische Regelung dieses Punkts kennt, ist diese Feststellung nicht möglich. 203 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 235. 201

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Die Rechtsprechung hat aber allmählich den Schutzbereich ausgeweitet, anfangs auf der Grundlage der Theorie der konsolidierten Tatsachen, um dann neuerdings das Prinzip der subjektivierten Rechtssicherheit selbst zu benutzen, um das Vertrauen des Bürgers in den Fällen zu schützen, in denen die begangene Handlung oder formale Regelhaftigkeit in der staatlichen Tätigkeit nicht abgeschlossen ist.204 Wenn das Verhalten des Steuerzahlers im Brennpunkt der Aufmerksamkeit steht und sich im Lauf der Zeit entwickelt, beginnen die Normveränderungen nie im Nichts, sondern zu einem Zeitpunkit, zu dem Verhaltensweisen gewählt werden können, so dass der Begriff der Rückwirkung oder der Änderung nicht nur ein qualitatives, sondern ein quantitatives Problem beinhalten kann, nicht ein „Ja oder Nein“, sondern ein „Mehr oder Weniger“; nicht die Frage eines „Punkts“, sondern einer „Bandbreite“205. Selbst so beziehen sich die Fälle, in denen der Oberste Bundesgerichtshof ausdrücklich oder implizit das Vertrauensprinzip herangezogen hat, sei es unter namentlicher Nennung, wie unlängst, oder durch Konsolidierung der faktischen Rechtslage, wie schon seit langer Zeit, auf mehr oder weniger extreme auf die Verwaltungstätigkeit bezogene Situationen, in denen der Ablauf einer langen Zeitspanne eine entscheidende Rolle bei der Erklärung der Unantastbarkeit des Akts und seiner Wirkungen gespielt hat. In anderen Situationen, in denen die Tätigkeit des Gesetzgebers diskutiert wird und in denen es Verfassungsregeln über die Materie gibt, hat der Oberste Bundesgerichtshof jedoch die retrospektive Wirksamkeit der auf begonnene, aber nicht abgeschlossene Handlungen oder Tatsachen bezogenen Normen zugelassen, und zwar mit dem Argument, dass nur Schutz verdient, was unter dem Schutz der früheren Norm abgeschlossen worden ist. Man muss also in der Erforschung der Anwendung des Vertrauensschutzprinzips in diesem Bereich fortschreiten. Die obigen Fragen zeigen andererseits, dass es eine Bandbreite der Intensität der Verwirklichung der gestalteten Elemente der Vertrauensgrundlage gibt. Diese Bandbreite kann jedoch nicht aufgrund von Kriterien der dualen festen Vermessung (ja oder nein) abgegrenzt werden; stattdessen lässt sie sich nur auf der Grundlage von Kriterien der graduellen Vermessung (mehr oder weniger) konstruieren. Mehr noch: es wird, wie wir später noch nachweisen werden, Vertrauensschutz dann geben, wenn es bezüglich der verschiedenen Kriterien mehr Gründe für den Schutz des Vertrauens als Gründe für den Nichtschutz gibt. Dies ist der hier vertretene Vorschlag: die Vermessung der Vertrauensgrundlage aufgrund von Kriterien der graduellen Vermessung, deren Summe, die ebenfalls graduell zu untersuchen ist, zeigen wird, ob es Rechtfertigungen für den Vertrauensschutz gibt. Die Untersu 204 Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Pública de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei n. 9.784/99), in: RDA 237 (2004), S. 302. 205 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 238 sowie 243.

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chung dieser Kriterien wird die Konstruktion allgemeiner Regeln für die Bestätigung oder Anfechtung dieser Vertrauensgrundlage ermöglichen. Wie man sieht, fügen sich die festzustellenden Elemente, was im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch deutlicher werden wird, nicht in die klassifikatorische Begriffsstarre ein, wenn man erwartet, dass sie Voraussetzungen angeben, deren Vorliegen obligat ist. Sie haben nur Indizwert206. Die genannten Elemente ähneln mehr einer typologischen Darstellung, worunter diejenige verstanden wird, die, anders als die Definitionen, Elemente beinhaltet, die weder individuell notwendig noch hinreichend sind. Für ihre Gestaltung gilt die Sicht des Zusammenhangs, damit die Vertrauensgrundlage trotz des Fehlens eines oder mehrerer Elemente existieren kann. Es geht jedoch nicht darum, die Rechtsprechung zu analysieren, um Realtypen zu konstruieren, d. h. eine Typologie, die durch Beschreibung des gewöhnlich in der Rechtsprechung Entschiedenen angibt, welches die ausnahmsoder normalerweise schutzwürdigen Fälle sind, wie Stötzel es unternimmt207. Stattdessen geht es darum, anzugeben, welches die bei der Anwendung des Vertrauensschutzprinzips zu berücksichtigenden rechtlichen Elemente und Kriterien sind, in den Fällen, in denen die vorgefallene Tatsache oder die begangene Handlung nicht gemäß dem früheren Gesetz abgeschlossen worden sind, so dass bei Vorliegen dieser Elemente der Rechtsanwender die angegebenen Kriterien zu verwenden hat. Statt Realtypen ist auf dem von Hey eingeschlagenen Weg eine materiale Typologie zu konstruieren208. Die Notwendigkeit der Angabe der bei der Gestaltung der Vertrauensgrundlage zu berücksichtigenden Elemente und die Art und Weise, wie sie sich gestalten und interagieren, ergibt sich auch aus der Forderung nach Rechtssicherheit bei der Rechtsanwendung. Es reicht nicht aus, wie die Wissenschaft es immer wieder tut, einfach zu behaupten, dass man eine Abwägung oder Ausbalancierung zwischen dem auf das Demokratieprinzip gegründeten staatlichen Interesse an der Änderung der anwendbaren Normen und dem auf den Vertrauensschutz gegründeten Privatinteresse an der Erhaltung der von ihnen produzierten Wirkungen vornehmen muss. Welche auf diese Interessen bezogenen Elemente muss man denn abwägen? Aufgrund welcher Kriterien? Mit welchem Gewicht? Ohne die vorgängige Angabe des Gegenstands der Abwägung und der Kriterien wird die Abwägung ein Instrument der Willkür sein, damit aber unvereinbar mit dem Rechtssicherheitsprinzip in seiner dynamischen Dimension209. Es ist auch unzureichend, das Feld einer kasuistischen Abwägung zu überlassen210. Die in dieser Arbeit vorgestellten Kriterien sind also das Ergebnis einer Anstrengung in dem Sinn, Parameter für 206 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 92 f. 207 Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 149 ff. 208 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 245. 209 Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: Depenhauer, Otto Depenhauer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort – FS für Josef Isensee, S. 265 sowie 267. 210 Bodo Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 147.

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eine sichere Abwägung zu schaffen. Entweder entscheidet man sich für diese Vorsichtsmaßnahme oder man endet bei einem interessanten Paradox: der Vorrang der Rechtssicherheit durch die Erhaltung vergangener Akte oder Normen oder ihrer vergangenen Wirkungen erfolgt mittels einer Abwägung, die sich mangels intersubjektiv kontrollierbarer Kriterien als willkürlich und ebendeshalb die Rechts­ sicherheit verletzend erweist. Anders gewendet: entweder orientiert sich die Abwägung an universalisierbaren und rechtlich rechtfertigungsfähigen Kriterien, oder man schränkt, unter dem Vorwand, die Rechtssicherheit (in ihrer dynamischen Dimension, als Verlässlichkeit in ihrem subjektiven Aspekt des Vertrauensschutzes) zu gewährleisten, andererseits dieselbe Rechtssicherheit (in ihrer dynamischen Dimension, als Berechenbarkeit in ihrem objektiven Aspekt des Willkürverbots) ein. Wieder einmal kehren wir zur allgemeinen These zurück, die diese Arbeit durchzieht: Rechtssicherheit ist entweder integral oder keine Rechtssicherheit, oder, rigoroser formuliert: die Wirksamkeit der Rechtssicherheit wird entweder integral untersucht oder man trifft unter dem Vorwand, Rechtssicherheit zu gewährleisten, Maßnahmen, die ihre tatsächliche und festgestellte Einschränkung ihre gewünschte und angekündigte Verwirklichung überwiegt. (β) Gestaltungskriterien Die Kriterien zur Gestaltung der Vertrauensgrundlage beziehen sich mal auf jegliche Äußerung des Staates, mal nur auf die Gesetze oder Verwaltungs- oder Gerichtsakte. Das nachstehende Verzeichnis spiegelt anfänglich die Voraussetzungen wider, die auf jede staatliche Äußerung gerichtet sind, und endet mit den einzelnen staatlichen Äußerungen. Kriterium des Bindungsgrads der Grundlage (bindende Grundlage ↔ nichtbindende Grundlage) Je höher der Grad der normativen Bindung der normativen Grundlage ist, desto höher muss der ihr entgegengebrachte Vertrauensschutz sein. Diese Voraussetzung ergibt sich aus der Tatsache, dass nicht alle Normen denselben Bindungsgrad haben: es gibt zwingende Gesetze, die verpflichten, so wie es dispositive Gesetze gibt, die erlauben; es gibt sowohl Verwaltungsakte mit externer Wirksamkeit, die an Privatpersonen gerichtet sind, wie beispielsweise normative Auslegungsakte, als auch Anordnungen mit interner Wirksamkeit, wie beispielsweise Dienstanweisungen; es gibt Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs in Verfahren über abstrakte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit, mit Wirksamkeit erga omnes, Entscheidungen in Verfahren der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit mit Suspendierung des Gesetzes durch Senatsbeschluss, so wie auch Entscheidungen in der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit mit Wirksamkeit inter partes; es gibt Entscheidungen des Obergerichtshofs der Justiz (Superior Tribunal de Justiça), die Gegenstand von Leitsätzen (súmulas) sind oder von der zuständigen Sektion des

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Gerichts über die behandelte Materie gefällt worden sind, sowie Entscheidungen, die von einem der Senate (turmas) gefällt worden sind; es gibt Entscheidungen der unterinstanzlichen Gerichte, die durch die sog. Gruppen von Zivilsenaten (Grupos Cíveis) gefällt werden, sowie Entscheidungen der Kammern und so ad infinitum. Wichtig ist, dass diese Akte nicht denselben Bindungsgrad aufweisen: einige binden formal (Gesetze und Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs in Verfahren der abstrakten oder konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit mit Suspendierung des Gesetzes durch Beschluss des Senats, oder Materien, die Gegenstand von Leitsätzen sind); andere binden materiellrechtlich (die Auffassung der Exekutive vereinheitlichende Verwaltungsakte, wiederholte Entscheidungen der höchtsinstanzlichen Gerichte, ihrer Plena oder der Organe der Vereinheitlichung der Rechtsprechung oder auch Entscheidungen, die Gegenstand nicht bindender Leitsätze sind); und andere wiederum haben keine endgültige Bindungskraft, obwohl sie sofort wirksam werden (Verwaltungsentscheidungen der ersten Instanz oder einstweillige Gerichtsentscheidungen der ersten oder zweiten Instanz). In diesem Sinn und angesichts des Umstands, dass die Fähigkeit zur Erzeugung von Vertrauen das Unterscheidungskriterium der Grundlage ist, kann man die vertrauenskonstitutive Wirksamkeit eines bindenden Akts nicht einem nichtbindenden Akt gleichstellen, ebensowenig eines Akts mit materialer Bindung einem Akt ohne diese Bindung. Je stärker nämlich die Bindung ist, desto größer muss die Verlässlichkeit des Bürgers sein, von einem Extrem formaler Bindung (die Gehorsam verlangen, anders als das die Fähigkeit der Disposition und die Handlungsfreiheit voraussetzende Vertrauen) bis zum anderen Extrem der bloß materiallen Bindung (in dem es in höherem oder geringerem Maß bloßes Vertrauen geben muss). Kurz, da der Akt einen Grad der Disposition seitens der Privatperson zulässt, wird, je stärker seine Bindung sein wird, desto höher auch die Erwartung sein, die der Bürger im Hinblick auf die zukünftige Befolgung haben muss, aufgrund der geringeren Fähigkeit der Wahl der Entscheidung, die er treffen muss, nämlichund der geringeren Anwesenheit des die Aufteilung des Risikos bei der Entscheidung rechtfertigenden Umstands. Man muss daran erinnern, dass das Rechtssicherheitsprinzip im hier untersuchten Aspekt ein Instrument der Achtung der in der Vergangenheit in Orientierung am Recht selbst ausgeübten Freiheit ist. Wenn dem so ist, muss es den Bürger umso mehr schützen, je mehr er sich an die vom Recht vorgegebene Orientierung gehalten hat. Und dies ist dann der Fall, wenn die bindende Kraft des vertrauenserzeugenden Akts sehr stark ist. Je stärker sie ist, desto stärker wird der Einfluss des Rechts bei der Ausübung der Freiheit sein. Kriterium des Grades des Legitimitätsscheins der Grundlage (geltende Grundlage ↔ nicht geltende Grundlage) Je höher der Grad des Legimitätsscheins der Grundlage ist, desto stärker muss der Schutz des der Grundlage entgegengebrachten Vertrauens sein. Zu dieser Regel

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gelangt man einerseits durch die Forderungen der Erkennbarkeit und rechtlichen Wirksamkeit selbst, die das Rechtssicherheitsprinzip bilden: damit das Recht dem Bürger zur Orientierung dienen kann, muss es bekannt und ausführbar sein; damit es erkennbar und minimal wirksam ist, ist es jedoch notwendig, dass der Bürger der Geltung der normativen Akte, die Gegenstand der Veröffentlichung oder LBekanntgabe gewesen sind, vertraut und sie niemals als verdächtig ansieht. Anders gewendet, funktioniert das Prinzip der Gesetzmäßigkeit nur und ist das Recht nur minimal wirksam, wenn ihm die Vermutung seiner Geltung zugeschrieben wird211. Diese Vermutung hat jedoch ihren Preis: der auf die Geltung der staatlichen Akte vertrauende Bürger darf später nicht geschädigt werden. Ohne Geltungsvermutung gibt es nämlich keine Verlässlichkeit. Ohne jegliche Verlässlichkeit gibt es jedoch auch keinen Gehorsam. Und ohne Gehorsam kann kein Minimum an Wirksamkeit bestehen. Der Preis der Wirksamkeit ist also der Schutz derjenigen, die im Vertrauen auf die Geltung staatlicher Akte deren Orientierung befolgt haben, selbst wenn diese Akte später für rechtswidrig erklärt werden. Eben aus dieser Verlässlichkeit, genauer noch aus der Glaubwürdigkeit, die das Recht haben muss, ergibt sich der größte Widerstand gegen Akte, deren Schein Geltung vortäuscht. Wenn dem so ist, verdienen die Akte, die offensichtlich keine Geltung haben, wie die Nichtakte, unter denen diejenigen Ausnahmeakte verstanden werden, die eine so grobe und evidente Regelwidrigkeit offenbaren, dass ihre Fehler unmittelbar in die Augen springen, kein Vertrauen – zumindest nicht nach diesem Kriterium212. Wie übrigens alle anderen Kriterien, ist das Kriterium des Geltungsscheins weder endgültig im Sinn von notwendig und hinreichendfür den Vertrauensschutz, noch ist seine Gestaltung frei von Schwierigkeiten. In einigen Situationen wird es nicht möglich sein, einen nichtexistenten Akt von einem nichtigen oder selbst einem anfechtbaren Akt oder ein verfassungsmäßiges von einem verfassungswidrigen Gesetz zu unterscheiden213. Deshalb spricht man von Schein der Legitimität des Akts statt Legitimität des Akts. Der Schein der Legitimität hängt seinerseits von Problemen ab, die an die Subjekte des Akts (je höher der Rang der Autorität, die den Akt verabschiedet, und je größer die Zahl der in die Ausarbeitung seines Inhalts einbezogenen Subjekte, desto stärker auch die Vermutung, dass er rechtskonform ist, aufgrund der Annahme, dass größere Autoritäten weniger irren, und an die gewählte Form gebunden sind (je größer die Öffentlichkeit und demokratische Teilhabe an seiner Ausarbeitung, desto stärker die Annahme, dass er auch 211

Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 65. Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Pública de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei n. 9.784/99), in: RDA 237 (2004), S. 301; Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 334 sowie 341. 213 Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 35. 212

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korrekt ist, aufgrund der Unterstellung, dass öffentliche Akte nicht die Verhüllung von Mängeln zum Ziel haben und die Beteiligung von mehr Personen zur Reduzierung der Fehler des Akts beiträgt), neben anderen Elementen214. Wichtig ist, dass man nicht einfach den Vertrauensschutz beiseiteschieben kann, nur und ausschließlich weil die Vertrauensgrundlage aus einer bestimmten Sichtweise regelwidrig ist, wie die Wissenschaft meint215. Die Kenntnis einer sichtbaren Verfassungswidrigkeit schließt also den Vertrauenschutz nicht automatisch aus, obwohl sie einen beschränkten Vertrauenschutz erzeugt216. Ebenso ist die tatsächliche Kenntnis des Fehlers des Akts, vor allem wenn er offensichtlich ist, ein Argument gegen die Entstehung von Vertrauen. Das gilt noch mehr im Falle der Beteiligung der Privatperson an der Verursachung des Fehlers, wenn sie beispielsweise arglistig mit Zwang oder Bestechung handelt oder falsche bzw. ungenaue Daten angibt217. Daher die Behauptung, dass ohne Treu und Glauben als subjektiven Zustand der Abwesenheit von Vorsatz Treu und Glauben auch objektiv nicht vorliegen gibt, verstanden als Schutz der Rechtsordnung angesichts regelwidriger Handlungen, die Rechte für Privatpersonen schaffen218. Erneut ist jedoch darauf zu bestehen, dass selbst in Situationen wie dieser das Arrangement der Elemente der später näher erklärten Vertrauensgrundlage das Fehlen eines Elements ausgleichen kann, wie im Fall des Ablaufs eines langen Zeitraums zwischen Erlass des Aktes und Feststellung des Fehlers oder der Abhängigkeit der Privatperson in Bezug auf seine Folgen, selbst im Fall der Bösgläubigkeit (mala fides). Das geht so weit, dass selbst die Gesetzgebung die Bestätigung der fehlerhaften Akte nach Ablauf bestimmter Verfallsfristen gewährleistet, so im Fall des Steuerrechts: Art. 173 der nationalen Abgabenordnung verlegt das Datum des Beginns der Verfallsfrist auf den Beginn des nächsten Geschäftsjahrs im Fall des Vorsatzes des Steuerpflichtigen, behält aber den endgültigen Verlust der Befugnis des Finanzamts zur steuerlichen Veranlagung bei. Die Wissenschaft schließt das Vorliegen einer Vertrauensgrundlage in einigen Situationen aus. Hervorzuheben sind hier drei: Dunkelheit, vorgängiger Hinweis 214

Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 99. 215 Sabine Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im deutschen Recht, S. 45. 216 Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 174. 217 Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Pública de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei n. 9.784/99), in: RDA 237 (2004), S. 305. 218 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 363; Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Pública de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei n. 9.784/99), in: RDA 237 (2004), S. 304.

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auf Änderung und Rechtswidrigkeit219. In keinem der drei Fälle darf jedoch die Vertrauensgrundlage automatisch unberücksichtigt bleiben. Im Fall der Dunkelheit der Vertrauensgrundlage wird behauptet, dass der Bürger sein Verhalten nicht auf eine Norm stützen könne, die nicht hinlänglich klar ist, um sein Verhalten im tatsächlich gewählten Sinn anzuleiten. Ohne Klarheit gebe es überhaupt keinen Vertrauensschutz. Dieses Verständnis berücksichtigt aber nicht, dass der Bürger tatsächlich einer der Alternativen der Normbedeutung vertraut haben kann, für deren Dunkelheit er übrigens auf keine Weise verantwortlich gemacht werden kann. Falls Vertrauensschutz ausgeschlossen wird, wenn die Vertrauensgrundlage auf irgend eine Weise dunkel ist, wird man zu einem paradoxen Ergebnis kommen: nachdem der Staat seine Pflicht zur Gewährleistung von „Orientierungssicherheit“ durch eine klare und widerspruchsfreie Normierung nicht erfüllt hat, wird er durch seine Unterlassung in dem Augenblick begünstigt, in dem die „Anwendungssicherheit“ verwirklicht wird. In diesem Zusammenhang sollte man nicht vergessen, dass die Steuerplanung auch eine Folge der Komplexität und Instabilität der Gesetzgebung ist, die den Steuerzahler nicht orienriert, sondern desorientiert220. Diese Auslegung schafft nicht nur einen sich aus der Nichterfüllung einer Pflicht ergebenden Begünstigungstatbestand, sondern ist auch sowohl mit dem Rechtssicherheitsprinzip als auch mit dem Sittlichkeitsprinzip unvereinbar: mit ersterem, da sie einen höheren Unsicherheitszustand erzeugt (der Bürger, der aufgrund der Forderung nach Verlässlichkeit durch Wirksamkeit der Norm die staatliche Orientierung befolgen sollte„ wird eben dafür„ bestraft, mit dem Ergebnis, dass er Normen mit einem gewissen Unbestimmtheitsgrad nicht beachtet – eine Situation, welche sowohl der Verlässlichkeit als auch der Berechenbarkeit des Rechts zuwiderläuft); mit letzterem (Sittlichkeitsprinzip in der Verwaltung) ist sie unvereinbar, da sie dazu führt, dass der Staat, der für die Dunkelheit zur Verantwortung gezogen werden sollte, von ihr profitiert und sein eigenes früheres Verhalten, das die Befolgung der von ihm erlassenen Normen forderte, desavouiert. Die Aufhebung des Vertrauensschutzes würde demnach einen Konflikt heraufbeschwören: der Staat sähe sich gezwungen, klare Normen zu erlassen, würde aber nicht für die Nichteinhaltung dieser Pflicht bestraft, sondern belohnt. Er würde, anders formuliert, zum Erlass klarer Normen verpflichtet und gleichzeitig angeregt werden, das Gegenteil zu tun. Im Fall der vorherigen Ankündigung der Veränderungsmöglichkeit wird behauptet, dass der Bürger zukünftig keinen Vertrauensschutz beanspruchen könne, wenn die erfolgte Veränderung vorher angekündigt worden ist221. Diese Auffassung 219

César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 179; Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 305. 220 Frédéric Douet, Contribution à l’étude de la sécurité juridique en Droit interne français, S. 47. 221 César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 179.

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kann ebenfalls nicht akzeptiert werden. Wie wir schon gesehen haben, ist eines der Elemente der Forderung nach Erkennbarkeit des Rechts die Sicherheit hinsichtlich des Vorliegens und der Geltung der von der Privatperson zu befolgenden Norm. Rechtssicherheit gibt es somit nur, wenn der Bürger die Fähigkeit hat, zu wissen, welche Norm er befolgen muss. Die Auffassung, dass die Ankündigung einer möglichen zukünftigen Änderung der Rechtsordnung den Vertrauensschutz eliminiere, nicht harmoniert mit diesem Element, da sie den Bürger daran zweifeln lässt, welche Norm er befolgen soll: die gegenwärtige und geltende Norm oder die Norm, die eines Tages vielleicht gelten kann. Dadurch wird er auch noch gezwungen sein, bloße Novellierungsentwürfe zu analysieren, die zahlreich sind und nicht immer veröffentlicht werden. Diese Dualität von Normen, an denen man sein Verhalten orientieren kann, widerspricht nicht nur dem anzustrebenden Zustand der Erkennbarkeit des Rechts, sondern auch dem gleichfalls anzustrebenden Zustand seiner Verlässlichkeit: die Rechtsordnung ist berufen, in der Zeit fortzudauern, nicht dazu, sofort und kontinuierlich verändert zu werden. Eliminiert man den Vertrauensschutz dann, wenn der Staat seine Absicht ankündigt, die bestehende Gesetzgebung zu ändern, widerspricht dies der Kontinuität der Rechtsordnung, nicht aufgrund der schon vorgenommenen, aber noch nicht geltenden Änderungen, sondern stattdessen aufgrund bloßer politischer Wünsche nach Änderung der Gesetzgebung. Eliminiert man den Vertrauensschutz dann, wenn eine Ankündigung der Änderung der Gesetzgebung erfolgt, bedeutet dies, dass man einem „möglichen zukünftigen Recht“ Glaubwürdigkeit zuschreibt, nicht dem „geltenden gegenwärtigen Recht“. Es bedeutet, um es anders zu formulieren, dass man dem Wandel der Rechtsordnung ein stärkeres Gewicht zuschreibt, und zwar in offensichtlichem Widerspruch zu den dem Rechtssicherheitsprinzip immanenten Forderungen normativer Stabilität und Kontinuität. Daher die Behauptung, dass die gültige und geltende Gesetzgebung den einzigen Orientierungsparameter für den Bürger abgeben muss222. Die Auffassung, derzufolge die Verlässlichkeit der Rechtsordnung sich anlässlich der Ankündigung des Wunsches nach Änderung auflöst, ist auch ein Argument gegen das Verständnis des Rechtssicherheitsprinzips als eines instrumentellen Freiheitsprinzips, zumal die mangelnde Festlegung im Hinblick auf die anwendbaren Normen ihre Fähigkeit einschränken würde, die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten. Ohne ein Minimum an Orientierungssicherheit kann der Einzelne nicht frei und selbständig planen. Wer nicht weiß, welche Norm er zu befolgen hat, handelt zögerlich oder unsicher, da er die Grenzen der Ausübung seiner Freiheit nicht kennt223. Wenn man die Eliminierung des Vertrauensschutzes aufgrund von Gesetzesvorlagen mit völlig unvorhersehbarem Ausgang annimmt, begründet man die Verlässlichkeit des Rechts nicht in einem Gesetz, sondern in dessen Aus 222

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 126 ff. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 22; John Rawls, Theory of Justice, S. 407. 223

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bleiben224. Deshalb weist Machado Derzi völlig zu Recht die Übernahme des sog. „Ankündigungseffekts“ in die brasilianische Rechtsordnung zurück225. Im Fall der Rechtswidrigkeit der Vertrauensgrundlage wird behauptet, dass der Bürger seine Wahl nicht an einer rechtswidrigen Normgrundlage ausrichten dürfe226. Ohne Rechtskonformität gebe es keinen Vertrauensschutz. Diese Auffassung verkennt jedoch, dass der entscheidende Punkt für den Vertrauensschutz, wie schon gesagt, nicht die formale Regelhaftigkeit staatlichen Handelns ist, sondern die Einschränkung der Grundrechte. In diesem Sin kann es eine bestimmte Ausübung der Freiheit oder einen bestimmten Gebrauch des Eigentums gegeben haben, welche die Einschränkung der Wirkungen des neuen Gesetzes in der Zukunft aufgrund des Grundrechtschutzes rechtfertigen, selbst wenn eine rechtswidrige Normgrundlage vorliegt. Die Rechtswidrigkeit der Vertrauensgrundlage darf nicht ein den Vertrauensschutz ausschließender Faktor sein. Sie muss vielmehr ein Element der Abwägung zwischen den Gründen des Schutzes und der Schutzverweigerung sein227. Zu erwähnen bleibt noch, dass die Rechtswidrigkeit des Akts normalerweise nach den Dispositionshandlungen der Privatperson festgestellt wird. Diese Handlungen sind aber im Glauben ausgeführt worden, dass die wirksame Vertrauensgrundlage vorlag. Wenn dem so ist, muss die Verpflichtung, die Gesetze zu befolgen, dem Vertrauensschutz in seiner Verfassungsgemäßheit entsprechen. Der Schein einer Norm erzeugt so viel Vertrauen wie die Norm selbst228. Sowohl der erlaubte als auch der unerlaubte staatliche Akt bringen konkrete Wirkungen hervor, die nicht einfach unberücksichtigt bleiben dürfen: wer ohne Fahrlässigkeit auf einen staatlichen Akt vertraut hat, dessenthalben er auf intensive und irreversible Art über seine Freiheit und sein Vermögen verfügt hat, ist zu schützen, wobei es auf die Rechtswidrigkeit des Akts nicht weiter ankommt229. Kriterium des Grades der Veränderbarkeit der Grundlage (Grundlage mit hohem Beständigkeitsanspruch ↔ Grundlage mit geringem Beständigkeitsanspruch) Je höher der Beständigkeitsgrad einer Grundlage ist, desto stärker muss der Schutz des ihr entgegengebrachten Vertrauens sein, weil es Akte mit Beständigkeitsanspruch gibt, so wie ein Gesetz ohne Geltungsfrist, bloß provisorische Akte, 224

Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 305. Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 448. 226 Stefan Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 54. 227 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 183. 228 Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 204. 229 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 66 sowie 91. 225

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deren endgültige Wirksamkeit von einem anderen folgenden Akt abhängt, und Akte ohne Endgültigkeit wegen Ermächtigung zur Abänderung aus wirtschaftspolitischen Gründen, wie etwa Abgabenänderungen, in denen der Steuersatz durch eine Verordnung des Staatspräsidenten geändert werden kann. Nun weisen diese Akte nicht den gleichen Beständigkeitsgrad auf. Einige dauern an, andere wiederum sind von Anfang an zu einer provisorischen, wenn nicht ephemeren Existenz verurteilt. Da nun die Fähigkeit zur Erzeugung von Vertrauen das Unterscheidungsmerkmal der Grundlage ist, lässt sich die vertrauenskonstitutive Wirkung eines Akts mit Beständigkeitsanspruch auch nicht der vertrauenskonstitutiven Wirkung eines bloß vorübergehenden und anlassbezogenen Akts gleichstellen230. Je höher nämlich der Beständigkeitsanspruch ist, desto stärker muss die Verlässlichkeit für den Bürger sein, die von einem Extrem der Endgültigkeit bis zum anderen Extrem der Flüchtigkeit reicht. Man bedenke gleichfalls, dass das Rechtssicherheitsprinzip im Hinblick auf den gerade untersuchten Aspekt ein Mittel zum Schutz der Hochachtung der in der Vergangenheit in Orientierung am Recht selbst ausgeübten Freiheit ist. Wenn es das aber ist, muss es den Bürger umso mehr schützen, je mehr er auf die vom Recht gelieferte Orientierung vertrauen durfte. Und das wird eintreten, je höher der Beständigkeitsanspruch des vertrauenserzeugenden Akts ist: je höher dieser Anspruch ist, desto mehr muss der Bürger die Manifestation des Rechts in der Ausübung der Freiheit berücksichtigen. Zu erwähnen ist schließlich, dass das Rechtssicherheitsprinzip, wie schon oben bemerkt, die Gewährleistung der Achtbarkeit der freien, autonomen und rechtskonformen Ausübung der Freiheit zum Ziel hat. Die autonome Ausübung der Freiheit erfolgt dann, wenn der Bürger in einem gewissen Maß für seine Entscheidungen verantwortlich ist, auch wenn er innerhalb der Grenzen des Rechts gehandelt hat. In anderen Worten: das Rechtssicherheitsprinzip muss die verantwortliche Ausübung der Freiheit schützen. Dies wird nicht der Fall sein, wenn das Vertrauen geschützt wird, das einem Akt entgegengebracht wird, von dem man weiß oder wissen muss, dass er prononciert vorübergehend und daher in der Zukunft änderbar ist. entgegengebrachte Vertrauen geschützt wird. In diesem Fall wird es, selbst wenn es vermutetes Vertrauen vorliegt, kein legitimes Vertrauen geben, viel weniger noch eine verlässliche Grundlage, welche die Rede von Enttäuschung oder Überraschung rechtfertigt: Überraschung gibt es ja nur, wenn der Bürger etwas nicht erwartet und es dann plötzlich eintritt. Die Überraschung wird hinfällig, wenn das Ereignis schon erwartet wird; in diesem Fall müsste der Betroffene von vornherein mit der seiner Änderung rechnen231. Die zentrale Frage ist also nicht, 230 Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 297. Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 167. 231 Josef Isensee, Vertrauensschutz für Steuervorteile. Ein Folgeproblem der Wirtschaftslenkung durch Steuer des § 3a EStG, in: Kirchhof, Paul / Offerhaus, Klaus / Schöberle, Horst (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik. FS für Franz Klein, S. 627; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 127; Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 167.

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ob die Privatperson vertraut hat, sondern ob sie vertraut haben konnte232. Wer eine zukünftige Änderung voraussieht, lässt sich nicht überraschen, sondern wartet ab. So hat der Richter am Obersten Bundesgerichtshof Cezar Peluso, als er eine mutmaßliche Änderung der Rechtsprechung untersuchte, in einem Fall, in dem die „abgeänderte Entscheidung“ noch nicht rechtskräftig geworden und damit vorläufig war, ausgeführt, dass „die Geltungsgrundlage des annullierten Akts (Forderung) provisorisch wäre, da die Entscheidung noch nicht rechtskräftig geworden wäre; die Umkehrung oder Existenz sind auf keinen Fall eine unerwartete Folge“233. Die Erwartung wird also durch die zukünftige Änderung der gegenwärtigen Norm bestätigt. Die legitime Erwartung in diesem Fall ist die Erwartung der Änderung, nicht der Beständigkeit. Deshalb bedeutet Vertrauensschutz die Ermöglichung der Änderung, nicht der Stabilität. Man darf jedoch den von einer Norm mit geringem Beständigkeitsanspruch erzeugten Grad der Verlässlichkeit nicht mit dem von einer Norm mit einer bestimmten Geltungsfrist verwechseln: diese Norm erzeugt einen hohen Grad an Verlässlichkeit in dem Maß, in dem die Privatperson darauf vertraut, dass sie während der Frist ihres Bestands vorrangig bleiben wird. Dies bedeutet, dass – im Gegensatz zu Normen mit geringem Beständigkeitsanspruch, mit deren Beständigkeit die Privatperson nicht rechnen kann – die Normen mit einer bestimmten Geltungsfrist der Privatperson erlauben, präzise mit ihrer Beständigkeit zu rechnen234. Aus keinem anderen Grund statuiert Art. 178 der nationalen Abgabenordnung, dass die in einer bestimmten Frist und unter bestimmten Bedingungen gewährten Steuerbefreiungen unwiderruflich sind. Noch einmal muss die anfängliche Richtlinie wiederholt werden, welche die Untersuchung aller Elemente durchziehen muss: entgegen der normalerweise vertretenen Position235 eliminiert der geringe Beständigkeitsanspruch der Norm oder der Vorbehalt ihres Widerrufs per se nicht den Vertrauensschutz. Der Steuerzahler kann wissen, dass die Norm vorübergehend ist, kann aber nicht wissen, in welchem Maß sie abgeändert werden wird, wodurch die Berechenbarkeit der zukünftigen Folgen seiner Handlungen unmöglich wird. Es hilft überhaupt nicht, zu wissen, dass die Norm abgeändert werden kann, wenn man nicht weiß, in welchem Maß sie abgeändert werden kann. Das wäre ja wie die „Gewissheit der Ungewissheit“, unvereinbar mit der Forderung nach Berechenbarkeit des Rechts. Darüberhinaus beseitigt die Kenntnis der Möglichkeit der Änderung weder die Einschränkung von Grundrechten noch die Notwendigkeit einer Rechtfertigung der Änderung236.

232

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 167. RE Nr. 370.682-9, Plenum, Berichterstatter: Richter Ilmar Galvão, DJ 19. 12. 07, S. 562 des Urteils. 234 Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 171 sowie 200. 235 Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 344. 236 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 288. 233

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So muss man also feststellen, ob das Fehlen der Beständigkeit nicht durch andere Eigenschaften der Vertrauensgrundlage aufgewogen wird. Ausnahmsweise kann es also einen Vertrauensschutz geben, selbst wenn die Privatperson mit seiner zukünftigen Änderung rechnen konnte237. Kriterium des Wirksamkeitsgrads in der Zeit der Grundlage (kurze Wirksamkeit ↔ dauerhafte Wirksamkeit) Je dauerhafter in der Zeit die zeitliche Wirksamkeit der Grundlage ist, desto mehr Schutz verdient das ihr entgegengebrachte Vertrauen, weil der Ablauf der Zeit den Schein von Legitimität der Grundlage verstärkt, so normalerweise bei Verwaltungsakten: je länger die hervorgebrachten Wirkungen andauern, desto mehr zerstreut sich der eventuell aufkommende Zweifel an der Geltung des Akts. Hier „schafft“ oder „verstärkt“ die Zeit das Vertrauen der Privatperson in die Normgrundlage. Daher die zutreffende Behauptung von Reale: „wenn die Trägheit der Verwaltung schon erlaubt hat, dass sich faktische Situationen mit einem starken Anschein von Legalität bilden, so dass sie in den Köpfen der Bürger die Überzeugung ihrer Legitimität erzeugen, wäre es absurd, unter dem Vorwand des Primats des Staates den Behörden eine unbestimmte Kompetenz zur Annullierung von Akten des Selbstschutzes zu gewähren“238. Hierzu kann man einerseits behaupten, dass die wiederholte Praxis der Anwendung eines Akts eine Art von konkludenter Wirksamkeit in Bezug auf seine Geltung hat und bewirken kann, dass die Privatperson so handelt, dass sie sich kausal an dieser Praxis orientiert239. Andererseits erzeugt diese Praxis im Adressaten des Verwaltungsakts die Vorstellung, dass die Verwaltung den Akt nicht zurücknehmen wird. Selbst wenn es keine Verwirkungsfrist für die Revision des Verwaltungsakts gibt, kann der Ablauf der Zeit ohne jegliche Form staatlichen Handelns sogar das Revisionsrecht der Verwaltung beeinträchtigen240. Eben in diese Richtung geht die Bestimmung im einzigen Absatz von Art. 100 der nationalen Abgabenordnung, demzufolge die Strafsanktion und die Zinsen zu eliminieren sind, wenn die Privatperson der wiederholten Praxis der Verwaltung vertraut hat. Wesentlich ist, dass die fortgesetzte Praxis fähig ist, im Bürger den Eindruck der Gültigkeit des Akts zu erzeugen, so dass die zukünftige Unterbrechung der Erzeugung von Wirkungen als illoyaler Akt ausgelegt werden kann. Auf diese Weise ist also die Beziehung zwischen der Vertrauensgrundlage und der Zeit umgekehrt proportional: je länger der Akt wirkt, desto weniger tragfähig muss die

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Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 168. Miguel Reale, Revogação e anulamento do ato administrativo, 2. Aufl., S. 86. 239 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 737; Beatrice Weber-Dürler, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, S. 102. 240 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 108. 238

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Vertrauensgrundlage sein; je kürzer der Akt wirkt, desto tragfähiger muss die Vertrauensgrundlage sein241. Noch eine unerlässlich Beobachtung: Diese Arbeit unterscheidet zwei Dimensionen in Bezug auf den Schutz von Individualsituationen: einerseits gibt es die objektive Dimension der reflexiven Anwendung der Rechtssicherheit, die sich in der Unantastbarkeit von Individualsituationen aus objektiven, sich aus ihrer faktischen Konsolidierung ergebenden Gründen zeigt; andererseits die subjektive Dimension der reflexiven Anwendung der Rechtssicherheit, offenbart durch die Unantastbarkeit von Individualsituationen aus subjektiven, sich aus der Ausübung des Vertrauens ergebenden Gründen. Begrifflich sind beide Schutzarten unterschiedlich: eine Sache ist die Beibehaltung der rechtlichen Wirkungen des gesetz- oder verfassungswidrigen Akts, da sie infolge des langen Zeitablaufs irreversibel geworden sind, wobei es nicht darauf ankommt, ob der Akt bona fide erlassen worden ist und die Privatperson Kenntnis von seiner Illegimität hatte bzw. haben sollte; eine ganz andere Sache ist es, die rechtlichen Wirkungen eines verfassungswidrigen Akts aufgrund der Ausübung des Vertrauens in den Fällen zu bewahren, in denen die Privatperson gehandelt hat, nämlich im Vertrauen auf die Legitimität des Akts, ohne von seiner Illegitimität Kenntnis zu haben bzw. haben zu müssen. Im ersten Fall ist das Vertrauen irrelevant; im zweiten relevant. Deshalb darf man einen Fall der konsolidierten Situation nicht begrifflich mit einem Vertrauensschutzfall verwechseln. Die Unterscheidung zwischen beiden Situationen ist jedoch nicht punktuell, sondern kontinuierlich: der Übergang von einer zur anderen ähnelt dem Übergang vom Tag zur Nacht, in dem es keinen Zweifel an dem Unterschied beider Zustände gibt, trotz der Ungewissheit des exakten Zeitpunkts des Übergangs. Dies ist so, weil es zwischen der konsolidierten Situation und dem Vertrauensschutz einen Berührungspunkt gibt, nämlich die Zeit: sie erzeugt sowohl der faktischen oder rechtlichen Unumkehrbarkeit als auch der Vertrauen erzeugende Faktor. Der Ablauf der Zeit legitimiert allmählich die Normgrundlage derart, dass ihr Adressat, selbst wenn er von ihrer ungültigen Entstehung weiß, an ihre Geltung zu glauben beginnt aufgrund des anhaltenden und konkreten Hervorbringens von Wirkungen. Wenn dem so ist, wird man, obwohl man die faktisch konsolidierte Situation nicht mit Vertrauen verwechseln darf, in Grenzfällen nicht genau wissen, ob die Unantastbarkeit durch den einen oder anderen Grund gewährleistet wird. Unter diesem Aspekt ist Zanella Di Pietro voll zuzustimmen, wenn sie behauptet, dass in Wahrheit verschiedene Aspekte des Rechtssicherheitsprinzips gleichzeitig zum Tragen kommen können: „In allen diesen Situationen wird die Stabilität der Rechtsbeziehungen geschützt, d. h. das Rechtssicherheitsprinzip in seinem objektiven Aspekt; geschützt wird auch das Vertrauen des Bürgers, d. h. das Rechtssicherheitsprinzip in seinem subjek-

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Roland Kreibich, Der Grundsatz von Treu und Glauben im Steuerrecht, S. 162; Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 225; Eugenio Della Valle, Affidamento e certezza del Diritto Tributario, S. 102.

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tiven Aspekt oder das Vertrauensprinzip; und geschützt wird zudem Treu und Glauben“242. Kriterium des Grades der Verwirklichung der Grundlagenzwecke (tatsächliche Grundlage ↔ nicht tatsächliche Grundlage) Je höher der Grad der Verwirklichung des zugrundeliegenden Zwecks der vorgeblich verletzten Regel ist, desto stärker muss der Schutz der Wirkungen des gesetzwidrig genannten Akts sein. Zu dieser Regel gelangt man durch die Feststellung, dass die an Gesetz und Verwaltungsakte gestellten formalen Forderungen nicht einen Zweck an sich darstellen, sondern Mittel, um in den meisten Fällen die Verwirklichung bestimmter Zwecke zu gewährleisten. So dient beispielsweise die Forderung des Gesetzes nach Gewährung eines Steuervorteils dem Zweck, die Verschwendung öffentlicher Gelder zu vermeiden, um Ungleichheit auszuschließen und die Wettbewerbsgleichheit sicherzustellen. Die Forderung nach öffent­ licher Ausschreibung einer Stelle für den Eintritt in die Beamtenlaufbahn dient als Instrument der Vermeidung der unangemessenen Besetzung von Ämtern, der Gewährleistung der Chancengleichheit der Wettbewerber und der Eliminierung von Willkür im Auswahlverfahren. Wenn dies zutrifft, wird es jedoch bei Erreichen des der formalen Regel zugrundeliegenden Zwecks selbst bei Nichteinhaltung des durch ihren Tatbestand festgelegten Verhaltens einen Grund geben, der zusammen mit anderen Gründen zur Bestätigung des ungültigen Akts führen kann, so beispielsweise beim zuvor untersuchten Fall der getroffenen Auswahl zur Besetzung von Stellen in einem gemischtwirtschaftlichen Unternehmen: obwohl es keine öffentlichen Prüfungen gab, hat der Oberste Bundesgerichtshof die Bestätigung der Einstellungen beschlossen, und zwar mit dem Argument, dass die Auswahl so streng verlaufen und die Chancengleichheit so intensiv gewährleistet worden sei, dass eine Annulierung nicht sinnvoll wäre. Das Gericht hat also, um es anders zu formulieren, den als ungültig bezeichneten Akt bestätigt, da der Zweck der Regel mittelbar erreicht worden war, ohne Schaden für die allgemeine Stabilität der Rechtsordnung243. Im Bereich des Steuerrechts ist diese Argumentation äußerst wichtig, da es Akte gibt, die zwar nicht im Einklang mit den formalen Regeln erlassen werden, jedoch mittelbar deren Zweck erfüllen. Dies ist der Fall bei branchenspezifischen Steuervergünstigungen, die bestimmten Steuerzahlern gegen vom Staat für relevant erachtete Investitionen belastend gewährt werden. Selbst wenn in dieser Situation eine Steuervergünstigung gewährt worden ist (mit oder ohne Abkommen mit anderen Bundesstaaten), nimmt der Staat keinen Schaden, da die staatlichen 242

Maria Sylvia Zanella Di Pietro, Os princípios da proteção à confiança, da segurança jurídica e da boa-fé na anulação do ato administrativo, in: Motta, Fabrício (Hrsg.), Direito Público Atual: estudos em homenagem ao Professor Nélson Figueiredo, S. 305. 243 MS Nr. 22.357, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ. 05. 11. 04.

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Zwecke verwirklicht werden und das eventuelle Ungleichgewicht im Wettbewerb (wegen der belastenden Natur der Vergünstigung) gelindert werden kann, wobei ipso facto der Vertrauensschutz nicht unberücksichtigt bleibt244. Kriterium des Lenkungsgrads der Grundlage (lenkende Grundlage ↔ neutrale Grundlage) Je höher der sich aus der Grundlage ergebende Lenkungsgrad ist, desto stärker muss der Schutz sein, den das Vertrauen verdient, weil nicht alle Normen auf die gleiche Weise als Grundlage für das Handeln des Einzelnen funktionieren: einige haben eine stärker gründende Funktion als andere. So beispielsweise die Lenkungsnormen: unter ihnen agiert die Privatperson nicht nur innerhalb eines von der Gesetzgebung zugelassenen Handlungsbereichs, der nur einen Rahmen für die Handlung vorzeichnet, sondern agiert innerhalb eines von der Gesetzgebung, also vom Staat angeregten Handlungsbereichs, der zur Handlung induziert245. Die Lenkungsnormen sind nicht nur Bedingungen der Handlung, sondern auch ihr Appell und ihr Gegenstand und die Grundlage der Tätigkeit; sie sind nicht Grenzen des Handelns, sondern sein Angebot und sein Modell.246 Man kann also die erlaubte Ausübung der Freiheit nicht ihrer induzierten Ausübung gleichstellen, ebensowenig das Gesetz, das ein Handeln zulässt, demjenigen, das es induziert. In der Tat ist die mangelnde Voraussicht bezüglich der ungebunden innerhalb der Grenzen des Erlaubten vorgestellten Freiheit eine Sache und eine ganz andere Sache die Überraschung bezüglich der innerhalb der Grenzen dessen, was obligatorisch geworden ist, induziert ausgeübten Freiheit. Dort gibt es eine bloße Überraschung des Steuerzahlers, die sich aus der Prärogative der Legislative oder Verwaltung zur Veränderung ergibt; hier gibt es mehr als nur Überraschung, nämlich eine Täuschung des Steuerzahlers, die sich aus der Illoyalität des Staates ergibt, der an einem Tag Vergünstigungen erteilt und diese am anderen Tag nicht berücksichtigt. Aus diesem Grund muss man die Ebenen der Überraschung auseinanderhalten, deren Wirkung sich darin zeigt, die auf die in der Vergangenheit begonnenen Tätigkeiten rückwirkenden Wirkungen der neuen Norm zu verbieten, wenn der Lenkungsgrad der Norm höher ist, oder vorübergehende Regeln, Ausnahmen oder Billigkeitsklauseln fordert, wenn der Lenkungsgrad niedriger ist. Damit wird Illoyalität verhindert und nicht nur die Verletzung des Rechtssicherheitsprinzips, sondern auch die Verletzung des Prinzips der Sittlichkeit der Verwaltung unmöglich gemacht. Im Bereich des Steuerrechts sind also die normativen Akte mit bloßer Belastungswirkung, gegründet auf Normen, die isonomisch die Lastenausteilungswirkung aufteilen sollen, von den normativen Akten mit Gestaltungswirkung 244

Beatrice Weber-Dürler, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, S. 224. Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 183. 246 Josef Isensee, Vertrauensschutz für Steuervorteile. Ein Folgeproblem der Wirtschaftslenkung durch Steuer des § 3a EStG, in: Kirchhof, Paul / Offerhaus, Klaus / Schöberle, Horst (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik. FS für Franz Klein, S. 611. 245

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zu unterscheiden, die sich auf Lenkungsnormen gründen247. Letztere rufen eine höhere Erwartung von Beständigkeit hervor. Dies besagt nicht, dass die Normen mit fiskalischen Zwecken, die oft schwer von extrafiskalischen Normen zu unterscheiden sind, keine Erwartungen hervorrufen können, zumal die Steuerlasten ja Verhaltensweisen in einem höheren oder geringeren Maß hervorrufen oder hemmen und damit Planung begründen248. Man darf „Lenkungsnormen“ nicht mit „Norm mit Lenkungswirkung“ verwechseln: eine Norm ohne Lenkungsszweck kann Lenkungswirkungen im Verhalten des Steuerzahlers hervorrufen, sofern er etwas aufgrund einer höheren oder geringeren Steuerlast tut oder zu tun unterlässt. In diesem Sinn kann eine Norm mit fiskalischem Zweck Lenkungswirkungen hervorrufen und damit als „verhaltensbeeinflussende Fiskalzwecknorm“ gekennzeichnet werden249. Wenn dem so ist, ist nicht nur der objektive Zweck der Norm, sondern auch ihre Wirkung wichtig: je stärker die Lenkungswirkung, desto stärker muss der Vertrauensschutz sein, was man sowohl bei den Normen mit fiskalischer Zwecksetzung als auch bei den Normen mit außerfiskalischer Zwecksetzung feststellen kann. Wichtig ist, dass die Lenkungsnormen durch ihren Zweck oder ihre Wirkungen, weil sie Verhaltensergebnisse produzieren, eine höhere Erwartung der Bestätigung ihrer Wirkung hervorrufen, ohne die sie ihren Sinn vollständig verlieren würden, vor allem, weil in diesen Fällen der Staat nicht nur seine Gewalt von oben nach unten in einer strikt steuerrechtlichen Beziehung ausübt, sondern auch den Steuerzahler dazu ermuntert, Seite an Seite mit ihm in einer wirtschaftlich-steuerrechtlichen Beziehung zusammenzuarbeiten250. In diesem Fall wählt der Staat nicht nur einen hinweisenden, sondern auch einen auffordernden Plan, nämlich in dem Sinn, dass er nicht nur signalisiert, sondern auch das Engagement der Wirtschaft für die Erreichung seiner Zwecke dienstbar machen will251. Er leitet nicht nur, sondern lenkt auch Verhaltensweisen252. Und wenn er sich verhaltensmotivierender Vorschriften als Mittel bedient, um einen staatlichen Zweck zu erreichen, „in­strumentalisiert“ er am Ende „den Bürger“ zur Verwirklichung des staatlichen

247

Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 298; Luis Eduardo Schoueri, Segurança jurídica e normas tributárias indutoras, in: Ribeiro, Maria de Fátima (Hrsg.), Direito Tributário e segurança jurídica, S. 117–146. 248 Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 37. 249 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 215; Paul Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, in: StuW 2000, S. 226. 250 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 313; Josef Isensee, Vertrauensschutz für Steuervorteile. Ein Folgeproblem der Wirtschaftslenkung durch Steuer des § 3a EStG, in: Kirchhof, Paul / Offerhaus, Klaus / Schöberle, Horst (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik. FS für Franz Klein, S. 614; Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 306. 251 Lúcia Valle Figueiredo, Planejamento, Direito Tributário e segurança jurídica, in: RTDP 12 (1995), S. 12. 252 Luís Eduardo Schoueri, Normas tributárias indutoras e intervenção econômica, S. 43 ff.

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Interesses. Er führt nicht nur eine Regel ein, sondern unterzeichnet echte Abkommen für „kooperatives Hand-in-Hand-Arbeiten von Staat und Normadressaten“253. In diesen Fällen wird die Norm mit einer Eigenschaft ausgestattet, die der eines synallagmatischen Rechtsgeschäfts mit Wirksamkeit ähnelt, da der Adressat seinen Teil, in der Erwartung erfüllt, der Staat werde den ihm obliegenden Teil erfüllen. Es handelt sich also um einen Rechtsakt des Typus Do ut des, der die einer auf Kooperation ausgerichteten Gesellschaft eigentümliche Wechselseitigkeitsbeziehung kennzeichnet254. Schließlich muss man feststellen, dass die Normen mit außerfiskalischer Zwecksetzung wirtschaftliche und gesellschaftliche Zwecke im weiten Wortsinn durch Verhaltenslenkung erreichen wollen. Wenn dem so ist – und dieser Aspekt ist von wesentlicher Bedeutung –, wenn also ihr Ziel die Beeinflussung des Verhaltens des Steuerzahlers ist, müssen sie vor diesem Verhalten gelten, nie nach ihm. Eine rückwirkende verhaltenslenkende Norm ist eine contradictio in adiecto, da es unmöglich ist, ein schon gewähltes Verhalten zu beeinflussen. Eine rückwirkende verhaltenslenkende Norm ist also ein Oxymoron, da sie einander widersprechende Begriffe verkoppelt255. Eine Rechtsnorm kann per definitionem nicht vergangenes, sondern nur zukünftiges Verhalten beeinflussen256. Der Mensch kann nicht von einer Norm gelenkt werden, die es zum Zeitpunkt seines Handelns noch nicht gab257. Ein schon in der Vergangenheit geäußerter Wille kann nicht von einer noch nicht existierenden Norm beeinflusst werden258. Aus der Sicht der die staatliche Tätigkeit begrenzenden Grundrechte und Prinzipien ist die Rückwirkung von Lenkungsnormen jedoch mehr als eine contradictio in adiecto; sie ist Willkür und Schwindel in einem: Willkür, da ihre Anwendung auf schon gewählte Verhaltensweisen – wobei die Abgeschlossenheit der normativen Folgen aus der Sicht des Gesetzes unwichtig ist – nicht zu rechtfertigen ist, weil eine Verwirklichung des Gesetzeszwecks unmöglich ist, der darin besteht, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Ziele durch Verhaltenslenkung zu erreichen; und Schwindel, da sie ein völlig illoyales staatliches Handeln offenbart, das darin besteht, in einem ersten Moment ein bestimmtes Verhalten anzuregen und dann in einem zweiten Moment dessen Wahl rechtlich zu disqualifizieren, und zwar mit der zusätzlichen Folge, dass das unterstellte Ziel der Lenkung zum bloßen Wunsch nach Steuereinnahmen mutiert.

253

Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 194. Josef Isensee, Vertrauensschutz für Steuervorteile. Ein Folgeproblem der Wirtschaftslenkung durch Steuer des § 3a EStG, in: Kirchhof, Paul / Offerhaus, Klaus / Schöberle, Horst (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik. FS für Franz Klein, S. 628; John Rawls, Theory of Justice, S. 235. 255 Andrei Marmor, Law in the age of pluralism, S. 20. 256 Thomas Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, S. 33. 257 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 214. 258 Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 104. 254

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Wenn das Ziel einer Lenkungsnorm wirklich darin besteht, ein zu wählendes Verhalten zu beeinflussen – und die Norm ein schon gewähltes Verhalten erfasst –, zeitigt sie einfach nicht die gewünschte Wirkung: man kann nicht vergangene Verhaltensweisen beeinflussen, nur zukünftige. Wenn man also eine Lenkungsnorm auf ein schon gewähltes Verhalten anwendet, bedeutet das, dass eine Norm mit außerfiskalischer Zwecksetzung zu einem rein fiskalischen Zweck eingesetzt wird: da der Steuerzahler schon gehandelt hat, kann der Zweck der Anwendung der neuen Norm auf die Wirkungen dieses Verhaltens nur die Steuereinnahme sein, nicht die Lenkung. Deshalb kann man behaupten, dass jede Rückwirkung oder retrospektive Wirksamkeit einer Lenkungsnorm bezüglich eines schon abgeschlossenen Verhaltens des Steuerzahlers eine Abweichung vom Gesetzeszweck beinhaltet: man führt eine Norm ein, um zu lenken, treibt aber Steuern ein, ohne zu lenken. Damit wird die Rechtfertigung der Lenkungsnorm hinfällig. So ist beispielsweise die Anwendung des Steuersatzes der Einfuhrsteuer, die erhoben wird, um die Einfuhr ausländischer PKW zu erschweren und die inländische Industrie zu schützen, auch auf Einfuhren, die durch den bisher niedrigeren Steursatz begünstigt und schon abgeschlossen waren, mit dem Argument, dass der Steuertatbestand noch nicht mit der Verzollung der eingeführten Ware eingetreten war, nicht nur eine Enttäuschung und ein Betrug des Steuerzahlers. Sie ist auch die Anwendung einer Lenkungsregel auf nicht mehr lenkungsfähige Verhaltensweisen. Man kann nicht die Förderung einer vergangenen Einfuhr zurücknehmen, wobei es unwichtig ist, ob der Steuertatbestand eingetreten ist oder nicht. Die Verhaltensweise ist schon gewählt worden, das ist das Wesentliche bei dieser Normmodalität. Der Zeitpunkt des Eintritts des Steuertatbestands fällt nicht mit dem Zeitpunkt der Wahl des gelenkten Verhaltens zusammen. Immer wenn es also keine zeitliche Identität zwischen dem Zeitpunkt des Eintritts des Steuertatbestands und dem Zeitpunkt der Wahl des Verhaltens, das man lenken will, oder zwischen dem Zeitpunkt des Eintritts des Steuertatbestands und der Intensität des erzeugten Vertrauens gibt, kann man nicht die Rückwirkung und ebensowenig die retrospektive Wirksamkeit der verändernden Lenkungsnorm hinnehmen. Die rückwirkende Anwendung der rechtlichen Folgen auf in der Vergangenheit begonnene Tätigkeiten ist also eine Verletzung der Grundrechte der Steuerzahler und der das staatliche Handeln gestaltenden Prinzipien. Das erklärt, aus welchem Grund die deutsche Rechtswissenschaft neben dem Normenklarheitsgebot auch das Normenwahrheitsgebot fordert: der Gesetzgeber muss nicht nur Normen so statuieren, dass der Steuerzahler wissen kann, welche Abgabe und in welchem Maß er zahlen muss; er muss darüberhinaus auch einem erkennbaren gesetzlichen Ziel treu sein259.

259

BVerfGE 2BvL vom 19. 03. 03. Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 37.

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Kriterium des Individualitätsgrads der Grundlage (individuelle Grundlage ↔ allgemeine Grundlage) Je höher der Grad der Nähe des Akts zu seinen Adressaten ist, desto stärker muss der Schutz des ihm entgegengebrachten Vertrauens sein, weil es Akte individueller Wirksamkeit gibt, die sich an bestimmte Bürger wenden, manchmal nur an sie, wie Verwaltungsvereinbarungen oder Verwaltungsverträge, und Akte allgemeiner Wirksamkeit, wie Gesetze. Da diese Akte nicht denselben Individualitätsgrad haben, erzeugen sie unterschiedliche Vertrauensgrundlagen. Und da die Fähigkeit, Vertrauen zu erzeugen, das Unterscheidungsmerkmal der Grundlage ist, kann man auch nicht die vertrauenskonstitutive Wirksamkeit eines spezifisch an einen Bürger gerichteten Akts einem an alle gerichteten Akt ohne jegliches subjektives Element gleichstellen. Je höher nämlich die Individualität des Akts, desto stärker muss die Verlässlichkeit des Bürgers sein, da die „Vertrauensbeziehung“ enger ist260. Ein individualisierter Akt erzeugt im Adressaten die Vorstellung, dass das vorgesehene Recht das „seinige“ ist. Man kann also nicht den an einen bestimmten Steuerzahler ergehenden, vom Gouverneur oder Finanzminister eines Bundesstaats – also von den höchsten bundesstaatlichen Amsträgern im Bereich des Steuerrechts – unterzeichneten Akt, der Elemente enthält, die auf den Steuerzahler selbst bezogen sind, einem Akt gleichstellen, der keinerlei Unterscheidung im Hinblick auf den Adressaten vorsieht. Je näher die Beziehung zwischen Staat und Bürger ist, desto stärker wird die dadurch entstehende Loyalität und desto größer wird die Enttäuschung angesichts der späteren Änderung sein. In diesen Fällen weicht die gewöhnliche Distanz zwischen Staat und Steuerzahler einer Nähebeziehung261. In Hinblick auf diesen Aspekt ist daran zu erinnern, dass das Sittlichkeitsprinzip nicht nur eine autonome Wirksamkeitsfunktion in Bezug auf die Rechtssicherheit hat, sondern sich als eines ihrer Fundamente zu erkennen gibt. Neben anderen Forderungen verbietet das Sittlichkeitsprinzip das illoyale Verhalten des Staats, worunter derjenige Akt verstanden wird, der eingegangene Verpflichtungen nicht einhält. Die Individualität des Akts macht jedoch eine Verpflichtungsbeziehung zwischen Bürger und Staat sichtbar; deren Verletzung ist die Ursache der das Prinzip der Sittlichkeit der Verwaltung verletztenden Illoyalität, und dieses Prinzip erfordert Achtung der Interessen des Staates und – was uns hier mehr interessiert der Privatpersonen262.

260

Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 299. Josef Isensee, Vertrauensschutz für Steuervorteile. Ein Folgeproblem der Wirtschaftslenkung durch Steuer des § 3a EStG, in: Kirchhof, Paul / Offerhaus, Klaus / Schöberle, Horst (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik. FS für Franz Klein, S. 614. 262 Marçal Justen Filho, O princípio da moralidade pública e o Direito Tributário, in: RTDP 11 1995), S. 52. 261

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Kriterium des Belastungsgrads der Grundlage (kostenpflichtige Grundlage ↔ kostenfreie Grundlage) Je höher der Belastungsgrad der Grundlage ist, desto stärker muss der Schutz des ihr entgegengebrachten Vertrauens sein. Zu dieser Regel gelangt man über die Feststellung, dass es Akte gibt, welche die Privatleute belasten, wie etwa Vereinbarungsprotokolle oder Verwaltungsverträge mit Klauseln, die Verpflichtungen für die Privatleute enthalten, und unentgeltliche Akte, die keinen Bedingungen unterliegen und auch keine Pflichten erzeugen. Der Unterschied hinsichtlich der Belastung erzeugt verschiedene Vertrauensgrundlagen: je stärker die Belastung, desto verbindlicher die vom Bürger dem Staat gegenüber eingegangene Verpflichtung. Bei synallagmatischen Bedingungen wird die Verfolgung des staatlichen Interesses umso stärker sein. In dieser Situation muss der Schutz des dem Staat entgegengebrachten Vertrauens auch stärker sein, solange die Privatperson ihren Teil erfüllt263. Im hier erörterten Fall steht kein staatliches Interesse dem privaten Interesse entgegen; es gibt vielmehr einen Binnenkonflikt im staatlichen Interesse (In-sichKonflikt)264. Man kann also nicht das Protokoll einer Vereinbarung, durch welches ein Unternehmen sich, als Gegenleistung für eine steuerliche Vergünstigung, verpflichtet, zu investieren, Arbeitsplätze zu schaffen und Technologie bereitzustellen, einem willkürlichen Akt des Erlasses von Steuerschulden gleichsetzen. Die Beibehaltung der Bindung ergibt sich in diesen Fällen nicht aus subalternen Interessen, sondern aus dem Staatsinteresse selbst265. In den Fällen der entgelt­lichen Akte ergibt sich die Erwartung, dass der Staat seinen Teil tut, nicht aus dem normativen Akt, der sie erzeugt hat, sondern aus der synallagmatischen Natur der Beziehung: wenn der Steuerzahler seine Aufgabe erfüllt, hat er die legitime Erwartung, dass der Staat ebenfalls seine Aufgabe erfüllt. In dieser Lage ist noch an den Einfluss des Sittlichkeitsprinzips zu erinnern, das nicht nur staatliche Illoyalität verbietet, sondern auch die rechtswidrige Bereicherung des Staats. Wenn dem so ist, bezeichnet die Belastungsnatur des Akts eine stärkere Verpflichtung der Privatperson, die nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt begünstigt und zu einem anderen Zeitpunkt benachteiligt werden kann, ohne eine schwere Verletzung des Sittlichkeitsprinzips in Verbindung mit dem Rechtssicherheitsprinzip hervorzurufen.

263

Josef Isensee, Vertrauensschutz für Steuervorteile. Ein Folgeproblem der Wirtschaftslenkung durch Steuer des § 3a EStG, in: Kirchhof, Paul / Offerhaus, Klaus / Schöberle, Horst (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik. FS für Franz Klein, S. 614. 264 Beatrice Weber-Dürler, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, S. 118. 265 Almiro do Couto  e Silva, Problemas jurídicos do planejamento, in: RDA 170 (1987), S. 15; Joachim Burmeister, Selbstbindung der Verwaltung. Zur Wirkkraft des rechtsstaatlichen Übermaßverbots, des Gleichheitssatzes und des Vertrauensschutzprinzips, in: DÖV 34 (1981), S. 505.

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Innere Beziehung zwischen den Kriterien Die Auflistung der obigen Kriterien der Feststellung der Elemente der Vertrauens­ grundlage beweist, dass deren Gestaltung nicht nur von einem Element, sondern von mehreren Elementen abhängt. Wie schon gesehen, hängt jedes Kriterium von einer graduellen Feststellung ab: die Vertrauensgrundlage wird umso höher sein, je intensiver die Präsenz des jeweils interessierenden Elements sein wird. In anderen Worten: der Grad der Unantastbarkeit des Akts wird umso höher sein, je stärker die Präsenz der vorher genannten Elemente sein wird. Unter allen Elementen ist die Zeit dasjenige, dessen Bedeutung umgekehrt proportional zur Bedeutung der anderen Elemente ist: je länger die verstrichene Zeitspanne, desto geringer werden die Forderungen in Bezug auf andere Elemente sein, bis hin zu dem Punkt, an dem nach Ablauf einer sehr langen Zeitspanne ein offenkundig nichtiger Akt bestätigt wird266. Das Problem ist jedoch, dass die vorher beschriebenen Kriterien miteinander in Konflikt geraten können. Einige Beispiele mögen das veranschaulichen: ein Akt kann einen hohen Wirksamkeitsgrad haben mit niedriger Beständigkeitsintensität, wie etwa im Fall einer einstweiligen Verfügung, die, obwohl sie sofortige Wirkungen hervorruft, vorläufig ist; ein Akt kann einen niedrigen Bindungsgrad mit hoher Intensität der Nähe und der Belastung haben, wie beispielsweise im Fall eines Vereinbarungsprotokolls, das eine belastende Steuervergünstigung einführt; ein Akt kann einen schwachen Schein von Geltung aufweisen, aber mit hohem Grad von Dauer und Erzeugung von Abhängigkeit, wie es im Fall einer Rente ist, die für einen simulierten Akt gewährt worden, aber jahrzehntelang bezogen worden ist, usf. Die Abhängigkeit des Bürgers ist wegen der Tätigkeit des Staats in diesen Fällen ein entscheidender Faktor des Vertrauensschutzes267. Diese Fälle zeigen somit, dass es einen Konflikt bei der Feststellung der verschiedenen vorgeschlagenen Kriterien geben kann. Nach der hier vertretenen Position muss gerade die niedrige Intensität der Präsenz eines Elements durch die hohe Intensität der Präsenz der anderen Elemente ausgeglichen werden, so dass man in einer Synthese die stärkere Präsenz von Elementen zugunsten des Vorliegens einer „verlässlichen Vertrauensgrundlage“ nachweisen kann. Zu diesem „Metakriterium“ gelangt man durch die Berücksichtigung der Tatsache, dass die wesentlichen Voraussetzungen der Vertrauensgrundlage die Fähigkeit zur Erzeugung des Vertrauens einerseits und der Schutz der Grundrechte der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit andererseits sind. Die Beachtung dieses Kriteriums hängt vom Vorliegen einer Summe von Faktoren, nicht nur von einem Faktor ab. Zu diesem Zweck ist die niedrige Intensität der Präsenz eines Elements durch die hohe Intensität der Präsenz der anderen Elemente zu kompensieren. Metapho 266

Roland Kreibich, Der Grundsatz von Treu und Glauben im Steuerrecht, S. 166. Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 398. 267

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risch kann man das so ausdrücken, dass die Beziehung zwischen den Elementen der Vertrauensgrundlage als eine Art System „kommunizierender Röhren“ funktionieren würde: was einer Röhre entnommen wird, wandert in eine andere Röhre und ermöglich damit ein kompensatorisches Gleichgewicht zwischen beiden, da die Verringerung der Flüssigkeit in einer Röhre durch die Zunahme der Flüssigkeit in einer anderen Röhre ausgeglichen wird. Die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs bestätigt die hier vorgestellten Regeln268. In einem Verfahren der einstweiligen Verfügung wurde der Fall diskutiert, in dem ein Student der Rechtswissenschaften aufgrund einer erstinstanzlichen Entscheidung der Bundesgerichtsbarkeit in einem Antrag auf Sicherungsmandat den Wechsel von einer staatlichen Universität zu einer anderen staatlichen Universität erreicht hatte und nach Absolvierung aller Studienfächer kurz vor der Verleihung des Diploms stand. Da aber das Regionale Bundesgericht der 4. Region die erstinstanzliche Entscheidung revidiert hatte, ersuchte der Studierende in einem Antrag auf einstweilige Verfügung den Obersten Bundesgerichtshof um Gewährung der Suspensionswirkung dieser Entscheidung und berief sich dabei auf die Rechtssicherheit. Der Oberste Bundesgerichtshof gab dem Antrag statt, da er in diesem Fall die Anwendbarkeit des Rechtssicherheitsprinzips feststellte269. In diesem Fall stellt man die Präsenz einer Grundlage mit niedrigem Beständigkeitsgrad fest (ein erstinstanzliches Urteil, gekennzeichnet durch Vorläufigkeit), kompensiert durch den hohen Wirksamkeitsgrad in der Zeit, den hohen Wirksamkeitsgrad der Verhaltenslenkung und den hohen Wirksamkeitsgrad der Erzeugung der Abhängigkeit (das Urteil zeitigte Folgen über viele Jahre und war ein Grund für die Fortsetzung des Studiums, von dessen Abschluss der Studierende nun abhängig war). Daher die Behauptung, dass die Annulierung des Hochschulwechsels mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit zur Folge haben würde. Im Falle der Bearbeitung eines Sicherungsmandats untersuchte der Oberste Bundesgerichtshof den Fall einer Auswahl ohne öffentliche Ausschreibung, um Stellen in der gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft Infraero zu besetzen, in Widerspruch zu Art. 37 I und II der CF/88. Zum Zeitpunkt der Einstellung bestanden jedoch Zweifel daran, ob die Forderung nach einer öffentlichen Ausschreibung auch bei gemischtwirtschaftlichen Gesellschaften bestünde. Sogar der Bundesrechnungshof hatte damals das gewählte Verfahren akzeptiert und nur empfohlen, dass in zukünftigen Fällen öffentliche Auswahlverfahren stattfänden. Unter Berufung auf das Rechtssicherheitsprinzip bestätigte der Oberste Bundesgerichtshof die Gültigkeit der Auswahl270. In diesem Fall stellt man die Präsenz einer Grundlage 268

S. zur Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts über Fragen der Rechtssicherheit: Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit (2006); Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem (2002); Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.) Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, Köln, 2004. 269 MC Nr. 2.900, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes. S. in derselben Richtung RMS Nr. 13.807 (RTJ 37/248), RMS 17.144 (RTJ 45/589). 270 MS Nr. 22.357, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ. 05. 11. 04.

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mit ambivalentem Grad von Legitimitätsschein fest (obwohl Art. 37 I und II der CF/88 eine öffentliche Ausschreibung für die Beamtenlaufbahn vorsieht, statuiert Art. 193 § 1, dass die gemischtwirtschaftlichen Gesellschaften im Hinblick auf die von der Arbeitsgesetzgebung vorgesehenen Pflichtbeiträge, den Bestimmungen der privatrechtlich organisierten Unternehmen unterliegen), die jedoch durch den hohen Beständigkeitsgrad, den hohen Grad der Abhängigkeit der Adressaten und den hohen Grad der Verwirklichung des zugrundeliegenden Zwecks kompensiert wird (die Auswahl war öffentlich und streng, die ausgewählten Personen waren eingestellt worden und hatten ihre entlohnte Tätigkeit mehrere Jahre lang ausgeübt). Die Grundlage der Entscheidung war jedoch das Rechtssicherheitsprinzip, genauer die „Notwendigkeit der Stabilität der von der Verwaltung geschaffenen Rechtslagen“. Diese Bemerkungen zeigen, dass das Vorliegen der Vertrauensgrundlage von der Prüfung mehrerer Kriterien bezüglich der miteinander interagierenden Elemente abhängt, die einerseits immer an die Grundrechte der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit und andererseits an die Prinzipien der staatlichen Tätigkeit gebunden sind. Diese Feststellung ist im Steuerrecht sehr wichtig, da in diesem Bereich des Rechts, um hier an ein bekanntes Beispiel zu erinnern, aufgrund des Steuerwettbewerbs und des sog. „Steuervergünstigungskriegs“ zwischen den einzelnen Bundesstaaten auf Vereinbarungsprotokollen beruhende Steuervergünstigungen sehr häufig sind. Diese Steuervergünstigungen geraten in Konflikt mit den Bestimmungen der CF/88 (Art. 150 § 6, der ein spezifisches Gesetz für die Gewährung der Steuervergünstigung fordert, und Art. 155, einziger Absatz, Buchstabe „g“, Satz XII, der die Einhaltung der in einem Ergänzungsgesetz statuierten Bedingungen vorschreibt, was wiederum den Abschluss eines Abkommens zwischen den Bundesstaaten voraussetzen würde). In diesen Fällen kann das Nichtvorliegend eines Gesetzes per se nicht die Hervorbringung der Wirkungen der Steuervergünstigungen unmöglich machen. Hier sind im Hinblick auf normative Akte, die diese Vergünstigungen gewährt haben, der Grad der Beständigkeit, der Individualität, der Belastung, der Wirksamkeit in der Zeit, der Verwirklichung der Zwecke, des Anscheins der Legitimität, der Abhängigkeit der Adressaten und der Verhaltenslenkung zu berücksichtigen. Obwohl jedoch die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs in auf die Antastbarkeit von Wirkungen von Verwaltungsakten bezogenen Fragen das Vertrauen der Bürger geschützt hat, hält sie sich im Bereich des Steuerrechts noch an das Kriterium des Eintritts des Steuertatbestands oder des Abschlusses von Rechtshandlungen oder Sachverhalten, wie im Fall der Gewährleistungen der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft, und übergeht andere Elemente, die eventuell berücksichtigt werden könnten. Auf dieses Thema werden wir zu gegebener Zeit zurückkommen. Klar sein muss, dass diese Kriterien sich auf die hier betroffenen Grundrechte und Prinzipien staatlichen Handelns beziehen: einerseits hat die Vertrauensgrundlage in unterschiedlichen Graden Verhaltensänderungen des Bürgers zur Folge, die auf seine Arbeit sowie die Ausübung seiner Freiheits- und Eigentumsgrundrechte bezogen sind; andererseits drückt sie die Art und Weise des (loyalen oder

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illoyalen, seriösen oder willkürlichen) Staatshandelns aus. Das Vorliegen der Vertrauensgrundlage ist also Ergebnis der Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips unter dem Einfluss der Grundrechte der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit und der auf das staatliche Handeln bezogenen Prinzipien. So kann man den Vertrauensschutz nicht einfach deswegen ausschließen, weil die Privatperson einem ungültigen Akt gemäß gehandelt hat, nach einem Vertrag, dessen Gegenstand eine dem Gesetz vorbehaltene Materie ist, oder nach einem Akt ohne Gesetzeskraft, wie etwa einem Reglement. Man muss die anderen Elemente prüfen, die sich auf die betroffenen Grundrechte und auf die Richtlinien staatlichen Handelns beziehen. Selbst ein ungültiger Akt, aufgrund dessen die Privatperson intensiv, aktiv und irreversibel über ihre Freiheits- und Eigentumsrechte verfügt hat und dessen Revision ihr Schaden zufügen würde, ist nicht annullierbar271. (bb) Vertrauen Vertrauensschutz erfordert, dass die Privatperson der „Vertrauensgrundlage“ vertraut hat. Damit dies eintritt, muss die Privatperson vor allem die Vertrauensgrundlage kennen. Hier sehen wir die Beziehung zwischen der Forderung nach Verlässlichkeit und der Forderung nach Erkennbarkeit des Rechts: die Privatperson muss die Vertrauensgrundlage durch Veröffentlichung oder Bekanntmachung kennen272. Gerade weil der Bürger sich an gültigen und geltenden Gesetzen oder an Wirkungen produzierenden normativen Akten orientieren muss, beginnt das Vertrauen mit der Veröffentlichung des Gesetzes und der Bekanntmachung zur Kenntnisnahme des Verwaltungsakts oder der Verwaltungsentscheidung. Bloße Gesetzesvorlagen oder Verlautbarungen der Verwaltung, die noch nicht zu Protokoll gegeben worden oder Gegestand einer Bekanntmachung geworden sind, erzeugen kein Vertrauen273. Der Grad der Intensität des Vertrauens ist jedoch nicht geradlinig: er ist mal höher, mal niedriger. Die Variabilität der Intensität des Vertrauens hängt von der Beziehung zwischen dem Vertrauen und seiner Grundlage ab und ist durch Prüfung der vorher untersuchten Kriterien zu ermitteln, die sich auf die Vertrauensgrundlage beziehen, wie des Grads der Bindung, des Grads des Scheins der Legitimität, des Grads der Beständigkeit, des Grads der Dauer und des Grads der Individualität. Das Vertrauen hängt vom normativen Gewicht der Vertrauensgrundlage ab274. So ist beispielsweise der Grad des Vertrauens geringer, je freier der Bürger angesichts des normativen Akts handeln kann, wie in weitem Maß bei den dispositi 271 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 132. 272 Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 302. 273 Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 38. 274 Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 306.

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ven normativen Akten der Fall ist; je mehr er mit dem Wandel rechnen kann, was bei provisorischen normativen Akten hochgradig feststellbar ist; je zerbrechlicher der Schein der Legimität des Akts ist, was man in hoher Intensität bei von einer offensichtlich nichtbefugten Behörde herrührenden Akten feststellt; je kürzer die Zeitspanne ist, in welcher der normative Akt Wirkungen hervorgerufen hat, wie es in hohem Maß bei vor sehr kurzer Zeit erlassenen Akten der Fall ist; je allgemeiner der Akt ist, was man im Fall von allgemeinen Gesetzen feststellt. Wir wiederholen hier: diese Kriterien sind nur Indizien für den Grad der Intensität des Vertrauens, vor allem weil sie miteinander kollidieren können und der Mangel an Intensität eines Kriteriums durch den hohen Grad der Verwirklichung eines anderen bzw. anderer Kriterien kompensiert werden kann. (cc) Ausübung des Vertrauens Damit es Vertrauensschutz gibt, ist auch die Ausübung des Vertrauens notwendig. Der Bürger muss sein Vertrauen durch die konkrete Ausübung seiner Freiheit „ins Werk gesetzt“ haben275. Die Rechtswissenschaft schwankt in Bezug auf die Forderung, dass die Ausübung des Vertrauens tatsächlich eine zwingende Voraussetzung für den Vertrauensschutz ist: einige Autoren bejahen dies276, andere verneinen es277. Nach der Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs, zumindest in Bezug auf verwaltungsrechtliche Materien, muss es auf Vertrauen gegründete konkrete Handlungen geben, wie z. B. im Fall der Baugenehmigung, für die im Hinblick auf den Vertrauensschutz die Privatperson den Bau begonnen haben muss278. Hier muss man die Forderung nach Stabilität als Anforderung an die Rechtsordnung, dass sie als Bedingung der Ausübung der Freiheiten durch die Bürger insgesamt stabil und dauerhaft sein soll, von der Forderung nach Stabilität als Verbot der Enttäuschung und der Täuschung angesichts einer bestimmten Äußerung der Rechtsordnung unterscheiden, welche die Ausübung der Freiheit eines Einzelnen beeinträchtigt. Diese Unterscheidung ist von allergrößter Bedeutung. In der Tat stellen sich hier zwei Fragen: eine Sache ist es zu wissen, ob ständige intensive und unstimmige Normwandel oder selbst ein spezifischer Normwandel die Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung insgesamt zu Lasten der Ausübung der Freiheit durch die Mehrheit beeinträchtigen (bzw. vermutlich beeinträchtigen können); eine ganz andere Sache ist es zu wissen, ob ein bestimmter Normwandele 275 Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 307; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 126; Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 38. 276 Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 308. 277 Beatrice Weber-Dürler, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, S. 98; Stefan Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 83. 278 RE Nr. 85.002, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, in: RDA, Nr. 130, S. 252.

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die Ausübung des Freiheitsrechts eines Bürgers beschränkt. In einigen Situationen kann der Wandel die institutionelle Glaubwürdigkeit des Rechts in einer bestimmten Materie, einem Normbereich, einem Sektor oder einer Region erschüttern; in anderen kann er, obwohl ohne diese durchschlagende Wirkung, ungerechtfertigterweise die erfolgte Ausübung der am Recht orientierten Freiheit einer Person einschränken. Daher die Behauptung, dass Stabilität aufgrund der Dauerhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung eine sich aus dem Rechtssicherheitsprinzip ergebende objektive Forderung ist, während Unantastbarkeit subjektiver und individueller Situationen aufgrund des Vertrauensschutzes eine reflexive und beschränkte Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips in entscheidend wichtiger Verbindung mit vermögens- und nichtvermögensbezogenen Grundrechten ist. Diese beiden Forderungen sind nun unterschiedlich, desgleichen ihre Fundamente. Während die Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung also in den Prinzipien des Rechtsstaats und der objektiven, gemeinsamen und abstrakten Berücksichtigung der Freiheitsgrundrechte begründet ist, wurzelt der Vertrauensschutz, wie später noch darzulegen sein wird, in der Beziehung zwischen dem Rechtssicherheitsprinzip und den Grundrechten. Diese Unterscheidung wird in dem Maß bedeutsam, in dem die für die Gestaltung der einen oder anderen Forderungen nachzuweisenden Voraussetzungen unterschiedlich sind – und hier liegt das zentrale Problem. Wenn nämlich das Problem sich auf die Rechtsordnung insgesamt bezieht, ist nachzuweisen, dass der Normwandel Wirkungen zeitigt, welche die Erhaltung einer stabilen, minimale Bedingungen der gemeinsamen Ausübung der Einzelfreiheiten ermöglichenden Rechtsordnung in Mitleidenschaft ziehen kann. In diesem Fall bedarf es keines Beweises, dass das spezifische Interesse einer Person beeinträchtigt worden ist, Freiheit auf diese oder jene Weise und mit dieser oder jener Intensität ausgeübt worden ist und es ein Vertrauen zu schützen galt. Wesentlich ist der allgemeine, auf das Rechtsstaatsprinzip und die objektive Dimension des Rechtssicherheitsprinzips gegründete Nachweis, dass die Annahme der Geltung des Wandels den Glauben der Bürger an die Rechtsordnung erschüttern wird. Wenn aber – und in dieser Perspektive verlagert sich die Begründungsachse – das Problem sich auf den Schutz des Einzelinteresses eines Bürgers bezieht, ist nachzuweisen, dass der Normwandel Wirkungen gezeitigt hat, die ungerechtfertigterweise die erfolgte Ausübung einer am Recht orientierten Freiheit beeinträchtigt haben. In diesem Fall sind auf die Ausübung der Freiheit in dieser oder jener Form, mit dieser oder jener Intensität bezogene Nachweise allerdings unverzichtbar. Unverzichtbar ist dann der auf die Grundrechte und die subjektive Dimension des Rechtssicherheitsprinzips gegründete Einzelnachweis, dass die Annahme der Geltung des Normwandels ungerechtfertigterweise die Rechte der Freiheit, des Eigentums oder der Gleichheit einer Person einschränken wird. Falls die vorstehenden Bemerkungen zutreffen, wird die Frage, ob die Ausübung der Freiheit eine unverzichtbare Voraussetzung des Vertrauensschutzes ist, dahingehend beantwortet, dass man in einem ersten Schritt feststellt, welcher Stabilitätstyp angestrebt wird: bezogen auf die Rechtsordnung insgesamt, gegründet auf

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die objektive Erscheinungsform des Rechtssicherheitsprinzips, die Dauerhaftigkeit der Norm (Verlässlichkeit durch Beständigkeit) fordert und stabile, gemäßigte und stimmige Normentwicklung (Berechenbarkeit durch Kontinuität), oder bezogen auf eine konkrete Situation, gegründet auf die reflexive Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips, das ungerechtfertigte Einschränkungen der Ausübung der am Recht ausgerichteten Freiheit verbietet (Verlässlichkeit durch Vertrauensschutz). In einem zweiten und sich aus dem ersten als Folge ergebenden Schritt ist dann zu prüfen, ob die angestrebte Stabilität in den Einzelgrundrechten begründet ist. Falls das Problem sich also auf die objektiven Forderungen der Beständigkeit und Kontinuität der Rechtsordnung bezieht, sollte man nicht vom Nachweis der erfolgten Ausübung der Freiheit sprechen. Falls es sich aber auf die Unantastbarkeit von Einzelrechten bezieht, ist die Ausübung des Vertrauens die Voraussetzung des Vertrauensschutzes279. Diese Betrachtungen zeigen also, dass die Forderung nach Ausübung des Vertrauens davon abhängt, ob die Einzelgrundrechte einen Anspruch auf Vertrauensschutz gewähren. Falls der Vertrauensanspruch dieses Fundament hat, verbleibt die Frage nach dem für den Schutzcharakter des Vertrauens geforderten Maß der Freiheitsausübung: ob eine Handlungsentscheidung, die noch nicht von einer tatsächlichen Handlung gefolgt ist, oder jeder Handlungstyp als vorbereitender Akt oder Projekt ausreicht, oder ob stattdessen eine durch Intensität, Belastung und Beständigkeit qualifizierte Handlung notwendig ist280. Wie schon dargelegt, behauptet die in dieser Arbeit vertretene These die Verbindung zwischen den verschiedenen aufgewiesenen Kriterien, unter denen sich gerade die der Belastung, der Beständigkeit, der Umkehrbarkeit des Handelns des Bürgers befinden. Je größer die verursachten Verpflichtungen, je länger die Dauer der Wirksamkeit der Grundlage und je schwieriger die Umkehrung der veranlassten Wirkungen, desto intensiver wird die Einschränkung der Eigentums- und der Freiheitsgrundrechte des Bürgers sein, desto stärker wird folglich der Vertrauensschutz sein und desto stichhaltiger muss dann die Rechtfertigung seiner Aufhebung sein. Aus dieser Perspektive schließt das Fehlen einer intensiv belastenden oder dauerhaften Handlung Vertrauensschutz nicht von vornherein aus. Der niedrige Intensitätsgrad dieser Elemente ist jedoch durch die intensivere Präsenz anderer Elemente zu kompensieren. So muss es beispielsweise einen Vertrauensschutz geben, wenn der Steuerzahler, nachdem er zusammen mit den Vertretern der höchsten Behörden des Bundesstaats zum Zweck der Erhaltung einer Steuervergünstigung gegen Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen ein Kooperationsabkommen unterzeichnet hat, zwar noch nicht die eigentliche Investition getätigt hat, aber nicht nur schon in vorbereitende Aktionen (so in Projekte und Einstellung von Mitarbeitern) 279

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 128; Beatrice Weber-Dürler, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, S. 97. 280 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 406.

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investiert hat, sondern auch auf irreversible Weise seinen Strategieplan geändert hat281. In diesem Fall wird der niedrige Grad des ausgeübten Vertrauens kompensiert durch die Irreversibilität seiner Handlung und durch die Wirkung, welche die Unterbrechung der Wirkungen in der Glaubwürdigkeit staatlichen Handelns hervorrufen kann. (dd) Enttäuschung des Vertrauens Das Vertrauensschutzprinzip rechtfertigt sich nur in den Fällen, in denen der Bürger sein zuvor durch einen staatlichen Akt erzeugtes Vertrauen durch eine neue, spätere und konträre Äußerung des Staats enttäuscht sieht. Vertrauen muss, anders gewendet, enttäuscht werden. Nun rechtfertigt aber nicht jede Enttäuschung den Vertrauensschutz, weil einerseits die Veränderungen, welche die Rechte der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit unbedeutend beeinträchtigen, nicht rechtfertigen, dass die Wirkungen keine vor ihrem Eintritt begonnenen Akte betreffen können. Die Freiheitsgrundrechte erfordern die verantwortliche und mit den Interessen der Mehrheit vereinbare Ausübung der Freiheit, so dass es unstatthaft ist, vom Schutz der Erwartungen im Hinblick auf Akte zu sprechen, deren Wirkungen den Schutzbereich dieser Rechte bloß berühren. Andererseits hat der Bürger nicht das subjektive Recht, dass die Rechtsordnung immer in ihrem Zustand fortbesteht, aufgrund der Prärogative der Legislative, die Rechtsordnung in Freiheit zur demokratischen Gestaltung zu erneuern282. (c) Äußere Beziehung von Kriterien und Abwägung Bis zu diesem Punkt sind die Kriterien der Existenz der für die Gestaltung des Vertrauensschutzes notwendigen Elemente untersucht worden. Falls keine Elemente vorliegen, kann man nicht von Vertrauensschutz sprechen. Falls alle vorliegen, ist das bestehende Vertrauen zu schützen. Ist der Vertrauensschutz aber auch dann noch notwendig, wenn alle Elemente vorliegen, einige jedoch in geringer, andere in stärkerer Intensität? So kann es beispielsweise eine starke Vertrauensgrundlage geben, aber kein oder nur ein geringes Handeln auf ihrer Grundlage, sowie es keine starke Vertrauensgrundlage, hingegen aber ein langes und stimmiges Handeln der Privatperson auf ihrer Grundlage geben kann. Möglich sind gleichfalls Situationen mit starker Vertrauensgrundlage (so ein gültiger Verwaltungsakt, der die Errichtung eines Gebäudes genehmigt), aber ohne langfristige Ausübung des 281 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 89 f. 282 Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 308; Anja Bräunig, Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Wiedervereinigung, S. 76.

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Vertrauens (der Adressat der Genehmigung hat zwar das Projekt ausgearbeitet, ein anderes Vorhaben aufgegeben und Bauarbeiter eingestellt, den Bau aber noch nicht begonnen). Ebenso möglich sind Situationen mit schwacher Vertrauensgrundlage (ungültiger Verwaltungsakt, erlassen im Hinblick auf eine nur per Gesetz regelbare Materie), die aber eine lange und stetige Ausübung des Vertrauens veranlasst haben (Bau einer Fabrik, Tätigung von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen). Kennzeichnend für diese Fälle ist das Ungleichgewicht der Intensität der Elemente. Wie soll man also das Auseinanderdriften der Intensitätsgrade eines jeden Elements des Vertrauensschutzprinzips behandeln? In dieser Arbeit wird vorgeschlagen, dass alle Elemente des Vertrauensschutzprinzips (Vertrauensgrundlage, Vertrauen, Ausübung und Enttäuschung des Vertrauens) vorliegen müssen, die niedrige Intensität eines Elements aber durch die hohe Intensität eines anderen Elements zu kompensieren ist, so dass man im Durchschnitt die minimale Dichte ihrer Voraussetzungen behaupten kann. Je stärker also die Vertrauensgrundlage, desto weniger intensiv muss die Handlung der Privatperson im Hinblick auf Zeit und Aufwand sein; je intensiver diese Handlung, desto schwächer kann die Vertrauensgrundlage sein. Die Rechtfertigung dieser Regel ist einfach: je stärker die Vertrauensgrundlage, je höher der ihr zukommende Grad der Verlässlichkeit und je höher die Illoyalität durch ihre Enttäuschung, desto geringer müssen die Forderungen in Bezug auf das Handeln der Privatperson sein; je extensiver und intensiver das Handeln der Privatperson ist, desto stärker werden die Illoyalität und die rechtswidrige Bereicherung des Staats infolge der Enttäuschung des Vertrauens sein, weshalb die Anforderungen im Hinblick auf die Vertrauensgrundlage verhältnismäßig geringer sein müssen. Schließlich muss man wissen, ob bei Vorliegen der Voraussetzungen des Vertrauensschutzes aufgrund der Existenz der vorher genannten Elemente und der Kompensation der niedrigen Intensität eines Elements durch die hohe Intensität anderer Elemente der Vertrauensschutz noch vermittels einer Abwägung ausgeschlossen werden kann, die einem Staatszweck ein Gewicht zuschreibt, das höher ist als das dem Vertrauensschutzprinzip zugeschriebene Gewicht. Hier sind einige Differenzierungen notwendig: Die CF/88 zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Rechtssicherheitsprinzip konkretisierende Regeln statuiert, besonders im Hinblick auf ihre dynamische Dimension der Forderung nach Verlässlichkeit der Rechtsordnung. In diesem Sinn gibt es die Regel, die das wohlerworbene Recht schützt, die vollendete Rechtshandlung und die Rechtskraft (Art. 5, XXXVI), sowie die Regel, welche die Rückwirkung von Steuergesetzen auf vor dem Beginn ihrer Geltung eingetretene Steuertatbestände verbietet (Art. 150, III a)283. Diese Regeln-und das ist der springende Punktschließen die bloß horizontale Abwägung der Rechtssicherheit in Beziehung zu 283 Wie wir schon gesehen haben, kennt das deutsche Grundgesetz denselben Typus der ausdrücklichen Regelung nicht, obwohl diese Regeln aus den hier vorgesehenen Garantien ableitbar sind.

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anderen eventuell kollidierenden Prinzipien von vornherein aus, wenn man vor in der Vergangenheit abgeschlossenen Akten steht. Das Vertrauensschutzprinzip gewinnt nun in diesem Zusammenhang Bedeutung, wenn die in der Vergangenheit ausgeübten Handlungen, obwohl begonnen, nicht bis zu dem Punkt abgeschlossen worden sind, an dem sie ein wohlerworbenes Recht, eine vollendete Rechtshandlung, Rechtskraft oder einen Steuertatbestand erzeugen. Wenn dies der Fall ist und wenn die Voraussetzungen der Anwendung des Prinzips wie vorher beschrieben erfüllt werden, ist festzustellen, welches der Zweck des Gesetzes ist, sofern es sich um ein Steuergesetz handelt. Ist der Zweck des Gesetzes bloß fiskalischer Natur, will also das Gesetz das Steueraufkommen erhöhen, um allgemeine Staatsausgaben zu finanzieren, lässt sich die Verwirklichung zukünftiger Wirkungen früherer Ausübung der am Recht orientierten Freiheit nicht rechtfertigen, da das gesetzliche Ziel trotz der Einschränkung dieser Wirkungen weiterhin besteht. Die einzige Folge ist, dass der Staat weniger einnehmen wird, was dem Zweck des Gesetzes in keiner Hinsicht Abbruch tut. Ist der Zweck des Gesetzes außerfiskalischer Natur, will also das Gesetz durch Lenkung des Steuerzahlerverhaltens ein wirtschaftliches oder gesellschaftliches Ziel im weiten Sinn erreichen, ist zu eruieren, ob die Reichweite der zukünftigen Wirkungen der damaligen Ausübung der am Recht orientierten Freiheit für die Verwirklichung des Telos des Gesetzes wesentlich ist. Falls nicht, falls also der Gesetzgeber sein Ziel selbst dann erreicht, wenn er die genannten Akte nicht in den Normbereich des neuen Gesetzes aufnimmt, bedeutet es eine unnötige Einschränkung der Grundrechte des Steuerzahlers, sie trotzdem zu erfassen, und läuft damit auf eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitspostulats hinaus284. Ist jedoch die Reichweite dieser vergangenen Akte für die minimale Erreichung des Telos des Gesetzes unverzichtbar-und nur in diesem Fall – g, ist eine Abwägung zwischen der das Telos des Gesetzes tragenden Verfassungsnorm und dem Rechtssicherheitsprinzip in seiner Dimension der Forderung nach Verlässlichkeit durch Schutz des Vertrauens vorzunehmen. Im Hinblick auf diesen Aspekt sind noch einige weitere Unterscheidungen notwendig. Kann der Zweck des Gesetzes über die Reichweite der zukünftigen Wirkungen der vergangenen Ausübung dieser Rechte nur durch die Einschränkung der Freiheitsgrundrechte erreicht werden, ist noch festzustellen, ob die Rechte vieler Bürger eingeschränkt werden. Falls nur die Rechte einiger Bürger eingeschränkt werden, besteht kein Grund, das allgemeine Ziel nicht durchzusetzen. Der Zweck wird nur dann nicht erreicht, wenn viele Vertrauenshaltungen eingeschränkt werden. Ist dies der Fall, ist das Problem aber nicht mehr nur auf das Vertrauensschutzprinzip bezogen, wächst sich zum Rechtssicherheitsproblem im objektiven Sinn aus, das, wie 284

Karl Heinrich Friauf, Steuerrechtsänderungen und Altinvestitionen: Zum Verfassungsgebot der steuerlichen Investitionssicherheit, in: StbJb (1986/1987), S. 294.

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wir schon gesehen haben, sowohl die Stabilität der Rechtsordnung insgesamt durch ihre Dauerhaftigkeit und Kontinuität als auch die Erhaltung des Vertrauens der Bürger das Rechtssystem schützt. Man kann somit sagen, dass die Notwendigkeit des uneigentlichen Rückwirkungsverbots (oder Retrospektivität) für die Erreichung des Zwecks, hat zur Folge die Einschränkung nicht nur des subjektiven, sondern auch des objektiven Aspekts des Rechtssicherheitsprinzips. Wenn dem so ist, ist eine Abwägung zwischen dem vom Gesetz beabsichtigten Staatszweck und dem Rechtssicherheitsprinzip vorzunehmen, und zwar sowohl im Hinblick auf seinen subjektiven als auch in Hinblick auf seinen objektiven Aspekt. Und in diesem Zusammenhang ist die Aufmerksamkeit auf das unterschiedliche Gewicht des Rechtssicherheitsprinzips in der brasilianischen Rechtsordnung zu lenken, wie im späteren Teil dieser Arbeit über seine Wirksamkeit noch zu zeigen sein wird: in seiner Konfrontation mit anderen Verfassungsprinzipien kommt ihm ein hohes Gewicht zu, dank seiner Stellung und seiner systematischen Verschränkung mit anderen Prinzipien, die es stützen und für die es eine Stützfunktion wahrnimmt: in Anbetracht der schon vorgenommenen Untersuchung des deutschen Grundgesetzes lässt sich behaupten, dass dieses hohe Gewicht des Rechtssicherheitsprinzips, wenn anderen Verfassungsprinzipien gegenübergestellt, auch im Grundgesetz anzutreffen ist. Folglich beginnt, um ein Bild zu bemühen, die Ausbalancierung des Rechtssicherheitsprinzips mit einem anderen Prinzip mit einem stärkeren Gewicht in der Waagschale des Rechtssicherheitsprinzips. Dies ändert sich nur, falls sehr schwerwiegende Gründedagegengesetzt werden. In diesem Fall obliegt es dem Staat, die Gründe aufzuzeigen, die eine andere Ausgestaltung des Rechtssicherheitsprinzips vor dem Hintergrund des staatlichen Zwecks rechtfertigen. Dem Steuerzahler obliegt es dagegen nicht, Gründe zur Rechtfertigung seines Vertrauensschutzes zu finden und zu belegen. Alle vorherigen Betrachtungen führen zu einigen Schlussfolgerungen. Handelt es sich um einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Akt (wohlerworbenes Recht, vollendete Rechtshandlung, Rechtskraft und eingetretener Steuertatbestand), ist die Rückwirkung durch eine Regel verboten. In diesem Fall ist jeglicher Typus einer bloß horizontalen Abwägung ausgeschlossen. In solchen Situationen hat, wie Couto e Silva bemerkt, „der einfache Gesetzgeber diese Abwägung vorgenommen und sich für den Vorrang der Rechtssicherheit entschieden, wenn die in der Vorschrift vollkommen beschriebenen Umstände festgestellt werden“285. Der Oberste Bundesgerichtshof schlägt einen ähnlichen Weg ein, wenn er behauptet, dass „die Regel, nach der das neue Gesetz das wohlerworbene Recht, die vollendete Rechtshandlung und die Rechtskraft nicht beeinträchtigt, da sie im Verfassungstext enthalten ist (Art. 5 XXXVI), Verfassungsrang hat und somit verhindert, dass die 285

Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Público de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei Nr. 9.784/99), in: RBDP 06 (2004), S. 7–59.

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einfache Gesetzgebung rückwirkt, um das wohlerworbene Recht, die vollendete Rechtshandlung oder die Rechtskraft zu beeinträchtigen, oder damit der Richter sie rückwirkend anwendet“286. Wenn aber die in der Norm vorgesehene Tatsache begonnen hat, aber nach dem Gesetz noch nicht abgeschlossen oder beendet worden ist und der Bürger aus diesem Grund nicht durch die Rückwirkungsverbotsregeln geschützt werden kann, ist das Vorliegen der das Vertrauensschutzprinzip gestaltenden Prämissen festzustellen. Es kann die unechte Rückwirkung oder den rückwirkenden Bezug auf tatbeständliche Rückanknüpfung verhindern, wie später noch zu erklären sein wird. In diesem Zusammenhang muss man einen Zustand des Vertrauensschutzes dann annehmen, wenn die Summe seiner Elemente in höherem Maß vorgeschrieben ist, wenn also der niedrige Grad der Präsenz eines Elements durch den hohen Grad der Präsenz anderer Elemente kompensiert wird. Liegt der Vertrauensschutz vor, ist zu prüfen, ob die Zuschreibung von Wirkungen auch den in der Vergangenheit verübten Handlungen für das Erreichen des Zwecks wesentlich ist. Nur wenn diese Wirkung notwendig ist, wird eine Abwägung zwischen dem Rechtssicherheitsprinzip und dem zu verfolgenden Staatszweck vorgenommen. Der Staat muss dann mit verdoppelter Argumentationslast die höhere Bedeutsamkeit der Erreichung des Staatszwecks rechtfertigen. Nur in diesem Fall kann also die Normänderung in der Vergangenheit eingetretene, aber nicht abgeschlossene Situationen erfassen. In allen anderen Fällen muss die Normänderung Wirksamkeit pro futuro entfalten. Dies beweist, dass der bloße Ausschluss des Vertrauensschutzprinzips aus „höheren Gründen der Staatsraison“ nicht vorstellbar ist entgegen der von der ausländischen Rechtswissenschaft vertretenen Position287. Die Abwägung zwischen Staatszweck und Vertrauensschutzprinzip hat die Intensität zu berücksichtigen, mit der die Grundrechte der Freiheit und des Eigentums des Steuerzahlers eingeschränkt werden. Unter diesem Aspekt wird der Intensitätsgrad von der Irreversibilität der Dispositionsakte der Privatperson abhängen, von der Abhängigkeit, die durch die vorherige Erzeugung von Wirkungen des Staatsakts erzeugt worden ist, und vom Schaden, der durch das diesem Akt entgegengebrachte Vertrauen verursacht worden ist. In einigen Situationen wird die Privatperson aufgrund der durch das staatliche Versprechen erzeugten Aufwendungen, aufgrund der von ihr an die Dispositionsakte verwandten Zeit, aufgrund der Bedeutung, welche der Anfang der Wirkungen des Akts für ihre Tätigkeit gewann, oder aufgrund der Unmöglichkeit, staatliches Handeln auf andere Weise nützlich zu machen, in eine gänzlich irreversible Situation in Bezug auf das geraten, was sie im Hinblick auf den staatlichen Akt getan hat288. Die Intensität der Einschränkung der Freiheits- und Eigentumsrechte entspricht der Schwierigkeit der Umkehr 286

RE Nr. 188.366, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, DJ 19. 11. 99. Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 413. 288 Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 219 sowie 231. 287

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der Maßnahme289. Wenn man in diesen Fällen akzeptiert, dass die Privatperson, welche über ihre Rechte aufgrund einer Förderung oder eines Versprechens des Staats selbst disponiert hat, vom Verlust der erwarteten Rechtsfolgen der von ihr begangenen Handlungen überrascht wird, akzeptiert man, dass die sie als Objekt und nicht als menschliches Wesen behandelt wird. Je schwieriger also die Umkehrbarkeit des Akts ist und je größer die Abhängigkeit der Privatperson in Bezug auf die Aufrechterhaltung seiner Wirkungen ist, desto größer muss die Bedeutung des Staatszwecks sein. Zu beachten ist auch, dass, obwohl dem Staatszweck ein hohes Gewicht zugeschrieben worden ist, die retrospektive Wirksamkeit noch nicht gerechtfertigt ist, weil sie, neben der Verursachung einer Einschränkung in Bezug auf ein Element (Forderung des Vertrauensschutzes) des vergangenen Aspekts der dynamischen Dimension der Rechtssicherheit (Forderung der Verlässlichkeit) auch die Einschränkung eines anderen Elements desselben Aspekts (wie die Forderung nach Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung) oder eines Elements des zukünftigen Aspekts dieser Dimension (Forderung der Berechenbarkeit) bewirken kann. Der Bürger, der eine intensive Enttäuschung bezüglich der erfolgten Ausübung seiner Freiheit erfahren hat, selbst wenn diese Enttäuschung durch einen relevanten staatlichen Zweck gerechtfertigt worden ist, wird in seinen zukünftigen Handlungen in der Tat die Möglichkeit einer neuen Enttäuschung der Ausübung seiner Freiheit berücksichtigen und eventuell sogar das beabsichtigte Handeln aufgeben290. Wenn dem so ist und selbst wenn die anfängliche Abwägung zwischen dem Prinzip des Vertrauensschutzes und dem Staatszweck erfolgreich durchgeführt worden ist, bleibt immer noch festzustellen, ob der Staatszweck die anderen im Rechtssicherheitsprinzip insgesamt hervorgerufenen Einschränkungen rechtfertigt. In anderen Worten: die Bedeutung der retrospektiven Wirksamkeit der Normänderung für die Erreichung des Staatszwecks muss alle Einschränkungen des Rechtssicherheitsprinzips rechtfertigen, nicht nur die Einschränkung des Vertrauensschutzprinzips. Wir wiederholen: Rechtssicherheit ist entweder vollständig oder keine Rechtssicherheit. Man bemerke, dass die Konstruktion des Rückwirkungsverbots auf der Grundlage der Einschränkung der Grundrechte erfolgt ist. Dies erklärt also, warum Gesetze ohne Eingriffscharakter retrospektive Wirkungen ohne Verletzung des Rechtssicherheitsprinzips hervorrufen können. Der Oberste Bundesgerichtshof hat in diesem Sinn bei der Bearbeitung eines Falls von Auslegungsgesetzen entschieden, dass, wenn die „normative Rückprojektion des Gesetzes die genannten Auflagen weder erzeugt noch hervorruft, nichts den Staat daran hindert, normsetzende Akte mit Rückwirkung zu erlassen und vorzuschreiben. Angesichts ihrer prospektiven Natur müssen Gesetze normalerweise für die Zukunft verfügen. Das brasilanische Rechts- und Verfassungssystem hat jedoch das Prinzip des Rück 289 290

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 251. Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 18.

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wirkungsverbots nicht als absolutes, unbedingtes und nichtabweichendes Postulat statuiert“291. Schließlich ist etwas zu nennen, was im auf die Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips bezogenen Teil wieder aufgegriffen werden soll: selbst wenn man einem Staatszweck zu Lasten des Rechtssicherheitsprinzips den Primat zuschreibt, rechtfertigt man strenggenommen nur die Einschränkung des Elements einer seiner Dimensionen (in diesem Fall des subjektiven Aspekts der dynamischen Beziehung). Das Rechtssicherheitsprinzip wird also, anders formuliert, nicht beseitigt. Deshalb sagt man ja auch, dass dieses Prinzip in Wahrheit keine Wirksamkeit prima facie entfaltet, also keine Wirksamkeit, die aufgrund gegensätzlicher Prinzipien aufgelöst werden könnte. Es kann nie vollständig beseitigt werden, ohne dass man damit nicht auch das Recht selbst außer Kraft setzt. Die vorstehenden Bemerkungen erlauben die Formulierung einiger Regeln für die Anwendung des Vertrauensschutzprinzips: Erste Regel: der Grad des Vertrauensschutzes wird umso höher sein, je höher der Grad der Präsenz der untengenannten normativen Elemente ist, die zur faktischen Situation gehören: – Bindungskraft: je stärker die normative Bindung des Akts ist, desto stärker muss der ihm entgegengebrachte Vertrauensschutz sein; – Anschein der Legitimität des Akts: je höher der Anschein der Legitimität des Akts ist, desto stärker muss der ihm entgegengebrachte Vertrauensschutz sein; – Änderbarkeit: je höher der Grad der Beständigkeit des Akts ist, desto stärker muss der ihm zugeschriebene Vertrauensschutz sein; – Effektivität: je höher der Grad der Erreichung des der angeblich verletzten Regel zugrundeliegenden Zwecks ist, desto stärker muss der Schutz der Wirkungen des für gesetzwidrig erklärten Akts sein; – Lenkung: je höher der Grad der sich aus dem Akt ergebenden Lenkung ist, desto stärker muss der Schutz des unter Berufung auf ihn ausgeübten Vertrauens sein; – Individualität: je höher der Grad der Nähe des Akts ist, desto stärker muss der ihm entgegengebrachte Vertrauensschutz sein; – Entgeltlichkeit: je höher der Grad der Entgeltlichkeit des Akts zum Bürger ist, desto stärker muss der Schutz des auf ihn entfallenen Vertrauens sein; – Dauerhaftigkeit: je dauerhafter die zeitliche Wirkung des Akts ist, desto mehr Schutz verdient das ihm entgegengebrachte Vertrauen. 291

ADI-MC Nr. 605/DF, Plenum, Berichterstatter: Richter Celso de Mello, DJ 05. 03. 93, S. 2897. S. über die Auslegungsgesetze: Sacha Calmon Navarro Coêlho, Segurança jurídica e mutações legais, in: Rocha, Valdir de Oliveira (Hrsg.), Grandes questões atuais do Direito Tributário, Bd. 10, S. 402–431.

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Zweite Regel: je stärker die Präsenz des Elements Dauerhaftigkeit ist, d. h. je länger die zwischen der Verübung des Akts und der Entscheidung über seine Aufhebung abgelaufene Zeitspanne ist, desto geringer darf die Präsenz der anderen Elemente sein. Dritte Regel: der niedrige Grad der Präsenz eines Elements ist durch den hohen Grad der Präsenz anderer Elemente zu kompensieren. Vierte Regel: im Fall einer Steuernorm mit außerfiskalischem Zweck ist retrospektive Wirkung immer dann zu vermeiden, wenn das Ziel erreicht werden kann, indem die genannten Akte nicht in den Normbereich des neuen Gesetzes aufgenommen werden und die Wirkung der Änderung auf das Verhalten nicht das Verhalten der Steuerzahler bezüglich der schon vorgenommenen Handlungen erfasst. Fünfte Regel: falls das Ziel nur mit retrospektiver Wirksamkeit des neuen Gesetzes erreicht werden kann, muss es umso wichtiger sein, je intensiver die Freiheits- und Eigentumsrechte des Bürgers eingeschränkt werden. Sechste Regel: die Freiheits- und Eigentumsrechte des Bürgers werden umso stärker eingeschränkt, je plötzlicher und drastischer die Änderung der Norm ist, je schwieriger die Umkehrung der Dispositionen ist, je stärker die Abhängigkeit vor dem Akt ist und je ausgedehnter die verursachten Schäden sind. Siebte Regel: selbst wenn die retrospektive Wirkung notwendig ist und ihre Bedeutung die Einschränkung der vergangenen Dimension des Rechtssicherheitsprinzips rechtfertigt, muss diese Wirkung vermieden werden, wenn sie die Einschränkung der zukünftigen Dimension dieses Prinzips noch verstärkt wird. Die obengenannten Regeln sollen bei der Feststellung des Vertrauensschutzes als heuristische Parameter dienen, unter Übergehung des formalen Kriteriums der Abgeschlossenheit zugunsten materialer Kriterien, welche die positive Bewertung der Dispositionsakte der Steuerzahler erlauben292. Ihre Analyse muss immer dann vorgenommen werden, wenn die Regeln des Verbots der Rückwirkung von Abgaben und des Schutzes der vollendeten Rechtshandlung und des wohlerworbenen Rechts sich für den Schutz des Bürgers als unzureichend erweisen. Man sieht sofort, dass die Beibehaltung der Normen und ihrer Wirkungen vom Grad der staatlichen Beteiligung und der Einschränkung der Grundrechte der Privatperson abhängt. Je stärker die Einmischung des Staates ist, desto stärker werden die Gründe zur Beibehaltung der Norm sein. Diese Einmischung des Staates in die Freiheit reicht von einem Extrem von Normen, die nur mittelbar die Bedingungen der Ausübung der Freiheit festlegen, über Normen, die das Verhalten der Privatperson lenken, und Normen, die Versprechen für Handlungen abgeben, bis zu Normen, die zur Wahl eines bestimmten Verhaltens verpflichten. Die Verantwortung der Privatperson ist dem Grad staatlicher Einmischung in ihre Freiheit 292

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 242.

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umgekehrt proportional: vor Normen, die nur mittelbar die Bedingungen der Freiheitsausübung festlegen, handelt die Privatperson weil sie dies will, also auf eigene Verantwortung und Risiko; im Falle von das Verhalten der Privatperson lenkenden Normen handelt die Privatperson, weil der Staat sie dazu angeregt hat; im Fall von Normen, die Versprechen für Handlungen abgeben, handelt die Privatperson, da der Staat ihr eine Gegenleistung versprochen hat; im Fall von zwingenden Normen handelt die Privatperson, indem sie eine Pflicht erfüllt. So sind die Verantwortung des Bürgers und das von ihm eingegangene Risiko umso geringer, je höher der Grad der staatlichen Einmischung in die Freiheit ist. Deshalb sind die Gründe für den Schutz des dem Staat entgegengebrachten Vertrauens stärker. (d) Vertrauensschutz und Legislative: die Gesetzesänderung (aa) Einleitende Betrachtungen Ein Gesetz kann sich in der Zukunft im Hinblick auf zukünftige Akte auswirken. Es ist dann prospektiv. Es kann sich in der Zukunft auswirken, aber auf vergangene Tatsachen bezogen, dann ist es retrospektiv. Und es kann sich auch in der Vergangenheit auswirken, auf vergangene Tatsachen bezogen, dann ist es retroaktiv, rückwirkend293. Obwohl diese Unterscheidung zwischen Prospektivität, Retrospektivität und Retroaktivität eine Reihe von Zwischenzuständen unberücksichtigt lässt, reicht sie aus, um zu zeigen, dass das Recht im Regelfall prospektiv sein soll, wenn eine seiner Funktionen in der Orientierung menschlichen Verhaltens besteht. Es kann nicht rückwirkend sein, nämlich aus dem einfachen Grund, dass der Mensch nicht von einer dem Zeitpunkt seines Handelns vorausgehenden Norm geleitet werden kann294. Marmor unterstreicht dies sehr deutlich: „Rückwirkende Regeln, insbesondere Regeln, die ein Verhalten zu beeinflussen bezwecken, das schon vor der Verkündung der Regel eingetreten ist, können nicht das Ziel erreichen, menschliches Verhalten wahrhaft anzuleiten“295. Mehr noch: das Recht kann, bei Strafe des Mangels an Verlässlichkeit bezüglich des Adressates, der es zu befolgen hat, nicht rückwirkend sein. Die Rückwirkung führt dazu, dass die Ordnung, die zu bestehen schien, sich als eine niemals bestehende Ordnung herausstellt296. Da die Rückwirkung dazu führt, dass die frühere Norm, auf deren Wirksamkeit man vertraut hat, einen Teil ihrer Wirksamkeit durch die spätere Norm annulliert sieht, bezieht sich die Rückwirkung nicht nur auf ein Problem, das mit dem Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart zusammenhängt, sondern auch auf ein Problem, das mit dem Übergang von der Gegenwart zur Zukunft zusammenhängt: wenn der Bürger sein Vertrauen auf die Wirksamkeit der früheren Norm durch die von der 293

Ben Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, S. 6. Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 214. 295 Andrei Marmor, Law in the age of pluralism, S. 7. 296 Henri Battiffol, Le déclin du Droit: Examen critique, in: Archives de Philosophie du Droit, S. 45. 294

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gegenwärtigen Norm eingeführte Veränderung enttäuscht sieht, hat er den Verdacht, dass auch die Wirksamkeit der gegenwärtigen Norm durch eine zukünftige Norm geändert werden kann. Anders gewendet: das Phänomen der Rückwirkung verursacht sowohl die Enttäuschung des Vertrauens auf die vergangene Norm als auch den Beginn des Misstrauens gegenüber dem Recht der Zukunft. Rückwirkung ist also ein Problem, das sowohl die Forderung nach Verlässlichkeit als auch die Forderung nach Berechenbarkeit der Rechtsordnung berührt. Sie wirkt sich also, in einem Wort, auf die Rechtssicherheit in ihrer doppelten Dimension aus. Die CF/88 enthält eine spezifische Bestimmung über das Rückwirkungsverbot von Steuergesetzen, nach der den Gliedstaaten des Bundes verboten ist, „Abgaben in Bezug auf vor dem Beginn des Inkrafttretens des Gesetzes, welches diese Abgaben eingeführt oder erhöht hat, eingetretene Tatbestände zu erheben“ (Art. 150, III, a). Eine vorläufige Analyse dieser Bestimmung erlaubt die Schlussfolgerung, dass die CF/88 eine „Verfassungsregel“ enthält, welche die Nichtrückwirkung von Steuergesetzen gebietet. Sie wählt einzig das „Kriterium des Steuertatbestandes“ als Parameter der Geltung von Steuergesetzen: wenn die Geltung des neuen Gesetzes nach dem Eintritt des Tatbestands begonnen hat und Wirkungen in Bezug auf diesen entfalten will, ist es rückwirkend und damit verfassungswidrig; wenn es jedoch Wirkungen vor dem Eintritt des Tatbestands hervorgerufen hat (selbst einen Tag vor dem Eintritt des Tatbestands), ist es nicht mehr rückwirkend, weshalb seine Wirkungen auf jede vor diesem Zeitpunkt begangene Handlung bestehen bleiben. Wie später noch zu erklären sein wird, verwendet der Oberste Bundesgerichtshof das Kriterium des Tatbestands so wie es in der vorher genannten Regel festgelegt ist: als er die Verfassungsmäßigkeit der Änderung des Sozialbeitrags über den Nettogewinn während des Geschäftsjahrs und mit dem Beginn der Geltung für das Geschäftsjahr selbst prüfte, kam er zum Schluss, dass eine Verletzung des Verbots der Rückwirkung nicht vorläge, zumal die Geltung des neuen Gesetzes vor Ablauf des Geschäftsjahrs begonnen hätte, dem Zeitpunkt des Eintritts des Tatbestands des genannten Beitrags; als er die Verfassungsmäßigkeit der Erhöhung des Steuersatzes der Einfuhrsteuer prüfte, selbst angesichts des vorherigen Versprechens des Staatspräsidenten, diesen Steuersatz zu senken, erkannte er, dass das Verbot der Nichtrückwirkung nicht verletzt worden sei, da die abändernde Verordnung vor der Verzollung der Ware, also dem Eintritt des auf diese Steuer bezogenen Tatbestands, veröffentlicht worden sei. Die genannten Entscheidungen, denen weitere andere hinzugefügt werden könnten, zeigen, dass der Oberste Bundesgerichtshof das „Kriterium (des Abschlusses) des Steuertatbestands“ als die Nichtrückwirkung des Steuergesetzes definierenden Parameter gewählt hat, weil die CF/8888, statt ein allgemeines Prinzip des Rechtssicherheitsschutzes oder ein spezifischeres Prinzip des Vertrauensschutzes einzuführen, neben anderen Regeln eine spezifische Regel im Steuerrecht statuiert hat, indem sie als Kriterium den Tatbestand als Element wählte, das die vom Interpreten zu berücksichtigenden Elemente bestimmt: ein anderes Element wäre nämlich für

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

die Bewertung der Rückwirkung von Steuergesetzen irrelevant. Elemente wie die „Ursache der Steuerverpflichtung“ oder das „Vertrauen der Steuerzahler“ wären nicht relevant aufgrund der Entscheidung der Verfassung, „nur“ dem Tatbestand der Steuer als notwendigem und hinreichendem Element der Feststellung der unzulässigen Rückwirkung von Steuergesetzen Relevanz zuzuschreiben297. Die Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs ähneln den Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkungskontrolle: das Bundesverfassungsgericht stellt eine echte Rückwirkung dann fest, wenn ein Gesetz später und auf verändernde Weise einen in der Vergangenheit eingetretenen Tatbestand erfasst, während die unechte Rückwirkung dann vorliegt, wenn das Gesetz nur faktische Situationen oder noch nicht abgeschlossene Situationen erfasst298. Das vom Ersten Senat des deutschen Bundesverfassungsgerichts verwendete Kriterium ähnelt also dem vom brasilianischen Obersten Bundesgerichtshof verwendeten Kriterium: um festzustellen, ob ein Gesetz rückwirkend ist, bedient sich das Gericht bei der Tatbestandsprüfung des Abgeschlossenheitskriteriums. In diesem Sinn ist das Gesetz nicht mehr rückwirkend, wenn es eine Tatsache erfasst, die noch keinen abgeschlossenen Tatbestand erfüllt, ist aber rückwirkend, wenn es einen schon abgeschlossenen oder eingetretenen Tatbestand erfasst. Der Zweite Senat des deutschen Bundesverfassungsgerichts verwendet eine andere Terminologie: an Stelle der echten Rückwirkung verwendet er den Begriff „Rückbewirkung von Rechtsfolgen“, um die Fälle zu bezeichnen, in denen das neue Gesetz Rechtsfolgen festlegt, die sich auf einen Zeitbereich des Steuertatbestands beziehen, der in einen vor dem Datum der Veröffentlichung liegenden Zeitraum fällt: die Wirkungen des neuen Gesetzes werden angewandt, als ob das Gesetz zum Zeitpunkt der Begehung der Handlungen in der Vergangenheit existiert hätte. Und an Stelle der unechten Rückwirkung verwendet das Gericht den Ausdruck „tatbestandliche Rückanknüpfung“, um die Fälle zu beschreiben, in denen das neue Gesetz nur die Rechtsfolgen festlegt, die sich auf den Sachbereich des Steuertatbestands beziehen, der in den vor dem Beginn seiner Geltung liegenden Zeitraum fällt: die Wirkung der Norm entfaltet sich nur von der Gegenwart aus in die Zukunft, aber mit Bezug auf in der Vergangenheit begonnene Vorfälle, d. h. Sachverhalte299. Unabhängig von der Stimmigkeit der neuen Ausdrücke, die schon als bloße „Umettiketierung“ der alten Ausdrücke bezeichnet worden sind300, ist es eine Tatsache, dass das entscheidende Kriterium nach wie vor der Eintritt des Tatbestands ist (oder, etwas pleonastisch ausgedrückt, das Kriterium des Tatbestandsabschlusses). Andere Faktoren wie „Ursache“, „Vertrauen“ oder „Freiheitsausübung“ sind irrelevant.

297

Atílio Dengo, Irretroatividade tributária e modo de aplicação das regras jurídicas, in: RDDT 124 (2006), S. 24. 298 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 204. 299 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 207. 300 Bodo Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 382.

I. Gehalt der Rechtssicherheit 

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In diesem Kontext muss man folgende Frage stellen: ist das „Kriterium des Tatbestands“ das einzige Kriterium der Feststellung der Nichtrückwirkung von Steuergesetzen in dem Sinn, dass es die Prüfung der Nichtrückwirkung erschöpft? Diese Frage soll nachfolgend beantwortet werden.

(bb) Normativer Gehalt des Rückwirkungsverbots Wie schon festgestellt, besteht das Rechtssicherheitsprinzip aus der Pflicht zur Verwirklichung der Ideale der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Normen aufgrund ihrer Erkennbarkeit. Eines ihrer partiellen Fundamente ist das Verbot der Rückwirkung von Abgaben, statuiert in der CF/88 in Art. 150 III a, die i. V. m. anderen Regeln wessen induktive Konstruktion innerhalb des Verfassungstextes erlaubt. Diese Regel des Rückwirkungsverbotsregel von Abgaben fällt also nicht mit der Rechtssicherheit zusammen und erschöpft auch nicht deren Fundamente: sie ist nur ein Teilfundament neben anderen. Kurz, das Rechtssicherheitsprinzip hat also einen Anwendungsbereich, der viel größer ist als der Sachbereich, der von der Regel des Verbots rückwirkender Abgaben in Art. 150 III a der CF/88 erfasst wird: während jenes Prinzip die Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts in seinen verschiedenen Erscheinungsformen schützt, schützt diese Regel den Aspekt der Unantastbarkeit vergangener Situationen des Elements Verlässlichkeit in einer seiner Erscheinungsformen. Außerdem wird die Rückwirkungsverbotsregel als Norm des intertemporalen Rechts, das die rückwirkende Anwendung von Steuernormen vermeiden soll, nicht durch die Rückwirkungsverbotsregel in Art. 150 III a der CF/88 erschöpft. Wie wir noch zeigen werden, enthält das Nichtrückwirkungsprinzip auch einen Anwendungsbereich, der ausgedehnter ist als der Gehalt der Regel der Nichtrückwirkung von Abgaben in Art. 150 III a der CF/88, und zwar aus folgenden Gründen: Wie schon erwähnt, kann diese Regel auch aus dem deutschen Grundgesetz abgeleitet werden. Da sie jedoch nicht ausdrücklich in den Verfassungstext aufenommen worden ist, erzeugt sie nicht die nachfolgend untersuchte Problematik, da die Diskussion über die Erschöpfung der rückwirkenden Anwendung steuerrechtlicher Normen unnötig wird. Da es keine spezifische Regel der steuerrechtlichen Nichtrückwirkung gibt, nehmen die Gerichte, immer wenn diese Diskussion in der Rechtsprechung auftritt, eine Abwägung zwischen dem Rechtssicherheitsprinzip und dem Staatsinteresse vor, um die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer rückwirkenden Normanwendung zu prüfen. Das Verbot der rückwirkenden Anwendung von Steuernormen wird durch die Wirksamkeit sowohl der Regeln des Schutzes der Rechtskraft, des wohlerworbenen Rechts und der vollendeten Rechtshandlung als auch durch das Rechtssicherheitsprinzip gedeckt: die genannten Regeln schützen, in einem etwas weiteren als dem von der tatbestandsbezogenen Regel des Rückwirkungsverbots erfassten Be-

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reich, in der Vergangenheit begangene Handlungen, unabhängig davon, welcher Art von Abgabenverpflichtungen sie erzeugt, und schützen sie damit vor dem Zugriff verändernder späterer Normen, wie im Fall der in der Vergangenheit vorgenommenen Abgabenkompensationen; das genannte Prinzip schützt in seinem Verlässlichkeitselement durch Stabilität der Rechtsordnung in einem noch weiteren Bereich in der Vergangenheit erfolgte Handlungen und bewahrt sie damit vor der Wirksamkeit ändernder späterer Normen, auch unabhängig davon, ob sie Abgabenhauptverpflichtungen erzeugen. Das heißt also, dass die Regeln des Schutzes der Rechtskraft, des wohlerworbenen Rechts und der vollendeten Rechtshandlung und das Rechtssicherheitsprinzip selbst das normative Fundament des Verbots der rückwirkenden Anwendung von Steuernormen darstellen, ohne eine notwendige Bindung an Tatbestände. In Hinblick auf diesen Aspekt stellt sich jedoch folgende Frage: würde die „an den Tatbestand gebundene Nichtrückwirkungsregel“ nicht den Schutz des Steuerzahlers gegen die rückwirkende Anwendung von Steuernormen erschöpfend erfassen? Anders formuliert: wäre die „an den Tatbestand gebundene Nichtrückwirkungsregel“ nicht die Konkretisierung der Rechtssicherheit im Bereich des intertemporalen Rechts, womit die Berücksichtigung anderer Elemente, die dann sogar unter direkter Berufung auf das Rechtssicherheitsprinzip oder andere Garantien berücksichtigt werden könnten (aber nur dann, wenn diese spezifische Regel nicht existieren würde), unzulässig wäre? In nochmals anderer Formulierung: gefragt wird, ob die „an den Tatbestand gebundene Nichtrückwirkungsregel“ normativ nicht den Rückgriff auf die Regeln des Schutzes der Rechtskraft, des wohlerworbenen Rechts und der vollendeten Rechtshandlung und des Rechtssicherheitsprinzips im Bereich des intertemporalen Rechts ausschließen würde. Die Frage ist aus folgenden Gründen zu verneinen: Erstens schließt die „an den Tatbestand gebundene Nichtrückwirkungsregel“ nicht die Wirksamkeit anderer den Zustand der Verlässlichkeit schützender verfassungsrechtlicher Normen aus, weil die CF/88 dies ausdrücklich so vorsieht. In der Tat geht dem Verbot der „Erhebung von Abgaben in Bezug auf vor den Beginn der Geltung des Gesetzes, das sie eingeführt oder erhöht hat, vorgefallene Tatbestände“ die Formulierung „unbeschadet anderer dem Steuerzahler gewährleisteter Garantien“ voraus. Die Bestimmung erhält also ausdrücklich ihre eigene Unerschöpflichkeit in Sachen Rechtsschutz. Das bedeutet aber erstens, dass es „andere“ Garantien gibt, dass also die in der Bestimmung vorgesehenen Garantien nicht erschöpfend sind; zweitens, dass es „Garantien“ sind, d. h. rechtsgewährleistende Instrumente; und drittens, dass es „dem Steuerzahler“ gegebene Garantien sind. Entscheidend wichtig ist es also, zu wissen, welches einerseits diese anderen Garantien sind und für welche Rechte sie andererseits das Gewährleistungsinstrument sind. Die anderen Garantien sind präzise diejenigen, die sich aus den Regeln des Schutzes der Rechtskraft, des wohlerworbenen Rechts und der vollendeten Rechtshandlung ergeben, die in Art. 5 XXXVI der CF/88 enthalten sind. Aber die in der

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Schlussklausel von Art. 5 § 2 verbrieften Rechte und Garantien „schließen nicht andere aus, die sich aus dem von ihr [scil. der CF/88] gewählten Regimes und Prinzipien“ herleiten. Nun ist eine dieser anderen Garantien präzise der Vertrauensschutz, der sich aus dem Rechtsicherheitsprinzip „herleitet“ und eben als „Garantie“ gekennzeichnet wird aufgrund seiner instrumentellen Natur. Und die Rechte der Steuerzahler, deren Verwirklichung durch diese Garantien instrumentalisiert wird, sind die Rechte der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit. Wenn dem so ist, würde die Auffassung, dass die Regel der an den Tatbestand gebundenen Nichtrückwirkung von Abgaben die an andere Elemente gebundene Garantie der Nichtrückwirkung ausschließen würde, eine Nichtberücksichtigung des Verfassungsgebots zur Folge haben. Dieses Letztere fordert, keine anderen Garantien auszuschließen, welche die Rechte der Steuerzahler schützen. Anders formuliert, würde dies bedeuten, den Passus „ohne Beinträchtigung [wörtlich: Schaden, also: unbeschadet] anderer Garantien“ im Sinn von „mit Beeinträchtigung [Schaden] anderer Garantien“ zu verstehen. Zweitens schließt die „an den Tatbestand gebundene Nichtrückwirkungsregel“ nicht die Wirksamkeit anderer Verfassungsnormen aus, da dieses Verständnis mit der Einführung von Schranken der Besteuerungsgewalt völlig unvereinbar wäre. Die Einführung ausdrücklicher Schranken der Besteuerungsgewalt ist ja nur dann sinnvoll, wenn diese zu den schon vorgesehenen und den sich vom Verfassungssystem selbst herleitenden Schranken der Besteuerungsgewalt hinzutreten. Wäre dem nicht so, würde – unter dem Vorwand der Erhöhung des Schutzes des Steuerzahlers durch Zuschreibung einer neuen und spezifischen Wirkung der Normen, die sich nicht notwendig von den in der Verfassungsordnung schon vorgesehenen Normen herleitet – die Einführung ausdrücklicher Schranken letzlich den Schutz des Steuerzahlers durch Aufhebung der Wirkung anderer umfassenderer Normen verringern. Dies würde nicht nur beim Rückwirkungsverbot der Fall sein, sondern auch bei den anderen ausdrücklich vorgesehenen Beschränkungen. So würde z. B. die Auffassung, dass der Schutzbereich der in Art. 150 IV der CF/88 vorgesehenen Regel des Verbots der Einführung von Abgaben mit Konfiskationswirkung durch die Bestimmung ihres Tatbestands beschränkt wird, die Garantien des Steuerzahlers verringern, statt sie zu erhöhen, da die Anwendung besagter Regel auf konfiskatorische Abgaben beschränkt wäre, während die unmittelbare Wirksamkeit und die verhältnismäßige Anwendung der Prinzipien des Schutzes der Freiheit und des Eigentums nicht nur die Einführung von Abgaben mit Konfiskationswirkung, sondern auch die Beitreibung von Nebenverpflichtungen und übermäßigen Bußgeldern verhindern würden. Die Auffassung, derzufolge der Schutzbereich der in Art. 150 II der CF/88 vorgesehenen Regel des Verbots der Diskriminierung wegen beruflicher Tätigkeit auf die Bestimmung des Tatbestands beschränkt ist, würde die Garantien des Steuerazahlers einschränken, statt sie zu erweitern, da die Anwendung besagter Regel auf Unterscheidungen wegen der beruflichen Tätigkeit beschränkt wäre, während die unmittelbare Wirksamkeit und die verhältnismäßige Anwendung des Gleichheitsprinzips (und der in anderen ver-

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

fassungsrechtlichen Bestimmungen normierten Kriterien) die Verwendung nicht nur dieses Kriteriums, sondern auch anderer Kriterien wie Geschlecht, Rasse, Alter oder irgendeines anderen Kriteriums, das keine Beziehung wertender Kongruenz mit dem Unterscheidungszweck unterhielte, verhindern würde. Die Annahme, dass der Schutzbereich der Regel des Verbots der Einführung und Erhöhung einer Abgabe ohne Gesetz, vorgesehen in Art. 150 I der CF/88, auf die Bestimmung des Tatbestands beschränkt sei, würde die Garantien des Steuerzahlers verringern, statt sie zu erweitern, da die Anwendung besagter Regel auf die Einführung und Erhöhung der Steuer beschränkt bliebe, während die unmittelbare Wirksamkeit und die verhältnismäßige Anwendung des Legalitätsprinzips nicht nur die Einführung und Erhöhung der Abgabe, sondern gleichermaßen die Einführung von Nebenverpflichtungen und freiheits- und eigentumseinschränkenden Rechten verhindern würden, usf. Wenn wir damit akzeptierten, dass der Schutzbereich der Regel der Nichtrückwirkung von Abgaben auf die Bestimmung des Tatbestands beschränkt bleibt, würde dies zur Verringerung des Schutzes der Steuerzahler führen, da die Anwendung besagter Regel auf die ausschließliche Berücksichtigung des Tatbestands beschränkt bliebe, während die unmittelbare Wirksamkeit und die verhältnismäßige Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips und selbst die Wirksamkeit der Schutzregeln des wohlerworbenen Rechts, des vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft zur Berücksichtigung anderer Elemente führen würden, wie beispielsweise die schon begonnene und nicht mehr änderbare Ausübung der Freiheits- und Eigentumsrechte und das vertrauenswürdige staatliche Versprechen. Statt zur Erweiterung der Garantien der Steuerzahler zu führen, würde diese Auslegung der Beschränkungen der Besteuerungsgewalt den Schluss nahelegen, dass die CF/88 spezifische Garantien zum Zweck ihrer Einschränkung statuiert hätte. Mehr Beschränkungen wären dann gleichbedeutend mit weniger Beschränkungen, was in der Tat unsinnig wäre. Drittens schließt die „an den Tatbestand gebundene Nichtrückwirkungsregel“ nicht die Wirksamkeit anderer Verfassungsnormen aus, da sie sich im Gegensatz zu anderen Regeln sich nicht dem Rechtssicherheitsprinzip und den Regeln zum Schutz des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft entgegenstellt, sondern sie vielmehr verstärkt. In der Tat gibt es in dieser Beziehung nicht einen Vektorenkonflikt wie in den Fällen der syntaktischen Opposition zwischen Kompetenzregeln und bestimmten Verfassungsprinzipien. In diesen Fällen würde die Überlagerung des Prinzips wirklich den Minimalgehalt und sogar die Funktion der Regeln annullieren, wie zum Beispiel im Fall der Überlagerung des Prinzips der gesellschaftlichen Solidarität über die Kompetenzregel zur Einführung von Sozialbeiträgen oder im Fall des Primats des Prinzips der Meinungsfreiheit über die Regel der Steuerfreiheit von Büchern. Es gäbe dann die Besteuerungsgewalt außerhalb des Sachbereichs der Kompetenzregeln oder die Abwesenheit der Besteuerungsgewalt außerhalb des Sachbereichs der Inkompetenzregeln. Im hier untersuchten Fall annulliert jedoch die Anwendung des

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Rechtssicherheitsprinzips und der Regeln zum Schutz des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft nicht die Wirksamkeit der Regel der an den Tatbestand gebundenen Nichtrückwirkung, sondern weitet diese Wirksamkeit vielmehr durch Berücksichtigung anderer von ihr nicht erfasster Faktoren aus durch den vektoriellen Zusammenfluss dieser Normen. Nach der CF/88 kann man also nicht behaupten, dass der Eintritt des Tatbestands das einzige entscheidende Element für die Bewertung der Rückwirkung ist, wie dies in anderen Systemen der Fall ist301. Man muss noch darauf hinweisen, dass die an den „Abschluss“ der Tatsachen gebundene Regel der Nichtrückwirkung auf den Einfluss der Strafrechtslehre zurückgeht, in welcher das „Abschlusskriterium“ die Mehrheit der gesetzlich vorgeschriebene Elemente erfasst und für die Legislative eine deutliche Einschränkung darstellt302. Obwohl dieses Kriterium in vielen Fällen eine Orientierung für die Legislative sein kann, ist es völlig unzureichend, um den Besonderheiten in einem Normbereich gerecht zu werden, in dem, wie im Steuerrecht, folgende Phänomene anzutreffen sind: Dauerschuldverhältnisse, die sich im Lauf der Zeit entwickeln und eine Folge von Akten der Disposition über das Eigentum und die Freiheit des Steuerzahlers beinhalten, wobei diese Dispositionshandlungen zuweilen intensiv vor dem Abschluss des Tatbestands begangen werden; Gesetze mit Zwecken, die rechtskonforme Tätigkeiten des Steuerzahlers in den Bereichen Wirtschaft, Kultur, Forschung, Umwelt, Gesundheitswesen und vielen anderen lenken303. Anders formuliert, im Vorgriff auf die Fallanalyse, in der dieser Sachverhalt ein deutlicheres Profil erhalten wird: das formale Kriterium des Tatbestandsabschlusses, ohne zusätzliche materiale Kriterien, ist unzureichend, um die Vielfalt der Sachverhalte im Steuerrechts zu erfassen, vor allem deshalb, weil der Tatbestandsabschluss keine notwendige Korrelation zur erfolgten Ausübung der rechtlich orientierten Freiheit aufweist: der Steuerzahler kann intensiv überrascht worden sein, auch nachdem er vom Staat selbst angeregt worden ist, über seine Freiheits- und Eigentumsrechte zu disponieren, wird aber keinen Schutz erhalten, falls der Tatbestand nicht vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes abgeschlossen worden ist304. Falls beispielsweise der Satz des Sozialbeitrags aus dem Nettogewinn am letzten Tag des Geschäftsjahrs um 100 % erhöht wird, kommt es darauf an, dass der Tatbestand dieser Abgabe noch nicht mit Abschluss des Geschäftsjahrs abgeschlossen ist. Völlig irrelevant ist hier, ob die Wirkungen der Änderung Akte der Disposition über Freiheits- und Eigentumsrechte erfassen, die sich aus einer Anregung 301

César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 174. Walter Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers: Zur Theorie der Rechtsstaatlichkeit und der Rückwirkung der Gesetze, in: Blumenwitz, Dieter / Randelhofer, Albrecht (Hrsg.), FS für Friedrich Berger, S. 286. 303 Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 33; Joachim Burmeister, Selbstbindung der Verwaltung. Zur Wirkkraft des rechtsstaatlichen Übermaßverbots, des Gleichheitssatzes und des Vertrauensschutzprinzips, in: DÖV 34 (1981), S. 503–512. 304 Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 115. 302

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des Staats selbst ergeben und die nicht mehr ohne den unvermeidlichenEintritt von hohen Schäden rückgängig gemacht werden können. Das formale Kriterium des Tatbestandsabschlusses ist also gegenüber der Ausübung der Freiheits- und Eigentumsrechte indifferent: seine Aufmerksamkeit gilt dem Eintritt von steuerrechtlich relevanten Tatsachen, nicht Akten der Disposition der Privatpersonen – und das ist von grundlegender Bedeutung. Diese Sorge um Fakten ergibt sich aus der Auffassung der Beschränkungen „der Besteuerungsgewalt“, die sich aus dem Blickwinkel dessen, was der Staat tun darf oder nicht tun darf, bilden, nicht aus dem Blickwinkel dessen, was der Steuerzahler getan oder unterlassen hat. Eben deshalb statuiert schon die Bestimmung selbst, dass andere Instrumente, die Rechte der Steuerzahler gewährleisten, nicht ausgeschlossen werden dürfen. Der Tatbestand der Nichtrückwirkungsregel richtet seinen Anwendungsbereich deutlich auf die Fälle, in denen es eine Gleichzeitigkeit zwischen dem Abschluss des Tatbestands und dem Handeln des Steuerzahlers gibt: wenn die Handlung des Letzteren zu einem anderem Zeitpunkt erfolgt und seine Freiheits- und Eigentumsrechte also eingeschränkt werden können, verweist die Regel den Anwender ausdrücklich auf andere Instrumente, die diese Rechte gewährleisten können. Die in Art. 150 vorgesehene Regel auch auf Situationen anwenden zu wollen, in denen es andere vertrauenserzeugende Elemente gibt, hieße, sie außerhalb ihres Anwendungsbereichs zu verwenden. Dies bedeutet also, dass die Regel der Nichtrückwirkung von Abgaben auf periodisch genannte Abgaben, wie die Einkommensteuer und den Sozialbeitrag aus dem Nettogewinn, in denen es eine Dissoziierung zwischen den Dispositionsakten des Steuerzahlers und dem Tatbestandsabschluss gibt, keine Anwendung findet; sie findet auch keine Anwendung auf andere Fälle, in denen aufgrund eines anderen Elements, wie der staatlichen Lenkung, der Steuerzahler über seine Freiheits- und Eigentumsrechte vor dem Abschluss des Tatbestands disponiert, wie es mit den Steuern auf Einfuhr, Ausfuhr, Industrialisierung von Waren und Finanzgeschäfte der Fall sein kann. Außerdem offenbart die Verwendung eines am Strafrecht gebildeten Modells im Steuerrecht die Unkenntnis einer riesigen Differenz dieser beiden Normbereiche: während im Strafrecht die Tatbestände sich auf rechtswidrige Handlungen beziehen, beziehen sie sich im Steuerrecht auf rechtsmäßige Handlungen. Die Strafrechtsnorm zielt auf Prävention, die Steuerrechtsnorm auf Beteiligung am Ergebnis der Handlung oder gar an der Handlung selbst305. Wenn also das Rückwirkungsproblem sich auf die Verlässlichkeit in der Rechtsordnung bezieht und Überraschung und Einschränkung der Ausübung von Freiheiten vermeiden will, muss es auch einen großen Widerstand gegen jeden Typus rückwirkender oder retrospektiver Wirkung geben, da diese Wirkungen präzise diejenigen betreffen, die erlaubten Tätigkeiten nachgegangen sind und, obwohl sie nicht wie im Strafrecht ihrer Freiheit beraubt werden, eine sehr einschneidende Einschränkung im Hinblick auf die Disposition über ihre Freiheit und ihr Eigentum erfahren. 305

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 242.

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Alle diese Betrachtungen führen zur Schlussfolgerung, dass die „an den Tatbestand gebundene Nichtrückwirkungsregel“ nur den Zweck verfolgt, die horizontale Abwägung der von ihrem Tatbestand erfassten Situationen (Tatbestände, deren Eintritt mit den Dispositionshandlungen des Steuerzahlers zusammenhängt) zu vermeiden, ohne jedoch auszuschließen, dass es abseits von ihr einen Schutz des Steuerzahlers geben mag: „unbeschadet anderer Garantien“, wie die Verfassung ausdrücklich statuiert. Dieser Schutz erfolgt, wenn selbst außerhalb des Tatbestands dieser Regel der Nichtrückwirkung von Abgaben die Situation dem Tatbestand der Regeln zum Schutz des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung oder der Rechtskraft zugerechnet oder durch die Konkretisierung des Vertrauensschutzprinzips erreicht wird, durch eine Abwägung des Rechtssicherheitsprinzips und des die legislative Änderung rechtfertigenden Staatszwecks. Die Einführung der „an den Tatbestand gebundenen Nichtrückwirkungsregel“ schafft also nur einen Tatbestand der Nichtrückwirkung, der gegen die bloß horizontale Abwägung resistent ist, unbeschadet der Möglichkeit, dass andere von ihr nicht erfasste Fälle von anderen die Freiheits- und Eigentumsrechte gleichermaßen schützenden Normen berücksichtigt werden. Diese letzte Feststellung – dass die an den Tatbestand gebundene Nichtrückwirkungsregel einen Widerstand gegen die horizontale Abwägung bewirkt – ist äußerst wichtig, weil in anderen Systemen, die keine Nichtrückwirkungsregel kennen, die obersten Gerichte am Ende eine Abwägung zwischen dem Rechtssicherheitsprinzip und dem Prinzip des öffentlichen Interesses vornehmen306. In diesen Systemen funktionieren das „öffentliche Interesse“, das „allgemeine Interesse“, „das höhere öffentliche Interesse“, oft als „Dringlichkeit“, „wichtiger Grund“, „unabweislicher Grund“, „peremptorisches, gebieterisches oder vorherrschendes Interesse“ bezeichnet, als Rechtfertigung der Rückwirkung, selbst im Steuerrecht, wenn die Rückwirkung unverzichtbar für die Wirksamkeit einer Norm ist307. Das heißt, dass der Richter, wenn es keine die horizontale Abwägung verbietende Norm gibt, sich legitimiert glaubt, das Rechtssicherheitsprinzip dem Prinzip des öffentlichen Interesses gegenüberzustellen, und eventuell Letzterem die Vorherrschaft zuzuschreiben. Dies ist allerdings nicht der Fall der brasilianischen Rechtsordnung: eben weil die CF/88 Regeln eingeführt hat (Regel der Nichtrückwirkung im Steuerrecht und Regel zum Schutz der vollendeten Rechtshandlung, des wohlerworbenen Rechts und der Rechtskraft), ist der Richter nicht zu einer einfachen horizontalen Abwägung befugt, die am Ende die Rückwirkung rechtfertigen kann. Der Oberste Bundesgerichtshof hat in einer schon erwähnten Entscheidung eine ähnliche Auffassung übernommen, wenn er behauptet, dass diese Regeln „Ver 306 Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 96; César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 84; Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 413. 307 Willy Zimmer, Constitution et sécurité juridique – Allemagne, in: Anuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 106; César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 170.

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fassungsrang haben und damit also verhindern, dass die einfache Gesetzgebung, selbst wenn ihr Gegenstand der ordre public ist, rückwirkende Geltung entfaltet, um das wohlerworbene Recht, die vollendete Rechtshandlung oder die Rechtskraft zu erfassen, oder dass der Richter die einfache Gesetzgebung rückwirkend anwendet“308. Die Abwägung kann vorgenommen werden, wenn in ihr die genannten Regeln nicht greifen. Diese Feststellung ermöglicht die Auffassung des an den Tatbestand gebundenen Rückwirkungsverbots als Verstärkung, nicht Schwächung der Rechtssicherheit. Man bemerke jedoch, dass die Abwägung nicht einfach das öffentliche Interesse an der Veränderung dem privaten Interesse an der Erhaltung der Wirkungen gegenüberstellt, denn es ist, wie später deutlicher werden wird, das ganze Spektrum der Einschränkungen der Rechtssicherheit zu bewerten sowie festzustellen, ob die Beibehaltung der vergangenen Wirkungen nicht Teil des öffentlichen Interesses ist. Die rückblickende Wirksamkeit erfasst nicht nur die vergangene Ausübung der Freiheit: sie höhlt das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit und Stabilität des Rechtssystems aus und schädigt folglich die Autorität und bindende Natur des Rechts selbst309. Gegen die These, dass die Wirkungen des neuen Gesetzes beseitigt werden könnten, bezüglich auf nach dem zum Zeitpunkt ihres Eintritts geltenden Gesetz begonnene, aber nicht abgeschlossene Tatsachen, lässt sich einwenden, dass die CF/88 tatsächlich in Art. 150 die Anwendung „anderer Rechte und Garantien“ gewährleistet hat, allerdings vermittels der Garantien des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft. Und diese Garantien setzen, so wie die in Art. 150 IIIa vorgesehene Garantie, ebenfalls den Abschluss der zum Zeitpunkt der Entstehung des Rechts der Begehung der Handlung, oder der Verkündung des Urteils bestehenden gesetzlichen Erfordernisse voraus. In anderen Worten: es wird argumentiert, dass die CF/88 außer der steuerrechtlichen Regel des Rückwirkungsverbots die Rückwirkung nur in Bezug auf abgeschlossene Handlungen oder Tatsachen unmöglich gemacht hätte, was folglich die Hypothese des Schutzes der „bloßen“ Erwartung, selbst wenn diese eventuell infolge der Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips schutzwürdig wäre, unmöglich machen würde. Nun verkennt aber dieses Argument nicht nur die triviale Tatsache, dass die in der Aufzählung in Art. 5 vorgesehenen Garantien auch nicht andere sich aus dem System und den Verfassungsprinzipien herleitende Garantien ausschließen (wie etwa im Fall der auf das Vertrauensschutzprinzip gegründeten Garantie), sondern ignoriert auch einen wichtigen Grund, nicht in den Garantien des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft die Lösung aller Probleme des intertemporalen Rechts im steuerrechtlichen Bereich zu suchen: die rigorose Unterscheidung der Zwecke der in Art. 5 XXXVI vorgeschriebenen Garantien und der Zwecke der in der steuerrechtlichen Nichtrückwirkungsregel in Art. 150 IIIa vorgeschriebenen Garantie. 308 309

RE Nr. 188.366, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, DJ 19. 11. 99. Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 143.

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Die steuerrechtliche Nichtrückwirkungsregel bestimmt in der Tat über die Wirksamkeit der Änderung einer früheren Norm, welche die Vorschrift einer Tatsache enthielt, deren Eintritt Anlass zur Entstehung einer Verpflichtung war, indem sie verbietet, dass eine spätere Norm die Wirkungen ändert, die durch den in der früheren Norm vorgesehenen Eintritt der Tatsache entstanden sind; die Garantie der vollendeten Rechtshandlung bestimmt über die Wirksamkeit der Änderung einer früheren Norm, die eine Vorschrift der Existenzvoraussetzungen von Rechtsakten enthielt, deren Beachtung sie zur Hervorbringung ihrer Wirkungen befähigte, sobald alle Voraussetzungen vorlägen, und verbietet, dass die spätere Norm die sich aus der Praxis des Akts oder dem Abschluss eines Rechtsgeschäfts nach der früheren Norm ergebende Möglichkeit der Hervorbringung von Wirkungen ändert; die Garantie des wohlerworbenen Rechts bestimmt über die Wirksamkeit der Änderung einer früheren Norm, die eine Vorschrift der Voraussetzungen der Wirksamkeit von Rechten enthält, deren Erfüllung die Hervorbringung von Wirkungen veranlasst hat, und verbietet, dass die spätere Norm die Wirkungen ändert, die durch die Erfüllung der für die Erzeugung des subjektiven Rechts gemäß der früheren Norm notwendigen Voraussetzungen entstanden sind. Der Vergleich zwischen diesen Garantien erlaubt die Feststellung, dass die Nichtrückwirkungsregel im Steuerrecht die Entstehung von Verpflichtungen verbietet, die sich aus dem Eintritt von vom Willen unabhängigen Tatsachen ergeben, während die – nicht zufällig aus dem bürgerlichen Recht stammenden – Garantien der vollendeten Rechtshandlung und des wohlerworbenen Rechts die Einschränkung von sich aus der Ausübung von Akten oder dem Abschluss von Geschäften, die vom Willen abhängig sind, ergebenden Rechten verbieten. Während jene sich auf die Erfüllung von Verpflichtungen beziehen, beziehen diese sich auf die Erlangung von Rechten. Mehr noch, die steuerrechtliche Nichtrückwirkungsregel wirkt sich in einem Normbereich aus. Dieser beinhaltet eine vertikale Beziehung zwischen dem Steuerzahler und dem Staat, durch welche dieser jenem eine Verpflichtung auferlegt. Die Garantien der vollendeten Rechtshandlung und des wohlerworbenen Rechts richten jedoch ihr Hauptaugenmerk auf die horizontalen Beziehungen, vermittels derer die Parteien sich selbst Verpflichtungen auferlegen und sich mit den korrelaten Rechten ausstatten310. Kurz, die Garantien der vollendeten Rechtshandlung und des wohlerworbenen Rechts weisen unterschiedliche Anwendungsachsen als die steuerrechtliche Nichtrückwirkungsregel auf. Wenn dem so ist, sind diese Garantien nur außerhalb des Bereichs der steuerrechtlichen Regeln anwendbar, so im Fall der Modi der Erlöschung der Steuerschuld. Damit soll gesagt werden, dass die Garantien des wohlerworbenen Rechts und der vollendeten Rechtshandlung, obwohl zu diesem Zweck verwendbar, nicht den Hauptzweck verfolgen, die legitime Erwartung des Steuerzahlers im Hinblick auf neue Abgabenverpflichtungen einführende legislative Änderungen zu 310

Claus-Wilhelm Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 439; Peter Loser, Die Vertrauenshaftung im schweizerischen Schuldrecht, S. 169.

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schützen. Ihr Hauptziel ist nicht die Regelung der Anwendbarkeit legislativer Ände­r ungen, die Verpflichtungen einführen, sondern legislativer Änderungen, die Voraussetzungen des Bestands und der Wirksamkeit von rechtserzeugenden Akten oder Geschäften festlegen. Deshalb – und damit kommen wir zum Kernpunkt des Problems – ist der Schutz der legitimen Erwartungen hinsichtlich der neuen Verpflichtungen im Rechtssicherheitsprinzip und seiner reflexiven subjektiven Wirksamkeit anzustreben. Auf keinen Fall dürfen diese legitimen Erwartungen durch eine restriktive Prüfung der ausdrücklich in Art. 5 der CF/88 verbrieften Garantien ausgeschlossen werden. Dieser Artikel funktioniert wie Kap. I des deutschen Grundgesetzes (Art. 1 bis 19) und enthält die Grundgarantien dieser Rechtsordnung. Man bemerke, schließlich, dass die Prüfung des Rückwirkungsverbots in dieser Arbeit in ein dem Vertrauensschutz gewidmetes Kapitel eingefügt worden ist. Damit soll gesagt werden, dass der Vertrauensschutz das grundlegende, wenn auch nicht einzige Kriterium der Anwendung des Rückwirkungsverbots sein wird, wenn die an den Tatbestand gebundene Nichtrückwirkungsregel keine Akte schützt, die in der Vergangenheit begonnen wurden, aber vom Standpunkt des damals geltenden Gesetzes aus nicht abgeschlossen worden sind311. Dies bedeutet allerdings, dass der Rückwirkungsbegriff selbst, außerhalb des Anwendungsbereichs der Nichtrückwirkungsregel, geändert wird: rückwirkend ist nicht nur das neue Gesetz, das einen nach dem alten Gesetz abgeschlossenen Tatbestand erfasst, sondern auch das Gesetz, das restriktiv auf einen vor seiner Veröffentlichung erfolgten Vorfall einwirkt. „Vorfall“ meint in diesem Zusammenhang jegliche vor der Veröffentlichung des neuen Gesetzes erfolgte Disposition über die Freiheits- und Eigentumsrechte und „restriktiv“ eine nach dieser Disposition erfolgte Entwertung. Rückwirkung liegt also, nach der genauen Begriffsbestimmung von Stötzel, dann vor, wenn ein Gesetz spätere Folgen für einen vor seiner Veröffentlichung geschehenen Akt der Disposition über die Freiheit und das Eigentum statuiert, die im Vergleich zur früheren Norm belastender sind, und damit diesen Akt, wenngleich auch teilweise, entwertet312. Dengo vertritt gleichfalls und mit vollem Recht die Änderung der Gestaltungskriterien der Rückwirkung, das das Prinzip des Vertrauensschutzes sein muss313. Die Rückwirkung wird also nicht vermieden, wenn das Gesetz statuiert, dass es am Tag seiner Veröffentlichung in Kraft tritt und Wirkungen von diesem Tag an hervorruft, wenn es in der Vergangenheit begonnene, aber nicht abgeschlossene Sachverhalte erfasst. Selbst in diesen Fällen kann die Disposition über Grundrechte ungerechtfertigterweise betroffen worden sein und kann, obgleich nicht notwendigerweise, durch die subjektive Wirkung des Rechtssicherheitsprinzips geschützt 311

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 108; Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 157. 312 Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 159. 313 Atílio Dengo, Contributo para uma teoria da Irretroatividade tributária, S. 88 ff. sowie 124.

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sein. Da andere Kriterien neben dem auf den Abschluss von Tatsachen oder Rechtshandlungen in der Vergangenheit nun relevant werden, muss der Rückwirkungsbegriff über die Bezugnahme auf punktuelle in der Vergangenheit vorgefallene oder nicht vorgefallene Ereignisse hinausgehen, um eine in Graden ausdrückbare Beziehbarkeit auf die Vergangenheit zu erfassen314, denn wenn das Rückwirkungsverbot im Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten begründet ist, interessieren die auf die Disposition über diese Rechte bezogenen Akte und nicht die Zufälligkeit, ob der technische Abschluss des Tatbestands erfolgt oder nicht erfolgt ist315. Wenn die Rückwirkung an den Vertrauensschutz gebunden wird, ist Sorge zu tragen, dass die Eigentümlichkeiten der Abstraktion und Allgemeinheit legislativer Akte nicht aus den Augen geraten. Die Allgemeinheit der Gesetze erfordert, dass sie auf alle angewandt werden, die unter den von ihnen jeweils festgelegten Tatbestand fallen. Zuzulassen, dass die Bewertung der Rückwirkung davon abhängt, dass der Adressat sein Verhalten tatsächlich auf das Gesetz gegründet hat, würde bedeuten, dass Menschen, die für das gleiche Verhalten zu einem identischen Zeitpunkt verantwortlich wären, unterschiedlichen Gesetzen unterworfen wären, je nach der subjektiven Erwägung, ihr Verhalten auf das Gesetz zum Zeitpunkt der Handlung zu gründen. Wer sein Verhalten auf das abgeänderte Gesetz gegründet hätte, wäre außerhalb der Reichweite des späteren rückwirkenden Gesetzes, aber wer das frühere Gesetz ignoriert oder sich ihm gegenüber ambivalent verhalten hätte, würde vom späteren rückwirkenden Gesetz erfasst werden. Daher ist mit Bezug auf gesetzliche Rückwirkung das zu berücksichtigende Vertrauen nicht das tatsächliche, sondern das angenommene Vertrauen: der Anwender muss annehmen, das die zum Zeitpunkt der Geltung des Gesetzes gewählten Verhaltensweisen unter dessen Einfluss gestanden haben oder hätten stehen können316. Das zur Annahme der Rückwirkung notwendige Vertrauen setzt also nicht die tatsächliche Kenntnis der früheren Norm voraus, sondern vielmehr die Fähigkeit, diese zur Kenntnis zu nehmen. Diese begriffliche Neubestimmung der Rückwirkung hat weitreichende Folgen. Vorab ist die vom Art. 150 der CF/88 statuierte „Rückwirkungsregel“ vom „Nichtrückwirkungsprinzip“ als sich aus dem Rechtssicherheitsprinzip in seiner Dimension des Vertrauensschutzes ergebende Norm zu unterscheiden. Das Eingreifen der „Nichtrückwirkungsregel“ ist an den Tatbestand gebunden und anwendbar und schützend nur in den Fällen, in denen die Gleichzeitigkeit des Tatbestandsabschlusses und der Disposition über die Rechte seitens des Steuerzahlers festzustellen ist. Für ihre Anwendung kommt es nur auf den Abschluss des Tatbestands gemäß dem früheren Gesetz an. Andere Elemente, wie das Vertrauen oder die Disposition, sind irrelevant. Das Eingreifen des „Nichtrückwirkungsprinzips“ ist dagegen an die 314

Bodo Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 161. Karl Heinrich Friauf, Steuerrechtsänderungen und Altinvestitionen: Zum Verfassungsgebot der steuerlichen Investitionssicherheit, in: StbJb (1986/1987), S. 287. 316 Ben Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, S. 47. 315

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Disposition über die Freiheits- und Eigentumsgrundrechte gebunden. Sie ist auf die Fälle anwendbar und in den Fällen schützend, in denen die Gleichzeitigkeit des Tatbestandsabschlusses und der Disposition über die Rechte seitens des Steuerzahlers nicht vorliegt. Für ihre Anwendung kommt es auf die ungerechtfertigte und belastende Einschränkung der Steuerzahlergrundrechte an. Daher sind Elemente wie das Vertrauen und die Disposition relevant und das formale Abschlusskriterium ist irrelevant. Es gibt nämlich Normen, die nach der traditionellen Konzeption nicht rückwirkend wären, aber trotzdem einschränkende Wirkungen auf die Ausübung der Grundrechte zur Folge haben317. Die Typologie der (Nicht)Rückwirkung muss diesem Unterschied Rechnung tragen, um die Bemühung um die Gewährleistung von Rechten durch die falsche Norm zu vermeiden. Eine letzte Bemerkung ist noch notwendig. Obwohl man zugibt, dass die in Art. 150 IIIa der CF/88 vorgesehene Regel den Tatbestand voraussetzt, lässt diese Regel strenggenommen zwei Interpretationen zu: einerseits kann man den Ausdruck „eingetretene Tatbestände“ als Abschluss aller notwendigen und hinreichenden gesetzlichen Voraussetzungen zur Entstehung der Steuerpflicht auslegen; andererseits kann man diesen Ausdruck als vergangene Ereignisse verstehen, welche das Steuergesetz als Tatbestände typisiert, unabhängig davon, ob sie in ihrer Gesamtheit abgeschlossen worden sind. Das soll heißen, dass neben allen schon vorgetragenen Argumenten zugunsten einer umfassenderen Auslegung des Rückwirkungsverbots es auch ein anderes Argument gibt, das im Ausgang von der kommentierten Bestimmung selbst konstruiert worden ist und demzufolge die steuerrechtliche Nichtrückwirkungsregel nicht notwendig den Zweck hat, ausschließlich die schon abgeschlossenen Tatbestände zu schützen, sondern die Ereignisse, die vor der Entstehung des neuen Gesetzes als Tatbestände typisiert waren. Dies behauptet die konsistente Interpretation von Ferraz Júnior, für den die Garantie der steuerrechtlichen Nichtrückwirkung nur dann sinnvoll ist, wenn sie nicht nur dazu bestimmt ist, vollendete und abgeschlossene Rechtshandlungen zu erfassen, sondern auch in dem Augenblick „vorgefallene Ereignisse“, in dem sie als Tatbestände angesehen wurden318. Die vorstehenden Betrachtungen, gegründet auf die Grundrechte und die das staatliche Handeln gestaltenden Prinzipien, führen zum Schluss, dass das Wesentliche an Stelle des Tatbestandsabschlusses die Intensität der Dispositionsakte der Steuerzahler über ihre Freiheit und ihr Eigentum ist: verboten sind retrospektive Wirkungen, wenn die Änderung der Gesetzgebung zu Lasten der Steuerzahler Rechtsfolgen von Verhaltensweisen abändert, die von den Steuerzahlern aufgrund des Zwecks oder der Wirksamkeit des zum Zeitpunkt der Handlung geltenden Tatbestands gewählt worden sind und vermutlich nicht gewählt worden wären, wenn

317

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 236. Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Anterioridade e irretroatividade no campo tributário, in: RDDT 56 (2001), S. 127 f. 318

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die Steuerzahler zum Zeitpunkt der Wahl Kenntnis von der zukünftigen Veränderung gehabt hätten. Bevor wir jedoch eine kritische Bewertung der Anwendung des Rückwirkungsverbots vornehmen, ist ihre Anwendungstypologie zu konstruieren319. (cc) Typologie der (Nicht)Rückwirkung (α) Rückbewirkung von Rechtsfolgen Die sog. echte Rückwirkung, auch Rückbewirkung von Rechtsfolgen genannt, liegt dann vor, wenn die neue Norm die Rechtsfolgen von in der Vergangenheit gemäß der abgeänderten früheren Norm verübten und abgeschlossenen Akten erfasst. Strenggenommen besteht die besagte Rückwirkung aus einer Fiktion: da die Vergangenheit vergangen ist, kann eine zukünftige Norm niemals vergangene Fakten oder Wirkungen erfassen320. Die Zeit ist unerbittlich: sie bewegt sich nie rückwärts. In diesen Fällen will der Gesetzgeber Rechtsfolgen anordnen, die dann hervorgebracht worden wären, wenn die spätere Regel zum Zeitpunkt der Verübung des Akts in der Vergangenheit eingegriffen hätte, wobei dann das Rückwirkungsverbot als Verbot funktioniert, dass eine spätere Norm die sich aus dem Eingreifen der früheren Norm ergebenden Wirkungen ändert321. Das Rückwirkungsverbot bezweckt also vom Standpunkt des Rechts aus nicht die Vermeidung der Änderung der Ereigniskette, die unerbittlich abläuft. Wie Ferraz Júnior sagt, zerfrisst die Zeit alles, hat die Zeit eine unleugbare entropisch genannte Qualität: alles stirbt322. Das Rückwirkungsverbot bezweckt vielmehr die Änderung der normativen Bedeutung eines vergangenen Ereignisses, indem es vermeidet, dass seine Rechtsfolgennach der Willkür eines gegenwärtigen Akts geändert werden kann323. Dieser Situationstyp wird ausdrücklich von der CF/88 durch die Regel des Verbots der an den Tatbestand gebundenen Rückwirkung (Art. 150 I) normiert. Falls das in der Vergangenheit eingetretene Faktum ein steuerrechtlicher Tatbestand ist, definiert die CF/88 selbst den gesetzlichen Abschluss der im Tatbestand bestimmten Tatsache als bestimmendes Kriterium des Rückwinrkungsverbot: falls der Tat 319

Klaus Vogel / Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, S. 321. Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 91; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 230; Karl Albert Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 364; Paul Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, in: StuW 2000, S. 223. 321 Klaus Vogel, Rückwirkung: eine festgefahrene Diskussion: Ein Versuch, die Blockade zu lösen, in: Schlaich, Klaus u. a. (Hrsg.), FS für Martin Heckel zum 70, S. 878. 322 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Irretroatividade e jurisprudência judicial, in: Ferraz Júnior, Tércio Sampaio / Carrazza, Roque / Nery Júnior, Nelson (Hrsg.), Efeito ex nunc e as decisões do STF, S. 7. 323 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Anterioridade e irretroatividade no campo tributário, in: RDDT 56 (2001), S. 125. 320

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bestand e2ingetreten ist und seine Voraussetzungen abgeschlossen sind, kann die neue Norm nicht die von diesen Tatsachen produzierten Wirkungen erfassen. Die Verfassungsregel hat diese Art von Rückwirkung verboten. Falls die in der Vergangenheit eingetretene Tatsache ein Faktum anderer Art ist, dass sich nicht auf steuerrechtliche Tatbestände bezieht, macht die CF/88 die Rückwirkung ebenfalls unmöglich, wenn diese Tatsache den Kategorien wohlerworbenes Recht, vollendete Rechtshandlung und Rechtskraft subsumierbar ist: eine neue Norm, die Geltungsvoraussetzungen von in einer früheren Norm festgelegten Rechtsakten ändert, darf nicht auf Rechtsakte angewendet werden, die schon durch das Vorliegen der für ihre Existenz notwendigen Elemente aufgrund der früheren, zum Zeitpunkt der Vereinbarung dieser Rechtsakte geltenden Norm zustandegekommen sind, andernfalls der Schutz der vollendeten Rechtshandlung verletzt wäre; eine neue Norm, die Bedingungen des Genusses von in einer früheren Norm festgelegten Rechten ändert, darf nicht auf Rechte angewendet werden, die durch die Konkretisierung der für die Wirksamkeit von Tatsachen oder Rechtsakten aufgrund der früheren, zum Zeitpunkt ihrer Feststellung geltenden Norm notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen entstanden sind, andernfalls die Garantie des wohlerworbenen Rechts verletzt würde; und eine neue Norm, die normative Anforderungen an die Geltung oder Wirksamkeit von Rechtsakten oder Tatsachen ändert, die Gegenstand der Anwendung durch eine gerichtliche Entscheidung gewesen sind, gegen die nicht mehr Rechtsmittel eingelegt werden kann, darf nicht auf die Wirkungen der Entscheidung über diese Akte oder Tatsachen angewendet werden, andernfalls der Schutz der Rechtskraft verletzt würde. Die Verfassungsregel hat diese Rückwirkungstypen gleichfalls verboten. Wichtig an diesem Punkt ist, dass die vorgenannten Rückwirkungstatbestände Akte oder Tatsachen voraussetzen, die in der Vergangenheit abgeschlossen worden sind, nach dem zum Zeitpunkt ihrer Verübung oder ihres Eintritts geltenden Gesetz, d. h. Akte oder Tatsachen, die alle Tatbestandsvoraussetzungen der ihre Verübung oder ihren Eintritt regelnden Norm erfüllt haben. Auf das Steuerrecht bezogen bedeutet dies, dass die CF/88 verbietet, dass eine neue Norm die sich aus einer vergangenen Situation ergebenden Wirkungen erfasst, wenn diese Situation aufgrund der Norm, die Gegenstand der Änderung ist, abgeschlossen worden ist: die Rechtswirkungen eines durch den Abschluss der für seine Existenz notwendigen Bedingungen entstandenen Rechtsakts; die Wirkungen eines durch den Abschluss der für seine Wirksamkeit notwendigen Voraussetzungen wohlerworbenen Rechts; die Wirkungen einer verkündeten gerichtlichen Entscheidung, gegen die keine Rechtsmittel mehr eingelegt werden können, und die Wirkungen eines Tatbestands aufgrund des Abschlusses der für seinen Eintritt notwendigen Voraussetzungen. In diesem Sinn hat auch der Oberste Bundesgerichtshof entschieden: er hat die Anwendung einer neuen auf die Einkommensteuer bezogenen Regel verhindert, die sich auf das von einer juristischen Person im vor Beginn der Geltung dieser Regel

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abgeschlossenen Geschäftsjahr bezog324; er hat die Anwendung der Beschlüsse, die den Satz der Ausfuhrsteuer erhöht haben, auf schon registrierte Ausfuhrgeschäfte verhindert325; er hat die Anwendung der Gesetzesverordnung vom 20. Juli 1983 auf im Geschäftsjahr 1982 erwirtschaftete Einnahmen verhindert, also auf Einnahmen, die sich auf ein schon abgeschlossenes Geschäftsjahr und auf schon getätigte oder begonnene Zahlungen beziehen326. In allen diesen Fällen hat das Gericht die Anwendung der neuen Norm auf Fakten verhindert, die gemäß der zum Zeitpunkt ihres Eintritts geltenden Gesetzgebung abgeschlossen worden sind und ihre Folgen noch vor Beginn der Geltung des neuen Gesetzes hervorgebracht haben. Die steuerrechtliche Nichtrückwirkungsregel ist für die Gewährleistung der Steuerzahlerrechte ausreichend. (β) Tatbeständliche Rückanknüpfung I Zuweilen ergänzen die Voraussetzungen der Geltung eines Rechtsakts oder die Bedingungen der Ausübung eines Rechts sich unter der Geltung des früheren Gesetzes, aber die Rechtsfolgen treten erst nach der Veröffentlichung des neuen Gesetzes ein. Die in der Vergangenheit begangenen Handlungen lösen Wirkungen aus, die nur nach der Änderung der Gesetzgebung auftreten. Hier kann man sowohl von echter Rückwirkung als auch von einer stärkeren Art der unechten Rückwirkung oder tatbeständlichen Rückanknüpfung sprechen. Sie entsteht, wenn die neue Norm die zukünftigen Rechtsfolgen von in der Vergangenheit begangenen Handlungen erfasst. Man bemerke, dass in diesem Fall das Rechtsfaktum in der Vergangenheit eintritt und gemäß der zum Zeitpunkt seines Eintritts geltenden Norm zum Abschluss kommt. Die normative Konsequenz wird aber aus irgendeinem Grund noch nicht zum Zeitpunkt der Geltung des früheren Gesetzes festgestellt. In diesem Fall reicht die steuerrechtliche Nichtrückwirkungsregel für den Schutz der Steuerzahler nicht aus. Man muss dann nach anderen diesen Schutz gewährleistenden Garantien Ausschau halten, wie im Fall der Garantien der vollendeten Rechtshandlung und des wohlerworbenen Rechts, die, wie schon gezeigt wurde, dazu bestimmt sind, in der Vergangenheit erfolgte Rechtsakte oder eingetretene Tatsachen, die nicht der Tatbestandskategorie subsumierbar sind, zu schützen. So darf eine neue Norm, die Geltungsvoraussetzungen von in einer früheren Norm vorgesehenen Rechtsakten ändert, nicht auf Rechtsakte angewandt werden, die schon durch Bereitstellung der für ihre Existenz notwendigen Elemente auf 324 AG. REG. im RE Nr. 242688/RS, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Sepúlveda Pertence, entschieden am 17. 10. 06. 325 ED im AG. REG. im RE Nr. 234954/AL, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 24. 10. 03. 326 RE Nr. 111954/PR, Plenum, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 24. 06. 88.

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grund der früheren Norm abgeschlossen worden sind, da andernfalls der Schutz der vollendeten Rechtshandlung verletzt würde. Wenn beispielsweise ein Vertrag abgeschlossen worden ist, der den Mindestlohn als inflationsausgleichenden Index festlegt, darf das Gesetz nicht einen anderen Index wie etwa die Staatsschuldverschreibung festlegen, da es in diesem Fall Geltungsvoraussetzungen von zum Zeitpunkt der Geltung der früheren Norm erfolgten Rechtsakten ändern würde, was die Garantie der vollendeten Rechtshandlung verletzen würde, wie der Oberste Bundesgerichtshof entschieden hat327. Ebenso gilt, dass im Fall des Abschlusses eines Schulvertrags entsprechend dem im zum Zeitpunkt des Abschlusses geltenden Gesetz vorgesehenen Indices das neue Gesetz diesen Index nicht ändern darf, da es ansonsten die Voraussetzungen der Gültigkeit von während der Geltung der früheren Norm erfolgten Akten ändern würde. Daher in diesem Fall die Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs, dass diese Garantie „nicht im zweitinstanzlichen Urteil berücksichtigt worden gegen das Berufung eingelegt worden war und das die Anwendung der Gesetze Nr. 8.030 und 8.039 von 1990 auf nach ihnen eintretenden spätere Wirkungen eines im Oktober 1989 abgeschlossenen Vertrags anordnete und damit die vollendete Rechtshandlung beeinträchtigt hat328“. In derselben Richtung geht die Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs über einen Sparvertrag, dessen Abschluss und ebenso die Einzahlung während der Geltung des früheren Gesetzes erfolgt waren, dessen Erträge aber erst nach der Novellierung des Gesetzes gutgeschrieben wurden. Der Oberste Bundesgerichtshof entschied, dass „in den Fällen von Sparkonten, bei denen der vertragliche Abschluss bzw. die Vertragserneuerung vor dem Inkrafttreten der in das Gesetz Nr. 7.730 umgewandelten Verordnung mit Gesetzeskraft (medida provisória) Nr. 32 vom 31. Januar 1989 zustandegekomen war, aufgrund der Bestimmung von Art. 5 XXXVI der Bundesverfassung die Normen dieses unterverfassungsrechtlichen Gesetzes keine Anwendung finden, selbst wenn die Gutschrift der Erträge zu einem späteren Datum erfolgt“329. In allen diesen Fällen hat die spätere Norm die Geltungsvoraussetzungen von in einer früheren Norm vorgesehenen Rechtsakten geändert und konnte aus diesem Grund nicht die Akte erfassen, die schon durch die Erfüllung aller für ihre Existenz, gemäß der zum Zeitpunkt ihres Abschlusses geltenden Norm, notwendigen Voraussetzungen abgeschlossen worden waren – da diese Handlungen schon „vollendet“ waren. Es kommt auf die Vollständigkeit der Gültigkeitsvoraussetzungen des nach dem früheren Gesetz abgeschlossenen Rechtsgeschäfts an: unwichtig ist es, ob die Zahlung der Monatsraten des Mietvertrags, die Zahlung der Monatsbeträge des Schulvertrags oder die Gutschrift der Sparzinsen nach der Änderung des Gesetzes erfolgt sind. Wichtig ist, dass die Verträge unter Erfüllung aller im 327

RE Nr. 96.037, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Djaci Falcão, DJ 12. 11. 82. RE Nr. 188.366, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, DJ 19. 11. 99. 329 RE Nr. 208.861, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, DJ 06. 06. 97. 328

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damaligen Gesetz vorgesehenen Gültigkeitsvoraussetzungen abgeschlossen worden sind, weshalb ihre Wirkungen der früheren Regelung unterliegen. Eine neue Norm, die Voraussetzungen des Genusses von in einer früheren Norm vorgesehenen Rechten ändert, darf nicht auf Rechte angewandt werden, die schon durch Vollständigkeit der gesetzlichen vorausgesetzen Wirksamkeit von Tatsachen oder Rechtsakten aufgrund der früheren zum Zeitpunkt ihrer Feststellung geltenden Norm entstanden sind, da andernfalls die Garantie des wohlerworbenen Rechts verletzt würde. Wenn aber die Voraussetzungen nicht vollständig erfüllt sind, kann man nicht von wohlerworbenem Recht sprechen. So äußerte sich der Oberste Bundesgerichtshof, als er über einen Fall entschied, der eine Rente nach Ableistung der Regelarbeitszeit beinhaltete und in dem die Antragsteller die Anwendung der in der früheren Norm, der Verfassungsänderung Nr. 20/1998 statuierten Voraussetzungen forderten: „Beamte, die zum Zeitpunkt der neuen Verfassungsnormen die Voraussetzungen zur Verrentung nicht erfüllt haben, unterlagen dem Sozialversicherungsregime, das in der später von der Verfassungsänderung Nr. 47/2005 abgeänderten Verfassungsänderung Nr. 41/2003 statuiert worden ist “330. Damit man von einem wohlerworbenen Recht sprechen könnte, hätten alle gesetzlichen Voraussetzungen der Wirksamkeit der Tatsachen oder Rechtsakte aufgrund der früheren Norm vorliegen müssen, was nicht der Fall war. Alles reduziert sich also darauf, zu wissen, wann alle Voraussetzungen der Existenz eines Aktes oder der Wirksamkeit eines Rechts gemäß der früheren Norm erfüllt worden sind. Diese Feststellung ist nicht immer frei von Kontroversen: in einigen Situationen bestehen Zweifel hinsichtlich der festzustellenden Voraussetzungen. Man bemerke, dass bis zu diesem Punkt die CF/88 zureichende Regeln enthält, um die Rechte der Privatpersonen zu schützen: die Regel der Nichtrückwirkung von Abgaben und die Regel zum Schutz der vollendeten Rechtshandlung und des wohlerworbenen Rechts. Die Probleme entstehen in der brasilianischen Verfassungsordnung, wenn diese Regeln sich als unzureichend erweisen, um die Steuerzahler gegen nicht zu rechtfertigende und ungehörige Einschränkungen der Freiheits- und Eigentumsrechte zu schützen. In diesen Fällen ist auf das Prinzip des Vertrauensschutzes zu rekurrieren und festzustellen, ob seine Voraussetzungen erfüllt sind. (γ) Tatbeständliche Rückanknüpfung II Es kann auch passieren, dass nicht alle für die Hervorbringung der Rechtswirkungen notwendigen Voraussetzungen festgestellt worden sind, obwohl die Akte schon während der Geltung des früheren Gesetzes begonnen worden sind: die Vo 330

ADI Nr. 3.104, Plenum, Berichterstatterin: Richterin Cármen Lúcia, DJ 09. 11. 07.

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raussetzungen der Geltung eines Rechtsakts, die Bedingungen der Ausübung eines Rechts oder die Elemente des Tatbestands einer Verpflichtung sind nicht während der Geltung des früheren Gesetzes abgeschlossen worden. In diesen Situationen finden die vorher genannten Regeln keine Anwendung: kein Tatbestand ist erfüllt, weshalb die Regel der Nichtrückwirkung von Abgaben nicht zum Zug kommt; die Gültigkeitsvoraussetzungen der Rechtsakte sind nicht vollständig, sodass die Regel zum Schutz der vollendeten Rechtshandlung nicht zum Zug kommt; die Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Rechts sind nicht abgeschlossen worden, wodurch die Regel zum Schutz des wohlerworbenen Rechts nicht zum Zug kommt. In diesen Fällen würde die Anwendung eines neuen Gesetzes auf die vergangenen Sachverhalte eine unechte Rückwirkung oder eine Art tatbeständliche Rückanknüpfung hervorrufen. Wenn es um Steuertatbestände geht, schützt die Regel der Nichtrückwirkung der Abgaben nicht den Steuerzahler, da in diesen Fällen kein Tatbestandsabschluss vorliegt. Das Oberste Bundesgericht ist dieser Auffassung gefolgt und hat in mehreren Urteilen entschieden, dass eine Gesetzesänderung vor dem Zeitpunkt des Tatbestandseintritts auf vorher eingetretene Sachverhalte angewendet werden kann, selbst wenn diese sich aus noch während der Geltung des neuen Gesetzes abgeschlossenen Rechtsgeschäften ergeben. So hat das Gericht bei der Prüfung der Erhöhung des Satzes des Sozialbeitrags aus dem Nettogewinn von 8 % auf 10 % durch ein Gesetz, das eine Verordnung mit Gesetzeskraft (medida provisória) konvertierte, deren Geltung an 22. Dezember 1989 begonnen hatte, befunden, dass diese Erhöhung auf den im Jahr 1989 erzielten Gewinn angewendet werden könne, aus dem einfachen Grund, dass der Steuertatbestand erst am 31. Dezember 1989 eintreten würde, also am Tag der Feststellung des Gewinns des Geschäftsjahrs331. Es folgte derselben Auffassung anlässlich der Prüfung der Erhöhung des Satzes von 3 % auf 18 % der Einkommensteuer, die sich auf aus im Veranlagungsjahr 1989 durch das Gesetz Nr. 7.968 vom 28. Dezember 1989 geförderte Exportgewinne bezogen. Hier hat das Gericht die Rückwirkung mit der Begründung verneint, dass „der Steuertatbestand nur am Ende des jeweiligen Zeitraums zum Abschluss kommt und sich zu erkennen gibt, nämlich am 31. Dezember“332. Die Auffassung des Gerichts ist schlicht: da die Nichtrückwirkungsregel die Änderung der Wirkungen von der früher geltenden Norm eingetretenen Tatbestände verbietet, gelangt sie nicht in Situationen zur Anwendung, in welchen der genannte Tatbestand noch nicht eingetreten ist. Hier war es unwichtig – wie in diesem Fall festgestellt wurde –, ob der Tatbestand Ergebnis von vorher abgeschlossenen Rechtsgeschäften war. Der Umstand, dass die Abgabe periodisch war und deshalb einen Tatbestand

331

RE Nr. 181.664, Plenum, Berichterstatter: Richter Ilmar Galvão, DJ 19. 12. 97. Im selben Sinn AG. REG. im AI Nr. 333.209-9, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Sepúlveda Pertence, entschieden am 22. 06. 04. 332 RE Nr. 194.612, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, DJ 08. 05. 98. Im selben Sinn: Plenum des Gerichts: R. E. Nr. 197.790-6.

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hatte, der nicht in einem „Augenblick“ (instant time) eintritt sondern vielmehr in einer „dauernden Zeit“ (longlasting time), schlug hier nicht zu Buch333. Im selben Sinn beschloss das Gericht bei der Prüfung eines Falls, der sich nicht auf einen Tatbestand, sondern auf einen vom Steuerzahler voergenommenen Rechtsakt bezog: ein Gesetz von 1992 erlaubte dem Steuerzahler, steuerliche Einbußen mit dem bis zu vier Kalenderjahren nach seiner Feststellung errechneten Realgewinn ohne jede Begrenzung zu verrechnen; ein neues, am 31. Dezember 1994 erlassenes Gesetz begrenzte jedoch die Verrechnung auf 30 % der in früheren Veranlagungsperioden festgestellten steuerlichen Einbußen mit dem am Ende des Kalenderjahrs errechneten Nettogewinn zum Zweck der Berechnung der zahlbaren Steuer. Nach dem früheren Gesetz konnten die im Geschäftsjahr 1992 erlittenen steuerlichen Einbußen mit Gewinnen bis zum Geschäftsjahr 1996 verrechnet werden, und so weiter, bis zum Jahr 1994, dessen Einbußen mit den bis zum Geschäftsjahr 1998 erwirtschafteten Gewinnen verrechnet werden konnten. Als er entscheiden musste, ob das neue Gesetz die Fälle erfassen könnte, in denen die Aufrechnung der Konten nicht erfolgt war, die Einbußen aber während der Geltung des früheren Gesetzes festgestellt worden waren, beschloss der Oberste Bundesgerichtshof, dass die Verrechnung nur bis 30 % vorgenommen werden könne, da weder ein wohlerworbenes Recht noch eine Verletzung des Nichtrückwirkungsprinzips vorlag334. Die gleiche Auffassung wurde auch durch das Gericht bestätigt, als folgenden Beschluss fasste: wenn „die Gutschrift nach der Veröffentlichung besagten Normtexts erfolgt ist, besteht kein Zweifel daran, dass ihre Löschung durch Verrechnung oder irgendein anderes Mittel nach dem in diesem Normtext statuierten Regime und nicht nach dem Regime des früheren Gesetzes erfolgen wird, da in diesem Fall das Prinzip zur Anwendung kommt, nach dem es kein wohlerworbenes Recht auf ein Rechtsregime gibt“335. Wenn das Kriterium des Abschlusses übernommen wird und es im Fall um Rechte und nicht um Tatbestände geht, spitzt sich das Problem auf die Frage zu, ob man vor einer vollendeten Rechtshandlung der Verrechnung oder vor einem wohlerworbenen Recht auf Verrechnung vor dem Beginn der Geltung des neuen Gesetzes steht. Die Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs fiel negativ aus: es gebe keine vollendete Rechtshandlung, da der Verrechnungsakt nur mit der Buchung einer Gutschrift und einer Lastschrift entstünde, die nicht vorgenommen worden seien, da die Gewinne, mit 333 Mark van Hoecek, Time and Law. Is it the nature of law to last? A conclusion, in: Ost, François / van Hoecke, Mark. (Hrsg.), Temps et Droit. Le Droit a-t-il pour vocation de durer?, S. 458 f. 334 ED im AGR. REG im RE Nr. 278.466, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 06. 02. 03. 335 AGR. REG im Agravo de Instrumento Nr. 511.024, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Eros Grau, entschieden am 14. 06. 05. Im selben Sinn: RE Nr. 254.459, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Ilmar Galvão, DJ 10. 08. 00. Mit abweichenden Voten des Richters Carlos Velloso, s. AGR. REG im RE Nr. 433.878, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, entschieden am 01. 02. 05; AGR. REG im RE Nr. 305.212, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, entschieden am 17. 09. 02.

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denen die Einbußen verrechnet würden – obgleich die Einbußen schon während der Geltung des früheren Gesetzes festgestellt worden seien – erst während der Geltung des neuen Gesetzes erwirtschaftet worden seien; es gebe ebensowenig ein wohlerworbenes Recht, da, ebenso und nur aus anderem Blickwinkel, die Wirksamkeit des Rechts auf Verrechnung erst nach dem Eintritt sowohl der Einbuße als auch des Gewinns entstehen könnte, der, wie schon gesagt, nicht erfolgt sei. Das Gericht befand also, dass es nur ein wohlerworbenes Recht auf Verrechnung gebe, wenn Gutschrift und Lastschrift erfolgt seien, und diese Bedingungen würden nur mit der Erwirtschaftung von Gewinnen vorlägen. Auch hier ist die Auffassung des Gerichts sehr schlicht: da die Regeln zum Schutz der vollendeten Rechtshandlung und des wohlerworbenen Rechts verbieten, dass die neue Norm Rechtsakte erfasst, die durch die Einhaltung aller im früheren Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen oder vorliegenden Sachverhalte durch Feststellung aller für die Wirksamkeit eines Rechts notwendigen Voraussetzungen abgeschlossen werden, finden sie keine Anwendung auf Situationen, in denen nicht alle Voraussetzungen berücksichtigt worden sind, wobei andere Elemente hier nicht weiter wichtig sind. (δ) Vorveranlasste Sachverhalte Eine andere Situation kann sich ergeben, wenn nur die Ursache des Sachverhalts vor dem Beginn der Geltung des neuen Gesetzes eingetreten ist und nach dem Gesetz sowohl der Sachverhalt als auch seine Rechtsfolgen festgestellt werden. Auch in diesem Fall finden die vorher genannten Regeln keine Anwendung: ein Tatbestand liegt nicht vor, weshalb die Regel der steuerrechtlichen Nichtrückwirkung auch nicht zum Einsatz kommt; und die Geltungsvoraussetzungen von Rechtsakten oder der Wirksamkeit eines Rechts sind ebenfalls nicht vollständig, weshalb weder die Regel zum Schutz der vollendeten Rechtshandlung noch die das wohlerworbene Recht gewährleistende Regel zur Anwendung gelangen. Ein Beispiel für diese Sitation wäre das Einfuhrgeschäft, das in dem Augenblick abgeschlossen wird, in dem ein Steuersatz in Geltung ist, bei dem aber der Tatbestand nur unter der Geltung einer späteren den Steuersatz erhöhenden Norm eintritt. Ein vergleichbarer Fall wurde vom Obersten Bundesgerichtshof entschieden, der zum Schluss kam, dass im Fall des Steuerzahlers, der den Einfuhrvertrag für ein Kraftfahrzeug bei Geltung des in der Verordnung Nr. 1.391 vom 10. Februar 1995 festgelegten Einfuhrsteuersatzes von 32 % abgeschlossen hatte und mit der Erhöhung des Steuersatzes auf 70 % durch die Verordnung Nr. 1.427 vom 29. März 1995 vor dem Augenblick des Zustandekomens des Tatbestands am 03. April 1995 überrascht wurde, das Rückwirkungsverbot nicht verletzt worden sei336. Das Gericht verneinte die Rückwirkung mit dem Argument, dass die Erhöhung des Steuersatzes vor dem Eintritt des Tatbestands erfolgt sei. 336

RE Nr. 224.285, Plenum, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 28. 05. 99.

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Die Position des Gerichts folgt dem für die anderen Fälle gewählten Modell: Rückwirkung gibt es nur, wenn das Gesetz einen während der Geltung der früheren Norm eingetretenen Tatbestand erfasst. Und da es sich um eine Steuer handelt, deren Satz aus wirtschaftlichen und konjunkturpolitischen Gründen von der Exekutive geändert werden kann, darf die Verhinderug der Wirksamkeit der Änderungen nicht erschwert werden. (dd) Schlussbetrachtungen Die Untersuchung der Nichtrückwirkung zeigt erstens, dass die CF/88 zwei Typen des Schutzes zugunsten der erfolgten Ausübung der Freiheit kennt: wenn die vorgenommenen Akte nach dem Gesetz abgeschlossen worden sind, besteht der Schutz hinsichtlich der Tatbestände, kraft der Bestimmung des Art. 150 III a, und im übrigen kraft der Bestimmung des Art. 5 XXXVI. Da dieser Schutz durch Regeln erfolgt, unterliegt seine Konkretisierung nicht einer horizontalen Abwägung der die Berücksichtigung von Einzelinteressen gewährleistenden und der die Änderung der Rechtsnormen durch den Staat gewährleistenden Normen. Nichts rechtfertigt, dass ein neues Gesetz in der Vergangenheit zustandegekommene Sachverhalte betrifft. Wenn die vorgenommenen Akte nicht gesetzeskonform abgeschlossen worden sind, hängt die Aufrechterhaltung vergangener Situationen vom Vertrauensschutz nach den dargelegten Kriterien ab. Diese Kriterien sind, wie hier noch einmal wiederholt wird, nichts anderes als das Ergebnis der Beziehung zwischen den Grundrechten des Bürgers und den auf das staatliche Handeln bezogenen Prinzipien. Zweitens hat die Untersuchung der Nichtrückwirkung nachgewiesen, dass diese nicht nur den Zweck verfolgt, einen bestimmten Typus von Normwirkung in der Zeit, sondern auch den Zweck, die überraschende und irreführende Einschränkung der vergangenen Ausübung rechtsgeleiteter Freiheit zu vermeiden. Eben deshalb ist es unwesentlich, zu wissen, ob es eine neue Norm gibt, die zukünftige Wirkungen vergangener Handlungen regelt. Es kommt vielmehr darauf an, zu wissen, ob es eine neue Norm gibt, welche die frühere Ausübung der rechtsgeleiteten Freiheit betrifft und inwiefern sie dies tut. Das Problem der Nichtrückwirkung ist nicht ausschließlich eine Frage intertemporaler Normwirkungen, sondern auch der einschränkenden Wirkungen, die Grundrechte betreffen, die durch den Einfluss des Rechts selbst verwirklicht worden sind. In eben diesem Sinn muss die Rechtsprechung sich entwickeln: sie muss von einem auf abgeschlossene Handlungen oder Sachverhalte bezogenen Konzept zu einem Konzept fortschreiten, das an gewählte Verhaltensweisen gebunden ist, so dass auch nichtrückwirkende, die Handlungen der Steuerzahler aber entwertende Gesetzesänderungen betroffen sind337. Die vorher zur Feststellung des Vertrauensschutzes genannten Elemente werden in der Tat von der Rechtsprechung nicht geprüft. Der Oberste Bundesgerichtshof 337

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 236.

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verneint einfach die Existenz der Rückwirkung, immer wenn der Akt oder Sachverhalt nicht als nach dem zum Zeitpunkt seiner Verübung oder seines Eintritts geltenden Gesetz abgeschlossen angesehen werden kann. Die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs ist rigide und drakonisch: es gibt Rückwirkung, wenn es einen abgeschlossenen Sachverhalt oder Akt gibt; es gibt sie nicht, wenn es diesen abgeschlossenen Akt oder Sachverhalt nicht gibt. Ausnahmen gibt es nicht. Die Rechtsprechung ist wegen ihrer Vorhersehbarkeit zu loben, aber wegen ihrer mangelnden Flexibilität zu hinterfragen. Die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts schlägt einen anderen Weg ein: Normen mit rückwirkenden Folgen sind unzulässig, vorbehaltlich eines vorrangigen öffentlichen Interesses; Normen mit retrospektiven Wirkungen sind zulässig, vorbehaltlich des Vorliegens von Dispositionsakten der Steuerzahler338. Es gibt Regeln, aber es gibt auch Ausnahmen, deren Konturen jedoch nicht vorab festgelegt sind. Die Rechtsprechen ist wegen ihrer Flexibilität zu loben, aber wegen ihrer mangelnden Vorhersehbarkeit zu hinterfragen. Man muss also über beide Modelle hinausgehen zugunsten eines neuen Modells, das Elementen Rechnung trägt, die aus der Sicht der Grundrechte relevant sind, aber durch Berücksichtigung intersubjektiv kontrollierbarer und damit voraussehbarer Sachkriterien. Eine Untersuchung der Rechsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs kann dies besser veranschaulichen. Als das Gericht die durch das Gesetz Nr. 7.968 vom 28. Dezember 1989 vorgenommene Erhöhung des Steuersatzes der auf die Einnahmen im Veranlagungsjahr 1989 bezogenen Einkommensteuer von 3 % auf 18 % prüfte, schob es den Einwand der Rückwirkung beiseite, da es der Ansicht war, dass die Änderung dem Tatbestand vorausgegangen sei339. Allerdings hätten andere Elemente geprüft werden müssen: die Gewinne ergaben sich aus geförderten Exporten, d. h. der Steuerzahler war vom Staat selbst mit der Senkung des Steuersatzes auf 3 % angeregt worden, bestimmte Geschäfte abzuschließen, und der Staat hatte nach dem Abschluss dieser Geschäfte den Steuersatz erhöht; der Steuersatz war nicht nur wenige Tage vor dem Ablauf des Geschäftsjahres (am 28. Dezember) erhöht, sondern um 600 % erhöht worden. So gab es einerseits Akte der Disposition über Freiheit und Eigentum des Steuerzahlers, die vom Staat selbst veranlasst worden waren und nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten, und andererseits eine plötzliche (bloße drei Tage vor dem Ablauf des Geschäftsjahrs) und drastische (Erhöhung der Steuerlast um 600 %) Änderung der Gesetzgebung, deren Aufrechterhaltung die Steuerzahler, die nur aufgrund der staatlichen Förderung gehandelt hatten, schädigte. In diesem Zusammenhang ist die Notwendigkeit des Vertrauensschutzes offensichtlich. Hier ist es unwichtig, ob der Tatbestand des Sozialbeitrags auf den Nettogewinn zum Abschluss gekommen ist oder nicht. Obwohl die retrospektive Wirksamkeit nicht durch den Einsatz der steuerrechtlichen Regel

338

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 209. RE Nr. 194.612, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, DJ 08. 05. 98. In derselben Richtung das Plenum: RE Nr. 197.790-6.

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der Nichtrückwirkung von vornherein unmöglich ist, ist sie durch die reflexive Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips auszuschließen, da dieses nicht plötzliche, drastische und illoyale Änderungen duldet, die Akte der Disposition über Freiheits- und Eigentumsgrundrechte betreffen. Obwohl der Staat abstrakt ändern kann, muss er „maßvolle Änderungen“340 veranlassen; er muss auf sanfte und loyale Weise ändern. Man erinnere sich daran, dass das Rechtssicherheitsprinzip den Zustand der Berechenbarkeit sowohl im Hinblick auf den Aspekt der Erkennbarkeit (durch Fähigkeit zur Vorwegnahme des Norminhalts) als auch im Hinblick auf den Aspekt der Kalkulierbarkeit (durch Fähigkeit der Erkenntnis des reduzierten Spektrums zukünftiger Änderungen gegenwärtiger Normen) fordert. Das bedeutet, mit anderen Worten, dass der Steuerzahler, selbst wenn er mit der Änderung rechnen kann, nur mit einem reduzierten oder wenig abweichenden Spektrum von Änderungen rechnen muss. So darf die Änderung, selbst wenn sie nicht plötzlich ist, nicht drastisch sein. Für die Steuern, deren Tatbestand punktuell ist, muss das Kriterium nicht der Abschluss des Tatbestands sein, sondern die Vollständigkeit des Verhaltens des Steuerzahlers: wenn dieser alles getan hat, was für den Eintritt des Tatbestands notwendig war, muss man seine Disposition als vollständig ansehen, weshalb die zukünftige Norm keine rückwirkenden Folgen haben darf341. Eine gegenteilige Auffassung könnte beispielsweise zur Zulassung retrospektiver Folgen im Fall einer Erhöhung des Steuersatzes bei der Einfuhr um 500 % führen, wenn der Steuerzahler, obwohl er schon die Einfuhrerklärung ausgefüllt hätte, noch nicht auf ihre ordnungsgemäße Zustellung rechnen könnte, etwa aufgrund eines Streiks, der den Eintritt des Tatbestands verhindern würde. Als das Gericht die Verfassungsmäßigkeit eines neuen Gesetzes zu beurteilen hatte, das die Höhe des Gewinns, der Gegenstand der Verrechnung mit früheren Verlusten sein könnte, auf 30 % beschränkte, kam es zum Schluss, dass keine Verletzung des Rückwirkungsverbots vorliege, und zwar mit der Begründung, dass vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes kein wohlerworbenes Recht bzw. keine vollendete Rechtshandlung vorgelegen hätten342. Eine sorgfältigere Prüfung des Falls offenbart aber einige Eigentümlichkeiten, die das Gericht nicht berücksichtigt hat: nach den vom Bund angeführten Gründen „hat der Gesetzgeber, von der Absicht geleitet, das Wachstum der Unternehmen zu fördern und die Steuerhinterziehung zu drosseln, beschlossen, eine steuerliche Vergünstigung einzuführen“. Dies beweist, dass die Erlaubnis zur Verrechnung von Steuerverlusten ein Instrument der Anregung des Steuerzahlers zur Vermehrung seiner Geschäftsabschlüsse gewesen ist; das Recht auf Verrechnung wurde auf 30 % begrenzt, so dass vergleichsweise die Steuerzahler, die Verluste hinnehmen mussten, eine diesem Prozentsatz entsprechende Erhöhung ihrer Steuerlast erhielten, ohne dass der Staat den Nachweis

340

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 218. Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 266. 342 ED im AG. REG. im RE Nr. 278.466, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 06. 02. 03. 341

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erbrachte, warum die Einschränkung notwendigerweise nach Ablauf von zwei Jahren der steuerlichen Vergünstigung gerade die Steuerzahler betreffen sollte, die fortlaufende Verluste erlitten und dessen Auskommen wesentlich von der Kontinuität des Rechts auf Verrechnung abhing. Die Steuerzahler konnten nicht mit der Veränderung rechnen, geschweige denn mit einer plötzlichen und drastischen Veränderung. Dasselbe Gericht, das in der Prüfung eines Falls, in dem der Steuerzahler den Vertrag der Einfuhr eines Kraftfahrzeugs geschlossen hatte, als noch ein Steuersatz in Kraft war, die Einfuhr sich aber nur durch die Verzollung des Fahrzeugs im brasilianischen Hoheitsgebiet zum Zeitpunkt der Geltung eines neuen Steuersatzes zustandekam, erklärte die Rückwirkung für unzulässig, da die Veränderung vor dem Eintritt der Steuertatbestands erfolgt war343. Ein aufmerksamer Blick auf diese Entscheidung offenbart Eigentümlichkeiten, die nicht vernachlässigt hätten werden dürfen: geschlossen wurde der Einfuhrvertrag aufgrund eines Versprechens der Exekutive (Verordnung Nr. 1.391/95), in Zukunft die Steuersätze der Einfuhrsteuer um 2 % pro Jahr zu senken und damit vom Steuersatz von 32 % im Jahr 1995 bis zum Steuersatz von 20 % im Jahr 2001 zu kommen; das Versprechen wurde durch eine drastische Erhöhung des Steuersatzes um 118 % gebrochen; die vorherige Kenntnis der Steuerlast hätte die Mehrheit der Steuerzahler von der Unterzeichnung von Einfuhrverträgen abgehalten und damit jede Art von Steuereinnahmen unmöglich gemacht; da die Einfuhrverträge schon vor der Erhöhung des Steuersatzes unterzeichnet worden waren, konnte das Verhalten der Steuerzahler nicht Gegenstand irgendeiner Lenkungswirkung der neuen Gesetzgebung sein. Der Steuerzahler müsste nicht nur nicht auf die zukünftige Änderung des Steuersatzes, sondern sogar auf die Beibehaltung dieses Steuersatzes vertrauen können aufgrund des im Staatsakt enthaltenen kategorischen Versprechens. Nachdem der Einfuhrvertrag unterzeichnet und das Fahrzeug verschickt worden war, befand sich der Steuerzahler in einer irreversiblen Situation. Wie Hey betont, ist die Irreversibilität aber das Maß der Intensität der Einschränkung der Freiheits- und Eigentumsrechte344. Die zukünftige Nichtberücksichtigung des früher gegebenen Versprechens ist eine qualifizierte Version der Rückwirkung. Die Absurdität des Rückwirkungsbefehls lässt sich in schlichten Worten so beschreiben: wer heute befiehlt, dass jemand gestern etwas ausführe, erteilt einen Befehl, dessen Befolgung unmöglich ist. Der Gesetzgeber befiehlt heute etwas, was er gestern nicht zu tun befohlen hat. Mehr noch: er befiehlt heute, dass man etwas tue, was gestern nicht mehr getan werden kann. Deshalb sagt man, dass eine Rückwirkungsregel aufgrund der Zusammenstellung von Wörtern, die Träger widersprüchlicher Bedeutungen sind, ein Oxymoron ist, da sie nicht befolgt werden kann345. Denn wenn der Normadressat schon gehandelt hat, kann sein Verhalten nicht mehr be-

343

RE Nr. 224.285, Plenum, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 28. 05. 99. Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 253. 345 Brian Z. Tamanaha, On The Rule of Law, S. 97. 344

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einflusst werden346. Wenn jedoch ein Versprechen nicht eingehalten wird, verkennt der Gesetz­geber heute genau das, was er gestern zu tun befohlen hat. Hier äußert sich noch mehr als Rückwirkung: man kann mangels eines besseren Ausdrucks von Missachtung des Verhaltens des Steuerzahlers sprechen. Alle diese Betrachtungen zeigen, dass es selbst in den Fällen, in denen keine in der Vergangenheit abgeschlossene Handlung bzw. kein abgeschlossener Sachverhalt vorliegt, Dispositionshandlungen der Steuerzahler und staatliche Verwaltensweisen geben kann, welche die Abkehr von retrospektiven Folgen der Gesetze rechtfertigen. Der Tatbestand ist ein wichtiges Element, desgleichen aber auch die aufgrund dieses Tatbestands ausgeführten Handlungen des Steuerzahlers. Die Verweigerung des Vertrauensschutzes der Steuerzahler bei plötzlichen, drastischen und illoyalen Änderungen führt zu einem gravierenden Rechtssicherheitsproblem: die Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung nimmt schweren Schaden, insofern die Steuerzahler zur Annahme verleitet werden, dass zukünftige Versprechen so wie die vergangenen Versprechen nicht eingehalten werden. Und das Glaubwürdigkeitsdefizit der Rechtsordnung bezieht sich nicht nur auf die vergangene Dimension der Rechtssicherheit; es betrifft auch ihre zukünftige Dimension. Die Beibehaltung der retrospektiven Folgen der Gesetze erfolgt um einen zu hohen Preis: der Steuerzahler könnte sich nur auf die völlige Abwesenheit der Verlässlichkeit verlassen347. Wäre der Tatbestandsabschluss das einzige Element, würde es genügen, dass bei periodisch erhobenen Steuern der Zeitraum extrem lang wäre, damit der Steuerzahler niemals seiner Investition völlig sicher sein könnte348. Diese Feststellung zeigt mit Evidenz, dass ein neuer Ausgangspunkt für die Rückwirkungsprüfung zu suchen ist. Das Rechtssicherheitsprinzip erfordert die Förderung der Zustände der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts auf der Grundlage seiner Erkennbarkeit. Seine Begründung liegt nicht ausschließlich im Rechtsstaatsprinzip, das die Regelung des Verhaltens des Steuerzahlers durch die spätere Norm verbietet, wenn der Steuerzahler während der Geltung der früheren Norm gehandelt hat; sie ist auch in den Grundrechten und den das staatliche Handeln gestaltenden Prinzipien verankert. Nach dieser Begründung ist das Rückwirkungsproblem nicht mehr nur eine Frage der Beziehung der Normen in der Zeit (intertemporales Recht), sondern entwickelt sich zu einer Frage des Verbots willkürlicher Einschränkung von Grundrechten und des loyalen und gerechtfertigten Staatshandelns. Die Lösung des Rückwirkungsproblems muss eine an Grundrechte gebundene Sachlösung sein.349 Deshalb spricht man an Stelle von intertemporalem Recht von Übergangsrecht. Depenheuer vermerkt zu Recht anlässlich der Behauptung, dass die Trennung von echter und unechter Rückwirkung immer weniger 346

Karl Albert Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 364. Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 221. 348 Karl Heinrich Friauf, Steuerrechtsänderungen und Altinvestitionen: Zum Verfassungsgebot der steuerlichen Investitionssicherheit, in: StbJb (1986/1987), S. 287. 349 Julia Iliopoulos-Strangas, Rückwirkung und Sofortwirkung, S. 306. 347

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überzeuge, dass an Stelle dieser Trennung eine sachbezogene Prüfung vorzunehmen ist. Für diese gilt: „Maßgebend ist nicht die-echte oder unechte-Wirkung des Gesetzes, sondern das schützenswerte Verhalten des Bürgers“350. Wenn dem so ist, ist das Rückwirkungskonzept selbst zu ändern: rückwirkend ist nicht die Norm, die einen abgeschlossenen Tatbestand betrifft, sondern eine Norm, die eine aufgrund des zum Zeitpunkt der Dispositionsentscheidung geltenden Tatbestands abgeschlossene Disposition betrifft, also eine Norm, die nicht durch eine Reaktion des Steuerzahlers rückgängig gemacht werden kann. Somit gibt es also keine Entsprechung mehr zwischen dem Abschluss des Tatbestands und dem Abschluss der Disposition des Steuerzahlers: das Verhalten des Steuerzahlers kann gewählt worden sein und nicht mehr vor Eintritt des Tatbestands änderbar gewesen zu sein, wobei der Steuerzahler alles Erforderliche getan hat, um den Eintritt des Tatbestands auszulösen351. Die Schwerpunktachse der Rückwirkung ist nicht mehr der Belastungszeitpunkt, sondern der Dispositionszeitpunkt352. Schoueri klärt das Problem auf sehr präzise Weise: „Wenn man lenkende Steuernormen erörtert, scheint es, dass die Diskussion auf neue Weise zu führen ist: neben der Rechtssicherheit ist nach der Wirksamkeit der lenkenden Steuernormen an sich zu fragen. Da ihre Funktion in der Änderung der Verhaltensweisen des Steuerzahlers besteht, dürfen sie nicht Situationen erfassen, die der Steuerzahler schon nicht mehr kontrollieren oder beeinflussen kann“353. Deshalb ist das Fundament des Steuerzahlerschutzes nicht mehr ausschließlich Art. 150 IIIa oder selbst Art. 5 XXXVI der CF/88, sondern das Rechtssicherheitsprinzip i. V. m. den in Art. 5 XXII und XXIII und Art. 170 II und III vorgesehenen Grundrechten (Eigentumsrecht) und im Obersatz von Art. 1, Art. 5 XIII und im Obersatz von Art. 170 (Freiheitsrecht). Rückwirkung ist nicht ausschließlich eine Beziehung zwischen Normen in der Zeit; sie ist eine Beziehung zwischen Normwirkungen, Ausübung von Rechten und staatlichem Handeln. Ihre Probleme beschränken sich nicht auf den Abschluss oder Nichtabschluss von Normvoraussetzungen in der Vergangenheit; sie betreffen auch besonders die Wirksamkeit bestimmter Dispositionen des Steuerzahlers und staatlicher Handlungen. In diesem neuen Bereich ist das, was eventuell weniger als ein wohlerworbenes Recht, aber mehr als eine bloße Erwartung wäre, ein dem Steuerzahler gewährleistetes Recht. Obwohl der Staat zur Änderung der Gesetzgebung befugt ist, darf er nicht jede Änderung durchführen: plötzliche, drastische und illoyale Änderungen, oder, um es anders zu formulieren, nicht maßvolle bzw. maßlose Änderungen werden vom Rechtssicherheitsprinzip nicht zugelassen. Man muss also die Diskussion der Nichtrückwirkungsregeln oder selbst des Nichtrückwirkungsprinzips (als reflexiver Anwen 350

Otto Depenheuer, Vertrauensschutz durch Eigentum, S. 13. Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 215 sowie 249. 352 Paul Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, in: StuW 2000, S. 233. Analog: Atílio Dengo, Contributo para uma teoria da Irretroatividade tributária, S. 88 ff. sowie 124. 353 Luís Eduardo Schoueri, Normas tributárias indutoras e intervenção econômica, S. 271. 351

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dung des Rechtssicherheitsprinzips durch den Vertrauensschutz) zugunsten dessen verlagern, was man als das Prinzip des Maßhaltens (oder Moderationsprinzip) bezeichnen könnte. Man muss gleichfalls jenseits der Extreme der wohlerworbenen Rechte und der bloßen Erwartungen blicken, um über sie hinaus festzustellen, ob gewährleistete Rechte vorliegen. Nur so ist der Rückwirkungsbegriff dem Problem angemessen, das er lösen soll354. Diese Betrachtungen zeigen somit, dass der Staat zur Rechtfertigung der Rückwirkung nicht einen Lenkungszweck verfolgen darf, da die Verhaltensweisen, die Gegenstand der Lenkung sind, schon gewählt worden sind. Aber selbst wenn es einen außerfiskalischen Zweck gibt, der eventuell die Erfassung von dem neuen Gesetz vorausgegangenen Verhaltensweisen rechtfertigt, ist zu prüfen, ob das Ziel des Gesetzes nicht ohne retrospektive Wirkung erreicht werden kann. Falls dies der Fall ist und gleichwohl das Gesetz Einzelbestimmungen erfasst, die seiner Verlautbarung vorausgehen, ist es wegen mangelnder Notwendigkeit für verfassungswidrig zu erklären. Daher muss die Kontrolle doppelter Art sein: gefordert ist eine objektive Kontrolle, welche die Notwendigkeit feststellt, dass das Gesetz vergangene Bestimmungen erfasst, um den seinen Erlass rechtfertigenden Zweck zu erreichen, und eine subjektive Kontrolle, welche die Existenz von Bestimmungen prüft, die vom Vertrauensschutzsprinzip erfasst werden können355. In anderen Worten: Retrospektivität ist nur dann legitim, wenn sie notwendig und maßvoll ist. In diesem neuen Zusammenhang darf man die Verschränkung des Rückwirkungsverbots mit anderen Prinzipien nicht aus den Augen verlieren. Da ein rückwirkendes Gesetz die Wirkungen nach der Vornahme der Handlung ändert, verletzt es das Grundrecht auf Freiheit, da es die freie Entscheidung des Einzelnen behindert, indem es ein schon gewähltes und damit unveränderliches Verhalten betrifft; es verletzt das Recht auf Menschenwürde, da es den Menschen als Objekt und nicht als eine der freien Gestaltung ihrer Zukunft fähige Person behandelt; es verletzt das Grundrecht auf Gleichheit, da es die Menschen nur nach dem Zeitpunkt der Handlung unterscheidet und gleiche Rechtsfolgen für Kenner und Nichtkenner der Regel vorsieht; es verletzt schließlich die der Gesetzmäßigkeitsregel und dem Gleichheitsprinzip innewohnende Forderung nach Allgemeinheit, da es, statt eine unbestimmte und unbekannte Anzahl von Situationen und Personen und eine Klasse hypothetischer Fälle zu erfassen, eine bestimmte und bekannte Anzahl von Situationen und Personen, folglich von ausgewählten und konkreten Fällen erfasst. Jede Rückwirkung – und ein großer Teil der Retrospektivität-ist also nicht nur eine Verletzung der Nichtrückwirkungsgarantie, sondern auch eine Verletzung der Grundrechte der Freiheit, Würde und Gleichheit. Da es auf eine schon getroffene und nicht änderbare Wahl einwirkt, stellt das rückwirkende Gesetz den 354

Klaus Vogel, Rückwirkung: eine festgefahrene Diskussion: Ein Versuch, die Blockade zu lösen, in: Schlaich, Klaus u. a. (Hrsg.), FS für Martin Heckel zum 70, S. 876. 355 Marina Gigante, Mutamenti nella regolazione dei rapporti giuridici  e legittimo affidamento, S. 43.

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Bürger vor eine erzwungene Wahl und hindert ihn somit daran, das auszuüben, was ihn als Menschen auszeichnet, nämlich seine Autonomie356. Die Rückwirkung schränkt nicht nur die Autonomie des steuerzahlenden Bürgers ein, sondern verändert im Allgemeinen Sinn die Konzeption des Rechts selbst, wie die eindringliche Formulierung von Friauf darlegt: „Frei und verantwortlich disponieren kann nur, wer in der Lage ist, auch die steuerlichen Konsequenzen seiner Maßnahmen zu kalkulieren. Wo der Gesetzgeber die steuerlichen Fundamente einer Investition durch rückanknüpfende Regelungen beliebig unterminieren könnte, da würde die unternehmerische Entscheidung zum Glücksspiel, die planende Steuer­ beratung zur Astrologie. Zu Glücksspiel und Astrologier darf aber ein Gemeinwesen, das sich als Rechtsstaat versteht, seine Bürger in keinem Falle zwingen. “357

Alle diese vorangestellten Bemerkungen führen zu einer Änderung der Darstellung des Rückwirkungsphänomens selbst, das nun folgendermaßen zu veranschaulichen ist: VERGANGENHEIT

Dispositionshandlungen

ZUKUNFT

VERÖFFENTLICHUNG DES GESETZES

Rechtsfolge

Sachverhalt

Man bemerke, dass es vor der Geltung des neuen Gesetzes nur Dispositionshandlungen und keine abgeschlossenen Sachverhalte gibt. Nun kommt es darauf an, ob Handlungen der Disposition über Grundrechte vorliegen bzw. nicht vorliegen, wobei diese Handlungen aufgrund der Geltung des früheren Gesetzes begangen worden und damit nicht mehr Gegenstand der Änderung durch das neue Gesetzes sein können. Wie wir gesehen haben, wird, in Ermangelung dieses Regelungstyps im deutschen Grundgesetz, die Durchsetzung des Schutzes der Nichtrückwirkung, im Gegenteil zur brasilianischen Rechtsordnung, einer horizontalen Abwägung zwischen den Normen unterworfen, welche die Beibehaltung der Einzelinteressen garantieren, und den Normen, welche die Änderung der Rechtsnormen durch den Staat garantieren. Nachdem der Vertrauensschutz aus der Sicht der Änderung der Gesetzgebung untersucht worden ist, muss er jetzt aus der Sicht der Änderung Verwaltungshandelns untersucht werden. Dies soll nachfolgend geschehen. 356

Joseph Raz, The Morality of Freedom, S. 371. Karl Heinrich Friauf, Steuerrechtsänderungen und Altinvestitionen: Zum Verfassungsgebot der steuerlichen Investitionssicherheit, in: StbJb (1986/1987), S. 295. 357

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(e) Vertrauensschutz und Exekutive: die Verwaltungsänderung (aa) Einleitende Betrachtungen Wie schon im Teil über die Grundlagen des Rechtssicherheitsprinzips dargelegt worden ist, muss das Verwaltungshandeln einerseits loyal, ernsthaft und gerechtfertigt sein und andererseits die Ausübung der Grundrechte beachten. In diesem normativen Rahmen ist die Frage zu beantworten, ob die Verwaltung von Anfang an normative Akte, Verwaltungsakte oder sogar Verwaltungspraktiken, die eine Begünstigung für die Steuerzahler eingeführt haben, aufheben oder für die Zukunft abändern kann. Das Problem ergibt sich nicht im Hinblick auf die belastende Verwaltungstätigkeit, da die Steuerzahler sich gegen sie nicht unter Rekurs auf das Vertrauensschutzprinzip auflehnen, da deren Rücknahme oder Widerruf ja den Steuerzahler begünstigen358. Das Problem ergibt sich stattdessen in den Fällen, in denen die Verwaltung dem Bürger einen Vorteil verschafft und dies ändern will, sei es, weil sie beim Erlass des Akts eine Regelwidrigkeit begangen hat, sei es, weil sie zur Überzeugung gelangt ist, dass kein Interesse am Fortbestand dieses Vorteils besteht. Man sieht sofort, dass das wichtigste, auf die Revision der Verwaltung bezogene Problem sich auf die Verwaltungstätigkeit bezieht, die Vorteile verschafft und mit einer gewissen Ungültigkeit behaftet ist. Wenn der Verwaltungsakt beispielsweise rechtmäßig ist, kann er nicht widerrufen werden und ist seine Abänderung ebenfalls behindert, falls er belastend und befristet ist, wie Art. 178 der nationalen Abgabenordnung statuiert. Wenn er jedoch rechtswidrig ist, stellt sich die Frage, ob er zurückgenommen oder abgeändert werden kann, angesichts der allgemein vertretenen Position, dass rechtswidrige Verwaltungsakte keinerlei Schutzart erzeugen, es sei denn, dass eine eventuelle gesetzliche Verwirkungsfrist für seine Auflösung verstrichen ist359. Wenn dem so ist, wird es entscheidend wichtig, zu wissen, wie eine begünstigende und rechtswidrige Handlung zu bestimmen ist. Begünstigend ist die Verwaltungstätigkeit, die dem Adressaten eine Art Vorteil verschafft, anders als ein belastender Verwaltungsakt, der nur neue Verpflichtungen zuweist. Ein Verwaltungsakt, der den Genuss einer Begünstigung an die Erfüllung von Verpflichtungen knüpft, muss auch begünstigend genannt werden. Rechtswidrig ist ein Akt, der gegen die bindenden formellen oder sachlichen Rechtsnormen erlassen wird, die sich auf Voraussetzungen beziehen, ohne deren Erfüllung der Gesetzeszweck nicht erreicht wird. In diesem Sinn ist es nicht jede beliebige Regelwidrigkeit, die den Akt rechtswidrig macht: bloße Formfehler, wie Tipp-, Zitier- oder Rechnungsfehler, können den Akt nicht rechtswidrig machen. 358 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 11. 359 Stefan Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzes­ änderungen, S. 54.

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Ein Akt wird auch nicht durch eine bloße Orientierungsänderung rechtswidrig: Änderungen des Bewertungsverständnisses beeinträchtigen nicht die Rechtmäßigkeit des nach einer anderen Orientierung vorgenommenen Akts360. Wenn dem so ist, besteht das größte Problem hinsichtlich der Änderung der Verwaltungsakte in der Änderung derjenigen Akte, die Begünstigungen schaffen, mit oder ohne Gegenleistung, und zwingende gesetzliche Regeln verletzen, welche die Verwirklichung ihres Zwecks beeinträchtigen. Es kann auch geschehen, dass die Verwaltungsakte sich auf ein Gesetz stützen, das zum Zeitpunkt ihres Erlasses verfassungsmäßig war, später aber für verfassungswidrig erklärt wurde. Dieser Typus von Änderung erzeugt eine Spannung zwischen folgenden Prinzipien: einerseits haben wir das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, das nur Verwaltungshandeln im Rahmen der gesetzlichen Parameter duldet, und das Gleichheitsprinzip, das Einheitlichkeit bei der Gewährung von Vorteilen fordert; andererseits das Vertrauensschutzprinzip, das die Interessen der Bürger schützt, die mit der Gültigkeit eines Verwaltungsakts gerechnet haben361. Dieser Konflikt wird im Steuerrecht sehr deutlich. Er äußert sich sowohl im Hinblick auf normative Akte für die Auslegung von Gesetzen als auch im Hinblick auf Akte oder Verwaltungsverträge, die steuerliche Begünstigungen schaffen. Dieser letzte Fall ist geradezu dramatisch, da die Bundesstaaten kontinuierlich auf die Warenumsatzsteuer bezogene steuerliche Vergünstigungen als Instrument der Anlockung von Investitionen auf ihrem Hoheitsgebiet gewährt haben. Da die Gewährung von Vergünstigungen durch Art. 150 § 6 der CF/88 einem spezifischen Gesetz vorbehalten ist, stellt sich die Frage, ob diese Vergünstigungen vom Rechtssicherheitsprinzip geschützt werden können. Nach der traditionellen Auffassung setzt die steuerrechtliche Gesetzmäßigkeit ausnahmslos die Beitreibung der Abgabe durch; diese Durchsetzung ergibt sich auch aus den Prinzipien des Rechtsstaats und der Gleichheit, die das staatliche Handeln außerhalb eines rechtlichen Rahmens und die ungleiche Behandlung der Steuerzahler verbieten362. Die Entwicklung der Rechtsprechung und Rechtslehre hat gezeigt, dass unter außerordentlichen Umständen auch rechtswidrige Akte wegen der reflexiven Wirksamkeit des Vertrauensschutzprinzips schutzwürdig sind: da die Verwaltungsakte normative Kraft haben, ist auch das Vertrauen derjenigen, die an ihren Legitimitätsschein geglaubt haben, zu schützen363. Anfänglich waren die Rechtslehre und die Rechtsprechung der Auffassung, dass ein gesetzwidriger Akt keine Wirkung 360

Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 5 sowie 8. 361 Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 324. 362 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 585. 363 Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Público de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei Nr. 9.784/99), in: RBDP 06 (2004), S. 273; Almiro do Couto e Silva, Problemas jurídicos do planejamento, in: RDA 170 (1987), S. 24.

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hervorrufen könne: dies zuzulassen laufe nicht nur auf die Verletzung des Legalitätsprinzips, sondern auch des Gleichheitsprinzips hinaus364. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde dieses Verständnis mit dem Argument verstärkt, dass man bei der Beibehaltung der Wirkungen rechtswidriger Akte auch das Prinzip des öffentlichen Interesses verletzen würde. Die früheren Leitsätze des Obersten Bundesgerichtshofs folgten diesem Verständnis: so sieht der Leitsatz Nr. 473 vor, dass die Verwaltung ihre eigenen Akte nur dann zurücknehmen kann, wenn sie Mängel aufweisen, die sie gesetzwidrig machen, da sich aus ihnen keine Rechte ergeben, oder sie nur dann aufheben kann, wenn sie dies für angemessen hält, wobei nur die wohlerworbenen Rechte zu beachten sind; und der Leitsatz Nr. 346 sieht vor, dass die Verwaltung die Nichtigkeit ihrer eigenen Akte erklären kann; zusammengenommen zeigen diese beiden Leitsätze, dass sich die Rechtsprechung den „Grundsatz der freien Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte“ zu eigen machte365. Aus diesem Grund gebe es keine Art von Schutz, der sich aus den Grundrechten herleitet, nach Püttner also „kein Grundrecht auf den Genuss rechtswidriger Vorteile“366. Diese Analyse aus der Sicht des Staats und der Norm machte jedoch allmählich einer Prüfung Platz, die vom Standpunkt des Bürgers und des Falls ausgeht: die Revision von Verwaltungsakten müsse andere Elemente berücksichtigen, wie das Vertrauen und Treu und Glauben des Verwaltungsadressaten, die in einer Abwägung der kollidierenden Interessen vor dem konkreten Fall zu gewichten seien367. Einer der Gründe liegt in der Tatsache, dass die Legitimitätsforderung sich nicht nur aus dem Demokratieprinzip herleitet, sondern gleichermaßen aus dem Rechtsstaatsprinzip, das den Schutz derjenigen rechtfertigt, die das Recht als Grundlage für ihre Planung benutzt haben, was noch stärker gilt, wenn man berücksichtigt, dass Verwaltungsakte oft infolge der Unbestimmtheit der Gesetze und der mangelnden Vereinheitlichung der Verwaltung notwendig sind368. Dieser Perspektivenwechsel war jedoch nur partiell: das Vertrauen des Bürgers wird im Hinblick auf den Verwaltungsakt bewertet, vor allem, um den Nachweis 364

Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 323. Vgl. Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 15. 366 Günter Püttner, Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht, in: VVDStRL 32 (1974), S. 204. Ähnlich, aber gemäßigt: Patrícia Baptista, A tutela da confiança legítima como limite ao exercício do poder normativo da Administração Pública – a protação às expectativas legítimas dos cidadãos como limite à retroatividade normativa, in: RDE 3 (2006), S. 180. 367 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 10 ff.; Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 323; Almiro do Couto e Silva, Princípios da legalidade da Administração Pública e da segurança jurídica no Estado de Direito contemporâneo, in: Revista da Procuradoria-Geral do Estado do Rio Grande do Sul / Cadernos de Direito Público 57 (2003), Supplementband, S. 30; Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Público de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei Nr. 9.784/99), in: RBDP 06 (2004), S. 281–288. 368 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 587 ff. 365

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zu führen, dass dieser Vertrauen erzeugen oder nicht erzeugen konnte. In diesem Sinn stieß die unbeschränkte Befugnis zur Revision von Verwaltungsakten erst auf Einschränkungen im Hinblick auf die Wirkungen von Akten, deren Anschein von Legalität i. V. m. ausbleibender Bösgläubigkeit oder Fahrlässigkeit des Adressaten Verlässlichkeit erzeugen konnte: ist die Rechtswidrigkeit intensiv oder augenscheinlich, ist der Verwaltungsakt zurückzunehmen369. Auf dieser Argumentationslinie liegt das außerordentliche Rechtsmittelverfahren (Recurso Extraordinário) Nr. 442.683. Hier hat der Oberste Bundesgerichtshof den Fall untersucht, in dem Beamte aufgrund einer bloßenDienstverordnung, also ohne öffentliche Ausschriebung, befördert worden waren370. Das Gericht unterstrich, dass die öffentliche Prüfung zum Zeitpunkt des Eintritts der Ereignisse, zwischen 1987 und 1992, zwar die allgemeine Form des Zugangs zu staatlichen Ämtern war, dies aber nicht umumstritten war, auch nicht im Gericht selbst. Erst 1993 hat das Gericht durch einstweilige Verfügung die Wirkungen der einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes Nr. 8.112/90 suspendiert, die Grundlage der angefochteten Verwaltungsakte gewesen waren, und erst 1998 hat es bei der Bearbeitung der direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 837 die Verfassungswidrigkeit des genannten Gesetzes ausgesprochen. Aufgrund der besonderen Lage beschloss das Gericht, die Wirkungen der angefochtenen Akte zu bestätigen, und gab zur Begründung folgende Faktoren an: Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der Beibehaltung der Beamten in ihren aktuellen Funktionen, ohne welche es zu einem wahren Verwaltungschaos kommen würde; langer Zeitraum, in dem die Beamten in den Funktionen, die ihnen übertragen worden waren, gearbeitet hatten; langer Zeitraum von über zehn Jahren seit dem Datum der Beförderung und dem Datum der Anfechtung; und Vorliegen von Treu und Glauben seitens der Beamten und der Verwaltung angesichts der Geltung des Gesetzes, das zur Praxis der angefochtenen Akte ermächtigte. Obwohl der Berichterstatter sich auf die Variation der Wirkungen der Entscheidungen bei Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bezogen hatte, bestätigte die in der konkreten Kontrolle gefällte Entscheidung strenggenommen nur die konkreten Wirkungen von Akten, deren Grundlage Gesetze waren, die in anderen Kontrollbereich für verfassungswidrig angesehen worden waren. Diese Perspektive, konzentriert auf die formale Regelhaftigkeit staatlichen Handelns und den subjektiven Aspekt des Vertrauens, muss einer Analyse weichen, deren Grundlage ebenfalls die Grundrechte und die jede Ausübung der Staatstätigkeit normierenden Prinzipien sind. In diesem neuen Zusammenhang sind andere Kriterien zu prüfen, wie wir nachfolgend darlegen werden.

369 Fritz Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl., S. 27; Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Público de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei Nr. 9.784/99), in: RBDP 06 (2004), S. 300. 370 RE Nr. 442.683, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, DJ 24. 03. 06.

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(bb) Abstrakt-generelle Tätigkeit der Verwaltung (α) Normative Akte Die Verwaltung rekurriert häufig auf Rechtsnormen, wie auslegende normative Akte und normative Gutachten, in denen sie ihre Stellungnahme zu einer bestimmten Materie abgibt. Im Unterschied zu Verwaltungsakten sind normative Akte allgemeine und abstrakte Äußerungen, die sich folglich an eine unbestimmte Menge von Situationen und Personen richten. Wenn der normative Akt den Interessen des Steuerzahlers widerspricht, kann dieser gegen seine Anwendung vorgehen, indem er vor Gericht geht und die Gesetzwidrigkeit des Akts geltend macht. Das Problem zeigt sich dann, wenn der Steuerzahler den normativen Akt zu seinen Gunsten benutzen will und aufgrund einer Änderung des Verwaltungshandelns damit keinen Erfolg hat. Diese Veränderung kann einfach deswegen erfolgen, weil die Verwaltung ihre Auffassung ändert oder weil sie der Meinung ist, dass ihre frühere Stellungnahme gesetzwidrig war und damit diejenigen Steuerzahler schädigt, die aufgrund des revidierten normativen Akts gehandelt haben, mit Bezug auf vergangene oder auf zukünftige Akte371. In diesem Zusammenhang muss man wissen, ob es Vertrauensschutz in Bezug auf normative Akte geben kann. Der wichtigste Einwand, der sich gegen den Vertrauensschutz angesichts von normativen Akten vorbringen lässt, bezieht sich auf den Mangel an Bindungscharakter: da im Steuerrecht das Legalitätsprinzip gilt, hätten die aus der Verwaltung kommenden Akte eine bloß zweitrangige und an das Gesetz gebundene Funktion. Wer somit einem normativen Akt vertraut – um diese traditionelle Ausdrucksweise weiterhin zu verwenden – wisse oder solle wissen, dass der Akt kein Vertrauen verdient. Wenn er das weiß, kann er in Zukunft keine Vertrauensenttäuschung geltend machen, falls der Akt für gesetzwidrig erklärt wird. Obwohl der Mangel an Bindungscharakter ein den Vertrauensschutz senkendes Element ist, sind hier einige Differenzierungen im Hinblick auf normative Akte anzubringen, da sie nicht eine einzige und identische Funktion haben. Es gibt normative Akte, welche die Ausübung des freien Ermessens einschränken oder unbestimmte Rechtsbegriffe ausfüllen, selbst im Steuerrecht. Wie der Oberste Bundesgerichtshof schon entschieden hat, muss das Gesetz die allgemeinen Parameter der Steuerverpflichtung festlegen; die normativen Akte der Verwaltung müssen dagegen im Fall von Kompetenzen, deren Ausübung von technischen Prärogativen abhängt, im Rahmen dieser Parameter die bindenden Bedeutungen festlegen372. Diese normativen Akte operieren also sozusagen „im Rahmen des Gesetzes“, weisen also eine Außenbindung auf373. Obwohl sie nicht in die Kategorie der primären Rechtsnormen fallen, haben sie einen unterschiedlichen Bin 371

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 655. RE Nr. 343.446, Plenum, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, DJ 04. 04. 03. 373 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 660. 372

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dungsgrad, da sie die Ausübung von Kompetenzen festlegen oder Gesetzesbegriffe konkretisieren. So kann die Verwaltung sie sogar revidieren, sei es, weil sie ihre Auffassung geändert hat, sei es, weil sie dazu übergegangen ist, sie als gesetzwidrig anzusehen. Sie kann aber nicht Sachverhalte, die noch während der Geltung des Akts eingetreten sind, erfassen. Tut sie es, verletzt sie das Vertrauensschutzprinzip und, so paradox dies anmuten mag, auch die Forderung nach Gesetzmäßigkeit. Es gibt ebenso normative Akte, die gesetzliche Standards erfüllen, Pauschalierungen, Beträge oder Kriterien festlegen, die auf Massenfälle anzuwenden sind. Abgesehen von den Fällen, die augenscheinlich unbillig sind, fallen nun diese normativen Akte gleichermaßen unter das Gesetz, dessen Standard sie konkretisieren sollen374. Die Verwaltung darf sie ebenfalls ändern, darf die Steuerzahler aber nicht belasten, die intensiv über ihre Freiheits- und Eigentumsrechte aufgrund dieser normativen Akte disponiert haben, falls sie das Vertrauensschutzprinzip und die Forderung nach Gesetzmäßigkeit nicht verletzen will. Es besteht kein Zweifel daran, dass alle anderen an die Beamten adressierten Vorschriften, deren Wirksamkeit also ursprünglich intern ist, einen geringeren Schutz bewirken: der Steuerzahler weiß bzw. muss wissen, dass der Akt keine bindende Kraft entfaltet und primär an die staatlichen Akteure adressiert ist, weshalb seine Anwendung eine höhere persönliche Verantwortung und damit ein höheres Risiko beinhaltet375. Man darf jedoch nicht verkennen, dass diese normativen Akte – ganz gleich, ob mittelbar – äußere Wirkungen entfalten, auch deshalb, weil der Staat sich nicht ungerechtfertigterweise von seinen eigenen Positionen entfernen darf und auch alle Bürger einheitlich behandeln muss. Diese Akte erfahren also eine äußere Wirksamkeit376. Sie erhöht sich noch mehr, wenn die normativen Akte veröffentlicht werden, da es überhaupt keinen Sinn ergibt, den Inhalt der Akte der Verwaltung zu veröffentlichen, um die Verwaltung dann von der Pflicht zur Befolgung dieser Akte zu entbinden377. Wenn z. B. der normative Akt den Anschein der Legalität hat, wenn er die Ursache der intensiven Disposition des Steuerzahlers ist, ist seine Rücknahme auszuschließen, weil in diesem Fall das Fehlen eines Elements (Bindung) durch das Vorliegen anderer Elemente (Anschein der Legalität, Lenkungsfunktion, Belastung) gemindert wird. In diesem Sinn schließt die Tatsache, dass die normativen Verwaltungsakte keine bindende Natur haben, nicht die Möglichkeit aus, dass es trotzdem Vertrau­ ensschutz gibt, wenn die Forderung nach Bindung der Verwaltung an ihre eigenen Akte und an die Grundrechte dies verlangen. Hier ist daran zu erinnern, dass die Funktion selbst normativer Akte die Schutzpflicht in Bezug auf das ihnen 374

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 668. Hartmut Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.). Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl., § 60, Rn. 93, 1996. 376 Hermann-Josef Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, S. 259. 377 Eugenio Della Valle, Affidamento e certezza del Diritto Tributario, S. 131. 375

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vom Steuerzahler entgegengebrachte Vertrauen verstärkt: diese Akte, die von der Verwaltung jederzeit abgeändert werden können, trifft auch eine Gültigkeitsvermutung. Obwohl der Steuerzahler sie vor Gericht anfechten kann, hat er sie im Regelfall zu befolgen. Könnte er sie einfach ignorieren, wäre ihre Funktion, die Anwendung der steuerrechtlichen Normen zu orientieren und die Anwendungsunsicherheit zu reduzieren, vollständig beeinträchtigt378. Diese Betrachtungen münden einerseits in die Schlussfolgerung, dass die Gegenleistung zur Funktionalität normativer Akte der Schutz des Vertrauens der Steuerzahler ist, die bei ihren Dispositionen ja von der Vermutung der Gültigkeit der Akte ausgingen. Die normativen Akte erfüllen die Funktion von Orientierungssicherheit gewährleistenden Instrumenten. Aus eben diesem Grund müssen sie die ihrer eigenen Funktionstüchtigkeit immanente Verlässlichkeit schützen. Andererseits münden die vorstehenden Betrachtungen jedoch in die Schlussfolgerung, dass die Steuerzahler kein Recht darauf haben, die Beibehaltung der vergangenen Anwendung dieser normativen Akte zu verlangen, es sei denn nachdem sie tatsächlich ihre Freiheits- und Eigentumsrechte auf der Grundlage dieser Akte wahrgenommen haben379. Die Auffassung, derzufolge der Steuerzahler auch pro futuro die Beibehaltung eines gesetzwidrigen normativen Akts verlangen kann, unabhängig davon, ob er auf seiner Grundlage gehandelt hat, würde ihn in Konflikt mit der Forderung nach steuerrechtlicher Legalität bringen. In eben dieser Richtung geht Art. 146 der nationalen Abgabenordnung380, wonach die Änderung der Verwaltungsorientierung nur im Hinblick auf zukünftige Fälle wirksam ist und folglich nicht vergangene Fälle betrifft381. Obwohl diese Bestimmung die Gültigkeit des abgeänderten normativen Akts voraussetzt, schützt die reflexive Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips diejenigen Steuerzahler, die aufgrund der vor der Änderung des normativen Akts angenommenen Geltung gehandelt haben382. Torres vermerkt im Hinblick auf diesen Aspekt geradezu emphatisch: „Falls der Steuerzahler dem in der gemeldeten Abgabenveranlagung gegebenen Wort der Verwaltung Glauben geschenkt hat, kann er nicht eventuellen Änderungen rechtlicher Kriterien, die unter dem Vorwand von Aus 378

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 672 f. sowie 681. Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 678. 380 Art. 146. Die von Amts wegen oder infolge einer Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung eingeführte Änderung in den juristischen Kriterien, die von der Verwaltungsbehörde bei der Veranlagung gewählt werden, darf nur dann in Bezug auf ein und dasselbe passive Subjekt vom Hrsg. entommen werden, wenn der Tatbestand nach ihrer Einführung eingetreten ist. 381 Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 18. Aufl., S. 440; Luciano Amaro, Direito Tributário brasileiro, 15. Aufl., S. 350; Sacha Calmon Navarro Coêlho, Curso de Direito Tributário, 9. Aufl., S. 761; Roque Antonio Carrazza, Segurança jurídica e eficácia temporal das alterações jurisprudenciais – competência dos Tribunais Superiores para fixá-la – questões conexas, in: Ferraz Júnior, Tércio Sampaio u. a. (Hrsg.), Efeito ex nunc e as decisões do STF, S. 52 ff. 382 Ricardo Lodi Ribeiro, A proteção da confiança legítima do contribuinte, in: RDDT 145 (2007), S. 102. 379

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legungsfehlern vorgenommen worden sind, ausgeliefert werden. Jedenfalls nicht im Rechtsstaat.“383 So gelten alle schon über die Rückwirkung von Gesetzen vorgebrachten Gründe auch für den Fall der normativen Akte, mit dem Unterschied, dass im Hinblick auf diese das Gewicht anderer Elemente, die ihr allgemeines Bindungsdefizit kompensieren können, umso stärker sein muss, und umso stärker noch, je evidenter die Gesetzwidrigkeit des normativen Akts ist. Wesentlich ist, dass aufgrund der Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips selbst die Rückwirkung der Änderung der Verwaltungsauffassung nicht zulässig ist, vor allem ohne die Beachtung des Verhältnismäßigkeitspostulats384. Und im Bereich des Steuerrechts besteht das Rückwirkungsverbot immer dann, wenn die Änderung der Kriterien durch Anordnung der Verwaltung oder eines Gerichts die Lage des Steuerzahlers in Bezug auf Tatbestände verschlechtert, die schon Gegenstand der Veranlagung gewesen sind385. (β) Verwaltungspraxis Es kann auch der Fall eintreten, dass die Verwaltung nicht formell einen Verwaltungsakt erlassen hat, jedoch eine Zeit lang ihre Auffassung einer bestimmten Materie deutlich geäußert hat386. Die zur Rechtfertigung des ausnahmsweise gewährten Schutzes des Vertrauens im Hinblick auf normative Akte verwendeten Argumente erklären seine Nutzbarkeit auch hinsichtlich der Verwaltungspraxis: auch in diesem Fall, wenngleich noch stärker ausnahmsweise wegen des Formalisierungs- und Öffentlichkeitsdefizits, die eine stärkere Verlässlichkeit der normativen Grundlage zur Folge haben, kann das Vertrauen des Steuerzahlers geschützt werden, sofern dieser allerdings über seine Freiheits- und Eigentumsrechte auf der Grundlage der Verwaltungspraxis disponiert hat. Dieser Schutz ergibt sich aus der Tatsache, dass, obwohl ohne eindeutige punktuelle Manifestation, die Summe des Verwaltungshandelns im Lauf der Zeit die Auffassung der Verwaltung von einem bestimmten Gegenstand konsolidiert. Obwohl diese Auffassung in anderer Form geäußert wird, dient sie ebenfalls 383 Ricardo Lobo Torres, Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, in: Silva Martins, Ives Gandra da (Hrsg.), Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, S. 70. 384 Maria Sylvia Zanella Di Pietro, Os princípios da proteção à confiança, da segurança jurídica e da boa-fé na anulação do ato administrativo, in: Motta, Fabrício (Hrsg.), Direito Público Atual: estudos em homenagem ao Professor Nélson Figueiredo, S. 312; Hans-Jürgen Brischke, Heilung fehlerhafter Verwaltungsakte im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Durch Nachholen der Begründung, Nachschieben von Gründen, Umdeutung, Ergänzung von Ermessenserwägungen und förmliche Änderung oder Ergänzung des streitbefangenen Verwaltungsaktes, in: DVBl 117 (2002) S. 429–434. 385 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 488. 386 Luciano Amaro, Direito Tributário brasileiro, 15. Aufl., S. 192; Johanna Hey, Steuer­ planungssicherheit als Rechtsproblem, S. 692.

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als Vertrauensgrundlage und kann, wenn die schon genannten Voraussetzungen vorliegen, zum Schutz des Rechtssicherheitsprinzips führen. (cc) Individuelle und konkrete Tätigkeit der Verwaltung (α) Verwaltungsakte Die Tätigkeit der Verwaltung kann, statt generell und abstrakt, individuell und konkret, also an bestimmte Steuerzahler in bestimmten Situationen adressiert sein387. Der Vertrauensschutz hängt wie schon gesagt von der Kombination verschiedener Kriterien ab. In diesem Sinn kann man sagen, das beim Fehlen anderer Elemente die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts schutzwürdiges Vertrauen nicht begründet: Falls andere Elemente vorliegen, muss man jedoch über diese Regel hinausgehen, da, wie schon dargelegt, das entscheidende Kriterium für den Vertrauensschutz nicht die formale Regelkonformität staatlichen Handels ist, sondern die Einschränkung der Grundrechte und der Art staatlichen Handelns aufgrund seiner Begründung sowohl in den Grundrechten als auch in den auf staatliches Handeln bezogenen Grundsätzen. Folglich kann es eine Ausübung der Freiheit oder Nutzung des Eigentums gegeben haben, welche die Einschränkung der Wirkungen der Verwaltungsänderung aufgrund des Schutzes der genannten Grundrechte rechtfertigt, selbst wenn eine rechtswidrige Normgrundlage vorliegt388. Wesentlich ist, dass das Individuum aufgrund des Verwaltungsakts gehandelt hat und sein Vertrauen daher nicht einfach enttäuscht werden darf. Ansonsten würde seine Investi­ tion sich nicht am Recht orientieren und vom Recht auch nicht geachtet werden, sondern zu einem Glücksspiel entarten389. Unter den verschiedenen zu berücksichtigenden Elementen sind im Hinblick auf das Handeln der Exekutive folgende hervorzuheben: der Anschein der Legitimität des Akts, die Lenkung, die Individualität, die Belastung und die Dauer. Diese Elemente können so die Rechtswidrigkeit der Vertrauensgrundlage kompensieren: je stärker der Anschein der Legitimität des Akts ist, die sich aus ihm ergebende Beeinflussung des Verhaltens, die Nähe der Beteilitgte zum Staat, die durch seine Anwendung und die Dauer seiner Wirksamkeit in der Zeit erzeugte Belastung, desto stärker werden die Gründe für seine Beibehaltung sein. Diese Elemente kompensieren die Rechtswidrigkeit der Vertrauensgrundlage. Diese Kriterien ergeben sich aus dem Umstand, dass, anders als beim Handeln durch Gesetze oder normative Akte, die staatliche Tätigkeit durch Verwaltungs 387

Michael Randak, Bindungswirkung von Verwaltunsakten, in: JuS 1992, S. 33–39; Jörn Ipsen, Verbindlichkeit, Bestandkraft und Bindungswirkung von Verwaltungsakten, in: Verwaltung 17 (1984), S. 169–195. 388 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 183. 389 Christoph Engel, Planungssicherheit für Unternehmen durch Verwaltungsakt, S. 95.

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akte einen höheren Grad der Nähe zum Steuerzahler erkennbar werden lässt. Der Verwaltungsakt bricht die Anonymität des Rechts390. Die einzelnen, an bestimmte Steuerzahler adressierten Verwaltungsakte erzeugen ein „Vertrauensverhältnis“, insofern sie eine „persönliche Beziehung“ konnotieren391. Die größere Nähe von Behörde und Bürger stiftet auch eine Verpflichtung zwischen ihnen und erzeugt damit eine Loyalitätspflicht: die Nichterfüllung einer Verpflichtung ist Ausdruck mangelnder Loyalität, die ihrerseits das Prinzip der Sittlichkeit der Verwaltung verletzt392. Eben wegen dieser Nähe spricht man im Fall der Verwaltungsakte und -verträge von der Pflicht der Verwaltung zu Treu und Glauben: die Beziehung der Nähe zwischen Staat und Steuerzahler erzeugt wechselseitige Loyalitätspflichten, welche sogar die Forderungen nach Gesetzmäßigkeit und Vorhersehbarkeit einschränken oder mildern393. Verwaltungsakte können neben dem Individualitätskennzeichen auch Lasten für den Steuerzahler schaffen. Wie schon dargelegt, muss bei steigendem Grad der belastenden Wirkung des Akts der Schutz des dem Akt entgegengebrachten Vertrauens verhältnismäßig gesteigert werden, insofern der staatliche Akt die unmittelbare Ursache des Handelns der Privatperson ist.394 Der Zeit kommt unter all diesen Elementen eine besondere Funktion zu: je länger der zwischen der Umsetzung des Akts und der Entscheidung über seine Rücknahme bzw. seinen Widerruf verstrichene Zeitraum ist, desto geringer muss die Anwesenheit der anderen Elemente sein. Der Ablauf der Zeit verfestigt einerseits den Anschein der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungsakts und erlaubt andererseits die Existenz einer Reihe von mittel- und unmittelbaren Folgen, die dann irreversibel werden, je länger der Zeitraum zwischen dem Erlass des Akts und seiner eventuellen Aufhebung ist. Diese Betrachtungen zeigen, dass man nicht automatisch den Schutz des Vertrauens aus dem einfachen Grund ausschließen kann, dass der Verwaltungsakt, auf den das Vertrauen sich stützt, gesetzwidrig ist. Für diese Auffassung sprechen nicht nur Gründe, die mit dem Interesse der Steuerzahler zusammenhängen, wie die obengenannten Gründe, sondern auch die Gründe, die sich auf das Interesse des Staats selbst beziehen395. Die Ungültigkeit von Verwaltungsakten kann nämlich nur 390

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 590. Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 299. 392 Josef Isensee, Vertrauensschutz für Steuervorteile. Ein Folgeproblem der Wirtschaftslenkung durch Steuer des § 3a EStG, in: Kirchhof, Paul / Offerhaus, Klaus / Schöberle, Horst (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik: FS für Franz Klein, S. 614; Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 321. 393 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 591; Roland Kreibich, Der Grundsatz von Treu und Glauben im Steuerrecht, S. 56; Sven Müller-Grune, Der Grundsatz von Treu und Glauben im Allgemeinen Verwaltungsrecht, S. 40 ff. 394 Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 297. 395 Maria Sylvia Zanella Di Pietro, Os princípios da proteção à confiança, da segurança jurídica e da boa-fé na anulação do ato administrativo, in: Motta, Fabrício (Hrsg.), Direito Público Atual: estudos em homenagem ao Professor Nélson Figueiredo, S. 305. 391

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auf formale Aspekte bezogen sein, wogegen ihr Inhalt durch die Erreichung von Staatszielen wie z. B. die Tätigung von Investitionen, Schaffung von Arbeitsplätzen, Entwicklung von Technologie, Förderung einer Region usf. gerechtfertigt ist. Im Hinblick auf diesen Aspekt verfolgt die Revision des Akts durch Rücknahme oder Abänderung die gleichen Ziele, die der Staat erreichen muss und die mit der Revision des Akts beeinträchtigt werden. In diesem Sinn kann man behaupten, dass der Schutz des Vertrauens des Steuerzahlers umso stärker sein muss, je höher der Grad der Erreichung der Staatszwecke ist. So hängt die Änderung von Verwaltungsakten nicht von der Ungültigkeit der Akte ab, sondern von der Intensität des Handelns des Steuerzahlers, die auf sein Vertrauen und auf die Intensität der durch die Änderung entstehende Einschränkung gegründet ist. Man kann sogar die Regel akzeptieren, nach welcher die Rücknahme erlaubt ist, vorbehaltlich begründeter Argumente für ihre Beibehaltung, und der Widerruf verboten ist, vorbehaltlich begründeter Argumente für ihre Beibehaltung396. Diese Konzeption krankt allerdings an einem tautologischen circulus vitiosus: der Akt ist unveränderlich, wenn es ein zu schützendes Recht gibt; es gibt ein zu schützendes Recht, wenn der Akt unveränderlich ist. Außerdem liegt hier eine petitio principii vor, weil das zu Beweisende als bewiesen vorausgesetzt wird, nämlich, in welchen Situationen und aus welchem Grund ein Akt unveränderlich ist. Es sind also Kriterien zu suchen, welche die Veränderbarkeit von Verwaltungsakten anzeigen und auf Grundsätze und Grundrechte gegründet sind, nicht auf eventuell den Verwaltungsakten selbst innewohnende Eigenschafte, wie deren Nichtexistenz, Nichtigkeit oder Rücknehmbarkeit. Wenn dem so ist, kommt es letztlich nicht darauf an, ob der Verwaltungsakt endgültig oder „bloß“ vorläufig ist, ob er vollständig oder „einfach“ partiell ist, ob die Verwaltungstätigkeit konkludent oder ein „einfaches“ Versprechen ist, ob der Akt formal oder „nur“ eine Verwaltungspraxis ist. Diese auf das Staatshandeln bezogenen Fragen sind durchaus relevant, aber nur als provisorische Elemente, da sie-und das ist der springende Punkt-den Vertrauensschutz nicht automatisch abschaffen. Sie tun dies deshalb nicht, da der formale Aspekt des Akts, obzwar wichtig, die Vertrauensgrundlage nicht erschöpft: diese wird durch andere Elemente gestaltet, besonders durch diejenigen, die auf den Anschein der Gesetzmäßigkeit, auf Individualität, auf Gegenseitigkeit, Belastung und Zeit bezogen sind. Ein provisorischer Verwaltungsakt, dessen Wirkungen vorübergehend sind, oder ein partieller Verwaltungsakt, dessen Wirksamkeit von der Bestätigung durch einen späteren Akt abhängt, erzeugen in der Tat eine beschränkte Schutzwürdigkeit: der Steuerzahler weiß oder muss wissen, dass der Akt in Zukunft keinen Bestand haben wird, weshalb sein Handeln prinzipiell auf eigene Faust und auf eigenes Risiko erfolgt. Auch dann noch ist die Rücknahme des Akts auszuschließen, falls der Akt z. B. dem Steuerzahler einen über einen langen Zeitraum genossenen 396

Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 328.

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Vorteil schafft, ohne das die Verwaltung objektiv den Willen zu seiner Änderung bekundet, und falls der Steuerzahler über seine Freiheit und sein Eigentum aufgrund dieses Akts disponiert hat, so dass die Revision des Akts mit einem hohen und irreversiblen Schaden für den Steuerzahler verbunden ist. In diesem Fall wird das Fehlen eines Elements (Anspruch auf Dauer) durch die Anwesenheit anderer Elemente (Individualität, Belastung, Irreversibilität, Abhängigkeit, Lenkung) kompensiert. Gleichermaßen erzeugt ein Verwaltungsakt, der nur ein Versprechen beinhaltet, und dessen Geltung später angefochten wird, natürlich eine geringere Schutzwürdigkeit: der Steuerzahler weiß oder muss wissen, dass der Akt in Zukunft umgesetzt werden muss, da seine Handlung einen Teil von persönlicher Verantwortung und damit auch ein höheres Risiko beinhaltet. Selbst dann ist die Rücknahme des Akts auszuschließen, falls der Akt z. B. aufgrund der Autorität der ihn erlassenden Instanz oder des Erlassverfahrens den Anschein der Gesetzmäßigkeit hat, oder falls der Akt Ursache des intensiven Handelns des Steuerzahlers gewesen ist, ohne dass die Verwaltung irgendwie signalisiert hätte, dass der Akt anfechtbar ist. In dieser Situation wird das Fehlen eines Elements (Bindungsnatur) durch die Anwesenheit anderer Elemente (Individualität, Abhängigkeit, Lenkung, Dauer) kompensiert. Unter den Verwaltungsakten ist die durch die Verordnung Nr. 70.235/72 normierte Anfrage an die Verwaltung hervorzuheben. Der Steuerzahler kann angesichts einer konkreten Situation an die Finanzverwaltung eine Anfrage richten, falls er hinsichtlich der Fälligkeit einer Abgabe im Unklaren ist. Wenn die Beschreibung der tatsächlichen Lage des Steuerzahlers nicht unrichtig ist, verpflichtet die Antwort auf die Anfrage die Verwaltung: die präventive Natur der Anfrage an das Finanzamt muss den anfragenden Bürger in den sicherheitsgewährenden Zustand der Rechtsgewissheit versetzen397. Wenn dem nicht so wäre, verlöre die Anfrage gänzlich ihre Funktion, das steuerrechtliche Risiko des ins Auge gefassten Geschäfts des Steuerzahlers zu senken und dem Handeln der Verwaltung Berechenbarkeit zu gewährleisten. Im Kontext der hier untersuchten Änderung des Verwaltungshandelns entsteht das Problem der Sicherheit, das die Anfrage beinhaltet, überhaupt nicht, wenn die Verwaltung sich an die erteilte Antwort hält, sondern nur dann, wenn die Verwaltung ihr in der Antwort geäußertes Verständnis revidiert, sei es weil sie ihre vorherige Stellungnahme ändert, sei es, weil sie zur Überzeugung gelangt, dass die vorherige Stellungnahme gesetzwidrig war. In diesen Fällen greifen dieselben Argumente, die oben zur Rechtfertigung des Vertrauensschutzes im Hinblick auf Verwaltungsakte dargelegt worden sind, auch für die Anfrage: falls der Steuerzahler auf signifikante Weise über seine Freiheits- und Eigentumsrechte disponiert hat und falls eine Kausalitätsbeziehung zwischen den Dispositionsakten und der sich aus der Anfrage ergebenden steuerrechtlichen Wirksamkeit vorliegt, in dem 397

Valdir de Oliveira Rocha, A consulta fiscal, S. 88.

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Sinn, dass die Antwort auf die Anfrage für das Handeln des Steuerzahlers entscheidend war, muss es auch einen Schutz des der Anfrage entgegengebrachten Vertrauens geben398. Wiederum gilt Folgendes: falls dem der Anfrage entgegengebrachten Vertrauen nicht entsprochen wird, beeinträchtigt das die Wirksamkeit der Anfrage selbst: der Steuerzahler bedient sich ihrer dann nur, um sein strategisches Risiko zu verringern. Falls die Anfrage die Verwaltung nicht bindet, wird ihre rechtssicherheitsbezogene instrumentelle Funktion beeinträchtigt. Soweit die Anfrage den Vertrauensschutz betrifft, ergibt sich ihre Wirksamkeit nicht aus ihrer übrigens zweitrangigen normativen Qualität, sondern aus ihrer Funktion im Hinblick auf die Rechtssicherheit: auch wenn sie für sich keine normative Kraft hat, hat sie eine instrumentelle Funktion im Hinblick auf die Verwirklichung der Ideale der Erkennbarkeit und der Berechenbarkeit des Rechts399. Das gleiche Verständnis ist auch auf die Vereinbarungen über die Bemessungsgrundlagen im Bereich der Steuersubstitution ex tunc anzuwenden. In einigen Situationen handelt das Finanzamt Vereinbarungen mit bestimmten Sektoren der Wirtschaft über die als Bemessungsgrundlage für die Substitution zu verwendenden Beträge aus. Obwohl das Finanzamt die Verhandlungen für eine neue Vereinbarung neu beginnen kann, darf es auf keinen Fall diejenigen Steuerzahler belasten, die über ihre Freiheit und ihr Eigentum aufgrung der bestehenden Vereinbarung disponiert haben, wenn es nicht das Vertrauensschutzprinzip verletzen will. Ein schwieriges Problem bezieht sich auf die konsolidierte individuelle Verwaltungspraxis. Der einzige Absatz von Art. 100 der nationalen Abgabenordnung400 statuiert nur den Ausschluss des Bußgelds in den Fällen, in denen der Steuerzahler der Gültigkeit normativer Akte und der wiederholten Praktiken der Verwaltung vertraut. Und Art. 146 der genannten Abgabenordnung401 statuiert, dass der von der Verwaltung vorgenommene Verständniswechsel in der Auslegung nur für zukünftige Fälle gilt402. Wiederum stellt sich das auf die Rechtssicherheit bezogene 398

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 707. Winfried Fiedler, Funktion und Bedeutung öffentlich-rechtlicher Zusagen im Verwaltungsrecht, S. 234. 400 Art. 100. Die Gesetze, internationale Abkommen und Konventionen und Verordnungen ergänzenden Normen sind: I – die von den Verwaltungsbehörde erlassenen normativen Akte; II – die Entscheidungen der Einzel- oder Kollektivorgane der Verwaltungsgerichtsbarkeit, denen das Gesetz normative Wirksamkeit zuschreibt; III – die wiederholte Male von den Verwaltungsbehörden beachteten Praktiken; IV – die Abkommen, welche der Bund, die Bundesstaaten, der Bundesdistrikt und die Gemeinden miteinander schließen. Einziger Absatz. Die Einhaltung der in diesem Artikel genannten Normen schließt die Auferlegung von Strafen, die Berechnung von Verzugszinsen und die Anpassung des Geldwerts der Bemessungsgrundlage der Abgabe aus. 401 Art. 146. Die von Amts wegen oder infolge einer Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung eingeführte Änderung der juristischen Kriterien, die von der Verwaltungsbehörde bei der Vornahme der Veranlagung übernommen werden, können nur dann im Hinblick auf ein und dasselbe passive Subjekt umgesetzt werden, wenn der Tatbestand der Abgabe nach der Einführung dieser Änderung eingetreten ist. 402 Aliomar Baleeiro, Direito Tributário brasileiro, 11. von Misabel de Abreu Machado Derzi aktualisierte Aufl., S. 649 sowie 811. 399

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Problem dann, wenn die Verwaltung ihre Position rückwirkend revidieren will, da sie der Auffassung ist, dass die bisher gewählte Vorgehensweise gesetzwidrig war. Die bis zu diesem Punkt verwendeten Argumente sind auch auf die Verwaltungspraxis anwendbar. Eine Hürde bei der Aneignung dieser Sichtweise wäre jedoch der vorläufige Status der von der Verwirkungsfrist noch nicht erfassten Verwaltungspraxis: die Verwaltungsakte, deren Summe die genannte wiederholte Praxis der Verwaltung bildet, werden unter Bedingung erlassen, d. h. sie produzieren Wirkungen, es sei denn, eine spätere Feststellung, noch innerhalb der Verwirkungsfrist, erweist die Notwendigkeit ihrer Revision. Art. 149403 der nationalen Abgabenordnung ermächtigt das Finanzamt zur Revision schon vorgenommener Veranlagunsakte, wenn ein Tatsachenfehler vorliegt. Diese normative Situation würde zum Verständnis führen, dass die frühere Position der Verwaltung innerhalb der Verwirkungsfrist und mit Wirkung für den gesamten Zeitraum revidiert werden kann. Selbst in diesem Fall wären einige Anpassungen vorzunehmen. Erstens kann sich die Änderung der Ansicht der Verwaltung, sei es in Bezug auf die bis zu diesem Zeitpunkt geübte Praxis, sei es in Bezug auf die schon vorgenommenen Veranlagungen, nur auf Tatsachenfehler, nie aber auf Rechtsfehler beziehen404. Wenn die Verwaltung aus irgendeinem Grund zur Überzeugung gelangt, dass das Gesetz unrichtig angewendet worden ist, kann sie ihre Auslegung nur für die Zukunft ändern, nicht für die Vergangenheit, auch in Ansehung einer Bestimmung von Art. 146 der nationalen Abgabenordnung. Zweitens kann es, wenn die Lage sich in der Zeit wiederholende Situationen beinhaltet und die Verwirkungsfrist im Hinblick auf einen Zeitraum schon abgelaufen ist, passieren, dass der Steuerzahler über seine Freiheits- und Eigentumsrechte aufgrund einer früheren Bewertung der Verwaltung disponiert hat. In diesem Fall kann es, falls andere das Fehlen der Bindungsnatur der Verwaltungspraxis kompensierende Elemente vorliegen, einen Vertrauensschutz im Fall von Verwaltungspraktiken angesichts sich wiederholender Situationen geben405. Andernfalls müsste man ja zugeben, dass über Jahrzehnte hindurch nie erhobene Abgaben plötzlich in Bezug auf die letzten fünf Jahre erhoben werden könnten, was in krassem Widerspruch zu den Idealen der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts stünde.406

403 Art. 149. Die Veranlagung wird vorgenommen und von Amts wegen durch die Verwaltungsbehörde in folgenden Fällen revidiert: […] IV – falls in Bezug auf irgendein in der Abgabengesetzgebung als obligatorisch anzumelden bestimmtes Element Falschheit, Fehler oder Unterlassung nachgewiesen wird […]. 404 Sacha Calmon Navarro Coêlho, Curso de Direito Tributário, 9. Aufl., S. 761. 405 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 739. 406 In Deutschland werden diese Themen u. a. im Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) detailliert geregelt.

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(β) Verwaltungsverträge Im selben Sinn löst ein Vertrag oder eine Vereinbarung, die mit dem Steuerzahler zum Zweck der Gewährung einer steuerrechtlichen Vergünstigung abgeschlossen wird, sei es in einem Sonderregime zur Bezahlung von Abgaben oder zur Erfüllung von Nebenverpflichtungen, sei es sogar zur Gewährung einer Freistellung, einer Herabsetzung der Bemessungsgrundlage oder der Gewährung eines fiktiven Steuerkredits, eine geringere Schutzwürdigkeit aus: der Steuerzahler weiß oder muss wissen, dass ein Vertrag keine steuerrechtliche Vergünstigung gewähren kann; nur das Gesetz kann dies bewirken, wie Art. 150 I § 6 der CF/88 ausdrücklich vorsehen, weshalb das Handeln des Steuerzahlers eine größere Verantwortung und ein erhöhtes Risiko beinhaltet. Trotzdem sind folgende Anpassungen vorzunehmen: erstens ist festzustellen, dass die in Art. 150 I § 6 der CF/88 vorgesehenen Regeln Schutzzwecke gegen die rechtsbeschränkende Staatstätigkeit enthalten. In der Tat dient die Regel der Gesetzmäßigkeit, die in die Sektion der „Beschränkungen der Besteuerungsgewalt“ eingefügt ist, dem Steuerzahler als Instrument zur Abwehr der einschränkenden Staatstätigkeit, die durch Abgaben einführende Gesetze ausgeübt wird. Sie bezieht sich nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, auf die lenkende und kooperative Staatstätigkeit, die durch Gesetze erfolgt, deren Zweck die Lenkung des Steuerzahlers ist, oder durch Verträge, deren Ziel darin besteht, den Steuerzahler als Instrument der Umsetzung von public policies durch die Gegenleistung in Form von Steuervergünstigungen zu verwenden. Und die Regel, die eine lex specialis für die Gewährung von Steuervergünstigungen fordert, gleichfalls in den Abschnitt „Begrenzungen der Besteuerungsgewalt“ eingefügt, obwohl sie unmittelbar auf die Gewährung einer jeglichen Vergünstigung durch einen Verwaltungsakt oder -vertrag anwendbar ist, besteht in einer allgemeinen Regel und bezweckt die Verhinderung der Gewährung ungerechtfertigter Vorteile an bestimmte Steuerzahler zu Lasten anderer, ohne jeglichen Bezug auf eventuell in konkreten Situationen vorliegende Elemente wie z. B. Entgeltlichkeit und Gegenseitigkeit. Zu erinnern ist außerdem daran, dass eine entgeltliche und zweiseitige Steuervergünstigung den Gleichheitssatz nicht so intensiv verletzt, insofern der begünstigte Steuerzahler kein Recht auf die Vergünstigung hat, es sei denn aufgrund der Erfüllung bestimmter Pflichten. Deshalb ist die nicht auf andere Steuerzahler, die keine gleichen Dispositionsakte verübt haben und nicht von der Umsetzung des Vertrags abhängen, ausdehnbare ungleiche Behandlung konkret zu rechtfertigen407. Zweitens sind nicht nur die Wirkungen zu berücksichtigen, die diese Verträge bei der Ausübung der Freiheits- und Eigentumsrechte hervorrufen können, sondern auch ihre Beziehung zur Erreichung von Staatszwecken408. Wenn z. B. der 407

Elke Gurlit, Verwaltungsvertrag und Gesetz, S. 392. Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 355; Almiro do Couto  e Silva, Problemas jurídicos do planejamento, in: RDA 170 (1987), S. 14. 408

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Vertrag entgeltlich und befristet ist, bilateral und synallagmatisch statuierte Verpflichtungen beinhaltet und wiederholt durch die Verwaltung erfüllt worden ist, kann er nicht einfach rückabgewickelt werden und es muss selbst seine Kündigung in Ansehung der Pflicht des Fortbestands der Rechtsordnung mit Übergangs- und Anpassungsregeln geprüft werden, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, da in diesem Fall das Fehlen eines Elements (Bindungscharakter) durch die Anwesenheit anderer Elemente (Lenkungscharakter, Entgeltlichkeit, Bilateralität) kompensiert wird. Die vorstehenden Bemerkungen wollen nicht belegen, dass steuerliche Vergünstigungen durch ein anderes Instrument als das Gesetz gewährt werden können. Sie sollen nur aufzeigen, dass es Situationen geben kann, in denen, da die Vergünstigung nicht vermittels eines Gesetzes gewährt worden ist, bedeutende konkrete Wirkungen hinsichtlich der Freiheit und des Eigentums des Steuerzahlers verursacht wurden konnten, die ausnahmsweise die gewährten Beibehaltung der Vergünstigung und eventuell die Einführung von Übergangsregeln nach der Forderung ihrer Abschaffung rechtfertigen können. Obwohl der Staat die Freiheit hat, public policies zu konkretisieren, geht er, nachdem er dies einmal getan hat, dazu über, sich an seine frühere Tätigkeit zu binden, von der er sich nicht einfach entfernen kann409. (dd) Untätigkeit der Verwaltung In einigen Situationen kann der Steuerzahler, obwohl die Verwirkungsfrist noch nicht abgelaufen ist, aufgrund einer konkludenten Staatstätigkeit in dem Sinn, dass der Staat nicht eine bestimmte Abgabe einführen werde, gehandelt haben. In dieser Situation, und ganz ausnahmsweise, kann man von Vertrauensschutz des Steuerzahlers sprechen, der intensiv aufgrund einer unterlassenden Erklärung des Staates handelt. Die deutsche Rechtswissenschaft nennt dies Verwirkung410. Man bemerke, dass es in dieser Situation kein Hindernis für den Staat gibt, seine Macht allgemein auszuüben. Es gibt etwas anderes: in den Fällen, in denen der Steuerzahler seine Freiheits- und Eigentumsrechte tatsächlich und intensiv ausgeübt hat, zufällig gebunden an einen eindeutigen Staatsakt in dem Sinn, dass eine bestimmte Abgabe nicht erhoben würde, darf der Staat nicht das Vertrauen des Steuerzahlers einschränken, wenn er nicht den Grundsatz des Schutzes von Treu und Glauben in der Fallgruppe des Verbots von venire contra factum proprium

409 Joachim Burmeister, Selbstbindung der Verwaltung. Zur Wirkkraft des rechtsstaatlichen Übermaßverbots, des Gleichheitssatzes und des Vertrauensschutzprinzips, in: DÖV 34 (1981), S. 506. 410 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 791; Andreas Menzel, Grundfragen der Verwirkung dargestellt insbesondere anhand des Öffentlichen Rechts, S. 2 ff.; Johannes Beermann, Verwirkung und Vertrauensschutz im Steuerrecht, S. 85 ff.

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und damit das Prinzip der Sittlichkeit der Verwaltung verletzen will411. Der Staat kann nicht mit einer Hand geben und mit der anderen nehmen, ohne in einen unzulässigen Widerspruch zu verfallen412. (ee) Schlussbetrachtungen Alle vorstehenden Bemerkungen sollen besagen, dass man die Wirkungslosigkeit eines Verwaltungshandelns nicht aus der einfachen Tatsache heraus verordnen kann, dass sie in formaler Perspektive rechtswidrig ist. Da die auf das staatliche Handeln bezogenen Grundrechte und Grundprinzipien die Fundamente der reflexiven Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips sind, ist der bloß staatliche und normative Standpunkt zugunsten einer Sichtweise zu überwinden, die auf die Disposition der Steuerzahler und das seriöse, gesetzesmäßige und gerechtfertigte Handeln der Verwaltung gegründet ist. So können Akte, die ihre zukünftige Änderung anzeigen, aufgrund des Inhalts (Akte mit Änderungsvorbehalt, experimenteller oder exzeptioneller Natur), der Notwendigkeit der Regelung oder der Häufigkeit, mit der sie normalerweise geändert werden, selbst wenn der Steuerzahler mit ihrer Änderung rechnen kann, ausnahmsweise den Schutz des Vertrauens rechtfertigen, falls andere den mangelnden Anspruch auf Beständigkeit der Grundlage kompensierende Elemente vorliegen. Akte, die bloß Handlungsbedingungen statuieren, aber den Steuerzahler nicht zum Handeln induzieren, obwohl sie ihm das Risiko des Handelns zuschreiben, können auch, obwohl begrenzt, Gegenstand des Schutzes sein, falls die Einzelverantwortung der Privatperson minimierende Elemente vorliegen. Akte, die den Steuerzahler zum normalen Handeln induzieren, sind in hohem Maß schutzwürdig, mehr noch diejenigen, welche bilaterale Verpflichtungen mit dem Staat schaffen, angesichts der Einschränkung, die sie der Ausübung der Freiheit und des Eigentums verursachen, selbst wenn sie unter einem Formfehler leiden413. In diesem neuen normativen Rahmen gibt es keinen Raum mehr für den sog. „Grundsatz der freien Rücknahme gesetzwidriger Verwaltungsakte“, demzufolge die Verwaltung ihre Akte aufheben oder abändern kann, nach Kriterien der Zweckdienlichkeit und Opportunität, unabhängig von einem anderen Element. Obwohl der Staat die Kompetenz zur Revision seiner Akte hat, darf er nicht jede Revision vornehmen: Rücknahmen oder Widerrufe, die Dispositionen der Steuerzahler auf intensiv ungünstige Weise betreffen, können nur vermittels einer Abwägung zwischen den verschiedenen den konkreten Fall prägenden Elementen gerechtfertigt

411 Jesus Gonzales Perez, El principio general de la buena fe en el Derecho Administrativo, 2. Aufl., S. 144 ff.; Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 452. 412 Christoph Engel, Planungssicherheit für Unternehmen durch Verwaltungsakt, S. 9. 413 Martin Stötzel, Vertrauensschutz und Gesetzesrückwirkung, S. 159.

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werden. Man muss also die Diskussion einer uneingeschränkten Kompetenz der Verwaltung zur Revision ihrer eigenen Akte zugunsten dessen verschieben, was man, in einer Verbindung der Verwaltungstätigkeit mit der Achtung der Ausübung der Freiheit der Privatperson, den Grundsatz der achtenden Verwaltung nennen könnte. (f) Vertrauensschutz und Judikative: die Rechtsprechungsänderung (aa) Einleitende Betrachtungen Man kann das Problem der Änderung der Rechtsprechung aus verschiedenen Blickrichtungen angehen. Erstens stellt sich die Frage, ob die Judikative an ihre eigenen Präzedenzentscheidungen gebunden bzw. nicht gebunden ist und damit ihre Auffassung ändern oder nicht ändern darf. Zweitens ist zu prüfen, wie die Judikative ihre Auffassung ändern darf, falls sie sie ändern darf, ob plötzlich oder nur sanft, mit Übergangsregeln oder Billigkeitsklauseln. Drittens ist zu prüfen, mit welchen Wirkungen die Änderung der Auffassung erfolgen darf, ob rückwirkend und retrospektiv oder nur prospektiv. Jede dieser Fragen beinhaltet eine Reihe anderer Fragen, deren Beantwortung schwer fällt. Die erste und zweite Frage sollen im Kapitel über die Berechenbarkeit des Rechts beantwortet werden, in dem der Rhythmus der Veränderung im Recht untersucht wird. Dort wird deutlich werden, dass das Gleichheitsprinzip, von dem das Prinzip der zeitlichen Kohärenz abgeleitet wird, von der Judikative die Bindung an ihre Präzedenzfälle fordert, es sei denn, sie könnte deren Änderung rechtfertigen. Falls die frühere Entscheidung sich für eine Bedeutung der gesetzlichen Bestimmung entschieden hat, gibt es nur zwei einander ausschließende Alternativen: entweder war sie korrekt, dann ist bei einem ähnlichen Fall die gleiche Entscheidung zu fällen, oder sie war nicht korrekt, dann muss sie aus diesem Grund geändert werden. Dies bedeutet, dass die Bindung an juristische Präzedenzfälle sich aus dem Gleichheitsprinzip selbst ergibt: wo gleiche Sachverhalte vorliegen, sind auch gleiche Entscheidungen zu fällen, vorbehaltlich einer Rechtfertigung der Rechtsprechung, die dann ordnungsgemäß Gegenstand einer strengeren Begründung sein muss. Deshalb sagt man, dass Präzedenzentscheidungen eine vermutete oder subsidiäre Kraft haben414. Das soll besagen, dass die Judikative, obwohl sie an ihre Präzedenzentscheidungen gebunden ist, durchaus ihre Orientierung ändern kann, sofern sie dies auf begründete Weise und unter Beachtung der Positionen bewerkstelligt, sie vorher unter der damals verkündeten Orientierung konsolidiert worden sind. Sie darf sich ändern, sofern sie dies auf strukturierte oder sanfte Weise tut, dank der Pflicht zur Achtung von früheren Entscheidungen und der Notwendigkeit, den

414

Lorenz Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, S. 19.

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Wandel zu bremsen415. Das Rechtssicherheitsprinzip ist genau das Kriterium, an dem diese Bewertung sich ausrichtet416. An sich kann der Wandel der Rechtsprechung gut sein: er kann ein besseres Verständnis der Materie seitens der Judikative offenbaren; er kann in früheren Entscheidungen produzierte Missverständnisse berichtigen; er kann einen vorher nicht ordentlich bewerteten Sachverhalt oder ein Argument bewerten. Molfessis drückt dies folgendermaßen aus: „der Rechtsprechungswandel ist das Zeichen der Vitalität des Rechts, das Signal seiner Anpassung an die Tatsachen. Ein Recht ohne Rechtsprechungswandel […] wäre im Grunde ein völlig verkalktes Recht.“417 Lord of Birkenhead formuliert das Problem auf meisterhafte Weise wie folgt: „Starre bei der Handhabung eines Gesetzsystems ist ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke. Sie beraubt das Gesetzsystem der notwendigen Biegsamkeit. Weit entfernt davon, ein verfassungsrechtlich exemplarisches Ergebnis zu erzielen, produziert sie ein Gesetzsystem, das unfähig ist, in Zeiten des Wandels tatsächlich zu funktionieren. ‚Never say never‘ ist eine weise Gerichtsregel, im Interesse aller Bürger des Landes.“418 Das Rechtssicherheitsprinzip selbst erfordert nicht Unbeweglich­ keit und schließt folglich den Wandel der Rechtsprechung nicht aus419. Das Pro­ blem ist aber nicht der Wandel an sich, sondern seine Wirkung. Überrascht er den Einzelnen, der seine Freiheits- und Eigentumsrechte intensiv ausgeübt hat, indem er seinem Bestand vertraute und vertrauen durfte, kann der Orientierungswandel beträchtliche negative Wirkungen hervorrufen. Daher sucht man, um hier auf eine Formulierung von Machado Derzi zurückzugreifen, die „Beständigkeit im Wandel“420. Im Rahmen des Abgabenrechts kann der Wandel der Rechtsprechung den Steuerzahler, der im Vertrauen auf die Beibehaltung der früheren Entscheidung gehandelt und alle seine wirtschaftlichen Entscheidungen im Rahmen der früheren Norm umgesetzt hat, unvorteilhaft beeinträchtigen. Die Anwendung der neuen Auffassung auch auf diese Fälle verursacht grundrechtseinschränkende Wirkungen: da die freiwillig erfolgten Akte von einem Wirtschaftskalkül ausgingen, das auf der aufgegebenen Rechtsprechung beruhte, erzeugt die Anwendung der neuen Auffassung auf diese Akte nicht nur ein Gefühl der Ungerechtigkeit, sondern auch ein Gefühl des Unglaubens gegenüber dem Recht. Da die vorher bestehende 415 Isabelle Rorive, Le Revirement de Jurisprudence, S. 498; Paul Kirchhof, Kontinuität und Vertrauensschutz bei Änderungen der Rechtsprechung, in: DStR 27 (1989), S. 268. 416 Dieter Medicus, Neues zur Rückwirkung von Rechtsprechung, in: WM 1997, S. 2336. 417 Nicolas Molfessis (Hrsg.), Les revirements de jurisprudence. Rapport remis à Monsieur le Premier Président Guy Canivet, S. 14. 418 National Westminster Bank plc. v. Spectrum Plus Limited and others apud WATT, H ­ oratia Muir. „Never say never“: post-scriptum comparatif sur la rétroactivité des revirements de jurisprudence, in: Seiller, Bertrand. (Hrsg.), La rétroactivité des décisions du juge administratif, S. 61. 419 Christine Lübbe, Grenzen der Rückwirkung bei Rechsprechungsänderungen, S. 41. 420 Misabel de Abreu Machado Derzi, Princípio da segurança jurídica, in: RDT 64 (o. J.), S. 186.

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Orientierung der Rechtsprechung, der der Steuerzahler vertraut hat, aufgegeben worden ist, wird der Steuerzahler dazu neigen, sich erneut an einer anderen Auslegung der Rechtsprechung zu orientieren, in der Befürchtung, dass auch diese in Zukunft aufgegeben werden kann421. Anders gewendet, provoziert die Änderung der Rechtsprechung ein Defizit der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung: falls die frühere Ansicht der Rechtsprechung nicht beibehalten wird, wird der Steuerzahler überrascht und enttäuscht werden, und diese Überraschung und Enttäuschung erschüttern die Vorstellungen von Stabilität und Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung; falls die frühere Ansicht der Rechtsprechung aufgegeben wird, wird die zukünftige Orientierung der Rechtsprechung infolge des Misstrauens in ihre Gestaltung nicht mehr berechenbar sein. Der Mangel an Schutz der (vergangenen) Verlässlichkeit kompromittiert die (zukünftige) Berechenbarkeit des Rechts. Sehr gut beleuchtet diesen Aspekt das Votum des Bundesrichters Celso de Mello in der einstweiligen Verfügungssache Nr. 1.886, das einen allgemeinen Verweis auf die Änderung der Rechtsprechung enthält: „Diese von abweichenden Entscheidungen gekennzeichnete Situation, vor allem da sie sich im Rahmen der Judikatur dieses obersten Gerichts äußert, kompromittiert einen Wert, der für die Stabilität der Beziehungen zwischen Staat und Steuerzahler wesentliche Bedeutung hat und erzeugt einen Zustand, der mit der Forderung nach Rechtssicherheit unvereinbar ist und ein noch gravierenderes Ausmaß erhält, da er sich in der Bearbeitung einer steuerrechtlichen Materie herausbildet, wo die immer strukturell so ungleichen Beziehungen zwischen Staat und Bürgern allgemein so deutliche Konturen annehmen.“422

Wie wir jedoch noch später zeigen werden, kann nicht jede Änderung der Rechtsprechung tatsächlich „Wandel“ genannt werden; nicht jeder Wandel ist rückwirkend, nicht alle Veränderungen mit rückwirkenden Folgen können sich auf das Vertrauensschutzprinzip berufen, wie jetzt darzulegen sein wird. (bb) Begriff der Rechtsprechungsänderung Obwohl es trivial anmutet, enthält die Definition von „Rechtsprechungsänderung“ eine Reihe von Schwierigkeiten. Erstens ist „Veränderung“ von anderen ähnlichen Phänomenen zu unterscheiden. In diesem Sinn wird hier gefragt: kann man von „Veränderung“ sprechen, wenn eine Meinungsverschiedenheit im Gericht aufbricht? Etwa wenn die Judikative aufgrund neuer Kriterien eine neue, bis zu diesem Zeitpunkt nicht bestehende dogmatische Argumentationsfigur entwickelt, oder wenn sie einen Fehler in einer früheren Entscheidung feststellt und bereinigt, oder wenn sie einen unbestimmten Rechtsbegriff konkretisiert und zum ersten Mal seine Extension bestimmt, wenn sie infolge eines neuen Rechtsregimes eine Entscheidung fällt, die früheren Entscheidungen widerspricht, oder wenn sie sich 421 Nicolas Molfessis (Hrsg.), Les revirements de jurisprudence. Rapport remis à Monsieur le Premier Président Guy Canivet, S. 16. 422 AC – QO Nr. 1.886, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Celso de Mello, DJe 07. 11. 08.

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einer früheren, noch nicht rechtskräftig gewordenen Entscheidung widersetzt? Diese und andere Fragen mögen ausreichen, um zu zeigen, dass der Begriff der „Rechtsprechungsänderung“ von benachbarten Figuren wie Korrektur, Klärung, Spezifizierung, Entwicklung, Ergänzung, Abweichung, Konkretisierung und Erneuerung zu unterscheiden ist. Zweitens ist die „Rechtsprechungsänderung“ auch im Kontext der Judikative abzugrenzen. Hier stellen sich andere Fragen: liegt eine „Rechtsprechungsänderung“ vor, wenn das Urteil eines erstinstanzlichen Richters eine von einem anderen Richter abweichende Auffassung erkennen lässt? Liegt sie vor, wenn das Urteil des Obersten Gerichts eines Bundesstaats die Auffassung einer bestimmten Zivilkammer über eine bestimmte Materie abändert? Liegt sie vor, wenn eine Sektion des Obersten Gerichtshof der Justiz ihre Auffassung einer bestimmten Materie ändert, selbst wenn diese verfassungsrechtliche Fragen einbezieht? Drittens ist es unumgänglich, die „Rechtsprechungsänderung“ angesichts der Natur der Änderungsentscheidung zu bestimmen. Hier stellen sich neue Fragen: liegt eine „Rechtsprechungsänderung“ vor, wenn der erstinstanzliche Richter eine vorher erlassene einstweilige Verfügung aufhebt? Liegt sie dann vor, wenn das Gericht eine erstinstanzliche Entscheidung aufhebt? Oder wenn, um einen Schritt weiter zu gehen, der Oberste Bundesgerichtshof eine letztinstanzliche Entscheidung fällt, die mit der Auffassung des Obergerichtshofs der Justiz unvereinbar ist? Diese drei Argumentationsachsene und die vorher gestellten Fragen geben schon den für die Definition von Rechtsprechungsänderung notwendigen Weg vor: diese liegt nur dann vor, „wenn eine Gerichtsentscheidung von einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung zur selben Frage erstmalig abweicht“423. Kurz, nicht jede Änderung ist schon eine „Rechtsprechungsänderung“. Erstens müssen zwei konfligierende Entscheidungen über denselben Gegenstand vorliegen. Diese Bemerkung ist trivial und trotzdem wichtig. Wenn zwei Entscheidungen keine identischen Gegenstände haben, lässt sich behaupten, dass sie unterschiedlich, aber im strengen Sinn nicht gegensätzlich sind. Dies erklärt beispielsweise, warum der Oberste Bundesgerichtshof in der Bearbeitung des außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens (Recurso Extraordinário) Nr. 370.682-0 den Vorschlag der Variation der Wirkungen seiner Entscheidung abgelehnt hat424. Der Richter Ricardo Lewandowsky machte damals eine Rechtsprechungsänderung geltend: bei der Bearbeitung des Recurso Extraordinário Nr. 212.484 habe das Gericht sich über das Recht auf Gutschrift der Steuer auf Industrieerzeugnisse beim Kauf steuerfreier, nicht oder zu 0 % besteuerter Betriebsmittel ausgesprochen425; da es bei der Begründetheitsprüfung des außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens Nr. 370.682-9 das Recht auf Gutschrift der Steuer beim Einkauf nicht oder zu 0 % 423

Lorenz Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, S. 25. RE Nr. 370.682-9, Plenum, Berichterstatter: Richter Ilmar Galvão, DJ 19. 12. 07. 425 RE Nr. 212.484, Plenum, Berichterstatter für das Urteil: Richter Nelson Jobim, DJ 27. 11. 98. 424

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besteuerter Betriebsmittel verneint habe, liege eine „Rechtsprechungsänderung“ vor; aus diesem Grund müsse das Gericht Entscheidungswirkungen ex tunc ausschließen, um nicht diejenigen Steuerzahler zu schädigen, „die der von früheren Entscheidungen des Gerichts in gleich gelagerten Fällen signalisierten Rechtsprechuntstendenz vertraut hätten“ (S. 506 des Urteils). Das Gericht erklärte jedoch, dass die früheren Entscheidungen die Gutschrift im Fall des Kaufs nicht oder zu 0 % besteuerter Betriebsmittel nicht erörtert hätten, sonden nur die Gutschrift im Fall des Kaufs steuerfreier Betriebsmittel. Anders formuliert und im Hinblick auf das, was uns hier interessiert, hat das Gericht die „Rechtsprechungsänderung“ ausgeschlossen, da es der Auffassung war, dass die „ändernde Entscheidung“ und die „geänderte Entscheidung“ nicht denselben Gegenstand hatten. Hier ist festzuhalten, dass man nur von Rechtsprechungsänderung sprechen kann, wenn zwei widersprüchlich wirksame Entscheidungen über dieselbe Rechtsfrage vorliegen, wobei unter diesen Entscheidungen diejenigen zu verstehen sind, welche dieselbe Grundlage und dieselbe faktische Situation aufweisen. Wenn es also eine Änderung der Normgrundlage für die Entscheidung gibt, kann man strenggenommen nicht von Rechtsprechungsänderung sprechen. So kam beispiels­ weise 1997 der Oberste Bundesgerichtshof in der Bestätigung einer alten Auffassung zum Schluss, dass die wahre Natur der kommunalen Grundsteuer mit der sich aus der Beitragsfähigkeit des Steuerzahlers ergebenden Steuerprogression unvereinbar wäre426. Kürzlich hat das Gericht die Steuerprogression als Mittel zur Gewährleistung der soziale Funktion des Eigentums zugelassen427. Inzwischen ist aber die Verfassungsänderung Nr. 29/00 angenommen worden. Sie hat die Änderung des Steuersatzes nach Maßgabe der Lage und des Verwendungszwecks der Liegenschaft zugelassen. Damit wurde die normative Grundlage des Problems zwischen der ersten und zweiten Entscheidung geändert. Und wenn es eine Änderung der faktischen Lage gibt, kann man im strengen Sinn auch nicht von Rechtsprechungsänderung reden. So hat das Gericht 2002 in Bezug auf die Notwendigkeit eines Gesetzes zur Normierung der Ausübung des Streikrechts von Beamten beschlossen, dass es eines Gesetzes bedürfe, und diesbezüglich die Unterlassung der Legislative festgestellt.Diese Unterlassung könne jedoch nicht vom Gericht kompensiert werden, weshalb dieses sich folglich auf die Unterrichtung des Gesetzgebers zwecks Bescheinigung der Unterlassung beschränken müsse428. Im Jahr 2007 gelangte das Gericht zur Auffassung, dass die Bestimmungen des Streikgesetzes (Gesetz Nr. 7.783/89), welche die Ausrufung von Streiks von Arbeitnehmern aus privatwirtschaftlichen Unternehmen normieren, auch für den Streik in staatlichen Organisationen gelten429. In der Zwischenzeit 426

RE Nr. 153771, Plenum, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, DJ 05. 09. 97. RE Nr. 423768, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ  – noch nicht ver­ öffentlicht. 428 MI Nr. 485/MT, Plenum, Berichterstatter: Richter Maurício Correa, DJ 25. 04. 02. 429 MI Nr. 670/ES, Plenum, Berichterstatter: Richter Maurício Correa, Redator para Acórdão Ministro Gilmar Mendes, DJ 25. 10. 07. 427

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hatte sich jedoch die Legislative einer Unterlassung über einen längeren Zeitraum schuldig gemacht und das Streikrecht im öffentlichen Dienst nicht geregelt, weshalb der Oberste Bundesgerichtshof beschloss, die vorliegende Gesetzgebung per analogiam anzuweden. Die Situation änderte sich zwischen der früheren und der späteren Entscheidung. Zweitens muss die „geänderte Entscheidung“ rechtskräftig sein oder zumindest halbwegs Orientierungswirkungen produziert haben. Vorher kann man strenggenommen nicht von Änderung sprechen: geändert wird nur, was schon gefestigt ist, nicht was sich noch nicht durchgesetzt hat. Das Gegenteil anzunehmen würde bedeuten, dass es eine Änderung des Ergebnisses eines Fußballspiels gegeben habe, weil die in der ersten Halbzeit gewinnende Mannschaft das Spiel mit der Umkehrung des Ergebnisses in der zweiten Halbzeit verloren hat. Deshalb sagt man, dass es nur dann eine Änderung gibt, wenn eine spätere gerichtliche Änderungsentscheidung sich von einer anderen wirksamen Ausgangsentscheidung über dieselbe Materie entfernt430. Es ist notwendig, dass die orientierende Entscheidung schon nicht mehr durch ordentliche Rechtsbehelfe angegriffen werden kann431. Deshalb kann man nicht von „Rechtsprechungsänderung“ sprechen, wenn der Oberste Bundesgerichtshof über dieselbe Frage anders als bei seinen früheren, allerdings noch nicht rechtskräftigen Entscheidungen entscheidet. Man kann auch nicht von „Änderung“ sprechen, wenn der Oberste Bundesgerichtshof in der Bearbeitung eines außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens (Recurso Extraordinário) eine frühere Entscheidung des Obergerichtshofs der Justiz abändert, die in einem noch nicht rechtkräftigen besonderen Rechtsmittelverfahren (Recurso Especial) gefällt worden ist, weil die frühere Entscheidung provisorisch ist und man wegen der Möglichkeit einer Revision noch nicht wissen kann, ob sie bestätigt wird432. Man kann jedoch von „Änderung“ sprechen, wenn dasselbe Gericht eine Entscheidung über die gleiche Materie mit einem von einer früheren schon rechtskräftigen Entscheidung unterschiedlichen Inhalt fällt. So kann man von Rechtsprechungsänderung dann sprechen, wenn dasselbe Gericht in der Zeit verschiedene Entscheidungen fällt und die „abgeänderte Entscheidung“ schon stabilisierende Wirkungen gezeitigt hat. Eben deshalb hat der Oberste Bundesgerichtshof in dem Fall, in dem geprüft wurde, ob die Anschaffungen von Betriebsmitteln, die zu 0 % oder nicht besteuert wurden, einen Anspruch auf Gutschrift der Steuer über Industrieerzeugnisse begründeten, prospektive Wirkungen dieser Entscheidung verneint433. In diesem oben genannten außerordentlichen Rechtsmittelverfahren (Recurso Extraordinário) prüfte das Gericht im Rahmen der Technik der Nichtkumulativität, ob die Anschaffungen von zu 0 % oder nicht besteuerten Betriebsmitteln einen Anspruch auf 430

Lorenz Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, S. 25. Michael Scheffelt, Die Rechtsprechungsänderung. Ein Beitrag zu methodischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen und zur Anwendung der Ergebnisse im Verwaltungsrecht, S. 52. 432 Lorenz Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, S. 47. 433 RE Nr. 370.682-9, Plenum, Berichterstatter: Richter Ilmar Galvão, DJ 19. 12. 07. 431

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Gutschrift der Steuer über Industrieerzeugnisse für die nächste Etappe des Wirtschaftszyklus begründeten. Mit knapper Mehrheit (6 gegen 5 Stimmen) erkannte das Gericht, dass dieser Anspruch nicht begründet war. Am Ende der Sitzung brachte der Richter Ricardo Lewandowsky jedoch das Problem der Variation der Entscheidungswirkungen zur Sprache, gerade im Hinblick auf die frühere Tendenz des Gerichts, den Anspruch auf Gutschrift bei Anschaffungen von zu 0 % besteuerten Betriebsmitteln anzuerkennen, auf der angeblich im außerordentlichen Rechtsmittelverfahren Nr. 212.484 für die steuerfreien Produkte festgelegten Interpretationslinie434. Die Rechtsgrundlage des Vorschlags zur Variation der Entscheidungswirkungen sei der Schutz der Rechtssicherheit gegen die angebliche „Rechtsprechungsänderung“. Lewandowsky hielt es für „angemessen, zu vermeiden, dass ein plötzlicher Richtungswechsel den Steuerzahlern, die ihre Handlungen an der bisher vorherrschenden Auffassung des Gerichts orientiert haben, Schaden bringt“. Aus diesem Grund sei es angebracht, „die einschlägigen Entscheidungen mit prospektiven Wirkungen auszustatten, um den Steuerzahlern, die der in früheren Entscheidungen dieses Gerichts über diese Materie signalisierten Rechtsprechungstendenz vertraut haben, keine schweren Belastungen aufzubürden, mit allen negativen Folgen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich“ (S. 506 des Urteils). Mit zehn Stimmen gegen eine hat das Gericht jedoch die Zuschreibung prospektiver Wirkungen an die Entscheidung abgelehnt, da es der Auffassung war, dass es strenggenommen seine Rechtsprechung über den Anspruch auf Gutschrift bei der Anschaffung von zu 0 % oder nicht besteuerten Betriebsmitteln nicht geändert habe: die Entscheidungen in Berufungsverfahren, in denen diese Frage erörtert worden war – außerordentliche Rechtmittelverfahren Nr. 350.446-1, Nr. 353.668-1 und Nr. 358.493-6 – waren nicht rechtskräftig geworden, weshalb man nicht von Änderung einer niemals zustandegekommenen Rechtsprechung sprechen könne. Der Richter Eros Grau hat dies wie folgt ausgedrückt: „Es gab in diesem Fall keine Änderung der Rechtsprechung dieses Gerichts, da die Rechtsprechung nicht zustandegekommen war“ (S. 536 des Urteils). Zu diesem Schluss kam das Gericht, da es der Auffassung war, dass das Bundesfinanzamt sich niemals mit der gewählten, aber nicht zustandegekommenen Auslegung in der Bearbeitung der außerordentlichen Rechtmittelverfahren Nr. 212.484 und Nr. 357.277, in denen der Anspruch auf Gutschrift im Fall der zu 0 % besteuerten Betriebsmittel gewährleistet worden war, abgefunden hatte. Obwohl es Divergenzen in Bezug darauf gab, ob diese Sitzungen sich mit der Gutschrift in den Fällen der nicht oder zu 0 % besteuerten Geschäftsabschlüssen befasst hatten, schloß das Votum des Richters Sepúlveda Pertence die Variation der Entscheidungswirkungen aufgrund der Tatsache aus, dass das Problem niemals zum Abschluss (wörtlich: sedimentiert) gekommen sei: „Seitdem kann man schon nicht mehr von sedimentierter Rechsprechung sprechen. Das Bundesfinanzamt hat das Thema nie zum Verschwinden gebracht, und das Schicksal dessen, was ich nicht als Kehrtwendung der Rechtsprechung, sondern als Umkehrung eines Präzedenzfalls bezeichnen würde, trat ein wegen der Änderung 434

RE Nr. 212.484, Plenum, Berichterstatter für das Urteil: Richter Nelson Jobim, DJ 27. 11. 98.

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der Auffassung des Gerichts und der langen erneuten Diskussion dieses Themas in diesen Fällen, in denen heute die Inzidenzfrage aufgeworfen wird.“ Das Gericht entschied also, dass die einzige rechtskräftige Entscheidung (außerordentliches Rechtsmittelverfahren Nr. 212.484) sich nur auf steuerfreie Betriebsmittel bezogen hatte. Die anderen Entscheidungen, deren Gegenstand zu 0 % oder nicht besteuerte Betriebsmittel waren (außerordentliche Rechtsmittelverfahren Nr. 353.657 und Nr. 370.682), seien nicht rechtskräftig geworden. Angesichts dessen könnte man nicht von „Rechtsprechungsänderung“ sprechen. Außerdem hatte der Richter Marco Aurélio in einer Bemerkung, die von den Richtern Carlos Brito und Sepúlveda Pertence übernommen wurde, auf ein anderes Hindernis zur Anwendung der Bestimmung hingewiesen, welche die Zuschreibung prospektiver Wirkungen an die Entscheidung erlaubt: „Die Anwendung verlangt eine Verfassungswidrigkeitserklärung des Gesetzes oder einen normativen Akt. In diesem Fall ist kein einziges Mal die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes oder normativen Akts erklärt worden“ (S. 513 der Entscheidung). In dem damals bearbeiteten Fall hatte das Gericht statt der Erklärung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes oder normativen Akts seine Verfassungsgemäßheit erklärt. Aus all diesen Gründen hat es die Variation der Entscheidungswirkungen abgelehnt. Das Gericht hat also die Zuschreibung prospektiver Wirkungen an die Entscheidung verneint, da es der Auffassung war, dass keine Rechtsprechungsänderung in der Frage des Anspruchs auf eine Gutschrift bei der Anschaffung von zu 0 % oder nicht besteuerten Betriebsmitteln erfolgt war, aus dem einfachen Grund, dass keine der „abgeänderten Entscheidungen“ rechtskräftig geworden war. Wir zitieren an dieser passenden Stelle die Worte des Richters Eros Grau: „Wie soll man so von der Änderung einer Rechtsprechung, die niemals festgelegt worden ist, sprechen? Das wäre ja echter Nonsense. Man kann nicht ändern, was nicht endgültig durch dieses Gericht festgelegt worden ist. Das Argument, dass es ‚eine nicht kontroverse Rechtsprechung‘ selbst dann gibt, wenn Entscheidungen nicht rechtskräftig geworden sind – und keine dieser Entscheidung wurde rechtskräftig – ist fast naiv. Wahrheitskräftig ist die Rechtskraft, deren Autorität, wenn wiederholt, die Rechtsprechung konstituiert. In diesem Fall gab es keine Rechtsprechungsänderung an diesem Gericht, da sie – diese Rechtsprechung – nicht festgelegt worden war.“ (S. 536 der Entscheidung)

Der Richter Marco Aurélio de Mello argumentierte auf der gleichen Linie, dass „das Thema der Gutschrift, im Gegenteil zu anderen, bei denen es auf irgendeine Weise eine Umkehrung der Entscheidung gegeben hatte, vor Gericht nicht befriedet [= entschieden] wurde […]. So ist die Behauptung, dass der Oberste Bundesgerichtshof durch ein durch Rechtskraft gedecktes Urteil den Anspruch auf Gutschrift entschieden hat, nicht zutreffend“ (S. 517 des Urteils). Diese Bemerkungen sollen zeigen, dass man strenggenommen nur von Rechtsprechungsänderung sprechen kann, wenn die abgeänderte Entscheidung schon durch Rechtskraft im spezifischen Fall stabilisiert worden ist. Vertrauensschutz erfordert, dass der Bürger aufgrund einer bekannten und wirksamen Entscheidung

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gehandelt hat435. Die Grenzen der Rechtsprechungsänderung gelangen also nur zur Anwendung in causis finitis, also bei Entscheidungen, die Wirkungen hervorbringen und einen gewissen Grad an Präklusivität beinhalten436. Entscheidend ist, wie Machado Derzi vermerkt, dass die mit dem Gesetzestext kompatible Alternativität normativer Bedeutungen durch das Handeln der Judikative eingeengt worden ist437. So handelt der Steuerzahler, der sich auf eine vorläufige Entscheidung beruft, bei Fehlen anderer Elemente auf eigene Faust und eigenes Risiko. Eben deshalb hat der Richter Cezar Peluso in derselben Sitzung hervorgehoben, dass der Steuerzahler, der sich an einer vorläufigen Entscheidung orientiert hat, „auf eigene Faust und eigenes Risiko“ gehandelt habe, beeinflusst von der früheren Rechtsprechung, aber wissend, dass sein hypothetischer Anspruch nur gewährleistet wäre, nachdem die Entscheidung Rechtskraft erlangt hätte“ (S. 560 des Urteils). Der Steuerzahler weiß oder muss wissen, dass der Akt keine bindende Kraft entfaltet, weshalb seine Handlung eine höhere persönliche Verantwortung beinhaltet, folglich auch ein höheres Risiko, das er eingehen muss438. Nicht immer jedoch, wenn es eine schon rechtskräftige frühere Entscheidung über denselben Gegenstand gibt, liegt eine „Rechtsprechungsänderung“ vor. Es muss auch ein tatsächlicher Gegensatz zwischen den Urteilen vorliegen. In diesem Sinn ist der Begriff „Rechtsprechungsänderung“ von anderen ähnlichen Phänomenen zu unterscheiden. „Rechtsprechungsänderung“ ist in der Tat nicht mit „Erneuerung“ zu verwechseln: diese liegt vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung durch die Einführung von vorher nicht ausgeführten dogmatischen Elementen oder Kriterien bestätigt wird, ohne dass sich ein Gegensatz zu einer früheren Entscheidung herausbildet. Die Erneuerung fällt auch nicht notwendig mit einer „Rechtsprechungsabweichung“ zusammen: diese liegt vor, wenn zwei Organe desselben Gerichts abweichende Auffassungen vertreten, die aber noch nicht rechtskräftig geworden oder durch höhere Entscheidung vereinheitlicht worden sind. Sie fällt gleichfalls nicht mit einem „Paradigmenwechsel der Rechtsprechung“ zusammen: dieser liegt dann vor, wenn eine Menge gerichtlicher Entscheidungen – nicht aber eine spezifische Entscheidung im Vergleich mit einer anderen Entscheidung – eine Begründung erhält, die auf neue dogmatische Kriterien gegründet ist, wie etwa die Auslegung des Bürgerlichen Rechts nach Maßgabe der Verfassung und nicht nach Maßgabe des Bürgerlichen Gesetzbuchs verdeutlicht439. Rechtsprechungsänderung liegt also 435

Joachim Burmeister, Vertrauensschutz im Prozeßrecht – Ein Beitrag zur Theorie vom Dispositionsschutz des Bürgers bei Änderung des Staatshandelns, S. 27. 436 Andreas Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, S. 290 sowie 305. 437 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 266. 438 Hartmut Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts. Bd. 3. 2. Aufl. § 60, Rn. 93. 439 Lorenz Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, S. 24 ff.; Verena Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, S. 41 ff.

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nur vor, wenn die Änderung sich aus der richterlichen Aktivität selbst ergibt, so dass dasselbe Problem zwei aufeinander folgende antinomische Lösungen erhält, also nicht festgestellt wird, dass die Lösung sich aus einer Änderung des Gesetzes oder der Verfassung ergibt440. So liegt „Rechtsprechungsänderung“ nur vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung eine Auffassung äußert, die unmittelbar im Gegensatz steht zu einer in einer wirksamen früheren gerichtichen Entscheidung über die gleiche Materie geäußerten Auffassung441. Die „gegensätzliche Auffassung“ kann auf unterschiedliche Weise geäußert werden: ausdrücklich (wenn die spätere Entscheidung unmittelbar expliziert, dass sie eine frühere Entscheidung abändert), implicite (wenn die spätere Entscheidung eine Auffassung wählt, die mit der früheren Entscheidung unvereinbar ist, wobei der Gegensatz nur für den, der die frühere Entscheidung kennt, wahrnehmbar ist) oder gar verdeckt (wenn die spätere Entscheidung einer früheren Entscheidung widerspricht, ohne jegliche Bezugnahme auf die frühere Auffassung oder gar auf die Gegensätzlichkeit). Die „gegensätzliche Auffassung“ kann gleichfalls durch verschiedene Entscheidungstypen konkretisiert werden: durch Negation (wenn die spätere Entscheidung festlegt, dass es keine Norm gibt, die eine bestimmte von einer früheren Entscheidung als bestehend angesehene Folge festlegt), Substitution (wenn die spätere Entscheidung festlegt, dass der Sachaspekt des Tatbestands einer Norm, statt die Eigenschaften A und B zu haben, wie in der früheren Norm festgelegt, die Eigenschaften C und D hat), Widerspruch (wenn die spätere Entscheidung die Auffassung vertritt, dass die Rechtsfolge bei Vorliegen der faktischen Elemente A und B anzuwenden ist und damit der früheren Entscheidung widerspricht, welche die Auffassung vertrat, dass die Rechtsfolge dann anzuwenden sei, wenn die faktischen Elemente A und B nicht vorliegen) oder Modifikation (wenn die spätere Entscheidung die Auffassung vertritt, dass die Rechtsfolge nur im Fall des Eintritts der faktischen Elemente A, B und C anwendbar ist und damit der früheren Entscheidung widerspricht, welche die Auffassung vertrat, dass die Rechtsfolge schon durch die bloße Konkretisierung der Elemente A und B herbeigeführt werden könne)442. Wesentlich für die Gestaltung der Änderung ist also ihre Wirksamkeit443. Falls das Problem des Vertrauensschutzes die Verteidigung des Steuerzahlers ist, der aufgrund einer Entscheidung gehandelt hat, und falls diese Entscheidung noch keine Wirkungen hervorgebracht hat, nicht wirksam ist, weder im Allgemeinen noch in Bezug auf den Steuerzahler selbst, ist die Behauptung unzulässig, dass der Steuerzahler „aufgrund“ einer abgeänderten Entscheidung gehandelt haben könne, wenn diese einfach überhaupt keine Wirkung hervorbrachte. Wenn der Steuerzah 440

Isabelle Rorive, Le Revirement de Jurisprudence, S. 207. Verena Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, S. 53. 442 Lorenz Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, S. 49–59. 443 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 634; Lorenz Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, S. 24 sowie 60; Andreas Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, S. 290. 441

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ler aufgrund einer nicht von den Stabilisierungsmechanismen betroffenen Entscheidung handelt, tut er dies auf eigene Faust und auf eigenes Risiko. Wie Burmeister erinnert, produzieren Entscheidungen nur Wirkungen für die Prozessparteien444. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das Rechtssicherheitsprinzip, das der Bezugspunkt für die hier vorgenommene Untersuchung ist, als Instrument dient, die Achtung der Fähigkeit des Steuerzahlers zu gewährleisten, ohne Irrtum, Enttäuschung oder Überraschung seine Gegenwart in Würde und Verantwortung zu gestalten und seine Zukunft auf rechtlich informierte Weise strategisch zu planen. Anders formuliert, kann man sich nicht auf die Rechtssicherheit berufen, um Rechtsfolgen zu neutralisieren, die der Steuerzahler (angesichts ihrer Widerrufbarkeit) als unangemessen kennt oder kennen muss, um die Richtschnur seines Verhaltens abzugeben, es sei denn, andere Elemente liegen zusätzlich vor. Wenn außerdem das Problem des Vertrauensschutzes sich auf die Einschränkung der Grundrechte durch die Rechtsprechungsänderung bezieht, ist nicht zu prüfen, ob die Entscheidung Wirkungen hervorbringen kann, sondern sind die konkret in Bezug auf die Ausübung der genannten Rechte hervorgebrachten Wirkungen zu prüfen. Deshalb kann man sagen, dass der Begriff der Rechtsprechungsänderung von der normativen Kraft der Entscheidung und der konkreten Wirkungen abhängt, die er tatsächlich oder mutmaßlich hervorgebracht hat. (cc) Begriff der rückwirkenden Rechtsprechungsänderung Die wichtigste und problematischste Frage besteht nicht darin, zu wissen, ob die Judikative ihre Auffassung ändern kann. Sie kann sie natürlich ändern, da es keine absolute Bindung an Präzedenzentscheidungen gibt445. Außerdem ist die Änderung aufgrund der internen und externen Veränderungen der Rechtsordnung unvermeidlich446. Die entscheidend wichtige Frage ist stattdessen, zu wissen, wie und mit welchen Wirkungen die Judikative sich ändern soll. Eine Sache ist die Vervollkommnung des Rechts durch die Rechtsprechungsänderung, eine andere die rückwirkende Anwendung des Rechts447. Diese letzte Frage soll jetzt behandelt werden, vor allem anlässlich der Erörterung des Problems der „rückwirkenden Rechtsprechungsänderung“.

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Joachim Burmeister, Vertrauensschutz im Prozeßrecht – Ein Beitrag zur Theorie vom Dispositionsschutz des Bürgers bei Änderung des Staatshandelns, S. 33 sowie 43. 445 Hans Dubs, Praxisänderungen. Eine methodologische Untersuchung über die Stellung des Richters zum eigenem Präjudiz auf Grund von Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts, S. 7. 446 Georg Seyfarth, Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, S. 292. 447 Nicolas Molfessis (Hrsg.), Les revirements de jurisprudence. Rapport remis à Monsieur le Premier Président Guy Canivet, S. 32.

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Dieses Problem kann nicht mit denselben Kategorien der Rückwirkung gelöst werden, wie sie für die Legislative entwickelt wurden, und zwar unter anderem aus folgendem Grund: während das Gesetz für die Zukunft bestimmt ist, betreffen die gerichtlichen Entscheidungen in der Regel die Vergangenheit. „Die Zukunft des Gesetzgebers ist allgemein, unbekannt. Die Vergangenheit des Richters ist konkret, bekannt“: mit diesen Worten verweist van Hoecke auf den fundamentalen Unterschied zwischen der gesetzberischen und richterlichen Tätigkeit448. Der Richter sagt „was der Zustand des Rechts, des guten Rechts ist, und so sagt er, was hätte getan werden müssen, was schlecht getan worden oder was nicht getan worden ist“, erklärt Pacteau449. Nicht einmal deswegen kann man leichthin behaupten, dass gerichtliche Entscheidungen nicht rückwirkend in demselben Sinn sind, in dem es Gesetze oder Verwaltungsakte sein können. Hier sind zwei Phänomene zu unterscheiden, die normalerweise vermengt werden, aber im Hinblick auf die Wirkungen des Vertrauensschutzes unterschiedlich sind: deklaratorische Wirksamkeit der richterlichen Entscheidung und rückwirkende Wirksamkeit der richterlichen Entscheidung. Die deklaratorische Wirksamkeit richterlicher Entscheidungen bezieht sich auf die Wirkungen der abschließenden Entscheidung des Verfahrens, die sich auf die in der Klageschrift umrissenen Tatsachen bezieht und diese betrifft, also auf vor der Urteilsverkündung eingetretene Tatsachen. Diese Wirksamkeit ähnelt jedoch nicht der rückwirkenden Wirksamkeit eines Gesetzes, und das aus mehreren Gründen. Man stelle sich vor, dass der Kläger seine Klage einreicht und zum Zeitpunkt Z1 geltend macht, dass die Norm N die Bedeutung X habe und der Beklagte dem widerspricht und geltend macht, dass sie die Bedeutung Y habe, und dass der Richter am Ende des Verfahrens zugunsten einer der Parteien entscheidet und beispielsweise festlegt, dass N = X. Ein ähnliches Beispiel wäre die Einreichung einer Klage zum Zeitpunkt Z1, an dem der Kläger geltend machen würde, dass die Norm N die Besteuerung des Tatbestands T1 erfordere und er, der Kläger, den Tatbestand T2 erfüllt habe; der Beklagte widerspricht und macht geltend, dass der Kläger T1 erfüllt habe und daher die Abgabe zahlen müsse. In beiden Fällen betrifft das in Z2 ergangene Urteil die erfüllten Tatbestände und die seit der Einreichung der Klageschrift zum Zeitpunkt Z1 erörterte Norm. In diesen Fällen sind jedoch einige Eigentümlichkeiten zu vermerken: sowohl der Kläger als auch der Beklagte wussten seit dem Beginn des Verfahrens von der Existenz der Norm N; beide kannten seit Beginn des Verfahrens die reduzierten Bedeutungsalternativen der Norm N, die X oder Y erfassten, oder die reduzierten Alternativen der Tatsachenfeststellung des Tatbestands T, die T1 oder T2 beinhalteten; die Parteien hatten nur keine Gewissheit bzw. waren unterschiedlicher Ansicht bezüglich der Bestimmung der 448

Mark van Hoecek, Time and Law. Is it the nature of law to last? A conclusion, in: Ost, François / van Hoecke, Mark. (Hrsg.), Temps et Droit. Le Droit a-t-il pour vocation de durer?, S. 457. 449 Bernard Pacteau, Comment aménager la rétroactivité de la Justice? Sécurité juridique, sécurité juridictionnelle, sécurité jurisprudencielle, in: Seiller, Bertrand (Hrsg.), La rétroactivité des décisions du juge administratif, S. 114.

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Bedeutung der Norm (N = X oder Y?) oder bezüglich der Tatsachenfeststellung im Begriff der in dem Tatbestand der Norm vorgesehenen Sachverhalte (T = T1 oder T2?). In anderen Worten: sowohl der Kläger als auch der Beklagte hatten Gewissheit hinsichtlich der Existenz, Geltung und Berechenbarkeit (obgleich nicht der sicheren Bedeutung) des Inhalts der Norm N seit Beginn des Verfahrens, obwohl sie mäßige Zweifel hinsichtlich ihres Inhalts oder ihrer Reichweite hatten. Wenn dies zutrifft, kann man behaupten, dass es im Fall der deklaratorischen Wirksamkeit der richterlichen Entscheidung, allgemein gesprochen, weder ein Problem der Erkennbarkeit noch der Berechenbarkeit des Rechts gibt: die Parteien wissen von der Existenz der Norm und können ihren Inhalt und ihre Wirksamkeit berechnen. Abgekürzter formuliert: zum Zeitpunkt Z2 wurden die Parteien nicht durch eine Norm überrascht, deren Existenz und Geltung sie zum Zeitpunkt Z1 nicht kannten, und auf deren Grundlage sie ohne Reaktionsfähigkeit disponieren konnten. Deshalb ist die deklaratorische Wirksamkeit neutral in Bezug auf die Rückwirkung, da die richterliche Entscheidung eine notwendige Beziehung zur Vergangenheit hat450. Gleiches gilt nicht, wenn man von der Rückwirkung der Gesetze spricht. Im Fall der rückwirkenden Wirksamkeit der Gesetze, wenn eine Norm N2 zu einem Zeitpunkt Z2 erlassen wird und Wirkungen in Bezug auf einen vor ihrem Erlass liegenden Zeitraum Z1, in dem eine andere Norm N1 galt, produziert, konnte der Normadressat zum Zeitpunkt Z1 seines Handelns nichts von der Existenz, Geltung oder dem Inhalt der Norm N2 wissen noch die dem Fall zuzuweisenden Folgen berechnen, falls der in der Norm N2 beschriebene Sachverhalt vorliegen würde. In anderen Worten: zum Zeitpunkt Z1 kannte der Adressat nur die Norm N1, damals in Geltung, und hatte überhaupt keine Kenntnis von der Norm N2. Man kann also behaupten, dass im Fall der rückwirkenden Wirksamkeit der Gesetze sowohl ein Problem der Erkennbarkeit als auch ein Problem der Berechenbarkeit des Rechts vorliegt: der Adressat der verändernden Norm N2 weiß nichts von ihrer Existenz, noch kann er ihren Inhalt und ihre Wirksamkeit berechnen. In einfachen Worten: zum Zeitpunkt Z2 wird der Adressat durch eine Norm überrascht, von deren Existenz und Geltung er zum Zeitpunkt Z1 überhaupt nichts wusste, auf deren Grundlage er nicht disponieren konnte, weshalb, mit ihrer Anwendung auch auf seinen Fall, er ohne jegliche Reaktionsfähigkeit war. Deshalb beinhaltet die Rückwirkung ein Freiheitsproblem: wer von einem rückwirkenden Gesetz betroffen wird, kann nichts unternehmen, da seine Handlung schon verübt worden ist451. Der Mensch handelt in der Gegenwart, nicht in der Zukunft452. Seine Macht zur Gestaltung der Wirklichkeit innerhalb der Grenzen des Rechts erfährt nach der Ausübung seiner Freiheit eine Neugestaltung. Aus keinem anderen Grund wies Fuller in seiner geschliffenen Sprache auf die „brutale Absurdität hin, jemandem

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Christian Waldhoff, Recent developments relating to the retroactive effect of decisions of the ECJ, in: Common Market Law Review 46 (2009), S. 5 (unveröffentlichtes Manuskript). 451 Ben Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, S. 51. 452 Paul Kirchhof, Rückwirkung von Steuergesetzen, in: StuW 2000, S. 221.

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heute zu befehlen, etwas gestern zu tun“453. Diese Absurdität ergibt sich präzise aus der Tatsache, dass die rückwirkende Norm nicht die Ausübung der Freiheit erlaubt: da die Handlung schon begangen worden ist, verneint die Wirkung der rückwirkenden Norm die Autonomie des Einzelnen, da sie die Möglichkeit der Einzelentscheidung über alternative Verhaltensweisen eliminiert, infolge der Durchsetzung einer normativen Folge ohne die Erlaubnis der freien Wahl des Einzelnen454. Diese Betrachtungen zeigen also, dass die deklaratorische Wirksamkeit der Entscheidung nicht der rückwirkenden Wirksamkeit der Gesetze gleichkommt. Wenn der Terminus „Rückwirkung“ mit Bezug auf die deklaratorische Wirksamkeit richterlicher Entscheidungen benutzt wird, bezieht er sich auf die Wirksamkeit vor dem Augenblick der Verkündung der Entscheidungen, jedoch ohne Bezugnahme auf den Mangel an Erkennbarkeit und Berechenbarkeit. Wer behauptet, dass das Problem der Rückwirkung der Rechtsprechung ein falsches Problem ist, assimiliert in Wahrheit vollständig das Rückwirkungsproblem mit dem Problem der deklaratorischen Wirksamkeit der Entscheidung. So Ost, wenn er behauptet, dass die Rückwirkung des Urteils, weit entfernt davon, eine Anomalie zu sein, zu seinem Wesen gehöre455. In Wahrheit ist das Problem der Rückwirkung der Rechtsprechung ein anderes456. Nach Vornahme dieser Anpassungen erkennt man sofort, dass der Ausdruck „rückwirkende Wirksamkeit richterlicher Entscheidungen“ sich nur auf die Fälle beziehen kann, in denen der Bürger aufgrund einer richterlichen Entscheidung handelt, deren Bindungswirkung sich auf eine dritte Person oder eine Gruppe beschränkt und die später durch eine neue Rechtsprechung mit rückwirkenden Wirkungen abgeändert wird. In dieser spezifischen Situation handelt die Privatperson aufgrund einer richterlichen Entscheidung, die sie auch als auf ihren Fall anwendbar versteht. Ihr Verhalten wird jedoch durch eine andere richterliche Entscheidung bewertet, die sie zum Zeitpunkt der Handlung nicht kannte. Nur in diesem strikten Sinn kann man von „Rückwirkung der Rechtsprechung“ sprechen: wenn eine Entscheidung E2 zu einem Zeitpunkt Z2 gefällt wird und Wirkungen hinsichtlich eines vor ihrer Verkündung liegenden Zeitraums Z1 entfaltet. Zu diesem Zeitpunkt könnte man billigerweise die Anwendung einer andern Entscheidung E1 vertreten und könnte der Adressat bei Begehung der Handlung nichts von der Existenz oder dem Inhalt der Entscheidung E2 wissen und auch nicht die für die Handlung vorgesehenen Rechtsfolgen abschätzen. In anderen Worten: der Adressat kannte zum Zeitpunkt Z1 nur die damals vorliegende Entscheidung E1 und überhaupt nicht die 453

Lon Fuller, The Morality of Law, S. 59. Jeremy Waldron, The Rule of Law in Contemporary Liberal Theory, in: Ratio Juris 1 (1989), S. 85. 455 François Ost, L’heure du jugement. Sur la rétroactivité des décisions de justice. Vers un droit transitoire de la modification des règles jurisprudentielles, in: Temps et Droit. Le Droit a-t-il pour vocation de durer?, S. 93. 456 Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 5. 454

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Entscheidung E2. Man bemerke hier, dass Überraschung des Bürgers sich im Fall der „Rückwirkung der Gesetze“ auf die Anwendung einer Norm N2 hinsichtlich eines Zeitraums, in dem die Norm N1 galt, bezieht: zu diesem Zeitpunkt war der Bürger verpflichtet¸ der Norm N1 Folge zu leisten. Im Fall der „Rückwirkung der Rechtsprechung“ können zwei Situationen eintreten: die Überraschung des Bürgers kann sich auf die Anwendung einer Entscheidung E2 hinsichtlich des Zeitraums beziehen, in dem die Entscheidung E1 aufgrund ihrer allgemeinen Wirksamkeit auf seinen Fall anwendbar war, und in diesem Zeitraum war er verpflichtet, der Entscheidung E1 zu folgen; oder sie kann sich auf die Anwendung einer Entscheidung E2 hinsichtlich eines Zeitraums beziehen, in dem man glauben konnte, dass die Entscheidung E1 anwendbar sei, und in diesem Zeitraum konnte er zumutbarerweise auch in seinem Fall mit der Anwendung der Entscheidung E1 rechnen. In beiden Fällen gibt es aber ein Problem der Überraschung und, folglich, ein Problem der Erkennbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts. Hier genau liegt das Problem der Rückwirkung der Rechtsprechung. Nach der Festlegung dieser Prämissen sind einige Betrachtungen der folgenden Kapitel neu anzustellen, um zu sehen, wann tatsächlich eine „Rückwirkung der Rechtsprechung“ vorliegt, vor allem, da das Kriterium ihres Eintritts oder Nichteintritts im Rechtssicherheitsprinzip i. V. m. den Grundrechten und den das stattlichhe Handeln orientierenden Prinzipien zu suchen ist. Wie schon nachgewiesen worden ist, erfordert das Rechtssicherheitsprinzip Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts. Der Einzelne muss die sein Handeln leitende Regel kennen, um die Folgen zu berechnen, die seinem Handeln von der Rechtsordnung zugewiesen werden werden. Es gibt keine Berechenbarkeit, wenn der Einzelne nicht minimal die Rechtsfolgen seiner Handlungen vorwegnehmen kann. Ohne Berechenbarkeit hat der Einzelne keine Rechtsfreiheit zum Handeln, insofern er nicht die der Handlung, die er verüben will, zugewiesenen Rechtsfolgen erörtern kann. Dies bedeutet, dass die Erkennbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts die Fähigkeit des Einzelnen implizieren, die handlungsleitende Regel zu kennen und die Rechtsfolgen, die sie der Handlung zuschreibt, minimal zu ermessen. Indem sie die handlungsleitende Regel kennt und die Wirkungen, die sie der Handlung zuweist, ermisst, beinhaltet die Handlungsentscheidung einen Akt der Freiheit und Verantwortlichkeit: der Freiheit, insofern der Einzelne, der handeln oder nicht handeln bzw. in einem oder anderen Sinn handeln kann, sich für die Wahl eines Verhaltens entscheidet, das sich dem Tatbestand einer Regel subsumieren lässt; der Verantwortlichkeit, da der Einzelne, der die von der Regel seinem Verhalten zugewiesenen Wirkungen berechnen kann, sich für die Handlung und damit die Annahmen der Zuweisung der genannten Wirkungen entscheidet. Aus eben diesen Gründen duldet die Rechtssicherheit nicht die Rückwirkung. Die Rückwirkung führt nämlich dazu, dass der Einzelne aufgrund der zum Zeitpunkt seiner Handlung geltenden Norm handelt, sein Verhalten jedoch nach einer

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anderen Norm bewertet sieht, die zum Zeitpunkt, an dem er sich für sein Verhalten entschieden hat, nicht bestand und damit nicht berücksichtigt werden konnte. Die Rückwirkung widerspricht also den Forderungen der Erkennbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts: das Individuum handelt aufgrund einer Regel, da es die von der Rechtsordnung seiner Handlung zugeschriebenen Rechtsfolgen annimmt; später erfährt es jedoch, dass sein Verhalten von einer anderen Norm geregelt wird, die es nicht kannte und deren Rechtsfolgen es nicht berücksichtigen konnte. Die Rückwirkung eliminiert also sowohl die Freiheit als auch die Verantwortlichkeit. Sie eliminiert die Freiheit, da sie den Einzelnen der Fähigkeit zur Entscheidung für Handeln oder Nichthandeln beraubt, desgleichen der Fähigkeit zur Entscheidung für Handeln in diesem oder jenem Sinn gemäß der Rechtsordnung: da das Verhalten schon gewählt worden ist, ohne die sich aus der Anwendung der neuen, zum Zeitpunkt der Verhaltenswahl nicht bestehenden Norm ergebenden Rechtsfolgen zu berücksichtigen, verfügt der Einzelne nicht über die Fähigkeit, die Folgen zu ermessen und auch nicht über die Fähigkeit zu einer eventuellen Reaktion im Hinblick auf die Wahl bzw. Nichtwahl von Verhaltensweisen. Die Rechtsfolgen werden einem Einzelnen zugeschrieben, ohne dass er zwischen Handeln oder Nichthandeln aufgrund der Rechtsfolgen, die seiner Handlung oder Nichthandlung zugeschrieben werden, wählen kann. Die Rückwirkung eliminiert auch die Verantwortlichkeit: da der Einzelne in der Erwartung handelt, dass der Sachverhalt von einer Norm geregelt werde, der am Ende aber von einer anderen Norm geregelt wird, ist er für die rechtliche Bedeutung seiner Handlung nicht verantwortlich, da er unfähig ist, die Rechtsfolgen und die Bestimmung des Willens hinsichtlich der Begehung von Handlungen einzusehen, welche die Anwendung dieser Rechtsfolgen auslöst. Die Rückwirkung der Normen beinhaltet somit ein Problem der rechtlichen Bewertung von Handlungen aufgrund von Normen, die im Augenblick der Begehung dieser Handlungen nicht existieren. Deshalb lässt sich behaupten, dass die Rückwirkung den Orientierungscharakter des Rechts eliminiert, insofern der Einzelne an einer Norm orientiert handelt, die Handlung jedoch von einer anderen, zum Zeitpunkt ihrer Begehung nichtexistierenden und damit unbekannten Norm geregelt wird. Man kann also sagen, dass das Rückwirkungsproblem per definitionem die Nichtexistenz und Unkenntnis der Norm im Augenblick der Handlung beinhaltet. Gerade weil die Norm zum Zeitpunkt der Handlung nicht existierte, konnte der Einzelne sich an ihr nicht orientieren und damit seine Handlungslinien auch nicht unter Berücksichtigung des Norminhalts bestimmen. Die Freiheit wird ohne Wirksamkeit der ändernden Norm ausgeübt, später aber von dieser bewertet. Die rückwirkende Wirksamkeit beinhaltete, ebenfalls per definitionem, die Reaktionsunfähigkeit: da der Einzelne aufgrund einer Norm handelt, aber einer zum Zeitpunkt der Handlung nicht existierenden Norm unterworfen wird, kann er die vom Recht seinem Verhalten zugeschriebenen Rechtsfolgen nicht ermessen und aufgrund dieser mangelnden Voraussicht nicht frei zwischen dem einen oder anderen Verhalten wählen; er ist also völlig daran gehindert, die Begehung einer Handlung zu unterlassen, deren Rechtsfolgen er nicht erleiden will. Rückwirkung beinhaltet,

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zusammengefasst, die Abwesenheit von Freiheit, Verantwortlichkeit und Reaktion. Der Einzelne handelt mit dem Kalkül, dass er, falls er die Handlung X begeht, mit der Folge A rechnen muss, wird am Ende aber gezwungen, aufgrund der zum Zeitpunkt der Handlung nicht existierenden Norm Y die Folge B zu ertragen. Um es in einem anschaulicheren Bild auszudrücken: er handelt in der Erwartung des Brots, erhält aber einen Stein. Die Rückwirkung beinhaltet also die Anwendung einer Regel auf den Einzelnen, der ihre Existenz nicht kannte oder zumutbarerweise nicht mit ihr rechnen konnte. Eben hier muss man eine Unterscheidung im Hinblick auf die rechtsprechende Tätigkeit vornehmen: nicht alle Rechtsprechungsänderungen beinhalten Probleme der Kenntnis und Berechenbarkeit von Normen. In einigen Situationen beeinträchtigt die Rechtsprechungsänderung weder die Fähigkeit des Einzelnen, die sein Handeln leitende Regel zu erkennen, noch das Vermögen, die seinem Handeln von der Rechtsordnung zugeschriebenen Rechtsfolgen zu ermessen. Die Rechtsprechungsänderung entfaltet keine Rückwirkung, wenn das Verhalten des Einzelnen nicht von der zum Zeitpunkt des Sachverhalts vertretenen Ansicht der Rechtsprechung abhängig gewesen ist457. Dies tritt beispielsweise dann ein, wenn der Einzelne Partei in einem Gerichtsverfahren ist, in dem der Kläger geltend macht, dass die Norm N die Folge X anordne, während der Beklagte geltend macht, das sie die Folge Y auslöse. Indem er Partei in diesem Verfahren ist, weiß der Einzelne, dass die seinen Fall regelnde Norm N ist und kann auch vorwegnehmen, dass die Rechtsfolgen X oder Y sein können. Vor Abschluss dieses Verfahrens können weder Kläger noch Beklagter vorbringen, dass sie nichts von der Existenz der Norm N wussten oder nicht fähig waren, die Folgen X oder Y vorwegzunehmen – da die Norm bekannt und die Folgen minimal vorwegnehmbar waren. Außerdem kann keine der Parteien vorbringen, dass es hinsichtlich der strittigen Norm und des strittigen Zeitraums irgendeine durchschlagende Wirkung bezüglich der während der Geltung der Norm und der Dauer des Zeitraums eingetretenen Rechtsprechungsänderung gegeben hat: da die Sache noch anhängig (sub iudice) ist und die Wirkung der abschließenden Entscheidung deklaratorisch sein wird, können die bezüglich der verfahrensgegenständlichen Norm und des verfahrensgegenständlichen Zeitraums verübten Handlungen in der Regel nicht durch die eventuell in der Rechtsprechung in anderen Verfahren eintretende Änderung beeinflusst worden sein. Das Handeln der Parteien im Verfahren kann sich nicht an der Entscheidung anderer Verfahren orientiert haben: es kann sich nur an der im Verfahren, zu dem es gehört, zu fällenden Entscheidung orientieren. Deswegen hat der Kläger ja seine Klage erhoben, um den Zweifel zu beheben. Ein anderes Verständnis kommt der Annahme gleich, dass eine der Parteien im Verlauf des Verfahrens ein subjektives Recht auf ein bestimmtes Ergebnis hat, nur weil zwischen dem Beginn und Abschluss des Verfahrens eine Entscheidung in einem anderen Verfahren gefällt worden ist. Anders als bei einem rück 457 Nicolas Molfessis (Hrsg.), Les revirements de jurisprudence. Rapport remis à Monsieur le Premier Président Guy Canivet, S. 18.

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wirkenden Gesetz gibt es keinen abgeschlossenen Sachverhalt, zu dem man sich nicht irgendeine Reaktion bezüglich eines normativen Rahmens, der Gegenstand der Diskussion vor Gericht ist, vorstellen kann; es gibt vielmehr einen begrenzten Zweifel am Inhalt und an der Reichweite der bestehenden und geltenden Norm. Dies erklärt die von Hey vorgenommene Unterscheidung zwischen dem Anlassfall, in dem die Änderung eintritt oder durch denn sie provoziert wird, und den anderen noch nicht entschiedenen Fällen: „Nur hinsichtlich des Anlaßfalles stellt sich die Frage, ob bereits auf Rechtsprechungsebene Dispositionsschutz zu gewähren ist. In allen anderen noch offenen Altfällen, also insbesondere Fällen, in denen noch keine oder noch keine endgültige Steuerfestsetzung erfolgt ist, muß der Dispositionsschutz zwingend auf Verwaltungsebene gewährt werden, nämlich entweder bei der erstmaligen oder bei einer endgültigen Festsetzung.“458

Die obige Schlussfolgerung ändert sich, wenn trotz des laufenden Verfahrens eine der Parteien irgendetwas aufgrund der Änderung der Rechtsprechung in derselben erörterten Materie, die sehr wahrscheinlich die Lösung des Verfahrens beeinflussen würde, getan oder unterlassen hat. So unterlässt zum Beispiel der Kläger in einem ordentlichen Verfahren, in welcher die Verfassungsmäßigkeit einer Abgabe diskutiert wird, die gerichtliche Hinterlegung, welche die Fälligkeit der Abgabe aufgrund einer rechtskräftigen Entscheidung in einem Verfahren suspendiert, das vor einem obersten Gerichtshof mit letztinstanzlicher Entscheidungskompetenz über die anhängige Materie geführt worden ist. In diesem Fall gibt es sozusagen eine sich aus einer anderen Entscheidung ergebende externe Wirkung, nämlich die das Verhalten des Steuerzahlers abändern, der eine Klage innerhalb oder außerhalb des Verfahrens angestrengt hat. Hier geht es nicht darum, zu wissen, ob der Steuerzahler Anspruch auf ein bestimmtes Ergebnis hat. Es geht vielmehr darum, zu wissen, ob die Wirkungen seines von einer bestimmten Rechtsprechung geleiteten Verhaltens aufgrund dieser Rechtsprechung bewertbar ist, falls sie geändert und für seinen Fall nicht bestätigt wird. Damit man von Rückwirkung der Rechtsprechungsänderung sprechen kann, muss die rechtsprechungsändernde Entscheidung das Vertrauen des Einzelnen in den Fällen, in denen sein Verhalten angeleitet wurde – und in denen es zumutbarerweise durch die aufgegebene Entscheidung angeleitet werden konnte – unberücksichtigt lassen – sodass der Einzelne gewissermaßen von der Entscheidung, auf die er vertrauen konnte, betrogen wird, da diese die Rechtsfolgen der in Orientierung an der früheren Rechtsprechung begangenen Handlungen abändert459. Keine Rückwirkung liegt jedoch vor, wenn die Rechtsprechung nicht als Orientierung des Einzelnen gedient hat und auch nicht dienen konnte infolge der mangelnden

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Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 639 f.; Christine Lübbe, Grenzen der Rückwirkung bei Rechsprechungsänderungen, S. 118. 459 Nicolas Molfessis (Hrsg.), Les revirements de jurisprudence. Rapport remis à Monsieur le Premier Président Guy Canivet, S. 18.

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Verallgemeinerungsfähigkeit der früheren Entscheidung460. Dies soll nachfolgend bewiesen werden. (dd) Gestaltung des Vertrauensschutzes im Fall der Rechtsprechungsänderung Die Tatsache einer Rechtsprechungsänderung mit Auswirkungen auf die Vergangenheit gewährleistet nicht die Anwendung des Vertrauensschutzprinzips. Obwohl jede Rechtsunsicherheit eine gewisse Enttäuschung beinhalten muss, ist nicht jede Enttäuschung schon ein Fall von schutzwürdiger Rechtsunsicherheit. Damit diese vorliegt, ist die Konkurrenz der vorgenannten Voraussetzungen mit den auf die rechtsprechende Tätigkeit bezogenen Besonderheiten notwendig. Erstens muss die Vertrauensgrundlage vorliegen. Da es sich um eine „Rechtsprechungsänderung“ handelt, ist das Vorliegen von zwei Entscheidungen notwendig: die „abändernde“ Entscheidung, der Anlassfall oder das Ausgangsverfahren, und die „abgeänderte“ Entscheidung. Letztere ist also die Vertrauensgrundlage für das Verhalten, das man aufgrund der reflexiven Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips zu schützen beabsichtigt. Vertrauensschutz entsteht also, wenn der Bürger legitimerweise hofft, dass sein Verhalten nach einer Entscheidung bewertet wird, an der er sich orientiert hat bzw. orientieren könnte, und die später abgeändert worden ist461. Wir erinnern hier an die schon anderweitig vorgetragenen Betrachtungen über die Vertrauensgrundlage: zuallererst ist die Eignung der „abgeänderten“ Entscheidung für die Schaffung von Vertrauen zu prüfen. Noch nicht wirksame Entscheidungen bleiben aus dem einfachen Grund unberücksichtigt, dass sie noch änderbar sind. Im Rahmen der wirksamen Entscheidungen muss man jedoch die Entscheidungen nach folgenden Faktoren differenzieren: Bindungscharakter und Beständigkeitsanspruch; Orientierungszweck; Einbettung in eine Kette einheitlicher Auffassungen und Verallgemeinerungsfähigkeit. Wichtig ist der Hinweis darauf, dass diese Faktoren als heuristische Kriterien mit bloß angebender Funktion wirken. Das bedeutet, dass das Fehlen eines Faktors nicht notwendig Vertrauensschutz ausschließt. Es kommt auf das Vorliegen des Faktorenzusammenhangs an. Erstens ist festzuhalten, dass der Schutz des Vertrauens, das der Steuerzahler der Entscheidung entgegenbringt, umso stärker sein muss, je stärker der Bindungs­ charakter und der Beständigkeitsanspruch der Entscheidung sind. Diese ergeben sich aus ihrer formalen oder materialen normativen Kraft. Zugeschrieben wird die formale normative Kraft von den Normen selbst der Rechtsordnung, die der Entscheidung bindende Kraft verleihen. Nach der CF/88 binden nur die in der konzentrierten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit (direkte Klage auf Verfassungs­ 460

Ulrich Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, S. 69. Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 220. 461

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widrigkeit, direkte Klage auf Verfassungsmäßigkeit) oder in der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, das Gegenstand eines Beschlusses des Senats mit Suspension seiner Wirksamkeit oder Gegenstand einer Leitsatzentschei­ dung gewesen ist, getroffenen Entscheidungen die unteren Instanzen und die gesamte staatliche Verwaltung462. Strenggenommen haben also nur diese Entscheidungen bindende Kraft in dem Sinn, dass sie Verpflichtungen erzeugen, die Gegenstand gerichtlichen Zwangs sind. Und nur sie funktionieren als Stabilisierungsmechanismen, wie der Oberste Bundesrichter Joaquim Barbosa zutreffend in seinem Votum über eine auf eine Frage gesagt hat, die eine angenommene Rechtsprechungsänderung betraf463. Die Abwesenheit dieser Mechanismen besagt nicht, dass die Bindungsnatur der Entscheidung sich nicht aus materialen Gründen ergeben kann. Nach dem deutschen Grundgesetz regelt ein Bundesgesetz, welche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft haben (Art. 94 Abs. 2). Die materiale normative Kraft ergibt sich aus dem Inhalt oder dem die Entscheidung fällenden Organ. Ihre Kraft ergibt sich nicht aus der ihr innewohnenden Vollstreckungsmöglichkeit, sondern aus ihrem Anspruch auf Endgültigkeit und Beständigkeit. So gibt es Entscheidungen ohne formale bindende Kraft, die aber den Anspruch auf Beständigkeit oder geringe Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Änderung signalisieren. Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs, die vom Plenum gefällt worden sind, des Bundesarbeitsgerichts, die von seinem Sonderorgan oder von der für die Materie zuständigen Sektion getroffen werden oder auch Gegenstand von Leitsatzentscheidungen sind, haben einen hochgradigen Abschlussanspruch, insofern sie den Schluss zulassen, dass sie schwerlich abgeändert werden, desgleichen eine formale Richtigkeitsvermutung infolge der Zusammensetzung des entscheidenden Organs, die eine Art von „qualifizierter Vertrauensgrundlage“ erzeugt464. Man bemerke zudem, dass der Berichterstatter der Verfahren, die in solchen Entscheidungen schon entschiedene Materien betreffen, den Berufungsantrag sofort durch bloße Anordnung abweisen kann. Dies ist aber andererseits nicht der Fall bei Zwischenentscheidungen von Gerichtsorganen, wie etwa Urteilen der obersten Gerichte der Bundesstaaten oder der regionalen Bundesgerichte über Materien, die in besonderen Rechtsmittelverfahren und außerordentlichen Rechtsmittelverfahren vom Obersten Gerichtshof der Justiz bzw. dem Obersten Bundesgerichtshof geprüft werden können. Dies bedeutet in anderen Worten, dass, obwohl die Entscheidung keine bindende Wirksamkeit gegenüber unteren Instanzen und den Verwaltungsorganen entfaltet, sie dennoch signalisiert, dass bei nicht eintretender Änderung der Umstände die anhängigen Verfahren, deren Gegenstand die gleiche Materie ist und die kein relevantes Unterscheidungs-

462 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 272 ff. 463 RE Nr. 370.682-9, Plenum, Berichterstatter: Richter Ilmar Galvão, DJ 19. 12. 07. Votum des Richters Joaquim Barbosa, S. 546 des Urteils. 464 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 90.

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element aufweisen, wahrscheinlich bei Prüfung durch die oberen Instanzen das gleiche Ergebnis erzielen werden. Man bemerke noch, dass die Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs nach der durch die Einfügung des Artikels 543A § 3 der Zivilprozessordnung eingetretenen Änderung, wenn sie den Test der allgemeinen Auswirkung bestehen, obwohl sie keine formale Bindungskraft haben, den anderen Steuerzahlern als Orientierungskriterium dienen: da es nur allgemeine Auswirkung bei Streitfällen gibt, die über das individuelle Interesse der Parteien hinausgehen, signalisiert jede in einem besonderen Rechtsmittelverfahren gefällte Entscheidung auch eine Rechtsprechung für eine ganze Klasse gleichgelagerter Fälle465. Noch innerhalb des Aspekts der materialen normativen Kraft kann man die Entscheidungen hinsichtlich ihres Anspruchs auf relative Richtigkeit unterscheiden, nicht in Bezug auf das sie fällende Organ, sondern in Bezug auf ihren Inhalt. Es handelt sich hier um die materiale Richtigkeitsvermutung der Entscheidungen. Einerseits gibt es Entscheidungen, deren Begründung wissenschaftlich äußerst fragil ist, sei es aus Gründen logischer Stimmigkeit, sei es aus Gründen argumentativer Kohärenz, sei es aufgrund von Problemen, die sich auf die normative Grundlage der in ihr geäußerten Auffassung beziehen. In einigen Fällen stellen die Kritiken eine bestimmte Entscheidung als Entscheidung dar, die eine Art „Auslegungsüberraschung“ bewirkt hat466. So schwächt beispielsweise die hohe Zahl seriöser wissenschaftlicher Kritiken und der kritischen Stimmen zu dieser Entscheidung unter den in der scientific community geachteten Juristen umso mehr die materiale normative Kraft der Entscheidung, je intensiver und stimmiger diese Kritiken sind. Und das Gegenteil trifft auch zu: der rechtswissenschaftliche Konsens funktioniert als Element der Verdichtung der materialen Kraft einer Entscheidung. Es ist natürlich schwierig, zu wissen, wann eine rechtswissenschaftliche Kritik „wesentlich“ und „erheblich“ ist, sowie wann man behaupten kann, dass „zahlreiche“ und „nahmhafte“ Autoren eine bestimmte Entscheidung kritisiert haben467. Andererseits gibt es Entscheidungen mit hoher materialer normativer Kraft und hohem Beständigkeitsanspruch, die aber sichtlich die Kompetenz des entscheidenden Organs überschreiten oder auch Materien der Kompetenz eines anderen obersten Gerichtshofs beinhalten. Dies wäre z. B. der Fall bei Entscheidungen des Obergerichtshofs der Justiz, die auch verfassungsrechtliche Fragen betreffen. Wenn man von „Entscheidung“ spricht, bezieht man sich auf den bindenden Teil, der durch den Tenorrepräsentiert wird. Dies soll nicht besagen, dass in der Urteilsbegründung genannte Gründe nicht ausnahmsweise Vertrauen erzeugen können, wenn sie ordnungsgemäß vom Gericht erörtert werden. In einigen Situ 465 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 279. 466 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 636. 467 Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 226.

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ationen sind es präzise die rationes decidendi, welche die Position des Gerichts über die Materie mitteilen. Obiter dicta und inzidentelle Erklärungen können also ebenfalls die Funktion der exzeptionellen Vertrauensgrundlage erfüllen, je nach ihrem Ausmaß, ihrer Klarheit und ihrem Konsens468. Ein gutes Beispiel ist die schon genannte Sitzung, in welcher der Oberste Bundesgerichtshof den Fall einer Rentnerin untersuchte, die von ihrem eigenen Urgroßvater eine Woche vor dessen durch Krebs verursachten Tod als Tochter adoptiert worden war, um ihr Anspruch auf eine Rente causa mortis zu vrschaffen und diese Rente während des langen Zeitraums von achtzehn Jahren bis zur einseitigen und plötzlichen Aussetzung der Zahlung durch den Bundesrechnungshof bezogen hatte. Obwohl das Gericht die beantragte Sicherheit gewährt hatte, um die Einhaltung eines ordnungsgemäßen Verfahrens zu ermöglichen, gab es eine eingehende Diskussion in den Voten, die dann in die Zusammenfassung der Entscheidung aufgenommen wurde. Thema dieser Diskussion war die Anwendbarkeit des Rechtssicherheitsprinzips auf diesen Fall, angesichts des langen Zeitablaufs zwischen der Gewährung der Rente und der Aussetzung ihrer Auszahlung durch den Bundesrechnungshof469. Zweitens ist festzuhalten: je stärker der entscheidungsleitende Zweck ist, desto stärker muss auch der Schutz des ihm vom Steuerzahler entgegengebrachten Vertrauens sein. In diesem Punkt sind zwei Fragen auseinanderzuhalten. Der leitende Zweck kann sich mittelbar aus der bindenden Kraft selbst und dem Anspruch auf Beständigkeit der Entscheidung ergeben: da die Entscheidung normative Kraft hat und die wahrscheinlich endgültige Auffassung der Judikative in einer bestimmten Rechtsfrage signalisiert, dient sie dem Verhalten der Steuerzahler als normative Grundlage. Es gibt aber auch den orientierenden Zweck, der sich aus der Funktion der Entscheidung selbst ergibt: die Entscheidungen einiger Organe und einiger Gerichte dienen insbesondere der unmittelbaren Orientierung der unterinstanzlichen Gerichte und der mittelbaren Orientierung der Adressaten der ausgelegten Normen im Wege der Rechtsvereinheitlichung. Dies ist z. B. der Fall bei den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs der Justiz und den Entscheidungen, denen Leitsätze beigefügt worden sind. Ihre Orientierungsnatur ist im buchstäblichen Sinn „höherinstanzlich“ (superior*). Drittens ist festzuhalten: je stärker die Einbettung der Entscheidung in eine Kette einheitlicher Entscheidungen ist, desto stärker muss der Schutz des der Entscheidung vom Steuerzahler entgegenbrachten Vertrauens sein. Entscheidungen der Senate des Obergerichtshofs der Justiz oder des Obersten Bundesgerichtshofs, die, obwohl sie nicht Gegenstand der Bestätigung durch die Sektionen oder des Plenums gewesen sind, doch einheitlich in einem Sinn sind, erlauben die Vermutung, dass sie die Auffassung des Gerichts über die Materie äußern, und können 468

Hans Lilie, Obiter dictum und Divergenzausgleich in Strafsachen, S. 207 ff.; Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 224 ff.; Ulrich Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, S. 53. 469 MS Nr. 24.268, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 17. 09. 04.

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also normative Leitfunktionen übernehmen. Das soll, wie hier hervorzuheben ist, nicht besagen, dass nicht bereits eine einzige Entscheidung die Vertrauensgrundlage abgeben kann470. Ganz im Gegenteil: in vielen Situationen konstituiert nur eine Entscheidung ein festeres Orientierungsfundament als eine Kette von Urteilen471. Man denke z. B. an eine Entscheidung des Plenums des Obersten Bundesgerichtshofs über eine bestimmte verfassungsrechtliche Frage im Gegensatz zu den von den Senaten des Obergerichtshofs der Justiz wiederholten Entscheidungen. Dies bedeutet, dass eine einzige Entscheidung, die bindend ist, in ihrer Orientierungsfunktion eine lange Kette von Urteilen überholt, schon deshalb, weil die Tatsache, dass eine Entscheidung in eine alte Kette von Urteilen eingebettet ist, bedeuten kann, dass sie sehr alt ist und aus diesem Grund ausnahmsweise eine Änderungserwartung erzeugen kann472. Auf diese Weise muss der Grad der Bindung der Entscheidung mit ihrer Einbettung in eine Entscheidungskette kombiniert werden: je höher der Bindungsgrad der Entscheidung, desto geringer sind die Forderungen hinsichtlich ihrer Einbettung in eine Kette von Urteilen; je geringer der Bindungsgrad der Entscheidung, desto höher müssen die Anforderungen hinsichtlich ihrer Einbettung in eine Kette von Urteilen sein473. Im Hinblick auf diesen Aspekt ist noch hervorzuheben, dass die Vertrauensgrundlage statische und dynamische Elemente beinhaltet. So kann man die Grade der Bindung und des Beständigkeitsanspruchs einer Entscheidung differenzieren, indem man nur ihre intrinsischen und synchronen Elemente untersucht, nämlich den Rang des Gerichts, das sie gefällt hat, und ihre formale oder materiale Kraft. Diese Grade können sich jedoch im Lauf der Zeit ändern: eine Entscheidung des Obergerichtshofs der Justiz, die zu anderen gleichen Aussagegehalts hinzutritt, erzeugt einen Leitsatz, weist einen hohen Grad an Bindung und Beständigkeitsanspruch auf; die Insistenz neuer Prozessparteien bei dem Versuch, die bestehende Entscheidung abzuändern, und die Kritik aus der Wissenschaft können jedoch, falls sie eine beträchtliche Qualität haben und in beträchtlicher Menge auftreten, den Richtigkeitsanspruch der Entscheidung so schwächen, dass die Rechtsprechung geändert wird, mit der Rücknahme des Leitsatzes und der Überstellung der Prozessakten an den Obersten Bundesgerichtshof. In Fällen wie diesem kann man behaupten, dass die Grade der Bindung und des Beständigkeitsanspruchs zu einem bestimmten Zeitpunkt Z1 hoch waren, aber zu einem anderen Zeitpunkt Z2 schwach wurden. Mit dieser Feststellung soll nur gezeigt werden, dass die Ver­ trauensgrundlage nicht nur in der statischen, sondern auch in der dynamischen * Das Wortspiel bezieht sich auf die Bezeichnung der obersten Bundesgerichte, die in Brasilien das Adjektiv ‚Superior‘ (= höher) führen. (Anm. des Übersetzers). 470 Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 221; Heike Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, S. 95. 471 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 3. 472 Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 222. 473 Heike Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, S. 95.

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Perspektive untersucht werden kann, im Hinblick auf den Zeitpunkt der Ausübung des Vertrauens, und nicht im Hinblick auf irgendeinen Zeitpunkt. Diese Beobachtung ist von äußerster Wichtigkeit, zumal, falls es tatsächlich ein schutzwürdiges Vertrauen gibt, man wissen muss, wie und in welchem Verfahren es zu schützen ist; falls es durch Variation der Entscheidungswirkungen geschützt wird (die im nächsten Kapitel zu untersuchen sein wird), ist große Sorgfalt anzuwenden, um nicht das Vertrauen während des vergangenen Zeitraums vollständig zu eliminieren und vermittels der prospektiven Wirksamkeit der Entscheidung zu erlauben, dass das Vertrauen in einem Zeitraum geschützt wird, in dem es die abgeänderte, vorgeblich vertrauenserzeugende Entscheidung nicht gab. Viertens ist festzuhalten: je größer die Verallgemeinerungsfähigkeit der Entscheidung ist, desto höher muss der Schutz des vom Steuerzahler der Entscheidung entgegengebrachten Vertrauens sein. In diesem Sinn haben die Entscheidungen der oberinstanzlichen Gerichte, insbesondere die des Obersten Bundesgerichtshofs, eine höhere Verallgemeinerungsfähigkeit infolge ihres abstrakten Inhalts474. Je größer die Verallgemeinerungsfähigkeit der Entscheidung ist, desto besser eignet sie sich als Vertrauensgrundlage. Da nun die Bedeutung der Vertrauensgrundlage sich aus ihrer Eignung zur Erzeugung des Vertrauens ergibt und in Ansehung des Umstands, dass man nur von Rechtsprechungsänderung im Hinblick auf wirksame und rechtskräftige Entscheidungen sprechen kann, muss der Schutz umso stärker sein, je höher die Bindung und der Beständigkeitsanspruch sind. Der Orientierungscharakter der Rechtsprechung ist umso stärker, je zahlreicher diese Elemente vorliegen. Eine einstweilige Verfügung in einem Verfahren einer Drittperson oder eine isolierte Entscheidung eines Gerichts, selbst eines Obergerichts, verdient bei Fehlen anderer Elemente kein großes Vertrauen: ihre Orientierungseignung ist fast inexistent, sei es, weil sie sich nur an die Prozessparteien wendet, sei es, weil ihre materiale normative Kraft minimal ist. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit vertretene These ist zu sagen, dass die Tatsache, dass die Entscheidung, welche die Grundlage der Ausübung des Vertrauens abgegeben hat, keine formale normative Kraft oder eine geringe materiale normative Kraft entfaltet, nicht die Möglichkeit des Schutzes der auf ihrer Grundlage erfolgten Handlungen eliminiert. Der Schutz wird exzeptionell und an die Existenz anderer Elemente gebunden sein, welche die Hinfälligkeit der Grundlage ausgleichen können. Wo diese Elemente jedoch nicht vorliegen, darf es keinen Vertrauensschutz geben. Alle vorangegangenen Betrachtungen über die Vertrauensgrundlage beweisen, dass die vorher genannten verschiedenen Faktoren der Verlässlichkeit kombiniert werden müssen, keiner jedoch hinlängliche Qualität hat, um den Schutz des Vertrauens zu gewährleisten oder abzuwenden. Wie schon bewiesen worden ist, ist die Anzahl der Entscheidungen ein Kriterium. Es muss vermutlich mehr Schutz 474

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 627.

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geben, je länger die Kette einheitlicher Entscheidungen ist. Es kann jedoch der Fall eintreten, dass es nur eine Entscheidung in einem Sinn gibt, diese Entscheidung jedoch bindend ist und einen hohen wissenschaftlichen Konsens erzeugt. Aus diesem Grund ist die Anzahl der Entscheidungen in einem Sinn – obwohl sie zu berücksichtigen ist – weder notwendige noch hinreichende Bedingung der Ausgestaltung einer verlässlichen Grundlage. Kriterium ist ebenfalls das Alter der Entscheidung. Es muss vermutlich einen stärkeren Schutz geben, je konsolidierter in der Zeit die Entscheidung ist, welche die Grundlage für die Handlung abgegeben hat. Es kann jedoch passieren, dass die Entscheidung, eben weil sie alt ist, änderungsbedürftig wird und daher nicht die Grundlage der Handlung abgeben darf. Deshalb ist das Alter der Entscheidung, obwohl es ein wichtiges Element ist, weder notwendige noch hinreichende Bedingung der Ausgestaltung einer verlässlichen Grundlage usf. Arndt hat also Recht, wenn er behauptet, dass es keine Standardantwort auf das Problem der rückwirkenden Wirksamkeit der Rechtsprechung gibt475. Diese Argumente über die Zweideutigkeit der Kriterien münden nicht in ihre Bedeutungslosigkeit; sie veranlassen nur ihre Verwendung als verweisende Elemente, die weder notwendig noch hinreichend sind. Die Tatsache, dass sie verweisend sind und keine absolute Gewissheit gewährleisten, beraubt sie keineswegs ihrer Bedeutung. Die Abwesenheit von Kriterien verhindert die Kontrollierbarkeit der Anwendung des Vertrauensschutzprinzips und kommt dem Rechtssicherheitsprinzip selbst, das keine Willkür und keinen Begründungsmangel duldet, entgegen476. Der Mangel an Kriterien führt auch zur Verwendung jeder Entscheidung als Vertrauensgrundlage, einschließlich von Entscheidungen, die keinerlei Orientierungstypus anbieten noch anbieten können. Wenn wir akzeptieren, dass jede Art von Orientierung schutzwürdiges Vertrauen erzeugt, führt dies auch zu einem dem Rechtssicherheitsprinzip widerstrebenden Ergebnis, denn der Schutz von Vertrauen, das sich auf jede Art von Entscheidung stützt, fördert letztlich den Opportunismus und die Abwesenheit von individueller Verantwortung für das im Handeln willentlich eingegangene Risiko, was dem Rechtssicherheitsideal selbst frontal widerstrebt. Deshalb ist es wichtig, die Kriterien, Elemente und Beziehungen anzugeben, selbst wenn sie (vorzugsweise untereinander) beweglich sind. Neben der Vertrauensgrundlage muss zweitens das Vertrauen des Steuerzahlers in die ihn orientierende Entscheidung vorliegen. Hier ist in Erfahrung zu bringen, ob das Vertrauen tatsächlich bestehen muss oder ein bloß unterstelltes Vertrauen ausreicht. In anderen Worten: muss der Steuerzahler tatsächlich die Entscheidung kennen, die er befolgt zu haben vorgibt, oder genügt es, dass er die Möglichkeit gehabt hat, sie zu erfahren, damit das Vertrauen vorliegt? Die Literatur zerfällt diesbezüglich in zwei Lager: einige Autoren sind der Auffassung, dass das Ver-

475

Hans-Wolfgang Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, S. 130. Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 240. 476

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trauen abstrakt und fiktiv sein kann477; andere bestehen jedoch auf einem konkre­ ten Vertrauen478. Da richterliche Entscheidungen, anders als die an alle Bürger adressierten Gesetze, vornehmlich an die Parteien gerichtet sind, vorbehaltlich derjenigen mit erweiterten subjektiven Wirksamkeiten, ist ein konkretes und tatsächliches Vertrauen in die „abgeänderte“ Entscheidung notwendig, damit die Bindung der Kausalität zwischen der Vertrauensgrundlage und dem vom Bürger gewählten Verhalten gerechtfertigt werden kann. Drittens muss die Ausübung des Vertrauens vorliegen. Das Vertrauen muss, um hier die schon in die Diskussion über den Vertrauensschutz einverleibte Rede­ wendung zu wiederholen, „praktisch umgesetzt“ worden sein. Man schützt weder die Hoffnung noch das abstrakte Vertrauen, sondern nur die Ausübung des Vertrauens, d. h. die konkreten Akte der Disposition über die Grundrechte der Freiheit und des Eigentums. Die Privatperson muss also konkrete Akte aufgrund der „abgeänderten“ Entscheidung vorgenommen haben, wie etwa die Tätigung einer Investition, die Unterzeichnung eines Vertrags, die Unterlassung einer gerichtlichen Hinterlegung, die Unterlassung der Entrichtung einer Abgabe usf.479 Unter den aufzuzeigenden und nachzuweisenden Elementen hinsichtlich der Intensität der Einschränkung der Grundrechte befinden sich die Belastung, die Dauer und die Umkehrbarkeit des Handelns des Bürgers. Je höher die verursachten Belastungen sein werden, je länger die Dauer der Wirksamkeit der Grundlage und je schwieriger die Umkehrung der verursachten Wirkungen ist, desto intensiver wird die Einschränkung der Grundrechte des Eigentums und der Freiheit des Bürgers sein und desto stärker muss der Schutz des vom Bürger der Normgrundlage entgegengebrachten Vertrauens sein. Viertens muss eine Enttäuschung des Vertrauens vorliegen. Die „abändernde“ Entscheidung muss ein unvorteilhaftes Ergebnis für den Bürger erzeugen, der aufgrund der „abgeänderten“ Entscheidung gehandelt hat480. Wie schon gesagt wurde, erzeugt nicht jede Art von Enttäuschung den Schutz der Ausübung des Vertrauens: es muss einen gewissen sich aus der Rechtsprechungsänderung ergebenden Grad der Einschränkung geben. Daher die Beziehung zwischen den Voraussetzungen der Anwendung des Vertrauensschutzprinzips: der Bürger muss aufgrund der Entscheidung gehandelt haben und später von ihrer Änderung überrascht worden sein. Da die Voraussetzungen der Anwendung des Vertrauensschutzprinzips vorliegen und das Vertrauen schutzwürdig ist, stellt sich die grundlegende Frage: wie, d. h. 477 Wolfgang Grunsky, Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, S. 26. 478 Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 235. 479 Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 237. 480 Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 234.

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vermittels welcher Instrumente ist das Vertrauen des Bürgers zu schützen, der seine Freiheits- und Eigentumsrechte aufgrund der abgeänderten Entscheidung ausgeübt hat? Diese Frage soll nachfolgend beantwortet werden. (ee) Mittel des Vertrauensschutzes im Fall der Rechtsprechungsänderung Wie schon gesagt, liegt der Vertrauensschutz hinsichtlich der Akte der Disposition über die ursächlich an die abgeänderte richterliche Entscheidung gebundenen Grundrechte vor481. Da dem so ist, hat der Schutz sich auf diese Dispositionsakte und nicht auf andere Akte zu konzentrieren. Jede Art der Einschränkung des Inhalts oder der Wirkungen der abändernden Entscheidung im Namen des Vertrauensschutzprinzips hat an die ursächlich auf die abgeänderte richterliche Entscheidung bezogenen Dispositionsakte gebunden zu bleiben. Wenn dem nicht so ist, besteht das Risiko, dass im Namen des Vertrauensschutzprinzips die nichtexistierende Ausübung des Vertrauens geschützt wird. Ein Beispiel mag dieses Argument veranschaulichen. Man stelle sich vor, dass ein bestimmter Steuerzahler eine steuerrechtliche Diskussion durch die Protokollierung der Einreichung seiner Klageschrift zu einem ersten Zeitpunkt Z1 begonnen hat, als es noch keinerlei Stellungnahme der Judikative zu dieser Materie gab. Zu einem zweiten Zeitpunkt Z2 wird eine Entscheidung des Obergerichtshofs der Justiz über eine mit der in den Akten des laufenden Verfahrens scheinbar identische Materie verkündet. Und zu einem dritten Zeitpunkt Z3 hat der Oberste Bundesgerichtshof die letztinstanzliche Entscheidung über die Materie verkündet, in einer der früheren Entscheidung des Obergerichtshofs der Justiz gegenläufigen Weise. Wir haben somit folgende Sachlage: Einreichung der Klage zu Z1, „abgeänderte Entscheidung“ zu Z2 und „abändernde Entscheidung“ zu Z3. Stellen wir uns schließlich vor, dass infolge der verschiedenen ähnlichen Verfahren zwei Anträgen stattgegeben wird: einem im Verfahren, in dem die „abändernde Entscheidung“ gefällt worden ist, mit dem Zweck, der Entscheidung eine prospektive Wirkung zuzuschreiben, und zwar im Namen des Schutzes der Rechtssicherheit derjenigen, die der „abgeänderten Entscheidung“ vertraut haben; dem anderen im laufenden Einzelverfahren, in dem noch keine Entscheidung gefällt worden ist, mit dem Ziel, den Inhalt der Entscheidung umzudefinieren, und zwar auch im Namen der Rechtssicherheit desjenigen, welcher der „abgeänderten Entscheidung“ vertraut hat. In diesem Sinn wird hier gefragt: würde die en bloc und ohne sorgfältige Wirksamkeitsunterscheidung erfolgende Zuschreibung einer prospektiven Wirkung an die „abändernde Entscheidung“ das angemessene Instrument für den Vertrauensschutz sein? Und wäre die Änderung des Ergebnisses des laufenden Verfahrens das angemessene Mittel zum Schutz des Vertrauens? Diese beiden Fragen zeigen schon an sich die Schwierigkeit einer standardisierten 481

Bodo Viets, Rechtsprechungsänderung und Vertrauensschutz, S. 203.

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Lösung von auf den Schutz der Ausübung des Vertrauens bezogenen Problemen. Da der Zweck der hier erörterten Prüfung darin besteht, konkrete Akte der Disposition über Grundrechte zu schützen, die „aufgrund“ der abgeänderten Entscheidung ergangen sind, ist jede Lösung, die nicht die notwendige ursächliche Beziehung zwischen individuellen Dispositionsakten und abgeänderter richterlicher Entscheidung beachtet, keine angemessene Lösung vom Standpunkt des Prinzips des Vertrauensschutzes. Um zu wissen, ob die Zuweisung einer prospektiven Wirkung der „abändernden Entscheidung“ ein angemessenes Instrument des Vertrauensschutzes sein könnte, muss man der Tatsache Rechnung tragen, dass das zuständige Gericht, falls es diese prospektiven Wirkungen auf der Grundlage des Vorliegens einer Rechtsprechungsänderung zuweist und jegliche vergangene Wirkung ausschließt, auch das „Vertrauen“ schützen wird, auch bezüglich der zwischen Z1 und Z2 begangenen Handlungen, d. h. der Handlungen in einer Zeit, in welcher die „abgeänderte Entscheidung“ nicht einmal existierte und daher nicht die Grundlage für die zufällig orientierte Ausübug des Vertrauens abgegeben haben könnte. In der Tat können die in diesem Zeitraum von den Steuerzahlern im Allgemeinen und vom Kläger im hier diskutierten Verfahren begangenen Handlungen nicht ursächlich von der „abgeänderten Entscheidung“ beeeinflusst worden sein, da diese einfach nicht existierte. Wenn dem so ist, bedeutet der Ausschluss vergangener Folgen aufgrund des Vertrauensschutzprinzips, einschließlich in Bezug auf den Zeitraum, in dem die „abgeänderte Entscheidung“ nicht einmal existierte, dass eine rückwirkende Wirkung aufgrund des Rückwirkungsverbots hervorgerufen wird, so paradox dies anmuten mag: da zwischen Z1 und Z2 die „abgeänderte Entscheidung“ noch nicht existierte, beinhaltet die Einführung prospektiver Wirkungen, dass die in Z2 verkündete Entscheidung auf den Zeitraum Z1 zurückwirken. Man wirkt also im Namen der Nichtrückwirkung zurück. So könnte man also nur den Schutz der Ausübung des Vertrauens aufgrund der „abgeänderten Entscheidung“, also zwischen Z und Z3 postulieren, wenn man die tatsächliche Begehung von Dispositionsakten nachweisen könnte, die ursächlich an die abgeänderte Entscheidung gemäß den obengenannten Voraussetzungen gebunden wären. Das hier konstruierte Beispiel dient vor allem dem Nachweis, dass die Zuweisung prospektiver Wirkungen in der „abändernden Entscheidung“ selbst ein unangemessener Mechanismus zur Bewertung der Besonderheiten eines jeden Falls sowie zur Trennung der Zeiträume ist, in denen nicht einmal die Ausübung des Vertrauens stattgefunden haben kann, von den Zeiträumen, in denen die Ausübung erfolgt sein kann. Auf diesen Punkt werden wir im nächsten Kapitel zurückkommen. Hinsichtlich der Frage, ob die Veränderung des Ergebnisses des laufenden Verfahrens ein angemessenes Mittel wäre, um das Vertrauen zu schützen, ist an die schon vorgetragenen Erwägungen zu erinnern. Einerseits legt die Partei im Verfahren der Gerichtsbarkeit den Zweifel bezüglich einer bestimmten Frage vor und darf nicht überrascht sein, wenn das Ergebnis am Ende für sie ungünstig aus-

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fällt. Andererseits kann, während das Verfahren des Steuerzahlers läuft und die in einem anderen Verfahren gefällte „abgeänderte Entscheidung“ nicht endgültig ist, letztere nicht den Parameter für die Verübung von Akten der Disposition über Grundrechte abgeben. Die Frage ändert sich, wenn die „abgeänderte Entscheidung“ rechtskräftig geworden ist und einen hohen Grad an Bindung, Beständigkeitsanspruch, Verallgemeinerungsfähigkeit, Orientierungszweck und Einbindung in eine einheitliche Entscheidungskette aufweist. Wenn dies eintritt und der Kläger oder andere Personen konkrete Akte in Bezug auf sie vorgenommen haben, kann man von Vertrauensschutz sprechen. So kann beispielsweise der Kläger, der Einzahlungen über den vollständigen Betrag der strittigen Schuld getätigt hat, sein Vertrauen geschützt sehen, falls er diese Praxis aufgrund der „abändernden Entscheidung“ unterbrochen hat. Hier stellt sich jedoch die Frage: geschützt wie und in welchem Verfahren? Geschützt vor der abändernden Entscheidung vermittels der Abschlussentscheidung seines Verfahrens oder vermittels angemessener Steuerveranlagungen durch das Finanzamt? Diese Fragen lassen schon die Schwierigkeit einer standardisierenden Position erkennen. Da der Vertrauensschutz im Bereich der Rechtsprechungsänderung von der Existenz konkreter Dispositionsakte abhängt, die ursächlich an die abgeänderte Entscheidung gebunden sind, ist das Vorliegen dieser Akte nachzuweisen. Und zu diesem Zweck ist eine der Beweiserhebung angemessene Verfahrensphase unerlässlich, es sei denn, dass die Dispositionsakte, um die es hier geht, auf das Verfahren selbst bezogen werden (als gerichtliche Verwahrungen) und die Bindung an die „abgeänderte Entscheidung“ vermutet werden kann (falls die Unterbrechung der gerichtlichen Verwahrungen nach der Veröffentlichung der „abändernden Entscheidung“ erfolgt). Was man nicht tun darf, ist einfach tabula rasa mit der Vertrauensausübung zu machen. Nun kann man eben wegen der vorstehenden Betrachtungen keine Standardlösung zulassen, um die an eine abgeänderte Entscheidung gebundene konkrete Ausübung des Vertrauens zu schützen. In jedem Fall ist die ursächlich orientierte Ausübung von Dispositionsakten über Grundrechte nachzuweisen. Wenn dem so ist, drängen sich jedoch einige Schlussfolgerungen in negativer Perspektive auf: man kann keine standardisierenden Lösungen eines vollständigen Ausschlusses deklaratorischer Wirkungen einer gerichtlichen Entscheidung zulassen, die eine frühere gerichtliche Auffassung aufgrund des Vertrauensschutzprinzips abändert, da diese Lösungen unfähig sind, das Vorliegen konkreter Dispositionsakte aufgrund der abgeänderten Entscheidung zu bewerten; man kann keine Lösungen in Verfahren oder Prozeduren zulassen, die nicht den Beweis der tatsächlichen Vornahme konkreter Dispositionsakte zulassen oder berücksichtigen, zumindest wenn das Fundament der prospektiven Wirkung das Vertrauensschutzprinzip ist (an Stelle der Rechtssicherheit im objektiven Sinn). Eben aufgrund dessen, was hier behauptet wird, schlägt die Wissenschaft die Verwendung anderer Instrumente vor, um zu vermeiden, dass die Rechtsprechungs­

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änderung zu Unrecht den Steuerzahler trifft, der sein Vertrauen auf der Grundlage einer aufgegebenen Rechtsprechungsorientierung ausgeübt hat. Wenn also die abändernde Entscheidung selbst nicht die Vielfalt eventuell bestehender Situationen erfassen kann und die gerichtliche Entscheidung eines laufenden Verfahrens anlässlich der Rechtsprechungsänderung auch nicht (aus materialen oder prozessualen Gründen) das Vorliegen konkreter auf die abgeänderte Entscheidung gegründeter Dispositionsakte bewerten kann, sind andere Instrumente zu finden. Unter ihnen befinden sich folgende: allgemeine formale Übergangsregeln, die von der Judikative oder Exekutive festgelegt worden sind, um zu erlauben, dass die Steuerzahler, die der aufgegebenen Rechtsprechung vertraut haben, sich der neuen Auffassung anpassen können; allgemeine materiale Übergangsregeln, die von der Judikative oder Exekutive festgelegt worden sind und rückwirkende Folgen für diejenige Steuerzahler ausschließen, welche an die abgeänderte Entscheidung gebundene Dispositionsakte nachweisen können; spezifische individuelle Entscheidungen sowohl der Judikative als auch der Exekutive in Verfahren oder Prozeduren, die bestimmt sind, mit einer angemessenen Beweiserhebung das Vorliegen tatsächlicher Akte der Disposition über Grundrechte, die ursächlich an die aufgegebene Rechtsprechung gebunden sind, nachzuweisen482. Es ist also ein „Arsenal flexibler Rechtsfolgenaussprüche“ zu berücksichtigen, die unter Ausschluss retrospektiver Wirkungen fähig sind, Übergangsfristen oder -regeln zu umfassen, das vorhergehende Gerichtsverfahren und die laufenden parallelen Gerichtsverfahren auszunehmen, an den Gesetzgeber zu appellieren, um mit oder ohne Frist die für die Rückkehr zur Verfassungskonformität notwendigen Veränderungen zu fördern, und so weiter483. Ein gutes Beispiel dieses Lösungstyps ist die vom Obersten Bundesgerichtshof statuierte Regel im Fall der Rechtsprechungsänderung über das Streikrecht. In einem ersten Moment war das Gericht der Auffassung, dass die Ausübung dieses Rechts von einer gesetzlichen Bestimmung abhing. In einem zweiten Moment stellte es fest, dass das Recht der zivilen Mitarbeiter der Verwaltung auf Streik nach wie vor vom Gesetzgeber nicht minimal zufriedenstellend normiert worden sei, um seine Ausübung zu gewährleisten, weshalb das Gericht beschloss, dass es nicht vermeiden könne, anzuerkennen, dass es auch in Fällen der Untätigkeit oder Unterlassung der Legislative handeln könne. Trotzdem, angesichts der „Evolution der Rechtsprechung zum Thema der Auslegung der Unterlassung der Legislative im Fall des Streikrechts der zivilen Mitarbeiter der Verwaltung und in Ansehung der Erfordernisse der Rechtssicherheit, wird eine Frist von sechzig Tagen gesetzt, damit der Nationalkongress die Materie gesetzlich regelt“484. 482 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 646; Christiane Lübbe, Grenzen der Rückwirkung bei Rechtsprechungsänderungen, S. 113 ff. 483 Roman Seer, Rechtsschutz in Steuersachen, in: Tipke, Klaus / Lang, Joachim (Hrsg.), Steuerrecht, 19. Aufl., § 22, Rn. 286, S. 1090 ff. 484 MI Nr. 670, Plenum, Berichterstatter für das Urteil: Richter Gilmar Mendes, entschieden am 25. 10. 07, DJe-206, S. 1.

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Ein anderes Beispiel ist die für den Fall der Rechtsprechungsänderung in Kompetenzfragen statuierte Übergangsregel. In einem ersten Moment vertrat der Oberste Bundesgerichtshof bei einer Auslegung von Art. 109 I der CF/88 die Auffassung, dass die Klagen auf Entschädigung für sich aus einem Arbeitsunfall ergebende immaterielle Schäden und Vermögensschäden, selbst wenn sie von einem Arbeitnehmer gegen den (ehemaligen) Arbeitgeber angestrengt würden, in den Zuständigkeitsbereich der allgemeinen Gerichtsbarkeit der Bundesstaaten fielen. In einem zweiten Moment kam das Plenum jedoch zum Schluss, dass die CF/88 diese Kompetenz der Arbeitsgerichtsbarkeit übertragen hat. In Ansehung der beträchtlichen Anzahl der Klagen, die schon bearbeitet worden waren und noch von den Amtsgerichten bearbeitet wurden, und des relevanten gesellschaftlichen Interesses an dieser Sache entschied das Plenum nicht nur, dass das Datum des Beginns der Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit der Erlass der Verfassungsänderung Nr. 45/04 wäre, sondern auch, dass die neue Rechtsprechung die bei den Amtsgerichten der Bundesstaaten anhängigen Verfahren betreffe, sofern die Begründetheit des Antrags noch nicht entschieden wäre, so dass die von den Amtsgerichten der Bundesstaaten bearbeiteten Klagen mit einem Urteil über ihre Begründetheit vor der Veröffentlichung der genannten Verfassungsänderung bei den Amtsgerichten bis zum Eintritt der Rechtskraft und der entsprechenden Vollstreckung verbleiben würden; die Klagen, deren Begründetheit noch nicht erörtert worden wäre, würden in dem Zustand, in dem sie sich befänden, der Arbeitsgerichtsbarkeit überstellt, mit vollständiger Anrechnung aller bis zu diesem Zeitpunkt erfolgten Prozesshandlungen. Diese Entscheidung wurde deshalb gefällt, weil der Oberste Bundesgerichtshof als „oberster Hüter der Verfassung der Republik im Namen der Rechtssicherheit seinen Entscheidungen prospektive Wirksamkeit mit genauer Abgrenzung der jeweiligen Wirkungen zuweisen kann und soll, immer dann, wenn er zu Revisionen der die Kompetenz ex ratione materiae festlegenden Rechtsprechung schreitet“485. Was sich dem Vertrauensschutzprinzip wegen Nichtberücksichtigung der notwendigen kausalen Verknüpfung zwischen der abgeänderten Entscheidung und den individuellen Akten der Disposition über Grundrechte der Freiheit und des Eigentums nicht anpasst, ist die Lösung, die darin besteht, Wirkungen pro futuro auf drakonische und standardisierte Weise und en bloc zuzuweisen. Unter diesem Aspekt lohnt es sich, an die Argumentation des Obersten Richters Bilac Pinto über die konzentrierte (oder handlungsbezogene) Kontrolle im Unterschied zu der diffusen (bzw. exzeptionellen) Kontrolle zu erinnern: „In der Tat sind die Wirkungen der Erklärung der Verfassungswidrigkeit auf dem Wege der Ausnahme, d. h. die Verfassungswidrigkeitserklärung des Obersten Bundesgerichts bezüglich eines auf einen konkreten Fall anwendbaren Gesetzestexts gut bekannt. In diesem Fall wurde die Verfassungswidrigkeit auf die Klage erklärt. Diese zweite Hypothese unterscheidet sich von der ersten, da sie nicht an die Anwendung des Gesetzes auf einen konkreten Fall gebunden ist und da die Erklärung der Verfassungswidrigkeit abstrakt gegen das untersuchte Ge 485

CC Nr. 7204/MG, Plenum, Berichterstatter: Richter Carlos Britto, DJ 09. 12. 05, S. 5.

I. Gehalt der Rechtssicherheit 

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setz abgegeben wird. Die Wirkungen dieses Typus der Erklärung der Verfassungswidrigkeit können nicht in einer einzelnen für alle Fälle geltenden Regel zusammengefasst werden.“486

Deswegen ist es so wichtig, die Zuweisung von Wirkungen an in Verfahren der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gefällte Entscheidungen zu untersuchen, was auf den folgenden Seiten geschehen soll. (4) Exkurs: Variation von Entscheidungswirkungen aufgrund der Rechtssicherheit (a) Einleitende Betrachtungen Wenn der Oberste Bundesgerichtshof die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit der Verfassung feststellt, erklärt er traditionellerweise dessen Verfassungswidrigkeit mit Wirkungen für die Vergangenheit, d. h. er verordnet die Nichtigkeit des Gesetzes seit seinem Ursprung, also mit deklaratorischer Wirkung (Wirksamkeit ex tunc). Dies ist die Regel. Es gibt jedoch eine Ausnahme: eventuell kann das Gericht zur Überzeugung kommen, dass es, obwohl die Norm, die Gegenstand der Kontrolle der Verfassungsgemäßheit ist, mit der Verfassung unvereinbar ist, Gründe gibt, welche die Erhaltung oder den Fortbestand ihrer in der Vergangenheit hervorgerufenen Wirkungen oder von Teilen davon rechtfertigen. In diesen Fällen erklärt das Gericht das Gesetz für verfassungswidrig, schränkt die Wirkungen der Verfassungswidrigkeitsentscheidung jedoch auf die Zukunft oder einen anderen Zeitpunkt ein, indem es Übergangsregeln festlegt bzw. nicht festlegt. Das Gericht schützt also die vergangene Wirksamkeit eines verfassungswidrigen Gesetzes, da es anerkennt, dass es auf diesem Weg die Verfassungsordnung stärker fördert, als es dies tun würde, wenn es die Verfassungswidrigkeit der Norm mit deklaratorischen Wirkungen erklären würde487. Die „Variation“ der zeitlichen Wirkungen der Entscheidungen besteht also in einer Form der „Mäßigung“ der Wirkungen der Nichtigkeitserklärung488.

486

RE Nr. 78.594, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Bilac Pinto, DJ 30. 10. 74. Gilmar Mendes, Jurisdição Constitucional, 3. Aufl., S. 212 ff.; Gilmar Mendes, Anteprojeto de lei sobre processo e julgamento da ação direta de inconstitucionalidade e da ação declaratória de constitucionalidade, in: Cadernos de Direito Constitucional e Ciência Política 29 (1999), S. 24–36; Klaus Schlaich / Stephan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht – Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 7. Aufl., S. 225 ff.; Christian Hillgruber / Christoph Goos, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl., S. 194; Hans Lechner / Rüdiger Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 5. Aufl., S. 411 ff.; Dieter Umbach / Thomas Clemens / Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl., S. 988; Michael Sachs, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl., S. 62 ff. 488 Bernard Pacteau, Comment aménager la rétroactivité de la Justice? Sécurité juridique, sécu­rité juridictionnelle, sécurité jurisprudencielle, in: Seiller, Bertrand (Hrsg.), La rétroactivité des décisions du juge administratif, S. 117. 487

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

Die Kompetenz des Obersten Bundesgerichtshofs zur Zuweisung zeitlich verzögerter Wirkungen an die Verfassungswidrigkeitserklärung ist ausdrücklich im Gesetz Nr. 9.868/98 festgelegt. Dieses statuiert in Art. 27, dass der Oberste Bundesgerichtshof bei der Erklärung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder normativen Akts und „angesichts von Gründen der Rechtssicherheit oder eines außergewöhnlichen gesellschaftlichen Interesses“ die Wirkungen dieser Erklärung einschränken oder entscheiden kann, dass das Gesetz bzw. der normative Akt erst mit dem Eintritt seiner Rechtskraft oder eines anderen festzulegenden Moments wirksam wird. Eben die Bezugnahme auf die Rechtssicherheit verbindet das Thema der Verfassungswidrigkeitserklärung mit dem hier sogenannten Übergangs­ steuerrecht. Da die Zuweisung prospektiver Wirkungen an die Verfassungswidrigkeits­ erklärung die Beibehaltung rechtswidriger Akte bzw. ihrer Wirkungen ohne die notwendige Analyse aller vorher genannten konkreten Besonderheiten beinhaltet, ist ihre Verwendung immer, wie im auf den zeitlichen Aspekt der Rechtssicherheit bezogenen Teil schon dargelegt, was man „Gegenbefehl“ oder „Gegenanordnung“ nennen könnte: wenn das Recht ihre Einhaltung postuliert, immer dann, wenn die verursachten Wirkungen einer rechtswidrigen Akt beibehalten werden, wird seine Verletzung geduldet und auf gegenläufigem Weg sogar gefördert. In anderen Worten: man führt eine Art Doppelkommando ein, das dem Recht intern widerspricht: es ist einzuhalten, kann aber nicht eingehalten werden; wenn es nicht eingehalten werden kann, muss es nicht eingehalten werden. Für das hier erörterte Thema kommt es darauf an, dass dieses Phänomen die der Rechtssicherheit immanenten Ideale einschränkt: die Erkennbarkeit, die Verlässlichkeit und die Berechenbarkeit des Rechts. Die Erkennbarkeit des Rechts wird betroffen, insofern die Beibehaltung der Wirkungen trotz Rechtswidrigkeit zur Ungewissheit hinsichtlich der sowohl für die Behörde als auch für den Adressaten anwendbaren Regel führt: wenn es eine Regel gibt, ihre Nichteinhaltung aber nicht geahndet wird, besteht keine Gewissheit darüber, welche Regel gültig ist: die, die der Minimalbedeutung des Tatbestands der abstrakten Regel entspricht, oder die, die sich aus ihrer Anwendung durch die Judikative ergibt. Außerdem, da die Regeln sich dadurch auszeichnen, dass sie exkludente Gründe beinhalten, in dem Sinn, dass die in ihrem Tatbestand nicht vorgesehenen Merkmale nicht allgemein berücksichtigt werden können, und dass die Beibehaltung der Wirkungen ihrer Verletzung eben die Berücksichtigung anderer in ihr nicht vorgesehener Merkmale darstellt, entsteht Ungewissheit in Bezug auf die zu berücksichtigenden Tatbestandsmerkmale-die in den Tatbeständen der Rechtsregeln vorgesehenen oder die eventuell von der Judikative zu berücksichtigenden Merkmale. Man macht also Ausflüchte hinsichtlich der Struktur der Regeln489. Die Ungewissheit in Bezug auf die anwendbare Norm und die rechtlich relevanten Argumente schränkt die vom Recht geforderte „Orientierungssicher 489

Joseph Raz, Practical Reason and Norms, S. 40 ff.

I. Gehalt der Rechtssicherheit 

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heit“ ein: sowohl die Behörden als auch die Privatpersonen wissen nicht, woran sie sich orientieren sollen, ob an der Regel oder ihrer Ausnahme, und sie wissen auch nicht, auf welche Bewertung sie sich stützen können, ob auf das autoritative Argument der Regel oder auf das Argument der Richtigkeit der Entscheidung. Diese Betrachtungen werden noch verständlicher, wenn wir ein Beispiel heranziehen, dass mit den elterlichen Befehlen an auf ihrem Ungehorsam bestehenden Kleinkinder zusammenhängt490. Wenn das Kind versteht, was „nein“ bedeutet, jedoch nicht gewiss ist, dass das „Nein“ wirklich ein „Nein“ ist oder, selbst wenn es diese Gewissheit hat, nicht sicher ist, ob nach einem Weinanfall oder dem Insistieren das „Nein“ sich nicht in ein „Ja“ verwandeln kann, erfüllt das Kind einfach nicht den Befehl der Eltern oder zweifelt zumindest daran. Dieses Beispiel illustriert die Abwesenheit der Erkennbarkeit und, mittelbar, der Berechenbarkeit von Normen: es gibt keine Erkennbarkeit, da der Adressat nicht weiß, welches die Norm ist („nein“ oder „ja“?), oder da er ihren Wert nicht kennt („nein“ als „nein“ oder „ja“?); es gibt keine Berechenbarkeit, da der Adressat nicht weiß, welches die Wirksamkeit der Norm ist („nein“ immer als „nein“ oder vielleicht auch als „ja“?). Wenn wir dieses Beispiel auf den Bereich der Rechtsnormen anwenden, zeigt es die Folgen des Fehlens normativer Gewissheit für die Verwirklichung der Prinzipien des Rechtsstaats und der Rechtssicherheit: es gibt nur einen Zustand, in dem das Recht eine konstitutive Rolle spielt und die Rechtssicherheit eine für die Freiheit instrumentelle Funktion ausübt, wenn es nämlich eine minimale Gewissheit der Adressaten hinsichtlich der Gültigkeit, Geltung und Wirksamkeit der Normen gibt. Wie Summers darlegt, ist ein zentrales Element des Rechtsstaatsprinzips das Vorliegen eines stabilen Systems von scheinbare Bedeutung gewährleistenden Regeln, aufgrund dessen die Bürger ihr Verhalten und ihre Geschäfte planen können491. Die Verlässlichkeit des Rechts wird insofern betroffen, als die Beibehaltung der Wirkungen trotz Rechtswidrigkeit die Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung und ihre Wirksamkeit kompromittiert. Jede Rechtsregel beinhaltet definitionsgemäß einen Tatbestand und eine Rechtsfolge, die analytisch durch den Ausdruck „wenn, dann“ dargestellt werden: Ist der Tatbestand erfüllt, tritt die Rechtsfolge ein. Die Orientierungsfunktion des Rechts wird genau dann erfüllt, wenn die Bürger in der Kenntnis der geltenden Regeln zumutbarerweise damit rechnen können, dass beim Vorliegen des in ihrem Tatbestand vorgesehenen Sachverhalts die Rechtsfolgen in den meisten Fällen beachtet werden. Aus keinem anderen Grund beinhaltet der Zustand der Verlässlichkeit des Rechts die Ideale der Stabilität und Wirksamkeit der Rechtsordnung. Nun ändert der Missbrauch bei der Verwendung des Mechanismus der Beibehaltung der Wirkungen verfassungswidriger Akte gerade dieses Regulierungsparadigma: statt „wenn, dann“, haben wir „wenn, dann vielleicht“. Damit entsteht ein Problem der Orientierung und Verlässlichkeit sowohl für die Behörden als auch für die Adressaten: für die Behörden, da sie rechtswidriges 490 491

Frederick Schauer, Thinking like a lawyer: a new introduction to legal reasoning, S. 62. Robert Summers, A formal theory of the Rule of Law, in: Essays in Legal Theory, S. 171.

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

Verwaltungshandeln unterlassen können, indem sie auf die Anwendung der Folge im Fall der Nichteinhaltung („wenn, dann“) vertrauen, oder diese rechtswidrigen Akte begehen können, indem sie auf das Ausbleiben der Anwendung der Folge vertrauen („wenn, dann vielleicht“); für die Adressaten, die am Ende nicht mehr wissen, welche der beiden Verhaltensweisen vom Staat gewählt und welche Rechtsfolge von der Judikative festgelegt werden wird. Die Berechenbarkeit des Rechts ist ebenfalls eingeschränkt, da die Beibehaltung der Wirkungen rechtwswidriger Akte die Vorhersehbarkeit fremden Verhaltens und die bindende Natur des Rechts selbst beeinträchtigt. Die Ungewissheit hinsichtlich der auf die verfassungswidrigen Akte anzuwendenden Folgen lässt Zweifel am zukünftigen Verhalten der Behörden aufkommen. Wenn man den Eintritt in den öffentlichen Dienst ohne öffentliche Ausschreibung beibehält, nährt man damit Zweifel an der Natur der nächsten Einstellungen sowohl bei den Behörden („führen wir eine öffentliche Ausschreibung durch oder stellen wir direkt oder in einem abgeleiteten Verfahren ein?“) als auch bei den Adressaten („wird es eine öffentliche Ausschreibung geben, oder wird man indirekt auswählen?“). Wenn die Beitreibung einer verfassungswidrigen Abgabe beibehalten wird, entstehen gleichfalls Ungewissheiten bezüglich der nächsten Beitreibungen, sei es für die Legislative („Einführung einer Abgabe gemäß der verfassungsrechtlichen Kompetenzregel oder Überschreitung des Bereichs dieser Kompetenzregel?“), sei es für die Adressaten („wird die Kompetenz verfassungskonform oder verfassungswidrig ausgeübt?“). Wenn die Wirkungen der gegen das Prinzip des ordnungsgemäßen Verfahrens verstoßenden Akte beibehalten werden, entstehen Zweifel bezüglich der nächsten prozessualen Akte, sei es für die Behörden („gebe ich der Gegenpartei Einsicht in die neue den Akten hinzugefügte Urkunde oder nicht?“), sei es für die Adressaten („wird die Verhandlung sich auf Elemente stützen, zu denen ich Stellung bezogen habe, oder nicht?“). Der Bundesrichter Cezar Peluso hat in einem später untersuchten Fall zutreffend behauptet: „wenn das Gericht flexibilisiert, was ist dann die Tendenz? Die Nichteinhaltung der Norm […].“ Der Richter Marco Aurélio hat gleichfalls geäußert: „meine Besorgnis erregt die Ermutigung zur Nichteinhaltung der Verfasssung, zur Nichteinhaltung des Gesetzes“492. Man möge verstehen, dass diese anfänglichen Bemerkungen die Verwendung des Mechanismus der Variation der zeitlichen Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung nicht gänzlich ausschließen wollen. In einigen Fällen und bei Einhaltung bestimmter Voraussetzungen kann-und muss-er verfassungskonform angewandt werden. Gezeigt soll vielmehr werden, dass sein Raum im Bereich der Prinzipien des Rechtsstaats und der Rechtssicherheit gering ist-sehr gering. Eben deshalb muss man so genau wie möglich wissen, was „Sicherheitsgründe“ bedeuten und in welchem Maße diese Gründe die Beibehaltung der Wirkungen 492 RE Nr. 401.953-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 21. 09. 07, S. 467 f. des Urteils, für beide Äußerungen.

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eines für verfassungswidrig erklärten Gesetzes rechtfertigen können. Dieses Desiderat kann besser durch eine Untersuchung des deutschen Rechts erreicht werden, weil die gesetzliche Regel in Brasilien von der Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts inspiriert worden ist, die mehrere Tenorierungsformen entwickelt hat. Wenn das Bundesverfassungsgericht der Auffassung ist, dass ein Gesetz mit der Verfassung unvereinbar ist, spricht es dessen Verfassungswidrigkeit aus, deren Wirkung die Nichtigkeit seit Erlass des verfassungswidrigen Gesetzes (ex tunc) und folglich seine Kassation ist. Neben diesem Entscheidungstypus gibt es auch die Unvereinbarkeitserklärung493. Bei der Unvereinbarkeitserklärung spricht das Gericht, obwohl es der Auffassung ist, dass das Gesetz die Verfassung verletzt, die Beibehaltung der Wirkungen des Gesetzes für die Vergangenheit oder bis zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft aus, da es der Auffassung ist, dass die bloße Nichtigkeitserklärung des Gesetzes den Zustand der Verfassungskonformität nicht oder zumindest nicht automatisch wiederherstellen würde. Die Rechtssicherheit ist eine der vom deutschen Bundesverfassungsgericht verwendeten Rechtfertigungen zur Wahl dieser Entscheidung: in einigen Fällen behält das Gericht die Wirkungen des für verfassungswidrig erklärten Gesetzes bei, um die Entstehung eines „rechtlichem Vakuums“ oder der „Unsicherheit über die Rechtslage“ zu vermeiden und um die „Rechtssicherheit und Rechtsklarheit“ zu gewährleisten494. Die Beibehaltung der Wirkungen des Gesetzes kann in verschiedenen Formen erfolgen, je nach dem vom Gericht ins Auge gefassten Ziel und der Art und Weise der Variation der Wirkungen. Hervorzuheben sind hier folgende Formen: – § 1 die Unvereinbarkeitserklärung mit allgemeiner Wirkung pro futuro: das Gericht weist der Verfassungswidrigkeitsentscheidung einfach Wirkungen ex tunc zu und erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, ein neues Gesetz auszuarbeiten495; – § 2 Unvereinbarkeitserklärung mit Übergangsregelung zur sofortigen Wiederherstellung einer verfassungsgemäßen Rechtslage: das Gericht behält die durch die verfassungswidrige Norm hervorgebrachten Wirkungen bei, statuiert aber

493 Roman Seer / Jörg Peter Müller, Begrenzung der Wirkungen seiner Richtersprüche durch den EuGH, in: IWB 5 (2008), S. 263; Roman Seer, Rechtsschutz in Steuersachen, in: Tipke, Klaus / Lang, Joachim (Hrsg.), Steuerrecht, 19. Aufl., § 22, Rn. 285–291, S. 1091; Klaus Schlaich / Stephan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht  – Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 7. Aufl., S. 225 ff.; Christian Hillgruber / Christoph Goos, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl., S. 194; Hans Lechner / Rüdiger Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 5. Aufl., S. 411 ff.; Dieter Umbach / Thomas Clemens / Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl., S. 988; Michael Sachs, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl., S. 62 ff. 494 Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 98; Roman Seer, Rechtsschutz in Steuersachen, in: Tipke, Klaus / Lang, Joachim (Hrsg.), Steuerrecht, 19. Aufl., § 22, Rn. 286, S. 1090. 495 BVerfGE 37, 217 (261); 55, 100 (110); 61, 319 (356); 73, 40 (101); 82, 126 (155); 84, 9 (21); 84, 168 (187); 87, 114 (136); 87, 153 (178); 93, 386 (402).

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von vornherein eine Übergangsnorm, die bis zur Veröffentlichung der Norm des Gesetzgebers anzuwenden ist496; – § 3 Unvereinbarkeitserklärung mit vorläufiger Weitergeltungsanordnung: das Gericht behält die von der verfassungswidrigen Norm in der Vergangenheit hervorgebrachten Wirkungen bei und verlängert sie vorläufig für einen bestimmten Zeitraum, bis der Gesetzgeber eine neue Regel mit bis auf das Datum der Entscheidung rückwirkenden Wirkungen erlassen hat497; – § 4 Unvereinbarkeitserklärung mit endgültiger Weitergeltungsanordnung und pro-futuro-Änderungspflicht: das Gericht behält die von der verfassungswidrigen Norm in der Vergangenheit hervorgebrachten Wirkungen bei, verlängert sie endgültig für einen bestimmten Zeitraum und weist das Parlament an, eine neue Regel für die Zukunft zu erlassen498. Es gibt also nicht nur einen vom deutschen Bundesverfassungsgericht verwendeten Typus der Variation der Wirkungen, sondern mehrere Typen. Jeder trägt einer spezifischen Lage und einem bestimmten Ziel Rechnung. Diese Betrachtungen beweisen einerseits die Bedeutung des Themas für die Erforschung der Rechtssicherheit. Andererseits werfen sie eine Reihe von wichtigen Fragen auf: welches sind die Voraussetzungen der Unvereinbarkeitserklärung eines Gesetzes? Was bedeutet „Rechtssicherheit“ für die Wirkungen der Manipulation der Entscheidungswirkungen in der Kontrolle der Verfassungsmäßgkeit? Kann die Rechtssicherheit als Rechtfertigung benutzt werden, um die vergangene Geltung eines eine Abgabe einführenden Gesetzes beizubehalten? Können Rechtssicherheitsgründe budgetpolitischen Rücksichten oder Finanzverlustargumenten gleichgestellt werden? Diese und andere wichtige Fragen werden nachfolgend beantwortet. (b) Durch das deutsche Bundesverfassungsgericht (aa) Anwendungshypothesen Die bloße Nichtigkeitserklärung stellt die verfassungsgemäße Rechtslage nicht wieder her Die traditionellen Fälle, in denen das deutsche Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeitserklärung verwendet, lassen sich in zwei große Gruppen aufteilen: in die Fälle, in denen die bloße Nichtkeitserklärung den Zustand der verfassungsgemäßen Rechtslage nicht wiederherstellt, und in die Fälle, in denen die Nichtig 496

BVerfGE 37, 217 (218 e 261); 73, 40 (101). BVerfGE 61, 319. 498 BVerfGE 33, 303 (305); 87, 153 (178); 91, 186 (207); 93, 121 (148); 93, 165 (168); 99, 216 (244). 497

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keitserklärung des Gesetzes nicht automatisch den Zustand der verfassungsgemäßen Rechtslage wiederherstellt499. In die erste Fallgruppe (die bloße Nichtigkeitserklärung des Gesetzes stellt den Zustand der verfassungsgemäßen Rechtslage nicht wieder her) gehören die antiisonomischen und defizitären (nachbesserungsfähigen) Gesetze500. Antiisonomisch sind diejenigen Gesetze, die zum Zweck der Konkretisierung eines Verfassungsprinzips letztlich eine bestimmte Rechtswohltat gewähren, von deren Genuss sie jedoch ungerechtfertigterweise einige Bürger ausschließen. Die Verletzung des Gleichheitsprinzips erfolgt durch Zuerkennung der Rechtswohltat an einige Bürger zu Lasten anderer in gleichwertiger Lage. Einige Beispiele sollen dies veranschaulichen. Das Gesetz hat die kostenfreie Beratungsleistung in allen Materien, ausgenommen der arbeitsrechtlichen Sachen, zwecks Gewährleistung des Grundrechtsschutzes eingeführt. Arbeitnehmer, die sich im Verhältnis zu anderen Berufsgruppen ungleich behandelt fühlten, haben sich gegen das Gesetz gewandt und die Verletzung des Gleichheitsprinzips wegen mangelnder Rechtfertigung der ungleichen Behandlung (erwiesen im Ausschluss der Rechtswohltat aufgrund des Kriteriums der Materie)  geltend gemacht501. Obwohl das Gericht der Auffassung war, dass das Gesetz das grundgesetzlich verbriefte Gleichheitsprinzip verletze, beschloss es, seine Wirkungen aufrechtzuerhalten, da es der Meinung war, dass die bloße Nichtigkeitserklärung des Gesetzes den bestehenden Zustand der Verfassungswidrigkeit nicht aufheben würde, zumal irgendeine Sicherheit wirklich im Gesetz vorgesehen werden müsse und es nichts fruchte – dies war der springende Punkt –, die gesetzlich vorgesehene Sicherheitsleistung zu entfernen, die übrigens mit dem Grundgesetz mehr in der sich aus ihrer Anwendung ergebenden Ungleichheitsbeziehung und folglich in dem, was sie zu gewährleisten unterließ, als ausschließlich in dem, was sie festlegte, unvereinbar war. Außerdem habe der Gesetzgeber, dem das Grundgesetz die Gestaltungsfreiheit zum Schutz der Grundrechte übertragen hat, zu entscheiden, welches die beste Form der Wiederherstellung der Verfassungskonformität sei502. Mit dem Ziel der Konkretisierung des Gleichheitsprinzips der Besteuerung vermittels des Leistungsfähigkeitskriteriums legte das Gesetz das Recht auf Abzug der Ausgaben für die Erziehung und den Unterhalt der Kinder von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer fest, jedoch nur für Ehepaare mit zwei oder drei 499

Gerhardt Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, S. 18; Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 98. 500 Christoph Moes, Die Anordnung der befristeten Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze durch das Bundesverfassungsgericht, in: StuW 1 (2008), S. 29. 501 BverfGE 88, 5, 13. 502 Roman Seer, Rechtsschutz in Steuersachen, in: Tipke, Klaus / Lang, Joachim (Hrsg.), Steuerrecht, 19. Aufl., § 22, Rn. 286, S. 1090.

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Kindern im Alter von unter achtzehn Jahren. Steuerzahler, die nur ein Kind hatten und für welche die Ausgaben für Erziehung nicht geringer waren, fühlten sich gegenüber Ehepaaren mit zwei oder mehr Kinden ungleich behandelt und machten die Verletzung des Gleichheitsprinzips geltend„ weil die ungleiche Behandlung beim Abzug hinsichtlich der Kinderzahl nicht gerechtfertigt sei503. Obwohl das Gericht der Auffassung war, dass das Gesetz das Gleichheitsprinzip verletzte, beschloss es, seine Wirkungen aufrechtzuerhalten, da es der Meinung war, dass die bloße Nichtigkeitserklärung des Gesetzes-und dies war wiederum der springende Punkt-die Verfassungskonformität nicht wiederherstellen würde, zumal irgendein gesetzliches Instrument der Konkretisierung der Leistungsfähigkeit und der Förderung der Erziehung gefunden werden müsse und es nichts fruchte, das gesetzlich vorgesehene Instrument zu beseitigen, das übrigens mit dem Grundgesetz mehr in der sich aus seiner Anwendung ergebenden Ungleichheitsbeziehung und folglich in dem, was es festzulegen unterließ, als ausschließlich in dem, was es festlegte, unvereinbar war. Außerdem bestimme das Grundgesetz nicht im Voraus für den Gesetzgeber den Konkretisierungsmodus des Gleichheitsprinzips im Steuerrecht, weshalb die Entscheidung über die beste Form der Wiederherstellung der Verfassungskonformität dem Gesetzgeber obliege. Zum Zweck der Konkretisierung des Prinzips der Gleichheit der Bürger durch Festlegung einer Entschädigung derjenigen Personen, die während des Nationalsozialismus den obligatorischen Beamtendienst geleistet hatten, sah das Gesetz eine Entschädigung für einige Bürger ab 1. April 1951 und eine andere Entschädigung für andere Bürger ab 1. Januar 1961 vor. Die Bürger, die sich den ehemaligen Beamten gegenüber, die Entschädigungen früher erhalten würden, benachteiligt fühlten, wandten sich gegen das Gesetz, indem sie die Verletzung des Gleichheitsprinzips durch mangelnde Rechtfertigung der ungleichen Behandlung geltend machten wegen der Auszahlung der Entschädigung zu willkürlich unterschiedlichen Zeitpunkten504. Obwohl das Gericht der Auffassung war, dass das Gesetz das verfassungsrechtliche Gleichheitsprinzip verletze, beschloss es die Beibehaltung seiner Wirkungen, da es der Ansicht war, dass die bloße Nichtigkeitserklärung des Gesetzes die Verfassungskonformität nicht wiederherstellen würde, zumal ein gesetzliches Instrument zur Entschädigung der von den ehemaligen Beamten erlittenen Schäden gefunden werden müsse und es nichts fruchte, das gesetzlich vorgesehene Instrument zu beseitigen, das auch mit dem Grundgesetz mehr in der erzeugten Ungleichheitsbeziehung und folglich in dem, was es festzulegen unterließ, als ausschließlich in dem, was es festlegte, unvereinbar war. Außerdem bestimme das Grundgesetz nicht eine einzige Form der Reparation, die notwendigerweise vom Gesetzgeber zu wählen sei. Aus diesem Grund obliege dem Gesetz-

503

BverfGE 47, 1; Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 34. 504 BVerfGE, 18, 288; Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 37.

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geber gleichermaßen die Entscheidung über die beste Form der Wiederherstellung der Verfassungskonformität. Die Untersuchung dieser Fälle der Verletzung der Gleichheitspflicht – in denen das Gericht durch Anerkennung der Tatsache, dass die bloße Nichtigkeitserklärung des Gesetzes nicht die Verfassungskonformität wiederherstellt, die bloße Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz erklärt – beweist die Konkurrenz einiger nachstehend aufgezählter Voraussetzungen: – § 1 Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers: obwohl das Grundgesetz ein vom Gesetzgeber zu erreichendes Ideal statuiert, wie die Grundrechte zu schützen oder die Bürger nach Leistungsfähigkeit zu besteuern seien, bestimmt es nicht im Voraus das zur Verwirklichung gewählte Mittel und belässt damit dem Gesetzgeber einen großen Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die beste Form der Verwirklichung dieses Ideals; – § 2 das Gesetz fördert in einem gewissen Maß das Verfassungsideal: obwohl es das Gleichheitsprinzip verletzt und eine nicht zu rechtfertigende Beziehung der Ungleichheit zwischen den Bürgern erzeugt, statuiert es ein Mittel, das trotzdem fähig ist, in einem gewissen Maß das Verfassungsideal zu fördern; – § 3 die Nichtigkeitserklärung des Gesetzes stellt die Verfassungskonformität nicht wieder her: die Erklärung der Nichtigkeit der gesetzlichen Norm würde von Anbeginn an einerseits einen Teil der gesetzlichen Bestimmung, die in einem bestimmten Maß das Verfassungsideal fördert, eliminieren und ansonsten die Förderung des verfassungsrechtlichen Ideals nicht gewährleisten; die Nichtigkeit würde die positive Wirkung der Norm ausschließen, ohne ihre negative Wirkung auszuschließen; – § 4 es gibt verschiedene Möglichkeiten sowohl der Förderung des Verfassungsideals als auch der Wiederherstellung der Verfassungskonformität. Die Judikative kann nicht eine wählen, dem Gesetzgeber obliegt die Wahl anderer: nachdem die Verletzung des Grundgesetzes und die Förderung des Verfassungsideals in einem gewissen Maß festgestellt worden sind, bieten sich mehrere Modi an, die von dem Grundgesetz geforderte Verfassungskonformität wiederherzustellen. Einerseits darf die Judikative nicht die Rechtswohltat ausdehnen oder ein anderes System von Rechtswohltaten schaffen, ohne das Prinzip der Gewaltenteilung zu verletzen; andererseits hat die Legislative Freiheit bei der Gestaltung dieses Systems von Wohltaten. Diese Voraussetzungen bewirken, dass das Bundesverfassungsgericht nicht die Nichtigkeit des Gesetzes erklärt, obwohl das Gesetz das Grundgesetz verletzt, da es der Auffassung ist, dass der Gesetzgeber „in der richtigen Richtung“ gehandelt und das Verfassungsideal in gewisser Weise befördert hat, wenn auch in einem geringeren Maße, als er verpflichtet war. Das Gericht erkennt, volkstümlich und sprichwörtlich gesagt, an, dass „das Bessere des Guten Feind“ oder „etwas immer noch besser als nichts“ ist und dass es deswegen, weil es das Gesetz infolge man-

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gelnder Zuständigkeit nicht verbessern kann, es aufrechterhalten muss, um einen Rückschritt zu vermeiden. Zwischen der Nichtigkeitserklärung des Gesetzes und der Rücknahme der positiven Wirkung, die in einem gewissen Maß vom Gesetz bezüglich des Verfassungsprinzips, das seinen Erlass gerechtfertigt hat, verursacht worden ist, einerseits, und der Aufrechterhaltung der Wirkungen des Gesetzes trotz seiner Verfassungswidrigkeit andererseits entscheidet sich das Gericht für die zweite Alternative. Es handelt sich, wie man sehen kann, um eine Entscheidung, die von der globalen Förderung des Grundgesetzes ausgeht und vom Gewaltenteilungsprinzip verstärkt wird. Wir wiederholen hier, weil diese Idee so wichtig ist: diese Lösung fördert die Grundrechte und ist darüber hinaus mit dem Gewaltenteilungsprinzip vereinbar. In zwei Fällen unterlässt das Gericht jedoch eine Unvereinbarkeitserklärung ohne Nichtigkeitserklärung zugunsten einer Verfassungswidrigkeitserklärung mit darauf folgender Nichtigkeitserklärung und Kassation des Gesetzes: erstens in dem Fall, in dem das Grundgesetz, statt dem Gesetzgeber Gestaltungsfreiheit einzuräumen, vorab das von diesem zu wählende Mittel festlegt und der Gesetzgeber ein anderes Mittel wählt. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn das Grundgesetz, statt die Materie vermittels eines Prinzips zu normieren, dies durch eine Regel mit Abgrenzung ihres materialen Inhalts tut und so das Mittel der Förderung eines bestimmten Ideals vorgibt. Zweitens ist das der Fall, wenn man trotz der dem Gesetzgeber zugestandenen Freiheit objektiv vermuten kann, dass er sie genau nach den Bestimmungen des früheren Gesetzes nutzen würde, dessen Wirksamkeit durch die Nichtigkeitserklärung des späteren Gesetzes wiederhergestellt wird. So sah z. B. das Gesetz über die Vornamensänderung von Transsexuellen das Recht auf Namensänderung nur für Personen im Alter von über fünfundzwanzig Jahren vor505. Das Gericht erklärte das Gesetz für mit dem Grundgesetz unvereinbar, da es der Auffassung war, dass es eine nicht zu rechtfertigende Unterscheidung aufgrund des Alterskriteriums vorgenommen habe. Da aber der Gesetzgeber bei der Ermächtigung zur Geschlechtsänderung schon nicht das Alterskriterium zugrundelegt hatte, vermutete das Gericht, dass er selbst unter den möglichen Alternativen zur Aufhebung der Verfassungswidrigkeit gerade die Bestimmung der Regel ohne das Alterskriterium wählen würde. Damit würde das Gericht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht beeinträchtigen. In diesem Fall ist die Nichtigkeitserklärung also nicht in der Lage, den von der Verfassung geforderten Zustand der Verfassungskonformität wiederherzustellen. Deshalb ist die Unvereinbarkeitserklärung der einzige Weg zur Erreichung des Verfassungsideals506.

505

BVerfGE 88, 87, 97–101. Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 43. 506

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In der Fallgruppe, in der die bloße Nichtigkeitserklärung des Gesetzes den Zustand der Verfassungskonformität nicht wiederherstellt, befinden sich auch noch, neben den dem Gleichheitsprinzip gegenläufigen Gesetzen, die defizitären Gesetze. In diesen Fällen sind die Gesetze mit dem Grundgesetz unvereinbar, da sie obligatorische Inhalte oder Differenzierungen nicht vorsehen. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen. Zur Förderung der Erziehung und des Schutzes Jugendlicher hat der Gesetzgeber das Recht auf „Bildungsurlaub“ und „bezahlten Urlaub für Arbeiten zur Unterstützung Jugendlicher“ eingeführt und die Arbeitgeber zur Freihaltung des Arbeitsplatzes und Lohnfortzahlung während der genannten Urlaubsperioden verpflichtet. Einige Arbeitgeber haben sich in ihrer Berufsausübungsfreiheit eingeschränkt gefühlt und das Gesetz angefochten. Sie machten die Verletzung der Prinzipien der Berufsfreiheit und der Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeit geltend507. Obwohl das Gericht der Auffassung war, dass das Gesetz tatsächlich die genannten Prinzipien verletzte, vor allem weil es sie unverhältnismäßig wegen mangelnder Notwendigkeit der Maßnahme einschränke, weil Ausgleichsmechanismen für die Arbeitgeber fehlten, beschloss es, die Wirkungen aufrechtzuerhalten, da es anerkannte, dass die Nichtigkeitserklärung des Gesetzes den Zustand der Verfassungskonformität nicht wiederherstellen würde. Instrumente für den Schutz der Erziehung und der Jugendlichen müssten vom Gesetzgeber vorgesehen werden. Die gewählten Instrumente seien mit dem Grundgesetz unvereinbar, da sie die genannten Zwecke jenseits des vom Grundgesetz Verlangten förderten. Ihre Abschaffung sei also in Ansehung der Förderung dieser Ideale noch schlimmer als ihre Aufrechterhaltung. Außerdem könne die Judikative, nicht einmal im Fall der Möglichkeit einer Verbesserung des Gesetzes, selbst entscheiden, welches die beste Form des Ausgleichs für die Arbeitgeber ist: z. B. ein Zuschuss des Arbeitgeberverbands, eine vom Staat zu zahlende Entschädigung oder eine von den Lehranstalten oder Jugendsozialämtern zu zahlende Entschädigung. Diese Entscheidung müsse der Gesetzgeber treffen. Zum Zweck des Schutzes der Gesundheit und der Verbraucher sah das Gesetz das Erfordernis einer Betriebsgenehmigung für den Lebensmittelhandel vor, die von der Erfüllung einer Reihe von Voraussetzungen abhing, ohne jedoch die Händler, die alle Arten von Lebensmitteln verkauften, von denen, die nur eine Art oder eingeschränkte Arten verkauften, zu unterscheiden. Einige Händler wandten sich gegen das Gesetz und machten die Verletzung des Prinzips der freien Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit geltend, vor allem weil das Gesetz, indem es die Händler nicht nach Größe oder Typ des verkauften Produkts unterschied, am Ende übermäßige und nicht notwendige Anforderungen für diejenigen einführte, die nur einen Lebensmitteltypus verkauften508. Obwohl das Gericht der Auffassung war, dass das Gesetz das genannte Prinzip verletzte, vor allem weil es dieses 507

BVerfGE 77, 308. BVerfGE 34, 71; Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 47. 508

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unverhältnismäßig einschränkte, indem es keine partielle Genehmigung mit geringeren Anforderungen für bestimmte Verkäufer vorsah, entschied es, seine Wirkungen aufrechtzuerhalten, da es der Ansicht war, dass die Nichtigkeitserklärung des Gesetzes den Zustand der Verfassungskonformität nicht wiederherstellen würde. Instrumente zum Schutz der Gesundheit und der Verbraucher müssten vom Gesetzgeber festgelegt werden. Die gewählten Instrumente seien mit dem Grundgesetz unvereinbar, da sie die genannten Zwecke jenseits des vom Grundgesetz Verlangten förderten. Ihre Abschaffung sei also in Ansehung der Förderung dieser Ideale noch schlimmer als ihre Beibehaltung. Wesentlich ist nach Ansicht des Gerichts, dass die Judikative selbst nicht über die beste Form der Festlegung der angemessenen Behandlung der Kleinhändler entscheiden kann. Der Gesetzgeber müsse diese Form beschließen. Mit dem Ziel der Regelung des Arbeitsmarkts und der Gewährleistung bestimmter Prärogativen für Unternehmen hat der Gesetzgeber die Entschädigung von Handelsvertreter im Fall der Entlassung aus wichtigem Grund verboten, selbst wenn der Vertrag festgelegt hat, dass der entlassene Handelsvertreter eine bestimmte Zeit lang in Quarantäne verbringen muss, ohne für konkurrierenden Unternehmen tätig zu sein. Einige Bürger fühlten sich geschädigt und fochten das Gesetz an. Sie machten die Verletzung des Prinzips der freien Berufswahl geltend, vor allem weil das Gesetz bei der Nichtunterscheidung zwischen verschiedenenen Situationen, in denen die ehemaligen Handelsvertreter sich befinden könnten, am Ende das genannte Prinzip übermäßig und unverhältnismäßig einschränkte509. Obwohl das Gericht der Auffassung war, dass das Gesetz das genannte Prinzip verletze, vor allem weil es dieses unverhältnismäßig einschränke angesichts der mangelnden Festlegung von Kompensationen und Entschädigungen für besondere Situationen, beschloss es erneut die Beibehaltung seiner Wirkungen, da es anerkannte, dass die Nichtigkeitserklärung des Gesetzes den Zustand der Verfassungskonformität nicht wiederherstellen würde. Der Gesetzgeber müsse Instrumente für den Schutz der Freiheit der Arbeit und des Wettbewerbs vorsehen. Die gewählten Instrumente seien mit dem Grundgesetz unvereinbar, da sie die genannten Zwecke jenseits des vom Grundgesetz Verlangten förderten. Ihre Abschaffung sei jedoch in Ansehung der Förderung dieser Ideale noch schlimmer als ihre Beibehaltung. Nach Auffassung des Gerichts müsse jedoch der Gesetzgeber aus Zuständigkeitsgründen über die zwischen den ehemaligen Handelsvertreter vorzunehmenden Unterscheidungen beschließen. Um den Weinhandel zu regeln und damit den Verbraucher zu schützen, hat der Gesetzgeber die Forderung einer Niederlassungsgenehmigung für Weinbaubetriebe vorgesehen und die Ausstellung dieser Genehmigung auf Betriebe mit einer Fläche von mindestens fünf Hektar beschränkt. Ausnahmen von dieser Regelung waren nur für Weinbaubetriebe vorgesehen, die eine Art von Beschränkung der Bodennutzung oder eine sich aus der Traubenart ergebende Behinderung nach 509

BVerfGE 81, 242.

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weisen konnten. Die gesetzlichen Ausnahmen waren also beschränkt. Einige Betriebe fochten das Gesetz an und machten die Verletzung des Prinzips der freien Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit geltend, vor allem weil das Gesetz mit der Zulassung von nur zwei Ausnahmen am Ende verhinderte, dass einige Betriebe mit anderen Beeinträchtigungen die Niederlassungsgenehmigung erlangen könnten510. Obwohl das Gericht der Auffassung war, dass das Gesetz das genannte Prinzip wegen seiner Strenge verletzte, beschloss es, seine Wirkungen aufrechtzuerhalten, und zwar in der Ansicht, dass die Nichtigkeitserklärung den Zustand der Verfassungskonformität nicht wiederherstellen würde. Anders gesagt, müsse der Gesetzgeber Instrumente zum Schutz der Gesundheit und der Verbraucher finden. Die gewählten Instrumente seien mit dem Grundgesetz unvereinbar, da sie die genannten Zwecke jenseits des vom Grundgesetz Verlangten förderten. Die Beibehaltung des Gesetzes sei seiner Abschaffung vorzuziehen. Und die Judikative selbst könne nicht über die neuen Ausnahmen zur Erlangung der Niederlassungsgenehmigung entscheiden. Der Gesetzgeber hat zum Schutz der Erziehung ohne jegliche Ausnahme für kleine Verlage oder kleine Auflagen vorgesehen, dass Pflichtexemplare aller veröffentlichten Bücher an öffentliche Bibliotheken geschenkt werden müssen. Einige Verlage haben sich gegen dieses Gesetz gewandt und die Verletzung des Grundrechts der freien Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit geltend gemacht, vor allem weil das Gesetz infolge fehlender Ausnahmegenehmigungen die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit seitens einiger Verlage am Ende übermäßig einschränken würde511. Obwohl das Gericht der Auffassung war, dass das Gesetz das genannte Prinzip verletzt hatte, beschloss es wiederum die Aufrechterhaltung seiner Wirkungen in Anerkennung der Tatsache, dass die Nichtigkeitserklärung den Zustand der Verfassungskonformität nicht wiederherstellen würde. Anders formuliert: der Gesetzgeber müsse Instrumente zum Schutz der Erziehung finden. Die gewählten Instrumente seien mit dem Grundgesetz unvereinbar, da sie die genannten Zwecke jenseits des vom Grundgesetz Verlangten förderten. Wiederum sei die Beibehaltung des Gesetzes seiner Abschaffung vorzuziehen. Die Judikative sei überdies nicht zuständig, um zu entscheiden, wie die neuen Ausnahmen für die Abgabe von Pflichtexemplaren an öffentliche Bibliotheken zu gestalten seien. Die Prüfung dieser Fälle von defizitären Gesetzen oder starren Regeln-in denen das Gericht anerkennt, dass die bloße Nichtigkeitserklärung nicht den Zustand der Verfassungskonformität wiederherstellt und somit nur die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz erklärt ohne Nichtigkeitserklärung-beweist die Konkurrenz einiger nachfolgend genannter Voraussetzungen: – § 1 Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers: obwohl das Grundgesetz ein vom Gesetzgeber zu erreichendes Ideal statuiert, wie z. B. den Schutz der Erziehung oder 510

BVerfGE 51, 193. BVerfGE 58, 137; Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 53. 511

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der Gesundheit, bestimmt es nicht vorab das zu seiner Erreichung zu wählende Mittel und belässt dadurch dem Gesetzgeber einen weiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die beste Form der Erreichung des Ideals; – § 2 das Gesetz fördert in gewissem Maß das Verfassungsideal: obwohl es irgendein Freiheitsprinzip verletzt, normalerweise durch die Einführung einer unverhältnismäßigen Belastung, führt es auch ein Mittel ein, das trotzdem in einem gewissen Maß das Verfassungsideal zu befördern fähig ist; – § 3 der Ausspruch der Nichtigkeit des Gesetzes stellt den Zustand der Verfassungskonformität nicht wieder her: die Erklärung der Gesetzesnorm für nichtig würde von Anfang an einerseits den Teil der gesetzlichen Bestimmung eliminieren, deren Anwendung sie in einem gewissen Maß fördert, und andererseits die Förderung des Verfassungsideals nicht gewährleisten; – § 4 es gibt verschiedene Arten, das Verfassungsideal zu fördern und den Zustand der Verfassungskonformität wiederherzustellen – die Judikative darf nicht einige übernehmen, die Legislative muss andere wählen dürfen: nach der Feststellung der Verletzung der Verfassung und der Förderung (in einem gewissen Maß) des Verfassungsideals entstehen mehrere Alternativen zur Wiederherstellung des vom Grundgesetz geforderten Zustands der Verfassungskonformität; die Judikative darf nicht ein neues System schaffen oder im Gesetz nicht vorgesehene Ausnahmen machen; – § 5 das Gesetz, Gegenstand der Kontrolle der Verfassungskonformität, muss perfektibel und lückenhaft sein: sein Problem besteht nicht eigentlich darin, dass es das Verfassungsideal nicht fördert, sondern darin, dass es dies auf unverhältnismäßige Weise tut und notwendige Unterscheidungen nicht trifft, sei es, weil es zu weit ist, sei es, weil es zu eng ist. Die Nichtigkeitserklärung stellt die verfassungsgemäße Rechtslage nicht automatisch wieder her Das deutsche Bundesverfassungsgericht verwendet die Unvereinbarkeitserklärung nicht nur in den Fällen, in denen die bloße Nichtigkeitserklärung nicht den Zustand der Verfassungskonformität wiederherstellt, sondern auch in den Fällen, in denen die Nichtigkeitserklärung des Gesetzes nicht automatisch den Zustand der Verfassungskonformität wiederherstellt512. In dieser Gruppe befinden sich die Fälle der Gesetze, welche die Ausübung von Freiheiten gewährleisten und für die Ausübung bestimmter Rechte notwendige staatliche Institutionen vorsehen. In diesen Fällen fordert das Grundgesetz ein normatives Minimum von dem Gesetz zur Wirksamkeit des Grundrechts, wie es der Fall des Schutzes der elterlichen Gewalt über ein nichteheliches Kind wäre, 512 Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 62.

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bezogen auf den Schutz der Familie, des Rechts auf freie Wahl der Schule, des Erziehungsrechts, oder auch der Fall der Lohnanpassung, dann bezogen auf den Schutz der Arbeit. Was alle diese Fälle einander ähnlich macht ist die Tatsache, dass, sofern es einen Staatszweck gibt oder ein Grundrecht vorgesehen ist, der Staat verpflichtet ist, durch Gesetze bestimmte Garantien zu gewährleisten oder die Einrichtung bestimmter staatlicher Institutionen vorzusehen. Zu diesem Zweck statuiert der Gesetzgeber Normen, die das Verfassungsideal fördern, wenn auch auf nicht zufriedenstellende Weise. Das Grundgesetz verlangt sozusagen „mehr Gesetz“, nicht „weniger Gesetz“. In diesen Fällen steht das Gericht vor den Alternativen, das Gesetz abzuschaffen-und damit die Wirksamkeit aus der gesetzlichen Bestimmung herauszunehmen, deren Anwendung das Verfassungsideal, wenn auch nicht zufriedenstellend, fördert-oder die Bestimmung beizubehalten, indem es das vom Gesetzgeber bereitgestellte Minimum bewahrt und diesem die Aufgabe einer vollständigen Wiederherstellung der Verfassungskonformität zuweist513. Man bemerke, dass in den genannten Fällen der Gesetzgeber seine Schutzpflichten bezüglich der Grundrechte zu erfüllen versucht, dies aber „in geringerem Maß“ oder „auf unverhältnismäßige Weise“ tut514. Diese Fälle beziehen sich nicht auf grundrechtseinschränkende Gesetze-viel weniger noch auf die in einer Verfassungsregel festgelegte Kompetenzausübung. Diese Feststellung ist entscheidend. (bb) Anwendungsprämissen Alle untersuchten Fälle und die vorgetragenen Bemerkungen führen aus normativer Perspektive zu einigen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Wahl des deutschen Bundesverfassungsgerichts, die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz auszusprechen und es aufrechtzuerhalten, anstatt es für verfassungswidrig zu erklären. Erstens muss es die staatliche Handlungspflicht geben. Es muss eine Forderung der Verfassung geben, welche die Suche nach einem Ideal anordnet, beispielsweise als Schutz der Erziehung, der Leistungsfähigkeit, der Gleichheit, der Freiheit der Berufswahl und der freien Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit wie in den untersuchten Rechtsprechungsfällen. Das bedeutet, dass der Staat nicht einfach die Kompetenz zum Handeln haben kann: er muss zum Handeln verpflichtet sein. Zweitens muss der Staat Handlungsfreiheit haben. Zu diesem Zweck muss das Gesetz, das Gegenstand der Kontrolle auf Verfassungskonformität ist, die Förde 513 Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 79. 514 Johannes Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl., S. 128; Peter Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 223.

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rung eines Verfassungsideals anstreben, dessen Erreichung durch die Einführung eines Prinzips angeordnet ist. Eben aus der Einführung des Prinzips, sowohl durch Festlegung eines Staatszwecks als auch durch Einführung eines Grundrechts, entstehen zwei Folgen, welche die Wahl der Erklärung des Gesetzes für unvereinbar erlauben: die Möglichkeit einer graduellen Förderung (Anpassung) des Sachverhalts, dessen Verwirklichung durch die Einführung des Verfassungsprinzips angeordnet wird, und Freiheit (freies Ermessen oder Gestaltungsfreiheit) des Gesetzgebers bei der Wahl der für die Förderung des Zwecks notwendigen Mittel. Der Staat hat einerseits die Handlungspflicht, andererseits aber auch Freiheit bezüglich der Handlungsweise. Anders formuliert: da die Verfassung, statt das Mittel abzugrenzen, nur die Erreichung eines Zwecks fordert und damit dem Gesetzgeber einen weiten Ermessensspielraum hinsichtlich des zu wählenden Mittels überlässt, hat die Legislative, nicht die Judikative, die Kompetenz zur Bestimmung des einzuführenden Gesetzessystems; da das Verfassungsideal in verschiedenen Graden erreicht werden kann, falls die Legislative per Gesetz ein Mittel gewählt hat, dessen Wahl zur Förderung des Zwecks beitragende Wirkungen hervorruft (wenn auch auf unbefriedigende Weise wegen der von ihm erzeugten Ungleichheitsbeziehung, der von ihm erzeugten Lücke oder der von ihm verursachten Unverhältnismäßigkeit), obliegt der Judikative nicht, vermittels der Kontrolle der Verfassungskonformität der Gesetze die von dem verfassungswidrigen Gesetz erzeugte positive, wenngleich unzureichende Wirkung abzuschaffen, wenn sie das Grundgesetz nicht noch mehr einschränken statt fördern will. Drittens ist es notwendig, dass die an der Verfassung insgesamt ausgerichtete Abwägung zwischen den sich aus der Erklärung der Nichtigkeit des Gesetzes ergebenden und den sich aus der Erklärung der Unvereinbarkeit des Gesetzes ergebenden Wirkungen offenbart, dass die Verwerfung des Gesetzes nicht den von der Verfassung geforderten Zustand der Verfassungskonformität wiederherstellt, sondern eher beeinträchtigt. Zwischen der Verfassungswidrigkeitserklärung (mit der darauf folgenden Erklärung der Nichtigkeit des Gesetzes, ohne jeden Grad der Erreichung des Verfassungsideals) und der bloßen Erklärung der Unvereinbarkeit des Gesetzes (mit der darauf folgenden Normerhaltung zur Gewährleistung eines gewissen Maßes an Erreichung des Verfassungsideals, aber ohne Eingriff in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers) wählt das deutsche Bundesverfassungsgericht die zweite Alternative. Dies ist sozusagen die traditionelle oder ursprüngliche Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts515, das jedoch aufgrund der prinzipienorientierten Natur des Grundgesetzes den Gebrauch der Unvereinbarkeitserklärung noch weiter flexibilisiert bzw. erweitert und sie, wenngleich auch ausnahmsweise, auf die Fälle ausgedehnt hat, in denen „Gründe der Rechtssicherheit“ oder die „Er 515

Gerhardt Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, S. 18.

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wartung des budgetären Dispositionsschutzes“ die Erhaltung der Wirkungen des verfassungswidrigen Gesetzes rechtfertigen könnten. Im ersten Fall (Gründe der Rechtssicherheit) hat das Gericht ausnahmsweise die Unvereinbarkeit des grundgesetzverletzenden Gesetzes ausgesprochen, wenn die Nichtigkeitserklärung ein rechtliches Vakuum oder einen Zustand der Ungewissheit zur Folge haben würde. So statuiert beispielsweise ein bestimmtes Gesetz, dessen Zweck eine allgemeine Besoldungsneuregelung ist, unbefriedigende Bezüge. Da die Revision durch Gesetz zu erfolgen hat, würde die Erklärung des Gesetzes für nichtig einerseits infolge des Fehlens der notwendigen gesetzlichen Regelung ein rechtliches Vakuum hervorbringen und andererseits ein Gefühl der Ungewissheit hinsichtlich der schon ausgezahlten Bezüge erzeugen, da diese ohne gesetzliche Grundlage ausgezahlt worden wären516. „Gründe der Rechtssicherheit“ werden also herangezogen, um die Ausübung eines von gesetzlicher Voraussicht abhängigen Rechts zu gewährleisten. Wir unterstreichen noch einmal: das Gericht bedient sich der Rechtssicherheit als Fundament der Erhaltung verfassungswidrig eingeführter Rechtswohltaten, nicht als Fundament zur Rechtfertigung der Einschränkung von Grundrechten. Im zweiten Fall („Erwartung des budgetären Dispositionsschutzes“) hat das Gericht ohne viel Rechtfertigungen einfach die Geltung des Gesetzes aufrechterhalten, um keine schon vorgelegten Budgetpläne zu enttäuschen. Diese auf finanzpolitische Wirkungen der Verfassungswidrigkeitsentscheidungen gegründete Rechtsprechung erfolgte in zwei Phasen. In einer ersten Phase hat das Gericht nur die Verfassungswidrigkeit mit prospektiver Wirksamkeit erklärt, da es der Auffassung war, dass die Pflicht zur Rückgewähr der berechneten Beträge die Planungs- und Budgetimplementierungerwartung belasten würde517. Wie schon oben gesagt, wäre das Fundament des angenommenen bugdetären Dispositionsschutzes bzw. der Verlässlichkeit der Haushaltsplanung das auf das Budget gegründete staatliche Vertrauen, eine Finanz- und Entscheidungsplanung umzusetzen, die in Zukunft nicht durch eine rückwirkende Erklärung der Verfassungswidrigkeit der Abgabe mit der Pflicht zur Rückgabe der berechneten Beträge enttäuscht werden könnte518. Diese Auffassung war und ist weiterhin Gegenstand scharfer Kritik der Wissenschaft519. Aus diesem Grund hat das Gericht in der hier so bezeichneten zweiten 516

BVerfGE 32, 199 (217); 34, 9 (43); 44, 249 (264), u. a. BVerfGE 87, 153 (178 ff.); BVerfGE 93, 121 (148); 165 (178); Christoph Moes, Die Anordnung der befristeten Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze durch das Bundesverfassungsgericht, in: StuW 1 (2008), S. 30. 518 Klaus-Dieter Drüen, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, in: FR 6 (1999), S. 291. 519 Roman Seer, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am Beispiel seiner Rechtsprechung zum Abgabenrecht, in: NJW (1996), S. 289; B. Sangmeister, Das Bundesverfassungsgericht und das Verfassungsrecht, in: StuW 2 (2001), S. 176 ff.; Klaus Tipke, Rezension von: 517

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Phase der auf das Prinzip der Verlässlichkeit der Haushaltsplanung bezogenen Rechtsprechung eine Reihe von Einschränkungen festgelegt, selbst in Fällen hoher finanzieller Nachteile für den Staat. Es hat entscheiden, dass die Wirksamkeit pro futuro folgende Fälle nicht erfasst: – § 1 den (Anlassfall): da das Gericht zum ersten Mal die Verfassungswidrigkeit im Ausgangsfall (instant case)  erklärt, würde die Verweigerung der vom Kläger beantragten Nichtigkeitserklärung einer übermäßigen Einschränkung seiner Freiheitsgrundrechte sowie seines Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz gleichkommen, insofern man ihm „Steine, statt Brot“ geben, also zu einer Art „Pyrrhus-Sieg“ verhelfen würde520; – § 2 die Parallelverfahren, in denen dasselbe Problem verhandelt wird: neben dem Ausgangsverfahren, in dem das Gericht seine Auffassung mitteilt, bleiben auch alle anderen schon eingeleiteten Verfahren, in denen die Steuerzahler den gleichen Anspruch anmelden, außerhalb der prospektiven Wirkung, gleichfalls als Form der Achtung des schon postulierten Grundrechts auf gerichtlichen Rechtsschutz521; – § 3 die Fälle, in denen es noch kein irreversibles Beitreibungsverfahren seitens des Finanzamts gegeben hat: da letzteres aufgrund von § 363 II AO für eine Art Aussetzung der Vollstreckung von Abgabenschulden zuständig ist, muss es notwendig von der Abgabenforderung absehen, sobald es von ihrer Verfassungwidrigkeit Kenntnis erlangt. Wenn dem so ist, müssen wir erstens festhalten, dass selbst in den Fällen, in denen Budgetprobleme die Grundlage für die Zuschreibung prospektiver Wirksamkeit von Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts abgeben, das genannte Prinzip der „Verlässlichkeit der Haushaltsplanung“ eigentlich mehr auf die Funktionsfähigkeit des Staates als auf das Rechtssicherheitsprinzip bezogen ist. Die erwähnte Funktionsfähigkeit des Staates dient als immanente interne Grenze der Grundrechte, in dem Sinn, dass die Privatperson vom Staat nicht verlangen kann, was, einmal geliefert, dessen Funktionsweise im normalen Vollzug seiner Tätigkeit beeinträchtigen kann522. Zweitens ist festzuhalten, dass die BeiGerhard Habscheidt. Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Gesetze, in: StuW 2 (2004), S. 187; Christoph Moes, Die Anordnung der befristeten Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze durch das Bundesverfassungsgericht, in: StuW 1 (2008), S. 30. 520 Roman Seer / Jörg Peter Müller, Begrenzung der Wirkungen seiner Richtersprüche durch den EuGH, in: IWB 5 (2008), S. 264; Klaus-Dieter Drüen, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, in: FR 6 (1999), S. 292; Christoph Moes, Die Anordnung der befristeten Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze durch das Bundesverfassungsgericht, in: StuW 1 (2008), S. 34; Christian Waldhoff, Recent developments relating to the retroactive effect of decisions of the ECJ, in: Common Market Law Review 46 (2009), S. 13 (unveröffentlichtes Manuskript); Ben Juratowitch, Retroactivity and the Common Law, S. 210. 521 Roman Seer, Rechtsschutz in Steuersachen, in: Tipke, Klaus / Lang, Joachim (Hrsg.), Steuerrecht, 19. Aufl., § 22, Rn. 288, S. 1091. 522 Martin Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: Kirchhof, Paul / ​ Isensee, Josef (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, § 110, Rn. 65, S. 134 ff.

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behaltung früherer Wirkungen des Gesetzes auf der Grundlage des unterstellten Schutzes der Verlässlichkeit der Haushaltsplanung neben der Voraussetzung einer Grenzsituation staatlicher Finanzknappheit angeordnet worden ist, ohne den gerichtlichen Ausgangsfall, die Parallelverfahren und diejenigen Fälle zu berücksichtigen, in denen die Verwaltung noch von der Beitreibung hätte absehen können oder sie billigerweise vermieden hätte werden können. Selbst diese Ausnahmsfälle sind von der Rechtslehre scharf kritisiert worden. Aus eben diesem Grund formulieren Seer und Müller ein Urteil, das zu zitieren sich hier lohnt: „Das ‚Vorbild‘ der Judikatur des BVerfG ist nicht nachahmenswert“523. Moes argumentiert in der gleichen Richtung anlässlich eines Kommentars zur Aufrechterhaltung verfassungswidriger Abgabengesetze durch das Bundesverfassungsgericht: „Dieses Konzept sollte aufgegeben werden“524. Dies sind nun die Fälle, in denen die Unvereinbarkeitserklärung vom deutschen Bundesverfassungsgericht herangezogen worden ist. Wie wir gesehen haben, hängt ihre Verwendung vom Vorliegen einer Reihe von Voraussetzungen ab. Diese Voraussetzungen ergeben sich allerdings aus den Verfassungsnormen, die dem Gesetzgeber Gestaltungsfreiheit zubilligen, indem sie ein zu erreichendes Ideal vorgeben, ohne das zu wählende Mittel im voraus zu bestimmen, und die Zuständigkeit jeder Staatsgewalt festlegen. Mit anderen Worten besagt die Tatsache, dass die Unvereinbarkeitserklärung in dieser oder jener Form vom deutschen Bundesverfassungsgericht mehr oder weniger flexibel verwendet wird, nichts, überhaupt nichts über die Beziehung zu ihrer angemessenen oder notwendigen Verwendung durch den Obersten Bundesgerichtshof Brasiliens: da die brasilianische Verfassung anders ist und damit die Normen, Zuständigkeiten und die Bedeutung selbst der Rechtssicherheit andere sind, kann oder muss der Gebrauch der genannten Erklärung anders ausfallen, falls es zureichende normative Unterschiede gibt. Stellen wir hier nach all diesen Bemerkungen wieder die Anfangsfragen: kann der Oberste Bundesgerichtshof im Fall der Einführung von Abgaben die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit der Verfassung erklären, ohne seine Nichtigkeit auszusprechen? Wenn wir im Hinblick auf das Gesetz Nr. 9.868/98 annehmen, dass die Rechtssicherheit zur Rechtfertigung der Beibehaltung der Geltung des als verfassungswidrig erkannten Gesetzes herangezogen werden kann, was muss dann die Bedeutung von „Gründen der Rechtssicherheit“ sein? Kann Rechtssicherheit als Rechtfertigung zugunsten des Staates eingreifen, um die früheren Wirkungen eines abgabeneinführenden Gesetzes aufrechtzuhalten? Kann die regressive Entwicklungs des Aufkommens dem Rechtssicherheitsbegriff subsumiert werden? Diese Fragen werden nachfolgend beantwortet.

523

Roman Seer / Jörg Peter Müller, Begrenzung der Wirkungen seiner Richtersprüche durch den EuGH, in: IWB 5 (2008), S. 262. 524 Christoph Moes, Die Anordnung der befristeten Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze durch das Bundesverfassungsgericht, in: StuW 1 (2008), S. 36.

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(c) Durch den Obersten Bundesgerichtshof in Brasilien (aa) Einleitende Betrachtungen Art. 27 des Gesetzes Nr. 9.868/98 statuiert, dass der Oberste Bundesgerichtshof, indem er die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder normativen Akts erklärt, und „in Ansehung der Gründe der Rechtssicherheit oder des außergewöhnlichen gesellschaftlichen Interesses“ die Wirkungen dieser Erklärung einschränken oder entscheiden darf, dass sie nur nach Eintritt der Rechtskraft oder zu einem anderen festzulegenden Zeitpunkt wirksam wird. Nachdem wir gesehen haben, wie die Variation der Entscheidungswirkungen vom deutschen Bundesverfassungsgericht angewandt wird, müssen wir nun prüfen, wie der brasilianische Oberste Bundesgerichtshof mit ihr umgeht. Vorab ist deutlich zu machen, dass es zwei normative Phänomene gibt, die man trotz ihrer Nähe und ähnlicher Auswirkungen nicht vermengen sollte. Eine erste wichtige Unterscheidung ist zwischen den (externen) Wirkungen der Verfassungswidrigkeitsentscheidung in der abstrakten Kontrolle und dem (internen) Gehalt der Verfassungswidrigkeitsentscheidung in der konkreten Kontrolle vorzunehmen. Anders gewendet: eine Sache ist es, wenn der Oberste Bundesgerichtshof die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Norm erklärt und anlässlich der Variation der Entscheidungswirkungen die prospektive Wirksamkeit (pro futuro oder ex nunc) statuiert; eine ganz andere Sache ist es, wenn das Gericht die Verfassungswidrigkeit einer Norm, eines Akts oder einer seiner Wirkungen aus Gründen, die es daran hindern, nicht erklärt, wie zum Beispiel im Fall einer im Laufe der Zeit konsolidierten Situation. Im ersten Fall verweist der Entscheidungsgehalt auf Verfassungswidrigkeit, aber die Wirkungen der Entscheidung werden nur pro futuro statuiert; im zweiten verweist der Entscheidungsgehalt selbst auf Verfassungsmäßigkeit. Dort erklärt das Gericht die Verfassungswidrigkeit, hier unterlässt es dies. Diese Unterscheidung wird in der Bearbeitung des außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens Nr. 78.209 offenkundig: anlässlich seiner Erörterung der Gültigkeit von Akten der Beamten während der Ausübung des Amts der Gerichtsvollzieher, die aufgrund eines nach Ergehen dieser Akte für verfassungswidrig erklärten Gesetzes durchgeführt worden sind, hat der Oberste Bundesgerichtshof „die von Agenten der Exekutive vorgenommene Pfändung für gültig“ anerkannt525. Sehr aufschlussreich ist das Votum des Richters Aliomar Baleeiro: „Eine Sache ist die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes des Bundesstaats São Paulo vom 3. Dezember 1971, eine andere sind die Rechtsfolgen der Realakte und sogar der Rechtshandlungen, die von ihnen [scil. den Agenten der Exekutive] auf Befehl und unter der Verantwortung von Richtern, deren Beamte sie waren, vor der Erklärung dieser 525

RE Nr. 78.209, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Aliomar Baleeiro, DJ 09. 10. 74.

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Verfassungswidrigkeit vorgenommen worden sind.“ In dieser Hinsicht hat das Gericht die erfolgten Akte für unantastbar erklärt vermittels der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit und des internen Entscheidungsgehalts selbst. Einerseits gab es keine Variation dieser in der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gefällten Entscheidung. Ihr Gehalt selbst wies in Richtung Anerkennung der Verfassungsmäßigkeit der verübten Akte, wenngleich diese auch aufgrund eines verfassungswidrigen Gesetzes erfolgt waren. Andererseits gab es auch keine Variation der Wirkungen der Verfassungswidrigkeitsentscheidung in der konzentrierten Kontrolle der Verfassungsgemäßheit, die einfach nicht besondere Situationen bedacht hat. Wir bestehen hier darauf, dass im erörterten Fall bei der diffusen Kontrolle die Wirkungen der Entscheidung nicht gestaffelt worden sind: der Entscheidungsgehalt selbst wurde aufgrund der Auffassung, dass die Akte weder revidiert noch zurückgenommen werden konnten, abgeändert. In anderen Worten: die Rechtssicherheit hat als Kriterium der Gestaltung des Entscheidungsgehalts funktioniert, nicht um die Wirkungen der anlässlich der Kontrolle der Verfassungskonformität gefällten Entscheidung anzupassen. Die gleiche Analyse wurde vom Gericht bei der Bearbeitung des außerordent­ lichen Rechtsmittelverfahres) Nr. 78.594 vorgenommen: als es sich über die Rechtswidrigkeit der Ernennung des Beamten zum Gerichtsvollzieher aufgrund der Verfassungswidrigkeit des seine Ernennung genehmigenden bundesstaatlichen Gesetzes ausließ, entschied es, dass „der vom Beamten vorgenommene Akt gültig ist“ und beschied den Berufungsantrag abschlägig526. Dies bedeutet gleichfalls, dass das Gericht strenggenommen die Wirkungen der Verfassungswidrigkeitsentscheidung nicht gestaffelt hat, sondern später anlässlich der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit deren eigenen Gehalt schon anders konzipiert hat, um die Geltung des angefochtenen Akts aufrechtzuerhalten. Ungenau ist also die Behauptung des Richters Gilmar Mendes im Habeas-­ Corpus-Verfahren Nr. 82.959, in dem das Gericht die Verfassungsmäßigkeit der den Stufenstrafvollzug regelnden Norm im Fall von schweren Verbrechen (crimes hediondos) prüfte. Dieser Behauptung zufolge verwendet der Oberste Bundesgerichtshof seit langer Zeit und häufig den Mechanismus der Variation von Entscheidungen in Verfahren der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit527. Die vom Richter Mendes genannten Fälle waren in technischer Hinsicht keine Fälle der äußeren und früheren Variation von Wirkungen von in Verfahren der abstrakten Kontrolle der Verfassungsgemäßheit gefällten Entscheidungen, sondern Fälle der inneren und späteren Anpassung des Gehalts selbst von in Verfahren der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gefällten Entscheidungen528. 526

RE Nr. 78.594, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Bilac Pinto, DJ 30. 10. 74. HC Nr. 82.959, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 01. 09. 06. 528 RE Nr. 78.594, Berichterstatter: Richter Bilac Pinto, DJ 04. 11. 74; RE Nr. 79, S. 620, Berichterstatter: Richter Aliomar Baleeiro, DJ 13. 12. 74; RE Nr. 78.809, Berichterstatter: Richter Aliomar Baleeiro, DJ 11. 10. 74; RE Nr. 122.202, Berichterstatter: Richter Francisco Rezek, DJ 08. 04. 94. 527

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Strenggenommen gab es auch keine Variation der Wirkungen in der schon erwähnten Bearbeitung des außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens Nr. 442.683, in dem das Gericht den Fall untersuchte, dass Beamte aufgrund eines abgeleiteten vertikalen Verfahrens, also ohne öffentliche Stellenausschreibung und Wettbewerb befördert worden waren529. Das Gericht entschied in einem Verfahren der konkreten Kontrolle, die Wirkungen der angefochtenen Akte aufrechtzuhalten, da es der Auffassung war, dass der Staat ein Interesse an der Behaltung der Beamten in ihren gegenwärtigen Funktionen hatte, dass diese Beamten zudem lange Zeit im Amt verbracht hatten und ein langer Zeitraum seit dem Datum ihrer Beförderung und dem Datum der Anfechtung der Beförderung verstrichen war, abgesehen von der Unterstellung von Treu und Glauben seitens der Beamten und der Verwaltung. So gab es keine Variation der Entscheidungswirkungen; die eigentliche Entscheidung zeigte in ihrem Gehalt, dass sie der Auffassung war, die angefochtenen Akte zu bestätigen und den Berufungsantrag abschlägig zu bescheiden. Ungenau ist also die Behauptung der Richterin Ellen Gracie in dem Sinn, dass der Berichterstatter „die Wirkungen dieser Verfassungswidrigkeitserklärung angemessen variiert hat“. Diese Behauptung wäre nur dann sinnvoll, wenn man verstehen würde, dass bei der späteren konkreten Kontrolle das Gericht anlässlich der konkreten Einschränkung der Wirkungen ex tunc der bei der konzentrierten Kontrolle ausgesprochenen Verfassungswidrigkeitserklärung eine Art von Variation vornehmen würde. Auf dieser fragwürdigen Argumentationslinie könnte man auch als Variation von Entscheidungswirkungen die Wirksamkeit der anlässlich der konkreten Kontrolle gefällten Entscheidung kennzeichnen, nach der vorhergehenden Verfassungswidrigkeitserklärung anlässlich einer abstrakten Kontrolle, die einen Teil der Rückwirkung amputieren würde. Die konkrete Einschränkung der rückwirkenden Folgen der Verfassungswidrigkeitserklärung anlässlich der diffusen Kontrolle wäre ebenfalls eine Art von Variation, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. In Wahrheit darf man einerseits nicht die Entscheidungswirkung mit dem Entscheidungsgehalt und andererseits nicht die abstrakte Normebene mit der Ebene der konkreten Akte verwechseln. Die deutsche Rechtswissenschaft unterscheidet im Hinblick auf diesen Aspekt angemessen zwischen Normebene und Einzelaktebene530. Diese Unterscheidung ist wesentlich, da die Fälle der Änderung des Entscheidungsgehalts selbst aufgrund der Unantastbarkeit der angegriffenen Akte nicht nur die konkrete Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit beinhalten, sondern normalerweise sich auf konkrete und individuelle Elemente beziehen, die nicht in Verfahren der abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit analysierbar sind. Kurz, man darf alles in allem die Fälle, in denen das Gericht sich nicht über die Verfassungswidrigkeit auslässt, da es der Auffassung ist, dass die Situation konsolidiert worden ist, nicht mit den Fällen verwechseln, in denen das Gericht die Verfassungswidrigkeit erklärt, jedoch ihre Wirkungen einschränkt. 529 530

RE Nr. 442.683, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, DJ 24. 03. 06. Jörg Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 266.

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Eine zweite wichtige Unterscheidung ist zwischen den Fällen zu treffen, in denen das Gericht die Verfassungswidrigkeit einer bestimmten Norm erklärt-mit vollständiger deklaratorischer Wirksamkeit, aber mit Übergangsregeln oder -fristen, die besser die Umsetzung des Urteils ermöglichen  –, und den Fällen, in denen die zeitlichen Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung selbst abgeändert werden. In den ersten Fällen schränkt das Gericht strenggenommen nicht die Verfassungswidrigkeitserklärung ein. Diese ist vollständig. Das Gericht führt vielmehr eine Übergangsregel oder eine Frist zur Anpassung an die deklaratorische Wirksamkeit der Entscheidung ein. In anderen Fällen wird die Reichweite selbst der Verfassungswidrigkeitserklärung geändert, so dass die Norm im Hinblick auf einen Zeitraum nur für mit der Verfassung unvereinbar, aber nicht für nichtig erklärt wird. Erwähnen wir hier nur ein Beispiel: wenn ein Richter der unterlegenen Partei eine Frist setzt, um eine Entscheidung zu befolgen, oder wenn das Gesetz selbst eine Frist zur Rückgabe der rechtsgrundlos erlangten Beträge einräumt, wie im Fall der von den bundesstaatlichen Finanzämtern geschuldeten und in Raten rückzahlbaren Beträge, liegt keine Variation der Entscheidungswirkungen vor, sondern eine bloße Frist zur Befolgung der Entscheidung. Alles in allem darf man auch nicht in der Menge der Fälle, in denen das Gericht die Verfassungswidrigkeit erklärt, die Fälle, in denen das Gericht nicht die zeitliche Dauer der Erklärung einschränkt (sondern nur Übergangsnormen für die Ermöglichung der Vollstreckung festlegt), mit den anderen Fällen verwechseln, in denen die Dauer der Verfassungswidrigkeitserklärung durch die Erhaltung eines Teils oder der Gesamtheit der eingetretenen Wirkungen der als verfassungswidrig erkannten Norm geändert wird. Es kommt darauf an, die zeitliche Wirksamkeit der Entscheidung von der zeitlichen Wirksamkeit der in der Entscheidung enthaltenen Erklärung mit der Auswirkung auf ihren Sachbereich zu trennen. Hier wird die Dauer der Verfassungswidrigkeit geändert, dort nicht. Die vorstehenden Erwägungen zur Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der Fälle sind von größter Bedeutung, weil man unter dem allgemeineren Etikett der „Variation der zeitlichen Wirkungen der Entscheidungen in Verfahren der Verfassungsmäßigkeitskontrolle“ einerseits den Inhalt einer Entscheidung mit ihren Wirkungen und andererseits die Variation der zeitlichen Wirkungen der deklaratorischen Entscheidung der Verfassungswidrigkeit mit der Variation der zeitlichen Wirkungen der in der Verfassungswidrigkeitsentscheidung enthaltenen Erklärung selbst verwechseln kann. Alles scheint gleich zu sein, ist es aber nicht. Ein anderer grundlegender Aspekt, der nicht unbemerkt bleiben darf, bezieht sich auf die Unterschiede zwischen der brasilianischen und deutschen Rechtsordnung. Wiederum besagt die Tatsache, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht seinen Entscheidungen bestimmte Wirkungstypen zuordnet, nichts über die Vereinbarkeit dieser Wirkungen mit der brasilianischen Rechtsordnung. Dies ist eine bis zu einem gewissen Punkt triviale Feststellung; trotzdem wird sie von den begeisterten Anhängern der bloßen Verpflanzung vorgeblich entwickelte-

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rer ausländischer Rechtsmodelle nach Brasilien nicht immer berücksichtigt, wie Ataliba und Maior Borges zutreffend bemerken531. Hinsichtlich dieses Aspekts sind einige Unterschiede zwischen den beiden Rechtssystemen zu skizzieren, die zumindest den Anwendungsspielraum der genannten Wirksamkeitsmodelle im Bereich der brasilianischen Rechtsordnung, besonders in steuerrechtlichen Mate­ rien einschränken können. Innerhalb des großen Spektrums der Unterschiede sind zwei Unterschiede für unser Thema von äußerster Relevanz: die Unterschiede in den Regeln der Verfassung über die Steuerzuständigkeit und über die Verfassungsmäßigkeitskontrolle. Erstens besteht das in der Bundesverfassung von 1988 eingeführte „nationale Abgabensystem“ wesentlich aus Kompetenzregeln, während das dem Finanzwesen im deutschen Grundgesetz gewidmete Kapitel nur die Angabe der Abgabentypen enthält, ohne Bestimmung der Tatbestandsaspekte. Aus diesem Grund konzen­ triert sich die Tätigkeit des Obersten Bundesgerichtshofs auf die Feststellung der Ausübung der Besteuerungsgewalt im von den Kompetenzregeln und den abgabenrechtlichen Prinzipien zugewiesenen Bereich. Der Unterschied ist enorm: in Brasilien beinhalten Verfassungswidrigkeitserklärungen vor allem Steuergesetze, die über die von Tatbestandsaspekten der Kompetenzregeln vorgezeichneten Grenzen hinausgeschossen sind; in der Erfahrung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das keine den brasilianischen vergleichbare steuerrechtliche Kompetenzregeln kennt, äußert sich die Verfassungswidrigkeit durch die Ausübung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in Nichtübereinstimmung mit den steuerrechtlichen Prinzipien. Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung für die Wirksamkeit der Verfassungsmäßigkeitskontrolle. In Brasilien muss der Oberste Bundesgerichtshof als Hüter der Verfassung die Ausübung der Besteuerungsgewalt im von Kompetenzregeln zugewiesenen und von verfassungsrechtlichen Prinzipien gestalteten Bereich feststellen. Und da diese Regeln schon in der Verfassung selbst statuiert sind, postuliert diese schon die Wirkung ihrer Übertretung: da es Besteuerungsgewalt nur im von diesen Regeln vorgezeichneten Bereich geben kann, ist ihre bereichsexterne Ausübung als nichtig zu erachten. Obwohl diese Wirkung nicht als logische Folge der Positivierung der Kompetenzregeln anzusehen ist, darf man gewiss behaupten, dass sie eine allgemeine durch ihre Positivierung implizierte Wirkung ist. Wäre die konkrete Abwägung zwischen konfligierenden Prinzipien die gewünschte Methode, hätte der Verfassungsgeber einen anderen Normierungstyp gewählt. In Deutschland muss das Bundesverfassungsgericht aus Mangel an Sachaspekten der Abgaben festlegenden Kompetenzregeln eine Abwägung zwischen dem Demokratieprinzip und den mit ihm konfligierenden Prinzipien vornehmen. Anders als im brasilianischen Fall postuliert die Nichtexistenz der genannten Regeln nicht

531 Geraldo Ataliba, Sistema constitucional tributário brasileiro, S. 39; José Souto Maior Borges, Obrigação tributária – uma introdução metodológica, S. 7.

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eine bestimmte Wirkung, die das Ergebnis des Zusammenpralls von Prinzipien sein muss. Wir können erneut behaupten, obwohl dies nicht eine logische Folge ist, dass die größere Freiheit richterlicher Gestaltung der Entscheidungswirkung durch das Fehlen der Positivierung von Kompetenzregeln impliziert wird. Dies bedeutet, dass die Einführung eines prinzipienorientierten Systems die Zuweisung eines weiteren Gestaltungsbereichs des deutschen Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf Inhalt und Wirkungen der Entscheidungen zur Folge hat. Solange also die Einführung von Kompetenzregeln durch die Bundesverfassung von 1988 die Nichtexistenz der Besteuerungsgewalt jenseits ihrer Grenzen beinhaltet und damit die Nichtigkeit der außerhalb von ihnen erlassenen Akte als Generalregel postuliert, impliziert die Nichteinführung der Kompetenzregeln im deutschen Grundgesetz die Bestimmung der Gestaltungsgrenzen der Legislative vermittels einer vom Bundesverfassungsgericht vorzunehmenden Abwägung zwischen Prinzipien, wobei diese umfassenderen Befungisse des Gerichts in Bezug auf den Entscheidungsinhalt auch auf den auf die Entscheidungswirkungen bezogenen Teil durchschlagen. Während zweitens die CF/88 selbst eine im Fortgang dieser Arbeit zu unter­ suchende Reihe von Regeln enthält, die sich mit der Verfassungswidrigkeitserklärung von Gesetzen befassen, enthält das deutsche Grundgesetz neben seinem die Verwerfungskompetenz regelnden Art. 100 keine ausdrücklichen diesbezüglichen Regelungen, weshalb die Materie unmittelbar im Bundesverfassungsgerichtsgesetz normiert worden ist. Dies bedeutet, dass die CF/88 selbst die Materie behandelt hat, indem sie nur die Verfassungwidrigkeitserklärung nannte, nicht die Unvereinbarkeitserklärung. Außerdem hat sie selbst, und das ist noch wichtiger, einige auf die Wirksamkeit der Entscheidungen vom Obersten Bundesgerichtshof gefällten Entscheidungen geregelt. So erzeugen zum Beispiel die endgültigen Entscheidungen über die Begründetheit, gefällt in das direkte Normenkontrollverfahren auf Verfassungswidrigkeit und in den deklaratorischen Klagen auf Verfassungsmäßigkeit, Wirksamkeit erga omnes und bindende Wirkung bezüglich der anderen Organe der Judikative und der unmittelbaren und mittelbaren Verwaltung auf Bundes-, Bundesstaats- und Kommunalebene (Art. 102 § 2); der nach wiederholten Entscheidungen über die gleiche Materie zu veröffentlichende Leitsatz entfaltet bindende Wirkung für die anderen Organe der Judikative und der unmittelbaren und mittelbaren Verwaltung auf Bundes-, Bundesstaats- und Kommunalebene (Art. 103 A). Sein Ziel ist die Gültigkeit, Auslegung und Wirksamkeit bestimmter Normen, die in den Organen der Gerichtsbarkeit oder zwischen Organen der Gerichtsbarkeit und Verwaltung Gegenstand aktueller Kontroversen sind, die eine gravierende Rechtsunsicherheit und relevante Vielzahl von Gerichtsverfahren über gleiche Fragen zur Folge haben (Art. 103 A § 1). Nach Erklärung der Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung einer Maßnahme zur Verwirklichung einer Verfassungsnorm wird die zuständige Staatsgewalt in Kenntnis gesetzt, um die notwendigen Vorkehrungen zu treffen und, sofern es sich um ein Organ der Verwaltung handelt, dies binnen dreißig Tagen zu tun (Art. 103 § 2); und schließlich gibt es die Beschwerde zwecks

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Erhaltung der Kompetenz des Gerichts und Gewährleistung der Autorität seiner Entscheidungen (Art. 102 I Buchstabe l). Wie man sieht, hat die CF/88 nicht nur „Verfassungswidrigkeit“ und „Verfassungsgemäßheit“ einander gegenübergestellt, ohne eine Zwischenentscheidung zwischen diesen beiden Grenzen vorzusehen; sie hat darüberhinaus auch Instrumente vorgesehen, um die Verfassung zu verwirklichen, indem sie alle Gewalten bindet, die eventuell die Geltung unterverfassungsrechtlicher Normen in Frage stellen. Die Sorge der Verfassung gilt ausschließlich der Wiederherstellung des Zustands der Verfassungskonformität vermittels der Zuweisung höchstmöglicher Wirksamkeit an die Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs, inklusive des alle Instanzen überspringenden Beschwerdemechanismusses zur Beschleunigung der genannten Wiederherstellung. Keine einzige dieser Bestimmungen hat eine Parallele im deutschen Grundgesetz. Dort wird nicht von Verfassungsgemäßeit / Verfassungswidrigkeit gesprochen, auch nicht von deren Wirkungen und auch nicht von der Gültigkeit / Ungültigkeit unterverfassungsrechtlicher Normen. Diese von der CF/88 aufgenommenen Themen wurden im deutschen System dem einfachen Gesetzgeber überlassen. Ein anderes von Machado Derzi hervorgehobenes Element ist zu beachten: indem die CF/88 die Verfassungswidrigkeit erörert, bedient sie sich der Ausdrücke „direkte Klage auf Verfassungswidrigkeit“ und „deklaratorische Klage auf Verfassungswidrigkeit“ (Art. 102 Ia und § 2) und „Nach Erklärung der Verfassungswidrigkeit“ (Art. 103 § 2) und statuiert die Zuständigkeit des Obersten Bundesgerichtshofs zur „Erklärung der Verfassungswidrigkeit eines Abkommens oder Bundesgesetzes“ (Art. 102 III b). Damit spielt sie präzise auf die deklaratorische Wirkung der Entscheidungen an. Somit zieht die „der Verfassung selbst, durch die von den schon zitierten klassischen Texten bestätigte logische Schlussfolgerung, entnommene deklaratorische Natur dieser Entscheidungen die die diesen sog. ‚deklaratorischen‘ Urteilen immanenten Wirksamkeitszeiten ex tunc nach sich“.532 Diese Bemerkungen sollen folgenden Sachverhalt festhalten: während die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit durch die CF/88 selbst zum Zweck des wirksameren und umfassenderen Ausschlusses jeglicher Verletzung der Verfassung normiert wird, wird die Definition dieser Materie vom deutschen Grundgesetz der Legislative überlassen. Dieser Unterschied ist nicht zu übersehen. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Zuweisung prospektiver Wirksamkeit durch den Obersten Bundesgerichtshof notwendig und in allen Fällen mit der CF/88 unvereinbar ist. Vertreten wird vielmehr die These, dass sie unabhängig von ihrem verfassungsrechtlichen Gewicht unvermeidlich geringer ist als die vom Grundgesetz dem deutschen Bundesverfassungsgericht zugewiesene prospektive Wirksamkeit. Die CF/88 war explizit in puncto Verfassungsmäßigkeitskontrolle: 532 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 238.

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sie hat Mechanismen mit höchstmöglicher Wirksamkeit und Reichweite zur Vermeidung der Verfassungswidrigkeit und zur Wiederherstellung des Zustands der Verfassungsgemäßheit vorgesehen, mit besonderer Rücksicht auf die Bundes-, Bundesstaats- und Kommunalebene. Die Kompetenz zum Erlass von Leitsätzen für alle Gewalten, die Regelung der allgemeinen Wirksamkeit in Materien der konzentrierten Kontrolle der Verfassungsgemäßheit oder die Befugnis zur Aufforderung des Gesetzgebers, notwendige Maßnahmen zur Verhinderung der Verfassungswidrigkeit zu ergreifen, sind überaus deutliche Beispiele dafür, dass das Hauptaugenmerk der CF/88 der schnellen und wirksamen Wiederherstellung des vom verfassungswidrigen Gesetz beeinträchtigten Zustands der Verfassungsgemäßheit gilt. Man kann in anderen Worten sagen, dass die CF/88 in der Regel mit jedem Typus der Erhaltung verfassungswidriger Zustände unduldsam verfahren ist. Wenn dies zutrifft, läuft die schlichte Übertragung jeder Art von ausländischer Erfahrung auf die brasilianische Rechtsordnung, ohne Berücksichtigung ihrer Besonderheiten, darauf hinaus, diese Sorge um die Vermeidung eines jeglichen Zustands der Verfassungswidrigkeit zu überspielen. Nach der Erörterung dieser allgemeineren auf den Unterschied zwischen dem deutschen und dem brasilianischen Rechtssystem bezogenen Fragen sind jetzt die Fälle zu prüfen, in denen der Oberste Bundesgerichtshof die einfachgesetzliche Wirkung der Verfassungswirklichkeitserklärung von Gesetzen abgemildert hat. (bb) Fälle der abgemilderten Verfassungswidrigkeitserklärung In einigen Entscheidungen ändert der Oberste Bundesgerichtshof strenggenommen nicht die deklaratorische Wirkung der Entscheidung ab, indem er die Verfassungswidrigkeit der Norm nicht erklärt, bestimmt aber, obwohl er sie erklärt, eine Übergangsregel oder eine Frist zur Umsetzung der Entscheidung. Die Wirksamkeit der Entscheidung ist also rückwirkend. Zur Vermeidung bestimmter für unerwünscht gehaltener Folgen sieht das Gericht jedoch eine Übergangsregelung oder eine spezifische Übergangsfrist vor. In diesen Fällen hält das Gericht die von der verfassungswidrigen Norm erzeugten Wirkungen aufrecht, sieht aber ab sofort eine bis zum Erlass der gesetzlichen Norm anzuwendende Übergangsnorm vor. In der Bearbeitung des außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens Nr. 401.953-1 hat das Gericht die Verfassungsmäßigkeit eines bundesstaatlichen Gesetzes geprüft, das in der Absicht, vorgebliche soziale und regionale Ungleichheiten zu beheben, vollständig und abrupt eine Gemeinde von der Teilhabe an der Aufteilung und Weiterleitung der Einnahmen aus der Beitreibung der Dienstleistungssteuer ausgeschlossen hat533. Das Gericht entschied aufd Verfassungswidrigkeit der ange 533

RE Nr. 401.953-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 21. 09. 07.

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fochtenen Norm wegenVerletzung der Bestimmung des Art. 158 IV einziger Paragraph der CF/88. Infolgedessen ordnete es die Neuberechnung der kommunalen Beteiligungskoeffizienten an den Steuereinnahmen zum Zweck der Zuweisung der verfassungsrechtlich verbrieften Quote an die geschädigte Gemeinde an, jedoch mit einem Vorbehalt: „Da die Neuberechnung der Beteiligungsverhältnisse eine Minderung der Beteiligungsquote der übrigen Gemeinden des Bundesstaats Rio de Janeiro, mit einer eventuellen Verrechnung der erhaltenen Beträge mit den auf zukünftige Geschäftsjahre bezogenen Beträgen zur Folge haben kann, darf die Vollstreckung des Urteils nicht die zumutbare und verhältnismäßige finanzielle Versorgung der Gemeinden belasten. Deshalb muss das Gesetz, das die Neuberechnung und Überweisung der auf vergangene Geschäftsjahre bezogenen Gutschriften an den Berufungskläger normiert, noch einen Ausgleich und eine Ratenzahlung zu Bedingungen festlegen, die nicht zu einer Vernichtung der zukünftigen den Gemeinden geschuldeten Teilbeträge führen“ (Zusammenfassung, Punkte 6 e 7). (cc) Fälle der Unvereinbarkeitserklärung In anderen Entscheidungen beschränkt sich der Oberste Bundesgerichtshof nicht darauf, eine Übergangsregel oder Frist für die Umsetzung der deklaratorischen Verfassungswidrigkeitsentscheidung einzuführen. Das Gericht ändert die rechtliche Kennzeichnung der in der Vergangenheit erfolgten Akte oder eingetretenen Sachverhalte, die trotz ihrer Verfassungswidrigkeit ihre Wirksamkeit nicht verlieren. Hier erfolgt an Stelle einer Änderung der zeitlichen Wirkungen der Entscheidung die Änderung der zeitlichen Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung. Dies geschieht jedoch nicht nur in einer bestimmten Form, sondern in verschiedenen Formen, deren Systematisierung nachfolgend versucht wird. Erklärung der Unvereinbarkeit mit vollständiger allgemeiner Wirksamkeit pro futuro In diesen Fällen weist das Gericht der Verfassungswidrigkeitsentscheidung einfach Wirkungen ex nunc zu und beauftragt den Gesetzgeber mit der Ausarbeitung eines neuen Gesetzes. In der Bearbeitung der außerordentlichen Rechtsmittelverfahren (Recursos Extraordinários) Nr. 197.917 und 266.994 hat der Oberste Bundesgerichtshof die Vereinbarkeit von Kommunalgesetzen mit Art. 29 IV der CF/88 geprüft, insbesondere um zu wissen, ob die Anzahl der Stadtverordneten der verfassungsrechtlichen Forderung nach Verhältnismäßigkeit zur Bevölkerung entsprach534. Da nach Auffassung des Plenums die Kommunalgesetze verfassungswidrig waren, stellte sich 534

RE Nr. 197.917-8, Plenum, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 07. 05. 04; RE Nr. 266.994, Plenum, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 21. 05. 2004.

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die Frage, ob die Wirkungen der Verfassungswidrigkeitsentscheidung deklaratorisch sein könnten. Da nach Auffassung des Gerichts die Wirkungen der Klage in Ansehung der bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Gesetze schwere Folgen für die Organisation der Verwaltung und die Glaubwürdigkeit des kommunalen Gesetzgebungssystems selbst haben könnten, erklärte das Gericht die prospektive Wirksamkeit. Begründet ist die Entscheidung folglich mit der Rechtssicherheit als Forderung nach institutioneller Stabilität des Rechts und der Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung insgesamt für die Gemeinden und ihre Bürger. In diese Richtung weist auch die Zusammenfassung der Entscheidung: „Rechtssicherheitsprinzip. Exzeptionelle Situation, in welcher die Nichtigkeitserklärung mit ihren normalen Wirkungen ex tunc eine schwere Bedrohung des gesamten geltenden Gesetzgebungssystems ergeben würde. Vorrang des öffentlichen Interesses zur exzeptionellen Gewährleistung von Wirkungen pro futuro der konkreten Verfassungswidrigkeitserklärung“ (hervorgehoben von uns). Zudem war die Aufrechterhaltung der bisherigen Wirkungen nicht mit Schäden für die Privatpersonen verbunden, sondern vielmehr mir Vorteilen, insofern sie die bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Gesetze sowie die bisherigen Wirkungen der Tätigkeit des Verwaltungsapparats aufrechterhielt. In der direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 3.615 untersuchte der Oberste Bundesgerichtshof die Vereinbarkeit der Neubestimmung der Grenzen der Gemeinde Conde im nordöstlichen Bundesstaat Paraíba mit der Bestimmung in Art. 18 § 4 der CF/88, nach dem die Bildung, Einverleibung, Verschmelzung und Abtrennung von Gemeinden aufgrund eines bundesstaatlichen Gesetzes erfolgen sollten, innerhalb der von einem ergänzenden Bundesgesetz gesetzten Frist, zudem in Abhängigkeit von einer vorgängigen plebiszitären Konsultation der Bevölkerung der betroffenen Gemeinden, vorgestellt und von Amts wegen angekündigt unter Einhaltung der gesetzlichen Formvorschriften535. Da die Neubestimmung der Grenzen der genannten Gemeinde ohne vorherige plebiszitäre Konsultation der Bevölkerung der Anrainergemeinden, sondern nur nach Durchführung einer Meinungsumfrage, Sammlung von Unterschriften und Abgabe der Erklärungen von lokalen Bürgerinitiativen erfolgt war, sprach das Gericht die Verfassungswidrigkeit des Kommunalgesetzes aus. Angesichts des Umstands, dass die Anfechtung vor Gericht 2005 erfolgt war und sich auf eine 1989 veröffentlichte Norm bezog, waren in diesem Zeitraum von sechzehn Jahren „verschiedene Rechtslagen konsolidiert worden, vor allem in den Bereichen der Finanzen, der Abgaben und der Verwaltung, und können nicht ohne Schaden für die Rechtssicherheit seit ihrem Ursprung rückgängig gemacht werden“ (Votum der Richterin Ellen ­Gracie). Deshalb hat das Gericht die Verfassungswidrigkeit mit Wirksamkeit ex nunc erklärt. Die Grundlage der Entscheidung kann gleichfalls aus der Rechtssicherheit in der Erscheinungsform der Forderung nach institutioneller Stabilität des Rechts und nach Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung rekonstruiert werden: zur Gewähr­leistung 535

ADI Nr. 3.615-7, Plenum, Berichterstatterin: Richterin Ellen Gracie, DJ 09. 03. 07.

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der Aufrechterhaltung der erfolgten Akte und zur Ermöglichung der Organisation der Gemeinden wurde die prospektive Wirksamkeit angeordnet. Man bemerke gleichfalls, dass die Aufrechterhaltung der vergangenen Wirkungen Privatpersonen nicht schädigte, sondern ihnen vielmehr wegen der rechtlichen Konsolidierung faktisch schon konsolidierter Akte nützte. Hervorhebung verdient schließlich die Tatsache, dass der Richter Eros Grau dem Votum der berichterstattenden Richterin Ellen Gracie Northfleet beigepflichtet hat hinsichtlich der Erklärung der Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Norm, besonders „im Interesse der Überwindung der Ungewissheiten, die einen nicht wünschbaren Konflikt zwischen den Gemeinden verursachen“. Das Gericht erklärte die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Norm als Instrument der Erhaltung der Rechtssicherheit in ihrer zukünftigen Dimension der Forderung nach Berechenbarkeit des Rechts und bestätigte gleichzeitig die erfolgten Akte, wodurch es die Rechtssicherheit in ihrer vergangenen Dimension der Forderung nach Unantastbarkeit konsolidierter Situationen gewährleistete. In der direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 2.907 diskutierte das Gericht eine Verwaltungsverordnung des Vorsitzenden des Obersten Gerichts des Bundesstaats Amazonas, welche die Arbeitszeiten der Beamten normierte536. Obwohl es keine Verletzung des Gewaltentrennungsprinzips feststellte, da die Verordnung den Arbeitstag der Beamten nicht änderte, stelle das Gericht einen Formfehler fest, da die Anordnung im Wege einer Verwaltungsverordnung und nicht eines Beschlusses, also von einem Einzelrichter und nicht von einem Richterkollegium erlassen worden war und damit Art. 96 I a und b der Bundesverfassung verletzte. Das Gericht wies allerdings der Anordnung des Vorsitzenden Wirksamkeit ex nunc zu, „damit nicht eventuell jeder verübte Akt annulliert wird oder ein Vorwand zur Annullierung geliefert wird“ (Votum des Richters Cezar Peluso). Unvereinbarkeitserklärung mit partieller allgemeiner Wirksamkeit pro futuro In diesen Situationen weist das Gericht der Verfassungswidrigkeitsentscheidung Wirkungen ex nunc zu, sorgt aber dafür, dass sie nichtkonsolidierte Fälle betreffen. Es handelt sich um eine Art retrospektive Entscheidungswirksamkeit: die schon für irreversibel gehaltenen Fälle werden nicht betroffen, wohl aber diejenigen, die auf eine oder andere Weise geändert werden können. Im Habeas-Corpus-Verfahren Nr. 82.959 hat der Oberste Bundesgerichtshof die Vereinbarkeit der Bestimmung in Art. 2 § 1 des Gesetzes Nr. 8.072/90, das den Stufenstrafvollzug im Fall von schweren Verbrechen (crimes hediondos) normierte, mit der Bestimmung in Art. 5 XLVI der Bundesverfassung von 1988 geprüft537. Er berücksichtigte dabei, dass das oberste Ziel des Stufenstrafvollzugs 536 537

ADI Nr. 2.907, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 16. 05. 08. HC Nr. 82.959, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 01. 09. 06.

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in den Arten geschlossener, halbgeschlossener und offener Vollzug die Resozialisierung des Häftlings sei und kam zum Schluss, dass der geschlossene Vollzug der Garantie der Individualisierung der Strafe widerspreche. Da das Gericht aber seine frühere Rechtsprechung geändert hatte, die sich für die Verfassungsmäßigkeit des Verbots des Stufenstrafvollzugs bei schweren Verbrechen ausgesprochen hatte, war es der Auffassung, dass die Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung variiert werden müssten. Das stark an der deutschen Rechtslehre (bes. Karl Larenz und Peter Häberle) und an der US-amerikanischen Rechtsprechung über Rechtsprechungsänderung (prospective overruling) ausgerichtete Votum des Richters Gilmar Mendes vertrat die Variation der Entscheidungswirkungen auch bei der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit (S. 50 des Votums) mit verfassungsrechtlichen, also nicht bloß zweckmäßigkeitsorientierten Argumenten. Er argumentierte, dass das Gericht, obwohl das „Prinzip“ der Nichtigkeit weiterhin die „Regel“ in einigen Situationen sei, selbst bei der diffusen Kontrolle, die Wirkungen der Entscheidung in den Fällen einschränken könne, in denen die Nichtigkeitserklärung ein rechtliches Vakuum oder einen mit dem Gleichheitsprinzip unvereinbaren Vorteil bzw. Schaden für die Verfassungsordnung selbst zur Folge haben könne (S. 58). Das Gericht sei so mehrfach verfahren538: „Anders gewendet, können Rechtssicherheitsgründe der Revision des aufgrund eines für verfassungswidrig erklärten Gesetzes ergangenen Akts entgegenstehen“ (S. 63). Der Richter Gilmar Mendes beschließt sein Votum mit der Behauptung, dass „im vorliegenden Fall festgestellt werden kann, dass eine eventuelle Verfassungswidrigkeitsentscheidung mit Wirkung ex tunc sich auf das ganze geltende System auswirken würde“. Das Gericht ist dieser Argumentation gefolgt und hat die Wirksamkeit pro futuro erklärt, um vom Stufenstrafvollzug die schon erloschenen Strafen auszuschließen, unbeschadet der Prüfung der anderen für die Individualisierung der Strafe notwendigen Voraussetzungen durch den zuständigen Richter. Im außerordentlichen Rechtsmittelverfahren (Recurso Extraordinário) Nr. 560.626 hat das Gericht geprüft, ob die auf die Verjährung und Verwirkung von Abgaben bezogenen Normen allgemeine steuerrechtliche Normen wären, deren Regelung im positiven Fall einem Ergänzungsgesetz vorbehalten ist, sowohl nach der früheren Verfassung von 1967/69 (Art. 18 § 1) als auch in der CF/88 (Art. 146 III b)539. Das Gericht war der Auffassung, dass bundesstaatliche und kommunale Gesetze keine Fristen setzen könnten, da in diesem Fall „die Zulassung unterschiedlicher Normierung dieser Themen durch die verschiedenen Gliedstaaten des Bundes das Verbot der ungleichen Behandlung der Steuerzahler in gleichwertiger Situation und 538

RE Nr. 78.594, Berichterstatter: Richter Bilac Pinto, DJ 04. 11. 74; RE Nr. 79.620, Berichterstatter: Richter Aliomar Baleeiro, DJ 13. 12. 74; RE Nr. 78.809, Berichterstatter: Richter Aliomar Baleeiro, DJ 11. 10. 74; RE Nr. 122.202, Berichterstatter: Richter Francisco Rezek, DJ 08. 04. 94. In anderen Situationen hat das Gericht eine Abwägung vorgenommen, aber den Nichteintritt einer rechtfertigenden Situation festgestellt: ADI Nr. 513, Berichterstatter: Richter Célio Borja, RTJ 141; ADI Nr. 1.102, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 17. 11. 95. 539 RE Nr. 560.626, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJe 05. 12. 08.

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die Rechtssicherheit verletzen würde“. Aus diesem Grund erklärte das Gericht die Verfassungswidrigkeit der Art. 45 und 46 des Gesetzes Nr. 8.212/91 wegen Verletzung von Art. 146 IIIb der CF/88 und die Verfassungswidrigkeit von Art. 5 einziger Paragraph der Gesetzesverordnung Nr. 1.569/77 angesichts Art. 18 § 1 der Verfassung von 1967/69. Das Gericht variierte aber die Entscheidungswirkungen und erklärte „für legitim die innerhalb der in Art. 45 und 46 des Gesetzes Nr. 8.212/91 gesetzten Fristen entrichteten und nicht vor dem Datum des Abschlusses dieses Verfahrens angefochtenen Zahlungen“. Der Richter Gilmar Mendes folgte dieser Auffassung „unter Berücksichtigung der Auswirkungen und der Ungewissheit, die man in diesem Fall erwarten kann; aber ich versuche die Möglichkeit der Rückerstattung nicht geschuldeter Abgaben bei Zahlungen von Beträgen unter diesen Bedingungen einzugrenzen, mit Ausnahme der vor dem Abschluss des Verfahrens eingereichten der darin behandelten Fälle“. Schließlich beschloss der berichterstattende Richter das Votum, indem er die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Bestimmungen erklärte, „jedoch mit Variation der Wirkungen ex nunc, nur in Bezug auf eventuelle Rückerstattungen nicht geschuldeter Beträge, die nach diesem Datum, dem Datum der Entscheidung, eingeklagt worden sind“. Erklärung der Unvereinbarkeit mit einer vorläufigen Gültigkeitsverlängerungsbestimmung In diesen Situationen erhält das Gericht die von der verfassungswidrigen Norm in der Vergangenheit verursachten Wirkungen aufrecht, indem es diese Wirkungen vorläufig um einen bestimmten Zeitraum verlängert bis zum Tag, an den der Gesetzgeber eine neue Regel mit bis zum Tag der Entscheidung rückwirkenden Wirkungen verabschiedet. In den direkten Klagen auf Verfassungswidrigkeit Nr. 2.240, Nr. 3.316, Nr. 3.489 und Nr. 3.689 hat das Gericht die Vereinbarkeit der Gründung von Gemeinden ohne Vermittlung eines Ergänzungsgesetzes mit der Bestimmung von Art. 18 § 4 der CF/88 geprüft, nach welcher die Gründung durch bundesstaatliches Gesetz erfolgen sollte, allerdings innerhalb der von einem ergänzenden Bundesgesetz gesetzten Frist540. Erneut hat das Gericht, um die Organisation der Verwaltung und die Geltung der bis zu diesem Tag erlassenen Gesetze aufrechtzuerhalten, die Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Akts erklärt, aber seine „Geltung bis zum Ablauf der Frist von 24 (vierundzwanzig) Monaten bis zur Festlegung einer neuen Regelung durch den Gesetzgeber“ gewährleistet. Das Fundament der Entscheidung lässt sich in der Nachfolge der oben erwähnten Präzedenzfälle aufgrund der Rechtssicherheit als Forderung nach der institutionellen Stabilität des Rechts und der Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung rekonstruieren. Das Gericht gelangte 540

ADI Nr. 2.240-7, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 03. 08. 07; ADI Nr. 3.316, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 29. 06. 07; ADI Nr. 3.489, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 03. 08. 07; ADI Nr. 3.489, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 29. 06. 07.

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zu dieser Auffassung, indem es berücksichtigte, dass die Gemeinde, um die es im Verfahren ging, faktisch sechs Jahre lang bestanden hatte, wodurch eine „exzeptionelle konsolidierte Situation politisch-institutioneller Art“ geschaffen worden war; „die Ausnahmesituation, eine-obwohl noch nicht rechtsförmige-konsolidierte Situation darf nicht unberücksichtigt bleiben“ (Votum des Richters Eros Grau bei der Bearbeitung der direkten Klage Nr. 2.240). Berücksichtigt wurde vor allem die exzeptionelle Natur der Situation, die sich aus der Tatsache ergab, dass das hier geforderte Ergänzungsgesetz niemals erlassen worden war, was einer „Unterlassung des Nationalparlaments [gleichkommt], welche die von der Verfassung genehmigte Gründung einer Gemeinde unmöglich macht. Der ausbleibende Erlass des Ergänzungsgesetzes innerhalb einer billigen Frist stellt eine echte Verletzung der Verfassungsordnung dar.“ Der abschließende Satz der Zusammenfassung ist bezeichnend: „Das Rechtssicherheitsprinzip gedeiht zugunsten der Erhaltung der Gemeinde. Prinzip der Staatskontinuität.“ Und das Votum des Richters Eros Grau ist emblematisch: „Die Gemeinde erlässt Gesetze über lokal relevante Materien; bis Mai 2006 wurden über zweihundert Kommunalgesetze verabschiedet. Die Gemeinde hat ihren Bürgermeister und stellvertretenden Bürgermeister gewählt, sowie ihre Stadtverordneten, in von der Wahlaufsichtsbehörde durchgeführten Wahlen. Sie hat in ihrem Kompetenzbereich Abgaben eingeführt und beigetrieben. Sie hat staatliche Dienstleistungen im Interesse der lokalen Gesellschaft erbracht und erbringt sie weiterhin. Sie übt die Polizeigewalt aus. Auf ihrem Hoheitsgebiet […] sind Ehen geschlossen und Geburten und Todesfälle standesamtlich registriert worden. […] In einem Wort […], die Gemeinde Luís Eduardo Magalhães existiert faktisch als mit kommunaler Autonomie ausgestatteter Gliedstaat des Bundes, ausgehend von einer politischen Entscheidung. Diese Wirklichkeit darf nicht verkannt werden. Die in Luís Eduardo Magalhães wohnhaften Bürger nehmen bona fide an, dass die politische Autonomie der Gemeinde rechtlich ordnungsgemäß ist.“

Dem Berichterstatter zufolge würde die Erklärung der institutionellen Verfassungswidrigkeit der Gemeinde, „die kranke Natur des Systems verschlechtern“ (Punkt 27), da „es uns nicht möglich ist, die politische Entscheidung institutioneller Natur ohne eine eklatante Verletzung des föderativen Prinzips zu annullieren“ (Punkt 34) bzw. „es unmöglich ist, in der Zeit zurückzugehen, um diese Existenz [scil. der Gemeinde] zu annullieren“ (Punkt 35). „Bei der Erfüllung des Auftrags der Verfassungskonkretisierung bemüht sich dieses Gericht, die normative Kraft der Verfassung und ihre stabilisierende Funktion […] zu fördern“ (Punkt 41, hervorgehoben von uns). „Wir müssen das feststellen, was im vorliegenden Fall die zukünftige normative Kraft der Verfassung und ihre Stabilisierungsfunktion weniger beeinträchtigt„ (Punkt 43). „Zur Diskussion steht in diesem Fall das Prinzip der Kontinuität des Staates, nicht das Prinzip der Kontinuität des öffentlichen Dienstes“ (Punkt 45). In Ansehung all dieser Erwägungen hat der berichterstattende Richter sich für die Ablehnung des Antrags ausgesprochen. In einem Sondervotum hat der Richter Gilmar Mendes, indem er auf die Notwendigkeit hinwies, eine Abwägung zwischen dem „Prinzip der Nichtigkeit des Gesetzes und dem Rechtssicherheitsprinzip“ vorzunehmen (S. 313), die Verfassungswidrigkeitserklärung

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

mit Wirkungen pro futuro (S. 323) für den Zeitraum von vierundzwanzig Monaten vertreten, unter Berufung auf einen Ausdruck von Bachof, dass die Nichtigkeit des verfassungswidrigen Gesetzes eine „wahre Katastrophe“ (S. 326) zur Folge haben und „Schäden für das gesamte Verfassungssystem (schwere Bedrohung der Rechtssicherheit) mit sich bringen“ könne (S. 328). Unvereinbarkeitserklärung mit endgültiger Bestimmung der Gültigkeitsverlängerung und Änderungsverpflichtung pro futuro In diesen Fällen behält das Gericht die von der verfassungswidrigen Norm in der Vergangenheit verursachten Wirkungen bei, verlängert sie endgültig für einen bestimmten Zeitraum und erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, eine neue Regel für die Zukunft einzuführen. In der direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 3.660-2 hat das Gericht die Vereinbarkeit der Überweisung der Gerichtskosten an private Verbände mit den Art. 5, 98 einziger Paragraph und 145 II der CF/88 geprüft541. Es hat seine Auffassung im Sinn des Verbots der Umwidmung der als Kosten und Gebühren eingenommenen Beträge zugunsten privatrechtlich organisierter juristischer Personen wiederholt, und zwar wegen der Verletzung des Gleichbehandlungsprinzips und wegen der Abweichung von der kraft Verfassungsrechts für die Gebühren festgelegten Widmung, deren Zweck die Finanzierung der öffentlichen Dienstleistungen, zu denen sie gehören, sein muss. Trotzdem, „in Ansehung der Rechtssicherheitsgründe und des außergewöhnlichen gesellschaftlichen Interesses findet Art. 27 des Gesetzes Nr. 9.868/99 Anwendung, um der Verfassungswidrigkeitserklärung Wirkungen ab der Verfassungsänderung Nr. 45 vom 31. Dezember 2004“ (Zusammenfassung) zuzuweisen. Es ist interessant, darauf hinzuweisen, dass in diesem Fall eine konsolidierte Rechtsprechung des Gerichts vorlag. Daher die zurückhaltende Behauptung des Richters Joaquim Barbosa bezüglich der vom Richter Gilmar Mendes, dem Berichterstatter des Verfahrens, vorgeschlagenen Variation der Wirkungen: „Die Position des Gerichts hinsichtlich dieses Typus von Verfassungswirklichkeit ist seit langer Zeit bekannt“ (S. 67 des Urteils). In der direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 3.022 hat der Oberste Bundesgerichtshof die Vereinbarkeit des bundesstaatlichen Ergänzungsgesetzes Nr. 10.194/94-das die Tätigkeit des Vertreters des öffentlichen Interesses bei der zivil- oder strafrechtlichen Verteidigung von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes gewährleistete, die wegen eines in ordnungsgemäßer Ausübung des Amtes begangenen Akts belangt worden – mit der Bestimmung des Art. 134 der CF/88 geprüft, nach welchem die Schaffung einer Rechtsberatung und Verteidigung nur der bedürftigen Angeklagten in allen Instanzen vorgeschrieben ist, gemäß der Forderung von Art. 5 LXXIV542. Das Gericht erklärte die Verfassungswidrigkeit der 541 542

ADI Nr. 3.660-2, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 13. 03. 08. ADI Nr. 3.022-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 04. 03. 05.

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unterverfassungsrechtlichen Norm, behielt aber ihre Wirkungen bis zum Ende des Jahres (31. Dezember 2004) bei, in dem die Entscheidung verkündet worden war (02. August 2004). Die Grundlage der Entscheidung war wiederum die Rechtssicherheit als Forderung nach institutioneller Stabilität des Rechts und Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung: um die Kontinuität der staatlichen Dienstleistung und die Bestätigung der ergangenen Verfahrensakte zu gewährleisten, wurde eine Frist gesetzt, „die dem bundesstaatlichen Gesetzgeber in Rio Grande do Sul die notwendige Zeit zur angemessenen Regelung der Materie einräumt“. Man bemerke gleichfalls, dass die Beibehaltung früherer Wirkungen nicht den Privatpersonen schadete und punktuell nur den Zweck verfolgte, die ergangenen Akte bis zu dem Zeitpunkt zu bestätigen, an dem man die Institution konkret umstrukturieren könnte. Man bemerke zudem, dass die Position der Vertretung des öffentlichen Interesses dem Umstand Rechnung trug, dass die Vertreter des öffentlichen Interesses auch Lohnverluste erleiden und damit hilfsbedürftig werden könnten. Und man bemerke abschließend, dass die Staatsanwaltschaft selbst der Auffassung war, dass die Verfassungswidrigkeitserklärung einen „nicht zu rechtfertigenden Schaden“ für die betroffenen Parteien mit sich bringen würde. In der direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 3.819 prüfte das Gericht die Vereinbarkeit des Eintritts in die Laufbahn des Vertreters des öffentlichen Interesses durch interne Bestallung mit der Bestimmung von Art. 37 II und Art. 134 § 1 der CF/88, nach denen die Einsetzung in ein Amt oder staatliche Funktion von dem erfolgreichen Durchlaufen eines öffentlichen Wettbewerbs mit Prüfungen und der Bewertung von Diplomen abhängt543. Im untersuchten Fall waren die in die Funktion von Vertretern des öffentlichen Interesses und in die Ämter des Assistenten in Rechtsfragen der Strafvollzugsanstalten und des Gerichtsinformatikers (durch einfache Bestallung auf einen Vertrauensposten) ohne vorherigen öffentlichen Wettbewerb in die unlängst eingerichtete Laufbahn des Vertreters des öffentlichen Interesses auf bundesstaatlicher Ebene übernommen worden. Das Gericht erkannte auf Verfassungswidrigkeit wegen Verletzung der Regel, nach welcher der Eintritt in eine öffentliche Laufbahn durch öffentliche Ausschreibung mit Wettbewerb erfolgt, die dem Gleichheitsprinzip und dem republikanischen Prinzip aufgrund der im staatlichen Bereich verwendeten objektiven und unpersönlichen Bewertungskriterien Rechnung trägt. Aus diesem Grund war das Gericht der Auffassung, dass die „Verletzung der Verfassungsvorschriften unter dem Vorwand der Vertretung des öffentlichen Interesses unvorstellbar ist“ (Votum des Richters Eros Grau, Punkt 23). Um aber die Kontinuität des öffentlichen Diensts und den Zugang zur Gerichtsbarkeit zu gewährleisten, hat es der Verfassungswidrigkeitsentscheidung prospektive Wirkungen zugewiesen, um die gesetzwidrig eingesetzten Vertreter des öffentlichen Interesses nur sechs Monate lang zu behalten, ohne sie dort endgültig im Amt zu bestätigen, mit dem Zweck, eine Erneuerung der Mitarbeiter der Vertretung des öffentlichen Interesses durch Bestallung der Personen 543

ADI Nr. 3.819-2, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 28. 03. 08.

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

zu ermöglichen, die in der letzten regelkonform durchgeführten Ausschreibung die Prüfung bestanden hatten. Die Grundlage der Entscheidung kann auch unter Berufung auf die Rechtssicherheit als Forderung nach institutioneller Stabilität des Rechts und Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung rekonstruiert werden. In der direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 3.458-8 prüfte das Gericht die Vereinbarkeit eines bundesstaatlichen Gesetzes, das auf eine Initiative der Exe­ kutive zurückging und dessen Gegenstand die Einzahlung auf ein einziges vom bundesstaatlichen Finanzamt verwaltetes Konto der gerichtlichen und außergerichtlichen Hinterlegungsverwahrung war, mit der Bestimmung des die Initiative der Judikative erfordernden Art. 61 § 1 und mit dem die Unabhängigkeit und Harmonie der Gewalten gewährleistenden Art. 2544. Das Gericht entschied zugunsten der Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Gesetzes. Es war vom formalen Standpunkt aus der Auffassung, dass die Materie nur Gegenstand einer Initiative der Judikative sein könne; vom materiellen Standpunkt aus war es der Auffassung, dass eine Verletzung des Gewaltentrennungsprinzips vorliege, da es nicht um an das bundesstaatliche Finanzamt gebundene Beträge, sondern um Beträge zur gerichtlichen Hinterlegungsverwahrung handelte. Das Gericht hat jedoch nach seinen eigenen Worten eine „Variation der Wirkungen“ durchgeführt, weil, in Ansehung der Tatsache, dass das genannte Gesetz seit sechs Jahren in Geltung war (Votum des Richters Eros Grau, Schlussteil), „die Wirkungen ex tunc der Erklärung Schäden und Ungewissheit verursachen würden, zumal das System des einheitlichen Kontos für gerichtliche und außergerichtliche Hinterlegungsverwahrung im Hoheitsbereich des Bundesstaats Goiás das in ihr seitdem enthaltene Verfahren befolgte. Ich schlage also die Variation der Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung nach der Bestimmung in Art. 27 des Gesetzes Nr. 9.868/99 vor, so dass die Entscheidung Wirkungen 60 (sechzig) Tage nach dem Eintritt der Rechtskraft erzeugt. Diese Frist ist für die Organisation des Bundesstaats Goiás ausreichend, um die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten beizutreiben.“

Man sieht hier also, dass das Gericht nur eine Frist zur Umsetzung der Entscheidung eingeräumt hat. Die Variation der Wirkungen ist der Verfassungswidrigkeitserklärung eigentümlich, da die Bestätigung des Gesetzes, dessen Verfassungsmäßigkeit vermutet werden darf, den vorher bestehenden Sachverhalt nicht ändert und es keinen Grund für jedwede Einschränkung der Entscheidungswirkungen gibt. Dies ist auch die Auffassung des Obersten Bundesgerichtshofs. Die Variation der Wirksamkeit der Verfassungsmäßigkeitserklärung (umge­ kehrte Variation) wurde in der Direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 1.049-9 abgelehnt545. In diesem Verfahren erklärte das Gericht die Verfassungsmäßigkeit der Voraussetzung einer zweijährigen Anwaltspraxis nach Beendigung des rechts 544 545

ADI Nr. 3.458-8, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 28. 03. 08. ED in der ADI Nr. 1.040-9, Plenum, Berichterstatterin: Richterin Ellen Gracie, DJ 01. 09. 2006.

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wissenschaftlichen Grund- und Hauptstudiums als Voraussetzung zur Teilnahme an der öffentlichen Ausschreibung mit Wettbewerb zum Eintritt in die Bundesstaatsanwaltschaft. Als das Gericht in den Klagen auf Begründungsaufklärung (embargos de declaração) aufgefordert wurde, zur Begründetheit der Zuweisung prospektiver Wirkungen an die Entscheidung Stellung zu nehmen, erkannte es auf Unmöglichkeit dieser Maßnahme infolge der „Umkehrung des Prinzips der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze“. Die Richterin Ellen Gracie Northfleet formulierte in ihrem Votum, dass der „Antrag eine vollständige Umkehrung der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, eines grundlegenden Dogmas unserer Rechtsordnung, beinhaltet“. In einem anderen Fall hat das Gericht die Wirkungen der Verfassungsmäßigkeitserklärung jedoch eingeschränkt. In der Direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 3.756-1 hatte es in der Tat die Anfechtung von Art. 1 II § 3 und Art. 20 II und III des Ergänzungsgesetzes Nr. 101/00 (Gesetz über verantwortliche Finanzwirtschaft im öffentlichen Dienst – Lei de Responsabilidade Fiscal) geprüft, deren Gegenstand die Anwendung von Obergrenzwerten auf Personalausgaben auch der Legislative des Bundesdistrikts war. In dieser Klage wurde die Verfassungswidrigkeit der Anwendung der Normen des Gesetzes Nr. 101/00 auf den Bundesdistrikt behauptet, und zwar mit dem Argument, dass der Bundesdistrikt den Kommunen gleichwertige Befugnisse habe und das genannte Gesetz nur auf die Bundesstaaten anwendbar sei546. Ziel war um zu beseitigen einer anwendbarer Beschränkungen der Personalausgaben, die auf die Bundesstaaten und den Bundesdistrikt auch anwendbar waren. Nachdem das Gericht die Besonderheit des Bundesdistrikts in Bezug auf seine Zuständigkeiten und Dienste hervorgehoben hatte, gelangte es zur Auffassung, dass der Bundesdistrikt in seiner Struktur näher den Bundesstaaten als der verfassungsrechtlichen Architektur der Gemeinden stehe, vor allem wegen der Gleich­ behandlung mit den Bundesstaaten in Bezug auf die konkurrierenden Zuständigkeiten (Art. 24), den Eingriff (Art. 34), die Staatsgewalten (Art. 29 I), die Anzahl der Abgeordneten des Bundesdistriktparlaments, die Dauer ihrer jeweiligen Mandate und die Beihilfezahlungen an die Abgeordneten (Art. 32 § 3) und die Befugnis zur Einreichung einer direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit, neben anderen Aspekten. Aus diesen Gründen hat das Gericht den Antrag auf Verfassungswidrigkeitserklärung abgelehnt, also die Verfasssungsmäßigkeit der angefochtenen Bestimmung festgestellt. Trotzdem hat es die Erklärung der „Verfassungsmäßigkeit“ variiert, da seiner Auffassung zufolge dem Bundesdistrikt eine Frist zur Anpassung an die Entscheidung gesetzt werden musste. Zu diesem Zweck berücksichtigte das Gericht in der Entscheidung über die Klagen auf Begründungsaufklärung (­embargos de declaração), dass „man nicht verlangen kann, dass die Legislative des Bundesdistrikts sich rückwirkend an das Urteil im Verfahren ADI Nr. 3.756 anpasst, da die Personalausgaben schon tatsächlich getätigt worden sind, immer auf 546

ADI Nr. 3.756-1, Berichterstatter: Richter Carlos Brito, DJ 19. 10. 07.

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grund der Entscheidung Nr. 9.475/00 des Rechnungshofs des Bundesdistrikts und aufgrund der nachfolgenden Budgetrichtlinien“547. In seinem Votum hat der Richter Carlos Britto festgehalten, dass der Rechnungshof des Bundesdistrikts diesen wie die Gemeinden behandelte, d. h. Personalausgaben bis zu 6 % (sechs Prozent) des Budgets genehmigte, anders als bei dem auf Bundesstaaten anwendbaren Prozentsatz von 3 % (drei Prozent). Außerdem hatte der Bundesdistrikt aufgrund der damals vom Rechnungshof vertretenen Auslegung schon Kreditgeschäfte mit inund ausländischen Bankhäusern abgeschlossen, ohne jemals vom Sekretariat des Nationalen Schatzamts des Bundesfinanzministeriums, der Bundesanwaltschaft oder dem Senat wegen einer eventuellen Überschreitung der Grenzwerte behindert worden zu sein. Deswegen behauptete der berichterstattende Richter, dass es nicht möglich sei, „das Rad der Budgetmühle zurückzudrehen, da die Wahrheit einfach die ist, dass während der sieben Jahre der Geltung des Gesetzes der grenzüberschreitende Prozentsatz angewandt worden war. Er ist allerdings-nach meiner Auffassung-bona fide angewandt worden, da durch eine formelle Genehmigung des Rechnungshofs des Bundesdistrikts abgesichert, so wie bei Gesetzen über Budgetrichlinien“ (Punkt 12). Wegen dieser Argumente beschloss das Gericht die Forderung der Umsetzung der Entscheidung, „wobei unaufschiebbar die beiden in Art. 23 des genannten Gesetzes festgelegten Viermonatsperioden seit dem Datum der Veröffentlichung des Protokolls der Entscheidung über die Begründetheit der vorliegenden ADI gezählt werden“ (Punkt 15). Das Gericht hat somit die Verfassungsmäßigkeit der angefochtenen Norm erklärt und eine Frist zur Umsetzung der Entscheidung gesetzt. (dd) Kritische Analyse (α) Über Variation von Entscheidungswirkungen im Allgemeinen Man beachte eingangs, dass in den oben untersuchten Fällen die Grundlage der Entscheidungen strenggenommen nicht das Vertrauensschutzprinzip war: zu keinem Zeitpunkt hat das Gericht die Verlässlichkeit der Vertrauensgrundlage geprüft (d. h. geprüft, ob die Kommunalgesetze, Verwaltungsakte oder prozessualen Akte vertrauenswürdig waren bzw. nicht waren), ob Vertrauen vorlag (d. h. geprüft, ob die Gemeinden und ihre Bürger die Kommunalgesetze, Verwaltungsakte oder prozessualen Akte kannten, ihnen vertrauen konnten und tatsächlich vertrauten), ob das Vertrauen ausgeübt worden war (ob die Bürger Akte der Disposition über ihre Freiheit und ihr Eigentum vorgenommen haben, die ursächlich mit den Kommunalgesetzen, den Verwaltungsakten und prozessualen Akten zusammenhingen) und ob Enttäuschungen eingetreten waren (ob die Überraschung nach der Ausübung des Vertrauens groß und ungerechtfertigt war). Nichts davon wurde geprüft. Die Fälle beinhalteten strenggenommen nicht einmal einen Konflikt zwischen Staat und 547

ED in der ADI Nr. 3.756-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Carlos Brito, DJ 23. 11. 07.

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Bürger. Das Gericht hat nur das Rechtssicherheitsprinzip in seinem objektiven Sinn angewandt, als objektive, abstrakte und kollektive Interessen schützende Norm, die also ein Instrument des Schutzes „des Vertrauens“ oder der „Gesamtmenge des Vertrauens“ in der Rechtsordnung ist. Nach Auffassung des Gerichts – und in anderen Worten-würde die deklaratorische Wirksamkeit der Entscheidung die institutionelle Glaubwürdigkeit des Rechts selbst als Voraussetzung der potenziellen Ausübung der Summe der Freiheiten, insbesondere durch die Menge der unter dem Schutz der früheren Gesetze vorgenommenen Akte, beeinträchtigen. Aus keinem anderen Grund hat der Richter Joaquim Barbosa in seinem Votum über einen Fall, in dem es um die Neuberechnung von vom Bundesstaat Rio de Janeiro an die Gemeinden zu überweisenden Beträgen ging, behauptet: „Ich glaube, dass dies einer der Fälle ist, in dem mir die Anwendung von Art. 27 zumutbar und gerechtfertigt scheint, da es sich um einen typischen Fall handelt, eine föderative Frage. Es geht hier nicht um Einzelinteressen. Wir verleihen weder A, B noch C Privilegien, sondern es geht um eine institutionelle Frage“ (Hervorhebungen von uns)548. Der Richter Gilmar Mendes unterstrich, dass die Verfassungswidrigkeitserklärung „die bedürftigsten Bevölkerungsgruppen in Mitleidenschaft ziehen würde“. Wie die Richter im Fall der Überweisung von im Budget vorgesehenen Beträgen bemerkten, „gibt es extreme Situationen“ (Richter Carlos Britto); „ich glaube, dass es sich um einen typischen Fall mit äußerst gravierenden Folgen für die Bevölkerung handelt“ (Richterin Carmem Lúcia); „die Folgen sind extrem ernst“ bzw. „wir stehen hier vor einem Grenzfall der Abwägung“ (Richter Gilmar Mendes, Hervorhebungen jeweils von uns)549. In der Begründung der Entscheidungen fehlte ausdrücklich die vollständige Prüfung des Rechtssicherheitsprinzips, besonders in einem zeitlichen Aspekt (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). Außerdem wurde die Vermutung der großen Wirkungen in den meisten Fällen ohne jeglichen Nachweis oder selbst jede rationale Begründung vorgenommen, die eine zumutbare Vermutung nahelegen könnte. In einigen Fällen kann diese Auswirkung vermutet werden, wie im Fall der Gründung einer Gemeinde; in anderen ist diese negative Wirksamkeit jedoch nicht so evident, wie im Fall der Einstellung von Beamten ohne öffentliche Ausschreibung und Wettbewerb. Man stellt ebenfalls das Fehlen einer Prüfung des Anscheins der Gesetzmäßigkeit der Maßnahme fest: wenn das Gericht nicht prüft, ob zum Zeitpunkt der Vornahme des Akts der Anschein der Verfassungsmäßigkeit eines später als verfassungswidrig angesehenen Akts bestand, geht es das Risiko ein, die Wirksamkeit wissentlich gegen die Verfassung verübter Akte zu bestätigen. Indem es so vorgeht, ermutigt es zur zukünftigen Begehung neuer Verfassungsverstöße. Es er 548

RE Nr. 401.953-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 21. 09. 07. Votum des Richters Joaquim Barbosa, S. 467 des Urteils. 549 RE Nr. 401.953-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 21. 09. 07, S. 469, 471 des Urteils.

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hält die Rechtssicherheit in der Vergangenheit, indem es in einem höheren Maß die Rechtsunsicherheit in der Zukunft fördert. Wichtig ist es, sich immer zu vergegenwärtigen: wenn es zutrifft, dass die Entscheidung, Wirkungen ungültiger Akte aufrechtzuerhalten, negative Wirkungen für die Rechtssicherheit zu vermeiden bezweckt, verursacht die Entscheidung selbst zur Aufrechterhaltung dieser Wirkungen auch die gleichen negativen Wirkungen. Wie Tamanaha bemerkt, erzeugt die Aufrechterhaltung von Wirkungen rechtswidriger Akte gleichfalls Wirkungen, welche die Prinzipien des Rechtsstaats und der Rechtssicherheit in Frage stellen, wie beispielsweise der Vertrags- und Wortbruch, die Erhöhung der Ungewissheit in Bezug auf die Einhaltung von Gesetzen und Verträgen, die Förderung unannehmbarer wirtschaftlicher Praktiken, die Erhöhung der wirtschaftlichen Ineffizienz, neben anderen Faktoren550. Damit soll nur gesagt werden, dass die Entscheidung zur Aufrechterhaltung der Wirkungen ungültiger Akte aufgrund des Rechtssicherheitsprinzips alle sich aus der Umkehrung der normalen Folge der Nichteinhaltung der Normen ergebenden Wirkungen zu prüfen hat: dieselbe Rechtssicherheit, die zur Aufrechterhaltung von verfassungswidrigen Gesetzen herangezogen werden kann, um das Vertrauens einiger Personen zu schützen, die auf die Gültigkeit von Gesetzen wegen vermuteter Verfassungsmäßigkeit vertraut haben, kann auch zum Zweck des Schutzes des Vertrauens anderer Personen herangezogen werden, die auf die Anwendung der für die Nichteinhaltung verfassungswidriger Gesetze festgelegten Folge vertraut haben; dieselbe Rechtssicherheit, die zur Aufrechterhaltung ungültiger Verträge verwendet werden kann, um Treu und Glauben der Parteien zu schützen, die im Glauben an ihre Gültigkeit gehandelt haben, kann auch zum Zweck des Schutzes der Parteien verwendet werden, die auf die Anwendung der für die Ungültigkeitsfälle festgelegten Folgen vertraut haben. Kurz, die Aufrechterhaltung von ungültigen Akten oder Wirkungen ungültiger Akte aufgrund der Rechtssicherheit ist ambivalent: sowohl die Verfassungswidrigkeitserklärung mit nachfolgender Nichtigkeitserklärung als auch die Unvereinbarkeitserklärung ohne nachfolgende Nichtigkeitserklärung verursachen Wirkungen im Hinblick auf die Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts. Wenn dem so ist, dürfen sich dieser Entscheidungstechnik bedienende Entscheidungen nicht auf Rechtssicherheit berufen, ohne sie vorher zu definieren und ohne alle sie betreffenden Wirkungen zu prüfen. Die Verwendung der Rechtssicherheit als Entscheidungsgrundlage ohne vorgängige Definition und Abgrenzung der Typen und des Ausmaßes aller Wirkungen ist mit dem Rechtsstaatsprinzip und, so paradox dies anmuten mag, mit dem Rechtssicherheitsprinzip selbst unvereinbar. Trotzdem haben die meisten Entscheidungen Ausnahmesituationen berücksichtigt, in denen erstens der Ausschluss eingegetretener Wirkungen tatsächlich eine institutionelle Instabilität verursacht hätte und zweitens die Aufrechterhaltung der genannten Wirkungen dem Bürger nicht geschadet, sondern ihn eher begünstigt hat: wegen der Anomalie der Situation und der Art der angeordneten Variation 550

Brian Z. Tamanaha, Law as a Means to an End – Threat to the Rule of Law, S. 230.

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war die Aufrechterhaltung der eingetretenen Wirkungen kein Anreiz zur Begehung neuer Verfassungsverstöße. Man beachte im Hinblick auf die Fälle, in denen die Aufrechterhaltung die Ermutigung zur zukünftigen Verübung verfassungswidriger Akte hätte bedeuten können, dass die Variation der Wirkungen sparsam verfuhr: die Gründung von Gemeinden ohne die Einhaltung des Bundesgesetzes wurde für 24 Monate gewährleistet; der Eintritt in den öffentlichen Dienst ohne Ausschreibung und Wettbewerb wurde nur 6 Monate lang aufrechterhalten. Das Gericht hat jedoch nicht geprüft, in welchem Maße die früheren Gesetze den Anschein der Legitimität hatten bzw. nicht hatten. Deshalb ermutigt die Aufrechterhaltung der Wirkungen früherer Akte zur Verübung neuer ungültiger staatlicher Akte. In Verbindung mit der Untersuchung der Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts erlauben die vorstehenden Betrachtungen über die Typologie der Fälle der Wirkungsvariation in den Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs einige Schlussfolgerungen: Der Oberste Bundesgerichtshof kann die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit der Verfassung ohne die Nichtigkeitserklärung aussprechen, wenn das Ziel des Gesetzes die Förderung eines Verfassungsideals ist, dessen Verwirklichung von der Einführung eines Prinzips bestimmt ist, und wenn damit die Möglichkeit einer graduellen Förderung dieses Ideals besteht, die Freiheit des Gesetzgebers zu wählen, zwischen allen für diese Förderung notwendigen Mitteln und wenn damit der Mangel an Zuständigkeit der Judikative die positive, wenngleich auch unzureichende Wirkung abstellt, die vom mit der Verfassung unvereinbaren Gesetz verursacht worden ist. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn die Verfassung, statt die Verwirklichung von Zwecken ohne die Bestimmung der Mittel anzuordnen, Kompetenzregeln einführt – und eben dies ist der Fall bei der CF/88. Im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz wählte sie ein starres System, vermittels dessen die Besteuerungsgewalt der Gliedstaaten des Bundes durch materielle Aspekte des Abgabentatbestands festlegende Kompetenzregeln abgegrenzt wird551. In diesen Fällen darf die Unvereinbarkeitserklärung nicht verwendet werden, da ihre Voraussetzungen nicht erfüllt sind und somit nur die Erklärung der Nichtigkeit des Gesetzes übrigbleibt. Seer erinnert daran, dass es keinen Platz für die Unvereinbarkeitserklärung gibt, wenn die Nichtigkeitserklärung des Gesetzes den Zustand der Verfassungsmäßigkeit wiederherstellt, wie im Fall der Usurpierung der Kompetenzregeln552. Die Möglichkeit der Unvereinkarkeitserklärung entsteht nur mit dem Vorliegen der oben genannten Voraussetzungen. Diese liegen jedoch aus folgenden Gründen im Fall der Einführung von Abgaben, deren Tatbestände in der CF/88 geregelt sind, nicht vor:

551

Geraldo Ataliba, República e Constituição, 2. Aufl., S. 171. Roman Seer, Rechtsschutz in Steuersachen, in: Tipke, Klaus / Lang, Joachim (Hrsg.), Steuerrecht, 19. Aufl., § 22, Rn. 285, S. 1089.

552

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Erstens darf die Unvereinbarkeitserklärung nicht verwendet werden, da es keine staatliche Handlungspflicht gibt. Was die Kompetenzregeln für die Einführung von Abgaben angeht, so weisen sie nur die Besteuerungsgewalt für Einführung und Erhöhung von Abgaben zu. Diese Gewalt kann jedoch ausgeübt bzw. nicht ausgeübt werden, je nach der Autonomie des Bundesgliedstaats. In anderen Worten: es gibt im Fall der steuerrechtlichen Kompetenzregeln keine Anordnung der Verfassung, welche die Suche nach einem Ideal vorgibt, sondern nur die Übertragung einer Gewalt, die ausgeübt bzw. nicht ausgeübt werden kann. Ihre Nichtausübung impliziert nicht Verfassungswidrigkeit. Ganz anders verhält es sich bei der Zuweisung von Verfassungsaufträgen an den Staat oder Schutzpflichten zum Schutz der Grundrechte: in diesen Fällen hat der Staat die Pflicht zur Wahl der angemessenen und notwendigen Mittel, die zur Förderung der Verfassungsideale beitragen können. Zweitens darf die Unvereinbarkeitserklärung nicht verwendet werden, da es keine materielle Gestaltungsfreiheit staatlichen Handelns gibt. Im Fall der steuerrechtlichen Kompetenzregeln sind die Sachaspekte des Tatbestands der gesetzlichen Besteuerungsregel schon vorbestimmt, so dass der Gesetzgeber nicht frei irgendeines der für die Förderung eines verfassungsrechtlich festgelegten Ideals geeigneten Mittel wählen kann. Da das Mittel vorbestimmt ist, besteht weder die Möglichkeit der graduellen Förderung eines Sachverhalts, dessen Verwirklichung von der Einführung eines Verfassungsprinzips bestimmt wird, noch die Freiheit des Gesetzgebers, zwischen allen zur Zweckförderung notwendigen Mitteln zu wählen. Der Staat kennt weder Handlungspflicht noch Handlungsfreiheit, was die Erklärung der Unvereinbarkeit eines Gesetzes ohne Erklärung seiner Nichtigkeit ausschließt. Zu erinnern ist auch daran, dass die Normierung durch Regeln als solche den Idealen der Erkennbarkeit und Verlässlichkeit der Rechtsordnung Rechnung trägt, nämlich durch Förderung der Ideale der Zugänglichkeit, Verständlichkeit, Vorhersehbarkeit und Bindungsnatur der Rechts. Die Verletzung einer Regel kommt einer elliptischen Form der Verletzung der Rechtssicherheit gleich. Die ausnahmsweise erfolgende Aufrechterhaltung ihrer Wirkungen ist nur möglich, wenn die globale Verwirklichung der Rechtssicherheit selbst dies erfordert. Die Unvereinbarkeitserklärung kann in der Tat nicht verwendet werden, wenn das Gesetz, das Gegenstand der Verfassungsmäßigkeitskontrolle ist, eine Form der Ausübung der in einer Verfassungsregel festgelegten Kompetenz ist, weil in diesem Fall die zwei genannten Folgen sich nicht einstellen, die ihre Wahl erlauben, nämlich die Möglichkeit der graduellen Förderung eines Sachverhalts und die Freiheit des Gesetzgebers, jedes der zu der Förderung notwendigen Mittel zu wählen. Anders formuliert: da die Verfassung, statt nur die Erreichung eines Zwecks aufzuerlegen, das zu wählende Mittel festlegt, hat der Gesetzgeber keinen Gestaltungsspielraum hinsichtlich des zu wählenden Mittels. Ihm obliegt die Wahl des von der Verfassung vorbestimmten Mittels, der Judikative obliegt die Feststellung, ob diese Kompetenz nach der Verfassungsregel ausgeübt worden ist. Schließlich „setzt die Freiheit des Gesetzgebers bezüglich der Entscheidung darüber, welche Möglichkeit zu verwirklichen ist, voraus, dass das Grundgesetz selbst diese Entscheidung

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noch nicht gefällt hat“553. So lässt sich die These, derzufolge bei der Wirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassung einen weiten Spielraum belässt, damit der Richter selbst eine passende politische Entscheidung finden kann, nicht in das brasilianische Recht übertragen554. Das Skalierbarkeitsdefizit des Zwecks und die nicht vorliegende Gestaltungsfreiheit schließen die Möglichkeit aus, dass die Judikative eine Abwägung vornimmt, deren Ziel die Aufrechterhaltung der für verfassungswidrig erklärten Norm ist. Blüggel bemerkt auf dieser Argumentationslinie: „Insbesondere ein zwingender Verfassungsauftrag [vermag] die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers dahingehend einszuschränken, daß die Verfassungswidrigkeit nur noch durch die Eliminierung des verfassungswidrigen (Teiles des) Gesetzes beseitigt werden [kann]“555. Anders formuliert: es wird deutlich, dass, wenn die Verfassung eine Kompetenzregel einführt, deren Ausübung nur von der Gestaltung einer einen Begriff fest­ legenden Normhypothese abhängt, der Judikative die Wahl einer Unvereinbarkeitserklärung nicht zukommt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es in diesem Fall weder eine Skalierbarkeit des Zwecks noch eine Gestaltungsfreiheit gibt, weshalb nur die Erklärung der Nichtigkeit des Gesetzes verbleibt. Drittens darf die Erklärung der Unvereinbarkeit des Gesetzes nicht verwendet werden, da es durch die Nichtigkeitserklärung gelingt, den Zustand der Verfassungsmäßigkeit wiederherzustellen. Wie wir schon gesehen haben, erfordert die Unvereinbarkeitserklärung ohne die Nichtkeitserklärung, dass die Abwägung zwischen den sich aus der Erklärung der Nichtigkeit des Gesetzes ergebenden Wirkungen und den sich aus der Unvereinbarkeitserklärung des Gesetzes ergebenden Wirkungen am Maßstab der Verfassung in ihrer Ganzheit offenbart, dass die Verwerfung des Gesetzes den von der Verfassung geforderten Zustand der Verfassungsmäßigkeit nicht wiederherstellt, sondern eher beschädigt. Dies ist jedoch im Fall von steuerrechtlichen Kompetenzregeln nicht der Fall: da der Staat weder eine Handlungspflicht noch Handlungsfreiheit hat, stellt die Erklärung der Nichtigkeit des Gesetzes selbst den Zustand der Verfassungsmäßigkeit wieder her. Die Verwerfung des Gesetzes führt zum Ausbleiben der Ausübung der Besteuerungskompetenz, die übrigens nicht verfassungswidrig ist. Die vorstehenden Betrachtungen beweisen, dass im Fall steuerrechtlicher Kompetenzregeln keine Voraussetzungen zur Erklärung der Unvereinbarkeit des Gesetzes ohne die Erklärung seiner Nichtigkeit vorliegen, die zumindest mit den traditionellen sich aus dem Gleichheitsprinzip und der Verhältnismäßigkeitspflicht ergebenden Verwendungsgrundlagen übereinstimmen. Da jedoch die Entscheidung 553 Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 41 f. 554 Georg Seyfarth, Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, S. 294. 555 Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 41 f.

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für den einen oder anderen Typus eine Abwägung zwischen den sich aus der Unvereinbarkeitserklärung mit folgender Nichtigkeitserklärung ergebenden Rechtsoder Realfolgen einerseits und den sich aus der Unvereinbarkeitserklärung ohne Nichtigkeitserklärung ergebenden Rechts- oder Realfolgen beinhaltet, verbleibt noch die Frage: gibt es mehr positive als negative Wirkungen bei der Aufrechterhaltung eines verfassungswidrigen Steuergesetzes? Diese Frage soll nachfolgend beantwortet werden. (β) Über Variation von Entscheidungswirkungen im Steuerrecht Im Fall der Steuergesetze sind die anfangs gegen die Aufrechterhaltung der Wirkungen eines verfassungswidrigen Gesetzes angeführten Rechtfertigungen auf die Wirkungen bezogen, welche die Nichtigkeitserklärung vermutlich für bestimmten Verfassungsprinzipien erzeugt, vor allem für die Prinzipien der Rechtssicherheit und des budgetären Dispositionsschutzes. In diesem Sinn ist es also notwendig, sukzessiv zwei Fragen zu beantworten: kann die Rechtssicherheit vom Staat als Argument angeführt werden, um ein verfassungswidriges Steuergesetz aufrechtzuerhalten? Und wie steht es bezüglich ihrer Abwägung mit anderen Werten, falls sie zu diesem Zweck nutzbar ist? So wie sie in der CF/88 formuliert ist, kann die Rechtssicherheit nicht vom Staat zur Einschränkung freiheitlicher Grundrechte verwendet werden. Eine Prüfung des deutschen Grundgesetzes führt zur gleichen Schlussfolgerung. Auch in der deutschen Rechtsordnung schützt die Rechtssicherheit die Grundrechte der Bürger und begrenzt staatliches Handeln. Im Grundgesetz ist das besonders deutlich zu erkennen, da es das Rechtsstaatsprinzip in den Artikeln 20 und 28 ausdrücklich gewährleistet. Folgende Argumente erlauben die genannte Schlussfolgerung anlässlich der Untersuchung der CF/88: Erstens ist Rechtssicherheit ein Prinzip zum Schutz der Einzelgrundrechte gegen den Staat und nicht ein Instrument der Vermehrung der Staatsmacht, wie im auf die Prüfung ihrer Fundamente bezogenen Teil herausgestellt worden ist. Diese individualistische und Abwehrkonnotation der Rechtssicherheit zeigt sich in Form und Inhalt ihrer Fundamente. In der Form, weil die Fundamente der Rechtssicherheit, vor allem im Steuerrecht, Individualrechte und -garantien sind, mit Schutzkonnotation, wobei einige Garantien sich selbst sogar als „Grenzen der Besteuerungsgewalt“ bezeichnen; sie sind verwaltungsrechtliche Prinzipien mit einer restriktiven Konnotation der Einschränkung willkürlicher Machtausübung, und strukturierende Prinzipien mit einer gleichfalls machteinschränkenden und Einzelgrundrechte schützenden Konnotation. Und sie zeigt sich im Inhalt, da die Fundamente als Voraussicht von Verhaltensweisen oder Idealen die Sicherheit zugunsten der Freiheitsrechte durch den Einzelnen implizieren oder voraussetzen. Dies bedeutet, dass die Rechtssicherheit sich innerhalb der Verfassung „aufbaut“, ausgehend von Normen, welche die Einzelrechte schützen und staatliche Aktivität

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begrenzen. Der Inhalt der Fundamente darf also seine Quelle nicht verkennen. Falls der Aufbau der Rechtssicherheit als höchstem Ideal induktiv im Ausgang von geringeren Idealen erfolgt, muss das höchste Ideal die Orientierung der Ideale, denen es seinen Ursprung verdankt, bewahren. Die Rechtssicherheit ist also das objektive Prinzip zugunsten der Bürger (obwohl nicht immer zugunsten eines bestimmten Bürgers) und nicht zugunsten des Staats. Zweitens wird Rechtssicherheit selbst dann, wenn man ihren allgemeinen Schutzcharakter zugunsten des Bürgers nicht akzeptiert, sektorbezogen im Bereich des Steuerrechts konkretisiert mit einer noch offenkundigeren Eigenschaft als Schutz individueller Rechte einerseits und Begrenzung staatlicher Tätigkeit andererseits. In der Tat werden die mittelbaren Fundamente der Rechtssicherheit im auf ihre Begründung durch Induktion aus steuerrechtlichen Regeln bezogenen Teil von der Verfassung selbst als „Grenzen der Besteuerungsgewalt“ bezeichnet, also mit einer die Freiheitsrechte des Steuerzahlers offenkundig schützenden Konnotation. Die steuerrechtliche Rechtssicherheit ist ein objektives Prinzip zugunsten des Bürgers, nicht des Staats. Drittens enthält, wenn es um den Schutz der Erwartung oder den Ausschluss der Überraschung geht, die CF/88 Regeln zum Schutz der Individualrechte vor dem Staat. In dieser Hinsicht genügt es, daran zu erinnern, dass die Verfassung zugunsten des Bürgers das wohlerworbene Recht, den vollendeten Rechtsakt und die Rechtskraft schützt und es in der Verfassungsordnung keinen Regeltyp zugunsten des Staats gibt; andererseits ist nur daran zu erinnern, dass die Verfassung auch die Überraschung zugunsten des Steuerzahlers vermittels der „Grenzen der Besteuerungsgewalt“ ausschließt und keinen vergleichbaren Regeltyp zum Schutz staatlicher Interessen kennt. Kurz, die reflexive Anwendung der Rechtssicherheit ist erwartungsschutzbezogen zugunsten der Bürger und nicht des Staats normiert. Festzuhalten ist noch, dass die Kennzeichnung der Rechtssicherheit als bürgerschützendes objektives Prinzip sie nicht mit einer strikt individualistischen Natur ausstattet. Wie oben schon erwähnt, vertritt diese Arbeit die These, dass die Rechtssicherheit sich auf der Grundlage unmittelbarer und mittelbarer Fundamente sowohl in Deduktions- als auch Induktionsoperationen aufbaut. Diese Fundamente schreiben ihr gewiss eine grundrechtsschützende Dimension zu, die jedoch nicht als individualistisch bezeichnet werden kann, da sie nicht nur die Übernahme von sich aus Handlungen in der Verantwortung des Steuerzahlers ergebenden Risiken, sondern darüber hinaus auch nicht einen gewissen Unsicherheitsgrad ausschließt, der sich aus der Unmöglichkeit der Sicherheitsgewährleistung durch vollständige Vorhersehbarkeit der staatlichen Tätigkeit ergibt556. Gegenstand stürmischer Kontroversen ist die Frage, ob der Staat auf das Vertrauensschutzprinzip zurückgreifen darf. Einige Autoren wie Kirchhof vertreten die

556

Ricardo Lodi Ribeiro, A segurança jurídica do contribuinte, S. 263.

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Existenz einer Art von „budgetärem Dispotionsschutz“557. Ihr Fundament liege in den Verfassungsbestimmungen, die eine vom deutschen Bundeverfassungsgericht sogenannte „Deduktion der Erfordernisse verläßlicher Finanz- und Haushaltsplanung“ erlauben558. Diesem angenommenen Prinzip liegt folgende Vorstellung zugrunde: der Staat erwerbe bei seinen Steuereinnahmen das Recht auf Durchführung einer Finanz- und Entscheidungsplanung, die in Zukunft nicht enttäuscht werden dürfe, so beispielswiese durch die rückwirkende Erklärung einer Abgabe für verfassungswidrig, was durch eine Pflicht zur Rückzahlung der ungebührlich berechneten Steuern eintreten müsse. Das „Prinzip der Verlässlichkeit der Haushaltsplanung“ sei eine Art gespiegeltes Bild des Prinzips des Schutzes des Vertrauens der Privatperson auf die staatlichen Akte559. Zwei gewichtige Fragen sind zu diesem Punkt zu beantworten. Einerseits müssen wir wissen, ob dieses „Prinzip der Verlässlichkeit der Haushaltsplanung“ eine Verfassungsgrundlage im subjektiven Aspekt des Rechtssicherheitsprinzips hat oder ob es gar durch den objektiven Aspekt des genannten Prinzips begründbar ist. Andererseits müssen wir wissen, welchen Widerhall seine Berücksichtigung für die Aufrechterhaltung einer verfassungswidrigen Norm haben kann, falls es auf irgendeine Weise auf das Rechtssicherheitsprinzip beziehbar ist. Die erste Frage wird in diesem Kapitel beantwortet, die Antwort auf die zweite bleibt dem nächsten Kapitel vorbehalten, in dem die Variation der Wirkungen von Entscheidungen aufgrund der Rechtssicherheit untersucht werden wird. Wie schon oben gesehen, setzt das genannte Prinzip eine Vertrauensgrundlage, ein Vertrauen, die Ausübung eines Vertrauens und seine spätere Enttäuschung voraus. Die wichtigsten Fundamente des Vertrauensschutzprinzips sind die Grundrechte. Wenn dem so ist, gibt es von Anfang an ein grundlegendes Hindernis für die Gleichsetzung des genannten Prinzips mit dem Vertrauensschutzprinzip: der Staat hat keine Grundrechte, sondern eher die Pflicht zu ihrer Konkretisierung; Grundrechte setzen ein an Menschenwürde gebundenes „personales Substrat“ voraus, das im Fall des Staats nicht besteht560. Aus keinem anderen Grund dient das Vertrauensschutzprinzip als Begrenzung zugunsten des Bürgers und gegen den Staat und nicht zugunsten des Staats und gegen den Bürger561. Zu dieser Feststellung gelangt man über die Prüfung der Grundrechte als Rechte des „Einzelnen“ oder des „Bürgers“. Das bedeutet, dass die Grundrechte Abwehrinstrumente gegen staatliches Handeln sind und Schutzpflichten zugunsten des Einzelnen begrün 557

Paul Kirchhof, in: Schriften des Instituts Finanzen und Steuern 362 (1998), S. 28. BVerfGE 87, 153 (178 ff.); BVerfGE 93, 121 (148); 165 (178). 559 Klaus-Dieter Drüen, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, in: FR 6 (1999), S. 291; Andreas Ortmann, Die Finanzwirksamkeit verfassungsrechtlicher Entscheidungen im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 641 sowie 651. 560 Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 251. 561 Johannes Mainka, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, S. 30 f. 558

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den, nicht umgekehrt562. Im Bereich des Steuerrechts, in dem die Grundrechte der Gleichheit und des Eigentums und die Regeln des Rückwirkungsverbots und der Vorzeitigkeit als „Grenzen der Besteuerungsgewalt“ positiviert worden sind, erfährt diese Schutzorientierung eine Verstärkung. Außerdem setzt das Vertrauensschutzprinzip voraus, dass von ihm Gebrauch macht, wer sich dem Recht unterwirft und, nachdem er ihm vertraut hat, später von ihm überrascht wird. Das Vertrauensschutzprinzip setzt also voraus, dass sein Begünstigter extern dem Recht unterworfen wird. Nun hat aber, während der Bürger das Recht als etwas erhält, das ihm äußerlich ist und seine Dispositionsakte begrenzt und bedingt, der Staat die Aufgabe, das Recht selbst zu gestalten. Deshalb fehlt es dem Staat, wie Drüen zutreffend unterstreicht, an dem, was der Anwendung des Vertrauensschutzprinzips wesentlich ist, nämlich der Möglichkeit, dass sein Handeln im negativen Sinn durch das Verhalten einer anderen Person überrascht wird563. Eben deshalb bringt der seltsamerweise so genannte „budgetäre Dispositionsschutz“ die Gefahr mit sich, zugunsten des Staats ein verfassungswidriges Gesetz aufrechtzuerhalten, dessen Erlass vollständig auf sein Konto geht und dazu führt, dass der Staat gewissermaßen der Nutznießer seiner eigenen Rechtswidrigkeit ist, was eine der Schlussfolgerungen des Prinzips von Treu und Glauben, die Tu-quoque-Klausel, verletzt, derzufolge das eine Norm verletzende Subjekt nicht ohne Missbrauch die Rechtslage, die dieselbe Norm ihm zuweist, genießen kann564. Wenn dem nicht so ist, geht man das Risiko eines unbegrenzten Schutzes der auf einer verfassungswidrigen Besteuerung beruhenden budgetären Disposition ein, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die ausbleibende Beitreibung einer verfassungswidrigen Steuer per definitionem immer eine Einbuße an Einnahmen zu Folge hat. Es mutet also nicht korrekt an, wenn man behauptet, dass der einheitlich verstandene Staat durch die Erklärung der Nichtigkeit eines Gesetzes überrascht wird. Im Unterschied zur Privatperson, die sich einem Verwaltungsakt unterwirft, ohne an seiner Konzeption teilzuhaben, ohne zu seinem Erlass befugt zu sein (und die ihre Tätigkeiten aufgrund des Gesetzes und der Verwaltungsakte, die ihr auferlegt werden, plant), ohne jeglichen Einfluss auf den risikoerzeugenden Faktor, statuiert der Staat als Ganzes die Normen und erlässt seine eigenen Akte. Während die Privatperson sich dem Risikofaktor unterwirft, erzeugt der Staat diesen Faktor; während die Privatperson handelt, indem sie ihre eigene Freiheit ausübt und sich der fremden Macht unterwirft, handelt der Staat, indem er fremde Freiheit einschränkt und eigene ihm von der Verfassung verliehene Macht ausübt. Nun liegt keine Überraschung vor, wenn das Risiko vom souveränen Handeln desjenigen, 562

Gertrude Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte. Struktur und Reichweite der Eingriffsdogmatik im Bereich staatlicher Leistungen, S. 75 ff. 563 Klaus-Dieter Drüen, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, in: FR 6 (1999), S. 291. 564 Ana Paula Oliveira Ávila, A modulação de efeitos temporais pelo STF no controle de constitucionalidade, S. 155.

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der es behauptet, selbst erzeugt wird: die Überraschung hängt von dem Fehler einer Kausalitätsbeziehung zwischen der verübten Handlung und der eingetretenen Veränderung ab. Ohne dies gibt es keine Überraschung, sondern Erkenntnis der Zukunft bzw. die Pflicht zu dieser Erkenntnis. Ein Vertrauensverhältnis mit sich selbst ist undenkbar. Schließlich muss man gleichfalls berücksichtigen, dass der Vertrauensschutz auf dem Schutz der Grundrechte begründet ist, während der „budgetäre Dispositionsschutz“ genau das Gegenteil voraussetzt, die Einschränkung der Grundrechte. Es stellt sich nur die Frage, ob es einen Schutz des der Verfassungsmäßigkeit der Einnahmen entgegengebrachten Vertrauens gibt, wenn diese Einnahmen verfassungswidrig sind. Falls nicht, findet die Diskussion über ihre Aufrechterhaltung nicht einmal statt. Dies trit jedoch im Steuerrecht nur ein, wenn eine verfassungsrechtliche Kompetenzregel verletzt und eine illegitime Einschränkung eines Grundrechts verursacht wird. Wenn dem so ist, entspricht dem budgetären Dispositionsschutz eine Einschränkung von Grundrechten. Die Aufrechterhaltung einer verfassungswidrigen Abgabe beinhaltet, wie später noch zu zeigen sein wird, eine Einschränkung der Grundrechte, deren Wirkung im Zeitraum der Eintreibung der verfassungswidrigen Abgabe suspendiert wird. Anders formuliert, ist der budgetäre Dispositionsschutz nur um den Preis der übermäßigen Einschränkung der Grundrechte zu haben und auch deshalb mit dem Postulat des Verbots der übermäßigen Einschränkung der Grundrechte unvereinbar565. Diese Betrachtungen reichen schon für die Schlussfolgerung, dass das mutmaßliche „Prinzip des budgetären Dispositionsschutzes“ nicht dem Vertrauensschutzprinzip gleichgesetzt und auch nicht mit ihm begründet werden kann. Vertrauensschutz kann, wie wir hier unter Berufung auf Machado Derzi wiederholen, nur die Privatperson beanspruchen566. Trotz allem müssen wir noch wissen, ob das besagte Prinzip über den objektiven Aspekt der Rechtssicherheit begründbar ist. In anderen Worten: wir müssen wissen, ob das staatliche Vertrauen in die Steuereinnahmen als unverzichtbares Element der Stabilität oder Glaubwürdigkeit des Rechts verstehbar ist. In diesem Fall würden nicht alle ungünstigen finanziellen Wirkungen auf die Kontinuität der finanziellen Staatstätigkeit durchschlagen, sondern nur Wirkungen, die das System der öffentlichen Finanzierung in seinen Grundlagen erschüttern könnten, die also eine Art „existenzielle Engpässe“ oder „catastrophic effects“ für den Staat erzeugen würden, wie schon die Rechtsprechung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft formuliert567. Aber selbst im Hinblick auf diesen Aspekt kann das 565

Klaus-Dieter Drüen, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, in: FR 6 (1999), S. 291. 566 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 495. 567 Roman Seer / Jörg Peter Müller, Begrenzung der Wirkungen seiner Richtersprüche durch den EuGH, in: IWB 5 (2008), S. 261; Christian Waldhoff, Recent developments relating to the

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„Prinzip des budgetären Dispositionsschutzes“ nicht auf die Rechtssicherheit gegründet werden. Wie wir schon gesehen haben, bezieht sich der objektive Aspekt der Rechts­ sicherheit auf die Stabilität und Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung insgesamt und unterhält keine Beziehung weder zu ihrer konkreten Manifestation noch zu ihrer ein Gültigkeitsproblem beinhaltenden subjektiven Wirksamkeit. Wenn dem so ist, wird die Aufrechterhaltung einer verfassungswidrigen Norm, statt gestützt zu werden, von der Forderung nach institutioneller Glaubwürdigkeit des Rechts angefochten, da sie nicht die Befolgung des Rechts postuliert, sondern die Aufrechterhaltung der sich aus seiner Verletzung durch den Autor der verfassungswidrigen Regel selbst, deren Wirkungen man erhalten will, ergebenden Wirkungen. Wie Seer zutreffend behauptet, ermutigt die Aufrechterhaltung einer verfassungswidrigen Norm zum Erlass neuer verfassungswidriger Normen, besonders wenn die finanziellen Wirkungen beträchtlich sind, infolge des Ausbleibens negativer sich aus der Verfassungsverletzung ergebenden Folgen: wenn der Staat eine verfassungswidrige Norm erlässt, aber von ihren Wirkungen profitiert, wird er zum Erlass einer neuen verfassungswidrigen Norm ermutigt568. Das erklärt auch folgende Behauptung des Richters Joaquim Barbosa in der Beschwerdesache Nr. 557.237: „Ich gebe zu bedenken, dass in steuerrechtlichen Materien die Anwendung prospektiver Wirkungen auf die Verfassungswidrigkeitserklärung in einem Inzidenzstreit einen höheren Grad von Zurückhaltung verlangt, da die Behauptung, dass Steuereinnahmen zu öffent­ lichen Zwecken verwendet werden, eine Binsenwahrheit ist. […] Selbstverständlich dürfen die Möglichkeit, die das Rechtssystem dem Obersten Bundesgerichtshof zur Variation der Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung in der Zeit und der Widmung der Einnahmen geben, den Staat nicht gegen die Pflicht immunisieren, für die Gültigkeit der von ihm geschaffenen Rechtsnormen zu sorgen, und damit den unbeschränkten Erlass von Gesetzen fördern“569.

Man erinnere noch daran, dass die Rechtssicherheit aufgrund ihrer Fundamente die Subsumtion des Begriffs des finanziellen Schadens unter den Rechtssicherheitsbegriff verhindert, selbst wenn, wie hier zu unterstreichen ist, dieser Schaden hoch ist. Wie sein Name selbst zeigt, wendet sich das Rechtsstaatsprinzip gegen die Aufrechterhaltung von rechtswidrigen Akten. Außerdem werden seine axiologischen Komponenten eingeschränkt, wenn die Wirkungen gesetzwidriger Akte aufrechterhalten werden570. Die Erkennbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen retroactive effect of decisions of the ECJ, in: Common Market Law Review 46 (2009), S. 2 (unveröffentlichtes Manuskript). 568 Roman Seer / Jörg Peter Müller, Begrenzung der Wirkungen seiner Richtersprüche durch den EuGH, in: IWB 5 (2008), S. 264. 569 AG. REG. im AI Nr. 557.237, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 26. 10. 07, S. 2059–2060 des Urteils. Im gleichen Sinn: AG. REG. in RE Nr. 487.567, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 07. 12. 07; AG. REG. im RE Nr. 650.000-4, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 28. 09. 07; AG. REG. im RE Nr. 273.074-2, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Cezar Peluso, DJE 29. 02. 08. 570 Robert Summers, A formal theory of the Rule of Law, in: Essays in Legal Theory, S. 169.

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Handelns werden in der Tat negativ betroffen, insofern diese Aufrechterhaltung zur Verübung neuer gesetzwidriger Akte ermutigt und dazu führt, dass der Bürger nicht wissen kann, ob die Exekutive in Zukunft rechtsgemäß oder rechtswidrig handeln wird, indem sie auf die zukünftige Aufrechterhaltung der Wirksamkeit des ordnungswidrigen Akts setzt; die Menschenwürde wird eingeschränkt, da der Einzelne schon nicht mehr für Akte verantwortlich sein kann, von deren Rechtswidrigkeit er wusste oder zumutbar wissen konnte, da nicht mehr so klar ist, was rechtsgemäß oder rechtswidrig ist; staatliche Willkür wird gefördert, da keine objektiven die staatliche Tätigkeit regelnden Kriterien vorliegen; die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit staatlicher Akte wird gleichfalls beeinträchtigt, da im Grunde die regelwidrigen Akte nicht kontrolliert werden; und schließlich wird die Einheitlichkeit der Behandlung der Bürger beeinträchtigt, da je nach den zugewiesenen Wirkungen die von der Entscheidung betroffenen Bürger auf eine und die nicht von der Entscheidung betroffenen Bürger auf eine andere Weise behandelt werden. Das Prinzip der staatlichen Sittlichkeit widerspricht gleichfalls der Erhaltung rechtswidriger Akte. Wie schon dargelegt, erfordert es ein loyales, seriöses und begründetes Verhalten des Staats. Die rechtswidrige Handlung ist jedoch illoyal, vor allem wenn die Rechtswidrigkeit des vorgenommenen Akts von Anfang an bekannt ist. Schließlich bewirken alle anderen Grundlagen, dass der Begriff der Rechtssicherheit, besonders der steuerrechtlichen Rechtssicherheit, ein den Bürger gegen den Staat schützender, nicht ein den Staat gegen den Bürger schützender Begriff ist. Aus diesem Gründe darf die Rechtssicherheit, so wie sie in der CF/88 statuiert ist, nicht vom Staat benutzt werden, um durch Erklärung der Unvereinbarkeit des Gesetzes ohne die Erklärung seiner Nichtigkeit eine Einschränkung der Freiheitsgrundrechte zu legitimieren. Die verfassungsrechtliche Eigenschaften der Rechtssicherheit hindert sie daran. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Gebrauch, den das deutsche Bundesverfassungsgericht ausnahmsweise von der Rechtssicherheit als Rechtfertigung der Unvereinbarkeitserklärung des grundgesetzwidrigen Gesetzes gemacht hat, dem Schutz der Freiheit des Bürgers dient, nicht ihrer Einschränkung. So wurde in der ursprünglichen Konzeption verfahren, als die Nichtigkeitserklärung ein rechtliches Vakuum oder einen Zustand der Ungewissheit hinsichtlich der für die Stabilität einer Situation notwendigen Rechtsgrundlage zu verursachen drohte. Ein Grundrecht, dessen Ausübung von einem Gesetz abhängt, könnte nach der Erklärung der Nichtigkeit dieses Gesetzes aufgrund des sich ergebenden rechtlichen Vakuums nicht ausgeübt werden. Die Folge wäre die Ungewissheit im Hinblick auf die erfolgte Ausübung desselben Rechts. Anders gewendet, Rechtssicherheit würde nicht zur Einschränkung von Freiheiten durch den Staat verwendet werden, sondern zum Schutz der Ausübung dieser Freiheiten durch den Bürger. Alle diese auf Rechtssicherheit bezogenen Abwägungen sind gleichfalls auf den Versuch anwendbar, die Unvereinbarkeit eines Gesetzes ohne die nachfolgende

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Nichtigkeit zu erklären, um keine schon vorgelegten Budgetpläne zu enttäuschen. Der Schutz der Erwartung bezüglich des Budgets ist kein von der Rechtssicherheit unabhängiges Fundament, sondern die bloße reflexive Anwendung in Bezug auf den Gegenstand der Erwartung – der budgetbezogenen Erwartung. Wie schon dargelegt, ist die reflexive Anwendung der Rechtssicherheit auf den Schutz der Erwartungen zugunsten des Bürgers, nicht des Staates angelegt. Ein Verlust an Steuereinnahmen lässt sich dem verfassungsrechtlichen Begriff von Rechtssicherheit nicht subsumieren. Die bisherigen Darlegungen zeigen, dass die Bestimmung in Art. 27 des Gesetzes Nr. 9.868/98 – die dem Obersten Bundesgericht erlaubt, bei der Erklärung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder normativen Akts und „in Ansehung von Gründen der Rechtssicherheit oder des außergewöhnlichen gesellschaftlichen Interesses“ die Wirkungen dieser Erklärung einzuschränken oder zu entscheiden, dass sie nur nach der Erlangung der Rechtskraft oder zu einem anderen festzulegenden Zeitpunkt wirksam wird-vom Staat nicht benutzt werden kann, um durch Erklärung der Unvereinbarkeit des Gesetzes ohne nachfolgende Nichtigkeitserklärung die Eintreibung der verfassungswidrigen Abgabe fortzusetzen. Kurz, die Rechtssicherheit darf nicht als Rechtfertigung zugunsten des Staates benutzt werden, um die frühere Wirksamkeit eines eine Abgabe einführenden Gesetzes sowohl in seinem subjektiven als auch in seinem objektiven Aspekt aufrechtzuerhalten. Diese Betrachtungen belassen den vom Richter Gilmar Mendes im außerordentlichen Rechtsmittelverfahren (Recurso Extraordinário) Nr. 442.309-9 verwendeten Argumenten, in denen er den Begriff „finanzieller Widerhall“ dem Begriff „schwere Verletzung der öffentlichen Ordnung“ und diesen letztgenannten Begriff dem Begriff der „Rechtssicherheit“ subsumiert hat, eigentlich keinen Raum. Bei der Bearbeitung des außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens hat er Richter nur dem Antrag auf Variation der Wirkungen nicht stattgegeben, da er der Auffassung war, dass „die Auswirkung im Wirtschaftsgefüge, die schwerwiegende Verletzung der öffentlichen Ordnung oder der Rechtssicherheit oder jedes anderen für diesen Fall relevanten Verfassungsprinzips nicht bewiesen“ waren. In seinem Votum in der Bearbeitung der Beschwerde (Agravo Regimental) führte er wie folgt aus: „In Bezug auf die vorgebliche Verletzung der öffentlichen Ordnung konnte die Gemeinde Rio de Janeiro nicht die Bedrohung nachweisen, die eventuell gegen sie bestand, als sie vorbrachte, dass aufgrund der Verfassungswidrigkeitserklärung mit Wirkungen ex tunc und angesichts der hohen Streitwerte die Fähigkeit der Gemeindeverwaltung zur Erbringung der staatlichen Basisdienstleistungen beeinträchtigt werden könnte. Angesichts des ausgebliebenen Nachweises des von der Verletzung verursachten Schadens sehe ich im vorliegenden Fall keinen Grund, die Variation der Wirkungen zuzusprechen, wie ich in der von der unterliegenden Partei angefochtenen Entscheidung unterstrichen habe.“ (S. 389 des Urteils)571 571 AG. REG. im RE Nr. 442.309-0, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 14. 12. 07. S. zum gleichen Thema: AG. REG. im AI Nr. 557.237-4, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 26. 10. 07; AG. REG. in RE Nr. 487.567-5, Zweiter Se-

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Diese Entscheidung setzt also „finanziellen Schaden“ der „Rechtssicherheit“ gleich, so wie es übrigens auch die ausländische Rechtsprechung und Rechtswissenschaft getan haben572. Diese Parallele ist jedoch mit der Gesamtheit der Fundamente des Rechtssicherheitsprinzips unvereinbar: sie gewährleistet die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts aufgrund seiner Erkennbarkeit, auf den Bürger gegen den Staat schützende Weise. Ein sich aus der Pflicht zur Rückerstattung verfassungswidriger Abgabe ergebender finanzieller Schaden hat nichts mit Rechtssicherheit zu tun, viel weniger noch mit Rechtssicherheit im Steuerrecht. Carrazza bemerkt zu diesem Aspekt zutreffend: „Das bloße Interesse an Steuereinnahmen darf nicht mit der Gleichheit, der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit, kurz mit den in der Verfassung verbrieften Rechten der Steuerzahler tabula rasa machen. Nicht einmal das im Prinzip löbliche Ziel der Lösung von ‚Bonitätsproblemen‘ der politischen Personen ist hinreichend stark, um die Grundprinzipien des brasilianischen Steuerverfassungsystems umzustoßen, die letztlich im Rechtssicherheitsprinzip selbst verwurzelt sind.“573

Selbst wenn man der Argumentation zuliebe zuließe, dass „Gründe der Rechtssicherheit“ benutzt werden dürften, um frühere Wirkungen verfassungswidriger Steuergesetze aufrechtzuerhalten, verbliebe noch die Frage, die hier beantwortet werden soll: wie wäre denn dieser Vergleich zwischen den sich aus der Erklärung der Nichtigkeit ergebenden Wirkungen des Gesetzes mit den sich aus der Aufrechterhaltung des Gesetzes ergebenden Wirkungen durchzuführen? Die letzte Entscheidung über den Ausschluss oder die Aufrechterhaltung der vergangenen Wirkungen eines Gesetzes ist Ergebnis einer Wirkungsabwägung: verglichen werden die sich im Fall der Verfassungswidrigkeitserklärung ergebenden Wirkungen mit den zu erwartenden Wirkungen im Fall einer bloßen Unvereinbarkeitserklärung. Man muss wissen, welche der beiden Wirkungen die Verfassung stärker fördern – die Nichtigkeit des Gesetzes oder die Normerhaltung574. Die Feststellung, dass die Entscheidung das Ergebnis einer Abwägung ist und ihr Gegenstand die konkreten Wirkungen des Gesetzes sind, erklärt jedoch nicht das wichtigste: was ist der Parameter der Abwägung, und wie ist er zu verwenden? In den Fällen, in denen das deutsche Bundesverfassungsgericht beispielsweise die eingetretenen Wirkungen eines Gesetzes aufrechterhält und geltend macht, dass die Nichtigkeitserklärung eine Situation der Unsicherheit erzeugen und noch nat, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 07. 12. 07; AG. REG. im AI Nr. 681.730-7, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Celso de Mello, DJ 14. 12. 07; AG. REG. im AI Nr. 650.000-4, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 28. 09. 07. S. für alle: AG. REG. im RE Nr. 273.074-2, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Cezar Peluso, DJ 29. 02. 08. 572 Horatia Muir Watt, „Never say never“: post-scriptum comparatif sur la rétroativité des revire­ments de jurisprudence, in: Seiller, Bertrand. (Hrsg.), La rétroactivité des décisions du juge administratif, S. 66. 573 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 498. 574 Jens Blüggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 151.

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mehr die Einschränkung als die Förderung der Verfassung begünstigen würde, wird in der Tat nicht deutlich, ob die Bewertung dieser Unsicherheitssituation nur aufgrund der Vergangenheit oder auch für die Zukunft vorgenommen wird. Hier liegt aber dem Kern, nach der in dieser Arbeit vertretenen These: Rechtssicherheit ist entweder ganz oder sie ist nicht; ihre Ganzheit zeigt sich nicht nur in der Koinzidenz ihrer Dimensionen (Sicherheit des Rechts und durch das Recht, vor dem Recht, von Rechten, als ein Recht und im Recht), sondern auch in der synthetischen und ausgewogenen Berücksichtigung ihrer Perspektiven-Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Machado Derzi weist in ihrer an Heidegger angelehnten rigorosen Argumentation darauf hin, dass die Zeitanalyse vierdimensional sein muss: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, erweitert um die Einheit dieser drei Dimensionen575. Diesbezüglich kann man die Einschränkung der Rechtssicherheit als den Einzelnen schützendes Verfassungsprinzip, das bestimmt ist, einen Zustand der Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung aufgrund ihrer Erkennbarkeit zu gewährleisten, nicht nur punktuell und im Rückblick, sondern nach einer globalen und gleichzeitig momentanen (gegenwärtigen), retrospektiven (vergangenen) und prospektiven (zukünftigen) Evaluierung sehen. Dies soll nachfolgend erklärt werden. Wenn man beschließt, die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit der Verfassung zu erklären, ohne seine Nichtigkeit zu erklären, berücksichtigt man die negativen Wirkungen, welche die Nichtigkeit mit sich brächte, falls die bereits eingetretenen Wirkungen eliminiert würden. Dies funktioniert jedoch, wenn der Gesetzgeber, obwohl er nicht verfassungskonform gehandelt hat, auf eine bestimmte Weise die Verfassungsbestimmung, welche die Grundlage des Handelns abgegeben hat, gefördert hat: er wollte den Zugang zur Gerichtsbarkeit gewährleisten, „gehorchte aber unzufriedenstellend“ der verfassungsrechtlichen Aufgabe, von der er sich nicht entfernen durfte; er wollte die Gleichheit der Leistungsfähigkeit fördern, hat aber seine Verfassungspflicht, von der er sich nicht entfernen durfte, „untermäßig erfüllt“; sein Ziel war die Entschädigung für verpflichtende Arbeit, aber er hat die Verfassungsaufgabe, von der sich zu entledigen ihm nicht erlaubt war, „wenig beachtet“; er wollte eine allgemeine Revision der Löhne durchführen, hat aber seine ihm auferlegte Verfassungsaufgabe „wenig erfüllt“ und so weiter. In allen Fällen hatte der Gesetzgeber jedoch die Pflicht zu handeln, und er tat dies, indem er in einem bestimmten Grad die Verfassung förderte, obwohl er gegen sie gehandelt hat, durch die Beziehung, die er hergestellt hat, oder die Differenzierung, die er nicht vorgenommen hat. Deshalb würde die Nichtigkeitserklärung des Gesetzes das Verfassungsideal noch stärker einschränken als seine Aufrechterhaltung: es gäbe keine kostenlose Gerichtsbarkeit, um den Zugang zur Gerichtsbarkeit zu schützen; es gäbe kein Instrument, um die Gleichheit der Leistungsfähigkeit zu fördern; es 575 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 197.

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gäbe keine Entschädigung für verpflichtende Arbeit; es gäbe keinen Lohn für die Vergütung geleisteter Arbeit und so weiter. Und die Aufrechterhaltung des verfassungswidrigen Gesetzes würde die zukünftige Nichteinhaltung der Verfassung nicht fördern, sondern ihr Gegenteil-die zukünftige Ausarbeitung eines vollständig mit der Verfassung übereinstimmenden Gesetzes. Dieses Szenario entsteht jedoch nicht im Fall der Aufrechterhaltung einer verfassungswidrig erhobenen Abgabe. In diesem Fall fördert der Gesetzgeber auf keine Weise die Verfassungsbestimmung selbst, die ihm als Handlungsgrundlage gedient hat: er missachtet sie einfach und übt eine Macht aus, die ihm nicht verliehen worden ist576. Es gibt keinen Grad der Befolgung einer Verfassungsnorm, die ihm übrigens nicht eine Pflicht auferlegt, sondern ihm nur Kompetenz verleiht, die ausgeübt oder nicht ausgeübt werden kann, ohne dass ihre Ausübung auf eine Missachtung der Verfassung hinauslaufen würde. Und die Aufrechterhaltung des verfassungswidrigen Gesetzes würde die zukünftige Ausarbeitung eines vollständigen verfassungskonformen Gesetzes nicht fördern, sondern präzise seine zukünftige Nichtbefolgung. Da es keinerlei Folge für die illegitime Ausübung der Besteuerungsgewalt gibt, sieht sich der Staat nicht gedrängt, innerhalb des ihm von der Verfassung reservierten Gewaltbereichs zu handeln: die legitime und die illegitime Ausübung der Gewalt haben dasselbe Ergebnis – sie gewährleisten die Eintreibung der Abgabe. Wenn dem so ist, erzeugt die Aufrechterhaltung der Wirkungen des verfassungswidrigen Gesetzes die Wirkung, den Staat in der Zukunft zum Erlass eines neuen verfassungswidrigen Gesetzes zu ermutigen577. Man bedenke immer, dass der Staat technisch kein „Recht auf Abgaben“, geschweige denn, mit Verlaub für das Oxymoron, auf „verfassungswidrige Abgaben“ hat, sondern etwas anderes: „Kompetenz zur Einführung verfassungskonformer Abgaben“, mit Verlaub für den Pleonasmus. Genau hier tritt die Notwendigkeit einer Prüfung der Rechtssicherheit auch aus prospektiver Sicht auf den Plan, weil der Vergleich zwischen den sich aus der Nichtigkeit des Gesetzes ergebenden mit den sich aus seiner Aufrechterhaltung ergebenden Wirkungen Fragen beinhaltet, die sich auf die Verständlichkeit, Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit des Rechts nach der Verkündung der Verfassungsmäßigkeitsentscheidung beziehen. Das Argument für die Aufrechterhaltung des Gesetzes ist normalerweise dem der ausbleibenden Förderung anderer Verfassungsideale assoziiert: mit dem Rückgang der Steuereinnahmen, so sagt man, werden die Mittel, die beispielsweise zur Förderung des Erziehungswesens oder zum Schutz der (äußeren, physischen) Sicherheit eingesetzt würden, nicht mehr eingenommen oder müssen zurückgegeben werden, wodurch diese Ideale mittelbar nicht mehr gefördert werden. 576

Roman Seer, Rechtsschutz in Steuersachen, in: Tipke, Klaus / Lang, Joachim (Hrsg.), Steuerrecht, 19. Aufl., § 22, Rn. 285, S. 1089. 577 Roman Seer / Jörg Peter Müller, Begrenzung der Wirkungen seiner Richtersprüche durch den EuGH, in: IWB 5 (2008), S. 264.

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Wenn aber der Gegenstand der Verfassungsmäßigkeitskontrolle ein Gesetz ist, das eine verfassungswidrige Abgabe einführt, stehen wir nicht nur vor der Wahl zwischen der Aufhebung des Gesetzes, mit der wir die Förderung anderer Verfassungsideale unterlassen, und seiner Aufrechterhaltung, mit der wir mittelbar diese Förderung gewährleisten. Wir müssen darüber hinaus die Wahl treffen zwischen der Beglaubigung des willkürlichen Verhaltens des Staats, mit der wir ihn anregen, sich in Zukunft wieder so zu verhalten, durch Behauptung einer eventuellen und ungewissen mittelbaren Förderung anderer Zwecke, und der Missbilligung des willkürlichen Verhaltens des Staats, mit der wir ihn anregen, sich in Zukunft nicht wieder so zu verhalten, durch Feststellung der unmittelbaren und gewissen Verletzung einer Kompetenzregel. Letzlich beinhaltet das Urteil zur Aufrechterhaltung oder Annullierung des Gesetzes eine Wahl zwischen der Gewissheit der unmittelbaren Nichtbefolgung einer das staatliche Handeln genehmigenden Regel und der Ungewissheit der mittelbaren Befolgung eines anderen vorgeblich die Aufrechterhaltung der Wirkungen staatlichen Handelns rechtfertigenden Prinzips. Mehr noch: es ist eine Wahl zwischen Gewissheit und Ungewisshheit, Beweis und Behauptung. Wer in diesem Fall die Geltung der verfassungswidrigen Norm aufrechterhält, wählt die „Ungewissheit des Richtigen“ zu Lasten der „Gewissheit des Falschen“. Er tauscht die Sicherheit von gestern gegen die Unsicherheit von heute und morgen ein. Indem er dies tut-und dies ist der springende Punkt –, fördert er die gegenwärtige und zukünftige Rechtsunsicherheit durch Verlust der Bindung und rechtlichen Wirksamkeit des Rechts. Von Arnauld betont zutreffend, dass ein Recht, das nur auf dem Papier steht und keine Sicherheit für die Lebensführung bietet, kein sicheres Recht ist578. Die Aufrechterhaltung der Wirkungen eines verfassungswidrigen Gesetzes erzeugt eine weitere verheerende Wirkung bezüglich der Unsicherheit der Gegenwart und der Zukunft. Man behauptet ja im Interesse der Aufrechterhaltung der Geltung des Gesetzes, dass die Prinzipien umso mehr gefördert werden, je höher die Einnahmen sind, und dass sie umso weniger gefördert werden, je größer der Rückgang der Einnahmen ist. Da die Steuergesetze in ihrer vorherrschenden allgemeinen Wirksamkeit die Freiheits- und Eigentumsrechte einschränkende Wirkungen befördern, ist die Einschränkung der Grundrechte der Steuerzahler umso größer, je drückender die Steuerlast ist und je größer folglich die Einnahmen sind. Aber-und hier wird die Argumentation verdreht-je höher die Einnahmen sind und je stärker damit die Einschränkung der Grundrechte ist, desto größer wird der Rückgang der Einnahmen mit der Nichtigkeitserklärung des Steuergesetzes sein. Wenn der Rückgang der Einnahmen dann die Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung des die Einnahmen ermöglichenden Gesetzes abgibt, werden die Chancen der Aufrechterhaltung des Gesetzes umso größer sein, je größer der zu erwartende Rückgang der Einnahmen ist. Damit akzeptiert man notwendigerweise, dass die Chance der Aufrechterhaltung des die Einschränkung fördernden Gesetzes desto größer sein 578

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 355.

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wird, je größer die Einschränkung der Grundrechte ist. Je verfassungswidriger also das Gesetzes ist, desto größer wird die Chance der Erklärung seiner Verfassungsmäßigkeit sein! Hier vollendet sich die verdrehende Natur der Argumentation: je verfassungswidriger das Gesetz, desto verfassungsmäßiger ist es auch. Wer diese Argumentation akzeptiert, erkennt nicht nur an, dass das Recht nicht bindet, sondern ermuntert auch zu seiner Verletzung und beleidigt die Intelligenz seiner Mitmenschen. Er institutionalisiert das vulgärsprachlich so formulierte „Prinzip ‚je schlechter, desto besser‘“. Er fördert schließlich, in Ansehung der Ziele dieser Arbeit, die Unsicherheit des Rechts, durch das Recht, vor dem Recht und von Rechten. Und so paradox das anmuten mag, akzeptiert, fördert und spornt die Rechtsunsicherheit an und missbraucht den Namen der Sicherheit. Und keine Entscheidung verletzt die Verfassung mehr als diejenige, die ihre eigene und ständige Verletzung anspornt. Das Argument, dass man die Wirkungen eines verfassungswidrigen Gesetzes im hier erörterten Bereich mit der Behauptung aufrechterhält, dass die Verfassung so mehr gefördert als eingeschränkt wird, ist zumindest kurios. Wie Moes zutreffend gezeigt hat, ist der Rückgriff auf das finanzielle Kriterium zur Aufrechterhaltung früherer Wirkungen verfassungswidriger Gesetze mit der Grundrechtsdogmatik unvereinbar579. Als ob das nicht genügen würde, verführt die hier kritisierte Argumentation den Staat obendrein dazu, umso mehr auf die Aufrechterhaltung der Wirkungen des verfassungswidrigen abgabeeinführenden Gesetzes zu vertrauen, je höher die Einnahmen aus der Eintreibung dieser Abgabe sind580. Aber dieses Argument bringt zwei andere Probleme mit sich, abgesehen davon, dass es unmittelbar die Rechtssicherheit mehr verletzt als fördert, wie schon dargelegt worden ist. Einerseits führt es zur übermäßigen Einschränkung des Grundrechts auf gerichtlichen Rechtsschutz, weil der Steuerzahler, falls dem im Ausgangsverfahren und in den schon angestrengten Parallelverfahren gestellten Antrag nicht stattgeben wird, sein Recht auf Zugang zur Gerichtsbarkeit nicht geachtet sehen wird: er wird das Verfahren gewinnen, indem er es verliert; das Finanzamt wird es verlieren, indem es es gewinnt, so paradox dies anmuten mag. Dieser Entscheidungstyp verletzt also das Grundrecht auf Zugang zur Gerichtsbarkeit581. Diese Argumentation – wer gewinnt, verliert, und wer verliert, gewinnt – verkehrt die Logik des Rechts selbst, das seine Befolgung postuliert, in ihr Gegenteil: ein seine Verletzung postulierendes Recht ist kein Recht. Die Gewundenheit der Argumentation springt ins Auge, wenn wir uns die Absurdität einer privatrechtlichen Streitsache vorstellen,

579 Christoph Moes, Die Anordnung der befristeten Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze durch das Bundesverfassungsgericht, in: StuW 1 (2008), S. 32. 580 Klaus-Dieter Drüen, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, in: FR 6 (1999), S. 290. 581 Roman Seer / Jörg Peter Müller, Begrenzung der Wirkungen seiner Richtersprüche durch den EuGH, in: IWB 5 (2008), S. 264 ff.; Klaus-Dieter Drüen, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, in: FR 6 (1999), S. 290 f.

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in welcher der Kläger unterliegt, da trotz der Begründetheit seines Antrags die Ausübung seines Rechts das Vermögen des Beklagten mindern würde582. Damit wird also deutlich, dass die Aufrechterhaltung einer verfassungswidrigen Abgabe der minimalen Wirksamkeit des Rechts entgegensteht, die ja auch, wie wir schon gesehen haben, eines der Elemente des Rechtssicherheitsprinzips ist. Jede Klage setzt eine Prognose der Vor- und Nachteile voraus, die aber durch die Manipulation der Entscheidungswirkungen vollständig geändert wird: wenn es keine sicheren Kriterien über die Wirkungen gibt, wird jede Klage zum „Lotteriespiel“583. Andererseits fördert die Aufrechterhaltung eingetretener Wirkungen eines Gesetzes, das eine verfassungswidrige Abgabe eingeführt hat, auch noch die übermäßige Einschränkung von Grundrechten. Da die Aufrechterhaltung der genannten Wirkungen, wo zulässig, eine Abwägung zwischen den sich aus der Nichtigkeit und den sich aus der Aufrechterhaltung des Gesetzes ergebenden Wirkungen erfordert, führt die Berücksichtigung des Budgetinteresses in der Tat zu einer Blockade der Abwägung: da finanzielle Einbußen und die angenommene Überraschung der Budgetplanung per definitionem immer im Fall der Erklärung der Verfassungswidrigkeit der Abgaben eintreten werden, wird die Abstimmung zwischen öffentlichen und privaten Interessen schon vor Beginn der Abwägung blockiert584. Dies führt zu einer unbegrenzten Einschränkung der Freiheitsgrundrechte, die ja Gegenstand staatlichen Schutzes bzw. zumindest Gegenstand der Beachtung sein sollen. Angesichts dieser Betrachtungen springt es ins Auge, dass diese Aufrechterhaltung von Wirkungen im Fall der Einführung von Steuerpflichten die Rechtssicherheit mehr einschränkt als fördert: indem man die eingetretenen Wirkungen der verfassungswidrigen Norm aufrechterhält und damit die Rechtssicherheit in der Vergangenheit aufrechterhalten will, schränkt man in einem noch höheren Maße die Rechtssicherheit in der Zukunft ein, nämlich durch die Ermutigung zum Erlass neuer verfassungswidriger Normen und damit durch die Ermutigung zur Einschränkung der Wirksamkeit und Berechenbarkeit des Rechts. Hier ist erneut an eine der zentralen Thesen der vorliegenden Arbeit zu erinnern: Rechtssicherheit ist entweder integral oder sie ist keine Rechtssicherheit. Wer Rechtssicherheit aufgrund eines Aspekts eines Elements einer ihrer Dimensionen verwirklichen will, ohne die anderen Aspekte desselben Elements oder anderer Elemente derselben oder einer anderen Dimension zu beachten, verwirklicht das Rechtssicherheitsprinzip nicht, sondern schränkt es ein. Kurz, selbst wenn man irrigerweise akzep-

582 Christoph Moes, Die Anordnung der befristeten Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze durch das Bundesverfassungsgericht, in: StuW 1 (2008), S. 31. 583 Roman Seer, Rechtsschutz in Steuersachen, in: Tipke, Klaus / Lang, Joachim (Hrsg.), Steuerrecht, 19. Aufl., § 22, Rn. 289, S. 1091; Christoph Moes, Die Anordnung der befristeten Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze durch das Bundesverfassungsgericht, in: StuW 1 (2008), S. 34. 584 Klaus-Dieter Drüen, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, in: FR 6 (1999), S. 291.

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tiert, dass finanzielle Einbußen mit der vergangenen und objektiven Dimension der Rechtssicherheit, wie etwa der Forderung nach Stabilität und Glaubwürdigkeit des Rechts, vereinbar sein können, ist sie nicht mit den anderen Dimensionen, d. h. der gegenwärtigen und zukünftigen Dimension der Rechtssicherheit vereinbar. In anderen Worten, der finanzielle Vorteil ist bestenfalls (und dann, wie schon gesagt, irrigerweise) mit einem Teil der Rechtssicherheit vereinbar, nie mit der integralen Rechtssicherheit. Die Zuweisung zukünftiger Wirkungen an die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes ist zudem mit den Freiheits- und Eigentumsgrundrechten unvereinbar. Dies wird bei einer Analyse der Funktion und Wirksamkeit der Grundrechte deutlich. Sie übernehmen die Funktion objektiver Normen sowie subjektiver Rechte. Wenn sie verletzt werden, funktionieren sie als Abwehrrechte mit dem Zweck, die Eingriffe in die Freiheit der Privatpersonen auszuschließen, und als Schutzpflichten, mit dem Zweck, den Staat zur Wahl der zu ihrem Schutz notwendigen Verhaltensweisen zu verpflichten585. Wenn sie also nicht verletzt werden, funktionieren sie als Präventionsnormen gegen die von ihnen geschützte Verletzungen der Rechtsgüter oder Zustände. Wenn sie verletzt werden, funktionieren sie als Restitutionsnormen zur Wiederherstellung der von ihnen geschützten Rechtsgüter oder Zustände586. Man füge dem hinzu, dass die Verfassung ihre Befolgung postuliert, die Grundrechte unmittelbar wirksam sind und die drei Gewalten binden (Art. 5 Abs. 1) und nicht einmal durch Verfassungsänderung geändert werden können (Art. 60 Abs. 4). Jede Art von Verletzung der Grundrechte, seien es die Freiheits-, Eigentums- oder Gleichheitsrechte oder selbst das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz, ist mit der Verfassung unvereinbar. Die diesbezügliche Behauptung von Habscheidt verdient zitiert zu werden: „Damit effektiver Grundrechtsschutz für jeden von einem verfassungswidrigen Grundrechtseingriff betroffenen Bürger stattfinden kann, muss von Verfassungs wegen in jedem einzelnen Fall der Zustand wiederhergestellt werden, der ohne den verfassungswidrigen Eingriff bestehen würde. Der Restitutionsanspruch ist also nicht nur ein Reflex der normverwerfenden verfassungsgerichtlichen Entscheidung, sondern bei diesem Anspruch handelt es sich um den eigentlichen Kern der grundrechtlichen Gewährleistung in der Situation der dem Eingriff nachfolgenden gerichtlichen Kontrolle.“587

In anderen Worten-und dies ist entscheidend-ist die Wiederherstellung des grundrechtsgeschützten Status nicht eine Folge der Entscheidung, sondern die normative Folge der Grundrechte selbst. Es handelt sich, wie hier noch einmal unterstrichen wird, nicht um etwas, was man dem Ermessensspielraum des Gerichts überlassen könnte, sondern um etwas von der Verfassung selbst implicite Normiertes. Daher entsteht beim Erlass eines verfassungswidrigen Steuergesetzes 585

Johannes Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl., S. 34 ff. Gerhardt Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, S. 15. 587 Gerhardt Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, S. 13. 586

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für den Betroffenen der Anspruch, den geschützten Zustand wiederherzustellen, als ob das verfassungswidrige Gesetz niemals erlassen worden wäre588. Dieses für die Grundrechte im Allgemeinen gültige Argument gewinnt noch mehr Relevanz im Fall des Grundrechts auf gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 5 XXXV). Wenn die CF/88 statuiert hat, dass „das Gesetz keine Verletzung oder Bedrohung des Rechts von der Bewertung durch die Judikative ausschließen wird“, kann dieses Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz nicht durch Rechtsverletzungen zulassende Entscheidungen ausgeschlossen werden. Seer vermerkt zutreffend: „Der Gerichtschutz ist kein Additum, das zum materiellen Grundrecht des Steuerpflichtigen hinzutritt, sondern ist Teil des subjektiv-rechtlichen Grundrechtsschutzes selbst.“589 Das deutsche Grundgesetz statuiert ebenfalls ausdrücklich das Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz in Art. 19 Abs. 4: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ Des weiteren ist festzuhalten, dass die Variation der zeitlichen Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung noch zur Aufrechterhaltung der Eintreibung von Steuern ohne Gesetz durch den Obersten Bundesgerichtshof führt590. So verursacht die Entscheidung des Gerichts, welche die Eintreibung verfassungswidriger Abgaben aufrechterhält, indirekt Ergebnisse, die mit der CF/88 unvereinbar sind. Erstens erlaubt die Entscheidung die Einführungeiner Abgabe ohne Gesetz, in frontaler Missachtung der Verfassungsregel der Gesetzmäßigkeit (Art. 150 II). Die Abgabe wird selbst ohne Gesetz erhoben. Zweitens will die Entscheidung selbst das Fundament der Erhebung der Abgabe sein, was nicht nur die besagte Gesetzmäßigkeitsregel verletzt, sondern auch das Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 2). Drittens suspendiert sie die Wirksamkeit der Grundrechte der Freiheit, des Eigentums und des gerichtlichen Rechtsschutzes. Sie beraubt diese Grundrechte sowohl der staatliche Aktivität beschränkenden Wirksamkeit als auch der eine minimale Menge von Rechtsgütern gewährleistenden Wirksamkeit, wobei die Verfügbarkeit dieser Rechtsgüter die Bedingung ihrer Wirksamkeit ist, also im Widerspruch zur Garantie unmittelbarer Wirksamkeit der Grundrechte (Art. 5 Abs. 1) und zur Unmöglichkeit ihrer Veränderung selbst durch Verfassungsänderung (Art. 60 Abs. 4) steht. Deshalb wird auch behauptet, dass die Variation der Entscheidungen der Erklärung der Verfassungswidrigkeit belastender Steuergesetze einer ungerechtfertigten Suspension der Grundrechte gleichkommt591. Die Aufrechterhaltung der 588

Gerhardt Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, S. 15. 589 Roman Seer, Defizite im finanzgerichtlichen Rechtsschutz – zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit dem 2. FGO-Änderungsgesetz vom 19. 12. 2000, in: StuW (2001), S. 3. 590 Gerhardt Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, S. 35. 591 Gerhardt Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, S. 39; Klaus Tipke, Rezension von: Gerhard Habscheidt. Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Gesetze, in: StuW 2 (2004), S. 189.

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Wirkungen hat, anders gewendet, zur Folge, dass die Normen, die Wirksamkeit der Grundrechte und Grundgarantien bestimmen- selbst die Rechte, die nicht sozialer Natur sind und auch nicht von geldwerten Leistungen abhängen, statt „unmittelbar anwendbar“ zu sein, „hängen von der Nichtexistenz eines vorgeblichen Haushaltslochs ab, gemäß der Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs“. Hier findet sozusagen eine Monetisierung der Rechtssicherheit und, mittelbar, der unter dem budgetären Vorbehalt angewandten Grundrechte selbst statt592. Im Hinblick auf diesen Aspekt lohnt es sich, die zutreffenden Äußerungen von Carrazza zu zitieren: „Nun darf man sich im Namen der Bequemlichkeit und der Erhöhung der Steuereinnahmen gegenüber dem Pochen auf die subjektiven Rechte der Steuerzahler, die, wie wir gesehen haben, in der Verfassung verbrieft sind, nicht taub stellen. Eines dieser Rechte ist das Recht, nur von der zuständigen Behörde und nur auf die von der Verfassung vorgesehene Weise besteuert zu werden“593. Die Annahme der Suspendierung der Wirksamkeit der Grundrechte im Namen der Rechtssicherheit impliziert also die Transformation der unmittelbaren Anwendung, deren Sinn gerade in dem Fehlen einer Zwischennorm zwischen der Verfassungsbestimmung und dem konkreten Fall liegt, in eine suspendierte Anwendung, die den Verfasssungsbestimmungen zuwiderläuft. Schließlich widersetzt sich die Aufrechterhaltung der Wirkungen der verfassungswidrigen einschränkenden Gesetze dem Rechtsstaatsprinzip. Um die Allgemeingültigkeit zu gewährleisten und staatliche Willkür abzuwehren, erfordert dieses Prinzip, dass das staatliche Handeln durch allgemeine, klare, bekannte, in der Zeit relativ beständige, prospektive und nichtwidersprüchliche Regeln normiert wird594. Wenn nun der Staat ein Gesetz gegen die Verfassung erlässt, seine Wirkungen aber trotzdem aufrechterhält, orientiert sich sein Handeln auf umgekehrte Weise an den Idealen des Rechtsstaatsprinzips: statt von allgemeinen Regeln normiert zu sein, folgt er Individualnormen aus der Judikative; statt von klaren Regeln normiert zu sein, befolgt er dunkle Normen aus Mangel an intersubjektiven Kriterien, die das Erlaubte und das Gebotene zu erkennen erlauben; statt von bekannten Normen normiert zu sein, wird sein Handeln durch unbekannte Normen eingeschränkt, da die Normen zum Zeitpunkt der Handlung nicht existieren und daher zu diesem Zeitpunkt auch nicht bekannt sein können; statt von in der Zeit beständigen Regeln normiert zu sein, befolgt er Regeln, die sich je nach den zum Zeitpunkt der Entscheidung geschützten Interessen und Werten ändern; statt von prospektiven Regeln normiert zu sein, folgt er retrospektiven Normen, die nur zum Zeitpunkt der Entscheidungsverkündung existieren, nicht zum Zeitpunkt

592 Wolfgang Meyer, Die Rückwirkung von Bundesgesetzen – ein Problem des Übermaßes?, in: Butzer, Hermann u. a. (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat. FS für Friedrich E. Schnapp zum 70, S. 162. 593 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 437. 594 Jeremy Waldron, The Rule of Law in Contemporary Liberal Theory, in: Ratio Juris 1 (1989), S. 84.

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des staatlichen Handelns. Und dies alles steht noch im Widerspruch zur Einführung eines allgemeinen und nichtwillkürlichen Systems, insofern das staatliche Handeln auf den Umständen entsprechende Weise geregelt wird, ohne klare und tatsächliche rechtliche Grenzen. Kurz, die Variation der Wirkungen verfassungswidriger Steuergesetze verfügt in der Konfrontation mit dem Rechtsstaatsprinzip über einen sehr engen Spielraum, da sie, statt ein durch vorher erlassene Regeln begrenztes Regiment einzuführen, ein durch später getroffene Entscheidungen begrenztes Regiment zulässt. Alle vorstehenden Betrachtungen beweisen, dass die Variation der Wirkungen eine Entscheidungstechnik ist, deren Vereinbarkeit mit den Rechtsstaatsprinzipien und der Rechtssicherheit äußerst beschränkt ist. Jede Variation zeitlicher Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung beinhaltet einen Widerspruch des Rechts mit sich selbst: indem es das aufrechterhält, was ihm widerstrebt, frisst das Recht sozusagen sich selbst, wie eine Schlange, die ihren Schwanz verschlingt. Es beinhaltet sozusagen nicht ein Verfassungsrecht, sondern ein verfassungswidriges Recht. Es ist, mit einem Wort, nicht mehr verfasst595. Medeiros irrt also, wenn er die finanzielle Erwartung des Staates als Kriterium für den Ausschluss der deklaratorischen Wirksamkeit der Verfassungswidrigkeitsentscheidung zulässt596. Schließlich sind die Anhänger einer folgenorientierten Auslegungstheorie daran zu erinnern, dass der Berücksichtigung der Folgen, falls zugelassen, eine Reihe von Fragen vorausgehen sollte, wie etwa: Folgen in Bezug worauf-auf Regeln (welche?), Prinzipien (welche?) oder eine Menge von Regeln und Prinzipien (in welchem Maß und aufgrund welcher Perspektive?)? Wie wären die Folgen zu messen? Folgen in welchem Sinn – im faktischen, normativen oder wertenden Sinn? Folgen in Bezug auf welchen Zeitraum – gestern, heute oder morgen? Folgen für wen-für den Adressaten, den Staat oder die Gesellschaft? Diese Fragen, denen andere hinzugefügt werden könnten, zeigen nur, dass die Bewertung der Folgen einer Entscheidung nur scheinbar unstrittig ist. Nicht erwähnt wird in diesem Zusammenhang das Gewicht von folgenorientierten Argumenten innerhalb der juristischen Theorie der Argumentation597. Machado Derzi weist darauf hin, dass die Öffnung der Entscheidung zur Berücksichtigung der Folgen „eine andere unendliche Reihe von Möglichkeiten voraussetzt, die sich dem Rechtsanwender zur Wahl anbieten, über die zu wählende ökonomische oder soziologische Theorie, da weder in den erklärenden Wissenschaften noch in den Geisteswissenschaften Einmütigkeit darüber besteht, welche Theorie die Gewissheit der hervorzubringenden Wirkungen gewährleisten

595

Klaus-Dieter Drüen, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, in: FR 6 (1999), S. 294. 596 Rui Medeiros, A decisão de inconstitucionalidade – os autores, o conteúdo e os efeitos da decisão de inconstitucionalidade, S. 715. 597 Humberto Ávila, Juristische Theorie der Argumentation, in: Heldrich, Andreas u. a. (Hrsg.), FS für Claus-Wilhelm Canaris zum 70. Geburtstag, S. 963–989; Ana Paula Oliveira Ávila, A modulação de efeitos temporais pelo STF no controle de constitucionalidade, S. 119 sowie 171.

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könnte“598. Kurz, eine folgenorientierte Entscheidungstheorie ohne rigorose Abgrenzung der zu wählenden Folgen ist mit dem Rechtssicherheitsprinzip völlig unvereinbar infolge der absurden Ungewissheit, die ihre Manipulation ermöglicht599. Wer, mit Verlaub für die von Beckers Werk inspirierte metaphorische Ausdrucksweise, einen „wirbellosen Konsequentialismus“ im Recht zulässt, akzeptiert die Justiz als eine bloße Büchse der Pandora, der man alles entnehmen kann. Schließlich ist noch zu betonen, dass die Variation der Wirkungen der Verfassungswidrigkeit die Logik des Rechts selbst umkehrt. Die Struktur einer Rechtsregel setzt sich ja aus einem Tatbestand und einer Rechtsfolge zusammen. Für den Adressaten bedeutet dies, dass er vorhersehen kann, dass er bei einer bestimmten Handlungsweise eine bestimmte Folge zu gewärtigen hat. Für den Richter funktioniert diese tatbestandlich-folgebedingende Struktur als Leitfaden seiner Entscheidung: falls X, und falls X verübt wurde, muss ich Y entscheiden; falls X, und falls Nicht-X verübt wurde, muss ich Z entscheiden600. Man bemerke an diesem Normschema, dass die vom Richter getroffene Entscheidung nicht das Ergebnis des Vergleichs der vom Gesetzgeber programmierten Wirkung und der Wirkung, die der Richter programmieren will, ist, ebensowenig das Ergebnis der Substitution einer Wirkung durch eine andere. Der Richter verwendet die Wirkungen nicht als Entscheidungsgründe und vergleicht auch nicht die Wirkung des Bedingungsprogramms mit anderen Wirkungen. Die normative Wirksamkeit wird vom Gesetzgeber vorgängig festgelegt. Die Variation verändert präzise dieses Entscheidungsdenkschema durch Gleichstellung der Entscheidungen in beiden Fällen: falls X, und X verübt worden ist, entscheide ich Y; falls aber X, und Nicht-X verübt worden ist, entscheide ich ebenfalls Y! X und Nicht-X haben also die gleiche Folge, d. h. unterschiedliche Verhaltensweisen haben die gleichen Folgen. Man bemerke, dass in diesem Fall die Entscheidung des Richters aus dem Ergebnis des Vergleichs der vom Gesetzgeber programmierten Wirkung mit der Wirkung, die der Richter programmieren will, hervorgeht. Anders formuliert, verwendet der Richter die wahrscheinlichen Wirkungen der Entscheidung als Entscheidungsgrund, indem er die vom Gesetzgeber eingangs festgelegte normative Wirksamkeit umkehrt. Im Gegensatz zu den auf konsolidierte Situationen bezogenen Entscheidungen – in denen die Urteilsfindung sich aus der Berücksichtigung der internen und zeitlich vorgelagerten Elemente des Adressatenverhaltens selbst oder seiner Qualifikation ergibt –, ergibt sich diese Umkehrung aus der Bewertug der Elemente, die dem Adressatenverhalten extern und zeitlich nachgeordnet sind. Diese Betrachtungen schließen, wie wir hier unterstreichen, die Verwendung des Mechanismus der Entscheidungsvariation nicht in allen Fällen aus. Sie verstärken jedoch die Idee, dass 598 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 171. 599 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 173 sowie 216. 600 Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 140.

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er höchst vorsichtig zu verwenden ist, da er grundlegenden Elementen des Rechtsstaats selbst widerspricht. Aus diesen Darlegungen folgt, dass die Variation der zeitlichen Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärungen folgende materiale und prozedurale Voraussetzungen beachten muss: (ee) Voraussetzungen der Entscheidung mit Wirkung pro futuro (α) Prämissen Ausnahmenatur des Falls, der Gegenstand der Entscheidung ist Der Fall, der Gegenstand der Variation der Wirkungen ist, muss wirklich eine Ausnahme sein. Dieser Ausnahmecharakter muss sich aus der Schwierigkeit der zukünftigen Wiederholbarkeit des Falls ergeben. Jede Aufrechterhaltung eingetretener Wirkungen verfassungswidriger Gesetze beinhaltet eine „Gegenbedeutung“: da die zu beachtende Verfassungsnorm verletzt worden ist, die Wirkungen der Verletzung aber noch nicht ausgelöst worden sind, wird die Überschreitung der Verfassung, obgleich mittelbar, angeregt, da die Verletzung keine Folgen hat. Man kann also, in einer zum Thema „Rechtssicherheit“ passenderen Sprache, behaupten, dass jede Aufrechterhaltung von Wirkungen verfassungswidriger Gesetze einen internen Konflikt zwischen den zeitlichen Dimensionen der Rechtssicherheit selbst beinhaltet: man behält die Rechtssicherheit in der Vergangenheit bei, durch Erhaltung der ergangenen Akte oder der verursachten Wirkungen, schränkt aber gleichzeitig die Rechtssicherheit in der Zukunft ein, indem man die Begehung eines neuen verfassungswidrigen Akts anregt. Eben wegen dieses internen Konflikts zwischen den Dimensionen der Rechtssicherheit selbst kann die Zuweisung prospektiver Wirkungen an die Verfassungswidrigkeitsentscheidungen nur in Ausnahmefällen erfolgen. Unter Ausnahmefällen sind-und dieser Punkt ist entscheidend-diejenigen Fälle zu verstehen, die sich in Zukunft schwerlich wiederholen werden. So besteht, wenn wir uns auf die schon vom Obersten Bundesgerichtshof Entschiedenen Fälle beschränken, keine Gefahr bzw. eine nur geringe Gefahr, dass die Gemeinde, deren Gründung, obgleich verfassungswidrig, aufrechterhalten worden ist, erneut gegründet wird; es besteht keine bzw. eine äußrst geringe Gefahr, dass die Anzahl der Stadtverordneten einer Gemeinde, die für mit der Verfassung unvereinbar erklärt worden ist, erneut geändert wird. Trotzdem-und hier liegt die Gefahr einer größeren Rechtsunsicherheit-kann die personelle Ausstattung von Verwaltungsbehörden ohne vorherige Ausschreibung und öffentliche Prüfung, obwohl sie in einem Fall aufrechterhalten wird, in anderen wiederholt werden. Die Aufrechterhaltung der Wirkungen eines verfassungswidrigen Akts in Bezug auf wiederholbare Fälle ist ein Ansporn zur zukünftigen Verletzung der Verfassung. Man verletzt die Rechtssicherheit in einem höheren Maß, als man sie schützt.

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

Der Oberste Bundesgerichtshof hat in der Regel mehreren seiner Entscheidungen prospektive Wirkungen zugewiesen, ohne auf spezifische und begründete Weise das Risiko einer verdrehten Wirksamkeit dieser Technik in Bezug auf die Zukunft zu prüfen. Dies hat den Richter Cezar Peluso sogar zur Behauptung veranlasst, dass „das Gericht sehr milde mit der Verfassungswidrigkeit bei auf die Angestellten im öffentlichen Dienst bezogenen Materien umgeht“601. Man muss jedoch anerkennen, das ein Teil der Richter große Sorge hinsichtlich der Folgen der Banalisierung der Variation der Entscheidungswirkungen geäußert hat, wie einige Auszüge aus Voten zeigen: so hat der Richter Maurício Corrêa hervorgehoben, dass „entsprechend der hier ausgesprochenen Warnung, diese Lösung, falls sie sich allgemein durchsetzt, auch das Risiko des Ansporns der Verfassungswidrigkeit mit sich bringt“602; der Richter Marco Aurélio hat für den Fall der Aufrechterhaltung der regelwidrigen Gründung einer Gemeinde versichert, dass „bei Gutheißung der Gründung dieser Gemeinde gegen die Verfassungsbestimmungen Tür und Tor geöffnet sein werden, dass wir in einem offenkundigen Konflikt mit der Verfassung die Gründung anderer Gemeinden gutheißen“603; derselbe Richter hat auch in einem Fall auf den Erlass eines Gesetzes durch ein unzuständiges Organ behauptet: „falls wir für einen gewissen Zeitraum das Gesetz anerkennen, als ob die Verfassung in diesem Zeitraum nicht in Geltung wäre, werden wir die Parlamente der Bundesstaaten zur Ausarbeitung von Gesetzen anspornen, die mit der Bundesverfassung nicht übereinstimmen“604; der Richter Cezar Peluso hat bei der Bearbeitung des Falls der Zulassung von Angestellten im öffentlichen Dienst einer bundesstaatlichen Regierung ohne Ausschreibung und öffentliche Prüfung auf den Umstand hingewiesen, dass das Gericht „einen Präzedenzfall schafft, der den Bundesstaaten, Gemeinden und dem Bund das Argument zur Rechtfertigung der absichtlichen Einführung verfassungswidriger Normen liefern wird, in der Erwartung, dass das Gericht diese Normen morgen oder später bestätigen wird“605; Richterin Ellen Gracie Northfleet hat im Fall des Eintritts in den öffentlichen Dienst ohne Teilnahme an einer öffentlichen Ausschreibung erklärt, dass ihr die Tatsache „Sorge bereitet, dass eine Entscheidung von uns auf irgendeine Weise den Behörden des Bundesstaats Minas Gerais signalisieren kann“, nach Art einer Ermächtigung zur Möglichkeit des Eintritts in den öffentlichen Dienst, die wie es tatsächlich der Fall ist, ohne Teilnahme an einer öffentlichen Ausschreibung.606 601

ADI Nr. 3.819-2, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 28. 03. 08, S. 403 do Acórdão. 602 ADI Nr. 1.102, Berichterstatter: Richter Maurício Corrêa, DJ 17. 11. 95. 603 ADIN Nr. 2.240-7, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 03. 08. 07, S. 337 des Urteils. 604 ADI Nr. 3.458-8, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 28. 03. 08, S. 378 des Urteils. 605 ADI Nr. 3.819-2, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 28. 03. 08, S. 401 des Urteils. 606 ADI Nr. 3.819-2, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 28. 03. 08, S. 452 des Urteils.

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Diese Sorge der Richterin ist von grundlegender Bedeutung, da die Verfassungsrechtsprechung mittelbar einen Disziplinierungseffekt zur Folge hat607. Entscheidend wichtig in dieser Argumentation ist der Nachweis, dass Rechts­ sicherheit ambivalent ist. Diese Feststellung sollte in allen gerichtlichen Verfahren beachtet werden. Im Hinblick auf das, was im Kapitel über den Inhalt der Rechtssicherheit untersucht worden ist, muss man sich immer vergegenwärtigen, dass es verschiedene Aspekte, Elemente und Dimensionen der Rechtssicherheit gibt. Wer sie missachtet, missachtet die Rechtssicherheit selbst. Deshalb darf man nicht einfach an die Rechtssicherheit appellieren und sie als Grundlage zur Änderung der Wirkungen einer Verfassungswidrigkeitserklärung verwenden, ohne zu differenzieren und diese mehrfache Dimensionalität zu berücksichtigen-und ohne angemessen zu bedenken, dass diese mehrfache Dimensionalität eine Art „innere Abwägung“ der Rechtssicherheit selbst beinhaltet, besonders um zu erfahren, ob die Aufrechterhaltung der eingetretenen Wirkungen eines Gesetzes oder verfassungswidrigen Akts nicht „mehr“ Rechtsunsicherheit als Rechtssicherheit hervorruft. Nichtvorliegen einer offensichtlichen Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Akts Der Anschein der Legitimität des angefochtenen Akts ist eine Voraussetzung des Vertrauensschutzprinzips: ein schutzwürdiges Vertrauen verlangt eine für den Adressaten glaubwürdige Vertrauensgrundlage. Das Fehlen des Anscheins der Legitimität schließt die Unantastbarkeit des Akts nicht aus, weil diese sich nicht aus der subjektiven Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips ergeben kann, sondern aus seiner objektiven Dimension: es gibt Fälle, in denen, obwohl der anfängliche Akt kein Vertrauen verdient hat, andere Elemente, wie die Zeit, zur Konsolidierung einer faktischen Situation beigetragen haben können, die in Zukunft nicht mehr aufrechterhalten werden darf bzw. geändert werden soll. Wie wir schon gesehen haben, wendet der Oberste Bundesgerichtshof, wenn er sich der Variation der Wirkungen bedient, streng genommen nicht das Vertrauensschutzprinzip an, dessen Anwendung den Nachweis des Vorliegens einer Vertrauensgrundlage, des Vertrauens als solchen, der tatsächlichen und verursachten Ausübung des Vertrauens und der Enttäuschung des Vertrauens erfordern würde. Diese Fragen lassen sich weder in der abstrakten Kontrolle noch in der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit prüfen, wenn das Gericht die Wirkungen der Entscheidung im Inzidenzstreit der Verfassungswidrigkeitserklärung zu variieren beabsichtigt, im Hinblick auf andere Fälle, die in diesem Verfahren nicht zur Diskussion stehen. Der Anschein der Legitimität kann auch eine Voraussetzung der Anwendung der objektiven Dimension des Rechtssicherheitsprinzips sein, wenn

607 Georg Seyfarth, Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, S. 294.

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das Gericht den erwiesenen oder unterstellten Widerhall der Nichtigkeitserklärung für die „Menge der Vertrauensbezeigungen“ oder die „Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung“ prüft. Der Grund dieser Notwendigkeit liegt in der globalen Bewertung des Rechtssicherheitsprinzips. In der Tat und wie schon oben festgestellt beinhaltet jede Erklärung der prospektiven Wirksamkeit eine Gegenbedeutung: die fehlende Zuweisung von Folgen zur Verletzung der Verfassung funktioniert bei einem wiederholbaren Fall als Ansporn zur Wiederholung der Verletzung. Damit dies nun nicht eintritt oder damit die Chancen des Eintritts geringer sind, kann die Variation der Wirkungen nur in den Fällen gewählt werden, in denen die Legitimität des Verhaltens plausibel war, d. h. in denen der Adressat der Norm von der Verfassungswidrigkeit seines Verhaltens weder Kenntnis haben konnte noch durfte. Wenn er von der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens Kenntnis hatte oder haben konnte, kommt die Aufrechterhaltung der Wirkungen der positiven Bewertung der vorsätzlichen Missachtung der Verfassung gleich. Abzüglich der Fälle, in denen der Ablauf eines langen Zeitraums als Stabilisierungs- und Änderungsfaktor der Bewertung der anfänglichen Rechtswidrigkeit funktionieren konnte, muss der angefochtene Akt in den anderen Fällen, die entweder den subjektiven Schutz individueller Positionen durch das Vertrauensschutzprinzip beinhalten oder die objektive Gewährleistung transindividueller Situationen durch das Prinzip der Beständigkeit der Rechtsordnung umfassen, den Anschein der Legitimität haben, da widrigenfalls die vergangene Rechtssicherheit aufrechterhalten wird, indem man in höherem Maß die zukünftige Rechtsunsicherheit fördert. Wenn die Illegitimität des rechtswidrigen Akts ursprünglich bekannt ist, erweist sich die Aufrechterhaltung seiner Wirkungen auch noch als mit dem Rechtsstaatsprinzip, das die Aufrechterhaltung der es verneinenden Akte nicht duldet, unvereinbar und auch als mit dem Sittlichkeitsprinzip unversöhnlich, da letzteres mit der Forderung nach Wahl ernsthafter, loyaler und begründeter Verhaltensweisen die Aufrechterhaltung von vorsätzlich gegen die Rechtsordnung verübten Akten nicht duldet. In diesem Punkt muss die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs verbessert werden. Obwohl das Gericht eine große Sorge angesichts des Ansporns zu verfassungswidrigem Verhalten erkennen lässt, hält es in vielen Teilen seiner Entscheidungen Akte aufrecht, die zum Zeitpunkt ihrer Verübung als verfassungswidrig bekannt waren oder bekannt sein mussten. So hat beispielsweise das Gericht in der direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 3.660-2 die Verfassungswidrigkeit der Umwidmung der als Kosten und Gebühren von privatwirtschaftlich organisierten juristischen Personen empfangenen Beträge erklärt wegen Verletzung des Gleichbehandlungsprinzips und der Abkehr von der ursprünglich für die Gebühren vorgesehenen Widmung. In „Ansehung von Gründen der Rechtssicherheit und des außergewöhnlichen gesellschaftlichen Interesses“ hat es jedoch der Verfassungswidrigkeitserklärung Wirkungen von einem zukünftigen Datum an zugewiesen. Das Problem ist, dass, gemäß der Aussage des Richters Joaquim Barbosa, „[d]ie Position des Gerichts hinsichtlich dieses Typus von Verfassungswirklichkeit […]

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seit langer Zeit bekannt“ ist (S. 67 des Urteils)608. Da liegt also das Problem: die Wirkungen werden aufgrund der Rechtssicherheit (in einem ihrer Aspekte) variiert und verursachen Rechtsunsicherheit (in allen ihren anderen Aspekten). Eben deshalb lässt sich sagen, dass die Flexibilisierung der Entscheidungsalternativen des Verfassungsgerichts, so paradox dies anmuten mag, am Ende „schwer auf der Rcehtssicherheit lastet. Als Äußerung der Rechtsstaatlichkeit erfordert die Rechtssicherheit auch präzise, dass die Rechtsfolgen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die Adressaten vorhersehbar und berechenbar sein müssen“609. (β) Zwecke Wiederherstellung des „Zustands der Verfassungsmäßigkeit“ Ziel der Zuweisung prospektiver Wirkungen hat die Wiederherstellung der Verfassungsmäßigkeit zu sein. Man muss immer daran erinnern, dass der Oberste Bundesgerichtshof der „Hüter der Verfassung“ ist und seine Funktion die Gewährleistung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze ist610. Dies ist das von der CF/88 in Art. 102 ff. eingeführte System (vgl. im deutschen Grundgesetz Art. 93 ff.). Wenn nun die Nichtigkeitserklärung die Verletzung der Verfassung wiederherstellt, muss sie erfolgen. Dies geschieht in den Fällen, in denen Kompetenzregeln verletzt werden: die Verletzung besteht in der Ausübung der Besteuerungsgewalt außerhalb des von der Verfassung erlaubten Sachbereichs. Nur wenn die Nichtigkeitserklärung nicht den Zustand der Verfassungsmäßigkeit wiederherstellt, darf der Oberste Bundesgerichtshof den Mechanismus der Variation der zeitlichen Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung verwenden. Dieses Erfordernis ist äußerst wichtig, da in Fall seiner Nichtbeachtung die regelmäßige Funktion der Verfassungsmäßigkeitskontrolle außer Acht bleibt und das Gericht sich vom „Hüter der Verfassung“ zum „Hüter der Verfassungsverletzung“ aufschwingt. Eben deshalb kann die Aufrechterhaltung eingetretener Wirkungen nur dann erfolgen, wenn es kein anderes Mittel zur Wiederherstellung der Ver­ fassungsmäßigkeit gibt. Wenn dies nun zutrifft, übernimmt die Verfassungswidrigkeitserklärung mit prospektiven Wirkungen eine subsidiäre Funktion: sie kann nur zur Anwendung kommen, wenn keine anderen Mittel, unter denen die Setzung von Fristen oder Übergangsregeln hervorgehoben werden können, verwendbar sind. Zu bestehen ist auf folgendem Punkt: immer wenn das Gericht die Wirksamkeit der verfassungswidrigen Norm, deren Nichtigkeit den mit ihrem Erlass suspendierten Verfassungsmäßigkeitszustand wiederherstellen würde, aufrechterhält, statt die

608

ADI Nr. 3.660-2, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 13. 03. 08. Roman Seer, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am Beispiel seiner Rechtsprechung zum Steuerrecht, in: NJW 5 (1996), S. 291. 610 Oliver W. Lembcke, Hüter der Verfassung, S. 134. 609

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Aufrechterhaltung des Verfassungsmäßigkeitszustands zu ermöglichen, ermöglicht es die Aufrechterhaltung des Verfassungswidrigkeitszustands611. Der Oberste Bundesgerichtshof war also gut beraten, als er Fristen gesetzt hat, damit die Legislative oder Exekutive Maßnahmen treffen könnten, um die Verfassungswidrigkeit zu heilen: so hat das Gericht, als es die Gründung von Gemeinden ohne Vermittlung eines Ergänzungsgesetzes prüfte, die Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Akts erklärt, aber seine Geltung für den Zeitraum von vierundzwanzig Monaten gewährleistet, damit der bundesstaatliche Gesetzgeber eine neue Regelung einführen könnte612; als es die Einstellung von Vertretern des öffentlichen Interesses durch interne Verwaltungsmaßnahme, also ohne Ausschreibung und Wettbewerb prüfte, hat es gesetzwidrig eingestellte Vertreter des öffentlichen Interesses nur für den Zeitraum von sechs Monaten ohne ihre endgültige Bestätigung im Amt belassen, um die Erneuerung der Vertretung des öffentlichen Interesses zu ermöglichen613; als es das auf eine Initiative der Exekutive zurückgehende bundesstaatliche Gesetz über die gerichtliche Verwahrung prüfte, entschied es zugunsten der Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Gesetzes und verfügte eine Variation der Wirkungen, so dass die Entscheidung Wirkungen sechzig Tage nach ihrer Rechtskraft hätte und der Gerichtsbarkeit Zeit zur Eintreibung der gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten einräumte614; als es über die Anwendung der Normen des Gesetzes über budgetpolitische Verantwortung auf den Bundesdistrikt entschied, forderte es die Einhaltung der Entscheidung, allerdings genau zwei Dritteljahre nach dem Datum der Veröffentlichung des Protokolls der Begründetheitsprüfung615; und als es die Tätigkeit der Vertretung des öffentlichen Interesses bei der Verteidigung ihrer eigenen Mitarbeiter prüfte, erklärte es die Verfassungswidrigkeit der einfachgesetzlichen Norm, hielt aber ihre Wirkungen bis zum Ende des Jahres der Entscheidungsverkündung aufrecht, um dem Gesetzgeber Zeit zur Regelung der Materie zu gewähren616. All diese Fälle offenbaren eine sehr gemäßigte Weise der Erklärung der Verfassungswidrigkeit, da das Gericht, statt mit der Variation der Wirkungen tabula rasa zu machen, nicht nur die Verfassungswidrigkeit erklärt und damit das rechtswidrige Verhalten rechtlich entwertet hat, sondern ein Mittel gefunden hat, um die Grundrechte zu schützen, die durch die Erklärung der rückwirkenden Nichtigkeit betroffen werden würden, und um die unvermeidliche Verfassungswidrigkeit 611

Gerhardt Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, S. 31. 612 ADI Nr. 2.240-7, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 03. 08. 07; ADI Nr. 3.316, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 29. 06. 07; ADI Nr. 3.489, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 03. 08. 07; ADI Nr. 3.489, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 29. 06. 07. 613 ADI Nr. 3.819-2, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 28. 03. 08. 614 ADI Nr. 3.458-8, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 28. 03. 08. 615 ADI Nr. 3.756-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Carlos Brito, DJ 19. 10. 07. 616 ADI Nr. 3.022-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 04. 03. 05.

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für den zur Wiederherstellung des verletzten Zustands der Verfassungsmäßigkeit unbedingt notwendigen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Die Regel geht also in die Richtung, dass die integrale prospektive Wirksamkeit immer dann auszuschließen ist, wenn ein anderes Mittel zur Wiederherstellung des verletzten Verfassungsmäßigkeitszustands verfügbar ist. Selbst wenn die Variation zugelassen wird, ist zwischen den verfügbaren Mitteln dasjenige zu wählen, das den Verfassungsmäßigkeitszustand am besten wiederherstellt (Unvereinbarkeitserklärung mit Anweisung zur Reform der Gesetzgebung mit Wirkung ex tunc oder ex nunc, mit oder ohne Fristsetzung, mit oder ohne Übergangsregeln). Man kann allerdings prospektive Wirksamkeit in der konzentrierten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nicht zuweisen, ohne vorher festzustellen, ob das Problem nicht besser durch die in der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eventuell Geschädigten zu lösen ist. In diesem Sinn hat der Oberste Bundesgerichtshof exemplarisch im Urteil über das außerordentliche Rechtsmittelverfahren (Recurso Extraordinário) Nr. 105.789 entschieden: die neue Kennzeichnung der Dienstzeit, Jahre nach der Verbuchung und nach dem den Richter begünstigenden Eintreten monetärer Folgen, verletzt die verfassungsrechtliche Garantie der Unmöglichkeit der Herabsetzung des Gehalts, die „das Recht, das schon entstanden ist und nicht unterdrückt werden darf, unantastbar“ macht, wobei es sich nicht „nur um ein wohlerworbenes Recht“ handelt. Infolgedessen und selbst in Anbetracht der Erklärung der Verfassungswidrigkeit der Bestimmung, die vormals die Anrechnung der Dienstzeit begründet hatte, „überschreitet diese Garantie die Wirkung ex tunc der Erklärung der Verfassungswidrigkeit der Norm“617. Dies bedeutet, dass der Oberste Bundesgerichtshof anlässlich der Erklärung der Verfassungswidrigkeit der Norm, welche die Anrechnung der Dienstzeit des Antragstellers begründet hatte, zu diesem Zeitpunkt keinerlei Variation der Wirkungen verfügte, jedoch Raum ließ, dass die Rechte eines jeden Geschädigten, falls daran interessiert, vermittels des individuellen Zugangs zur Gerichtsbarkeit gewährleistet wären. Dieser Vorbehalt ist sehr wichtig. Der Oberste Bundesgerichtshof darf schon in der abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nicht in jeder Situation vorgreifen, indem er die Wirkungen der Verfassungswidrigkeitserklärung auf Fälle ausschließt, die er nicht kennt und im Hinblick auf welche er nicht nachweisen kann, ob tatsächlich die Erfordernisse des Nachweises einer jeden Voraussetzung von Unantastbarkeit individueller Situationen erfüllt worden sind, sei es aus objektiven Gründen, die sich aus dem Zeitablauf (Verjährung, Verwirkung), der rechtlichen (wohlerworbenes Recht, vollendeter Rechtsakt, Rechtskraft, eingetretener Tatbestand) oder faktischen (durch die Zeit konsolidierte Situation) Konsolidierung von Situationen ergeben, sei es aus subjektiven Gründen, die sich aus der konkret und am Recht orientierten Ausübung der Freiheit und des Eigentums (Vertrauensschutz) ergeben. Nun hängt die Gestaltung all dieser Fälle von einem konkreten

617

RE Nr. 105.789-1, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Carlos Madeira, DJ 09. 05. 86.

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Beweis ab, kann also nicht Gegenstand der unmittelbaren und abstrakten Berücksichtigung in der konzentrierten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit sein. Was durchaus in dieser Kontrolle getan werden kann, ist der Ausschluss der vergangenen Wirksamkeit der Entscheidung nur dann, wenn die negativen Folgen der Nichtigkeitserklärung nicht nur extensiv und intensiv sind, sondern gewissermaßen vom Gericht halbwegs unterstellt werden können. Das bedeutet, dass das Gericht der Entscheidung prospektive Wirkungen nur in dem Fall zuweisen kann, in dem die Erklärung der Nichtigkeit der angefochtenen Norm eine große objektive Rechtsunsicherheit erzeugt, welche die institutionelle Stabilität und Glaubwürdigkeit des Rechts in Frage stellt. In allen anderen Fällen wird nur die konkrete Prüfung das Vorliegen der für die Unantastbarkeit individueller Situationen unverzichtbaren Erfordernisse aus objektiven oder subjektiven Gründen ergeben können. Dies erklärt die Behauptung im Votum der Richterin Ellen Gracie Northfleet anlässlich des Versuchs der Generalbundesanwaltschaft, über eine Entscheidungsaufklärung (embargos de declaração) die Zuweisung prospektiver Wirkungen an die Entscheidung anzuregen, welche die Verfassungsmäßigkeit der Forderung nach zwei Jahren Anwaltstätigkeit nach dem Studium der Rechtswissenschaft als Voraussetzung der Einschreibung für die öffentliche Prüfung zwecks Eintritt in die Bundesanwaltschaft erklärt hatte, mit dem Argument, dass mehrere Bundesanwälte ins Amt eingeführt worden seien und sie ihre Befugnisse ohne die Erfüllung dieser Voraussetzung ausgeübt hätten: „Übrigens halte ich die Prüfung der konkreten Situation von Mitgliedern der Bundesanwaltschaft auf dem gewählten Weg, der von Gerichtsurteilen zugutgekommen wurden, welche auf die Verfassungswidrigkeit der hier erörterten Norm erkannt hätten, für offensichtlich unangebracht.“ Und dies erklärt auch den Vorbehalt des Richters Carlos Britto, dass „diese heiklen Grenzfälle entweder auf dem Verwaltungsweg oder in Verfahren subjektiver Art, d. h. der diffusen Verfassungsmäßigkeitskontrolle gelöst werden“618. Wenn er diese Vorsichtsmaßnahme in der konzentrierten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit zur Verhinderung der Prüfung dessen, was nicht Gegenstand eines Nachweises sein kann, nicht ergreift, wird der Oberste Bundesgerichtshof sich nicht nur mit individuellen und konkreten Fragen befassen, die nicht mit Rechtssicherheit bewertbar sind, sondern gleichfalls die Unantastbarkeit individueller Situationen gewährleisten, ohne zu wissen, ob sie de facto und de iure bestehen. Das Gericht wird dann, mit Verlaub für den Ausdruck, „im Dunkel“ urteilen-im Namen der Rechtssicherheit, aber ohne jegliche Rechtssicherheit.

618 ED in der ADI Nr. 1.040-9, Plenum, Berichterstatterin: Richterin Ellen Gracie Northfleet, DJ 01. 09. 2006.

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Unmittelbarer Schutz der objektiven Rechtssicherheit und mittelbarer Grundrechtsschutz Die Variation der Wirkungen muss ein Mittel zur Erhaltung der Rechtssicherheit in ihrer gesamten Bandbreite sein, vor allem zugunsten der institutionellen Stabilität der Rechtsordnung. Diese Stabilität darf nun nicht bloß auf finanzielle Fragen bezogen werden. Sie muss sich auf den Schutz der Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung beziehen, und zwar in dem Sinn, dass die Nichtigkeitserklärung nachweislich oder vermutlich eine Vielzahl von Personen negativ betreffen würde, so dass deren Grundrechte ohne Notwendigkeit eingeschränkt werden würden und ihr Vertrauen in die Rechtsordnung insgesamt stark erschüttert werden würde. Wenn dem so ist, würde, in Fortsetzung der Verwendung in den schon vom Obersten Bundesgerichtshof bearbeiteten Fälle, die Erklärung der rückwirkenden Nichtigkeit der Gründung einer Gemeinde nicht nur die institutionelle Situation der Gemeindeorganisation betreffen, sondern auch die Grundrechte der durch schon erfolgte öffentliche Dienstleistungen begünstigten Bürger, die schon abgeschlossenen Verwaltungsverfahren und die schon ausgeführten polizeilichen Tätigkeiten; die Erklärung der rückwirkenden Nichtigkeit der Zusammensetzung der Stadtverordnetenversammlung der Gemeinden würde nicht nur Wirkungen in Bezug auf die institutionelle Situation des Bundesgliedstaats erzeugen, sondern auch Wirkungen in Bezug auf die Rechte der durch schon erlassene Gesetze begünstigten Bürger. Zu diesem Thema ist daran zu erinnern, dass die Variation der Wirkungen in Deutschland entstanden ist, um die Unantastbarkeit von Wirkungen von später für verfassungswidrig erklärten Normen zu erreichen, wenn diese Normen begünstigende, aber ungleiche oder unverhältnismäßige Behandlungen von Bürgern eingeführt hatten. In diesen Fällen würde die Nichtigkeitserklärung nur einen Teil der positiven Wirkungen einer von der Verfassung selbst statuierten Schutzpflicht ausschließen. Anders ausgedrückt: die Erklärung der Nichtigkeit ab initio würde nur den „guten Teil“ des Gesetzes eliminieren, ohne den Zustand der Verfassungsmäßigkeit wiederherzustellen. In einem Großteil der analysierten Fälle hat der Oberste Bundesgerichtshof diese Richtung eingeschlagen: er hat die Verfassungswidrigkeit der Gründung von Gemeinden unbeschadet der schon ergangenen Akte erklärt, eben wegen der die Bürger begünstigenden Dienstleistungen und Verwaltungsakte619; er hat die Verfassungswidrigkeit der Einstellung von Vertretern des öffentlichen Interesses ohne öffentliche Prüfung unbeschadet der schon vorgenommenen Prozesshandlungen für den gerichtlichen Rechtsschutz der vertretenen Bürger erklärt620; er hat die Verfassungswidrigkeit des Handelns der Vertretung des öffentlichen Interesses bei der Verteidigung der eigenen Mitarbeiter erklärt, 619

ADI Nr. 2.240-7, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 03. 08. 07; ADI Nr. 3.316, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 29. 06. 07; ADI Nr. 3.489, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 03. 08. 07; ADI Nr. 3.489, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 29. 06. 07. 620 ADI Nr. 3.819-2, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 28. 03. 08.

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aber die zur Verteidigung der Vertretenen bis zu diesem Zeitpunkt vorgenommenen Prozesshandlungen bestätigt621. In all diesen Fällen wurde die Aufrechterhaltung der eingetretenen Wirkungen von zwei Faktoren veranlasst: unmittelbar von der Erhaltung der Institutionen, mittelbar von der Gewährleistung von Rechten. Rechtssicherheit ist, wie erinnerlich, in dieser Arbeit als Normprinzip definiert worden, das von der Legislative, Exekutive und Judikative die Wahl von Verhaltensweisen fordert, die zugunsten der Bürger und in ihrer Perspektive stärker zur Existenz eines Zustands der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts und durch das Recht aufgrund seiner Erkennbarkeit beitragen, wobei das Recht als Instrument gesehen wird, das den Bürgern die Achtung ihrer Fähigkeit gewährleistet, ohne Irrtum, Enttäuschung oder Überraschung ihre Gegenwart in Würde zu gestalten und ihre Zukunft strategisch und juristisch informiert zu planen. Finanzielle Einbußen, die sich aus der Eintreibung verfassungswidriger Abgaben ergeben, sind also mit dem Begriff von Rechtssicherheit, so wie er in der CF/88 bestimmt worden ist, nicht vereinbar. Sie sind auch mit dem Rechtssicherheitsbegriff des deutschen Grundgesetzes unvereinbar, da Rechtssicherheit auch hier als Garantie des Bürgers gegenüber dem Staat aufzufassen ist, nicht umgekehrt. Wenn dem so ist, kann man die Variation der zeitlichen Wirkung der Verfassungswidrigkeitserklärung nur dann beschließen, wenn die Nichtigkeitserklärung nicht die Verfassungsmäßigkeitwiederherstellt und wenn die Wirksamkeit der Grundrechte selbst dies verlangt. Deswegen schränken die Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs in föderativ-institutionellen Materien die Grundrechte nicht ein, sondern schützen sie eher. Dieselbe Situation liegt aber nicht im Fall von Gesetzen vor, die zur Entrichtung von Abgaben verpflichten: die Aufrechterhaltung ihrer Wirkung erlaubt nicht nur die Beitreibung von Abgaben ohne Gesetz, nun aber durch gerichtliche Entscheidung, sondern suspendiert am Ende zeitweilig die Wirksamkeit der Grundrechte der Freiheit, des Eigentums und des gerichtlichen Rechtsschutzes. Zu beachten ist jedenfalls das Gleichheitsprinzip622. Die Variation der Wirkungen muss ein Mechanismus des Supremats der Verfassungsordnung sein, nie ein Instrument ihrer Übertretung. Sie scheidet also aus, falls sich aus ihr eine schwerwiegende und ungerechtfertigte Ungleichbehandlung ergibt. Eben dies war der Fall, als der Oberste Bundesgerichtshof prüfte, ob der einfache Gesetzgeber Verfalls- und Verjährungsfristen setzen könnte, und von der Wirkung der Entscheidung die Steuerzahler ausschloss, die schon die Zahlung entrichtet hatten.623 Wer das Gesetz befolgt hatte, wurde geschädigt; wer es nicht befolgt oder seine Wirksamkeit angefochten hatte, wurden begünstigt, obwohl sich beide in Bezug auf den Steuertatbestand in derselben Lage befunden hatten. Dies erklärt die deutlichen

621

ADI Nr. 3.022-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 04. 03. 05. Andreas Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, S. 317. 623 RE Nr. 560.626, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJe 05. 12. 08. 622

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Worte von Machado Derzi, derzufolge nur die dummen und ihre Pflicht erfüllenden Steuerzahler die Steuerlast getragen haben624. Vermeidung einer „schweren“ Bedrohung der Rechtssicherheit Da die Zuweisung prospektiver Wirkungen an die Entscheidung die Überwindung der Nichtigkeitsregel und eine auf die Befolgung der Verfassung bezogene Gegenbedeutung beinhaltet, kann nicht jeder Typus von institutioneller Instabilität oder Glaubwürdigkeitsminderung der Rechtsordnung ihre Verwendung rechtfertigen. Nur in den Fällen, in denen die Erklärung der Nichtigkeit der angefochtenen Norm einen hohen Zustand der Rechtsunsicherheit erzeugt, wird die Zuweisung prospektiver Wirkungen gerechtfertigt sein. Wenn dem nicht so ist, wird das Postu­ lat des Verfassungssupremats banalisiert. Die Folge ist die Ermunterung zu verfassungswidrigen Akten. Der Oberste Bundesgerichtshof folgt normalerweise dieser Auffassung. Der Richter Gilmar Mendes hat in der Bearbeitung desr Antrags auf einstweilige Verfügung Nr. 189 klargestellt, dass die Ausnahme von der Nichtigkeitsregel nur Anwendung „auf die Fälle findet, in denen sie sich als absolut ungeeignet für den beabsichtigten Zweck erweist (Fälle der Unterlassung; Ausschluss einer mit dem Gleichheitsprinzip unvereinbaren Begünstigung), sowie in den Fällen, in denen ihre Anwendung Nachteile für das verfassungsrechtliche System selbst mit sich bringen könnte (schwere Bedrohung der Rechtssicherheit)“625. Der Richter ­Joaquim Barbosa hat in der Bearbeitung der Beschwerde (Agravo de Instrumento) Nr. 557.237 die Ausnahmenatur der Situation, die eine Variation der Wirkungen nahelegt, unterstrichen; diese Situation sei „durch das äußerste Risiko für die Rechtssicherheit oder das gesellschaftliche Interesse gekennzeichnet“ (hervorgehoben von uns)626. In der in dieser Arbeit verwendeten Terminologie bedeutet das, dass der Oberste Bundesgerichtshof prospektive Wirkungen nur zuweisen kann, wenn die Nichtigkeitserklärung nicht den Zustand der Verfassungsmäßigkeit wiederherstellt, in der vom deutschen Bundesverfassungsgericht befolgten Argumentationslinie, oder wenn sie einen hohen Unsicherheitszustand verursacht. Die Prüfung der Voraussetzungen und Zwecke der Variation der Wirkungen zeigt, dass ihre Verwendung, wie in dieser Arbeit vertreten wird, nicht Ausfluss einer bloßen Abwägung zwischen (negativen) Wirkungen der Nichtigkeitserklärung (ex tunc) und (positiven) Wirkungen der Unvereinbarkeitserklärung (ex nunc) ist, wie Medeiros behauptet627. Vertreten wird die These, dass es Voraussetzungen 624 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 527. 625 AC-MC-QO Nr. 189, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJ 27. 08. 04. 626 AG. REG. im AI Nr. 557.237, Zweiter Senat, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 26. 10. 07. 627 Rui Medeiros, A decisão de inconstitucionalidade – os autores, o conteúdo e os efeitos da decisão de inconstitucionalidade, S. 703.

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gibt, ohne die man unabhängig von der genannten Abwägung nicht von Variation der Wirkungen sprechen darf. Es handelt sich also um ein exzeptionelles Modell der Variation, in Abhängigkeit von der Befolgung von Voraussetzungen und Verfolgung von Zwecken, ohne dessen Vorliegen die Variation von vornherein ausgeschlossen ist. (γ) Verfahren Garantie des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei der Variation der Entscheidungswirkungen In prozeduraler Hinsicht ist die Tatsache zu beachten, dass die Variation der Wirkungen ein Problem beinhaltet, das sich von dem im Verfahren erörterten Grundproblem unterscheidet: zur Diskussion steht nicht die Begründetheit, sondern, stattdessen, die Wirkung der Entscheidung. Deshalb ist es unverzichtbar, dass das Problem der Variation der Wirkungen Gegenstand einer Diskussion wird, die sich von der Frage nach der Begründetheit absetzt: da die Gründe andere sind und keine notwendige Beziehung zu den auf die Begründetheit bezogenen Argumenten aufweisen, muss der Richter die Parteien bezüglich der Variation selbst anhören628. Eben aus diesem Grund beinhalten die Verfahren der Variation der Wirksamkeit der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs die Sistierung des Verfahrens, mit der sich daraus ergebenden Anhörung der Parteien, insbesondere zur Wirkung der Entscheidung629. Deshalb ist es nicht nur mit dem Prinzip des Anspruchs auf rechtliches Gehör, sondern gleichfalls mit dem Rechssicherheitsprinzip unvereinbar, die Variation der Entscheidungswirkungen plötzlich zu judizieren, ohne dass beide Parteien zu ihr ausdrücklich und umfassend Stellung beziehen konnten. Damit soll nicht behauptet werden, dass der berichterstattende Richter oder irgendeiner der Richter dieses Problem nicht ansprechen darf. Gesagt werden soll vielmehr, dass nach richterlichen Hinweisen dieses Problem nach dem Prinzip des rechtlichen Gehörs und spezifisch zu diskutieren ist, da es eine Materie betrifft, die sich von der anfangs aktenkundigen Materie unterscheidet. Aus diesem Grund war der Oberste Bundesgerichtshof in dem Fall schlecht beraten, als er bei der Prüfung, ob der einfache Gesetzgeber Verfalls- und Verjährungsfristen setzen dürfe, diejenigen Steuerzahler von der Wirksamkeit der Entscheidung ausschloss, die schon gezahlt hatten, ohne dass beide Parteien zum Problem Stellung bezogen hatten630. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die Diskussion während der Judizierung des ausdrücklichen 628 Nicolas Molfessis (Hrsg.), Les revirements de jurisprudence. Rapport remis à Monsieur le Premier Président Guy Canivet, S. 21 sowie 30. 629 Christian Waldhoff, Recent developments relating to the retroactive effect of decisions of the ECJ, in: Common Market Law Review 46 (2009), S. 3 (unveröffentlichtes Manuskript). 630 RE Nr. 560.626, Plenum, Berichterstatter: Richter Gilmar Mendes, DJe 05. 12. 08.

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Antrags auf Variation: „Ich bin der Ansicht, dass es nicht notwendig ist, da, wenn das Verfassungsproblem aufgeworfen wird, diese Möglichkeit schon impliziert ist“ (Richter Gilmar Mendes); „nur hätte sie Gegenstand eines zur rechten Zeit erfolgten mündlichen Vortrags sein müssen“ (Richter Cezar Peluso); „Einer der Anwälte hat sich gestern ausdrücklich auf den Variationsantrag bezogen; falls der andere dies nicht tun wollte, […]“ (Richter Menezes Direito). Da allerdings die Diskussion über die Variation der Entscheidungswirkungen ein Problem betrifft, das normativ anders ist als das in der Begründetheit diskutierte, ist sie getrennt zu führen. Hierbei ist das Recht auf umfassende Verteidigung durch Sistierung des Verfahrens zu gewährleisten, damit beide Parteien ihre Position umfassend vertreten können631. Erhaltung der rückwirkenden Wirksamkeit für den Anlassfall, die parallelen Fälle und die nicht von der Verwirkung betroffenen Fälle Die Zuweisung prospektiver Wirkungen auch für den Anlassfall und für die Parallelfälle würde zur übermäßigen Einschränkung des Grundrechts auf gerichtlichen Rechtsschutz führen: der Kläger, der die Stellungnahme des Gerichts veranlasst hat, würde, wie man in Deutschland sagt, „Steine statt Brot“ erhalten und damit einen „Pyrrhussieg“ ohne praktische Folgen erfechten. Aus verfassungsrechtlicher Sicht liegt das Problem jedoch nicht nur im Ausbleiben der praktischen Folgen, sondern in der Einschränkung der Grundrechte auf gerichtlichen Rechtsschutz und Freiheit. Wer die eingetretenen Wirkungen des für verfassungswidrig erkannten Gesetzes aufrechterhält, weist den Antrag des Klägers ab und beraubt ihn des Grundrechts auf gerichtlichen Rechtsschutz und mittelbar der Freiheit: wenn eine der Wirkungsweisen der Grundrechte die Verteidigungswirksamkeit ist, verhindert das Ausbleiben der beantragten Eliminierung der Verfassungswidrigkeit, dass das gerichtliche Verfahren die Ausübung der Gewalt einschränkt, obwohl diese die Freiheit ungebührlich einschränkt632. Daher die Sorge des Richters José Paulo Sepúlveda Pertence in dem Fall, in dem eine Gemeinde ihren Anteil an einer bundesstaatlichen Steuereinnahme erhalten wollte: „Dann wird man sagen, dass das wohlerworbene Recht, um das die Gemeinde seit zehn Jahren kämpft, nichts wert ist.“633 Eben deshalb kann der Anlassfall nicht von der vollständigen prospektiven Wirksamkeit betroffen werden. Dies gilt auch für alle Parallelfälle.

631

Andreas Vonkilch, Das Intertemporale Privatrecht, S. 319. Roman Seer, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am Beispiel seiner Rechtsprechung zum Steuerrecht, in: NJW 5 (1996), S. 290. 633 RE Nr. 401.953-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Joaquim Barbosa, DJ 21. 09. 07, S. 472 des Urteils. 632

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Sichere Anwendung der Variation von Entscheidungswirkungen aufgrund der Rechtssicherheit Die Verwendung der Verfassungswidrigkeitserklärung ohne Nichtigkeitserklärung, auch unter dem Namen bloße Unvereinbarkeit mit der Verfassung bekannt, beinhaltet, wie wir gesehen haben, eine Ausnahme: man hält die Wirkungen des verfassungswidrigen Akts aufrecht, statt seine Nichtigkeit zu erklären. Der Richter Gilmar Mendes hat dies auf eine vom Standpunkt der Rechtstheorie untechnische, aber sachlich korrekte Weise ausgedrückt: „Das Nichtigkeitsprinzip ist also nach wie vor Regel auch im brasilianischen Recht.“634 Welches sind jedoch die Fälle, in denen diese Regel nicht eingreift? Es geht nicht um eine Frage, die sich nur auf das ordnungsgemäße Verfahren bezieht. Es geht um eine Frage, die sich auf das Rechtssicherheitsprinzip selbst bezieht: wenn der dem Recht unterworfene Bürger keine minimale Klarheit, Verständlichkeit und Berechenbarkeit darüber vorfindet, wann die Nichtigkeit ausgesprochen wird und wann ein anderer Mechanismus der Zuweisung von Wirksamkeit an Entscheidungen bei der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit zur Anwendung kommt, wird es keine Rechtssicherheit im Sinn der Sicherheit des Rechts und durch das Recht geben. Dies erklärt die Behauptung von Seer bezüglich der erratischen und unbestimmten Kontrolle in Deutschland, die wir hier zitieren: „Weder die Bürger noch die Verwaltung können dann einigermaßen verläßlich abschätzen, ob das BVerfG auf die Verfassungswidrigkeit einer Gesetzesnorm hin in Gestalt einer Nichtigkeitserklärung, einer Unvereinbarkeitserklärung mit Ex-tunc- oder Ex-nunc-Reformpflicht, einer Unvereinbarkeitserklärung mit oder ohne Fristsetzung bzw. mit oder ohne Übergangsregelung oder einer Appellentscheidung mit oder ohne Fristsetzung reagiert. Wenn der Entscheidungsausspruch des BVerfG nicht zu einem unkalkulierbaren Lotteriespiel werden soll, bedarf es einer nachvollziehbaren Dogmatik.“635

Eben in diesem Sinn muss die Verwendung der Variation der Entscheidungswirkungen selbst dem Rechtssicherheitsprinzip entsprechen. Dies wird jedoch nur der Fall sein, wenn der Oberste Bundesgerichtshof nicht nur der Regel treu bleibt und sie nur in wirklich exzeptionellen Fällen überschreitet, sondern mindestens – § 1 (ausdrücklich) begründet, welches die Verfassungsnorm ist, deren Verwendung bei der Aufrechterhaltung der eingetretenen Wirkungen des verfassungswidrigen Akts als Rechtfertigung dient und (ausdrücklich) den Ausschluss der Nichtigkeitsregel ex tunc des verfassungswidrigen Akts rechtfertigt; – § 2 (ausdrücklich) die unabweisbare Notwendigkeit des Ausschlusses der Nichtigkeitsregel ex tunc des verfassungswidrigen Akts zur Aufrechterhaltung des Zustands der Verfassungsmäßigkeit rechtfertigt; 634

ADI Nr. 2.240-7, Plenum, Berichterstatter: Richter Eros Grau, DJ 03. 08. 07. Vgl. zu diesem Thema RTJ 87/758, 89/367, 146/461, 164/506. 635 Roman Seer, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am Beispiel seiner Rechtsprechung zum Steuerrecht, in: NJW 5 (1996), S. 291.

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– § 3 den (urkundengestützten oder, wo möglich, vermutbaren) Nachweis der sich aus der Erklärung der Nichtigkeit ex tunc des verfassungswidrigen Akts ergebenden negativen Wirkungen für den Zustand der Verfassungsmäßigkeit erbringt. Ohne die Einhaltung dieser Vorschriften wird die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nicht minimal berechenbar und damit auch nicht mit dem Rechtssicherheitsprinzip vereinbar sein. Ohne dies verkommen die gerichtlichen Entscheidungen am Ende zu einem „prozessualem Roulette“636 oder einem bloßen „VabanqueSpiel“637. bb) Normative Wirksamkeit: die „Verwirklichungssicherheit“ (1) Einleitende Betrachtungen Rechtssicherheit gibt es nur, wenn das Recht in einem bestimmten Maß fähig ist, tatsächliche Orientierungshilfe zu geben638. Werden die dem Bürger bekannten Normen nicht minimal befolgt, funktioniert die Normkenntnis strenggenommen nicht als Instrument, mit dem der Bürger eine vom Recht angeleitete strategische Planung seiner Zukunft durchführen kann. Daher die Behauptung, dass Wirksamkeit die Bedingung der Rechtssicherheit ist639. Rechtswirksamkeit ist hier nicht als tatsächliche soziale Wirksamkeit verstanden, sondern als Eigenschaft, Rechtsfolgen-in einem höheren oder geringeren Grad, aber in einem bestimmten Grad-zu produzieren640. Die Behauptung, dass Rechtssicherheit von Wirksamkeit abhängt, besagt nicht, dass es nur Vorhersehbarkeit gibt, wenn es auch soziale Wirksamkeit gibt, d. h. wenn die vorhergesehenen Folgen auch tatsächlich zur Anwendung kommen, denn wenn der Einzelne vorab weiß, dass bestimmte Normen nicht regelmäßig von den entscheidenden Organen angewandt werden und damit nicht effektiv wirksam sind, wird er trotzdem – und eben deshalb-fähig sein, die bestimmten Rechtshandlungen oder Tatsachen zugeordnete Folge vorwegzunehmen: überhaupt keine Folge. Ist die Funktionsunfähigkeit der Rechtsordnung punktuell und regelmäßig, hat also der Bürger von diesem Nichtfunktionieren Kenntnis, wird der Berechenbarkeitsgrad der Rechtsordnung nicht geringer, sondern steigt eher an. Gometz behauptet zu 636

Roman Seer, Gewerbesteuer im Visier des Verfassungsgerichts – Anmerkungen zu dem Vorlagebeschluß des FG Niedersachsen vom 24. 6. 1998, in: FR 1998, S. 1022. 637 Ernst Benda / Eckart Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozessrechts, 2. Aufl., Rn. 96. 638 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 218. 639 Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 26; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 44. 640 Eros Roberto Grau, A ordem econômica na Constituição de 1988, 12. Aufl., S. 323; Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Irretroatividade e jurisprudência judicial, in: Ferraz Júnior, Tércio Sampaio / Carrazza, Roque Antônio / Nery Júnior, Nelson (Hrsg.), Efeito ex nunc e as decisões do STF, S. 16.

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treffend, dass der Einzelne in vielen Fällen die Rechtsfolgen eines Akts oder einer Tatsache besser vorhersehen kann, indem er die Information berücksichtigt, dass eine bestimmte Norm, obwohl gültig und relevant für den zur Diskussion stehenden Fall, regelmäßig nicht eingehalten wird. In diesem Fall erhöht die Kenntnis der mangelnden punktuellen Wirksamkeit einer global wirksamen Rechtsordnung den Grad der Vorhersehbarkeit des Einzelnen, sofern die Information über die ausbleibende Wirksamkeit öffentlich und regelmäßig ist641. So paradox dies anmuten mag, ist der Mangel an Wirksamkeit somit ein Instrument der Vorhersehbarkeit. Dieser Mangel an Rechtswirksamkeit kann auch aufgrund einer ausbleibenden Regelung eines Gesetzes eintreten, wenn diese Ausführungsvorschriften für seine Anwendung notwendig ist. Wo die unverzichtbare Ausführungsvorschriften ausbleibt, kann der Bürger vorhersehen, dass die Folgen des nicht geregelten Gesetzes nicht wirksam werden, wodurch paradoxerweise seine Fähigkeit zur Berechnung der Rechtsordnung zunimmt642. Die vorstehenden Bemerkungen verfolgen einerseits den Zweck, deutlich zu machen, dass die hier als Bedingung der Rechtssicherheit beschriebene Rechtswirksamkeit nicht diejenige punktuelle und regelmäßige Rechtswirksamkeit einer spezifischen Rechtsnorm ist, sondern die Rechtswirksamkeit der Rechtsordnung insgesamt, die den Bestand des Rechtsstaats selbst kompromittieren kann643. Rechtswirksamkeit wird hier also als Ko-Aktivität verstanden, als Normativitätsgehalt, wie Carvalho anmerkt644. Andererseits wollen die vorstehenden Bemerkungen nachweisen, dass die hier erörterte Rechtswirksamkeit sich nicht eigentlich auf den Kausalnexus zwischen dem Verhalten der Bürger und dem Norminhalt (soziale Wirksamkeit) und auch nicht auf den psychischen Zustand der Bürger im Hinblick darauf, dass ihr Handeln vom Recht angeleitet wird (psychologische Wirksamkeit) bezieht, sondern stattdessen auf die allgemeine Erwartung der regelmäßigen Wirksamkeit des gültigen Rechts645. Genauer formuliert: die hier erörterte Rechtswirksamkeit bezieht sich auf die abstrakt in einer gegebenen Rechtsordnung vorgesehenen Bedingungen, nämlichals Existenz einer Gerichtsbarkeit, die durch vorab abstrakt festgelegte prozessrechtliche Instrumente zugänglich ist und aus Richtern besteht, die mit bestimmten ebenfalls abstrakt festgelegten Prärogativen ausgestattet sind, die ihrerseits eine regelmäßige Wirksamkeit des Rechts zu unterstellen erlauben. Kurz, es handelt sich, im hier festgelegten Sinn, um eine eminent rechtliche Wirksamkeit: nicht um eine Wirksamkeit de facto, sondern um ein auf

641

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 266. Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 129. 643 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 129 sowie 200. 644 Paulo de Barros Carvalho, O princípio da segurança jurídica no campo tributário, in: RDT 94 (o. J.), S. 22. 645 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 46. 642

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rechtliche Bedingungen gegründetes Streben nach Wirksamkeit646. Diese recht­ lichen Bedingungen können sich sowohl auf Normen beziehen, die den Modus der Anwendung anderer Normen betreffen, als auch auf Normen oder Institute, welche die Anwendung anderer Normen schützen. Torres hat Recht, wenn er behauptet, dass die Rechtssicherheit selbst die prinzipienbezogenen prozessrechtlichen und institutionellen Garantien erfasst, die in der Verfassung aufgezählt sind647. Ihnen werden wir uns nun zuwenden. (2) Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz Von Rechtssicherheit als Verlässlichkeit des Rechts kann man dann sprechen, wenn der Bürger Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Verfahren hat. Eben deshalb hat die CF/88 gewährleistet, dass „niemand ohne ordnungsgemäßes Verfahren der Freiheit oder seiner Güter beraubt wird“ (LIV)648. Das ordnungsgemäße Verfahren ist die prozedurale Widerspiegelung der Positivierung der Grundrechte selbst: die Zuweisung eines Rechts setzt die Zuweisung der Mittel zu seinem Schutz voraus. Wer den Zweck gibt, gibt auch das Mittel. Ein subjektives Recht ohne Verfahren wäre ein bloßer flatus vocis des Gesetzgebers649. Trotzdem hat die CF/88 ausdrücklich das ordnungsgemäße Verfahren als die Matrix statuiert, die implizite Instrumente zum Schutz der Grundrechte erzeugt. Sie hat darüberhinaus noch ausdrücklich verschiedene ihrer Korollarsätze eingeführt, wie das Verbot von Sondergerichten und den Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 5 XXXVII und LIII), die Gleichheit (Art. 5, Obersatz), in deren Bereich die Waffengleichheit, der Anspruch auf rechtliches Gehör und die umfassende Verteidigung mit allen ihr zugehörigen Mitteln und Behelfen (Art. 5 LV) gehören, also die Unzulässigkeit der mit rechtswidrigen Mitteln erlangten Beweise (Art. 5 LVI) und die Begründung der Entscheidungen (Art. 94 IX)650. Damit hat die Verfassung vorab eventuelle Konflikte geregelt und die diesbezüglichen Garantien verstärkt. Man bemerke, dass diese Regelung der prozessualen Grundrechte entgegen dem ersten Anschein eine Stärkung eben dieser Rechte bewirkt. Die Bezeichnung der Garantien als Prinzipien, als horizontaler Abwägung bedürftige Normen würde 646 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., S. 103. 647 Ricardo Lobo Torres, Liberdade, Segurança e Justiça, in: Carvalho, Paulo de Barros (Hrsg.), Justiça tributária, S. 687. 648 Sérgio Luiz Wetzel De Mattos, Devido processo legal e proteção de direitos, S. 202 ff.; Michael Koch, Die Grundsätze des intertemporalen Rechts im Verwaltungsprozess – Vertrauensschutz im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, S. 110. 649 Ronnie Preuss Duarte, Garantia de acesso à Justiça. Os Direitos Processuais Fundamentais, S. 17. 650 Carlos Alberto Alvaro de Oliveira, Do Formalismo no Processo Civil, 3. Aufl., S. 80 sowie 102 ff.; Carlos Alberto Alvaro de Oliveira, O formalismo-valorativo no confronto com o formalismo excessivo, in: Revista Forense 15 (o. J.), Sonderdruck, S. 11–28.

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auf ihre capitis diminutio hinauslaufen, auf die Nichtberücksichtigung ihres privilegierten Status in der Verfassungsordnung651. Für das hier zu erörternde Thema kommt es darauf an, dass die CF/88 selbst die Aufgabe übernommen hat, „ein Rechte gewährleistendes Recht zu gewährleisten“. Anders gewendet hat die Verfassung ein Instrument der Verlässlichkeit der Rechtsordnung eingeführt. Das deutsche Grundgesetz hat auf ähnliche Weise auch das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet und eine Reihe von auf das ordnungsgemäße Verfahren bezogene Garantien festgelegt: Art. 17 gewährleistet das Petitionsrecht als Grundrecht, Art. 19 Abs. 4 den Rechtsweg für alle Personen, die durch die öffentliche Gewalt in ihren Rechten verletzt worden sind, Art. 101 Abs. 1 den gesetzlichen Richter und Art. 103 führt als grundgleiche Rechte vor den Gerichten den Anspruch auf rechtliches Gehör Abs. 1), das Rückwirkungsverbot im Strafrecht Abs. 2) und ne bis in idem Abs. 3) an. (3) Prämissen des gerichtlichen Rechtsschutzes (a) Institutionneller Art Das Recht auf Verteidigung hängt von der Existenz institutioneller Bedingungen ab, die seine Verwirklichung im Allgemeinen ermöglichen können. Diese notwendigen Bedingungen sind dreifacher Art: eine unabhängige Gerichtsbarkeit, der Zugang zu ihr und die universelle Gerichtsbarkeit652. Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist implicite im Gewaltenteilungsprinzip statuiert (Art. 2) sowie durch ihre verwaltungsmäßige und finanzielle Unabhängigkeit gewährleistet (Art. 99). Diese Bestimmungen stellen organisationsbezogene Bedingungen bereit, welche die Fähigkeit der Gerichtsbarkeit, der Verfassungsordnung „Geltung zu verschaffen“, vorauszusetzen erlauben. Im deutschen Grundgesetz ist die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit durch Art. 97 Abs. 1 gewährleistet worden: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“ Der Zugang zur Gerichtsbarkeit ist gleichfalls eine unverzichtbare Bedingung der Wirksamkeit der Rechtsordnung653. Eben deshalb hat die Bundesverfassung einerseits allen Bürgern (Art. 5) unabhängig von der Zahlung von Gebühren (Art. 5 XXXIV) das Recht auf Antragstellung an die staatlichen Gewalten zur Verteidigung von Rechten oder gegen Gesetzwidrigkeit oder Machtmissbrauch 651

Ronnie Preuss Duarte, Garantia de acesso à Justiça. Os Direitos Processuais Fundamentais, S. 96. 652 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 453; Leandro Paulsen, Segurança jurídica, certeza do Direito e tributação, S. 60. 653 Joseph Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, S. 217.

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(Art. 5 XXXIV Buchstabe a) gewährleistet, ebenso die Erteilung von beglaubigten Abschriften in Behörden zur Wahrnehmung von Rechten und Aufklärung von Situationen des persönlichen Interesses (Art. 5 XXXIV Buchstabe b). Und für diejenigen, die finanziell dazu nicht in der Lage sind, hat die CF/88 festgelegt, dass „der Staat den Bürgern, die den Nachweis ihrer Mittellosigkeit erbringen, vollständige und kostenfreie Rechtsberatung gewähren wird“ (LXXIV). Im deutschen Grundgesetz ist der Zugang zur Gerichtsbarkeit durch Art. 19 Abs. 4 gewährleistet worden: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ Die Gerichtsbarkeit muss nicht nur zugänglich sein. Sie darf sich nicht ihrer Pflicht entziehen, eine Entscheidung über jegliche Art der Verletzung oder Bedrohung eines Rechts zu fällen (Art. 5 XXXV). Kein Gesetz und kein Verwaltungsakt dürfen Hürden zur Erkenntnis und Judizierung einer Frage aufbauen, welche die Konkretisierung der in der Verfassung vorgesehenen Rechte beeinflussen kann. Das deutsche Grundgesetz kennt keine ausdrückliche Gewährleistung der Universalität der Gerichtsbarkeit. Sie kann jedoch abgeleitet werden, insofern der Zugang zur Gerichtsbarkeit im Fall der Verletzung von Rechten als Grundrecht in Kap. I (Art. 19 Abs. 4) gewährleistet worden ist. Diese beiden Garantien des Zugangs zur Gerichtsbarkeit und der universellen Gerichtsbarkeit funktionieren als Mittel dazu, dass der Inhalt der allgemeinen und abstrakten Regeln die Chance der institutionellen Konkretisierung erhält, falls er nicht spontan befolgt wird. Wenn wir nun berücksichtigen, dass die Rechtssicherheit den Zustand der Verlässlichkeit des Rechts erfordert, so dass der Bürger ohne Enttäuschung und Überraschung, in Freiheit und Autonomie die rechtlichen Wirkungen der in der Vergangenheit ausgeübten Freiheit sicherstellen kann, muss er in der Lage sein, dafür zu sorgen, dass seine gestern rechtskonform ausgeübte Freiheit heute respektiert wird. Damit dies eintritt, muss es institutionalisierte Verfahren geben, die in der Vergangenheit ausgeübte Rechte gewährleisten können. Daher die Unverzichtbarkeit der Garantien des Zugangs zur Gerichtsbarkeit und der universellen Gerichtsbarkeit: ohne die Existenz einer zur Gewährleistung von Rechten institutionalisierten und unabhängigen Gewalt gibt es keine minimale Verlässlichkeit des Rechts als institutionelle Fähigkeit des Rechts zur Gewährleistung von Rechtsansprüchen und Erwartungen; wenn aber, selbst wo es diese Gewalt gibt, die Universalität des Zugangs aller aufgrund jeglicher Verletzung oder Bedrohung eines Rechts nicht besteht, gibt es auch keine minimalen Bedingungen zum Schutz der Rechtsansprüche und Erwartungen. Diese Bemerkungen wollen nur die wesensmäßige Beziehung zwischen dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit und dem Rechtssicherheitsprinzip zeigen: jenes ist die institutionelle Voraussetzung der Existenz dieses; umgekehrt ist dieses die normative Voraussetzung der Existenz jenes.

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(b) Prozessrechtlicher Art Neben den institutionellen Voraussetzungen müssen die prozessrechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Erstens muss es einen gesetzlichen Richter geben. Existiert der Richter nicht schon vor dem zu judizierenden Fall, liegen die allgemeinen Bedingungen zur tatsächlichen Gewährleistung der Rechte nicht vor. Eben deshalb hat die CF/88 unter den individuellen Rechten und Garantien in Art. 5 festgelegt, dass „es kein Ausnahmengericht oder Sondergericht geben“ wird (XXXVII) und dass „niemand belangt noch verurteilt werden wird, es sei denn durch die zuständige Justizbehörde“ (LIII)654. Das deutsche Grundgesetz hat gleichfalls das Recht auf den gesetzlichen Richter gewährleistet (Art. 101 Abs. 1) und Sondergerichte für unzulässig erklärt (ebda.). Zweitens muss der Richter unparteilich sein, d. h. über Eigenschaften verfügen, deren Vorliegen seinen gleich großen Abstand zu den Interessen der Parteien vermuten lässt. Zu diesem Zweck statuiert die Verfassung erstens den Eintritt in die Richterlaufbahn über eine öffentliche Prüfung (Art. 93). Zweitens sieht sie eine Reihe von Garantien für die Richter vor, um ihre Unabhängigkeit zu fördern: die Ernennung auf Lebenszeit, die Unabsetzbarkeit und die Nichtreduzierbarkeit ihrer Gehälter (Art. 95). Drittens statuiert sie Verbote, um das Risiko der Parteilichkeit auszuschließen, wie etwa das Verbot, selbst im Fall der Verfügbarkeit ein anderes Amt oder eine andere Funktion wahrzunehmen, mit Ausnahme der Lehrtätigkeit, das Verbot, aus irgendeinem Grund oder unter irgendeinem Vorwand Kosten oder Prozessbeteiligung zu erhalten, das Verbot der parteipolitischen Tätigkeit, das Verbot, aus irgendeinem Grund oder unter irgendeinem Vorwand Hilfsleistungen oder Beiträge von natürlichen Personen und öffentlich- oder privatrechtlichen Personen zu erhalten, vorbehaltlich der gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen, das Verbot, eine anwaltliche Tätigkeit vor dem Gericht, das sie verlassen haben, vor Ablauf von drei Jahren nach Übergabe des Amts wegen Verrentung oder Entbindung auszuüben (Art. 95, einziger Paragraf). Die Summe dieser Bestimmungen erlaubt im Allgemeinen die Unterstellung der Unparteilichkeit der Richter, dessen Existenz die tatsächliche Gewährleistung der Rechte ermöglicht. Das deutsche Grundgesetz statuiert auf ähnliche Weise eine Reihe von Garantien, um die Unabhängigkeit des Richters zu fördern, wie die prinzipielle Unabhängigkeit, die Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit und die ausschließliche Unterwerfung unter das Gesetz (Art. 97 Abs. 1 f.). Drittens müssen prozessuale Akte Gegenstand einer Bekanntgabe vorgehen und Gerichtssitzungen öffentlich sein. Wenn diese Bedingungen nicht vorliegen, kann der Bürger sich strenggenommen nicht verteidigen655. Die CF/88 statuiert im Hin 654

Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 454; Sérgio Luiz Wetzel De Mattos, Devido processo legal e proteção de direitos, S. 218 ff.; Thomas Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter, S. 26 ff. sowie 203 ff. 655 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 464.

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blick auf diesen Aspekt, dass Gerichtssitzungen öffentlich sein müssen (Art. 93 IX), so wie sie auch die Regel der Öffentlichkeit prozessualer Akte vorsieht, die nur dann eingeschränkt werden kann, wenn der Schutz der Intimsphäre oder das gesellschaftliche Interesse dies erfordern (Art. 5 LX). Aus diesem Grund hat die CF/88 auch in Art. 37 die Öffentlichkeit als allgemeines Prinzip der Verwaltung vorgesehen. Ohne dass die Parteien über die im Verfahren ergangenen Akte und über seine Elemente informiert werden, können sie sich nicht zu den Sach- und Rechtsfragen des Verhaltens äußern und können ihre Argumente auch nicht berücksichtigt werden. Aus diesem Grund hat Art. 2 V des Gesetzes Nr. 9.784/99 die Bekanntmachung von Verwaltungsakten von Amts wegen gefordert, vorbehaltlich der in der Verfassung vorgesehenen Geheimhaltungspflichten; Art. 3 II hat dem Gegenüber der Verwaltung das Recht gewährleistet, von der Bearbeitung der Verwaltungsakte, an denen er interessiert ist, Kenntnis zu erlangen, Einsicht in die Akten zu nehmen, Kopien der in ihnen enthaltenen Urkunden zu erhalten und von den gefällten Entscheidungen in Kenntnis gesetzt zu werden; und Art. 26 hat die Erfordernisse der Gültigkeit der Ladung in Einzelheiten geregelt. Das deutsche Grundgesetz enthält keine vergleichbare Bestimmung. Viertens müssen Entscheidungen ordnungsgemäß begründet, d. h. rational und in Befolgung der Rechtsordnung konstruiert und geschrieben werden656. In diesem Sinn hat die CF/88 statuiert, dass „alle Sitzungen der Justizorgane öffentlich sind und alle Entscheidungen begründet werden, bei Strafe ihrer Nichtigkeit, wobei das Gesetz bei bestimmten Akten diese Öffentlichkeit auf die Anwesenheit der Parteien selbst und ihrer Anwälte oder nur der Letztgenannten in den Fällen beschränken kann, in denen die Erhaltung des Rechts der an der Geheimhaltung interessierten Person auf Schutz ihrer Intimsphäre das öffentliche Interesse an der Information nicht schädigt“ (Art. 93, IX), und dass „Verwaltungsentscheidungen der Gerichte begründet und öffentlich verkündet werden, wobei Disziplinarentscheidungen nur mit der absoluten Mehrheit der Gerichtsmitglieder zu treffen sind“ (Art. 93, X). Aus diesem Grund hat Art. 2 des Gesetzes Nr. 9.784/99 unter den prozessrechtlichen Prinzipien das Prinzip der Begründungspflicht statuiert und Abschnitt VII desselben Artikels die Angabe der die Entscheidung tragenden sachlichen und rechtlichen Voraussetzungen gefordert. Als ob das nicht ausreichen würde, hat Art. 50 des genannten Gesetzes die Begründungspflicht in Einzelheiten geregelt und in § 1 statuiert, dass die Begründung explizit, klar und kongruent sein muss und aus der Erklärung der Übereinstimmung mit den Gründen vorheriger Gutachten, Informationen, Entscheidungen oder Vorschlägen bestehen kann, die in diesem Fall untrennbarer Bestandteil des Akts sind. Es gibt keine ausdrückliche allgemeine Garantie der Begründung richterlicher Entscheidungen im deutschen

656

Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 486; José Carlos Vieira de Andrade, O dever de fundamentação expressa dos actos administrativos, S. 228 ff.; Joaquín Álvarez Martínez, La motivación de los actos tributarios, S. 29 ff.; Ralph Christensen / Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, S. 55 ff. sowie 430 ff.

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Grundgesetz, aber Art. 104 Abs. 3 gewährleistet das Recht, dass der richterliche Haftbefehl die Gründe der Festnahme angibt. Fünftens sind das Recht auf Anhörung aller beteiligten Parteien und die umfassende Verteidigung zu gewährleisten. Ohne dass der Bürger den Argumenten der Parteien widersprechen kann und ohne dass er sich aller Mittel zu seiner Verteidigung bedienen kann, kann man strenggenommen nicht von einem Grundrecht auf Verteidigung sprechen. In diesem Sinn bestimmt die CF/88 in Art. 5 LV, dass „den Prozessparteien in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren und den Angeklagten generell das rechtliche Gehör und das Recht auf umfassende Verteidigung mit den dazugehörigen Mitteln und Rechtsbehelfen gewährleistet werden“. Hierzu gehören das Recht auf Einreichung von Stellungnahmen und Vorlage von Beweisen und das Recht auf angemessene Berücksichtigung dieser Stellungnahmen und Beweise durch den Richter. Aus eben diesem Grund hat die CF/88 auch dafür gesorgt, dass im Verfahren die mit rechtswidrigen Mitteln erlangten Beweise nicht zugelassen werden (Art. 5 LVI). Art. 3 II des Gesetzes Nr. 9.784/99 hat auf dieser Linie dem Beteiligten des Verwaltungsverfahrens das Recht gewährleistet, vor der Entscheidung Argumente vorzubringen und Urkunden vorzulegen, die von der zuständigen Behörde zu berücksichtigen sind. Das ordnungsgemäße Verfahren wurde auch in deutschen Grundgesetz gewährleistet: Art. 17 statuiert das Petitionsrecht als Grundrecht, Art. 19 Abs. 4 den Rechtsweg für alle Personen, die in ihren Rechten durch die öffentliche Gewalt verletzt worden sind, Art. 101 Abs. 1 den gesetzlichen Richter und Art. 103 als grundrechtsgleiches Recht vor den Gerichten das rechtliche Gehör (§ 1), das Rückwirkungsverbot im Strafrecht (§ 2) und ne bis in idem (§ 3). Wie ersichtlich sind alle bisher untersuchten Erfordernisse durch Verfassungsregeln vorgesehen. Obwohl sie alle als Implikationen des Grundrechts auf Recht der Petition an die staatlichen Gewalten oder als logische Implikation der Grundrechte selbst rekonstruiert werden konnten, hat die CF/88 diese Erfordernisse ausdrücklich geregelt, um nicht einmal den geringsten Zweifel daran aufkommen zu lassen. Sie hat somit die Anwendung dieser Garantien gestärkt: sie können nicht durch horizontale Abwägung zum Zweck ihrer Flexibilisierung aufgrund unterschiedlicher, wenngleich auch öffentlicher Interessen ausgeschlossen werden. Hier hat die CF/88 sich wieder einmal für ein System der Vorhersehbarkeit entschieden. Um aber zu vermeiden, dass die Festlegung einiger Garantien nicht beispielhaft erfolgt, sondern endgültig, hat die CF/88 selbst, wie wir schon gesehen haben, gewährleistet, „dass niemand seiner Freiheit oder seiner Güter ohne ein ordnungsgemäßes Verfahren beraubt wird“ (LIV). Dies bedeutet, dass alle für die Effektivität des Verteidigungsrechts notwendigen Mittel zu gewährleisten sind, selbst wenn sie nicht ausdrücklich von der Verfassung vorgesehen sind. So hat die Verfassung neben den Garantien des Zugangs zur Gerichtsbarkeit, des Petitionsrechts, des gesetzlichen und unparteilichen Richters und der Öffentlichkeit und Begründung aller prozessualen Akte auch alle anderen Garantien gewährleistet, die durch Im-

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plikation als für die Verteidigung konkret notwendig erscheinen, selbst wenn sie abstrakt nicht vorgesehen sind. Um keinen Zweifel an der nur exemplarischen Aufzählung der Garantien, die oft mit ihrer endgültigen Festlegung verwechselt wird, aufkommen zu lassen, hat die CF/88 ausdrücklich das ordnungsgemäße Verfahren als Matrix vorgesehen, die andere nicht ausdrückliche Garantien erzeugt. Man darf sagen, dass das deutsche Grundgesetz wie die CF/88 eine Reihe von Regeln statuiert hat, die an die prozessualen Bedingungen des gerichtlichen Rechtsschutzes gebunden sind, auch wenn diese als Implikationen des Grundrechts auf Petition (Art. 17) oder selbst als logische Implikationen der Grundrechte selbst rekonstruiert werden könnten. Man sieht also, dass auch in der deutschen Rechtsordnung diese Garantien nicht durch horizontale Abwägung mit unterschiedlichen Interessen ausgeschlossen werden können. (4) Instrumente des gerichtlichen Rechtsschutzes Damit die vorgesehenen Rechte auch gewährleistet werden, ist die Vorlage der institutionellen und prozessualen Bedingungen nicht ausreichend. Der Bürger muss gleichfalls über die prozessrechtlichen Instrumente zur Verteidigung seiner sowohl präventiven als auch repressiven Rechte verfügen. In diesem Sinn hat die CF/88 einerseits den gerichtlichen Unterlassungsbefehl „zum Schutz unanfechtbarer Rechtsansprüche, die nicht durch ‚Habeas corpus‘ oder ‚Habeas data‘ geschützt sind, wenn der Verantwortliche für die Gesetzwidrigkeit oder den Machtmissbrauch eine staatliche Behörde oder der Agent einer juristischen Person in Ausübung von Staatsbefugnissen ist“ (LXIX), vorgesehen. Andererseits hat sie das Interjunktionsmandat bzw. den gerichtlichen Anordnungsbefehl (mandado de injunção) für die Fälle gewährleistet, in denen „das Fehlen einer Regelungsnorm die Ausübung der von der Verfassung verbrieften Rechte und Freiheiten und der der Staatsangehörigkeit, der Souveränität und dem Staatsbürger­ status zugehörigen Prärogativen unmöglich macht“ (LXXV). Als prozessuales Schutzinstrument im deutschen Grundgesetz können wir das Recht nennen dass bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen ist (Art. 104 Abs. 2). Im Hinblick auf das hier erörtete Thema kommt es nur darauf an, dass diese Verteidigungsinstrumente die allgemeinen Bedingungen dafür abgeben, dass der Bürger im Allgemeinen und der Steuerzahler im Besonderen die Effektivität ihrer Rechte durch die Gerichtsbarkeit gewährleisten können. Wie Carrazza bemerkt, hat die Verfassung nicht nur Grundrechte gewährt, sondern auch Mittel vorgesehen, um sie zu gewährleisten657. Wenn Verlässlichkeit der Forderung entspricht, dass die gestern ausgeübte Freiheit heute respektiert wird, kann man ohne das 657

Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 434.

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Vorliegen institutioneller und prozessualer Bedingungen zur Gewährleistung von Rechtsansprüchen nicht von Rechtssicherheit sprechen. Bis zu diesem Punkt sind die Existenzbedingungen der vergangenheitsbezogenen Rechtssicherheit, d. h. die Erfordernisse der Achtung der in der Vergangenheit ausgeübten Freiheit untersucht worden. Jetzt sind die Existenzbedingungen der zukunftsbezogenen Rechtssicherheit zu prüfen. Zu prüfen ist also in anderen Worten, welche Elemente auf jeden Fall vorliegen müssen, damit man morgen die gestern ausgeübte Freiheit als vom Recht respektiert ansehen kann. Es handelt sich, wie Arcos Ramírez betont hat658, darum, die Bedeutung der Vergangenheit für die aus der Gegenwart erfolgende Voraussicht der Zukunft nachzuweisen. c) Normative Berechenbarkeit und das Problem des Wandels: „Sicherheit des Übergangs von der Gegenwart in die Zunkuft“ durch Vorzeitigkeit, Kontinuität und normative Bindungswirkung aa) Einleitende Betrachtungen Das Paradigma der Rechtssicherheit als Inhaltsgewissheit führt zum Verständnis seiner zukünftigen Dimension als absoluter Vorhersehbarkeit. Sicher ist das Recht, das vorweggenommen werden kann. Es läge vor, wenn der Bürger als Steuerzahler exakt die zukünftigen Folgen seiner gegenwärtig verübten Akte vorhersehen könnte. Dieses Verständnis geht allerdings von Voraussetzungen aus, die schon im ersten Teil dieser Arbeit ausgeschlossen worden sind, denn da das Recht von Argumentationsprozessen abhängt, ist absolute Voraussicht unerreichbar. Man pflegt nicht ohne ein Gramm Ironie zu sagen, dass die Voraussage, vor allem der Zukunft, schwierig ist bzw. dass nur derjenige Gewissheit hat, der schlecht informiert ist, eben deshalb, um diese Unmöglichkeit zu veranschaulichen. Statt Vorhersehbarkeit erfordert Rechtssicherheit also die Verwirklichung eines Zustands der Berechen­ barkeit. Berechenbarkeit bezeichnet die Fähigkeit des Bürgers, vom Recht Tatsachen oder Rechtshandlungen (der Begehung oder Unterlassung, der eigenen Person oder von Dritten) zuweisbare alternative Folgen vorwegzunehmen, so dass die tatsächlich in der Zukunft angewandte Folge sich im Rahmen der in der Gegenwart reduzierten und antizipierten Alternativen hält. Ihre Voraussage ist dann gelungen, wenn die getroffene Entscheidung sich in die antizipierbaren Auslegungsalternativen und die abstrakt durch Kriterien und argumentative Strukturen vorausgesehenen und verifizierbaren Folgen einfügt. Da Berechenbarkeit an die Verwirklichung der Rechte der Freiheit und der Würde gebunden ist, muss sie die Fähigkeit des Bürgers beinhalten, die Handlungs 658

Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 38.

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linien so zu erkennen, dass er in Autonomie und Verantwortung das wählen kann, was er tun wird. Eben deshalb bezieht sich die Berechenbarkeit auf die Fähigkeit des Bürgers, die möglichen Bedeutungen der von ihm zu befolgenden Norm zu erkennen und die Konkretisierung zu kontrollieren, die diese Norm von der Exekutive und Judikative erfährt, und zwar nicht nur in Bezug auf die effektive Reaktion der Entscheidungsorgane auf vorgenommene Akte oder eingetretene Sachverhalte, sondern auch in Bezug auf ihre vermutbare Reaktion, falls diese Organe die Befugnis erhielten, über Akte zu entscheiden, die hätten verübt werden können, oder über Sachverhalte, die hätten eintreten können. Aus diesem Grund erfordert die Berechenbarkeit eine bestimmte Reichweite und Tiefe659. Die quantitative Tiefe oder vertikale Dimension der Antizipation bezieht sich auf die Effektivität, Genauigkeit und Reichweite zum Zeitpunkt der Voraussicht. Ein hoher Grad an Berechenbarkeit zukünftiger normativer Folgen besteht dann, wenn der Einzelne imstande ist, eine reduzierte Anzahl verständlicher Folgen innerhalb eines zumutbaren Zeitraums festzustellen. Unter zumutbarem Zeitraum wird die Zeitspanne verstanden, in der eine Entscheidung über die Durchführung einer rechtsgeleiteten strategischen Handlungsplanung getroffen werden kann. Die Reichweite oder horizontale Dimension der Antizipation bezieht sich auf die Verbreitung der Sicherheit in einer bestimmten Klasse von Antizipatoren. Ein hoher Grad an Berechenbarkeit der zukünftigen normativen Folgen besteht dann, wenn die meisten Steuerzahler in der Lage sind, die besagte reduzierte Anzahl verständlicher Folgen innerhalb eines zumutbaren Zeitraums festzustellen. Berechenbarkeit wurde als Fähigkeit definiert, das Spektrum der Folgen vorwegzunehmen, die alternativ auf Rechtshandlungen oder Tatsachen anwendbar sind, sowie das Spektrum der Zeit, in der die Folge tatsächlich eintritt. Berücksichtigt man, dass Berechenbarkeit als partielles Element der Rechtssicherheit ein Instrument ist, um das Individuum zur Planung und zum Entwurf seiner Zukunft und damit zur Erweiterung seines freien Handlungsspielraums zu befähigen, darf das Spektrum der Rechtshandlungen oder Tatsachen zuweisbaren normativen Folgen nicht sehr breit sein, dürfen die Alternativen nicht sehr auseinanderdriften und darf das Zeitspektrum, in dem eine Bestätigung der anwendbaren Folge eintreten wird, ebenfalls nicht sehr breit sein660, da der Einzelne bei unberechenbaren sehr unterschiedlichen Folgen nicht in der Lage ist, eine juristisch informierte Planung seiner Zukunft in Freiheit und Autonomie durchzuführen. Stehen sehr unterschiedliche Alternativen bereit, wird der Steuerzahler im Fall des Eintritts irgendeiner Alternative nicht nur überrascht, sondern intensiv überrascht werden. Das Wesentliche in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die Verfassung, wie Ataliba hervorhebt, ein radikal überraschungsfeindliches Klima geschaffen hat, in dem die Vorhersehbarkeit eines der großen Ziele der Verfassung ist661. 659

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 13 sowie 205 ff. Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 232. 661 Geraldo Ataliba, República e Constituição, 2. Aufl., S. 173. 660

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Berechenbarkeit ist also als ein Zustand zu bestimmen, in dem der Bürger weitgehend imstande ist, zu antizipieren und das eingeengte und wenig variable Spektrum der eigenen oder fremden Rechtshandlungen oder Tatsachen abstrakt zuweisbaren Folgen und das eingeengte Zeitspektrum, in dem die endgültige Folge zur Anwendung kommt, zu ermessen. Ebendeshalb können die Mittel eingegrenzt werden, die zur Förderung der Berechenbarkeit der Rechtsordnung notwendig sind. Damit der Steuerzahler imstande ist, die reduzierte Anzahl verständlicher Folgen innerhalb eines zumutbaren Zeitraums vorwegzunehmen, die vom Recht eigenen oder fremden Tatsachen oder Handlungen des Tuns oder Unterlassens zuweisbar sind, so dass die in der Zukunft tatsächlich angewandte Folge sich in die reduzierten und vorhergesehenen Alternativen einfügt, müssen die Veränderungen antizipierbar sein bzw. dürfen sie nicht plötzlich eintreten und müssen sie sich an Parameter halten, von denen die Staatsgewalten sich nicht entfernen dürfen. Anders gewendet, wird es nur Berechenbarkeit geben, wenn es Vorzeitigkeit, Kontinuität und Bindungscharakter gibt. Alle diese Elemente beziehen sich auf die Vergangenheit und Zukunft verbindende Zeitdauer und machen die Vergangenheit (das, was nicht mehr ist) zu einer interessanten Angelegenheit und die Zukunft (das, was noch nocht eingetreten ist) zu einer Forderung662. Ein interessantes Problem besteht darin, zu wissen, ob Normen bzw. die Rechtsordnung oder gerichtliche Entscheidungen berechenbar sein müssen. Die Definition des Gegenstands der Berechenbarkeit hängt von einer semantischen Übereinkunft ab: entscheidend ist immer der Brennpunkt der Analyse. Gerichtliche Entscheidungen werden in einem Gewaltenteilungssystem nur über vorgängig existierende Normtexte gefällt, zu denen sich minimale Normbedeutungen rekonstruieren lassen. Anders gewendet, beziehen gerichtliche Entscheidungen sich auf vorherige abstrakte Normen. Wenn dem so ist, kann man sowohl behaupten, dass der Gegenstand der Berechenbarkeit die Normen sind-deren endgültigen, von der Judikative zu erklärenden Inhalt der Bürger als einen der Inhalte im Rahmen der Auslegungsalternativen der Rechtsnorm vorhersehen können muss  –, als auch, dass der Gegenstand der Berechenbarkeit die gerichtlichen Entscheidungen sind, deren Inhalt den in der Rechtsnorm vorgesehenen hermeneutischen Möglichkeiten zu entsprechen hat. Es ist ersichtlich eine Frage der Vereinbarung: Berechenbarkeit lässt sich sowohl von Entscheidungen als auch von Normen behaupten, da beide koimpliziert sind.

662 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Anterioridade e irretroatividade no campo tributário, in: RDDT 56 (2001), S. 125.

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bb) Normative Vorzeitigkeit: die „Sicherheit der Wirksamkeit“ durch die Vertagung der Wirkungen (1) Vorzeitigkeit des Finanzjahrs Die CF/88 statuiert in Art. 150 III b, dass die Steuern nicht im selben Finanzjahr erhoben werden dürfen, in dem das sie einführende oder erhöhende Gesetz erlassen worden ist. Diese Regel gewährleistet die Antizipation des Normwandels oder zumindest seine Berechenbarkeit, da sie dazu beiträgt, dass die Steuerzahler mit der Möglichkeit eines Wandels am Ende des Finanzjahrs rechnen können. Man sagt dies, da die Vorzeitigkeitsregel die Antizipation um nur einen Tag des Zeitpunkts der Erhebung einer neuen Abgabe bedeuten kann, falls das diese Abgabe einführende oder erhöhende Gesetz am Ende des Finanzjahrs erlassen wird. Wenn die Regel in diesem Fall nicht die Antizipation dessen, was angewandt wird, gewährleistet, ermöglicht sie zumindest die Voraussicht dessen, was geändert werden kann. Sie gewährleistet keine Vorhersehbarkeit, bietet aber Berechenbarkeit an, die, wenn sie schon die Ungewissheit nicht eliminiert, zumindest die Überraschung vermeidet663. Hier ist jedoch hervorzuheben, dass die Idee der Vorzeitigkeit an die Vorstellung von Dauer gebunden ist: die Schutzmaßnahme gegen die Überraschung erfordert die Periodizität, um der Gegenwart eine gewisse Konsistenz zu erlauben. Die Forderung der Vorzeitigkeit periodisiert also die Zeit und verleiht ihr die Bedeutung einer Einheit, indem sie, gemäß der scharfsinnigen Beobachtung von Ferraz Júnior, die in ihr stattfindenden Ereignisse gegen in der Periode stattfindende Gesetzesänderungen schützt664. Ataliba schließt gleichfalls aufgrund der Vorzeitigkeitsforderung die Besteuerung aller Tatsachen aus, die während eines bestimmten Zeitraums eingetreten sind, wenn auch vor dem Zeitpunkt der Steuertatbestandsbildung, indem er, da mit dem Rechtssicherheitsprinzip unvereinbar, auf technische Spitzfindigkeiten gestützte Auslegungen ausschließt, in dem Sinn, dass der Steuertatbestand nicht eingetreten sei665. Die Bedeutung der Vorzeitigkeitsregel war schon Gegenstand eines Verfahrens vor dem Obersten Bundesgerichtshof. 1993 wurde die Verfassungsänderung Nr. 3 veröffentlicht, welche die Befugnis des Bundes zur Einführung der Steuer über Finanzbewegungen vorsah. Sie hat allerdings in Art. 2 Abs. 2 statuiert, dass hinsichtlich der Steuer Art. 150 III b der CF/88 nicht zur Anwendung komme. Im gleichen Jahr wurde das Ergänzungsgesetz Nr. 77 erlassen, das die genannte Steuer einführte. Ihre Erhebung wurde jedoch für das laufende Finanzjahr vorgesehen. Aus diesem Grund hat der Oberste Bundesgerichtshof einerseits die Verfassungs 663

Francisco Pinto Rabello Filho, O princípio da anterioridade da lei tributária, S. 83; Ricardo Lodi Ribeiro, A segurança jurídica do contribuinte, S. 211. 664 Tércio Sampaio Ferraz Júnior, Anterioridade e irretroatividade no campo tributário, in: RDDT 56 (2001), S. 125. 665 Geraldo Ataliba, Segurança do Direito, tributação e anterioridade, in: RDT 27/28 (1984), S. 71.

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widrigkeit der Verfassungsänderung selbst wegen Verletzung des Verbots der Ände­r ung von Ewigkeitsklauseln (Art. 60 Abs. 4) erklärt, unter die er die Gewährleistung der Vorzeitigkeit des Finanzjahrs aufnahm. Andererseits hat er auch die Verfassungswidrigkeit des Ergänzungsgesetzes Nr. 77/93 erklärt, und zwar ohne Textreduktion, an dem Punkt, an dem das Gesetz die Erhebung der Steuer im selben Jahr verfügt hatte (Art. 28)666. Besondere Aufmerksamkeit verdient neben anderen Aspekten, die man an diesem Verfahren hervorheben könnte, die Berücksichtigung der Vorzeitigkeitsregel als Gegenstand der Ewigkeitsklausel, die durch die in der CF/88 in Art. 60 Abs. 4 statuierte materiale Unantastbarkeit geschützt ist. Da die Vorzeitigkeit eine in Art. 150 III b vorgesehene Garantie und da sie ein Instrument der Berechenbarkeit des Rechts ist, funktioniert ihre Berücksichtigung als Ewigkeitsklausel wie eine Form der Zuschreibung unmittelbarer Fundamentalität an die im Verfassungstext statuierten Rechtssicherheitsregeln, wie im Fall der Regeln des Rückwirkungsverbots und der Gesetzmäßigkeit, und als eine Form der Zuschreibung mittelbarer Fundamentalität an die Rechtssicherheit selbst. Der Oberste Bundesgerichtshof hat nicht nur über die Qualifikation der Vorzeitigkeitsregel entschieden, sondern unlängst auch über ihre Reichweite. Bis zur einstweiligen Verfügung in der direkten Klage auf Verfassungswidrigkeit Nr. 2.325 wandte er die im Leitsatz Nr. 615 geäußerte Auffassung an, nach welcher die Rücknahme der Freistellung im Laufe des Finanzjahrs zur sofortigen Erhebung der Abgabe führte, ohne dass ihre Beitreibung bis zum Beginn des auf ihre Einführung oder Erhöhung folgenden Finanzjahrs warten musste. Diese Auffassung ging von der Voraussetzung aus, dass die „Einführung und Erhöhung“ nur dann vorliegt, wenn es eine neue Abgabe oder eine Erhöhung des Satzes gibt, was weder im Fall der Rücknahme einer steuerlichen Vergünstigung noch im Fall der Änderung der Kriterien der Dimensionierung der Bemessung der Gutschriften in nichtkumulativen Steuern der Fall ist. Diese Auffassung wurde aber in der obengenannten direkten Klage aufgegeben, zumindest in der einstweiligen Verfügung667. Bei diesem Verfahren hat das Gericht die durch das Ergänzungsgesetz Nr. 102/00 eingeführten Änderungen geprüft, das Einschränkungen der Gutschriften in Geschäften, die das Anlagevermögen, den Strom und die Fernverbindungen beinhalteten, einführte: im Fall des Anlagevermögens konnte der Steuerzahler während der Geltung des Ergänzungsgesetzes Nr. 97/96 sofort alle sich aus seiner Anschaffung ergebenden Gutschriften nutzen, nach der Änderung des Gesetzes aber nur 1/48 (ein Achtundvierzigstel) pro Monat; im Fall von Geschäften, die Strom und Telefondienste beinhalteten, hatte jeder Steuerzahler während der Geltung des Ergänzungsgesetztes Nr. 87/96 Anspruch auf die Gutschrift der gesamten ihre Anschaffung belastenden Steuer, aber nach Änderung des Gesetzes wurde die Gut 666 667

ADI Nr. 939, Plenum, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, DJ 18. 03. 94. ADI Nr. 2.325 MC, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 06. 10. 2006.

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schrift nur bei Anschaffungen zwecks industrieller Tätigkeit erlaubt. Kurz, obwohl es keine unmittelbare Erhöhung der Steuerlast durch Anhebung des Steuersatzes gegeben hatte, gab es eine mittelbare Erhöhung, da die Einschränkung des Rechts auf Gutschrift zu einer Erhöhung des zu zahlenden Steuerbetrags führte. Aus diesem Grund hat das Gericht einstimmig nach Prüfung der Reichweite der Vorzeitigkeitsregel dem Antrag auf einstweilige Verfügung teilweise stattgegeben, um durch verfassungskonforme Auslegung und ohne Textreduktion die Wirksamkeit von Art. 7 des Ergänzungsgesetzes Nr. 102/00 auszuschließen, im Hinblick auf die Einfügung von Art. 20 Abs. 5 des Ergänzungsgesetzes Nr. 87/96 und die in Art. 33 II des genannten Gesetzes eingeführten Innovationen sowie im Hinblick auf die Einfügung des Abschnitts IV. Obgleich provisorisch, zielte dieses Schwanken der Rechtsprechung auf den Schutz der Rechtssicherheit durch Berechenbarkeit der Steuerlast. Ein ähnliches Argument, das auch gegen die direkte Anhebung der Besteuerung ins Feld geführt werden kann, eignet sich auch für die indirekte Anhebung: in beiden Fällen wird der Steuerzahler von einer Steuerlast überrascht, mit der er weder rechnen konnte noch musste. Eben hier wird die Funktion der Vorzeitigkeitsregel erkennbar. Sie ist das Mittel, um einen sanften Wandel des gegenwärtigen Rechts in Richtung auf das zukünftige Recht sicherzustellen, und ermöglicht damit dem Bürger bessere Bedingungen, damit er in Autonomie und innerhalb der vom Recht gezogenen Grenzen seine Zukunft planen kann. Das Gericht war jedoch nicht gut beraten, als es über die Verlängerung des provisorischen Beitrags über Finanzbewegungen entschied und die Anwendung der Vorzeitigkeitsregel mit dem Argument ausschloss, dass die Verlängerung der Einführung einer Abgabe nicht gleichkäme, denn wenn die Vorzeitigkeitsregel die Vermeidung der Überraschung anstrebt, erweist sich diese Dissoziierung von Einführung und Verlängerung als gänzlich unangemessen. Wenn es eine Überraschung gibt, welche die Regel vermeiden will, liegt eine Einführung vor. Ob man sie Verlängerung nennt, ist in diesem Fall ohne Bedeutung668. Diese Regel der Vorzeitigkeit des Finanzjahrs bei der Einführung und Erhöhung einer Abgabe findet eine Ausnahme im selben Art. 150 § 1 der CF/88, demzufolge dieses Verbot keine Anwendung auf die in folgenden Artikeln vorgesehenen Abgaben findet: Art. 148 I (Zwangsanleihe zur Begleichung außerordentlicher Ausgaben infolge eines öffentlichen Notstands, eines Kriegs mit dem Ausland oder des Bevorstehens dieser Umstände), 153 I (Steuer auf die Einfuhr ausländischer Produkte), II (Steuer auf die Ausfuhr von inländischen oder nationalisierten Produkten) und V (Steuer auf Kredit-, Wechselkurs- und Versicherungsgeschäfte oder Geschäfte mit Wertpapieren und Aktien) und 154 II (außerordentliche Steuern anlässlich eines drohenden oder herrschenden Kriegs mit dem Ausland).

668

Leandro Paulsen, Segurança jurídica, certeza do Direito e tributação, S. 156.

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Die von der Vorzeitigkeitsregel ausgenommenen Abgaben sind also nur auf den Außenhandel oder auf wirklich außerordentliche Fälle bezogene Abgaben. Erstere verdienen diese Ausnahme, weil ihre Gestaltung an die Gestaltungsfreiheit der Exekutive bei der Wirtschaftslenkung gebunden ist und extrafiskalische Zwecke verfolgt, was ihre sofortige Wirksamkeit rechtfertigt. Letztere legitimieren die Ausnahme aufgrund der Anomaliesituation, die Ausgaben verursacht, deren Finanzierung nicht durch die Verlängerung der Erhebung in das auf ihre Einführung oder Erhöhung folgende Finanzjahr verhindert werden kann. Das deutsche Grundgesetz kennt keine entsprechende Regel, aber man darf behaupten, dass der Schutz des Steuerzahlers gegen plötzliche und überraschende Änderungen der Besteuerung sowohl von der Gewährleistung des Rechtsstaats als auch von den Grundrechten der Freiheit und des Eigentums ableitbar ist. (2) Vorzeitigkeit von neunzig Tagen Die CF/88 untersagt auch die Erhebung von Abgaben vor Ablauf von neunzig Tagen nach Veröffentlichung des Gesetzes, das sie eingeführt oder erhöht hat, unbeschadet der schon erwähnten Vorzeitigkeit des Finanzjahrs. Das bedeutet, dass die Vorzeitigkeit von neunzig Tagen ein Plus in Bezug auf die Vorzeitigkeit des Finanzjahrs darstellt. Diese spezifische Vorzeitigkeitsregel findet auch eine Ausnahme in Art. 150 § 1, nach dem dieses Verbot nicht auf die Abgaben angewandt wird, die in folgenden Artikeln vorgesehen sind: Art. 148 I (Zwangsanleihe zur Begleichung außerordentlicher Ausgaben infolge eines öffentlichen Notstands, Kriegs mit dem Ausland oder des Bevorstehens dieser Umstände), 153 I (Steuer auf die Einfuhr ausländischer Produkte), II (Steuer auf die Ausfuhr von inländischen oder nationalisierten Produkten) und V (Steuer auf Kredit-, Wechselkurs- und Versicherungsgeschäfte oder Geschäfte mit Wertpapieren und Aktien) und 154 II (außerordentliche Steuern anlässlich eines drohenden oder herrschenden Kriegs mit dem Ausland). Dieses Verbot gilt auch nicht für folgende Fälle: Festlegung der Bemessungsgrundlage der in den Art. 155 III (Steuer auf das Eigentum an Kraftfahrzeugen) und 156 I (Steuer auf das Grundeigentum im Stadtgebiet). Die von der Vorzeitigkeitsregel ausgenommenen Abgaben sind wiederum nur auf den Außenhandel oder auf wirklich außerordentliche Fälle bezogene Abgaben. Die Verfassungsbestimmung hat jedoch die Einkommensteuer eingefügt und, hinsichtlich der Bemessungsgrundlage, die Steuern auf das Eigentum an Kraftfahrzeugen und Grundeigentum im Stadtbereich. Diese Abgaben werden periodische Abgaben genannt, da sie sich auf das Finanzjahr beziehen, so dass es bei ihnen darauf ankommt, dass ihre Änderung bis zum Ende des Geschäftsjahrs erfolgt. Die Verfassungsbestimmung stellt nur sicher, dass diese Steuer, wenn sie am Ende des Geschäftsjahrs geändert worden ist, wie die Praxis in Brasilien bestätigt, nicht sofort nach dem ersten Werktag des nächsten Finanzjahrs erhoben werden kann.

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Bezogen auf unser Thema könnten alle diese Ausnahmen auf den ersten Blick der Rechtssicherheit widersprechen. Aber so paradox dies anmuten mag, dienen sie als Instrument der Berechenbarkeit des Rechts und damit der Rechtssicherheit, weil sie dem Steuerzahler zu wissen erlauben, welche Abgaben von ihm im Lauf des Finanzjahrs selbst gefordert werden können, so dass er, obwohl er nicht genau vorhersehen kann, welche Abgabe wann geändert wird, zumindest in sein Rechtskalkül die Möglichkeit bestimmter Änderungen bei bestimmten Abgaben aufnehmen kann. Dies bedeutet, in anderen Worten, dass die Existenz abstrakter Ausnahmen das Berechenbarkeitsideal fördert, insofern sie das Spektrum möglicher Veränderungen einengt und dazu führt, dass das zukünftige Recht, obgleich nicht völlig voraussehbar, sich in die stärker reduzierten und antizipierbaren Alternativen zumindest abstrakt und allgemein einfügt. Die Aussicht auf konkrete Ausnahmen infolge des unbestimmbaren öffentlichen Interesses an jeglicher Abgabe wäre von der Rechtssicherheit viel weiter entfernt als der von der CF/88 eingeführte Mechanismus, da er zukünftige Änderungen ohne jegliche Art von eingrenzendem Profil legitimieren würde. Es gibt keine vergleichbare Regel im deutschen Grundgesetz, aber der Schutz des Steuerzahlers gegen plötzliche und überraschende Änderungen der Besteuerung lässt sich unmittelbar aus anderen verfassungsrechtlich verbrieften Garantien ableiten, besonders durch die zum Rechtssicherheitsprinzip gehörende unmittelbare Wirksamkeit, die sich vom ausdrücklich gewährleisteten Rechtsstaatsprinzip herleitet. (3) Zumutbare Vorzeitigkeit Die Tatsache, dass die CF/88 nur für einige Abgaben einen Zeitraum zwischen dem Datum der Veröffentlichung und dem Beginn der Wirksamkeit fordert, will nicht besagen, dass es in Bezug auf alle anderen Abgaben keine Frist geben soll. Eben hier macht sich die zum Rechtssicherheitsprinzip gehörende unmittelbare Wirksamkeit geltend. Das Rechtssicherheitsprinzip erfordert einen Zustand der Berechenbarkeit, für dessen Verwirklichung die Fähigkeiten der Antizipation und Messung eines eingeengten und wenig variablen Spektrums von eigenen und fremden Rechtshandlungen oder Tatsachen abstrakt zuschreibbaren Folgen notwendig ist. Eben deshalb muss eine Änderung, die unabhängig von ihrer Festlegung in der Verfassung oder spezifischen Gesetzgebung die Abgabenlast drastisch erhöht, notwendigerweise von Mechanismen der Mäßigung der Veränderung begleitet werden. Einer dieser Mechanismen ist neben den Übergangsregeln die Festlegung einer zumutbaren Frist vom Datum der Veröffentlichung der verändernden Norm bis zum Beginn ihrer Wirksamkeit. Diese Frist soll dem Steuerzahler die Vorbereitung auf die kommende Änderung ohne Überrumpelung ermöglichen. Je stärker der Eingriff der Änderung vom Standpunkt der Grundrechte der Freiheit und des Eigentums, desto länger muss die gewährte Frist sein.

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Aus keinem anderen Grund hat das Ergänzungsgesetz Nr. 95/98 – das in Ausübung der verfassungsrechtlich einem Ergänzungsgesetz vorbehaltenen Gesetz­ gebungskompetenz, über die Festlegung der Ausarbeitung, Abfassung, Novellierung und Konsolidierung der Gesetze zu bestimmen (Art. 59, einziger Paragraph), erlassen worden ist-statuiert, dass die „Geltung des Gesetzes ausdrücklich angegeben werden wird, um eine zumutbare Frist zu setzen, damit man von ihm umfassende Kenntnis erhält, wobei die Klausel ‚tritt in Kraft am Datum seiner Veröffent­lichung‘ nur den Gesetzen, die geringen Auswirkung haben, vorbehalten ist“ (Art. 8). Man bemerke, dass das Gesetz selbst von einer „zumutbaren Frist“ spricht, um „umfassende Kenntnis“ zu ermöglichen, und die unmittelbare Wirksamkeit nur auf die Gesetze, die „geringen Auswirkung“ haben, beschränkt. Es sind eben diese Vorschriften, die sich aus der Forderung nach Berechenbarkeit des Rechts ergeben: der Adressat benötigt eine Frist, um sich der Änderung anzupassen. Diese Frist muss umso länger sein, je stärker die Auswirkungen der Gesetzesänderung für die Ausübung der Grundrechte der Freiheit und des Eigentums ist. cc) Normative Kontinuität: die „rhythmische Sicherheit“ durch Milderung und Übergangsregeln In den der Untersuchung der Forderung nach Verlässlichkeit gewidmeten Teil, in dem wir die dynamische Dimension der Rechtssicherheit im Hinblick auf den Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart untersucht haben, wurde die Pflicht der Beständigkeit durch Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung untersucht: nur eine stabile Rechtsordnung, die nicht wesentlich und ständig verändert wird, kann der Ausübung der Freiheiten ein günstiges Umfeld bieten. Die Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung ist sozusagen die sich aus der objektiven Dimension der vergangenheitsorientierten Rechtssicherheit ergebende Forderung. Die Kontinuitätspflicht im hier vertretenen Sinn ist nun die sich aus der objektiven Dimension der zukunftsorientierten Rechtssicherheit ergebende Verpflichtung669. Diese Zukunftsorientierung eliminiert nicht die Tatsache, dass die Forderung nach Kontinuität so wie die anderen auf die Rechtssicherheit bezogenen Forderungen den Zweck verfolgt, die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft in Beziehung zu setzen. In diesem Zusammenhang behauptet Cavalcanti Filho sehr zutreffend, dass es „immer Kontinuität im Leben des Rechts gibt, indem die Vergangenheit sich mit der Gegenwart verbindet und sogar die Zukunft vorwegnimmt“670. So ist eine der Schlussfolgerungen aus der Pflicht zur normativen Kontinuität die Skalierbarkeit des Wandels671. Der Zustand der Berechenbarkeit des Rechts liegt dann vor, wenn der Bürger weitgehend zur Vorwegnahme und Messung des eingeengten und wenig variablen Spektrums der abstrakt eigenen oder fremden 669

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 190. Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 153. 671 Luigi Lombardi Vallauri, Saggio sul Diritto giurisprudenziale, S. 587. 670

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Rechtshandlungen oder Tatsachen zuweisbaren Folgen und des eingeengten Zeitspektrums der Anwendung der endgültigen Folge imstande ist. Die Forderung nach Berechenbarkeit verhindert also keinen Wandel672. Sie ist nur gegen einen Typus von Wandel, der sich dem materialen und zeitlichen Spektrum der vom Steuerzahler antizipierbaren Folgen entzieht und am Ende das Vertrauen derjenigen enttäuscht, die unter Berufung auf die damals geltenden Rechtsnormen Entscheidungen getroffen haben, Verhaltensweisen gewählt, sich für einen Geschäftstypus usf. entschieden haben, wie Carrazza feststellt673. Navarro Coelho stellt das Argument klar heraus: „Niemand zweifelt daran, dass Änderungen unvermeidlich sind. Man will aber, dass sie nicht tumultuarisch und ohne zu überzeugen daherkommen, da sie die das Rechtssystem leitenden Prinzipien respektieren und zumutbar und rational (von ratio, Vernunft) sein müssen“674. Wenn dem so ist, schließt die Forderung nach Berechenbarkeit durch Kontinuität der Rechtsordnung plötzliche und drastische Änderungen aus. Plötzlich sind Änderungen, die auf keine Weise antizipierbar sind und aus eben diesem Grund den Adressaten überraschen, da er mit ihnen weder gerechnet hat noch rechnen konnte. Drastisch sind Änderungen, die trotz der Antizipierbarkeit ihres Eintritts recht intensiv in ihren Folgen sind. In diesem Sinn verhindert die Forderung nach Berechenbarkeit nicht nur plötzliche Änderungen, selbst wenn sie nicht drastisch sind, sondern gleichermaßen drastische Änderungen, selbst wenn sie nicht plötzlich sind. Wenn es eine geltende Norm gibt, die plötzlich durch eine neue normative Folge ersetzt wird, die recht anders und restriktiver als die von der früheren Norm vorgesehene Folge ist, erleidet die Rechtsordnung einen Einbruch an Stabilität, da die Bürger am Ende von der Änderung überrascht werden. Sie haben auf die zeitliche Stabilität der Rechtsordnung gesetzt, aber ihre Erwartung, dass die frühere Norm fortgelten würde, ist nun enttäuscht worden675. Deshalb ergibt sich aus der Forderung nach normativer Kontinuität die Pflicht, plötzliche, unzusammenhängende oder nicht konsistente Änderungen zu vermeiden, indem der Wandel gemäßigt und dem Recht ein stabiler Rhythmus zugewiesen wird676. Das besagt nicht, wie wir hier noch einmal unterstreichen, dass das Recht unveränderlich sein soll; es 672 Eros Roberto Grau, O Direito posto e o Direito pressuposto, 7. Aufl., S. 185; Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 265; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 193. 673 Roque Antônio Carrazza, Segurança jurídica e eficácia temporal das alterações jurisprudenciais – competência dos Tribunais Superiores para fixá-la – questões conexas, in: Ferraz Júnior, Tércio Sampaio u. a. (Hrsg.), Efeito ex nunc e as decisões do STF, S. 61. 674 Sacha Calmon Navarro Coelho, Segurança jurídica e mutações legais, in: Rocha, Valdir de Oliveira (Hrsg.), Grandes questões atuais do Direito Tributário 10 (2006), S. 402. 675 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 240. 676 Rudolf Mellinghoff, Vertrauen in das Steuergesetz, in: Pezzer, Heinz-Jürgen (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht. Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 27, S. 26; Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 412 ff.; François Ost, Le temps du Droit, S. 334.

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besagt vielmehr, dass der Wandel das geringstmögliche Trauma, die geringstmögliche Erschütterung der eingegangenen Rechtsbeziehungen verursachen soll677. Das Rechtssicherheitsprinzip verlangt also, um Zimmer zu zitieren, ein kluges und vorsichtiges Zeitmanagement im Recht678. Ost drückt das in einem anschaulichen Bild aus: wie die Musik und der Tanz besteht das Recht aus Rhythmus und Maß679. Diese Pflicht zur Mäßigung des Wandels hat weitgehende praktische Folgen. In Bezug auf die Gesetze verlangt die Rechtssicherheit selbst, dass zwischen Verkündung und Inkrafttreten eine zumutbare Frist liegt, sowie die Einführung von Übergangsregeln für den Wechsel vom früheren zum neuen Rechtsregime. Dasselbe erfolgt in Bezug auf Verwaltungsakte und normative Akte. Obgleich sie an das Gesetz gebunden sind, von dem sie sich nicht entfernen dürfen, dürfen sie auch nicht ihre Adressaten mit Änderungen der Auffassung im Zuständigkeitsbereich der Verwaltung überraschen. Wenn dem so ist, müssen auch die Änderungen im Verwaltungshandeln, die sich natürlich nur auf nachträglich eingetretene Sachverhalte beziehen können, von Anpassungsfristen und Übergangsregeln flankiert werden, wenn sie eine Einschränkung der Grundrechte der Adressaten mit sich bringen. Das Rechtssicherheitsprinzip erzeugt somit das Recht auf ein gerechtes Übergangsregime680. Und schließlich muss auch die richterliche Tätigkeit, wenn eine Rechtsprechungsänderung erfolgen soll, nicht nur prospektive Wirksamkeit in den Fällen haben, in denen die deklaratorische Wirksamkeit die institutionelle Glaubwürdiglkeit des Rechts beeinträchtigt oder legitim aufgrund der aufgegebenen Orientierung verübte Dispositionsakte enttäuscht, sondern auch Fristen oder Übergangs­ regelungen enthalten, um die Plötzlichkeit und Schwere des Wandels zu vermeiden. Wesentlich in allem, was von der Kontinuität gesagt worden ist, ist der Umstand, dass diese ein zentrales Element der Rechtssicherheit ist: der Einzelne kann nämlich nur in dauerhaften Beziehungen und Institutionen sein Leben verantwortungsbewusst planen681.

677

Celso Antônio Bandeira De Mello, Curso de Direito Administrativo, 26. Aufl., S. 125. Willy Zimmer, Constitution et sécurité juridique – Allemagne, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 101. 679 François Ost, Conclusions générales: le Temps, la Justice et le Droit, in: Gaboriau, Simone / Pauliat, Hélène (Hrsg.), Le Temps, la Justice et le Droit, S. 358–359. 680 Patrícia Baptista, A tutela da confiança legítima como limite ao exercício do poder normativo da Administração Pública – a proteção às expectativas legítimas dos cidadãos como limite à retroatividade normativa, in: RDE 3 (2006), S. 171. 681 Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., S. 149. 678

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dd) Normative Bindungswirkung durch Begrenzung, Rechtzeitigkeit und Willkürverbot (1) Normative Beschränkung (a) Strukturelle Grenzen (aa) Regeln und ihre Anwendung Die anlässlich der Prüfung der Verständlichkeit des Rechts sic et simpliciter getroffene Feststellung, dass Regeln Rechtssicherheit fördern, darf jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Erkennbarkeit und Berechenbarkeit streng­ genommen nicht ausschließlich durch die eigentlichen Regeln geliefert werden, sondern durch die Art und Weise ihrer Anwendung. Natürlich postuliert die Einführung einer Regel die größere Starrheit, Unbiegsamkeit und Unnachgiebigkeit der Regel in Bezug auf Gründe, die nicht in ihrem Tatbestand kristallisiert sind, denn obwohl sie von einer Bestimmung aus rekonstruiert werden muss, besitzt sie trotzdem ein gewisses Maß an Bedeutung, die auf intersubjektivem Konsens beruht, was ihr die Übermittlung präskriptiver Inhalte erlaubt, auch wenn diese Inhalte noch vom Anwendungskontext verbessert werden können682. Strenggenommen jedoch, obwohl die Einführung einer Regel eine stärkere Konstriktion für den Anwender postuliert, bestimmt sie nicht vollständig die Intensität dieser Konstriktion (größer, geringer oder nicht vorhanden). Wie Habermas versichert, regelt keine Regel ihre eigene Anwendung683. Kant hatte schon dieselbe Feststellung gemacht, als er behauptete, dass die Subsumption der Regeln von einer Regel über die Subsumption selbst abhänge, was die Diskussion zu einem regressus in infinitum führen könne684. ­Gadamer hat auf derselben Argumentationslinie auch schon bemerkt, dass das wesentliche Element des hermeneutischen Prozesses die konkrete Anwendung der Regeln und nicht einfach ihre abstrakte Auslegung ist685. So bietet eine Regel, welcher der Anwender geringe Relevanz zuschreibt, eine Faustregel (oder praktische und Annäherungsregel), die als solche beim Akt der Anwendung vernachlässigt werden kann-obwohl sie vorgeblich eine Regel ist, da sie nicht als Handlungsgrund dient und den Anwender nicht in Verlegenheit bringt –, überhaupt keine Berechenbarkeit an, da der Adressat, obwohl Existenz, Geltung und Inhalt ihm bekannt sind, keine Gewissheit hat, dass sie wirklich auf den in ihrem Tatbestand vorgesehenen Fall angewendet wird. Wenn es zutrifft, dass die Regeln nicht ihre eigene Anwendung bestimmen, sondern etwas, das sie bestimmt und damit definiert, folgt der Zuwachs an Rechtssi 682

Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 230 sowie 244. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 244. 684 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., in: Kants Werke, S. 131. 685 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Bd. 1, S. 320 sowie Bd. 2, S. 106. 683

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cherheit strenggenommen nicht aus der Einführung eines Regelsystems, sondern aus dem Vorliegen einer Anwendungskonzeption des Regelsystems, das einen gewissen Grad an Widerständigkeit gegenüber anderen Faktoren enthält, die nicht in ihrem Tatbestand berücksichtigt werden686. In anderen Worten: nicht die Regeln gewährleisten automatisch mehr Vorhersehbarkeit, wohl aber die „seriösen Regeln“, d. h. diejenigen, die als wahre Begrenzungen staatlichen Handelns verstanden und angewandt werden687. In diesem Sinn können die Regeln, selbst wenn ein bestimmtes System aus Regeln besteht, auf unterschiedliche Weise in Bezug auf die Konstriktion, die sie für den Anwender mit sich bringen, bewertet werden: als Normen, die berücksichtigt oder nicht berücksichtigt werden können, ohne den Richter normativ zu binden noch ihn normativ in Verlegenheit zu bringen (reines partikularistisches Regelanwendungsmodell); als zu berücksichtigende Normen, die aber ausgeschlossen werden können, falls es einen Grund gibt, der vom Richter selbst gesucht werden kann (regelempfindliches partikularistisches Modell); als zu berücksichtigende Normen, die gerechtfertigterweise überwunden werden können, falls es einen besonders schwerwiegenden Grund gibt, der von der interessierten Partei anzuführen ist (vermutetes positivistisches oder ethisches Regelanwendungsmodell); und als auf rigide Weise zu berücksichtigende Normen ohne Ausschlussmöglichkeit (reines formalistisches Regelanwendungsmodell)688. In anderen Worten und mit Verlaub für die Metaphern, die für ideale Modelle der Regelanwendung einstehen, können die Regeln als reine nichtbindende und auch nicht konstriktive Richtlinien verstanden werden, ähnlich dem Papierstreifen, den die Läufer am Ende eines Wettlaufs sehen und der mit einem einfachen „Schubs“ zerrissen wird, als schwach bindende und konstriktive Vorschriften, wie die Hürden, die von Läufern beim 400-Meter-Hürdenlauf zu nehmen sind und die mit einiger Anstrengung auch genommen werden können, als stark bindende und konstriktive Vorschriften, ähnlich der Hürde, die jeder Stabhochspringer nehmen muss und die nur mit großer Anstrengung genommen werden kann, und schließlich als höchstgradig bindende und konstriktive Vorschriften, ähnlich der unüberwindlichen Mauer eines Hochsicherheitstrakts. Diese Bemerkungen versuchen nur zu zeigen, dass es strenggenommen nicht die Regeln sind, die ausschließlich das Vorliegen oder die Erhöhung der Rechtssicherheit bestimmen. Was diese Erhöhung bestimmt, ist die Art und Weise, in der man bestimmt, wie ihre Anwendung zu sein hat. In anderen Worten sind es nicht die Regeln, sondern die „Regeln der Regeln“, die in Wahrheit zur Verwirk­ lichung der Rechtssicherheit beitragen bzw. nicht beitragen689. In diesem Rahmen sind, so kurios dies anmuten mag, sowohl das reine partikularistische Modell als 686

Frederick Schauer, Playing by the rules, S. 128. Frederick Schauer, Thinking like a lawyer: a new introduction to legal reasoning, S. 71 ff. 688 Frederick Schauer, Playing by the rules, S. 93 ff. 689 Larry Alexander / Emily Sherwin, The Rule of Rules, S. 26 sowie 96 ff. 687

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auch das reine formalistische Regelanwendungsmodell mit der Rechtssicherheit unvereinbar: Ersteres, weil in einem Modell, in dem die Regeln bloße Wegwerfrichtlinien sind, der Bürger die zukünftig anwendbare Regel nicht kennen kann, was die Existenz eines Minimums an Verständlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts behindert; Letzteres, weil in einem Modell, in dem die Regeln unüberwindliche Vorschriften sind, selbst in tragischen Fällen, es nicht nur eine Tendenz zum Ungehorsam gibt, die zum Effektivitätsverlust des Rechts beiträgt, sondern auch ein Hindernis dagegen entsteht, dass sich das Recht den Umständen anpasst und somit eine höhere Stabilität in der Zeit erhalten kann. So sind also nur die mittleren Modelle (regelempfindliches partikularistisches Model und vermutetes positivistisches oder ethisches Regelanwendungsmodell) mit den Forderungen der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts vereinbar. Aus keinem anderen Grund hat Esser als Element des Rechtssicherheitsprinzips neben dem gerichtlichen Rechtsschutz und der Verkehrssicherheit die Autonomie eingefügt: nur Normen, die für ihre Adressaten eine echte äußere Begrenzung ihres Willens bedeuten, können ein Minimum an Sicherheit gewährleisten690. Anders gewendet, erfüllen die Regeln ihre Funktion nur, wenn sie normalerweise peremptorisch, Beratungen ausschließend und unabhängig von ihrem Inhalt angewandt werden, wie schon Hart betont hat691. An dieser Stelle sehen wir, dass das Rechtssicherheitsprinzip selbst das Kriterium zur Bestimmung des bei der Anwendung der Regeln zu wählenden Modells abgibt. Hier geht es, wie wir betonen, nicht um eine philosophische oder ideolo­ gische, sondern um eine normative Option: wenn eine Rechtsordnung, hier die brasilianische, dem Rechtssicherheitsprinzip eine grundlegende Position zuweist, darf man weder ein partikularistisches noch ein formalistisches Regelanwendungsmodell zulassen. Da dem so ist, sind sowohl das Lob der Billigkeit (als maximales Kriterium der Regelanwendung) als auch die Berücksichtigung der Prinzipienabwägung (als vorherrschendes Modell der Normanwendung) mit dem Rechtssicherheitsprinzip unvereinbare Konzeptionen, da sie mit einem Minimum an Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts unvereinbar sind. Wesentlich ist einstweilen, dass das mit den Prinzipien des Rechtsstaats und der Rechtssicherheit vereinbare Modell ein Modell ist, das auf Regeln gegründet ist, die den Durchschnitt der Verhaltensweisen anleiten und insbesondere die staatliche Machtausübung kontrollieren können692. Schließlich besteht die Funktion der Kompetenzregeln genau darin, die Ausübung staatlicher Gewalt vermittels der Allokation von Macht zu beschränken, wobei diese durch Festlegung der Macht auf die in den verfassungsrechtlich vorge 690 Josef Esser, Realität und Ideologie der Rechtssicherheit in positiven Systemen, in: Hohenleiter, Siegfried u. a. (Hrsg.), FS für Theodor Rittler, S. 14. 691 Herbert L. A. Hart, Commands and authoritative legal reasons, in: Raz, Joseph (Hrsg.), Authority, S. 102. 692 Brian Z. Tamanaha, On The Rule of Law, S. 97.

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zeichneten Tatbeständen beschriebenen Tatsachen erreicht wird. Außerhalb dieses Bereichs existiert die Staatsgewalt nicht693. Für das hier behandelte Thema bedeutet dies, dass der Steuerzahler von vornherein wissen kann, dass seine Freiheit und sein Eigentum nur durch die Besteuerung dieser Sachverhalte einschränkbar sind. Die Kompetenzregeln sind also grundlegende Instrumente der Rechtssicherheit. Aus diesem Grund haben die sehr reichhaltigen Untersuchungen der brasilianischen Rechtslehre über die Aspekte der Besteuerungsregeln zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar dazu gedient, Besteuerungsgewalt zu begrenzen und zu anweisen und damit Rechtssicherheit zu gewährleisten. Vornehmlicher Gegenstand der Arbeiten über die Tatbestände der Besteuerungsregeln und ihre logische Struktur war, wie man mit Fug und Recht behaupten kann, die Rechtssicherheit in den Aspekten Erkennbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts. In diesem Zusammenhang verdienen einige grundlegende Werke aufgrund ihrer historischen Bedeutung und Aktualität besondere Erwähnung: Teoria geral do Direito T ­ ributária (Allgemeine Steuerrechtslehre) von Becker694, Fato gerador da obrigação tributária (Tatbestand der Steuerverpflichtung) von Falcão695, Isenções tributárias (Steuerbefreiungen) von Maior Borges696, Hipótese de incidência tributária (Der Steuertat­bestand) von Ataliba697, Teoria da norma tributária (Theorie der Abgabennorm) von ­Carvalho698 und Teoria geral do tributo e da exoneração tributária (Allgemeine Theorie der Abgabe und der Abgabenbefreiung) von Navarro Coelho699. Neben zahlreichen Verdiensten, wie der wissenschaftlichen Behandlung der steuerrechtlichen Untersuchungen, der klaren Sprache, der logischen Stimmigkeit und der argumentativen Kohärenz haben diese Werke, was uns in diesem Zusammenhang stärker interessiert, den Nachweis geführt, dass die Steuerpflicht nur mit dem Eintritt der im Tatbestand der Besteuerungsregel beschriebenen Sachverhalte entsteht, ohne deren angemessenes, auf die Unparteilichkeit und Rationalität gegründetes wissenschaftliches Verständnis und auf die Bindung an das Gesetz gegründete korrekte juristische Auslegung wir es mit staatlicher Willkür und damit Rechtsunsicherheit zu tun haben. In Hinblick auf diesen Aspekt können nicht alle Regeltypen gleichgeschaltet werden. Obwohl die Regeln das gemeinsame Merkmal der Beschreibung gebote­ ner, erlaubter und verbotener Verhaltensweisen teilen und zu ihrer Anwendung eine auf ihren Zweck konzentrierte Prüfung der begrifflichen Korrespondenz zwischen Tatbestand und Sachverhalt erfordern, verfolgen nicht alle denselben Zweck

693

Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 503. Alfredo Augusto Becker, Teoria geral do Direito Tributário, S. 288 ff. 695 Amilcar De Araújo Falcão, Fato gerador da obrigação tributária, 3. Aufl., S. 32. 696 José Souto Maior Borges, Teoria geral da isenção tributária, 3. Aufl., S. 21 sowie 77, 179. 697 Geraldo Ataliba, Hipótese de incidência tributária, 6. Aufl., S. 51 ff. 698 Paulo De Barros Carvalho, Teoria da norma tributária, S. 111 ff. 699 Sacha Calmon Navarro Coelho, Teoria geral do tributo, da interpretação e da exoneração tributária, S. 88 ff. 694

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und haben nicht alle dieselbe Funktion. Die Kompetenzregeln, deren primäre Funktion die Begrenzung der Staatsgewalt vermittels der Allokation von Macht und der Beschreibung ihres Sachbereichs ist, bezwecken die Gewährleistung der Rechts­sicherheit. Wenn dem so ist, ist die Ausübung der Staatsgewalt außerhalb des von ihnen eingegrenzten Bereichs unzulässig. Sie sind sozusagen endgültig, und zwar in dem Sinn, dass man nicht über sie hinausgehen kann, da die Prüfung ihres Zwecks ihre Ausbreitung behindert, statt teleologische Ausweitung oder Einschränkung zu erlauben. Andere Regeln, wie die prozeduralen Regeln, verfolgen jedoch wesentliche Zwecke und können je nach Fall eine teleologische Ausweitung erlauben, wenn ihr Tatbestand nach ihrem Zweck die Notwendigkeit der Berücksichtigung von ursprünglich nicht vorgesehenen Sachverhalten erkennen lässt. (bb) Prinzipien und ihre Anwendung Die ebenfalls im auf die Erkennbarkeit des Rechts bezogenen Teil dieser Arbeit getroffene Feststellung, dass ein ausschließlich aus Prinzipien zusammengesetztes Rechtssystem mit der Rechtssicherheit unvereinbar ist, bedeutet weder, dass die Prinzipien nicht wichtige Instrumente der Rechtssicherheit sein sollen, noch, dass sie nicht auf sichere Weise anwendbar sind. In einer Arbeit über Rechtssicherheit würde die Schlussfolgerung, dass jede Art des Umgangs mit den Prinzipien notwendig Rechtsunsicherheit hervorruft, geradezu auf einen performativen Selbstwiderspruch hinauslaufen. Wenn es sehr viele Rechtsquellen gibt, die vielfältige Regeln erzeugen, die nicht immer kompatibel sind, müssen die Prinzipien als vereinheitlichende Auslegungskriterien wirken, da die Bedeutung der Regeln mit dem Inhalt der allgemeineren Prinzipien zu harmonisieren ist, bis man zu den eine bestimmte Rechtsordnung strukturierenden Prinzipien gelangt, so dass die am stärksten von den Verfassungsprinzipien gestützte Bedeutung der Regel gewählt wird700. Bei der Ausübung dieser auslegenden und agglutinierenden, vereinenden Funktion sind die Prinzipien Instrumente der Rechtssicherheit, da sie mit den Zwecken, deren Erreichung sie bestimmen, unvereinbare Bedeutungen eliminieren und damit also das Spektrum der in einer bestimmten Rechtsordnung möglichen semantischen Bedeutungen einengen, womit sie wiederum zur Steigerung der Erkennbarkeit und Berechenbarkeit dieser Rechtsordnung beitragen. Deshalb hat García de Enterría Recht, wenn er nach dem Zitat des antiken Aphorismus de multitudine legum, unum ius behauptet, dass die Prinzipien die Rolle von Verdichtungsknötchen ethisch-sozialer Werte und Organisationszentren von Rechtsinstitutionen spielen und damit wertvolle Kriterien zur Auslegung der Regeln abgeben, wobei sie umso wertvoller sind, je

700 Claus-Wilhelm Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz: entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 3. Aufl., S. 17 sowie 88 ff.

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zahlreicher, gelegentlicher unvollständiger und wechselhafter die Regeln sind701. Bezogen auf das Rechtssystem haben die Prinzipien eine zentrifugale Funktion in dem Sinn, dass die Auslegung durch ihre Kraft beherrscht wird702. Auch deshalb spielen sie eine Rolle, die für die Rechtssicherheit wesentlich ist: da die Regeln sehr zahlreich sind, ist es strenggenommen unmöglich, alle Einzelheiten einer Rechtsordnung zu kennen; da sie aber auf einige wenige Grundprinzipien zurückgeführt werden müssen, erlaubt ihr Verständnis schon, dass die Bürger wissen, dass die von den Regeln gebotene Lösung nicht von der von den Prinzipien vorgegebenen Lösung abweichen darf. Die Auslegung des Rechts als Ganzheit, in dem Sinn, dass die Auslegung einer jeden Regel sich nicht von einer von wenigen moralischen Prinzipien vorgegebenen narrativen Linie entfernen darf, wie Dworkin behauptet, oder sein Verständnis als Kern systemtragender Prinzipien, wie Canaris es vertritt, sind Formen des Nachweises der grundlegenden Rolle der Prinzipien bei der Verringerung abweichender Auslegungen703. Die Feststellung, dass ein ausschließlich aus Prinzipien zusammengesetztes Rechtssystem mit Rechtssicherheit unvereinbar ist, darf auch nicht bedeuten, dass die Prinzipien mit dem Rechtssicherheitsprinzip unvereinbar sind oder nicht auf sichere Weise angewandt werden können. Nicht die Prinzipien sind nämlich mit der Rechtssicherheit unvereinbar, sondern ihre kriterienfreie und willkürliche Anwendung. Das Phänomen ist dasselbe wie das auf die Regeln bezogene, nur umgekehrt: Regeln gewähren nicht automatisch Rechtssicherheit, wohl aber ein bestimmter Typus ihrer Anwendung; Prinzipien verursachen nicht automatisch die Minderung der Rechtssicherheit, wohl aber ein bestimmter Typus ihrer Anwendung. Anders formuliert: nicht die Prinzipien, wohl aber die „Prinzipiennormen“ tragen zur Verwirklichung oder Nichtverwirklichung der Rechtssicherheit bei. In diesem Zusammenhang ist ein unstrukturiertes Prinzipienabwägungsmodell mit der Rechtssicherheit unvereinbar, da der Bürger in einem Modell, in dem die Prinzipien abgewogen werden, ohne das man weiß, „wie“ und „warum“ dies geschieht, nicht einmal im Nachhinein die anwendbare und die angeblich angewandte Norm kennen kann, was das Vorliegen eines Minimums an Erkennbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts ausschließt. Wenn dem so ist, muss es eine Anwendung geben, die umso vereinbarer mit der Rechtssicherheit ist, je stimmiger der Anwender die Prinzipien benennt, die Gegenstand der Abwägung (Vorabwägung) sind, je transparenter er die Abwägung (Abwägung im eigentlichen Sinn) durchführt und je strukturierter er die durchgeführte Abwägung begründet (Nachabwägung). Dies wird dann vorliegen, wenn u. a. folgende Elemente begründet werden:

701

Eduardo García de Enterría, Justicia y seguridad jurídica en un mundo de leyes desbocadas, S. 105. 702 Eros Roberto Grau, A ordem econômica na Constituição de 1988, 12. Aufl., S. 167. 703 Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 176; Claus-Wilhelm Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz: entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 3. Aufl., S. 17 sowie 88 ff.

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(I) der Grund der Verwendung bestimmter Prinzipien zu Lasten anderer; (II) die zur Bestim­mung des Gewichts und Vorrangs eines Prinzips vor dem anderen und zur Bestimmung der Beziehung zwischen diesen Kriterien verwendeten Kriterien; (III) das Verfahren und die Methode, die zur Bewertung und zum Nachweis des Grads der Förderung eines Prinzips und des Grads der Einschränkung des anderen gedient haben; (IV) die Kommensurabilität der verglichenen Prinzipien und die zur Begründung dieser Vergleichbarkeit verwendete Methode; (V) die Bestimmung der Sachverhalte die in einem Fall für die Abwägung als relevant angesehen worden sind, und der Kriterien, aufgrund derer sie rechtlich bewertet worden sind704. Ohne die Beachtung dieser Faktoren kann es keine Berechenbarkeit geben, da der Bürger nicht erwarten kann, dass seine in der Gegenwart ausgeübte Freiheit durch Kontrolle der Anwendbarkeit der Normen in der Zukunft respektiert wird. (b) Formale und materiale Grenzen der Gewalten (aa) Einleitende Betrachtungen Berechenbarkeit des Rechts ist der Zustand, in dem der Bürger weitgehend imstande ist, das eingeengte und wenig variable Spektrum der abstrakt eigenen oder fremden Rechtshandlungen oder Tatsachen zuweisbaren Folgen und das eingeengte Zeitspektrum der Anwendung der endgültigen Folge zu antizipieren und zu ermessen. Eines der Elemente, das die Reichweite und Intensität der Veränderungen reduziert, ist die auf die drei Staatsgewalten bezogene interne wie externe Bindungskraft des Rechts. Die Legislative ist einerseits extern an die Verfassungsordnung gebunden, besonders an die Kompetenzregeln und an die Verfassungsprinzipien, sowie an die Präzendenzfälle mit bindender Kraft. Ihre Tätigkeit darf diese Grenzen nicht überschreiten. Ebenso ist, obwohl es einen Gestaltungsspielraum und eine Freiheit in der Bestimmung der Prämissen beim Erlass von Gesetzen gibt, ihr Inhalt auch nicht dem Zufall unterworfen, sondern eher an die Verfassungsordnung gebunden. Andererseits ist die Legislative auch intern an ihre eigene Tätigkeit gebunden, da sie gleichfalls nicht zu einem Zeitpunkt legislative Kriterien der Differenzierung der Steuerzahler wählen und sie zu einem anderen Zeitpunkt ohne irgendeine Rechtfertigung aufgeben kann, da andernfalls das Gleichheitsprinzip verletzt würde. Anders gesagt, ist die Tätigkeit der Legislative intern und extern unter Druck gesetzt, was Extension wie Intensität zukünftiger Änderungen verringert und damit dem Steuerzahler weitgehend die Berechnung zukünftigen Rechts erlaubt.

704

Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: Depenhauer, Otto u. a. (Hrsg.), Staat im Wort – FS für Josef Isensee, S. 265 sowie 267.

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Die Exekutive ist gleichfalls einerseits extern und unmittelbar sowohl an das Gesetz als auch an die Präzedenzfälle mit Bindungskraft und extern und mittelbar an die Verfassungsordnung gebunden, vor allem an die ihre Tätigkeit bedingenden Regeln und Prinzipien. Ihre Tätigkeit darf sich also nicht von den gesetzlich und gerichtlich vorgezeichneten Konturen und auch nicht von den von der Verfassung gezogenen Grenzen entfernen. Obwohl es einen größeren oder kleineren Gestaltungsspielraum der Verwaltungstätigkeit gibt, der sich technischen Bewertungen oder Entscheidungsspielräumen verdankt, darf er auf keinen Fall aleatorisch sein. Andererseits ist die Exekutive intern an ihre eigene frühere Tätigkeit gebunden und darf diese nicht ohne Rechtfertigung aufgeben, ohne das Gleichheitsprinzip in der Zeit zu verletzen. Dies bedeutet, dass die Verwaltungstätigkeit intern und extern unter Druck gesetzt ist, was Extension und Intensität möglicher zukünftiger Änderungen verringert und damit dem Steuerzahler weitgehend die Berechnung zukünftigen Rechts erlaubt. Dasselbe Phänomen ist auch bei der Judikative anzutreffen. Sie ist einerseits extern an die Verfassungsordnung gebunden, sowohl an die ihre Tätigkeit bedingenden Regeln und Prinzipien, als auch an die Regeln und Prinzipien, deren legislative und verwaltungsmäßige Konkretisierung ihr zu kontrollieren obliegt. Obwohl es also einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Bestimmung der mit den Verfassungsregeln vereinbaren Normbedeutungen und hinsichtlich der Bestimmung der zur Verwirklichung der Verfassungsprinzipien angemessenen und notwendigen Mittel gibt, darf die richterliche Tätigkeit auch nicht kasuistisch und willkürlich sein, da sie an die Verfassungsordnung, die anzuwenden ihr obliegt, gebunden ist. Andererseits ist die Judikative intern an ihre eigene frhere Tätigkeit gebunden und darf diese weder ohne Rechtfertigung aufgeben, bei Strafe der Verletzung des Prinzips der Gleichheit in der Zeit, noch ohne Berücksichtigung der aufgrund einer früheren Auffassung konsolidierten Rechtslagen ändern. Dies bedeutet, dass die richterliche Tätigkeit gleichfalls intern und extern unter Druck gesetzt ist, was Extension und Intensität der erlaubten zukünftigen Änderungen verringert und damit eine größere Berechenbarkeit des Rechts fördert. Aufgrund ihrer Bedeutung für die Existenz eines Zustands der Berechenbarkeit des Rechts wird jede dieser Einschräkungen getrennt untersucht. (bb) Grenzen der Tätigkeit der Legislative (α) Äußere Grenze Das Demokratieprinzip und die Kompetenzregeln weisen der Legislative einen Gestaltungsspielraum und Spielraum bei der Festlegung von Prämissen der Konkretisierung der Verfassungsordnung zu. Der Gesetzgeber hat also die Prärogative, den Inhalt der allgemeinen und abstrakten Normen zu bestimmen. Diese Prärogative unterliegt jedoch den Regeln und Prinzipien der Verfassung.

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Hinsichtlich der Verfassungsregeln ist festzustellen, dass sie nicht nur Formerfordernisse für die Tätigkeit der Legislative statuieren: sie begrenzen auch – und das ist für das hier erörterte Thema wichtiger – materiell den Inhalt der Gesetze, vor allem in steuerrechtlichen Materien. Eine Eigentümlichkeiten der CF/88 besteht in der Zuweisung von Befugnissen durch Kompetenzregeln. Statt dem unterverfassungsrechtlichen Gesetzgeber die Erfüllung dieser Aufgabe durch einfaches Gesetz oder Ergänzungsgesetz zu überlassen, hat sie selbst beschlossen, dies zu übernehmen. Und statt die Gewalt vermittels Prinzipien zu teilen, indem sie nur einen zu erreichenden Zweck festlegt und den Bereich der auszuübenden Gewalt nicht eingrenzt, hat sie beschlossen, dies durch Regeln zu bewerkstelligen, deren Hauptmerkmal in der Beschreibung des erlaubten, verbotenen oder gebotenen Verhaltens besteht. Unter allen Funktionen der Regeln ist eine im Hinblick auf das hier erörterte Thema hervorzuheben: die Allokation der Gewalt. Mit ihr bezwecken die Regeln die Neutralisierung des wichtigsten sich aus ihrer Ausübung ergebenden Problems, ihres unbeschränkten Gebrauchs. Die Anweisung von Besteuerungsgewalt erfolgt also vermittels Regeln, die besteuerbare Sachverhalte beschreiben, so dass es nur Besteuerungsgewalt bei Sachverhalten gibt, deren Begriffe sich in die in diesen Regeln festgelegten Begriffe einfügen. Daher sind die in den Kompetenzregeln festgelegten begrifflichen Grenzen unüberschreitbar: jenseits ihrer gibt es keine Besteuerungsgewalt. Nicht zufällig hat der Oberste Bundesgerichtshof bei seiner Aussage über die Kompetenzregeln versichert, dass der Interpret „[…] nicht über die semantischen Grenzen hinausgehen darf, die unüberschreitbar sind“705. So legt die CF/88 selbst Regeln fest, die durch Kombination eines Tatbestands und einer Rechtsfolge rekonstruiert werden können und mittel- oder unmittelbar die verschiedenen auf jeden dieser Teile bezogenen Aspekte bestimmen. Hinsichtlich des Tatbestands lässt sich das von der Kompetenz eines jeden Gliedstaats festgelegte Verhalten (materialer Aspekt), der von dieser Kompetenz festgelegte Zeitraum (temporaler Aspekt) und der von dieser Kompetenz festgelegte Raum (räumlicher Aspekt) rekonstruieren. Und hinsichtlich der Rechtsfolge lässt sich gleichfalls feststellen, wer das aktive und passive Subjekt (persönlicher Aspekt) und wie hoch der Betrag der Zahlungspflicht (quantitativer Aspekt) ist706. Der Ausdruck „Matrixregel des Steuertatbestands“ bezeichnet die wesentlichen Elemente der Besteuerungsregel und bezweckt die Ermöglichung der Identifikation und der vertieften Erkenntnis seiner irreduziblen Einheit durch Vorlage einer formalen operativen und praktischen Schematisierung707. Die Besonderheit der CF/88 liegt genau darin, dass sie die materiellen Aspekte der Tatbestände beschreibt. Für die meisten Abgaben, besonders die Steuern, aus-

705

RE Nr. 71.758, Plenum, Berichterstatter: Richter Thompson Flores, DJ 31. 08. 73. Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 21. Aufl., S. 263. 707 Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 21. Aufl., S. 381. 706

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genommen die Gebühren und einige Beiträge, beschreibt die Verfassung die Sachverhalte, die Gegenstand der Besteuerung sein können, sei es durch unmittelbare Angabe der Begriffe, sei es durch die mittelbare Einverleibung vorkonstitutioneller unterverfassungsrechtlicher Begriffe. Wenn die CF/88 einen Terminus benutzt, ohne ihn anders zu bestimmen, verleibt sie sich am Ende den Begriff ein, der im vor ihrer Verlautbarung geltenden einfachen Recht verwendet worden ist. Auch zu diesem Thema hat das Plenum des Obersten Bundesgerichtshofs sich wiederholt geäußert: als es die Einführung eines Sozialbeitrags auf den Umsatz diskutierte, beschloss es, dass dieser Begriff der im unterverfassungsrechtlichen vorkonstitutionellen Recht festgelegte sei, nämlich der in der Gesetzesverordnung Nr. 2.397/87 i. V. m. dem AG-Gesetz festgelegte Begriff des Umsatzes (Bruttoeinnahmen aus dem Verkauf von Waren und Dienstleistungen als betrieblicher Tätigkeit)708; als das Gericht die Erhebung des Sozialbeitrags auf die Lohn- und Gehaltsliste bei den Vergütungen an freiberufliche Verwalter prüfte, beschloss es, dass der Lohnbegriff der im unterverfassungsrechtlichen vorkonstitutionellen Recht eingeführte sein solle, nämlich der in der brasilianischen Arbeitsgesetzbuch (Consolidação das Leis do Trabalho) festgelegte Begriff (Vergütung, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zahlt, wobei unter Arbeitnehmer derjenige zu verstehen ist, der kontinuierlich in untergeordneter Funktion an den Arbeitgeber gebunden ist)709; als das Gericht die Einführung der Steuer auf den Warenumsatz für die Einfuhr von Waren durch eine natürliche Person prüfte, entschied es, dass der Warenbegriff derjenige wäre, der in der einfachen vorverfassungsrechtlichen Gesetzgebung, nämlich im Handelsgesetzbuch festgelegt war (bewegliche Sache, die Gegenstand des Handels durch den, der gewöhnlich Handel treibt, sein kann)710; als das Gericht die Einführung der Steuer auf Dienstleistungen für Mietverträge prüfte, entschied es, dass der Dienstleistungsbegriff derjenige sei, der in der einfachen vorkonstitutionellen Gesetzgebung, nämlich im Begriff der Verbindlichkeit, etwas zu tun, im Bürgerlichen Gesetzbuch (Código Civil) festgelegt war (menschliche Anstrengung zugunsten einer anderen Person)711. Kurz, die Verfassung setzt Begriffe oder setzt sie voraus: sie setzt sie, wenn sie ausdrücklich die von den benutzten Termini konnotierten Eigenschaften angibt; sie setzt sie voraus, wenn sie in das einfache vorkonstitutionelle Recht im Rahmen des von den steuerrechtlichen und allgemeinen Kompetenzregeln erlaubten Raums Begriffe der neuen Verfassungsordnung aufnimmt. Auf beide Weisen, egal wie, liefert die Verfassung – um hier den vom Obersten Bundesgerichtshof verwendeten Ausdruck zu benuzten-„Verfassungsgrenzpfähle“ bzw. „Verfassungs 708 RE Nr. 150.755-1, Plenum, Berichterstatter: Richter Carlos Velloso, Berichterstatter für das Urteil Richter Sepúlveda Pertence, DJ 20. 08. 93. 709 RE Nr. 16:6.772–9, Plenum, Berichterstatter: Richter Marco Aurélio, DJ 16. 12. 94. 710 RE Nr. 203.075-9, Erster Senat, Berichterstatter: Richter Ilmar Galvão, Berichterstatter für das Urteil: Richter Maurício Corrêa, DJ 29. 10. 99. 711 RE Nr. 116.121-3, Plenum, Berichterstatter: Richter Octávio Gallotti, Berichterstatter für das Urteil: Richter Marco Aurélio, DJ 25. 05. 01.

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pfähle“ (balizas constitucionais), die der Steuergesetzgeber nicht überschreiten darf.712 Aus diesem Grund dürfen diese Begriffe nicht Gegenstand der Änderung seitens der Legislative sein. Obwohl die Gemeinden die Dienstleistungen autonom besteuern können, dürfen sie nur menschliche Verhaltensweisen besteuern, die wirtschaftlich signifikant sind und Dritten Vorteile verschaffen. Obwohl die Bundesstaaten die Tatbestände der Warenumsatzsteuer autonom besteuern können, dürfen sie diesbezüglich nur die Eigentumsübertragung beweglicher Güter auf dem Wirtschaftsmarkt besteuern. Obwohl der Bund die Besteuerungsgewalt zur Einführung der Einkommensteuer hat, darf er diesbezüglich nur die Vermögenszuwächse besteuern, die in einem bestimmten weder zu langen noch zu kurzen Zeitraum erfolgt sind. Diese Beispiele, denen andere hinzugefügt werden könnten, zeigen nur, dass die CF/88 begriffliche „Grenzpfähle“ vorgibt, die vom Gesetz­ geber nicht überschritten werden dürfen. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers muss sich in diesem Normbereich bewegen. Zur Forderung nach Berechenbarkeit engt diese materiale Einschränkung das Spektrum gesetzgeberischer Tätigkeit ein, indem sie erlaubt, dass der Bürger weitgehend zur Vorwegnahme und Messung der zukünftigen Besteuerung imstande ist. Obwohl der Steuerzahler wiederum seine zukünftigen Steuerpflichten nicht genau vorhersehen kann, ist er imstande, die Grenzen zu berechnen, in die diese Pflichten sich zwangsläufig einfügen werden. Die in den Kompetenzregeln vorgesehene Besteuerungsgewalt darf jedoch nur gemäß den auf die jeweilige Abgabe anwendbaren Verfassungsprinzipien aus­geübt werden. Diese Prinzipien legen sowohl Höchstbesteuerungsgrenzen als auch bei der Gestaltung der Steuerpflicht zu berücksichtigende Kriterien fest. Wie oben schon gesagt worden ist, werden nicht alle in der Verfassung genannten Abgaben auf dieselbe Weise beschrieben und dienen auch nicht der Erreichung desselben Zwecks: es gibt Abgaben, deren Erfordernisse festgelegt sind, deren Sachverhalte aber noch nicht vorgeschrieben sind, wie im Fall der Gebühren (Art. 145 II); es gibt Abgaben, bei denen, statt einer Beschreibung ihres Tatbestands, die Sachverhaltsvoraussetzungen vorgeschrieben sind, wie im Fall der Beiträge zum Eingriff in die Wirtschaft und die Zwangsanleihen (Art. 148 f.); und es gibt sogar einige Steuern, die, obwohl die Verfassung viele Aspekte recht detailliert behandelt, beträchtliche Unbestimmtheitsbereiche haben, wie im Fall der Einkommensteuer (Art. 153)713. Alle diese Beobachtungen sollen zeigen, dass die Konturen der Kompetenzregeln, obwohl diese als wertvolle Grenzen staatlichen Handelns und in dieser Eigenschaft als Instrumente der Berechenbarkeit des Rechts wirken, ständig durch die Rechtswissenschaft und Rechtsprechung zu präzisieren sind. 712

RE Nr. 116.121-3, Plenum, Berichterstatter: Richter Octávio Gallotti, Berichterstatter für das Urteil: Richter Marco Aurélio, DJ 25. 05. 01. Votum des Richters Marco Aurélio, S. 705. 713 Ricardo Lobo Torres, Legalidade tributária e riscos sociais, in: RDDT 59 (2000), S. 101 sowie 103.

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Im Fall der Grenzen darf keine Steuerpflicht Wirkungen verursachen, welche die Grundrechte der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit übermäßig einschränken, da andernfalls das Übermaßverbot verletzt würde, das sich aus dem unverletzlichen Wesenskern eines jeden dieser Rechte herleitet. Um diese implizite Grenze zur Grundrechtsordnung deutlich zu machen, hat die CF/88 die Einführung von Abgaben mit Konfiskationswirkung ausdrücklich verboten (Art. 150 IV)714. Obwohl man die Höchstbesteuerungsgrenze nicht genau angeben kann, wirkt die bloße Existenz der Grenze schon als Berechenbarkeitsfaktor, da sie ein maximales Spektrum vorgibt, in dem die Steuerpflichten eingeführt werden können. Nach verfassungsrechtlicher Kriterien, sind die Steuerpflichten so zu gestalten, dass sie die Gleichbehandlung der Steuerzahler in der gleichen Situation (Art. 150 III) und die Skalierung der Steuerpflichten mit fiskalischem Zweck nach der Leistungsfähigkeit der Steuerzahler (Art. 145 § 1) gewährleisten. Auf gleiche Weise kann man, obwohl man die konkreten steuerrechtlichen Folgen, denen die Steuerzahler in der Zukunft unterliegen werden, nicht genau vorwegnehmen kann, aufgrund der Besteuerungsprinzipien die Kriterien berechnen, die notwendig bei der Gestaltung der konkreten Pflichten zu beachten sind. Wie schon dargelegt, enthält das Kapitel über das Finanzwesen im deutschen Grundgesetz nur die Angabe der Abgabenarten ohne Bestimmung der Tatbestände, anders als im von der CF/88 normierten Abgabensystem. Trotzdem hat das Grundgesetz Grenzen der Besteuerung spezifiziert. So kann beispielsweise das Verbot eines Abgabensystems mit Konfiskationswirkung, auch wenn es nicht ausdrücklich im Verfassungstext steht, unschwer aus den Grundrechten der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit und des Eigentums abgeleitet werden, wobei Grundrechte ausdrücklich nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden dürfen (Art. 19 Abs. 2). Außerdem wurde das Gleichheitsprinzip als Grundrecht im Grundgesetz statuiert. Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit lässt sich behaupten, dass sie die inhaltliche Konkretisierung des Gleichheitsprinzips ist, spezifisch für seinen Sachbereich, notwendig auf materiale Prinzipien bezogen und vor allem an Wert­entscheidungen und die Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung im Grundgesetz gebunden.715 Diese Bemerkungen sollen den Nachweis erbringen, dass die verfassungsrechtlichen Regeln und Prinzipien als Berechenbarkeitsfaktoren wirken, da sie das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten der Legislative bezüglich des zukünftigen Inhalts der Steuerpflichten einengen. Infolgedessen hat der Steuerzahler mehr Freiheit zur Gestaltung seiner Gegenwart, da die materiellen Grenzen der Ausübung der Besteuerungsgewalt schon von der Verfassung gezogen worden sind. 714

Cassiano Menke, A proibição aos efeitos de confisco no Direito Tributário, S. 110 ff. S. zu diesem Thema Paul Kirchhof, Steuergleichheit, in: StuW 4 (1984), S. 297–314; ­Heinrich Wilhelm Kruse, Die Einkommensteuer und die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen, in: Wendt, Rudolf (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Steuern: Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. 715

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(β) Innere Grenze Die Legislative ist auch intern an ihre eigene Tätigkeit gebunden716. Da die Legis­ lative in der Gegenwart bestimmte Kriterien der Differenzierung von Steuerzahlern festgelegt hat, darf sie in der Zukunft diese Kriterien nicht ungerechtfertigterweise aufgeben. Diese Beschränkung ergibt sich aus dem Gleichheitsprinzip, das bei einer Untersuchung in zeitlicher Perspektive Kohärenzpflicht genannt wird717. Wenn der Gesetzgeber beispielsweise ein bestimmtes Kriterium gewählt hat, um den Wert des Lohns im Hinblick auf die staatliche Sozialversicherung festzulegen, mit dem Zweck, den Sozialversicherten den Lebensunterhalt zu gewährleisten, darf er bei Vorliegen desselben Zwecks kein anderes Kriterium wählen, ohne gegen die Gleichbehandlungspflicht zu verstoßen. Dies ist der Fall bei der Festlegung eines Betrags für die von der Sozialversicherung ausgezahlte Rente und eines anderen Betrags für die Grenze der Freistellung von der Einkommensteuer. Wenn beide Beträge die Erreichung desselben Zwecks verfolgen, nämlich die Gewährleistung der notwendigen Bedingungen eines menschenwürdigen Überlebens, darf der Gesetzgeber nicht ohne einen die Änderung rechtfertigenden Grund andere Beträge wählen. Falls er in einem anderen Beispiel seine Gestaltungsfreiheit zugunsten der Einführung einer nichtkumulativen Abgabe benutzt hat, obwohl diese Nichtkumulierbarkeit nicht von der Verfassung vorgegeben worden war, darf er das gewählte Besteuerungskriterium nicht aufgeben, wenn er nicht einen rechtfertigenden Grund dafür angeben kann. Diese Beispiele, denen andere hinzugefügt werden könnten, sollen nur den Nachweis erbringen, dass die Gleichheit selbst, die zuweilen auch als Systemgerechtigkeit oder Folgerichtigkeit bezeichnet wird, Grenzen der Gestaltungsmacht der Legislative vorgibt. So muss der Gesetzgeber, selbst wenn er anfangs die Freiheit zur Festlegung der präzisen Konturen der Besteuerung hat, nachdem diese Freiheit einmal durch Wahl eines bestimmten Kriteriums ausgeübt worden ist, dieses Kriterium als Grundlage des Vergleichs zwischen den Steuerzahlern zur Gestaltung des gesamten steuerrechtlichen Regimes verwenden. Bezüglich der Forderung nach Berechenbarkeit macht sich die Gleichbehandlungspflicht in der Zeit auch geltend, um Reichweite und Intensität zukünftiger Änderungen durch Bindung des Gesetzgebers an seine vergangene Tätigkeit zu reduzieren. 716

Christoph Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat. München, S. 29 ff.; Christoph Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Länderfinanzausgleich, in: ZG 15 (2000), S. 79–90; Franz-­ Joseph Peine, Systemgerechtigkeit  – Die Selbstbindung des Gesetzgebers als Maßstab der Normenkontrolle, S. 105 ff.; Joachim Burmeister, Selbstbindung der Verwaltung. Zur Wirkkraft des rechtsstaatlichen Übermaßverbots, des Gleichheitssatzes und des Vertrauensschutzprinzips, in: DÖV 34 (1981), S. 503–512. 717 Michael Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 499.

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(cc) Grenzen der Tätigkeit der Exekutive (α) Äußere Grenze Die Exekutive ist primär an das Gesetz und die Akte, die gleiche Kraft haben, wie die übrigen normativen Primärinstrumente und die Präzedenzfälle mit bindender Kraft, gebunden. Die CF/88 ist diesbezüglich emphatisch: Art. 2 statuiert das Prinzip der Gewaltenteilung, das der Legislative, Exekutive und Judikative Unabhängigkeit und Harmonie gewährleistet; Art. 5 statuiert das Gesetzmäßigkeitsprinzip, indem er festlegt, dass niemand gezwungen wird, etwas zu tun oder nicht zu tun, es sei denn aufgrund eines Gesetzes; Art. 37 führt die Prinzipien der staatlichen Verwaltung ein, in die er die Gesetzmäßigkeit aufnimmt; und Abschnitt I von Art. 150 sieht die Regel der Gesetzmäßigkeit in steuerrechtlichen Materien vor, indem er fordert, dass Abgaben nur durch ein Gesetz eingeführt oder erhöht werden können. Aus diesem Grund ist die gesamte Verwaltungstätigkeit an die gesetzlichen Bestimmungen gebunden. Verboten ist nicht nur die Besteuerung von Tätigkeiten, die nicht in den gesetzlichen Rahmen passen, sondern auch die Verwendung von Vermutungen, Fiktionen und Indizienbeweisen, um den Eintritt des Steuertatbestands zu unterstellen718. Wesentlich ist, um es in einem Wort zu sagen, die Fremdbindung der Exekutive719. Deshalb spricht man vom Vorrang des Gesetzes: in einem Konflikt zwischen einem Verwaltungsakt oder einem normativen Akt der Verwaltung und einem Gesetz gebührt der Vorrang dem Gesetz. Im Hinblick auf das hier erörterte Thema reduziert diese Bindung den Handlungsbereich der Verwaltung und damit das Spektrum der normativen Folgen, die den von den Steuerzahlern vorgenommenen Handlungen zugewiesen werden können. Und der Reduktion des Handlungsbereichs der Verwaltung entspricht eine Demarkation des erlaubten Handlungsbereichs der Privatleute. Mittelbar ist die Exekutive auch an die Verfassungsordnung gebunden, vor allem an die ihre Tätigkeit bedingenden Regeln und Prinzipien. Die CF/88 ist auch im Hinblick auf diesen Aspekt recht reichhaltig, da sie eine Reihe von Kompetenzregeln für die Exekutive vorsieht und von vornherein Behörden, Organe, Materien und Quellen nennt, die am Prozess der Verfassungskonkretisierung teilnehmen können (Art. 18 ff. u. 37 ff.). Das deutsche Grundgesetz gewährleistet mit der Gesetzmäßigkeit die Bedingung der Garantie, wenn es anordnet, dass Eingriffe in Freiheitsrechte nur aufgrund eines Gesetzes erfolgen dürfen (Art. 2 Abs. 2). Die Bundesverwaltung ist in Art. 83 ff. normiert.

718

Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 474 ff.; Leonardo de Paola, Presunções e ficções no Direito Tributário, S. 76 ff. 719 Maximilian Wallerath, Die Selbstbindung der Verwaltung. Freiheit und Gebundenheit durch den Gleichheitssatz, S. 20.

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(β) Innere Grenze Die Exekutive ist gleichfalls an ihre eigene frühere Tätigkeit gebunden und darf diese nicht ohne Rechtfertigung aufgeben, ohne das Gleichheitsprinzips in der Zeit zu verletzen720. Selbst in den Fällen, in denen es einen gewissen Ermessungsspielraum geben kann, darf die Verwaltung, falls dieser Ermessenspielraum ausgeübt und kontinuierlich bestätigt worden ist, ihn nicht grundlos anders ausüben als bisher. In diesen Fällen legt die ständige Praxis der Verwaltung schließlich Richtlinien über ihre Auffassung fest, die in der Zukunft wegen des Gleichheitsprinzips nicht ohne weiteres missachtet werden dürfen. Selbstbindung der Verwaltung bedeutet also die Bindung der Verwaltung im Bereich ihrer eigenen Wertungsmöglichkeiten an ein Differenzierungsschema, das sie selbst vorher festgelegt hat, mit der Folge, bei der Behandung gleicher Fälle dieses Schema nicht ohne Rechtfertigung aufgeben zu dürfen721. Die der Selbstbindung der Verwaltung zugrundeliegende Idee beruht auf der Schließung von Wertungsspielräumen infolge ihrer früheren Konkretisierung durch die Verwaltung selbst. Wenn die Verwaltung einmal auf eine bestimmte Weise gehandelt hat, darf sie in gleichen Fällen nicht anders handeln. Die Selbstbindung ist also nichts anderes als die materialen Konkretisierungen von durch die Verwaltung vorher festgelegten Fremdbindungen. Die Aufgabe der früheren Position ohne Rechtfertigung führt zu einer ungleichen Behandlung der Steuerzahler, die sich in der gleichen Lage befinden, und kennzeichnet das Handeln der Verwaltung als willkürlich722. Im Rahmen des Steuerrechts hat die nationale Abgabenordnung beispielsweise in Art. 100 statuiert, dass die Steuerzahler, welche die Ergänzungsnormen der Verwaltung (die von Verwaltungsbehörden erlassenen normativen Akte, die Entscheidungen einzelner oder kollektiver Organe der Verwaltungsgerichtsbarkeit, denen das Gesetz normative Wirksamkeit zuweist, die wiederholt von den Verwaltungsbehörden beobachteten Praktiken, die Vereinbarungen zwischen dem Bund, den Bundesstaaten, dem Bundesdistrikt und den Gemeinden) befolgen, keine Bußgelder zahlen müssen und auch von der Berechnung der Verzugszinsen und der Geldwertberichtigung in der Bemessungsgrundlage befreit sind. Es handelt sich um eine wenn auch abgemilderte Form der Verpflichtung der Verwaltung auf die Bindung an früher vertretene Positionen. Im Bereich des Verwaltungsverfahren auf Bundesebene fordert Art. 2 des Gesetzes Nr. 9.784/99, dass die Verwaltung nach der Sittlichkeit, den ethischen Redlichkeitsstandards, der guten Sitte und Treu und

720 Wolfgang Hoffmann-Riem, Selbstbindung der Verwaltung, in: VVDStRL 40 (1982), S. ­187–239. 721 Maximilian Wallerath, Die Selbstbindung der Verwaltung. Freiheit und Gebundenheit durch den Gleichheitssatz, S. 19. 722 Maximilian Wallerath, Die Selbstbindung der Verwaltung. Freiheit und Gebundenheit durch den Gleichheitssatz, S. 35.

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Glauben handelt, wozu auch die Verpflichtung gehört, sich nicht in Widerspruch zu seinem Verhalten zu begeben (venire contra factum proprium)723. Einer der Typen der Verwaltungsbindung ergibt sich aus der durch die Kontinuität der Stellungnahmen der Verwaltung konsolidierten Verwaltungspraxis, die auch in der Figur der Kettenverwaltungsakte vorliegt. Diese Praxis bindet die Verwaltung, wenn darin eine konkludente Stellungnahme zu einer bestimmten Materie ausgemacht werden kann, so dass die Verwaltung diese Stellungnahme nicht ohne Verletzung des Prinzips von Treu und Glauben aufgeben kann. Sie gibt aber die Bindung auf, wenn es spezifische Fragen gibt, die in den vorherigen Fällen, welche die Praxis konsolidiert haben, nicht untersucht worden sind, weshalb der Privatmann hier nicht erwarten kann, dass die Verwaltung sich zukünftig genau so verhält, wie sie sich in der Vergangenheit verhalten hat, sofern nicht andere mit dem Vertrauensschutz zusammenhängende Elemente vorliegen und andere Bindungen zur Folge haben724. Neben der sich aus dem Gleichheitsprinzip ergebenden Selbstbindung gibt es auch andere Bindungen, die sich von früher von der Verwaltung eingenommenen Positionen herleiten. In diesem Bereich sind vor allem folgende Bindungen zu erwähnen: die Verträge, durch welche die Verwaltung bestimmte Verpflichtungen in Bezug auf einen bestimmten Fall oder eine bestimmte Rechtsbeziehung eingeht, oder die Zusage, vermittels derer die Verwaltung dem Bürger in Bezug auf einen konkreten Fall antwortet und mitteilt, wie sie in Zukunft entscheiden wird725. Beide Male ist die Verwaltung jedoch nicht bezüglich anderer Fälle gebunden, weil sie auf eine bestimmte Weise in einem Fall gehandelt hat; sie ist in diesen konkreten Fall gebunden, und zwar aufgrund der Prinzipien der Rechtssicherheit, der Sittlichkeit und von Treu und Glauben, in den Fällen, in denen die Privatperson aufgrund der Stellungnahme der Verwaltung Akte der Disposition über ihre Freiheits- und Eigentumsrechte vorgenommen hat726. Im Bereich des steuerrechtlichen Verwaltungsverfahrens auf Bundesebene sehen Art. 46 ff. der Verordnung Nr. 70.235/72 die Möglichkeit vor, dass der Steuerzahler eine Anfrage über die auf einen bestimmten Sachverhalt anzuwendenden steuerrechtlichen Bestimmungen einreicht, und legen fest, was in unserem Zusammenhang wichtig ist, dass kein Verfahren der Finanzbehörde gegen den Steuerschuldnerhinsichtlich der angefragten Materie von der Einreichung der Anfrage bis zum dreißigsten Tag nach dem Datum der Kenntnisnahme in Gang gesetzt wird. Man 723 S. zu diesem Thema im deutschen Recht Kyrill-A Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 140. 724 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 739. 725 Maximilian Wallerath, Die Selbstbindung der Verwaltung. Freiheit und Gebundenheit durch den Gleichheitssatz, S. 19; Beatrice Dalichau, Askünfte und Zusagen der Finanzverwaltung, S. 29 ff.; Winfried Fiedler, Funktion und Bedeutung öffentlich-rechtlicher Zusagen im Verwaltungsrecht, S. 31 ff. 726 Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 700.

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bemerke, dass diese Bestimmung, die nur den Steuerpflichtiger schützt, sich auf die Wirksamkeit der Anfrage selbst bezieht, natürlich ohne irgendetwas in Bezug auf die eventuelle Änderung der Anfrage auszusagen, da die Verwaltung der Auffassung ist, dass diese unangemessen beantwortet worden ist. In diesen Fällen wird die Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips die Bindung der Verwaltung dann erfordern, wenn infolge der Anfrage die Privatperson über Grundrechte der Freiheit oder des Eigentums disponiert hat. Aus der Sicht des Steuerzahlers ist die Anfrage nur dann sinnvoll, wenn sie die Verwaltung bindet und aus diesem Grund einen Schutzraum für die Ausübung der Grundrechte ermöglicht. Wenn dem so ist, ist der Schutz aufgrund der Prinzipien des Vertrauensschutzes und von Treu und Glauben zu gewähren, selbst wenn die Antwort auf die Anfrage für unwirksam erklärt wird727. (dd) Grenzen der Tätigkeit der Judikative (α) Äußere Grenze In einem Gewaltenteilungssystem besteht die Tätigkeit der Judikative in der Rekonstruktion der Bedeutungen der von der Legislative statuierten Bestimmungen. Außerdem prüft die Judikative den Eintritt von Sachverhalten durch eine Reihe von zusammenhängen Akten, deren Zweck die Recht-Sprechung ist. Hier geht es nicht darum, in die unendliche Diskussion darüber einzusteigen, ob die Judikative Normen „erklärt“ oder erstmalig „konstituiert“. Es geht vielmehr nur darum, zu beweisen, dass die Ausgangspunkte der Judikative die von der Legislative statuierten normativen Bestimmungen sind. Obwohl man also zugibt, dass die gesetzlichen Normtexte keine Normen einkapseln, sondern nur mehr oder weniger bestimmte Bedeutungskerne festlegen, die argumentativ vom sachlichen und normativen Standpunkt aus kontextualisiert werden müssen, um ihren vollen Sinn zu erhalten, muss die Judikative sie als Bezugspunkte zur Anwendung des Rechts benutzen. Diese Bindung ergibt sich nicht nur aus dem Gewaltenteilungsprinzip (Art. 2), das eine an die aus der Legislative ergehenden Befehle sich haltende Gerichtstätigkeit fordert, sondern auch aus der Regel der Gesetzmäßigkeit (Art. 5 I und 150 II), die verhindert, dass Steuerpflichten unmittelbar und ausschließlich auf gerichtliche Entscheidungen gegründet sind. Im deutschen Grundgesetz ergibt sich diese Bindung aus der Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt (Art. 97 Abs. 1) und der Gewährleistung der Gesetzmäßigkeit (Art. 20 Abs. 3). Das deutsche Grundgesetz hat auch eine formelle Bindung an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ermöglicht, nämlich in der Bestimmung, dass ein Bundesgesetz vorsieht, in welchen Fällen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft haben (Art. 94 Abs. 2).

727

Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 707 sowie 715.

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Hervorzuheben ist, dass alle Bemerkungen über die Notwendigkeit, im Allgemeinen im Bereich des Prozessrechts Überraschungen zu verhindern, wieder wichtig werden, da die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion gegenüber staatlichen Eingriffen auch die Überraschung im Bereich der Verfahren abwehren, sowohl bei Verwaltungs- als auch bei Gerichtsverfahren728. Deshalb darf der Bürger im Lauf des Verfahrens nicht durch Maßnahmen überrascht werden, die seine Erwartungen enttäuschen oder seinen Anspruch auf umfassende Verteidigung und rechtliches Gehör mittel- oder unmitterbar beeinträchtigen, wie etwa die Hinzufügung von Beweisen ohne Einsichtnahme in die Akten oder die Einführung eines neuen Arguments im zweitinstanzlichen Verfahren. (β) Innere Grenze Da der Richter Sachverhalte interpretiert, die seiner Entscheidung zugrundeliegen, betrifft seine Interpretation immer Sachverhalte, die vorher eingetreten sind, und ist in diesem strikten Sinn deklaratorisch. Der Bürger kann somit nicht genau vorhersehen, welche Interpretationsentscheidung das Gericht treffen wird, da diese erst im Augenblick der Verkündung der Entscheidung bekanntgegeben wird729. Nach diesem Verständnis ist jede Gerichtsentscheidung nicht nur rückwirkend, sondern unvorhersehbar: und wenn das Rückwirkungsverbot und die Vorhersehbarkeit Elemente des Rechtssicherheitsprinzips sind, ist jede Gerichtsentscheidung das Gegenteil des Rechtssicherheitsprinzips. Wie schon dargelegt, vertritt diese Arbeit nicht einen Begriff der Rechtssicherheit als Norm, welche die Verwirklichung eines idealen Zustands der Vorhersehbarkeit als absolute Gewissheit vermittels der Fähigkeit des Bürgers durchsetzt, genau die einzige korrekte Lösung vorauszusehen. Stattdessen wird hier die These vertreten, dass das Rechtssicherheitsprinzip nur die Verwirklichung eines Zustands der Berechenbarkeit vermittels der hohen Fähigkeit der Voraussicht einer reduzierten Anzahl von Entscheidungsalternativen und des Zeitspektrums, in dem die diesbezügliche Entscheidung gefällt wird, erfordert. Nach der hier vertretenen Auffassung ist also nicht jede richterliche Entscheidung rückwirkend oder unvorhersehbar und damit das Gegenteil des Rechtssicherheitsprinzips. Die Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips im Rechtsprechungsbereich erfordert also eine besondere Untersuchung. Die Spruchpraxis ist in gewissem Sinn zur Veränderung und zur Inkohärenz berufen: da im Regelverfahren der Richter den Fall untersucht, der ihm von den Parteien vorgelegt wird, orientiert seine Sicht sich an der Einzelfallgerechtigkeit, nicht an der Gerechtigkeit an sich; da je-

728

André Graumann, Vertrauensschutz und strafprozessuale Absprachen, S. 488 ff. Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 88. 729

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der neue Fall eine nicht vorausgesehene Erfahrung aufweisen kann, die zu einer individuellen Regel aufgrund des Zumutbarkeitspostulats führen kann, kann die Spruchpraxis in einen Zustand der Uneinheitlichkeit münden. Dieser Partikularismus und diese mangelnde Stabilität können sich gegen die das Rechtssicherheitsprinzip bildenden Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit stellen. Das ist allerdings nicht notwendig so, denn wenn die Spruchpraxis nicht nur die prozessrechtlichen Regeln der Vereinheitlichung und Verallgemeinerung befolgt, sondern sich auch aufgrund des Gleichheitsprinzips selbst auf ihre eigenen Präzedenzfälle beschränkt, wird sie mit dem Rechtssicherheitsprinzip vereinbar sein730. Diese Selbstbindung ergibt sich aus der Forderung nach Gleichbehandlung gleicher Fälle. Das Gesetz muss gleichermaßen für alle gelten, durch einheitliche Anwendung auf alle Fälle, die sich nicht in die von der Norm festgelegten Elemente fügen731. Obwohl also „jeder Fall für sich beurteilt werden muss“, obliegt der Judi­ kative die gleichförmige Anwendung ihrer eigenen Präzedenzfälle, indem sie auf zukünftige Fälle die gleiche Behandlung ausdehnt, die sie vergangenen Fällen hat angedeihen lassen, wann immer in den zukünftigen Fällen dieselben relevanten Sachverhalte vorliegen. Dies bedeutet nicht, dass die Judikative sich nicht von ihren Präzedenzfällen abwenden kann. Es bedeutet nur, dass sie, nachdem sie eine Entscheidungsstrategie gewählt hat, diese nur dann aufgeben kann, wenn die entsprechenden zureichenden Rechtsfertigungsgründe vorliegen732. Wichtig im Hinblick auf das hier erörterte Thema ist die Tatsache, dass die genannte Selbstbindung an die eigenen Präzedenzfälle als Berechenbarkeitsfaktor des Rechts wirkt, da die Tätigkeit der Judikative mit ihr einen Zuwachs an Vorhersehbarkeit erfährt. Indem es die zukünftige Tätigkeit nach Maßgabe der vergangenen Tätigkeit einschränkt, engt das Gleichheitsprinzip das Spektrum und die Variationsbreite der Rechtsfolgen ein, die den vom Steuerzahler vorgenommenen zuweisbar sind. Ein anderer interner Faktor der Reduktion der Reichweite und Intensität zukünftiger Entscheidungen ergibt sich aus der hierarchisierten Struktur der Judikative einerseits und aus der formalen Bindung an einige judizielle Präzedenzen andererseits. Die hierarchisierte Struktur der Judikative ergibt sich u. a. aus der Tatsache, dass es kompetente Organe gibt, die letztinstanzlich über bestimmte Materien entscheiden können. So obliegt dem Obersten Bundesgerichtshof in einem außerordent­

730

Michael Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 461 ff.; Wilhelm Hartz, Mehr Rechtssicherheit im Steuerrecht. Ziele, Wege, Grenzen, in: StbJb 1965/1966, S. 117. 731 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 448; Christoph Eduard Ziegler, Selbstbindung der Dritten Gewalt, S. 98 sowie 241. 732 Rainer Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), S. 124.

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lichen Rechtsmittelverfahren (Recurso Extraordinário) die Entscheidung über Verletzungen von Verfassungsnormen (Art. 102) und dem Obergerichtshof der Justiz in einem besonderen Rechtsmittelverfahren (Recurso Especial) die Entscheidung über die in einziger oder letzter Instanz von den regionalen Bundesgerichten oder den obersten Bundesstaatlichen Gerichten und dem Obersten Gericht des Bundesdistrikts entschiedenen Fälle, wenn die Entscheidung, gegen die Berufung eingelegt wird, ein Bundesabkommen oder Bundesgesetz verletzt oder ihre Geltung verneint oder dem Bundesgesetz eine Auslegung widerfahren lässt (Art. 103 III a und c), die von der eines anderen Gerichts abweicht. Diese Kompetenzen bewirken eine Vereinheitlichung der Auffassung der Judikative, insofern sie ungleiche Entscheidungen einer abschließenden Auslegungsvereinheitlichung zuführen. Vom Standpunkt des Steuerzahlers aus gesehen wirken diese Mittel als Berechenbarkeitsfaktoren, vor allem da sie das Spektrum der von der Judikative gefällten Entscheidungen einengen. Die formale Bindung an die richterlichen Präzedenzen wird von Rechtsnormen abgeleitet, die bestimmten Entscheidungstypen ausdrücklich bindende Kraft zuweisen. In der konzentrierten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit produzieren die endgültigen Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofs über die Begründetheit in den direkten Klagen auf Verfassungswidrigkeit und in den deklaratorischen Klagen auf Verfassungsmäßigkeit Wirksamkeit erga omnes und bindende Wirkung für die übrigen Organe der Judikative und der mittel- und unmittelbaren Verwaltung auf Bundes-, Bundesstaats- und Kommunalebene (Art. 102 § 2). In der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gibt es zwei Fälle formaler Bindung. Falls der Oberste Bundesgerichtshof inzident und abschließend die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes erklärt, kann der Bundessenat dessen Anwendung suspendieren (Art. 52 X). Der Oberste Bundesgerichtshof kann auch von Amts wegen oder auf Antrag durch Entscheidung von zwei Dritteln seiner Mitglieder nach wiederholten Entscheidungen in verfassungsrechtlicher Materie einen Leitsatz beschließen, der vom Datum seiner Veröffentlichung im Amtsblatt an bindende Wirkung für die übrigen Organe der Judikative und die mittel- und unmittelbare Verwaltung auf Bundes-, Bundesstaats- und Kommunalebene entfaltet, sowie die Revision oder Kassation dieses Gesetzes unter Beachtung der gesetzlichen Formvorschriften anordnen (Art. 103-A). Ziel dieses Leitsatzes ist präzise die Festlegung einer einheitlichen Interpretation seitens der Judikative hinsichtlich der Gültigkeit, Auslegung und Wirksamkeit bestimmter Normen, über die gegenwärtig Kontroversen zwischen den Organen der Gerichtsbarkeit oder zwischen ihnen und der Verwaltung bestehen, die zu einer gravierenden Rechtsunsicherheit und relevanten Multiplikation von Verfahren über identische Materien führen (§ 1). Die Einheitlichkeit der Auffassung wird durch das Instrument der Beschwerde gewährleistet: gegen einen Verwaltungsakt oder eine gerichtliche Entscheidung, die den anwendbaren Leitsatz nicht beachtet bzw. ihn ungebührlich anwendet, kann Beschwerde zum Obersten Bundesgerichtshof eingereicht werden. Falls das Gericht auf Zulässigkeit der Beschwerde erkennt, erklärt es den Verwaltungsakt für nichtig

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oder kassiert die Gerichtsentscheidung, die Gegenstand der Beschwerde ist, und ordnet eine andere Entscheidung an, je nach Fall mit oder ohne Anwendung des Leitsatzes (§ 3). Entscheidend ist im Hinblick auf diesen Punkt, dass die formale Bindung bestimmter Entscheidungen der Judikative auch als Berechenbarkeitsfaktor wirkt, da die anderen Organe der Judikative diese Entscheidungen berücksichtigen müssen, wodurch die Variationsbreite zukünftiger Entscheidungen eingeengt wird, mit der Folge der Ausweitung des Vorhersehbarkeitsbereichs und damit der Freiheit der Privatperson. Wichtig ist jedoch, dass die vereinheitlichende Funktion der Leitsätze nicht die Untersuchung der Besonderheiten konkreter zukünftiger Fälle behindern darf, wenn nicht der Richter nicht nur seine Unabhängigkeit verlieren, sondern auch noch das eine unterschiedliche Behandlung unterschiedlicher Fälle erfordernde Gleichheitsprinzip verletzen soll733. Dies verdankt sich dem Fall, dass der Leitsatz, so paradox dies anmuten mag, eine Verallgemeinerung von Entscheidungen ist, mit deren Gründen er verbunden ist und von denen er deshalb nicht getrennt werden kann, wie Machado Derzi zu Recht betont734. Dies bedeutet, in anderen Worten, dass bindende Leitsätze eine nichtbindende Seite haben735. (2) Rechtzeitigkeit: die „Sicherheit der Definition“ durch die zumutbare Dauer des Verfahrens Der Forderung der Berechenbarkeit des Rechts wird nicht nur dann Genüge getan, wenn der Bürger weitgehend imstande ist, das enge und wenig variable Spektrum der abstrakt eigenen oder fremden Rechtshandlungen oder Tatsachen zuweisbaren Rechtsfolgen vorwegzunehmen und zu ermessen. Diese Forderung hängt gleichermaßen von einem nicht sehr langen Zeitraum ab, in dem die endgültige Rechtsfolge angewandt wird. Zu dieser Forderung nach Abschluss innerhalb zumutbarer Zeit gelangt man, wenn man den Zweck des Berechenbarkeitsideals selbst berücksichtigt: sein Ziel ist die Bereitstellung von Bedingungen, damit der Bürger in der Ausübung seiner Grundrechte der Freiheit und des Eigentums weder enttäuscht noch überrascht wird. Berechenbarkeit bezweckt die Gewährleistung eines Normbereichs, innerhalb dessen der Bürger in Freiheit und Autonomie seine Grundrechte aus-

733

Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 467. Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 261, sowie 290 ff. 735 Ana Paula Oliveira Ávila, A face não-vinculante da eficácia vinculante das declarações de inconstitucionalidade, in: Ávila, Humberto (Hrsg.), Fundamentos do Estado de Direito – estudos em homenagem a Almiro do Couto e Silva, S. 211. 734

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üben kann. Und da sie die Fähigkeit ist, weitgehend die alternativen Rechtsfolgen vorwegzunehmen, denen der Bürger unterworfen ist, verwandelt die übermäßig lange Zeitspanne zwischen der Voraussicht und ihrer Bestätigung die Berechenbarkeit zukünftiger Wirkungen in die Gewissheit, sie niemals auf diese Weise zu bestimmen. Wenn der Bürger in der Tat sowohl die der Begehung einer Handlung zuweis­ baren reduzierten Rechtsfolgen als auch die Bedeutung dieser Rechtsfolgen kennen kann, jedoch nicht imstande ist, das Zeitspektrum, in dem die tatsächlich angewandte Rechtsfolge festgelegt wird, zu erkennen, ist er am Ende nicht imstande, zu erkennen, welche dieser Rechtsfolgen tatsächlich von den staatlichen Organen umgesetzt wird. Deshalb muss Berechenbarkeit als Fähigkeit bestimmt werden, das enge und wenig variable Spektrum abstrakt Rechtshandlungen oder Tatsachen zuweisbarer Rechtsfolgen und das enge Zeitspektrum, in dem die endgültige Rechtsfolge tatsächlich angewandt wird, vorwegzunehmen und zu ermessen. Die Unbestimmtheit bezüglich der endgültigen Rechtsfolgen darf nicht so lange anhalten, dass sie selbst Untätigkeit verursacht. Hervorzuheben ist, dass die Berechenbarkeit umso größer ist, je ausgedehnter der von ihr erfasste Zeitraum ist. Wenn ein Steuerzahler im Jahr 2008 die geringe Anzahl der seinem Handeln bis 2030 zuweisbaren Rechtsfolgen vorhersehen kann, ist er eher zur langfristigen Planung imstande, was hingegen nicht der Fall ist, wenn seine Voraussicht sich nur auf eine sehr kurze Zeitspanne erstreckt736. Gleiches gilt für die Festlegung der endgültigen Rechtsfolgen: falls der Bürger vor Gericht über die korrekte Auslegungsalternative diskutiert und das Ende des Prozesses, in dem diese korrekte Alternative bestimmt wird, nicht absehbar ist oder allzu lang dauert, kann er auch infolge der Verewigung der Unbestimmtheit nicht mit Sicherheit planen. Eben deshalb gewährleistet die CF/88 allen Bürgern im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren die zumutbare Dauer des Prozesses und die eine schnelle Bearbeitung sicherstellenden Mittel (Art. 5 LXXVIII). Und eben deshalb gewährleistet sie auch die Unverletzlichkeit der Rechtskraft (Art. 5 XXXV). Damit fordert die Verfassung einerseits das schnelle Eintreten der Entscheidung und andererseits die Schnelligkeit ihrer Endgültigkeit. Indem sie das tut, formuliert sie letztendlich ein Ideal der Berechenbarkeit, das präzis durch einen Zustand gekennzeichnet ist, in dem der Bürger frei und selbständig seine Zukunft durch vorweggenommene Erkenntnis der Rechtsfolgen, denen er unterworfen sein wird, und der Zeitspanne, in der sie endgültig festgelegt werden, planen kann. Das deutsche Grundgesetz enthält keine vergleichbare Bestimmung, aber diese Garantie kann aus dem Verfassungstext abgeleitet werden, besonders aus dem Rechtsstaatsprinzip in Anbetracht des

736

Gianmarco Gometz, La certezza giuridica come prevedibilitá, S. 239.

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Umstands, dass die Zumutbarkeit der Prozessdauer als Folge der dynamischen Dimension der Rechtssicherheit anzusehen ist. Die Berücksichtigung der Forderung nach einer zumutbaren Prozessdauer als Ausfluss der dynamischen Dimension des Rechtssicherheitsprinzips bringt einige Folgen mit sich. Eine dieser Folgen bezieht sich auf die Trägheit der Gerichtsorgane bei der Bearbeitung steuerrechtlicher Klagen. In Bezug auf sie und in Anbetracht der Tatsache, dass die Forderung der Berechenbarkeit eine zumutbare Frist für die Bereitstellung der Lösung fordert und es keine Rechtfertigung für die Verspätung gibt, sondern als Erklärung eben nur die Trägheit, lässt sich behaupten, wie Bottallo und Carrazza punktgenau formulieren, dass die interkurrente Verjährung – die den Verlust des Rechts auf Vollstreckung einer Forderung wegen ungerechtfertigter Verzögerung der Bearbeitung des Verwaltungsverfahrens über einen mehr als fünfjährigen Zeitraum bezeichnet –, obwohl sie nicht unmittelbar durch die nationale Abgabenordnung geregelt ist, sich aus dem Rechtssicherheitsprinzip selbst und der neuen verfassungsrechtlichen Forderung nach einer zumutbaren Verfahrensdauer ergibt737. (3) Willkürverbot Bis zu diesem Punkt ist die Bindungsnatur des Rechts als Berechenbarkeitsfaktor untersucht worden: die heute bestehenden Regeln und heute gefällten Entscheidungen binden die Ausübung der Gewalt morgen, wenn eine Änderung nicht zu rechtfertigen ist. Das Gleichheitsprinzip in seiner zeitlichen Dimension durchwirkt also die Forderung nach zukünftiger Beibehaltung vergangener Entscheidungen: gibt es keinen Rechtfertigungsgrund für die Änderung, sind vergangene Entscheidungen in Zukunft beizubehalten, da sie sonst wegen ausbleibender Rechtfertigung nicht hätten gefällt werden dürfen oder, falls es diese Rechtfertigung gab und sie im Lauf der Zeit nicht hinfällig wurde, nicht geändert werden dürfen738. Die Bindungsnatur des Rechts schlägt also auf den Inhalt zukünftigen Rechts durch und ermöglicht dem Bürger zu wissen, dass morgiges Recht grundsätzlich heutigem Recht gleichen wird. Die größere Berechenbarkeit des Rechts ist aber nicht nur auf die zukünftige Beibehaltung gegenwärtiger Normen infolge des Gleichheitsprinzips bezogen, sondern wird auch mit der selbständigen Anwendung des Gleichheitsprinzips assoziiert, nämlich in dem Sinn, dass trotz des Nichtbestehens einer in Zukunft aufrechtzuerhaltenden gegenwärtigen Norm die Ausübung der Gesetzgebungsge-

737

Eduardo Domingos Botallo, Curso de Processo Administrativo, 2. Aufl., S. 164; Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 466. 738 Fabian Lindeiner, Willkür im Rechtsstaat? Die Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen, S. 194 sowie 222.

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walt nicht völlig dem Belieben anheimgestellt ist, da der Bürger nicht grundlos anders behandelt werden darf. Dies bedeutet, dass der Bürger trotz Unkenntnis des Inhalts des zukünftigen Rechts weiß, dass dieses nicht willkürlich sein darf, was die Rechtsgestaltungsfreiheit erheblich einengt739. Das Willkürverbot funktioniert also als Berechenbarkeitsfaktor des Rechts. Selbst wenn es den Bürger nicht zur genauen Voraussicht des zukünftigen Inhalts des Rechts befähigt, zeichnet es zumindest e negativo die Grenzen seiner Gestaltung vor, da es jegliche ungerechtfertigte zukünftige Regelung ausschließt. Rechtssicherheit verhindert, dass die Steuerzahler Opfer politischer Willkür werden740, da abstrakte Regeln bei ihrer Anwendung nicht manipulierbar sind741. Wenn der Bürger weiß, dass das zukünftige Recht sich nicht nur nicht plötzlich und ohne Rechtfertigungsgrund vom heutigen Recht entfernen darf, sondern auch nicht willkürlich im Sinn von bloß kapriziös, ohne Rückhalt in objektiven und motivierten Gründen sein darf, ist er eher imstande, frei und selbständig seine Zukunft zu gestalten. Nach Ataliba verhindern „die Sicherheit der Rechte und die Festlegung der Rechte in unpersönlichen und allgemeinen Gesetzen die kapriziöse Anwendung der Machtinstrumente peremptorisch“742. Ein willkürliches Recht enthält in der Tat den Keim der Unsicherheit und Unordnung, da es kapriziös oder launisch angewandt wird743. Das Recht mag sogar geändert werden, wobei die Begründungslast höher ist744. Das Willkürverbot ist also fester Bestandteil des Rechtssicherheitsbegriffs. Die spanische Verfassung irrt also, wenn sie die Observanz der Rechtssicherheit verlangt und die Willkür verbietet, als ob beide Elemente begrifflich voneinander getrennt werden könnten745. Man könnte behaupten, dass Entscheidungen nicht den Beispielfall zur Lösung anderer Fälle abgeben dürfen, da jeder Fall in seiner Besonderheit zu untersuchen ist. Diese Konzeption vernachlässigt aber die Tatsache, dass bei jeder Entscheidung ein im Hinblick auf andere Fälle verallgemeinerungsfähiger Grund enthalten sein muss. So muss der Entscheidungsgrund den Parameter für andere zukünftige Fälle abgeben und vermittels der Abstraktion und Verallgemeinerung normative

739

Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 52; Fabian Lindeiner, Willkür im Rechtsstaat? Die Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen, S. 116. 740 Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 403; im selben Sinn Rubén Asorey, Seguridad juridica y Derecho Tributário, in: RDT 52 (1990), S. 42. 741 Héctor Villegas, Principio de seguridad jurídica en la creación y aplicación del tributo, in: RDT 66 (o. J.), S. 15. 742 Geraldo Ataliba, Segurança do Direito, tributação e anterioridade, in: RDT 27/28 (1984), S. 51–75. 743 Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 171. 744 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 287. 745 José L. Mezquita del Cacho, Seguridad jurídica y sistema cautelar, in: Teoría de la seguridad jurídica, S. 82.

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Erwartungen für die Zukunft ausbilden, indem er eine gewisse Isonomie bei der Lösung ähnlicher Konflikte sicherstellt746. Alle vorangegangenen Bemerkungen münden in eine wichtige Schlussfolgerung: das Rechtssicherheitsprinzip ist komplex und facettenreich und lässt mehr als eine Erklärungsform zu. Man kann es sowohl als Norm erklären, welche die Verwirk­ lichung von drei parallelen Teilidealen fordert (Verständlichkeit, Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit), als auch als Norm, welche die Konkretisierung eines noch größeren Ideals (Verlässlichkeit) vorschreibt, das seinerseits die Existenz bestimmter Bedingungen (Verständlichkeit und Bindungsnatur) voraussetzt und die Verwirklichung bestimmter Teilideale (Stabilität und Vorhersehbarkeit) fordert. Wir haben der zweiten Option den Vorzug gegeben, da sie nicht nur die Teilideale benennt, deren Verwirklichung durch das Rechtssicherheitsprinzip bestimmt ist, sondern auch die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen erklärt. Rechtssicherheit kann hier definiert werden als ein Verfassungsprinzip, das die Suche nach einem Verlässlichkeitsideal durch Stabilität und Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung aufgrund ihrer Verständlichkeit und Bindungsnatur bestimmt. Im Lauf dieser Arbeit haben wir nicht nur versucht, diese Teilideale, deren Verwirklichung durch das Rechtssicherheitsprinzip bestimmt wird, zu organisieren, sondern auch anzugeben, welche Verhaltensweisen, einmal gewählt, zu ihrer graduellen Verwirklichung beitragen. Diese Arbeit hat also die Zwecke erklärt, deren Erreichung vom Rechtssicherheitsprinzip gefordert wird, und die notwendigen Mittel zu ihrer Erreichung benannt. Damit hat sie mehr als einen bloßen Erklärungszuwachs geschaffen: sie hat sich um eine höhere Effektivität bemüht. Nachdem die Untersuchung des Inhalts des Rechtssicherheitsprinzips abgeschlos­ sen ist, müssen wir uns nun der Untersuchung seiner Wirkungen zuwenden.

746 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 184.

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II. Wirksamkeit der Rechtssichterheit (welches sind die Auswirkungen und das Gewicht der Rechtssicherheit?) „Aber Rechtssicherheit ist nicht der einzige und nicht der entscheidende Wert, den das Recht zu verwirklichen hat. Neben die Rechtssicherheit treten zwei andere Werte: Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit“ (Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. Anhang 3, in: Rechtsphilosophie. Studienausgabe, 2. Aufl., S. 216) „Nun braucht freilich, wer für möglichste Rechtssicherheit eintritt, sich der Erkenntnis, daß nur eine relative Rechtssicherheit erreichbar ist, daß es unübersteigliche Grenzen des Überschauens und Vorauslebens und der scharfen Begriffsbildung gibt, nicht zu verschließen. Es handelt sich tatsächlich nur um die Frage, inwieweit vernünftigerweise der Versuch gemacht werden kann und soll, durch vorausschauende Bestimmung Rechtssicherheit zu schaffen, also um eine Maßfrage“ (Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, S. 60) „Das Hauptproblem der Rechtssicherheit, um das in der Wissenschaft gerungen wird, und das der Gesetzgebungspolitik zu allen Zeiten und auf allen Gebieten, vorzugsweise auf dem Gebiet des Privatrechts, die größten Schwierigkeiten bereitet, ist der Ausgleich zwischen dem fest bestimmten, in allgemeine Regeln gefaßten und dem den Umständen des Einzelfalls sich anpassenden, zwischen dem strengen und dem billigen Recht“ (Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, S. 57) „In diesem machtvollen und formbarem Kontext ringen die Menschen und bäumen sich auf. Sie verlangen nach Ordnung und fürchten dann ihr maßloses Gewicht; sie lassen sich von der Gewissheit verführen und stehen dann ratlos vor der Unbeweglichkeit und Fesselung, in die sie geraten; sie kämpfen für Gerechtigkeit, misstrauen aber den Stereotypen ihrer Verzerrung und der Routine. Trotzdem wird die Verzweiflung nicht überhandnehmen, sondern eher ein unerschütterliches Vertrauen, wenn wir uns davon überzeugen dass die Würde des Menschen in dieser schöpferischen Ratlosigkeit liegt, die immer wieder die Freiheit und die Fähigkeit zur Synthese des menschlichen Geistes herausfordert.“ (Miguel Reale, Geleitwort zu Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. VI).

Das Wort „Wirksamkeit“ kann sich auf die Fähigkeit beziehen, Rechtswirkungen hervorzubringen (rechtliche Wirksamkeit), sowie auf die tatsächliche Befolgung von oder den tatsächlichen Gehorsam gegenüber den normativen Befehlen seitens der Adressaten (Effektivität). Die hier durchgeführte Untersuchung konzentriert sich auf die rechtliche Wirksamkeit der Rechtssicherheit als Rechtsprinzip, nicht auf das Faktum, den Wert, das politische Ideal oder das rechtsbestimmende Element. Die rechtliche Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips beinhaltet ihrerseits zwei große Fragen. Die erste bezieht sich auf ihre normative Funktion, d. h. auf

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die Art und Weise, in der das Rechtssicherheitsprinzip Wirkungen bezüglich anderer Normen oder des menschlichen Verhaltens verursacht. Die zweite bezieht sich auf ihre normative Kraft, d. h. auf die Art und Weise, auf die sie sich in der Konfrontation mit anderen Normen positioniert. Die normative Funktion des Rechtssicherheitsprinzips ist relativ, weil die Gestaltung seiner normativen Qualität und verschiedenen Wirksamkeitsfunktionen von der Perspektive abhängt, von der aus es untersucht wird. Wird das Rechtssicherheitsprinzip erstens in seiner Beziehung zu Prinzipien untersucht, welche die Verwirklichung eines noch umfassenderen Sachverhalts durchsetzen, übernimmt es die Rolle eines Unterprinzips und übt eine auf dieses Ideal bezogene definitorische Wirksamkeitsfunktion aus. In dieser Beziehung und von dieser Perspektive aus gesehen befindet es sich in einer Position analytischer Unterlegenheit. Die Interpretation wird „von unten nach oben“ konkretisiert. Dies ist der Fall in der Beziehung zwischen dem Rechtssicherheitsprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip: als Unterprinzip konkretisiert das Rechtssicherheitsprinzip definitorisch das, was vom Oberprinzip des Rechtsstaats festgelegt wird747. Wird das Rechtssicherheitsprinzip zweitens in seiner Beziehung zu Prinzipien untersucht, welche die Verwirklichung eingeschränkterer Ideale durchsetzen, übernimmt es die Rolle eines Oberprinzips und übt verschiedene Funktionen hinsichtlich dieser Ideale aus: die interpretative Wirksamkeitsfunktion, wenn es den Parameter zur Interpretation der Unterprinzipien abgibt; die abschirmende Wirksamkeitsfunktion, wenn es die Vermeidung der konkreten Anwendung eines der Unterprinzipien, die mit dem umfassenderen Sachverhalt punktuell unvereinbar sind, zum Ziel hat; und integrative Wirksamkeitsfunktion, wenn es als Instrument zur Ausfüllung des sich aus der punktuellen Entfernung von einem Unterprinzip ergebenden Vakuums dient. In dieser Beziehung und von dieser Perspektive aus gesehen befindet es sich in einer Position der analytischen Überlegenheit und liegt „über“ den weniger umfassenden Idealen. Dies ist der Fall in der Beziehung, die das Rechtssicherheitsprinzip mit den Prinzipien der Gesetzmäßigkeit, des Rückwirkungsverbots (als eines Ideals rechtlicher Regelung zukünftiger Fälle)  und des Vertrauensschutzes (als eines Ideals des Schutzes von ursächlich an früheres staatliches Handeln gebundenen Dispositionsakten) unterhält. In der Tat dient das Rechtssicherheitsprinzip als Oberprinzip als Auslegungsparameter zur Neubestimmung dessen, was auf eingeschränktere Weise von seinen Unterprinzipien festgelegt wird, oder als Norm, welche die Anwendung eines Unterprinzips blockieren und folglich das sich daraus ergebende Vakuum auffüllen kann. Diese vorherrschende Position kann auch in Bezug auf Regeln erfolgen (die sehr oft wegen ihrer Bedeutung Prinzipien genannt werden), wie im Fall der Gesetzmäßigkeitsregel (die Erhebung von Abgaben erfordert ein Gesetz stricto sensu), der 747

Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 163 sowie 390 ff.; Delf Buchwald, Prinzipien des Rechtsstaats, S. 181 ff.; Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 422.

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

Regel des Rückwirkungsverbots (das Gesetz muss dem Steuertatbestand vorausgehen) und der Regel der Vorzeitigkeit des Finanzjahrs (um die Abgabe in einem Jahr zu erheben, muss das Gesetz ihrer Einführung oder Erhöhung bis zum Ende des vorherigen Finanzjahrs veröffentlicht worden sein). Interessant ist die Frage, ob in diesem Fall das Rechtssicherheitsprinzip noch technisch als Oberprinzip bezeichnet werden kann, zumal die vertikale Beziehung sich zwischen einem Prinzip und einer Regel bildet. Hervorzuheben ist, dass in einer vertikalen Perspektive in beiden Richtungen, sowohl „nach oben“, bezüglich des Oberprinzips des Rechtsstaats, als auch „nach unten“, bezüglich der Unterprinzipien, die es normativ verdichten, das Rechtssicherheitsprinzip die Position eines „Zwischenprinzips“ einnimmt748. Wenn drittens das Rechtssicherheitsprinzip in seiner unmittelbaren Wirkung untersucht wird, ohne dass irgendeine Norm (Prinzip oder Regel) dazwischentritt, hat es die Eigenschaft eines Prinzips und unmittelbar eine integrative Wirksamkeitsfunktion, indem es das ursprüngliche Vakuum ausfüllt, das durch das Fehlen von Regeln oder Prinzipien hinterlassen worden ist, die die jeweilige Situation spezifisch normieren. Da das Rechtssicherheitsprinzip auch eine Funktion als Oberprinzip hat, wäre es möglich, diese Terminologie für alle Fälle zu verwenden. Man kann aber strenggenommen nicht an ein Oberprinzip denken, wenn nicht in Beziehung zu seinen Unterprinzipien. Ein Oberprinzip ohne Unterprinzip ist eine contradictio in adiecto. Falls „Ober-„ „oben“ oder „über“ etwas bedeutet, kann man sich eine normative Beziehung dieser Eigenschaft ohne eine Norm unter ihr nicht vorstellen. Bei Ausübung dieser Wirksamkeitsfunktion wirkt die Norm in ihrer Eigenschaft als Prinzip, obwohl sie in anderen Beziehungen sowohl die Eigenschaft des Unterprinzips als auch die des Oberprinzips annehmen kann. Nach diesen Betrachtungen stellt sich folgende Frage: „ist“ die Rechtssicherheit als Norm ein Unterprinzip, ein Oberprinzip oder ein Prinzip? Die genaue Antwort lautet „es kommt darauf an“: wird Rechtssicherheit in ihrer unmittelbaren Wirksamkeit untersucht, hat sie die Stellung eines Prinzips, da sie nicht ein Mittel im voraus bestimmt, sondern einen idealen Sachverhalt, dessen Verwirklichung von der Wahl eines notwendigen und angemessenen Mittels abhängt; wird sie in ihrer Beziehung zu anderen Normen, also in ihrer mittelbaren Wirksamkeit untersucht, kann sie entweder die Eigenschaft eines Unterprinzips annehmen, falls die Perspektive der Untersuchung ihre Beziehung zu einer ein umfassenderes zu erreichendes Ideal festlegenden Norm zum Gegenstand macht, oder die Rolle eines Oberprinzips spielen, falls die Perspektive der Untersuchung sich mit ihrer Verbindung zu weniger umfassende Ideale festlegenden Normen befasst. Die Idee ist einfach: falls die normative Dimension von einer Beziehung abhängt ohne sie zu bestimmen, kann sie jene nicht bestimmen. Die Rechtssicherheit als Rechtsnorm 748

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 666.

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ist also ein Zwischenprinzip in ihrer Beziehung zu den Hauptprinzipien wie dem Rechtsstaatsprinzip und den sie konkretisierenden Unterprinzipien wie den Prinzipien der Gesetzmäßigkeit und des Rückwirkungsverbots749. Die vorstehenden Betrachtungen sollen einerseits zeigen, dass es im Hinblick auf ihre Mehrdimensionalität als Rechtsnorm (Unterprinzip, Oberprinzip und Prinzip) in der Hervorbringung von Wirkungen (mittel- und unmittelbare Wirksamkeitsfunktionen) keine Kennzeichnung der Rechtssicherheit gibt, die als einzig richtige anerkannt werden könnte. Ihre einzige unveränderliche normative Dimension ist die des Rechtsprinzips. Daher auch der Gebrauch dieser Bezeichnung im Lauf dieser Arbeit, was keineswegs die Verkennung ihrer Dimension als eines Unteroder Oberprinzips impliziert. Gewiss behandelt die normative Kraft des Rechtssicherheitsprinzips seine Wirksamkeit in der Konfrontation mit anderen Normen. Die Tradition behauptet, dass die Prinzipien eine Wirksamkeit prima facie besitzen, die sich in ihrer Eignung zur Abwägung mit anderen Normen, mit denen sie in Konflikt geraten, und in der Möglichkeit der Nachgiebigkeit gegenüber Prinzipien, die im konkreten Fall ein größeres Gewicht haben, äußert750. Unlängst haben einige Autoren sich auf die Wirksamkeit pro tanto bezogen. Sie bezeichnet die Fähigkeit der Prinzipien, selbst im Abwägungsprozess ihre Kraft bis zum Ende des Anwendungsprozesses zu bewahren751. Diesbezüglich ist es wichtig, zu wissen, welche die Kraft des Rechtssicherheitsprinzips ist, wenn es mit anderen Normen in Konflikt gerät, vor allem im Sinn der Untersuchung, ob es zugunsten eines anderen Prinzips aufgegeben werden kann, dessen Gewicht im konkreten Fall für höher erachtet wird. Diese beiden wichtigen, auf die Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips bezogenen Fragen – seine normative Funktion und seine normative Kraft – werden nachfolgend untersucht.

1. Normative Funktion a) Als Prinzip aa) In der Dimension des Unterprinzips: definitorische Wirksamkeitsfunktion In ihrer Beziehung zu den Prinzipien, welche die Verwirklichung eines noch umfasssenderen Sachverhalts durchsetzen, hat das Rechtssicherheitsprinzip die Funktion eines Unterprinzips und übernimmt eine definitorische Wirksamkeitsfunktion in Bezug auf dieses Ideal. Eben dies passiert in seiner Beziehung zum Rechtsstaatsprinzip: da dieses ein Rechtmäßigkeitsideal staatlichen Handelns ein 749

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 666. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., S. 88 ff. 751 Shelly Kagan, The Limits of Morality, S. 17. 750

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

führt, für dessen Verwirklichung die Zustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts vorliegen müssen, verdichtet das Rechtssicherheitsprinzip sozusagen material einen Teil des Inhalts des Rechtsstaatsprinzips. In dieser Funktion betrifft die vom Rechtsstaatsprinzip vorgenommene Bezugnahme auf das Recht nicht irgendein Recht, sondern ein verständliches, stabiles, voraussehbares Recht. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass das Unterprinzip der Rechtssicherheit als Faktor funktioniert, der allgemeine, vom Oberprinzip des Rechtsstaats festgelegte Elemente bestimmt752. bb) In der Dimension des Oberprinzips (1) Interpretative Wirksamkeitsfunktion In der Beziehung zu seinen Unterprinzipien oder den sie konkretisierenden Regeln übernimmt das Rechtssicherheitsprinzip eine interpretative Wirksamkeitsfunktion: der Interpret muss unter ihren verschiedenen möglichen Bedeutungen diejenige auswählen, die am stärksten vom Oberprinzip der Rechtssicherheit gestützt wird. Daher die Behauptung von Carrazza, dass die Prinzipien, für die das Rechtssicherheitsprinzip ein Beispiel ist, „Vektoren von Interpretationslösungen“ sind753. Maior Borges argumentiert in dieselbe Richtung und klärt das Problem: „Die Rechtssicherheit ist also ein Kompass, an dem sich Verfassungsexegese und Verwirklichung der Bundesverfassung durch die einfache Gesetzgebung in Richtung ihrer Effektivität und Konkretisierung orientieren“754. Die Regel der Gesetzmäßigkeit behält also nicht jedem beliebigen Gesetz die Aufgabe der Einführung oder Erhöhung von Steuern vor, sondern einem Gesetz, das Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts gewährleistet. So darf das von der Gesetzmäßigkeitsregel geforderte Gesetz nicht zu unbestimmt sein, keine vergangenen Tatsachen in seinen Tatbestand aufnehmen und die Abgabenlast nicht plötzlich und drastisch erhöhen, ohne einen Anpassungszeitraum und Übergangsregeln vorzusehen. Die Rechtssicherheit verdichtet sozusagen das von der Gesetzmäßigkeit geforderte Gesetz. Ebenso schließt die Regel des Rückwirkungsverbots bei Abgaben, wenn sie axiologisch mit dem Oberprinzip der Rechtssicherheit verbunden ist, am Ende die Besteuerung aus, welche die Ausübung der Grundrechte der Freiheit und des Eigentums befremd, wobei sie als Interpretationskriterium vornehmlich in den Fällen dient, in denen man nicht genau weiß, ob der Steuertatbestand gemäß dem

752

Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 164 ff. Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 1006. 754 José Souto Maior Borges, Segurança jurídica: sobre a distinção entre competências fiscais para orientar e autuar o contribuinte, in: RDT 100 (o. J.), S. 24. 753

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einfachen Gesetz eingetreten oder nicht eingetreten ist. Die Rechtssicherheit qualifiziert sozusagen die Bedeutung der Rückwirkung. Diese beiden Beispiele, denen sich andere hinzufügen ließen, sollen nur darlegen, dass das Rechtssicherheitsprinzip in seiner vertikalen Beziehung zu den es konkretisierenden Normen das Interpretationskriterium abgibt, um ihnen eine mit den Idealen der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts vereinbare Bedeutung zuzuweisen. (2) Neugestaltende Wirksamkeitsfunktion Da das Rechtssicherheitsprinzip Ideale beinhaltet, die nicht immer in dieselbe Richtung weisen, können Situationen entstehen, in denen eines seiner konkretisierenden Elemente sich mit der Einheit der Zustände, deren Verwirklichung von ihm gefordert wird, unvereinbar erweist. Wie später noch zu zeigen sein wird, bricht in diesen Fällen eine Art Konflikt der Rechtssicherheit mit sich selbst aus: die gemeinsame Förderung der die Rechtssicherheit bildenden Ideale erfordert die punktuelle Blockierung oder, besser formuliert, Neugestaltung der Wirksamkeit eines spezifischen Elements. Dies ist z. B. der Fall bei ohne Befolgung der Gesetzmäßigkeitsregel gewährten steuerlichen Vergünstigungen, aufgrund derer die Privatperson belastende Akte der Disposition über ihre Grundrechte der Freiheit und des Eigentums verübt hat: trotz der Nichtbefolgung der Gesetzmäßigkeitsregel kann im Hinblick auf das Vertrauensschutzprinzip die steuerliche Begünstigung eventuell aufrecht erhalten werden. In diesem Fall erfolgt durch das seine Subelemente ausgleichende Oberprinzip der Rechtssicherheit eine punktuelle Neugestaltung der Anwendung eines dieser Subelemente (Erkennbarkeit) zugunsten der in einem höheren Maß erfolgenden Verwirklichung der anderen Subelemente (Verlässlichkeit und Berechenbarkeit). (3) Abgeleitete integrative Wirksamkeitsfunktion Eine der Funktionen des Rechtssicherheitsprinzips besteht in der Ausfüllung von eventuell bei der Anwendung seiner Unterprinzipien erzeugten Lücken755. Es handelt sich also um eine subsidiäre Wirksamkeitsfunktion bzw. um eine Rückendeckungsfunktion, die sich z. B. in den Fällen äußert, in denen die in Art. 150 III a und in Art. 5 XXXVI der CF/88 vorgesehenen Verfassungsregeln des Rückwirkungsverbots entweder nicht anwendbar oder nicht zureichend sind, um einen Zustand der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts aufgrund seiner Erkennbarkeit zu gewährleisten. 755 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 398.

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

So wird beispielsweise das Rechtssicherheitsprinzip in seiner reflexiven Wirksamkeit die Rechte des Steuerzahlers unantastbar machen, wenn der Steuerzahler den Steuertatbestand noch nicht erfüllt hat und auch keine Rechtshandlungen vorgenommen oder Tatsachen geschaffen hat, die eine vollendete Rechtshandlung oder ein wohlerworbenes Recht erzeugen, jedoch gleichwohl über seine Freiheitsund Eigentumsrechte so disponiert hat, dass eine plötzliche, drastische und illoyale Änderung für ihn mit irreversiblen schweren Schäden verbunden wäre. Anders gewendet: das Rechtssicherheitsprinzip greift, wo die es konkretisierenden ausdrücklichen Regeln sich als unzureichend erweisen. Es handelt sich also um eine subsidiäre Wirkung mit integrativer Wirksamkeit756. (4) Abschirmende Wirksamkeitsfunktion Jedes der Unterprinzipien oder jede der das Oberprinzip der Rechtssicherheit konkretisierenden Regeln wirkt selbständig in Bezug auf seinen materialen Anwendungsbereich. Indem sie mit ihm zusammenhängen, erhält am Ende jedes Sub­element eine Art wertende Verstärkung durch Einverleibung der Grundsätzlichkeit des Oberprinzips, das es bestimmt. So profiliert sich zum Beispiel die Vorzeitigkeitsregel als grundsätzliche Garantie in der Beziehung zum Oberprinzip der Rechtssicherheit. Das Vertrauensschutzprinzip erhält den Status einer Grundnorm durch die Wertbeziehung zum Oberprinzip der Rechtssicherheit, und so weiter. Man kann also von einer Art abschirmenden Wirksamkeitsfunktion sprechen: das Oberprinzip der Rechtssicherheit wirkt bei Erhaltung der Änderbarkeit und Verstärkung der Wirksamkeit seiner Unterprinzipien und seiner Konkretisierungsregeln. Die Grundsätzlichkeit des Oberprinzips wird gewissermaßen von der bestehenden axiologischen Verbindung auf die Unterprinzipien und die es normativ verdichtenden Regeln übertragen. (5) Stützende Wirksamkeitsfunktion Wenn die Interpretation der Unterprinzipien durch das Oberprinzip der Rechtssicherheit gestützt wird, verstärkt sich die Wirksamkeit der Unterprinzipien in der Konfrontation mit eventuell kollidierenden Prinzipien. Bei einem echten Konflikt zwischen Prinzipien wird eine Abwägung vorgenommen: konkrete Prävelenzregeln werden aufgestellt, jedem Prinzip wird ein Gewicht zugeschrieben. In eben dieser Gewichtszuschreibung übernimmt das Oberprinzip der Rechtssicherheit die stützende Wirksamkeitsfunktion.

756 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 232.

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In der Tat ist eines der Elemente, die das jedem kollidierenden Prinzip zuzuschreibende Gewicht gestalten, seine Beziehung zu den Prinzipien, die in der Verfassungsordnung die Kennzeichnung „grundlegend“ erhalten. Da das Rechtssicherheitsprinzip eines der Elemente des Rechtsstaatsprinzips ist, positiviert als Grundprinzip der Verfassung (Art. 1), und da es selbst in den Katalog der Rechte und Grundrechte (Art. 5, Obersatz) eingefügt ist, lässt sich behaupten, dass die Verfassungsordnung die Rechtssicherheit ebenfalls als Grundnorm kennzeichnet. Da nun das Rechtssicherheitsprinzip durch Unterprinzipien und Regeln konkretisiert wird, erhalten diese ebenfalls die Eigenschaft von Grundprinzipien und Grundregeln, eben infolge der Beziehung, die sie zum von ihnen verdichteten Oberprinzip unterhalten. Wenn sie mit anderen Prinzipien in Konflikt geraten, kollidieren diese Unterprinzipien, sozusagen nicht allein, sondern werden von einem grundlegenden Oberprinzip gestützt und haben somit ein größeres abstraktes Gewicht, das nur konkret mit einer zusätzlichen Argumentationslast umkehrbar ist. Die stützende Wirksamkeitsfunktion des Oberprinzips der Rechtssicherheit äußert sich somit in der Zuweisung eines größeren Gewichts an die es konkretisierenden Unterprinzipien, wenn sie in Konflikt mit anderen Prinzipien geraten, oder in einer stärkeren Anwendungsstarrheit im Fall der Regeln. Wesentlich ist, dass die Wirksamkeit des Unterprinzips oder der Regel, die das Oberprinzip der Rechtssicherheit gewissermaßen als „Rückendeckung“ hat, sich verändert: das Oberprinzip übernimmt eine Stützfunktion (fr. application de renfort) bezüglich der ihnen axiologisch zugrundeliegenden Normen757. (6) Neugestaltende Wirksamkeitsfunktion Das Oberprinzip der Rechtssicherheit ist die „ausgewogene Synthese“ seiner Unterprinzipien, so dass jedes seinen Wert im Hinblick auf die anderen hat758. Das genannte Oberprinzip ist also nicht bloß die Summe der es konkretisierenden Elemente. Wäre es dies, müsste es ja nicht eigens vorgesehen sein.759. Daher die Behauptung, dass es statt eines Prinzips eine Art „Prinzipienschema“ (schème de principe) ist, in das sich verschiedene Kombinationen widersprüchlicher Forderungen einfügen und das darüberhinaus auch noch eine diese Forderungen anziehende und optimierenden Wirksamkeit hat, vermittels der Verstärkung seiner Sichtbarkeit und der Integration seiner Wirkungen760.

757

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 667. Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 29. 759 César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 39. 760 Loïc Azoulai, La valeur normative de la sécurité juridique, in: Boy, Laurence / Racine, JeanBaptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 27 sowie 35. 758

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Aus keinem anderen Grund wird es bezüglich seiner Unterprinzipien (bzw. abgeleiteten Prinzipien) als Oberprinzip oder Überbegriff bestimmt761. In seiner Eigenschaft als Oberprinzip übernimmt es, um den Ausdruck von Mathieu zu zitieren, die Funktion des „neuordnenden“ (fédérateur) oder „matriziellen“ (matriciel) Prinzips762. Durch sein Funktionieren und aufgrund seiner „Matrix“ werden nicht nur neue Unterprinzipien geschaffen, sondern erhalten diese Unterprinzipien auch neue Bedeutungen, die sich aus der zwischen dem Oberprinzip und den Unterprinzipien erzeugten Beziehung ergeben763. Es ist sozusagen ein „begründendes“ bzw. „fundierendes“ Prinzip764. Wie Valembois ausführt, impliziert die Vorstellung einer „Matrix“ die Idee des Austausches der genetischen Information zwischen dem matriziellen Prinzip und den Unterprinzipien, womit sich eine Art von „genetischer Mutation“ des Unterprinzips verbietet. Wichtiger noch ist, dass das Oberprinzip bzw. matrizielle Prinzip nicht einfach die Summe seiner Unterprinzipien ist und diese auch nicht eine bloße Spezialisierung jenes darstellen765. Wesentlich ist, dass hier das Rechtssicherheitsprinzip ein strukturierter Zusammenhang von Prinzipien und nicht ein einziges und einheitliches Prinzip ist. Aus diesem Grund benutzt Torres den Ausdruck „Rechtssicherheitsprinzipien“, der eine Konstellation von Prinzipien und Unterprinzipien bezeichnet766. Die neuordnende Wirksamkeitsfunktion des Oberprinzips der Rechtssicherheit ist also eine Art ordnende und neudimensionierende Wirksamkeit, die das Rechtssicherheitsprinzip in Bezug auf die Unterprinzipien ausübt. So kann beispielsweise das Vertrauensschutzprinzip nicht das Instrument dafür sein, dass Rechtsfolgen in den Fällen unantastbar werden, in denen diese Unantastbarkeit einen Anreiz zur zukünftigen Begehung rechtswidriger Handlungen darstellt, da man in diesem Fall ja die Rechtssicherheit in ihrer vergangenen Verlässlichkeitsdimension auf Kosten der zukünftigen Berechenbarkeitsdimension schützen würde. Dies bedeutet in anderen Worten, dass der Zusammenhang zwischen dem Vertrauens 761 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 188; Willy Zimmer, Constitution et sécurité juridique – Allemagne, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 91. 762 Bertrand Mathieu, Constitution et sécurité juridique – France, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 156; Bertrand Mathieu, Pour une reconnaissance de ‚principes matriciels‘ en matière de protection constitutionnelle des droits de l’homme, in: Recueil Dalloz Sirey 27 (1995), S. 211; S. zu diesem Thema Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 691. 763 Xavier Philippe, Constitution et sécurité juridique, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 73 sowie 77; Bertrand Mathieu, Pour une reconnaissance de ‚principes matriciels‘ en matière de protection constitutionnelle des droits de l’homme, in: Recueil Dalloz Sirey 27 (1995), S. 211. 764 Blaise Knapp, Constitution et sécurité juridique – Suisse, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 261. 765 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 397. 766 Ricardo Lobo Torres, Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, in: Martins, Ives Gandra da Silva (Hrsg.), Limitações ao poder impositivo e segurança jurídica, S. 63.

II. Wirksamkeit der Rechtssichterheit 

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schutzprinzip und dem Oberprinzip der Rechtssicherheit eine Resemantisierung der Norm erzeugt, nämlich in dem Sinn, dass eine Norm, die für sich genommen eine bestimmte Bedeutung haben könnte, in gemeinsamer Perspektive eine andere Bedeutung erhält. Die neuordnende Wirksamkeitsfunktion besteht also im semantischen Rearrangement, welches das Oberprinzip in jedem der es konkretisierenden Unterprinzipien hervorruft. cc) In der Dimension des Prinzips: ursprüngliche integrierende Wirksamkeitsfunktion Die Rechtssicherheit übernimmt in ihrer normativen Dimension als Prinzip die Funktion der Einführung eines idealen Sachverhalts, dessen Verwirklichung die Wahl von Verhaltensweisen erfordert, die Wirkungen hervorrufen, die ihrerseits zu seiner Förderung beitragen. Da das Rechtssicherheitsprinzip die Herbeiführung der Zustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts erfordert, sind Verhaltensweisen zu wählen, deren Wirkungen zu deren Förderung beitragen. Die ursprüngliche integrative Wirksamkeitsfunktion ist nichts anderes als die Funktion, die das Rechtssicherheitsprinzip übernimmt, wenn es Regeln einführt, die als Mittel zur Verwirklichung der Ideale dienen sollen, deren Erreichung durch dieses Prinzip bestimmt wird. Um also einen Zustand der Erkennbarkeit zu erreichen, müssen die Zugänglichkeit und Verständlichkeit der Normen vorliegen, was man nur durch die Veröffentlichung der Gesetze und die materiale Bestimmung der gesetzlichen Tatbestände erreicht. Um einen Zustand der Verlässlichkeit zu erreichen, bedarf es der Normstabilität, die man durch den Schutz des wohlerworbenen Rechts, der konsolidierten Rechtslagen und der legitimen Erwartungen erreicht. Um einen Zustand der Berechenbarkeit zu erreichen, bedarf es der Vorzeitigkeit und Kontinuität des Rechts, die man durch Verzögerung des Inkrafttretens der Normen und durch die Einführung von Übergangsregeln erreicht. Kurz, die ursprüngliche integrative Wirksamkeitsfunktion besteht aus der Rolle, die das Rechtssicherheitsprinzip bei der Erzeugung von Verhaltensregeln spielt, deren Wirkungen zur Förderung der Idealzustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts beitragen. b) Als zur Regel konkretisiertes Prinzip Rechtssicherheit ist ein Rechtsprinzip und übernimmt als solches die vorgenannten Wirksamkeitsfunktionen. Wie schon dargelegt, hat die CF/88 im Unterschied zu anderen Verfassungen die Rechtssicherheit in verschiedenen Bereichtn normiert, sei es, um einige Beispiele zu nennen, indem sie die Rechtskraft, das wohlerworbene Recht und die vollendete Rechtshandlung geschützt hat, sei es, indem sie die

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C. Gehalt der Rechtssicherheit 

Rückwirkung der Steuergesetze auf vor dem Eintritt des Steuertatbestands liegende Zeitpunkte verboten hat. In diesen Fällen wird die Rechtssicherheit, statt ein Element zu bilden, das Gegenstand der Abwägung ist, verfassungsrechtlich durch Regeln konkretisiert, die sich als solche keiner bloß horizontalen Abwägung unterwerfen767. Die Bedeutung dieser Regeln ist darin zu sehen, dass sie eine Anwendungsstarre erzeugen, die nicht durch Abwägung, durch Berücksichtigung von Gründen, die oft als ‚höher‘ gekennzeichnet werden, ausgeschlossen werden kann, wie es in anderen Rechtssystemen geschieht, in denen es keinerlei Regelung gibt. Wie wir schon gesehen haben, gibt es im deutschen Grundgesetz trotz einer Reihe von an das Rechtssicherheitsprinzip gebundenen Garantien keine Regelung, die so ausführlich wie die der CF/88 ist. Deshalb ist die Schlussfolgerung unabweisbar, dass in der deutschen Rechtsordnung die Möglichkeit einer horizontalen Abwägung bei der Anwendung dieses Prinzips vergleichsweise größer ist als in der brasilianischen Rechtsordnung. c) Als subjektives Recht Die objektive Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips kann vom konkreten und subjektiven Standpunkt aus gesehen ein „Recht auf Sicherheit“ sein. Dieses Recht ist nichts anderes als das Rechtssicherheitsprinzip in seiner reflexiven Wirksamkeit: da es eine Rechtsnorm ist, erzeugt das Rechtssicherheitsprinzip, auch wenn nur mittelbar, Verpflichtungen und Verbote für den Staat, die der Bürger vor Gericht einklagen kann, wenn er die erforderliche prozessuale Befugnis hat768. Nach brasilianischem Recht, kann der Bürger in der konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes geltend machen, welches das Rechtssicherheitsprinzip verletzt, da es keine Übergangsregeln enthält oder gegen die legitimen Erwartungen verstößt. Was der Bürger nicht kannund wirklich nur in diesem Sinn, da dieses Prinzip kein subjektives Recht ist –, ist, spezifische und allgemeine public policies zu fordern, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten769.

767

Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 70; Almiro do Couto e Silva, O princípio da segurança jurídica (proteção à confiança) no Direito Público brasileiro e o direito da Administração Público de anular os seus próprios atos: o prazo decadencial do Art. 54 da Lei do Processo Administrativo da União (Lei Nr. 9.784/99), in: RBDP 06 (2004), S. 273. 768 César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 41 f.; ­Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 74. 769 Bertrand Mathieu, Constitution et sécurité juridique – France, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1999, S. 175; Bertrand Mathieu, La sécurité juridique: un principe constitutionnel clandestin mais efficient, in: FRAISSEIX, Patrick (Hrsg.), Mélanges Patrice Gélard – Droit Constitutionnel, S. 302.

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Da das subjektive Recht sich aus dem Rechtssicherheitsprinzip ergibt und die Anwendung dieses Prinzips eine Prüfung der vertikalen Vereinbarkeit zwischen ihm und der anderen Norm beinhaltet, ist Gegenstand des gerichtlichen Rechtsschutzes eine Norm oder die Anwendung einer Norm, die man als „unsicher“ kennzeichnen kann und deren Ziel die Erklärung der Ungültigkeit dieser Norm ist770.

2. Normative Kraft a) Binnenkonflikte Da das Rechtssicherheitsprinzip die gemeinsame Verwirklichung verschiedener Sachverhalte erfordert, von denen einige Zwischen- und andere Endsachverhalte sind, die nicht unbedingt zusammenfallen, kann bei einem zu entscheidenden Fall ein Konflikt der Rechtssicherheit mit sich selbst entstehen, in dem Sinn, dass die Förderung eines Sachverhalts die Einschränkung eines anderen, der sich als konkret und diametral gegensätzlich erweist, impliziert771. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Suche nach dem Ideal der Erkennbarkeit des Rechts durch die Nichtigkeitserklärung mit höherrangigen Rechtunvereinbaren Norm zur Einschränkung des Ideals der Verlässlichkeit des Rechts durch Nichtberücksichtigung der Rechtslagen führt, die eventuell legitim herbeigeführt worden sind, eben gemäß der genannten niedrigeren Norm; oder dann, wenn die Suche nach dem Ideal der Verlässlichkeit durch die Aufrechterhaltung der rechtswidrigen Norm die Einschränkung der Ideale der Erkennbarkeit und Berechenbarkeit durch das Verbot der Diskussion der Verletzung der von der Gesellschaft befolgten Gesetzmäßigkeitsregel verursacht772. Diese Beispiele zeigen, dass es einen Konflikt innerhalb der Ideale selbst geben kann, die insgesamt das Rechtssicherheitsprinzip bilden. Es handelt sich also um eine Art innere axiologische Spannung, um hier den von Perez Luño geprägten Terminus zu benutzen773. Die Lösung besteht im Gleichgewicht dieser Ideal­ zustände, so dass die Suche nach Rechtssicherheit einen Zuwachs in ihrer Summe bedeutet, d. h. dass die Verwendung des Rechtssicherheitsprinzips als Fundament einer gegebenen Entscheidung zur Verwirklichung der höheren Idealzustände, die dieses Fundament bilden, führt, die durchschnittlich höher ist als das Gegenteil. Dies rechtfertigt einmal mehr den in dieser Arbeit übernommenen und hier zusammengefassten Begriff der Rechtssicherheit als eines Normprinzips, das die 770

César García Novoa, El principio de seguridad jurídica en materia tributaria, S. 45. Sylvia Calmes, Du principe de protection de la confiance légitime en Droits allemand, communautaire et français, S. 116. 772 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 68 f.; Loïc Azoulai, La valeur normative de la sécurité juridique, in: Boy, Laurence / Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice (Hrsg.), Sécurité juridique et Droit Économique, S. 36. 773 Antonio Enrique Perez Luño, La seguridad jurídica, S. 69. 771

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Wahl von Verhaltensweisen fordert, die stärker zur Herbeiführung eines Zustands der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts und durch das Recht auf der Grundlage seiner Berechenbarkeit beitragen. b) Außenkonflikte aa) Typologie (1) Wirksamkeit prima facie Die Wirksamkeit prima facie kann zwei Bedeutungen haben. Erstens kann sie eine anfängliche Kraft bedeuten, die sich später zerstreut. Auf diese Konnotation weist schon der Ausdruck „prima facie“ hin. Dieses Phänomen tritt dann ein, wenn ein Prinzip, das auf den ersten Blick anwendbar erscheinen würde und eine gewisse Kraft zu haben schiene, sich am Ende als nicht anwendbar und daher ohne jegliche normative Kraft gegenüber der Lage erweist. Ein Prima-facie-Argument scheint ein Argument zu sein, ist es aber in Wahrheit überhaupt nicht oder fällt überhaupt nicht ins Gewicht zur Auflösung einer gegebenen Lage774. Ein Primafacie-Prinzip bezeichnet in diesem Sinn ein Prinzip, das anwendbar schien, es aber in Wirklichkeit nicht ist. Dies ist der Fall der angenommenen Konflikte zwischen dem Prinzip des Schutzes der Privatsphäre und dem Prinzip der Pressefreiheit. Es wird behauptet, dass je nach konkretem Fall ein Prinzip über ein anderes den Sieg davontrage, durch einen Abwägungsprozess, in dem ihm ein höheres Gewicht zu Lasten eines anderen Prinzips zugeschrieben wird. Wenn also eine Nachricht über einen Politiker, die in einer Zeitung erscheinen soll, sich auf eine Angelegenheit des Privatlebens bezöge, würde man das Prinzip der Pressefreiheit über das Prinzip des Schutzes der Privatsphäre stellen. Wenn die Nachricht sich aber auf die Ausübung des öffentlichen Amts durch den genannten Politiker beziehen würde, müsste das Prinzip der Pressefreiheit den Vorrang vor dem Prinzip der Schutzes der Privatsphäre erhalten. Der Konflikt ist aber, so wie er dargestellt worden ist, nicht korrekt beschrieben. Wenn die Nachricht sich auf das Privatleben des Politikers bezieht, greift das Prinzip des Schutzes der Privatsphäre, in dessen Bereich die Situation fällt, und nicht das Prinzip der Pressefreiheit, da es sich um eine Nachricht handelt, die keine Veröffentlichung verdient oder die Öffentlichkeit nichts angeht. Und wenn die Nachricht sich auf das öffentliche Leben des Politkers bezieht, wird das Pressefreiheitsprinzip angewandt, in dessen Bereich die Materie zu sehen ist, und nicht das Prinzip des Schutzes der Privatsphäre, da es sich um eine Nachricht handelt, die sich nicht auf die Privatsphäre bezieht. So ist der Konflikt in Wahrheit nur scheinbar, da er mangels Anwendbarkeit eines der beiden Prinzipien nicht eintritt. Ein Prinzipienkonflikt besteht nur dann, wenn beide Prinzipien gleicher-

774

Shelly Kagan, The Limits of Morality, S. 17.

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maßen anwendbar sind775. In diesen Fällen erwies sich aber eines der Prinzipien, das anwend­bar schien, als unanwendbar. Deshalb wird von Wirksamkeit prima facie als scheinbarer Kraft oder Kraft nur „auf ersten Blick“ hin gesprochen. Diese Kraft bedeutet nicht, wie wir hier noch einmal unterstreichen, dass das angewandte Prinzip mehr ins Gewicht fällt; sie bedeutet einzig und allein, dass es angewandt und dass das andere nicht angewandt wird. In diesem spezifischen Sinn hat das Rechtssicherheitsprinzip natürlich keine Wirksamkeit prima facie, da es immer in einem höheren oder geringeren Grad anwesend sein muss und auf alle institutionellen Formen des Rechts anwendbar ist. Die Wirksamkeit prima facie kann zweitens bedeuten, dass ein bestimmtes Prinzip keine endgültige Wirksamkeit hat, nämlich in dem Sinn, dass das, was es bestimmt, am Ende auch befolgt werden muss, sondern nur eine relative Wirksamkeit, und zwar in dem Sinn, dass seine Gründe vor dem konkreten Fall mit von anderen Prinzipien bereitgestellten Gründen abzuwägen sind. In diesem Konflikt kann die Wirksamkeit eines Prinzips ausgeschlossen werden, wenn ihm ein höheres Gewicht im Verhältnis zu einem kollidierenden Prinzip zugeschrieben wird776. Man kann also behaupten, dass Wirksamkeit prima facie die Eigenschaften der Abwägbarkeit und der Wegwerfbarkeit der Prinzipien bezeichnet. Hier stellt sich folgende Frage: kann man das Rechtssicherheitsheitsprinzip angesichts anderer Prinzipien im Abwägungsprozess wegwerfen? So wie das Rechtssicherheitsprinzip in dieser Arbeit definiert ist, ist die Frage zu verneinen. In der Tat darf das Rechtssicherheitsprinzip als Norm, welche die Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts einführt, niemals weggeworfen werden. Was passieren kann, ist etwas subtil anderes: in einigen Fällen kann ein Element eines seiner Ideale oder einer seiner Dimensionen anders geeicht werden, und zwar aufgrund seiner Beziehung zu anderen Idealen mit anderen Dimensionen. So wird zum Beispiel im Fall der Bestätigung der eingetretenen Wirkungen rechtswidriger Verwaltungsakte aufgrund der Konsolidierung einer faktischen Situation ein Element (Normverständlichkeit) eines Ideals (Erkennbarkeit) einer (statischen) Dimension anders gestaltet wegen eines anderen Elements (Unantastbarkeit) eines anderen Ideals (Stabilität), das eine andere (dynamische) Dimension von Rechtssicherheit aufweist. Die Rechtssicherheit ist in der Einheit ihrer Ideale niemals Gegenstand eines vollständigen Ausschlusses. Ein Element wird in einem geringeren Maß zugunsten der Anwendung in höherem Maß eines anderen Elements bzw. anderer Elemente angewandt. Selbst in den hier als äußere Konflikte beschriebenen Fällen ist das Rechtssicherheitsprinzip nicht Gegenstand eines vollständigen Ausschlusses. Wenn man zum Beispiel behauptet, dass die Rechtssicherheit der Gerechtigkeit weicht, erfolgt in Wahrheit die Einschränkung eines ihrer Elemente, einer ihrer Dimensionen. 775 776

Riccardo Guastini, L’Interpretazione dei documenti normativi, S. 217. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., S. 88 ff.

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Andere Elemente und andere Dimensionen werden davon nicht berührt. Deshalb kann man dem Rechtssicherheitsprinzip nicht die Wirksamkeit prima facie im eingeschränkten Sinn einer Norm zuschreiben, deren Wirksamkeit in einem konkreten Fall vollständig ausgeschlossen werden kann wegen des stärkeren Gewichts des kollidierenden Prinzips. Dies ist hier nicht der Fall. Die einzige Möglichkeit, die normative Kraft des Rechtssicherheitsprinzips als Wirksamkeit prima facie zu kennzeichnen, wäre dann drittens, die Wirksamkeit prima facie nicht als Wegwerfbarkeit angesichts kollidierender Prinzipien, sondern als Einschränkbarkeit angesichts anderer Prinzipien zu bestimmen. In diesem strikten Sinn ließe sich behaupten, dass das Rechtssicherheitsprinzip Gegenstand der Einschränkung in bestimmten Fällen wäre. Selbst in diesem Sinn jedoch wäre zu fragen, ob das Prinzip als solches eingeschränkt wird oder ob es stattdessen nur eine andere Gestalt in bestimmten Fällen infolge des spezifischen Arrangements seiner Teilideale annimmt. In den vorher besprochenen Fällen übernimmt die Rechtssicherheit die Funktion eines Oberprinzips. Da das Problem die Beziehung zwischen dem Oberprinzip und den Unterprinzipien ist, lässt es sich auf die Frage reduzieren, ob das Oberprinzip eingeschränkt wird, wenn eines seiner Unterprinzipien gleichfalls eingeschränkt wird. Wenn man also das legitime Vertrauen schützt als von der Forderung nach Stabilität der Rechtsordnung geschützte Form der Unantastbarkeit, schließt man gleichzeitig die im Fall der Nichtbefolgung der unmittelbar anwendbaren Norm eintretende normative Folge aus und beschränkt damit die Forderung nach Ausweisung der Norm als von der Forderung nach Erkennbarkeit der Rechtsordnung gewährleistete Form der Verständlichkeit. Kurz, man unterdrückt ein Element zugunsten eines anderen Elements der Rechtssicherheit selbst bzw., in anderen Worten, man hält ein Unterprinzip im Namen eines anderen Unterprinzips desselben Oberprinzips der Rechtssicherheit zurück. Hier stellt sich folgende Frage: schränkt man, wenn das passiert, nur das Unterprinzip ein und lässt das Oberprinzip unversehrt, oder schränkt man immer dann, wenn man ein Unterprinzip einschränkt, auch das Oberprinzip ein? Die Antwort auf diese wichtige Frage hängt von einer semantischen Übereinkunft ab. Es gibt mindestens zwei mögliche Antworten, je nach der Definition des Oberprinzips. Wenn einerseits das Oberprinzip der Rechtssicherheit als Summe der Unterprinzipien definiert wird, wird das Oberprinzip immer dann ebenso begrenzt werden, wenn ein Unterprinzip begrenzt wird. Wenn das angenommene Gesetzmäßigkeitsprinzip im Namen des Oberprinzips der Rechtssicherheit eingeschränkt wird, wird nicht nur das Unterprinzip begrenzt, sondern auch ein Teil des Oberprinzips, damit also das Oberprinzip selbst. In dieser Hinsicht bedeutet jede Einschränkung eines Unterprinzips automatisch eine Einschränkung eines Oberprinzips. Wenn andererseits das Oberprinzip der Rechtssicherheit als etwas von der Summe seiner Fundamente und Unterprinzipien Unterschiedenes definiert wird,

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wird das Oberprinzip nicht bereits dann eingeschränkt werden, wenn die traditionell sogenannten Unterprinzipien eingeschränkt werden. Hierfür ist eine Erklärung erforderlich. Diese Arbeit unterscheidet zwischen Fundamenten, Elementen und Konkretisierungsformen der Rechtssicherheit. Fundamente der Rechtssicherheit sind diejenigen Normen, aufgrund derer die Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts sich deduktiv oder induktiv konstruieren lassen. In dem auf diesen Punkt bezogenen Teil ist das Normennetz geknüpft worden, von dem ausgehend das Rechtssicherheitsprinzip aufgebaut wird. Fundamente der Rechtssicherheit sind beispielsweise die Regeln der Gesetzmäßigkeit, des Rückwirkungsverbots und der Vorzeitigkeit. Elemente der Rechtssicherheit sind die idealen Teilzustände, deren Verwirklichung vom Rechtssicherheitsprinzip bestimmt wird. Elemente der Rechtssicherheit sind die Ideale der Erkennbarkeit, der Verlässlichkeit und der Berechenbarkeit des Rechts. Konkretisierungsformen der Rechtssicherheit sind die von der Rechtsordnung abstrakt festgelegten oder nicht festgelegten Mittel, die zur Förderung der sie zusammensetzenden Ideale angemessen und notwendig sind. Die Bekanntgabe und Veröffentlichung sind beispielsweise Konkretisierungsformen des Ideals der Erkennbarkeit des Rechts. Wesentlich in all dem ist, dass Fundamente, Elemente und Konkretisierungsformen der Rechtssicherheit nicht verwechselt werden dürfen. Die Regel der Gesetzmäßigkeit von Abgaben ist somit ein Fundament der Rechtssicherheit, da sich im Ausgang von ihr und im Zusammenhang mit anderen Elementen ein Ideal der Erkennbarkeit des Rechts konstruieren lässt. Dieses Ideal kann vermittels der Gesetzmäßigkeit und anderer Formen konkretisiert werden. So ist die Regel der Gesetzmäßigkeit, obwohl sie ein Fundament in der brasilianischen Rechtsordnung und eine Konkretisierungsform der Rechtssicherheit ist, strenggenommen nicht ihr Element. Das Element ist die Erkennbarkeit. Dies ist auch bei der Bekanntgabe der Fall. Sie ist die Konkretisierungsform der Forderung nach Erkennbarkeit, die ein Element der Rechtssicherheit ist, aber nicht ihr Element, da es andere Konkretisierungsformen der Erkennbarkeit gibt, wie beispielsweise die Bekanntmachung von Verwaltungsentscheidungen im Internet. Ähnliches gilt für die Menschenwürde. Sie ist das Fundament der Rechtssicherheit, da die Anwendung der Normen die Achtung vor der Ausübung der Freiheit des Einzelnen beinhalten muss, zumal der Bürger nicht als Objekt behandelt werden darf. Sie ist ein Fundament, aber nicht ein Element der Rechtssicherheit. Kurz, Fundamente und Konkretisierungsformen sind nicht mit den Elementen der Rechtssicherheit zu verwechseln. Damit soll gesagt werden, dass das Oberprinzip der Rechtssicherheit, so wie es in diesem Werk definiert worden ist, die Einheit der Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts ist, die seine Unterprinzipien oder Elemente konstituieren. Keines dieser Unterprinzipien verfügt über ein vorgängig bestimmtes Maß der Verwirklichung. So wird im Fall der Bestätigung der Wirkungen eines rechtswidrigen Verwaltungsakts wegen einer konsolidierten Rechtslage oder im Fall der Beibehaltung der eingetretenen Wirkungen eines später für

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verfassungswidrig erklärten Gesetzes aufgrund des Vertrauensschutzes strenggenommen das „Gesetzmäßigkeitsprinzip“ als Unterprinzip der Rechtssicherheit nicht ausgeschlossen. Die Gesetzmäßigkeit ist ein Fundament und eine Konkretisierungsform der Rechtssicherheit, aber nicht ihr Element. Versucht wird, die Anwendung eines ihrer Elemente (Erkennbarkeit) in seiner konkreten Beziehung zu den anderen Elementen (Verlässlichkeit und Berechenbarkeit) anzupassen. Man kann deshalb behaupten, dass die Teilideale nicht eingeschränkt, sondern nur in ihrem Binnenverhältnis aufgrund einer konkreten Situation anders gestaltet werden. Metaphorisch könnten wir sagen, dass die partiellen Ideale der Rechtssicherheit mit den Reifen eines Pkws verglichen werden könnten. Der Luftdruck hängt vom Fahrzeuggewicht ab. Je nach der Lage erhalten die Hinterreifen einen anderen Luftdruck als die Vorderreifen. Es wäre nicht richtig, zu sagen, dass die Reifen „eingeschränkt“ würden, wenn sie einen geringeren Luftdruck erhalten. Angemessen wäre die Erklärung, dass sie unterschiedlich aufgepumpt worden seien, je nach dem Verhältnis zu den anderen Reifen und ihrer konkreten Funktion. Die Rechtssicherheit könnte auch mit einem Plastikballon verglichen werden: wenn er von einer Seite eingedrückt wird, verlagert sich die Luft nur auf die andere Seite. Es wäre ungenau, zu sagen, dass der Ballon eingeschränkt worden, wenn er mit der Hand eingedrückt wird. Besser wäre es zu sagen, dass er unterschiedlich geformt worden sei, da er ja die gleiche Masse hätte, nur in einer anderen Gestalt. Die Rechtssicherheit könnte auch noch, um ein letztes Bild zu verwenden, mit einem feuchten Lehmklumpen verglichen werden, der geknetet und geformt werden kann. Wenn ein Teil gepresst wird, verlagert sich die angepresste Lehmmasse einfach zu einem anderen Teil. Es wäre ungenau, zu sagen, dass der Lehm eingeschränkt werde, wenn er auf nicht einheitliche Weise geformt wird, schon deswegen nicht, weil seine Masse dabei absolut gleich bleibt. Diese Ausführungen sollen zeigen, dass das Rechtssicherheitsprinzip im Unterschied zu anderen Prinzipien im Anwendungsprozess nicht ausgeschlossen oder aufgegeben werden kann. Als Prinzip, das als Fundament normativer Validierung und Instrument der Verwirklichung anderer Normen dient, funktioniert es als Voraus­setzung des Rechts, auf der die anderen Normen beruhen. Die Metapher der Waage ist schon sehr abgegriffen, lässt sich aber trotzdem gut in diesem Zusammenhäng verwenden: so würde die Rechtssicherheit nicht den auf ihre Schalen gestellten Gegenständen entsprechen, die besser die substantiellen Prinzipien wie Freiheit und Solidarität darstellen würden; sie wäre auch nicht das Zünglein der Waage, das besser mit der Gerechtigkeit selbst assoziiert würde; ebenso­ wenig wäre sie das Bindeglied zwischen den Schalen, das besser den Postulaten der Verhältnismäßigkeit und der praktischen Konkordanz entsprechen würde; vielmehr wäre sie der Sockel der Waage, auf den diese montiert ist und von dem ihre Funktionstüchtigkeit selbst abhängt. So wie eine Waage nicht funktionieren kann, ohne auf einen Sockel montiert zu sein, kann man sich auch nicht das Recht ohne Rechtssicherheit (im definitorischen Sinn) und ohne das Rechtssicherheitsprinzip (im normativen Sinn) vorstellen. Man könnte ebenso auf ein anderes altes

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Bild zurückgreifen, das des Bauwerks, in dem die Prinzipien durch die Hauptpfeiler und -balken dargestellt sind. Hier würde dann das Rechtssicherheitsprinzip mehr als ein Pfeiler oder Balken sein, nämlich die Ziegelsteine, denn ohne diese könnten weder Pfeiler noch Balken gebaut werden. Diese bildlichen Darstellungen sollen nur zeigen, dass das Rechtssicherheitsprinzip sogar unterschiedliche Konturen haben kann, unterschiedlich abgestimmt und konkretisiert, aber niemals aufgehoben seinkann. Natürlich hängt alles, was hier behauptet worden ist, von semantischen Vereinbarungen hinsichtlich dessen ab, was „Wirksamkeit“, „Prinzip“, „Oberprinzip“, „prima facie“ usf. bedeuten. Trotzdem soll aber nur unterstrichen werden, dass die Rechtssicherheit, obwohl sie ein Prinzip ist, eine Norm, welche die Suche nach einem idealen Zustand statuiert, ohne von vornherein auf das für seine Verwirk­ lichung notwendige Mittel hinzuweisen, nicht die Wirksamkeit prima facie enthält, die einigen Prinzipien eigen ist, sei es im Sinn einer punktuell nicht anwendbaren Norm (Wirksamkeit prima facie als auflösbare normative Kraft), sei es im Sinn einer konkret ausschließbaren Norm (Wirksamkeit prima facie als ausschließbare normative Kraft), oder sei es im Sinn einer in ihrer Einheit einschränkbaren Norm (Wirksamkeit prima facie als einschränkbare normative Kraft). Die einzige Möglichkeit für ein Verständnis, wonach das Oberprinzip der Rechtssicherheit einschränkbar ist, besteht darin, es nicht als eine von seinen Teilen unterschiedene Einheit, sondern als deren Summe zu fassen. Da aber diese Arbeit die These vertritt, dass die Rechtssicherheit in ihrer Eigenschaft als Oberprinzip etwas anderes ist als die bloße Summe ihrer Unterprinzipien, kann man strenggenommen nicht zulassen, dass das Oberprinzip eingeschränkt wird, selbst wenn, wie wir hier wiederholen, diese Konzeption von nicht zu umgehenden semantischen Vereinbarungen abhängt. Diese Schlussfolgerung hat zwei Konsequenzen. Einerseits beweist sie, dass die Prinzipien als normative Kategorien nicht aufgrund ihrer Eigenschaft prima facie bestimmt werden können, wenn diese als Möglichkeit der Nichtanwendung, des Ausschlusses oder der Einschränkung angesichts kollidierender Prinzipien verstanden wird. Wenn es zutrifft, dass einige Prinzipien Gegenstand der Einschränkung oder selbst des Ausschlusses angesichts kollidierender Prinzipien sein können, wie im Fall des Freiheitsprinzips, dürfen andere Prinzipien, obwohl sie Prinzipien sind, weil sie die Verwirklichung eines idealen Zustands ohne Vorgabe des Mittels fordern, wie das Rechtsstaatsprinzip und das Prinzip des ordnungsgemäßen Verfahrens, nicht verworfen werden. Die Prima-facie-Natur der Prinzipien in den hier aufgezählten Bedeutungen ist kein definitorisches, sondern ein kontingentes Element der Rechtsprinzipien. Andererseits zeigen diese Betrachtungen, dass das Rechtssicherheitsprinzip eine unterschiedliche Wirksamkeit hat, während es als Voraussetzung der Funktionsfähigkeit des Rechts selbst und der Verwirklichung der Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Würde dient. Deshalb müssen wir nach einer anderen Kennzeichnung der Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips suchen, die sich von den ge-

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meinhin von der Rechtswissenschaft übernommenen Qualifizierungen unterscheidet. Dies soll im Folgenden geschehen. (2) Wirksamkeit pro tanto Einige Autoren benutzen zur Bezeichnung des Gegenteils der Wirksamkeit prima facie den Ausdruck Wirksamkeit pro tanto. Ein Pro-tanto-Argument kann durch gegenteilige Argumente überwunden werden, bleibt jedoch bis zum Ende des Anwendungsverfahrens wichtig. Entgegen einem Argument prima facie, das als ein Argument erscheinen kann, am Ende aber kein Gewicht hat, ist ein Pro-tanto-Argument ein Argument, das zwar nicht entscheidend ist, aber seine Kraft behält777. So stellt sich die Frage: hat das Rechtssicherheitsprinzip Wirksamkeit pro tanto? Es kommt darauf an. Wenn die Wirksamkeit pro tanto als Wirksamkeit definiert wird, die, obzwar nicht entscheidend, ihre Kraft bis zum Ende behält, kann man behaupten, dass das Rechtssicherheitsprinzip diese Wirksamkeit behält: es behält sein Gewicht bis zum Ende des Anwendungsprozesses und kann nicht von einem anderen Prinzip verdrängt werden. Diese Wirksamkeit kann auch als dem Argument innewohnende Eigenschaft bestimmt werden, die durch eine andere Eigenschaft ausgehebelt und damit in der Konfrontation der Argumente berücksichtigt werden kann, ohne jedoch ein entscheidendes Gewicht zu haben778. So verstanden besitzt das Rechtssicherheitsprinzip als Sicherheit des Rechts nicht diese Wirksamkeit, da es nicht ausgeschlossen werden kann. Es kann mehr oder weniger angepasst und unterschiedlich gestaltet werden vermittels der Gewährleistung von mehr oder weniger Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Als solches kann es jedoch nicht in seiner Ganzheit ausgeschlossen werden. Alle vorstehenden Betrachtungen zeigen, dass das Rechtssicherheitsprinzip sich nicht angemessen in die traditionellen Wirksamkeitsbestimmungen prima facie und pro tanto einfügt. Einer der Gründe dafür liegt in der Tatsache, dass diese Kennzeichnungen bestimmt sind, Konflikte oder Konkurrenzen zwischen Gründen darzustellen, und im Fall des Rechtssicherheitsprinzips haben wir strenggenommen weder ein Argument noch einen echten und traditionellen Konflikt vor uns. In der Tat ist das Rechtssicherheitsprinzip als Sicherheit des Rechts nicht ein gegen andere Argumente abwägbares Argument, sondern ein „Bedingungsprinzip“ oder „Voraussetzungsprinzip“ für die Anwendung anderer Normen – von Regeln und Prinzipien. Es ist auch nicht, wie schon vertreten worden ist, auf eine Konfrontation aus, durch welche es am Ende eingeschränkt wird (wenn es als etwas anderes als die bloße Summe seiner Teile verstanden wird), dient aber als Voraussetzung für 777 Shelly Kagan, The Limits of Morality, S. 17; Wlodek Rabinowicz, Peczenik’s passionate reason, in: Aarnio, Aulis u. a. (Hrsg.), On Coherence Theory of Law, S. 21. 778 Shelly Kagan, The Limits of Morality, S. 70 f.

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das Funktionieren der Normen, aufgrund derer die Konfrontation entstehen wird, wenn es eine bestimmte Gestalt annimmt, je nach der Situation. Das Rechtssicherheitsprinzip ist also eine Norm, die Träger einer Wirksamkeit sui generis im Rahmen der Prinzipien ist, eine Art Bedingungsnorm oder Strukturnorm, ohne deren minimale Wirksamkeit die anderen Normen auch nicht mehr minimal wirksam wären – es ist also die Norm der Normen, allerdings nicht eine die Anwendung anderer Normen strukturierende Norm, die formale oder materiale Kriterien liefert, wie beim Anwendungspostulat der Verhältnismäßigkeit. Das Rechtssicherheitsprinzip ist stattdessen eine Norm, die Bedingungen der Existenz, Geltung und Wirksamkeit der anderen Normen festlegt. Seine Wirksamkeit ist sozusagen endgültig, aber nicht einheitlich: endgültig, da sie nicht durch gegensätzliche Prinzipien ausgeschlossen werden kann; nicht einheitlich, da die Teilzustände nicht auf dieselbe Weise und in derselben Intensität auf alle Fälle angewandt werden, sondern in Totalitäten, die in einer Einheit anlässlich eines jeden neuen Falls organisiert und zusammengefasst werden. Man kann das Funktionieren des Rechtssicherheitsprinzips am Bild des Schachspiels veranschaulichen. Das Schachspiel hängt von einer Reihe von Regeln ab, so der Regel, dass das Spiel auf einem Brett mit 64 Feldern von zwei Spielern gespielt wird, von denen einer die Figuren der einen und der andere die Figuren der anderen Farbe benutzt. Jeder Spieler verfügt über sechzehn Figuren, die sich auf einen König, eine Dame, zwei Türme, zwei Läufer, zwei Springer und acht Bauern verteilen. Die Dame kann in jeder Richtung horizontal, vertikal oder diagonal ziehen, der Springer kann vom Ausgangspunkt zwei Felder und dann nach links oder rechts ziehen, usw. In diesem Beispiel bestimmt das Rechtsstaatsprinzip, dass das Spiel nach Regeln zu spielen ist und diese von allen Spielern und vom Schiedsrichter zu befolgen sind. Das Rechtssicherheitsprinzip legt seinerseits fest, dass die Regeln klar, stabil und voraussehbar sein müssen. So müssen beispielsweise die Figuren und Felder auf dem Schachbrett verschiedene Farben haben, die ihre Identifikation durch die Spieler ermöglichen, wie weiß und schwarz, aber nicht weiß und beige. Die Regeln sind vor Spielbeginn oder vor einem jeden Zug anzukündigen, nicht nachdem das Spiel begonnen oder die Züge getan worden sind. Sie müssen verständlich sein, wie die Regel, die festlegt, dass der Springer sich L-förmig bewegt, d. h. zwei Felder in der einen und ein Feld nach links oder rechts, wobei er andere Figuren überspringen kann, und nicht einfach L-förmig ohne jegliche weitere Angabe des Inhalts, usw. Das Rechtssicherheitsprinzip liefert also nicht eigentlich die Voraussetzungen des Spiels oder gar seiner Normen, sondern legt stattdessen die Voraussetzungen der Funktionsweise der Spielnormen fest. Es ist die Norm der Funktionsweise der Normen, mit dem nie zu vernachlässigenden Endzweck, die Achtung der Spieler als Menschen zu gewährleisten.

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(3) Strukturelle Bedingung Falls die vorstehenden Betrachtungen zutreffen, erweisen sich die Kategorien prima facie und pro tanto als unzureichend für die Darstellung ihrer Wirksamkeit, da sie, um weiter im Bild zu bleiben, für den Konflikt zwischen den Figuren konzipiert worden sind, nicht für die Funktionsweise der Regeln, welche ihre Züge normieren. Auf einem Punkt ist zu bestehen: das Rechtssicherheitsprinzip unterscheidet sich von anderen Prinzipien, da es auf das Recht selbst Anwendung findet. Es ist sozusagen ein „Vermittlungsprinzip“, da es funktionale Bedingungen für die Prinzipien und die Regeln, welche die Rechtsordnung bilden, einführt, auch wenn diese Bedingungen das mittelbare Instrument der Gewährleistung der Achtung des Menschen abgeben. Aus diesem Grund ist es nicht auf derselben Ebene mit anderen Normen angesiedelt, sondern auf einer anderen analytischen Ebene, und legt ihre Funktionsbedingungen fest. Eben an diesem Punkt entsteht das Motiv der Un­ angemessenheit der Kategorien prima facie und pro tanto: beide wurden konzipiert, um die Wirkungen benachbarter, da parallel auf derselben Ebene angeordneter Prinzipien zu bestimmen. Wenn nun das Rechtssicherheitsprinzip, wie hier behauptet wird, sich nicht den anderen Prinzipien „gleichrangig“ zugesellt, da es mit ihnen weder im Streit noch im Wettkampf liegt, wird deutlich, dass die genannten Kategorien zur Bestimmung seiner Wirksamkeit unangemessen sind. Es gibt somit eine Art Inkommensurabilität zwischen dem Rechtssicherheitsprinzip und den anderen Prinzipien, nämlichin dem Sinn, dass sie nicht unmittelbar vergleichbar sind, da sie, obwohl sie Prinzipien sind (aufgrund der Forderung nach Verwirklichung von Idealen ohne vorgängige Gestaltung der dafür notwendigen Mittel), nicht dieselben Eigenschaften haben und auch nicht dieselben Funktionen ausüben. Inkommensurabilität tritt nach Sunstein dann ein, „wenn die relevanten Güter nicht auf einer einzigen Waagschale verortet werden können, ohne unsere Urteile über die Art und Weise, wie diese Güter am besten zu kennzeichnen sind“779. Würde man inkommensurable Güter auf ein und derselben Waagschale anordnen, würde das der Frage gleichkommen, um ein weiteres Bild zu benutzen, ob der „Kreis“ wichtiger ist als „gelb“ oder ob „hübsch“ wertvoller ist als „schwer“, oder ob Beethoven besser ist als Elvis Presley. Chang hat zutreffend bemerkt: „Wenn Güter unvergleichlich sind, lässt sich nichts Affirmatives über die Wertbeziehung zwischen ihnen sagen“780. Was die Inkommensurabilität des Rechtssicherheitsprinzips gegenüber den anderen Prinzipien erschwert, ist nicht nur sein Wert, der anderen nicht parallelisierbar ist, sondern auch seine Beziehungsfunktionen: da es die anderen Normen begründet und instrumentalisiert, ist es nicht auf derselben analytischen Ebene angesiedelt, was einen bloßen Vergleich unmöglich macht und die von der horizontalen Abwägung kollidierender Prinzipien vorausgesetzte Rivalität ausschließt. 779

Cass Sunstein, Incommensurability and kinds of valuation: some applications in Law, in: Chang, Ruth (Hrsg.), Incommensurability, incomparability and practical reason, S. 238. 780 Ruth Chang, Introduction, in: Chang, Ruth (Hrsg.), Incommensurability, incomparability and practical reason, S. 4.

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Angesichts dieser Betrachtungen wäre die seiner Wirksamkeit nächststehende Figur die einer Art „struktureller Bedingung“ (structural constraint), die benutzt wird, um diejenigen Bedingungen zu veranschaulichen, die in einem Konflikt zwischen Argumenten nicht ausgeschlossen werden können781. Damit wird deutlich, dass das Rechtssicherheitsprinzip in der strengen Definition von Carrazza das die anderen Prinzien voraussetzende Prinzip ist782. Es ist also in der schönen Kennzeichnung von Palombella ein funktionales Erfordernis des Rechts, ein Hinweis auf unkündbare Erfordernisse, die nicht fehlen dürfen, falls das Recht seine Existenzberechtigung behalten will, die darin besteht, Verhalten zu orientieren, Erwartungen zu konsolidieren, Interessenkonflikte zu schlichten und die gesellschaftliche Ordnung herzustellen783. Aus diesen Gründen lohnt es sich hier, die treffende Behauptung von Maior Borges zum Verbot, das Rechtssicherheitsprinzip zum Gegenstand der Nichtanwendung auf jeder Instanz zu machen, zu zitieren: „Eines der grundlegendsten Prinzipien ist hier hervorzuheben, da es auf keinen Fall unberücksichtigt bleiben (d. h. nicht angewandt werden) darf. Es handelt sich um die Rechtssicherheit, ohne die Brasilien sich nicht einmal als demokratischer Rechtsstaat (Bundesverfassung, Art. 1) bestimmen könnte. In der Tat ist die Rechtssicherheit in der Architektur des Verfassungssystems so wichtig, dass die Bundesverfassung sie schon in der Präambel, sowie am Anfang von Art. 5 erwähnt. Sicherheit ist Grundrecht und Grundgarantie, die auf keiner Ebene der Anwendung unterverfassungsrechtlichen Rechts unberücksichtigt bleiben darf, d. h. auf der Ebene der Gesetze und steuerrechtlichen Regeln und selbst auf der Ebene der Vollstreckungsakte unbedingt zu berücksichtigen ist.“784

Vielleicht hat diese Besonderheit des Rechtssicherheitsprinzips Bandeira de Mello dazu veranlasst, zu behaupten, dass das genannte Prinzip, „wenn es nicht gerade das höchste der allgemeinen Rechtsprinzipien ist, wie wir glauben, gewiss eines der höchsten Prinzipien ist“785. bb) Fälle (1) Rechtssicherheit vs. Gerechtigkeit Grau weist darauf hin, dass die Spannung zwischen den Prinzipien, wie der Gegensatz oder Widerspruch dem Rechtssystem eigentümlich ist786. Aus diesem 781

Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, S. 30 ff. Roque Antônio Carrazza, Curso de Direito Constitucional Tributário, 25. Aufl., S. 62. 783 Gianluigi Palombella, Dopo la Certezza – Il Diritto in Equilibrio tra Giustizia e Democrazia, S. 9 f. 784 José Souto Maior Borges, Segurança jurídica: sobre a distinção entre competências fiscais para orientar e atuar o contribuinte, in: RDT 100 (o. J.), S. 20. 785 Celso Antônio Bandeira De Mello, Curso de Direito Administrativo, 26. Aufl., S. 87 sowie 124. 786 Eros Roberto Grau, Ensaio e discurso sobre a interpretação / aplicação do Direito, 4. Aufl., S. 52 sowie 196. 782

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Grund erwähnen Cavalcanti Filho und Torres den ewigen und dramatischen Konflikt zwischen Sicherheit und Gerechtigkeit787. Habermas weist ebenfalls auf die ständige Spannung zwischen Sicherheit und Richtigkeit hin788. Hinsichtlich der Möglichkeit der Spannung zwischen Rechtssicherheit und einem anderen Prinzip wie dem der Gerechtigkeit sind eingangs einige Abgrenzungen notwendig. Man kann nämlich die Rechtssicherheit sowohl als Antithese der Gerechtigkeitsidee als auch als deren Bestandteil sehen. So verfährt Radbruch: einerseits gibt er zu bedenken, dass neben der Rechtssicherheit zwei andere Werte zu erhalten sind, die Zweckmäßigkeit und die Gerechtigkeit; andererseits erkennt er an, dass die Rechtssicherheit eine Zwischenstellung zwischen der Zweckmäßigkeit und der Gerechtigkeit einnimmt, da sie vom Gemeinwohl und auch von der Gerechtigkeit gefordert wird. Er formuliert dies sehr deutlich in folgendem Satz: „Daß das Recht sicher sei, daß es nicht heute und hier so, morgen und dort anders ausgelegt und angewandt werde, ist zugleich eine Forderung der Gerechtigkeit“.789 Das Vorliegen eines Konflikts zwischen Gerechtigkeit und Sicherheit hängt also von der vorgängigen Definition der beiden Prinzipien ab, wie Nelles sagt: „Je nach dem Verständnis der Begriffe kann man Rechtssicherheit und Gerechtigkeit entweder als Einheit oder auch als Gegensatzpaar ansehen“790. In der Tat, wenn einerseits die Gerechtigkeit als oberstes Prinzip bestimmt wird, das schon die mit der Stabilität der Rechtsordnung zusammenhängenden Elemente aufnimmt, und wenn die Definition der Rechtssicherheit auch dieses Element beinhaltet, ist der Konflikt ausgeschlossen, da Rechtssicherheit dann Teil der Gerechtigkeit ist. Diese Konnotation erklärt die sinngemäßen Behauptungen von Cavalcanti Filho und Maior Borges, dass die Sicherheit selbst ein Instrument der Gerechtigkeit ist, oder der Behauptung von Couto e Silva, für den die Rechtssicherheit nicht der Gerechtigkeit widerspricht, sondern diese selbst ist791. Wenn andererseits die Rechtssicherheit als Prinzip definiert wird, das in seiner Verschränkung mit der Gleichheitsforderung das Verbot der willkürlichen Behandlung beinhaltet, und die Bestimmung der Gerechtigkeit sich auch dieses Element einverleibt, ist ein Spannungsverhältnis ebenfalls ausgeschlossen. 787 Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 75; Ricardo Lobo Torres, Liberdade, Segurança e Justiça, in: Carvalho, Paulo de Barros (Hrsg.), Justiça tributária, S. 703; im selben Sinn Wilhelm Hartz, Mehr Rechtssicherheit im Steuerrecht. Ziele, Wege, Grenzen, in: StbJb 1965/1966, S. 81; Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 666. 788 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 245 sowie 270. 789 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergestzliches Recht. Anhang 3, in: Rechtsphilosophie. Studienausgabe, 2. Aufl., S. 216. 790 Marcus Nelles, Sumum ius summa iniuria?, S. 136 f. 791 Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 75; José Souto Maior Borges, O princípio da segurança jurídica na criação e aplicação do tributo, in: RDDT 22 (1997), S. 26; Almiro do Couto e Silva, Princípios da legalidade da Administração Pública e da segurança jurídica no Estado de Direito contemporâneo, in: Revista da Procuradoria-Geral do Estado do Rio Grande do Sul / Cadernos de Direito Público 57 (2003), Bd. 19, Supplement, S. 14.

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Damit soll gesagt werden, dass die Abgrenzung der äußeren Konflikte des Rechtssicherheitsprinzips mit anderen Prinzipien eine angemessene und vorgängige Definition dieser Prinzipien voraussetzt. Ohne die begrifflichen Grenzen eines jeden Prinzips zu ziehen, lässt sich die Idee des Konflikts selbst nicht fassen, da der wahre und nicht nur scheinbare Gegensatz die Ausdifferenzierung der konfligierenden Elemente voraussetzt. Ohne diese Abgrenzung würde man einem bloßen, so banalen wie unauffälligen Wortspiel aufsitzen. Wenn in dieser Richtung die sich aus dem Rechtssicherheitsprinzip ergebenden Pflichten nicht nur Forderungen nach Erkennbarkeit und Verlässlichkeit beinhalten, sondern auch Vorschriften, die sich auf die moralische Akzeptierbarkeit der Normen beziehen, wie Peczenik vorschlägt, umfasst die Rechtssicherheit schon die Gerechtigkeit selbst792. Deshalb ist es korrekter, von einem scheinbaren Konflikt zwischen Sicherheit und Gerechtigkeit zu sprechen. Man kann sich allerdings einen äußeren Konflikt zwischen dem Rechtssicherheitsprinzip und dem Gerechtigkeitsprinzip vorstellen, wenn die sich aus dem Rechtssicherheitsprinzip ergebenden Forderungen nicht nur absolut, sondern an die Rechtsordnung im Allgemeinen gebunden sind und für die meisten Fälle und die meisten Menschen gelten (Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts oder durch das Recht für alle oder für die Mehrheit), und wenn die sich aus der Gerechtigkeit ergebenden Pflichten an punktuelle normative Äußerungen gebunden werden, also für einen bestimmten Fall und eine bestimmte Person (Gerechtigkeit als Billigkeit). In diesem Fall kann man von einem Konflikt zwischen Sicherheit und Gerechtigkeit sprechen, da die erste in diesem spezifischen Sinn ein Hindernis für die Verwirklichung der zweiten darstellt793. In der Tat, wenn Rechtssicherheit in ihrem materialen Aspekt als bloße Forderung nach Vorhersehbarkeit des Rechts und im Rechtfertigungsaspekt als einen Wert in sich habend gedacht wird, kann sie höchstens, wie Arcos Ramírez sagt, die Ungerechtigkeit voraussehbar machen794. Daher die Feststellung, dass die Konzeption von Rechtssicherheit nicht nur alle ihre Dimensionen berücksichtigen, sondern auch material an Grundrechte gebunden sein muss, sonst würde man ja, wie Peczenik sagt, akzeptieren, dass die Juden im Nationalsozialismus eine sehr hohe Rechtssicherheit genossen, da sie mit absoluter Gewissheit vorhersehen konnten, dass sie diskriminiert werden würden795. Einige Autoren versuchen in einer subtil anderen Perspektive zu zeigen, dass selbst wo es Ungerechtigkeit gibt, das Vorliegen der Rechtssicherheit den Bürgern zusätzliche Vorteile bringt, da diese nun strategisch handeln können und damit eine noch ungerechtere Praxis vermei­den. Diese Feststellung würde einen inneren Wert der Rechtssicherheit selbst offen-

792

Aleksander Peczenik, On Law and Reason, S. 31. Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 117. 794 Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 163. 795 Aleksander Peczenik, On Law and Reason, S. 31. 793

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baren, und zwar nicht in dem Sinn, dass Ungerechtigkeit verteidigt oder gerechtfertigt wird, sondern in dem spezifischen Sinn der Verteidigung und Rechtfertigung der Rechtssicherheit durch den Nachweis, dass ein ungerechtes System mit Rechtssicherheit besser ist als ein ungerechtes System ohne Rechtssicherheit – dies scheint also die Position von MacCormick zu sein796. In diesem strikten Sinn hätte die Rechtssicherheit in einem ungerechten System die Funktion, schlimmere Ungerechtigkeiten zu vermeiden797, oder sie würde, mit den Worten von Summers, dem Bürger die gerechte Gelegenheit zur Befolgung eines ungerechten Gesetzes geben, was auf eine gewisse Weise den inneren moralischen Wert der Rechtssicherheit offenbaren würde798. Diese Gedanken beweisen, dass der Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit von einer engen Definition beider Prinzipien abhängt. Wenn also erstere bloß die Forderung nach Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit beinhaltet, ohne jegliche besondere wertende Komponente, und wenn letztere bloß die Einzelgerechtigkeit beinhaltet, als Forderung nach Billigkeit bei der Anwendung allgemeiner Normen, kann man sich einen Konflikt zwischen den genannten Prinzipien vorstellen799. Diese Auffassung lässt jedoch unberücksichtigt, dass Rechtssicherheit auch einen inneren moralischen, auf Gerechtigkeit bezogenen Wert beinhaltet und Gerechtigkeit sowohl eine allgemeine als auch eine besondere Perspektive umfasst. Da dem so ist, wäre es besser, von Zusammenhang statt von einem Gegensatz zwischen Rechtssicherheitsprinzip und Gerechtigkeit zu sprechen. Machado bestimmt zu Recht den Konflikt als scheinbaren Antagonismus800. Man kann höchstens die Existenz einer Polarität annnehmen, aber nie eine wahre Antinomie801. Wenn ein verfassungswidriger Akt im Namen der Rechtssicherheit bestätigt wird, wird die Gerechtigkeit nicht zugunsten der Sicherheit ausgeschlossen, sondern stellt sich die spefizische Gestaltung der Rechtssicherheit selbst als gerechte Lösung heraus802. Wie dem auch sei, das Wesentliche hat Cavalcanti Filho registriert: „ein ungewisses Recht ist auch ein ungerechtes Recht“803. Da das Rechtssicherheitsprinzip, wie hier behauptet wird, ein „vorausgesetztes Prinzip“ ist, als Darstellung der Idealzustände, die im Interesse der Wirksamkeit der anderen Prinzipien vorliegen müssen, kann man ohne Rechtssicherheit nicht eigentlich von Gerechtigkeit sprechen. 796

Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, S. 63. Federico Arcos Ramírez, La seguridad jurídica: una teoría formal, S. 170. 798 Robert Summers, Lon L. Fuller, S. 66. 799 Gerhard Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 63. 800 Hugo de Brito Machado, Os princípios da anterioridade e da irretroatividade das leis tribu­ tárias e a publicação da lei, in: Cadernos de Direito Tributário e Finanças Públicas 8 (1994), S. 107. 801 Marcus Nelles, Sumum ius summa iniuria?, S. 140. 802 Almiro do Couto e Silva, Princípios da legalidade da Administração Pública e da segurança jurídica no Estado de Direito contemporâneo, in: Revista da Procuradoria-Geral do Estado do Rio Grande do Sul / Cadernos de Direito Público 57 (2003), Bd. 19, Supplement, S. 14. 803 Theophilo Cavalcanti Filho, O problema da segurança no Direito, S. 81. 797

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Sicherheit ist kein Verzicht auf Gerechtigkeit, sondern ihre Förderung804. Deshalb behauptet Carvalho, dass „die Sicherheit der Rechtsbeziehungen […] vom Wert Gerechtigkeit untrennbar“ sei805. Und deswegen behauptet Machado Derzi sehr zutreffend, das Rechtssicherheit „ein Grundwert ist, aber nicht zur Diskussion steht oder sich in einer Konfliktsituation befindet, da sie vorgängig oder eine offendeutige Voraussetzung ist, ohne welche die Gerechtigkeit nicht erreicht werden könnte“806. (2) Rechtssicherheit vs. Staatszwecke Wir könnten uns gleichfalls andere Konflikte vorstellen, wie den zwischen dem Rechtssicherheitsprinzip und dem Sozialstaatsprinzip oder dem Prinzip der gesellschaftlichen Solidarität. Eine punktuelle Hypothese ergibt sich aus der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines einfachen Gesetzes, das einen Sozialbeitrag zum Zweck der Finanzierung der staatlichen Sozialversicherung einführt, aber außerhalb des Sachbereichs, der in der verfassungsrechtlichen Kompetenzregel vorgesehen ist, die dem Bund die Zuständigkeit für die Einführung von Sozialbeiträgen in der genannten Situation zuweist. Deshalb soll es eine Art Konflikt geben zwischen dem Rechtssicherheitsprinzip, das durch eine Kompetenzregel konkretisiert ist, deren Zweck die Klarheit, Stabilität und Vorhersehbarkeit der Staatsgewalt ist, und dem Prinzip der gesellschaftlichen Solidarität, das die zur Finanzierung der Sozialversicherung notwendigen Mittel rechtfertigt. Kurz, es gäbe einen Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Solidarität807. Eine genauere Prüfung zeigt jedoch, dass die Beziehung zwischen Rechts­ sicherheit und Solidarität nicht gegensätzlich, sondern ergänzend ist. Die Rechts­ sicherheit, vor allem als Mechanismus der Gewährleistung des Existenzminimums, ist ein Instrument der Schaffung oder Erhaltung der materialen Bedingungen der Ausübung der Freiheit, sowie die Rechtssicherheit auch ein Mittel zur Schaffung oder Erhaltung der formalen Bedingungen der Ausübung der Freiheitsgrundrechte ist. Außerdem hängt sie vom Gebrauch der Freiheit ab, um andere Modi ihrer Verwirklichung zu nutzen, da die Mittel knapp und die Solidarität eine Pflicht aller Menschen, nicht nur des Staates ist. Rechtssicherheit und soziale Sicherheit sowie Freiheit und Solidarität sind in anderen Worten nicht parallele und isolierte Gegensätze, sondern verschränkte und voneinander abhängige Ergänzungen808: wer nicht frei ist, kann auch nicht solidarisch sein809. 804

José L. Mezquita del Cacho, Seguridad jurídica y sistema cautelar, in: Teoría de la seguridad jurídica, S. 7. 805 Paulo de Barros Carvalho, Curso de Direito Tributário, 21. Aufl., S. 166. 806 Misabel de Abreu Machado Derzi, Modificações da jurisprudência no Direito Tributário, S. 608. 807 Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 326 ff. 808 Hans Michael Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 586 f. 809 Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 112.

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Die vorstehenden Betrachtungen verstärken die in dieser Monographie vertretene These, dass das Rechtssicherheitsprinzip sich nicht den anderen Prinzipien entgegenstellt, sondern sich ihnen gegenüber in einer Voraussetzungsbeziehung befindet, die, wenn sie schon nicht den Konflikt ausschließt, ihn zumindest ganz neu gestaltet. Seine Wirksamkeit ist nicht eine gewöhnliche Wirksamkeit, sei es, weil es nicht durch widerstreitende Argumente ausgeschlossen werden kann, sonderndabei bloß gegenüber besonderen Situationen ausgestaltet wird, sei es, weil es sich als Strukturbedingung des Funktionierens des Rechts selbst im Allgemeinen und seiner normativen Manifestationen im Besonderen ausweist. Die verschiedenen Äußerungen des Rechtssicherheitsprinzips können jedoch nicht das Erkennen seiner funktionalen Einheit verhindern810. Diese Einheit zeigt sich präzise in der Tatsache, dass das Rechtssicherheitsprinzip anders als andere Prinzipien, die unmittelbar die faktische Wirklichkeit betreffen, eine rechtliche Wirklichkeit betrifft, die ihrerseits in ihren Wirkungen auf die faktische Wirklichkeit ausstrahlt. Da dem so ist, sind einige Fragen, die über die anderen Prinzipien gestellt werden, sinnlos, wenn sie sich an das Rechtssicherheitsprinzip richten. Die Wirksamkeitskennzeichnungen wie prima facie und pro tanto sind Antworten auf Prinzipien, die unmittelbar und horizontal in Konflikt geraten und Gefahr laufen, ihre Wirksamkeit zu verlieren oder eingeschränkt zu sehen. Da aber das Rechtssicherheitsprinzip eine Norm ist, die Strukturbedingungen der Funktionstüchtigkeit anderer Normen festlegt, liegt sie nicht auf derselben analytischen Ebene wie diese, weshalb die Verwendung derselben Begrifflichkeit zur Kennzeichnung ihrer normativen Kraft technisch unangemessen ist. Wenn man also weiterhin nach der Existenz oder Nichtexistenz der Wirksamkeit prima facie oder pro tanto auch im Fall des Rechtssicherheitsprinzips fragt, ist das so wie die Suche nach der richtigen Antwort auf eine falsche Frage. Das Rechtssicherheitsprinzip liegt, wie wir noch einmal unterstreichen, nicht auf derselben Ebene mit anderen Prinzipien und Regeln, deren Gültigkeit es begründet und deren Wirksamkeit es instrumentalisiert. Man kann bildlich gesprochen sagen, dass die anderen Prinzipien das Licht sind, das Rechtssicherheitsprinzip aber der Strom, ohne den das Licht nicht produziert würde. Die Beleuchtung kann in der einen oder anderen Richtung zur Beleuchtung dieses oder jenes Gegenstands mit dieser oder jener Absicht produziert werden, aber es gäbe kein Licht, wenn es nicht auch Strom gäbe. Am Ende des ersten Teils der vorliegenden Monographie wurde die Rechtssicherheit im Steuerrecht als Normprinzip bestimmt, das von den drei Gewalten die Wahl von Verhaltensweisen fordert, die mehr zur Existenz (zugunsten der Steuerzahler und aus ihrer Sicht) eines hohen Zustands der Erkennbarkeit, Verläss­lichkeit und Berechenbarkeit des Rechts beitragen, dessen Ziel die rechtlich rationale Kontrollierbarkeit der allgemeine und Einzelnormen rekonstruierenden Argumenta-

810 Anne-Laure Valembois, La Constitutionnalisation de l’exigence de sécurité juridique en Droit français, S. 12.

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tionsstrukturen ist, als Instrument der Gewährleistung der Achtung der Fähigkeit der Steuerzahler, ohne Täuschung, Enttäuschung, Überraschung oder Willkür ihre Gegenwart in Würde und Verantwortung zu gestalten und ihre Zukunft rechtskundig strategisch zu planen. Am Ende dieses zweiten Teils sind in diesen Begriff der Rechtssicherheit auch die auf seinen Inhalt und seine Wirksamkeit bezogenen Elemente aufzunehmen. Im Hinblick auf dieses Desiderat lässt sich sagen, dass Rechtssicherheit ein Prinzip ist, das durch die Ausübung verschiedener Wirksamkeits- und Argumentationsfunktionen im Hinblick auf die Normen höher oder niedrigeren Ranges das funktionale Äquivalent der Produktion und Anwendung des Rechts ist und niemals vollständig ausgeschlossen werden darf. Die Fusion und Vereinfachung beider Begriffe erlaubt die Neubestimmung der Rechtssicherheit als ein Bedingungsprinzip, das einen Zustand der Achtung der Grundrechte des Bürgers als Steuerzahler und der Mäßigung staatlichen Verhaltens durch die rechtlich rationale Kontrollierbarkeit der allgemeine und Einzelnormen rekonstruierenden Argumentationsstrukturen gewährleistet. Wir gehen einen Schritt weiter, um diesen neuen Begriff zu vereinfachen, und sagen schlicht, dass das Rechtssicherheitsprinzip ein die Achtung des Steuerzahlers als Bürgers gewährleistendes Prinzip ist. Hervorzuheben ist noch, dass das Rechtssicherheitsprinzip nicht nur negativ die Willkür ausschließt, sondern darüberhinaus positiv die Achtung des Steuerzahlers als Bürgers gewährleistet. Als Prinzip begrenzt und lenkt es also das staatliche Handeln und führt in dieses die Berücksichtigung der Ausübung der Grundrechte ein. Hervorzuheben ist auch noch, dass diese Achtung als Berücksichtigung des Steuerzahlers in seiner Eigenschaft als Bürger nicht nur den Respekt vor dem gewährleisten soll, was der Steuerzahler tut, damit er in Verantwortung und Autonomie leben kann, sondern auch den Respekt vor dem, was er zu tun und leben vorgibt. Ohne dass der Steuerzahler vermittels der angemessenen Bewertung und Berücksichtigung seiner Argumente sich gegen die staatlichen Ansprüche auflehnen und an der Rechtskonkretisierung teilhaben kann, gibt es keine Rechtssicherheit als Sicherheit im Recht. So lässt sich das Rechtssicherheitsprinzip im Steuerrecht in einer abschließenden Synthese als Prinzip der transparenten Respektabilität des Steuerzahlers als eines vernünftigen Bürgers formulieren. Diese Betrachtungen verdeutlichen somit die konkurrenzlose Bedeutung des Rechtssicherheitsprinzips im Rahmen der Prinzipien. Ebendeshalb darf man in einem einfachen Ausdruck behaupten, dass es ein Protoprinzip ist, das Prinzip der Prinzipien, die Norm der Normen, die norma normarum unter den Normarten, welche die anderen Normen nicht nur begründet, sondern auch instrumentalisiert. Ziel dieser Monographie war also, die Architektur des Rechtssicherheitsprinzips im Bereich des Steuerrechts vollständig zu konstruieren, angefangen bei seiner begrifflichen Bestimmung und Begründung, dann in der Analyse seines sowohl

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statischen als auch dynamischen Inhalts bis zu seiner Wirksamkeit. Mit diesem nähern wir uns dem Schlusspunkt des Werks. Die vorliegende Arbeit ist nämlich, wie gleich zu Beginn gesagt worden ist, eine ständige Anstrengung, intersubjektiv kontrollierbare Mittel zur Förderung der Rechtssicherheit zu konstruieren. Schrimm-Heins zufolge „[gleicht das] Sicherheitstreben […] einem Perpetuum mobile; es gelangt nie ans Ziel“811. Ähnliches lässt sich im Hinblick auf das Rechtssicherheitsprinzip sagen: wenn die wissenschaftliche Konstruktion seiner Elemente, Dimensionen und Wirksamkeiten am Ende angelangt zu sein scheint, sehen wir, dass sie sich aufgrund ihrer Komplexität erst am Anfang befindet.

811 Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit: Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘ (Teil 1), in: Archiv für Begriffsgeschichte 34 (1991), S. 213.

Schlussfolgerungen und Thesen „Es gehört zu den Tragödien der Seele, ein Werk zu schaffen und es danach für schlecht zu befinden. Diese Tragödie ist vor allem dann groß, wenn man erkennt, dass es das beste ist, das man vollbringen konnte.“ (Fernando Pessoa, O livro do desassossego, S. 230)

Rechtssicherheit ist ein normatives Ideal erster Ordnung in jeder Rechtsordnung, vor allem im brasilianischen Recht. Diese Bedeutung erweist sich als noch höher im Bereich des Steuerrechts: die vom Steuerrecht geschützten Ideale sind im steuerrechtlichen Subsystem besonders deutlich erkennbar und haben auch einen stärker schützenden Sinn, da das nationale Abgabensystem spezifische und emphatische Normen hat. Diese sind das Instrument zur Gewährleistung der Verständlichkeit des Rechts durch Bestimmbarkeit der Tatbestände (Gesetzmäßigkeitsregel und Kompetenzregelsystem), Verlässlichkeit des Rechts durch Stabilität in der Zeit (Regel des Vorbehalts eines Ergänzungsgesetzes zur Normierung der Verwirkung und Verjährung), Geltung (Rückwirkungsverbotsregel) und Verfahren (ausdrückliche Regeln zur Öffnung des steuerrechtlichen Subsystems in Richtung von in ihm nicht vorgesehenen Rechten und Garantien, wie im Fall des Schutzes des wohlerworbenen Rechts, der Rechtskraft und der vollendeten Rechtshandlung) und Berechenbarkeit des Rechts durch Nichtüberraschung (Regel der Vorzeitigkeit). Wesentlich ist, dass die brasilianische Bundesverfassung nicht nur die Förderung des Rechtssicherheitsprinzips verlangt, sondern es darüber hinaus durch die vom Anfang bis zum Ende anzutreffende Sorge um die Ideale der Erkennbarkeit, der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsnormen verkörpert. So stark ist nämlich der Nachdruck, mit dem sie auf die Begrenzung der Staatsgewalt, einschließlich und vor allem der Besteuerungsgewalt, und auf die Gewährleistung der Grundrechte, vor allem im Steuerrecht, hinweist. Wie wir bisher gesehen haben, kennt das deutsche Grundgesetz im Gegensatz zur CF/88 keine analytische Regelung des ganzen Abgabensystems, zumal es keine vorgängige verfassungsrechtliche Definition der materialen Aspekte der Tatbestände der möglichen Abgaben und nur die Angabe der Abgabenarten enthält. Obwohl man also die nachdrückliche Verankerung der Rechtssicherheit im Abgabensystem nicht so deutlich wahrnimmt, kann man die hohe Bedeutung, die das Grundgesetz der Rechtsssicherheit gegeben hat, nicht verkennen: es hat ihr in seinem Text Gestalt verliehen, indem es das Rechtsstaatsprinzip als Grundprinzip statuiert hat (Art. 20) und vom Anfang bis zum Ende Regeln und Prinzipien festgelegt hat, die an die Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Normen gebunden sind, wie zum Beispiel die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit

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Schlussfolgerungen und Thesen

und des Rückwirkungsverbots, die Rechte der Freiheit und des Eigentums und die dem ordnungsgemäßen Verfahren immanenten prozessualen Garantien. Diese Ideale können jedoch ohne einen Prozess fortschreitender Reduktion ihrer Unbestimmtheit nicht einmal deutlich erkannt, geschweige denn verwirklicht werden. Die Wirksamkeit eines Rechtsprinzips und besonders des Rechtssicherheitsprinzips im Steuerrecht ergibt sich nicht nur aus der Proklamation seiner Ideale, sondern aus der analytischen Zerlegung der es bildenden Dimensionen, Aspekte und Elemente. Ein Rechtsprinzip ist vor allem eine der begrifflichen Zerlegung bedürftige Norm. Wird diese nicht „ausgepackt“, mit der Trennung ihrer verschiedenen Bestandteile, sind seine Natur, Proportionen, Funktionen oder Beziehungen nicht erkennbar. In diesem Prozess der Reduktion auf einfache Elemente erfordert jedoch nicht nur das Verständnis des Rechtssicherheitsprinzips eine Veränderung: die Definition des Rechts selbst, das man als sicher ausweisen will, durch welches man die Veränderung auf den Weg bringen oder in dem man Sicherheit gewährleisten will, bedarf der Veränderung. Das Verständnis des Rechts als eines vorgegebenen Gegenstands, dessen Existenz vollständig von den seine Anwendung betreffenden Tätigkeiten unabhängig ist, führte zur Untersuchung der Rechtssicherheit durch die fast ausschließliche Sicht der Forderung nach Bestimmung der Tatbestände, deren Folge die Vergötterung des sog. Prinzips der geschlossenen Tatbestandsmäßigkeit im Steuerrecht ist. Diese Auffassung hat jedoch die Diskussion der Rechtssicherheit auf Faktoren eingeschränkt, die ohne Zweifel wichtig, aber nur an die Sprachstruktur gebunden sind, und aus denen sich nicht nur unendliche Diskussionen über ihre Bestimmung ergeben haben, sondern auch, auf reflektierte Weise, unendliche Diskussionen über ihre Unfähigkeit, diese Bestimmung zu liefern. Diese auf die normative Bestimmung konzentrierte Wahrnehmung der Rechtssicherheit muss daher einer auf semantisch-argumentative Kontrollierbarkeit gegründeten Auffassung weichen. In diesem Verständnismodus ist sie dann nicht mehr eine Eigenschaft des Rechts, um stattdessen etwas im Recht Aufzusuchendes zu sein, durch Prozesse der Legitimation, Bestimmung, Argumentation und Begründung der Normen, die imstande sind, die dem Recht ontologisch innewohnenden Probleme anzugehen. Diese Probleme betreffen Beweisführung, Qualifizierung, Auslegung und Relevanz. Mehr als ein sicheres Recht hat man dann ein Recht auf Rechtssicherheit-nicht als etwas, was von den normativen Bestimmungen geschenkt wird, als ob es einzig und allein ein Gegenstand wäre, der bloß durch eine auf Beschreibung der Sprache bezogene diskursive Methode offenbart werden könnte, sondern als etwas, das mit Hilfe einer metadiskursiven Methode zu suchen ist, die der Organisation und Strukturierung der auf den Sprachgebrauch bezogenen Erfahrung dient. Rechtssicherheit in diesem Sinn ist nicht mehr Gewährleistung des Inhalts, die mit Hilfe von ausschließlich sprachlichen Faktoren zu finden ist, sondern etwas, das in eine Gewährleistung der Achtung umgewandelt wird, die mit Hilfe von semantisch-argumentativen Elementen zu konstruieren ist.

Schlussfolgerungen und Thesen

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Eben in dieser neuen Bedeutung offenbart sich Rechtssicherheit mit mehr Klarheit als Instrument der Verwirklichung der Werte der Freiheit, Gleichheit und Würde: der Freiheit, da der steuerzahlende Bürger mit zunehmendem materialen und intellektuellen Zugang zu den von ihm zu befolgenden Normen und mit zunehmender Stabilität dieser Normen umso besser seine Gegenwart gestalten und seine Zukunft planen kann; der Gleichheit, da bei zunehmender Allgemeinheit und Abstraktion der Normen und zunehmender Einheitlichkeit ihrer Anwendung der steuerzahlende Bürger umso mehr mit Gleichbehandlung rechnen kann; der Würde, da bei zunehmender Zugänglichkeit und Stabilität der Normen und steigendem Grad der Rechtfertigung ihrer Anwendung der steuerzahlende Bürger umso intensiver als Wesen behandelt wird, das der Selbstbestimmung fähig ist, sei es wegen gegenwärtiger Achtung seiner in der Vergangenheit ausgeübten Autonomie, sei es wegen der zukünftigen Berücksichtigung der in der Gegenwart ausgeübten Autonomie. Im Bereich des Steuerrechts zeigt dieses Verständnis die Rechtssicherheit als unverzichtbares Instrument der Verwirklichung der Prinzipien der Freiheit, besonders der freien Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit, sowie der Prinzipien der Gleichheit und Menschenwürde. Das Rechtssicherheitsprinzip ist so das Prinzip der Achtung des Steuerzahlers als Bürgers. Die Rechtssicherheit bildet sich in dieser Resemantisierung nicht in einem Punkt aus, sondern indirekt in einem Spektrum gradueller Verwirklichung. Diese schrittweise erfolgende Verwirklichung ist jedoch nicht einheitlich und verläuft ebensowenig in eine Richtung: das höchste Ideal (Rechtssicherheit) ist die Summe von Teilidealen (Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Normen). Diese Teilideale können in dieselbe Richtung, aber auch in unterschiedliche Richtungen interagieren, so dass beispielsweise der Sicherheitsschutz aus einer Perspektive (als Suche nach Verlässlichkeit durch Stabilität der normativen Akte) den Sicherheitsverlust aus einer anderen Perspektive (als Suche nach Berechenbarkeit durch Gebundenheit der normativen Akte) verursacht. Zu unterstreichen ist in diesem Zusammenhang, dass jedes Teilideal aus unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht werden kann. Man kann beispielsweise die Verständlichkeit der Rechtsordnung für die Gesellschaft im Allgemeinen oder die Rechtsanwender untersuchen, hinsichtlich der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, usf. In diesem Sinn bedarf jedes Teilideal einer Analyse der Subelemente, die sich intern aufeinander beziehen. Die Rechtssicherheit ist folglich immer das Ergebnis der Prüfung verschiedener Faktoren aus mehr als einer Perspektive. Es handelt sich sozusagen nicht um ein Prinzip, das die Verwirklichung eines einheitlichen Zustands anordnet. Vielmehr ordnet das Rechtssicherheitsprinzip die Verwirklichung eines nichteinheitlichen Zustands an. Dem Interpreten obliegt zuerst die Sezierung dieser Elemente. Anschließend muss er ihre Dimension prüfen, um am Ende die Förderung oder Nichtförderung der Summe der Elemente in einem höheren Maß festzustellen. Das Unterlassen dieser Prüfung führt leicht zu einer Situation, in der im Namen der Rechtssicherheit deren Gegenteil verursacht werden kann, nämlich die Rechts-

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Schlussfolgerungen und Thesen

unsicherheit. Deshalb ist zu Beginn und am Ende dieser Untersuchung behauptet worden und wird hier wieder behauptet, dass Rechtssicherheit entweder integral oder keine Rechtssicherheit ist: dem Anwender obliegt zuerst die Prüfung eines jeden Elements in seinen verschiedenen Dimensionen, um dann festzustellen, ob sie mehr gefördert als eingeschränkt werden. Diese Betrachtungen zeigen, dass das Rechtssicherheitsprinzip nur oberflächlich ein im abwertenden Sinn bloß formales, nicht an materiale Grundprinzipien gebundenes Prinzip ist. In Wahrheit ist es die normative Voraussetzung der Wirksamkeit der Prinzipienordnung, vor allem derjenigen Prinzipien, die sich auf die Entwicklung des Menschen als eines selbständigen und vernünftigen Wesens beziehen. Das Rechtssicherheitsprinzip begründet die Gültigkeit und instrumentalisiert die Wirksamkeit anderer Rechtsnormen. Es ist daher die Norm der Normen – die Strukturbedingung von Normen. Diese Begründungs- und Instrumentalisierungsfunktion bezieht sich aber nicht nur auf die statischen Aspekte der Normen, sondern auch auf dynamische Aspekte, die sich sowohl auf den Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart und von der Gegenwart zur Zukunft beziehen, als auch – und das ist entscheidend – auf den Übergang von der abstrakten zur konkreten Ebene der Rechtsanwendung. Mit seiner Forderung nach Erkennbarkeit will das Rechtssicherheitsprinzip dem Steuerzahler als Orientierungsinstrument dienen, um zu verhindern, dass dieser, indem er sein Handeln am Recht ausrichtet, sich in Bezug auf sein Tun täuscht. Mit seinem Verlässlichkeitsideal will es die Stabilität des Rechts und seiner Konkretisierungen gewährleisten, indem es die Vergangenheit in der Gegenwart bewahrt und verhindert, dass der Steuerzahler in Bezug auf das, was er getan hat, enttäuscht wird. Und mit seinem Berechenbarkeitsziel fördert es die Kontinuität des Rechts, indem es die Zukunft in der Gegenwart bewahrt und verhindert, dass der Steuerzahler in Bezug auf das, was er tut, überrascht, also getäuscht wird. Das Rechtssicherheitsprinzip verkörpert also, indem es die Täuschung, Enttäuschung und Überraschung fernzuhalten versucht, das Ideal der Achtung des Steuerzahlers. Dieses Ideal wird jedoch nur durch Verständlichkeit, Loyalität und Höflichkeit staatlichen Handelns verwirklicht. Die Summe dieser Ideale verwirklicht ihrerseits ein höheres Ideal staatlicher Mäßigung. Folglich erfordert das Rechtssicherheitsprinzip die Achtung des Handelns des Steuerzahlers durch staatliche Mäßigung. Es genügt jedoch nicht, dass der Steuerzahler geachtet wird: er muss sich geachtet sehen können und argumentativ im Rahmen dieser Achtung handeln. In diesem Aspekt geht das Rechtssicherheitsprinzip über seine wesentliche Funktion hinaus, die Achtung vor dem Handeln des Einzelnen zu gewährleisten, um sich pari passu als Instrument der Achtung der vom Bürger verwendeten Argumentation zur Lösung der Probleme der Beweisführung, der Kennzeichnung, Auslegung und Relevanz der auf sein Handeln bezogenen Elemente zu erweisen. So wird deutlich, dass das Rechtssicherheitsprinzip im Steuerrecht das Prinzip der

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Achtung des Handelns und der Argumentation des steuerzahlenden Bürgers ist. Es erfordert sozusagen die transparente Achtung des Handelns des Steuerzahlers und der auf dieses Handeln bezogenen Argumentation durch Mäßigung staatlichen Handelns. Diese Mäßigung erfordert ihrerseits die Behandlung des Steuerzahlers als vernünftigen, freien und autonomen Menschen. Der Steuerzahler ist also als Bürger zu behandeln. Nur so kann er, am Recht orientiert, seine Gegenwart sich vorstellen und seine Zukunft gestalten. Das Rechtssicherheitsprinzip ist sozusagen das rechtliche Antlitz der Menschenwürde, die bei der Forderung nach Sichtbarkeit des rücksichtsvollen Übergangs von der Vergangenheit zur Gegenwart und von dieser zur Zukunft verhindert, dass das Recht sich gegen den wendet, der ihm vertraut und mit seiner Hilfe gehandelt hat. Es legt somit die zeitlichen und anwendungsbezogenen Bedingungen der Funktionstüchtigkeit des Rechts fest, ohne die dieses den Steuerzahler weder als Menschen noch als Bürger achten würde und damit nicht mehr ein Instrument der Höflichkeit im Umgang und des Anstands im Handeln wäre. Man kann folglich behaupten, dass das Rechtssicherheitsprinzip die anwendungsbezogenen und zeitlichen Bedingungen der menschlichkeits- und höflichkeitsverpflichteten Funktionstüchtigkeit des Steuerrechts festlegt. Die Bündelung der vorstehenden Betrachtungen erlaubt uns, zusammenfassend das Rechtssicherheitsprinzip als das Prinzip zu definieren, das nicht nur die Geltung der Rechtsnormen und Instrumentalisierung ihrer Wirksamkeit begründet, sondern auch die transparente Achtung des Handelns des steuerzahlenden Bürgers und der auf dieses Handeln bezogenen Argumentation durch staatliche Mäßigung erfordert. Die vorliegende Arbeit ist zu verschiedenen Schlüssen gekommen, die imstande sind, die Funktionen zu zeigen, welche die Rechtssicherheit im Steuerrecht in der Rechtsordnung ausübt und die nicht von anderen Prinzipien erreicht werden. Sie hier vollständig zu spefizieren wäre ungebührlich. So bleibt hier nur die Pflicht, einige allgemeine Schlussfolgerungen vorzutragen, deren Bedeutung über die im Lauf der Arbeit genannten und bloß punktuellen Aspekte hinausgeht. 1.1 In ihrem vorwiegend normativen Verständnis ist Rechtssicherheit ein Normprinzip, da sie einen Zustand festlegt, der durch die Wahl von Verhaltensweisen, die zur graduellen Förderung der Rechtssicherheit beitragende Wirkungen verursachen, anzustreben ist. Ihre Anwendung erfordert den Vergleich einer Norm (Rechtssicherheitsprinzip) mit einer anderen Norm (Gesetzesnorm, Verwaltungsnorm oder Gerichtsnorm). Ihr Merkmal ist die Zwischenstellung einer Norm zwischen der höherrangigen Norm und der faktischen Wirklichkeit: im Gegensatz zu einem materiellen Prinzip, das die Korrelation der Wirkungen eines Verhaltens und eines Sachverhalts, den zu verwirklichen es anordnet, fordert, fordert das Rechtssicherheitsprinzip die Korrelation der Wirkungen einer Norm und des Sachverhalts, dessen Verwirklichung es festlegt. 1.2 Das hier hervorgehobene vorherrschende normative Verständnis der Rechtssicherheit schließt nicht die Existenz anderer normativer Dimensionen aus, die

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Schlussfolgerungen und Thesen

Träger unterschiedlicher Wirksamkeitsfunktionen sind. In diesem Sinn kann die Rechtssicherheit, über ihren Status als Rechtsprinzip hinaus, sich als ein als Regel legislativ konkretisiertes Prinzip äußern, wie im Fall sowohl der Regel, welche die Rückwirkung steuerrechtlicher Normen verbietet, als auch der Regel, die das wohlerworbene Recht, die vollendete Rechtshandlung und die Rechtskraft schützt, als ein in der Regel gerichtlich konkretisiertes Prinzip wie z. B. die Einzelnormen, die nach Ablauf einer langen Zeitspanne durch gerichtliche Entscheidungen zum Schutz des legitimen Vertrauens oder der Unantastbarkeit von Einzelsituationen erlassen werden, als eine Metanorm zur Auslegung und Anwendung anderer Normen, wie im Fall der Regel, welche die Anwendung des Analogieprinzips im Bereich des Steuerrechts verbietet, und als ein sich aus der reflexiven Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips ergebendes subjektives Recht, wie die von der Judikative gewährleisteten Individualrechte aufgrund des sogenannten Vertrauensschutzprinzips. 2.1 Der Inhalt des Rechtssicherheitsprinzips kann nicht analysiert werden, es sei denn durch eine analytische Perspektive, die in der Lage ist, die Zweideutigkeit und Vagheit ihrer konstituierenden Elemente zu reduzieren und ihre verschiedenen Aspekte zu benennen: den materiellen Aspekt (Rechtssicherheit in welchem Sinn?), den objektiven Aspekt (Rechtssicherheit wessen?), den subjektiven Aspekt (Rechtssicherheit für wen, aus wessen Sicht und durch wen?), den zeitlichen Aspekt (Rechtssicherheit wann?), den quantitativen Aspekt (Rechtssicherheit in welchem Maß) und den Rechtsfertigungsaspekt (Rechtssicherheit wofür und warum?). Jeder dieser Aspekte bedarf intern einer Reihe von Fragen, deren Summe schließlich die möglichen Bedeutungen von Rechtssicherheit benennen wird. 2.2 Diese Untersuchungsperspektive ist im Steuerrecht unverzichtbar, sei es, um den Inhalt der Rechtssicherheit in diesem Normbereich zu bestimmen, sei es, um zu vermeiden, dass in ihrem Namen andere mit ihr nicht zusammenfallende Zwecke verfolgt werden, wie es im Fall der Beibehaltung der Einnahmen aus der Erhebung von Abgaben geschieht, wo die Rechtssicherheit bei der Verfassungsmäßigkeitskontrolle als Begründung für die Erhaltung der eingetretenen Wirkungen eines vom Obersten Bundesgerichtshof für verfassungswidrig erklärten Abgabengesetzes angeführt wird. 3.1 Unter den möglichen der Rechtssicherheit als Normprinzip zuschreibbaren Bedeutungen wird die Rechtsordnung bestimmen, welche der analytisch unterscheidbaren Auffassungen auszuwählen sind, um ihre strukturierenden Aspekte zu bilden, was sich aus der Prüfung ihres Überbaus (der Summe) und ihrer verfassungsrechtlichen Struktur (der Teile) ergibt. 3.2 Die Untersuchung der Rechtsordnung ist nicht nur unverzichtbar, um den Nachweis zu führen, dass die Rechtssicherheit keinen in allen Ländern identischen Inhalt hat, sondern auch, um zu zeigen, dass sie im Bereich des Steuerrechts eine gleichsam andere Dichte hat, die den Steuerzahler mehr schützt und die Achtung vor der Ausübung seiner Grundrechte gewährleistet, wie es die Verfassungs­normen

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hervorheben, die „Grenzen der Besteuerungsgewalt“ ziehen oder „Garantien zu Gunsten der Steuerzahler“ vorsehen. 4.1 Die Analyse des verfassungsrechtlichen Überbaus zeigt, dass die CF/88 nicht nur eine Verfassung ist, welche die Rechtssicherheit schützt, sondern auch eine Verfassung, welche die Rechtssicherheit selbst vertritt: da sie eher eine Verfassung mit Regelcharakter als eine Verfassung mit Prinzipiencharakter ist, besteht sie darauf, festzulegen, welches die kompetenten Behörden sind, welche Akte zu erlassen, welche Inhalte zu regeln, welche Verfahren zu befolgen und welche Materien zu behandeln sind. Mit diesen Vorschriften fördert sie die Ideale der Erkennbarkeit, der Verlässlichkeit und der Berechenbarkeit der Normen. Obgleich die Analyse des Überbaus des deutschen Grundgesetzes ihrerseits nicht eine so stark regelnde Natur wie die CF/88 erkennen lässt, zeigt sie, dass die Rechts­sicherheit dort sehr geschützt ist, nicht nur wegen des ausdrücklichen Schutzes des Rechtsstaats, sondern auch wegen der ausführlichen Festlegung verschiedener ihrer Elemente im ganzen Text der Verfassung. Die Tätigkeit aller staatlichen Gewalt wurde durch die Definition der Verfahren und zu behandelnden Materien geregelt, wie man beispielsweise an der Abgrenzung der Gesetzgebungsbefugnisse in den Art. 73 f. sehen kann. 4.2 Diese Ideale zeigen sich noch deutlicher und mit einer erhöhten Schutzfunktion im nationalen Abgabensystem, das die Summe der Normen umfasst, die bestimmen, welche Abgaben eingeführt werden können (Steuern, Gebühren, Meliorationsbeiträge, Zwangsanleihen, Sozialbeiträge, Beiträge zum Eingriff in die Wirtschaft und zur Beaufsichtigung von Berufen), wie sie zu erheben sind (durch Gesetz und Festlegung der wesentlichen Elemente der in der Verfassung vorgesehenen Steuern in Ergänzungsgesetzen), wann sie erhoben werden können (vom nächsten Geschäftsjahr an oder neunzig Tage nach dem Erlass des Einführungsgesetzes, immer bezogen auf Tatbestände nach dem Erlass) und in welchem Maße sie die Grundrechte der Steuerzahler einschränken können (nie diesseits noch jenseits des Notwendigen für ihre Wirksamkeit). Das Fehlen dieser spezifischen Regelung im Steuersystem des deutschen Grundgesetzes schließt den Schutzcharakter der Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit im Bereich des deutschen Steuerrechts in keiner Hinsicht aus: erstens, weil diese Regelung unmittelbar aus den im ganzen Verfassungstext aus- und nachdrücklich festgelegten Prinzipien und Regeln abgeleitet werden könnte (so z. B. aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Schutz der Grundrechte der Freiheit und des Eigentums); zweitens, weil das Grundgesetz selbst festgelegt hat, welche Steuern und Abgaben (nur die in Art. 106 genannten) erhoben werden dürfen, wann sie erhoben werden dürfen (nur ab dem Datum des Erlasses des Gesetzes, also mit Untersagung der Rückwirkung) und in welchem Maß sie die Grundrechte der Steuerzahler einschränken dürfen (in keinem Fall dürfen sie deren Wesensgehalt antasten, wie Art. 19 Abs. 2 statuiert). 5.1 Die Prüfung der verfassungsrechtlichen Struktur zeigt, dass die Rechtssicherheit ein unmissverständliches positives Prinzip der CF/88 ist, da diese sie

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unmittelbar schützt, indem sie „die Sicherheit gewährleistet“, als „Recht“ und als „Wert“, oder indem sie ihre reflexive Wirksamkeit vermittels des Schutzes des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung oder der Rechtskraft normiert, und mittelbar schützt, indem sie Verhaltensweisen statuiert, deren Wahl die Rechtssicherheit bildenden Ideale der Berechenbarkeit und Verlässlichkeit fördert, oder umfassende, eingeschränkte oder spezifische Ideale einführt, deren Verwirklichung die Existenz derselben Ideale voraussetzt oder impliziert. Die die Prüfung offenbart des weiteren, dass die CF/88 nicht nur die Rechtssicherheit gewährleistet, sondern auch sie in verschiedenen ihrer Dimensionen schützt, d. h. als Sicherheit des Rechts, durch das Recht, vor dem Recht, der Rechte und als ein Recht; sie zeigt, dass die CF/88 nicht nur die Rechtssicherheit in allen ihren Äußerungsformen schützt, sondern dies auch tut, indem sie ihr eine große Bedeutung in der Verfassungsordnung zuweist, nämlich durch die Weise, in der die Rechtssicherheit durch die Gesamtheit und Teile der Verfassungsordnung gewährleistet wird, durch den Nachdruck, mit dem die Bundesverfassung sie schützt, durch die Unabhängigkeit ihrer Fundamente und durch die wechselseitige Wirksamkeit derselben. Die Untersuchung zeigt schließlich, dass die CF/88 die Rechtssicherheit zugunsten des Bürgers und gegen den Staat schützt. Die Prüfung der Struktur des deutschen Grundgesetzes beweist gleichfalls, dass die Sicherheit ein eindeutiges positives Prinzip des Grundgesetzes ist, da dieses sie ausdrücklich sowohl als Recht als auch als Wert oder anlässlich der Regelung ihrer reflexiven Wirksamkeit vermittels der Forderung von Verhaltensweisen, deren Wahl die von ihr geforderten Ideale fördert, schützt. Auch hier erkennt man den Schutz aller Dimensionen der Rechtssicherheit: Sicherheit des Rechts, durch das Recht, vor dem Recht, der Rechte und als Recht. Außerdem offenbaren der Nachdruck und die Art und Weise des Schutzes der Rechtssicherheit im Grundgesetz auch die Bedeutsamkeit des Themas in der Verfassungsordnung. Wenn man berücksichtigt, dass das Rechtsstaatsprinzip als Teil der wesentlichen Grundsätze des Grundgesetzes gewählt worden ist – deren Änderung die Schaffung einer neuen Verfassungsordnung erfordert-und ebenso als eine der Garantien der Bürger, besteht kein Zweifel daran, dass das Grundgesetz auch die Rechtssicherheit zugunsten des Bürgers und gegen dem Staat schützt. 5.2 Die Prüfung der Struktur des nationalen Abgabensystems zeigt deutlich, dass steuerrechtliche Normen – Prinzipien und Regeln – nachdrücklich die Rechtssicherheit bildenden Ideale schützen: indem sie den Begriff der Abgabe definiert, die Abgabenarten, die Abgabenkompetenzregeln, die Grenzen der Besteuerungsgewalt, die Steuerrechtsquellen und einige Prinzipien einführt, wie die Prinzipien der Gleichbehandlung und steuerrechtlichen Transparenz, bestimmt die Verfassung, was besteuert und was nicht besteuert werden kann sowie die Art der Gestaltung der Besteuerung, wodurch sie das Ideal der Erkennbarkeit des Steuerrechts herausstellt, das durch Zugänglichkeit, Reichweite und Klarheit seiner Normen verwirklicht wird; indem sie die Rückwirkung von Angaben verbietet und das wohlerworbene Recht, die vollendete Rechtshandlung und die Rechtskraft gewährleistet,

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schreibt die Verfassung vor, wann die Besteuerung Wirkungen produzieren kann, und führt damit das Ideal der Verlässlichkeit des Steuerrechts durch die Beständigkeit der Rechtsordnung und die Unantastbarkeit bestimmter in ihr begründeter Situationen ein; indem sie die Regel der Vorzeitigkeit im Steuerrecht statuiert, das Gleichbehandlungsprinzip in steuerrechtlichen Materien und die in den steuerrechtlichen Verfahren und Klagen anwendbaren prozessrechtlichen Prinzipien, wie beispielsweise die Prinzipien des ordnungsgemäßen Verfahrens und der zumutbaren Dauer des Prozesses, erlaubt die Verfassung dem Steuerzahler, die Folgen, die seinen Akten und den Akten der Verwaltung zugeschrieben werden, vorwegzunehmen und zu ermessen, und fördert damit das Ideal der Berechenbarkeit des Steuerrechts durch Vorzeitigkeit und Kontinuität der Rechtsordnung. Selbst wenn das Steuersystem im deutschen Grundgesetz nicht in Einzelheiten geregelt ist, besteht kein Zweifel daran, dass die Statuierung des Rechtsstaats, der den Schutz der Freiheiten, der Gesetzmäßigkeit, der Gleichheit und des Eigentums gewährleistet, die Ideale schützt, die die Rechtssicherheit ausmachen. Zudem erlaubt die Festlegung einer Reihe von auf steuerrechtliche Verfahren anwendbaren prozessualen Prinzipien und Regeln (so etwa das Recht auf den vom Gesetz vorab bestimmten gesetzlichen Richter, das Petitionsrecht und die Rechtsweggarantie), dass auch hier der Steuerzahler die Rechtsfolgen, die jedem seiner Handlungenund den Verwaltungsakten zugewiesen werden, vorwegnehmen und ermessen kann, wodurch das Ideal der Berechenbarkeit des Steuerrechts gefördert wird. 6.1 Obwohl diese Schutzkonnotation der Rechtssicherheit nicht notwendig individualistisch ist, erfolg durch die Form und den Inhalt ihrer Fundamente: der Form, da die Fundamente die Individualrechte und -garantien, mit abwehrender Bedeutung, Verwaltungsprinzipien darstellen, mit willkürliche Ausübung der Gewalt einschränkender Bedeutung und strukturierende Prinzipien mit einer gleichfalls gewaltbeschränkenden und die Individualrechte schützenden Konnotation; dem Inhalt, da die Fundamente als Festlegung von Verhaltensweisen oder Idealen die Sicherheit zugunsten der Freiheitsrechte und Würde der steuerzahlenden Bürger implizieren oder voraussetzen. 6.2 Im Steuerrecht wird die genannte Schutzkonnotation der Rechtssicherheit gleichfalls durch die Form und den Inhalt der im nationalen Abgabensystem enthaltenen Normen verstärkt: durch die Form, da die Verfassungsnormen die Ausdrücke „Begrenzungen der Besteuerungsgewalt“ und „den Steuerzahlern gewährleistete Garantien“ mit einer Konnotation benutzen, die sichtbar Individualrechte der Steuerzahler gegenüber der Besteuerungsgewalt gewährleistet; durch den Inhalt, angesichts der schon genannten Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Normen, die steuerrechtliche Normen mittel- oder unmittelbar schützen. 7.1 Das Wort „Sicherheit“ in der CF/88 qualifiziert sich als Rechtssicherheit, da Art. 1 einen demokratischen Rechtsstaat statuiert, dessen Ziel die „Gewährleistung der Sicherheit als Wert“ ist, bezogen auf ein gesellschaftliches Ziel, das über die

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bloß psychische oder physische Dimension hinausgeht; da Art. 5, indem er das „Recht auf Sicherheit“ neben dem Recht auf Freiheit, Gleichheit und Eigentum-die als objektive gesellschaftliche Werte und nicht bloß als individuelle psychische Zustände ausgewiesen werden-gewährleistet, zum Schutz der Sicherheit parallel zur Garantie dieser anderen Werte führt; da unter den in den Abschnitten von Art. 5 katalogisierten Grundrechten mehrere Grundrechte enthalten sind, die sei es auf die körperliche und individuelle Sicherheit (Schutz der Wohnung und Garantie des Habeas Corpus gegen missbräuchliche Freiheitseinschränkungen), sei es auf die spezifischen Äußerungsformen der Freiheit (Gedankenfreiheit, Gewissensund Glaubensfreiheit, Freiheit des geistigen, künstlerischen, wissenschaftlichen Ausdrucks und der Kommunikation oder Versammlung zu gesetzlich erlaubten Zwecken) bezogen sind, was die weitere Breite der Festlegung im Obersatz des genannten Artikels voraussetzt. Diese Konstruktion hat im deutschen Grundgesetz keinen Platz, da hier der Terminus Sicherheit mit einer Konnotation von körperlicher Unversehrtheit benutzt wird, nämlich anlässlich der Regelung von Fragen der Sicherheit und öffentlichen Ordnung. Dies schließt aber nicht die unbeirrbare Überzeugung aus, dass Rechtssicherheit ein sich aus dem (in der Verfassung ausdrücklich statuierten) Rechtsstaat selbst ergebendes Verfassungsprinzip ist. 7.2 Im Bereich des Steuerrechts ist die Rechtsnatur der Sicherheit noch deutlicher konturiert, vor allem, weil im nationalen Abgabensystem die Verfassung Aspekte unterstreicht, die auf die Qualität des Rechts (durch die Kompetenz-, Gesetzmäßigkeits-, Vorzeitigkeits- und Rückwirkungsverbotsregel) und auf die Modi des Schutzes der Rechte (durch die „den Steuerzahlern gewährleisteten“ Garantien und durch die auf steuerrechtliche Materien anwendbaren prozessrechtlichen Prinzipien, wie die Prinzipien des ordnungsgemäßen Verfahrens und der zumutbaren Dauer des Prozesses, unbeschadet anderer spezieller Garantien wie der des Sicherungsmandats) bezogen sind. 8.1 Der materiale Aspekt der Rechtssicherheit, bezogen auf den Terminus „Sicherheit“, bezeichnet einen Zustand der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit: der Erkennbarkeit, statt Bestimmung, infolge der natürlichen Unbestimmtheit der Sprache und der Abhängigkeit des Rechts von Kriterien und Argumenten, die für den zur Bestimmung und Konkretisierung notwendigen Prozess unverzichtbar sind; der Verlässlichkeit, statt Unveränderlichkeit, da die CF/88 neben der Festlegung von Ewigkeitsklauseln, die Änderungen erschweren, aber voraussetzen, auch das Prinzip des Sozialen Rechtsstaats statuiert, das vom Staat die Wahrnehmung seiner die Gesellschaft planenden und induzierenden Funktion einfordert, indem der Staat gesellschaftliche Veränderungen auf den Weg bringt, vor allem durch die Umverteilung des Reichtums; der Berechenbarkeit statt der (absoluten) Vorhersehbarkeit, da, obwohl die CF/88 eine Reihe von Regeln enthält, deren Ziel die Ermöglichung einer Vorwegnahme staatlichen Handelns ist, die Natur des Rechts, das in einer unbestimmten Sprache formuliert ist und von Argumentationsprozessen zur Rekonstruktion von Bedeutungen abhängt, die Entstehung der semantischen Eindeutigkeit seiner Aussagen verhindert. Das deutsche

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Grundgesetz enthält seinerseits Klauseln, die nicht geändert werden können, es sei denn durch Erlass einer neuen Verfassung, wie das Prinzip des sozialen und demokratischen Rechtsstaats (Art. 20). 8.2 Diese Idealzustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Normen sind auch im Bereich des Steuerrechts sichtbar: Erkennbarkeit statt Bestimmtheit, aus denselben mit der Sprache zusammenhängenden Gründe, aber auch aus Gründen, die mit der Wirklichkeit selbst, welche die Abgabenarten zu regeln bezwecken, zusammenhängen, wobei einige dieser Abgaben, wie die Beiträge zum Eingriff in die Wirtschaft oder selbst bestimmte Gebühren wegen der Wirklichkeit, die sie regeln sollen, nicht imstande sind, denselben Grad an Bestimmtheit in ihrer Konkretisierung zu erreichen, wie es bei anderen traditionellen Abgabenarten wie den Steuern üblich ist; Verlässlichkeit statt Unveränderlichkeit, da das nationale Abgabensystem, als es das Rückwirkungsverbot vorsah und das Abgabensystem anderen Garantien öffnete, unter denen sich diejenigen befinden, welche das wohlerworbene Recht, die vollendete Rechtshandlung und die Rechtskraft schützen, die Möglichkeit einer Änderung der Rechtsordnung voraussetzt, sofern bestimmte Grenzen und bestimmte Übergangsregeln beachtet werden; Berechenbarkeit statt (absoluter) Vorhersehbarkeit, da das genannte nationale Abgabensystem, eben weil es Änderung begrenzt, voraussetzt, dass sie durchgeführt wird, unter der Bedingung, dass der Steuerzahler weder überrascht noch getäuscht wird. 9.1 Die Angabe dieser Idealzustände zeigt, anders als bei den Idealen der Bestimmtheit, der Unveränderlichkeit und der Vorhersehbarkeit, dass das Verständnis der Rechtssicherheit einer Rechtsauffassung folgt, die zwischen objektivistischen und argumentativen Konzeptionen liegt: das Recht ist weder ein vorgängig gegebener Gegenstand, dessen Inhalt ausschließlich von erkennenden Tätigkeiten abhängt, die im Voraus bestimmte Bedeutungen aufdecken, noch eine Tätigkeit, deren Durchführung allein von Argumentationsstrukturen abhängt, die nur im späteren Entscheidungsprozess aufzudecken sind, sondern eine Kombination semantischer und argumentativer Tätigkeiten – die Tätigkeit des Rechtsanwenders geht von Rekonstruktionen normativer Bedeutungen durch Argumentationsregeln aus, aber ihre Anwendung hängt von hermeneutischen und anwendungsbezogenen Postulaten ab, die normative und faktische Elemente aufdecken, so dass Rechtssicherheit nicht mehr eine bloße Forderung nach Vorausbestimmung ist und sich zu einer Pflicht zur rationalen und argumentativen Kontrollierbarkeit entwickelt. 9.2 Diese Auffassung ist sehr wichtig im Steuerrecht, vor allem, um zu zeigen, dass Rechtssicherheit in diesem Normbereich nicht mit der Forderung nach Bestimmung derjenigen Normtatbestände gleichgesetzt (und auch nicht durch sie erschöpft) werden kann, die in der Wissenschaft dem sogenannten Prinzip der geschlossenen Tatbestandsmäßigkeit gleichgestellt werden, sondern stattdessen andere Elemente enthalten muss, die nicht nur mit der Klarheit und Verständlichkeit steuerrechtlicher Normen zusammenhängen, sondern ebenso mit ihrer einheitlichen und nichtwillkürlichen Anwendung in steuerrechtlichen Verfahren

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und Klagen. Diese neue und umfassendere Wahrnehmung der Rechtssicherheit im Bereich des Steuerrechts eliminiert nicht die Bedeutung der auf die Normbestimmung bezogenen Aspekte (Inhaltssicherheit); sie trägt jedoch dazu bei, diesen Aspekten andere hinzuzufügen, die gleichermaßen für die ganzheitliche Sicht der Rechtssicherheit im Steuerrecht wichtig sind, wie im Fall der die Existenz, Geltung und Wirksamkeit der steuerrechtlichen Normen betreffenden Aspekte (Existenz-, Geltungs- und Wirksamkeitssicherheit), der die Änderung der steuerrechtlichen Normen in der Zeit betreffenden Aspekte (Übergangssicherheit), der die Anwendung steuerrechtlicher Normen durch Verwaltungsverfahren oder Verwaltungs- oder Gerichtsprozesse betreffenden Aspekte (Verwirklichungssicherheit), der die Kontinuität des steuerrechtlichen Systems betreffenden Aspekte (rhythmische Sicherheit) und des auf die Dauer der Beilegung von Streitfällen in steuerrechtlichen Materien selbst betreffenden Aspekts (Definitionssicherheit). Nur die ausgewogene Kombination all dieser Phasen erlaubt die volle Wirksamkeit der steuerrechtlichen Sicherheit. 10.1 Hinsichtlich des auf das Wort „Recht“ bezogenen materialen Aspekts benennt die CF/88 die Möglichkeit mehrerer Bedeutungen, je nach der gewählten Perspektive: Sicherheit des Rechts, da sie bei der Statuierung der Regeln der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots Bedingungen festgelegt hat, um das Recht selbst vermittels der Klarheit seiner Sätze und der Vorwegnahme seiner Normen sicher zu gestalten, und da sie bei der Statuierung der Prinzipien der Sittlichkeit und der Öffentlichkeit die Begründung und Veröffent­ lichung als Gültigkeitsvoraussetzungen der Rechtsnormen festgelegt hat; Sicherheit durch das Recht, da die Verfassung anlässlich der Statuierung eines demokratischen Rechtsstaats in Art. 1, dessen Ziel die „Gewährleistung der Sicherheit als eines Wertes“ ist, auch statuiert, dass das Recht als Gewährleistungsinstrument der Sicherheit dienen muss; Sicherheit vor dem Recht, da das staatliche Handeln, das nur durch die Ausübung von in den Kompetenzregeln festgelegten Befugnissen und aufgrund der vom Recht vorgesehenen Quellen und Verfahren erfolgen darf, nicht Rechte beeinträchtigen darf, welche die Privatperson rechtmäßig erworben hat oder die ihr rechtmäßig gewährleistet worden sind; Sicherheit von Rechten, da die Maßnahmen nach Art. 5 XXXVI zum Schutz des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft die reflexive Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips darstellen, die an einem bestimmten Subjekt und an einem bestimmten konkreten Fall orientiert ist und die Ausübung bestimmter Rechte gewährleistet; Sicherheit als ein Recht, da die reflexive Wirksamkeit des objektiven Rechtssicherheitsprinzips für ein bestimmtes Subjekt das Recht auf ein bestimmtes staatliches Verhalten entstehen lässt, ohne welches die Zustände der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit sich nicht einmal minimal konkretisieren; Sicherheit im Recht angesichts des Umstands, dass die Rechtssicherheit, so wie sie in dieser Monographie, ihren Kern nicht in der Forderung nach Kenntnis von vollständig und vorgängig bestimmten Inhalten hat, sondern in der Kontrollierbarkeit der in der Rekonstruktion und Anwendung faktisch-normativer

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Bedeutungen geforderten Argumentationsstrukturen. Wie wir gesehen haben, sind alle diese Dimensionen auch im deutschen Grundgesetz anzutreffen. Selbst wenn nicht alle Regeln in der Verfassung ausdrücklich genannt sind, können sie alle aus den in ihr ausgedrückten Garantien abgeleitet werden. 10.2 Diese verschiedenen Bedeutungen reproduzieren sich auch im Bereich des Steuerrechts, da es Normen gibt, welche die Sicherheit des Rechts fördern, zumal sie die Qualität betreffen, die steuerrechtliche Normen haben müssen, oder da sie die Wirkungen betreffen, die sie verursachen können (Regeln der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots); Normen, welche die Sicherheit durch das Recht unterstreichen, da sie den Steuerzahlern Rechte gewährleisten (Regeln zum Schutz des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft, oder Regeln, die steuerrechtliche Gleichbehandlung fest­legen, einschließlich des Kriteriums wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit), oder da sie Verfahren oder Prozesse gewährleisten, deren Ziel der Schutz der Steuerzahlerrechte ist (Regeln, welche die Garantien der umfassenden Verteidigung und des rechtlichen Gehörs, des Gebrauchs des Sicherungsmandats und des Habeas Data schützen sollen); steuerrechtliche Normen, welche die Sicherheit vor dem Recht zum Ziel haben, da sie Kompetenzen, Behörden, Verfahren oder Quellen festlegen, die für die Ausübung der Besteuerungsgewalt notwendig sind (Regeln der Kompetenz, der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots, Regel, welche die Erhebung einer Abgabe mit Konfiskationswirkung verbietet); steuerrechtliche Normen, die eine Sicherheit von Rechten statuieren, da sie „Garantien“ genannt werden, so z. B. die Garantien des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft, aber auch, da sie allgemeine Kriterien für die Gestaltung der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit einführen (Prinzipien der Gleichbehandlung und der Leistungsfähigkeit, Regel der Achtung der Grundrechte und Garantien der Steuerzahler); steuerrechtliche Normen, welche die Sicherheit als ein Recht bestimmen, insofern sie seine Orientierung zum Schutz des Steuerzahlers gegen die Ausübung der Besteuerungsgewalt des Staates bescheinigen (Grenzen der Besteuerungsgewalt und individuelle Grundrechte). Ebenso beweisen diese Auffassungen, wenn sie in einer einheitlichen Perspektive gebündelt werden, die ihrerseits in einer semantisch-argumentativen Konzeption des Rechts begründet ist, dass die Rechtssicherheit im Steuerrecht nicht nur im vorgängigen und abstrakten Norminhalt zu suchen ist, sondern im Verwirklichungsprozess des Steuerrechts selbst. Wenn man von den in dieser Arbeit vertretenen Thesen ausgeht, muss man notwendig anerkennen, dass diese verschiedenen Bedeutungen sich auch im Bereich des deutschen Steuersystems wiederfinden. 11.1 Unter dem objektiven Aspektder Rechtssicherheit zeigt die Rechtssicherheit die Sicherheit der Rechtsordnung, da mehrere Prinzipien, wie im Fall des Rechtsstaats oder des Sozialen Rechtsstaats, sich auf die Gesamtheit der Rechtsordnung und nicht auf eine ihrer besonderen Erscheinungsformen beziehen; sie zeigt ebenso die Sicherheit einer Norm, die sowohl allgemein ist, da mehrere Regeln Geltungsbedingungen für die Normschöpfung durchsetzen wie im Fall der

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steuerrechtlichen Regel des Rückwirkungsverbots, als auch individuell, da mehrere Regeln individuelle Situationen schützen, die durch ein Gerichtsurteil oder einen Verwaltungsakt gewährleistet sind wie im Fall der Regel, welche die vollendete Rechtshandlung, die Rechtskraft und das wohlerworbene Recht schützt; sie zeigt die Sicherheit eines Verhaltens, vornehmlich des Staats, angesichts der Tatsache, dass die CF/88 neben der Einführung der Prinzipien der Öffentlichkeit und Sittlicheit noch eine Reihe von prozeduralen und materialen Regeln enthält, welche die Kenntnis und Begründung staatlicher Tätigkeit fördern. Obwohl die Öffentlichkeit im deutschen Grundgesetz nicht als Grundrecht formuliert ist, ist sie in Art. 82 festgelegt (Forderung nach Verkündung von Gesetzen und Verordnungen im Bundesgesetzblatt). Jedenfalls sind sowohl sie als auch die Sittlichkeit nicht nur vom Begriff des Sozialen und demokratischen Rechtsstaats (Art. 20 und 28), sondern auch aus der Forderung ableitbar, dass die staatlichen Gewalten die in Kap. I (Art. 1 Abs. 3) genannten Grundrechte achten, darüberhinaus auch aus der Gewährleistung der Prinzipien des Schutzes der Menschenwürde, der Freiheit, der Gesetzmäßigkeit und der Gleichheit (Art. 1, 2 und 3). Außerdem statuiert das Grundgesetz auch eine Reihe von prozeduralen und materialen Regeln, welche die Kenntnis der staatlichen Tätigkeit fördern. 11.2 Diese Weite Zeigt sich auch im Bereich des Steuerrechts da es Normen gibt, welche die Sicherheit der Rechtsordnung und ihrer Anwendung schützen, wie etwa im Fall der Regeln der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots, und der auf steuerrechtliche Verfahren und Prozesse bezogenen Regeln und Prinzipien; sodann Normen, welche die Sicherheit einer allgemeinen Norm schützen, wie im Fall der auf die Rechtsquellen des Steuerrechts bezogenen Regeln, insbesondere des Vorbehalts des Ergänzungsgesetzes für die Einführung allgemeiner Normen; Normen, welche die Sicherheit einer individuellen Norm schützen, wie beispielsweise die Garantien der Rechtskraft und des wohlerworbenen Rechts; und Normen, welche die Sicherheit eines staatlichen Verhaltens schützen, angesichts der das staatliche Handeln regelnden Prinzipien, wie in den Fällen der Prinzipien der Sittlichkeit, der Neutralität und der staatlichen Transparenz, auch in fiskalischen Angelegenheiten. 12.1 Hinsichtlich des auf das Subjekt bzw. die Subjekte der Gewährleistung bezogenen subjektiven Aspekts müssen die Legislative, die Exekutive und die Judikative Sicherheit gewährleisten: die Legislative, da die CF/88 Regeln über die Einführung von Normen enthält, wie im Fall der Regeln der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots, die der Legislative die Pflicht auferlegen, Verpflichtungen durch Gesetze im formellen Sinn zu schaffen, Tatsachen vorauszusehen, die nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne erfolgen sollen, und Situationen zu erfassen, die erst nach dem Erlass der Gesetze eingetreten sind; die Exekutive, da die CF/88 auf die einheitliche Anwendung der Gesetzgebung bezogene Normen statuiert, wie im Fall des Gleichheitsprinzips, sowie Normen, die auf die Befolgung der von der Legislative gesetzten Regeln bezogen sind, wie z. B. die Regel der Gesetzmäßigkeit; die Judikative, da die CF/88 neben

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der Forderung nach Einführung von einheitlich anzuwendenden Regeln auch eine Reihe von Regeln für die Begründung und Öffentlichkeit der richterlichen Tätigkeit enthält. Nach dem deutschen Grundgesetz müssen die Legislative, Exekutive und Judikative ebenfalls Rechtssicherheit gewährleisten, da auch hier Normsetzungsregeln bestehen (Legislative), Regeln über die einheitliche Anwendung der Gesetzgebung und Einhaltung der von der Legislative gesetzten Normen (Exekutive) und an die Forderung der Begründung und Öffentlichkeit der Entscheidungen (Judikative). 12.2 Diese Breite des subjektiven Aspekts der Rechtssicherheit zeigt sich gleichfalls im Bereich des Steuerrechts, da die Rechtssicherheit auch hier von den drei Gewalten zu gewährleisten ist: von der Legislative, da das nationale Abgaben­ system Kompetenzregeln enthält, die für es festgelegt sind, und Prinzipien, die formal und material die Ausübung der Besteuerungsgewalt begrenzen, sowie es die Regeln der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots festlegt, die der Legislative die Pflicht auferlegen, Abgabenverpflichtungen auf eine bestimmte Weise und mit einer bestimmten Wirksamkeit zu schaffen; von der Exekutive, da das nationale Abgabensystem sowohl Normen des staatlichen Handelns, insbesondere die an die Verwaltung gerichteten Prinzipien, als auch Normen enthält, die mittelbar die Verwaltungstätigkeit an die gesetzlichen Bestimmungen binden, woraus sich die ausführende Wirksamkeit der Regelungen und die materiale Begrenzung zur Einführung von Nebenverpflichtungen ableiten; von der Judikative, in Anbetracht der Tatsache, dass das nationale Abgabensystem prozessrechtliche Prinzipien statuiert, die gleichermaßen auf das Verwaltungs- und Gerichtsverfahren anwendbar sind, sowie Garantien festlegt, die präventiv oder repressiv zur Verteidigung der Steuerzahler verwendet werden können, wie im Fall des Sicherungsmandats in steuerrechtlichen Materien. 13.1 Hinsichtlich des auf den Begünstigten bezogenen subjektiven Aspekts verfolgt die Rechtssicherheit den Zweck, den Steuerzahler zu schützen, da das Ziel der Verfassungsnormen einerseits die Vorwegnahme staatlichen Handelns ist, wie die Prinzipien der Sittlichkeit und Öffentlichkeit zeigen, und andererseits die Ermöglichung der Kenntnis der Rechtsfolgen, die den Handlungen des Steuerzahlers zugewiesen werden können, wie die Gesamtheit der Kompetenzregeln und der Regeln der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots im Steuerrecht veranschaulichen. 13.2 Der Zweck des Schutzes des Steuerzahlers wird auch durch die Berücksichtigung der Struktur des nationalen Abgabensystems hervorgehoben, das sich vornehmlich aus Kompetenzregeln und dem Steuerzahler zugesicherten Garantien innerhalb und außerhalb des steuerrechtlichen Subsystems zusammensetzt, wobei viele dieser Kompetenzregeln und Garantien als „Grenzen der Besteuerungsgewalt“ bestimmt sind. Selbst wenn die gleichen Kompetenzregeln und eine längere Aufzählung der dem Steuerzahler gewährten Garantien im deutschen Grundgesetz fehlen, lässt Kap. 1 keinen Zweifel an der Absicht des Schutzes des Steuerzahlers gegen staatliches Handeln.

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14.1 Hinsichtlich des auf das den Parameter zur Messung der Sicherheit abgebende Subjekt bezogenen subjektiven Aspekts, muss es Rechtssicherheit aus der Sicht des Normalbürgers geben, da das Rechtsstaatsprinzip Kenntnis der Normen bei allen Bürgern voraussetzt, auch um deren demokratischer Teilhabe zu sichern, und die Prinzipien der Sittlichkeit und Öffentlichkeit keinen spezifischen Adressatentypus im Auge haben, sondern sich eher an alle Bürger wenden. 14.2 Deutlich erkennbar ist diese Hervorhebung der Sicht des Steuerzahlers auch im Bereich des Steuerrechts. Einerseits gibt es Normen, die eine Überraschung der Steuerzahler verbieten (Regeln der Vorzeitigkeit der Abgaben vor Beginn des Geschäftsjahrs und des Ablaufs von neunzig Tagen), desgleichen die Täuschung der Steuerzahler (Regel des Verbots der Rückwirkung von Abgaben), ihre ungleiche Behandlung (Regel der Gleichbehandlung in steuerrechtlichen Angelegenheiten), ihre übermäßige Belastung (Verbot einer Abgabe mit Konfiskationswirkung) oder willkürliche Begünstigung (Regel der spezifischen Gesetzmäßigkeit für die Gewährung von Steuervergünstigungen). Andererseits gibt es Normen, welche die Achtung vor den Individualrechten der Steuerzahler festlegen (Prinzip der Leistungsfähigkeit mit dem ausdrücklichen Vorbehalt der Achtung der Individualrechte), Garantien (Regel der Öffnung des steuerrechtlichen Subsystems zu anderen „dem Steuerzahler zugesicherten“ Garantien) oder Informationsrechte (Prinzip der fiskalischen Transparenz und Garantie des Habeas Data). All diese Normen führen eine Art von „Bürgerperspektive“ in die Besteuerung ein. 15.1 Hinsichtlich des subjektiven Aspekts, der auf die von der Rechtssicherheit angestrebte subjektive Ausdehnung bezogen ist, um festzustellen, ob es Rechts­ sicherheit für den Einzelnen oder eines seiner Rechte gibt oder Rechtssicherheit für die Gesellschaft, oder Rechtssicherheit der Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit, ist der Kontext zu prüfen: die Rechtssicherheit kann sowohl als objektives Prinzip der Rechtsordnung angesehen werden, als auch eine reflexive Anwendung auf ein spezifisches Subjekt erfahren. 15.2 Diese Ambivalenz der Rechtssicherheit lässt sich auch in steuerrechtlichen Materien feststellen: Rechtssicherheit kann sowohl als objektives Rechtsordnungsprinzip untersucht werden, wie die verschiedenen Geltungs- und Wirksamkeitserfordernisse steuerrechtlicher Normen im Allgemeinen beweisen (Regeln der Gesetzmäßigkeit, der Vorzeitigkeit und des Rückwirkungsverbots bei Abgaben und Regel des Vorbehalts des Ergänzungsgesetzes zum Erlass allgemeiner Normen), als auch in ihrer ein Recht des Steuerzahlers gewährleistenden Wirksamkeit untersucht werden, wie die Regeln zeigen, die schon auf abstrakter Ebene individuelle Aspekte der reflexiven Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips schützen (Regeln zum Schutz des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft). 16.1 Hinsichtlich des zeitlichen Aspekts ist Rechtssicherheit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft anzustreben: der Gegenwart, da die CF/88 Regeln für die Rechtsschöpfung statuiert, so dass der Bürger die von ihm bei der gegen-

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wärtigen Ausübung seiner Tätigkeiten zu befolgenden Normen kennen kann; der Vergangenheit, weil die CF/88 Normen statuiert, die vom Recht schon in der Vergangenheit geschützte Situationen schützen, wie die Garantien des wohlerworbenen Rechts, der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft; der Zukunft, da die CF/88 Normen über die bindende Natur des Rechts statuiert, damit der Bürger heute den Bindungsgrad der morgigen Normen kennen kann. Diese Regeln sind auch (ausdrücklich oder abgeleitet) im deutschen Grundgesetz feststellbar und zeigen, dass auch hier die Rechtssicherheit in allen zeitlichen Aspekten geschützt wird. 16.2 Die Prüfung des zeitlichen Aspekts der Rechtssicherheit weist auch im Bereich des Steuerrechts auf die Bedeutung einer vollständigen und ausgewogenen Untersuchung der drei Zeiten hin: der Gegenwart, da das nationale Abgaben­system vermittels der steuerrechtlichen Kompetenzregeln und der Immunitätsregeln die besteuerungswürdigen Tatbestände festlegt und auch vermittels der Regeln der Gesetzmäßigkeit und des Vorbehalts eines Ergänzungsgesetztes die für seine Erhebung zu wählenden Verfahren festlegt und damit eine Art Orientierungs­sicherheit für den Steuerzahler einführt; der Vergangenheit, da es Normen enthält, die festlegen, wann steuerrechtliche Normen Wirkungen hervorrufen können und damit gewährleistet, dass diese Normen nur Tatbestände erfassen, die nach ihrem Erlass eintreten, also das Verbot der Rückwirkung von Abgaben; der Zukunft, da es Normen statuiert, welche die Überraschung des Steuerzahlers ausschließen, wie im Fall der Regel der Vorzeitigkeit und der staatliches Handeln lenkenden Normen, die nicht ihre Grenzen überschreiten dürfen, wie im Fall der die Verwaltung betreffenden Prinzipien, wobei die Finanzverwaltung eine Art der allgemeinen Verwaltung ist. Obwohl die spezifische Regelung im Grundgesetz nicht vorgesehen ist, kann der Schutz der Rechtssicherheit in allen zeitlichen Aspekten auch im deutschen Steuerrecht nicht bestritten werden. 17.1 Hinsichtlich des quantitativen Aspekts der Rechtssicherheit ist vollständige Sicherheit in dem Sinn zu gewährleisten, dass die Rechtssicherheit mehr zu fördern als einzuschränken ist. Da sie nicht nur ein einheitliches Ideal beinhaltet, sondern auch einen vielgestaltigen Komplex von Idealen, können auf mehrere ihrer Aspekte bezogene interne Neugestaltungen entstehen: indem die Stabilität des Rechts vermittels des Schutzes der legitimen Erwartung einer Person gewährleistet wird, können sowohl die Verständlichkeit des Rechts für die übrigen Bürger, die im Hinblick auf das von der Rechtsordnung Erlaubte oder Verbotene unsicher sind, als auch die Bindungskraft des Rechts beeinträchtigt werden, da ein formales Prinzip seine Effektivität punktuell verlieren wird; 17.2 Im Bereich des Steuerrechts, die vollständige Analyse der Rechtssicherheit ist unverzichtbar, indem einige Normen ohne die festgelegenen vorgesehenen Formvorschriften erlassen worden sind, intensive und extensive Wirkungen auf der Ebene der Grundrechte der Steuerzahler und auf der Ebene des staatlichen Handelns selbst zur Folge haben können, wie im Fall der Gewährung belastender

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und während eines langen Zeitraums genossener bundesstaatlicher Steuervergünstigungen ohne die obligatorische gesetzliche Bestimmung und eines Abkommens zwischen den Bundesstaaten. 18.1 Hinsichtlich des Rechtfertigungsaspekts der Rechtssicherheit ist diese als Instrument zur Erreichung anderer Zwecke zu verstehen: einerseits der Grundrechte der Freiheit und des Eigentums, da ohne Stabilität und Berechenbarkeit staatlichen Handelns der Einzelne nicht sein Recht auf freie Selbstbestimmung eines würdigen Lebens ausüben kann; andererseits der Staatszwecke, da die Planung und Ausübung staatlichen Handelns mittel- und langfristig eine Beständigkeit der gültigen Regeln voraussetzt. 18.2 Diese instrumentelle Natur ist im Bereich des Steuerrechts noch sichtbarer, da im nationalen Abgabensystem die auf die Rechtssicherheit bezogenen und als „Garantien“ und „Begrenzungen der Besteuerungsgewalt“ eingeführten Prinzipien und Regeln eine Schutzfunktion zugunsten des Steuerzahlers und nicht des Staates übernehmen. Indem der Steuerzahler seine Grundrechte der Freiheit und des Eigentums ausübt, handelt er oft aufgrund der Motivation, Orientierung oder gar Lenkung durch steuerrechtliche Normen, mit deren Geltung er gerechnet hat, weshalb diese lenkende Natur der steuerrechtlichen Normen bei der Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeiten nicht einfach verneint werden kann. 19.1 Rechtssicherheit lässt sich bestimmen als Normprinzip, das von der Legislative, Exekutive und Judikative die Wahl von Verhaltensweisen fordert, die zugunsten der Bürger und aus ihrer Sicht mehr zur Existenz eines Zustands der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts aufgrund seiner Erkennbarkeit vermittels der rechtlich-rationalen Kontrollierbarkeit der allgemeine und Einznormen rekonstruierenden Argumentationsstrukturen beitragen-also als Instrument, das die Achtung der Fähigkeit der Bürger gewährleistet, ohne Täuschung, Enttäuschung, Überraschung und Willkür ihre Gegenwart in Würde und Verantwortung zu gestalten und ihre Zukunft strategisch und rechtsorientiert zu planen. 19.2 Der steuerrechtliche Rechtssicherheitsbegriff (oder Begriff der Rechtssicherheit im Steuerrecht) unterscheidet sich nicht vom allgemeinen Rechtssicherheitsbegriff. Er unterstreicht nur die eminent schützende Natur der Sicherheit in diesem Normbereich, weil steuerrechtliche Normen existieren, die eine abwehrende Sichtweise der Grundrechte der Steuerzahler einführen, aber im Gleichklang mit dem moderaten Vorgehen des Staats in Ausübung seiner Besteuerungsgewalt. 20.1 Dieser Begriff zeigt, dass das Rechtssicherheitsprinzip zwei Dimensionen hat: eine statische und eine dynamische. Die statische Dimension bezieht sich auf das Rechtskenntnisproblem, d. h. auf die Kommunikationsfrage im Recht, und zeigt, welches die Eigenschaften sind, über die das Recht verfügen muss, damit es für „sicher“ gehalten werden und damit ein „Orientierungsinstrument“ des Bürgers im Allgemeinen und des Steuerzahlers im Besonderen sein kann. Die dynamische

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Dimension hingegen bezieht sich auf das Problem der Handlung in der Zeit und schreibt vor, welche Ideale zu gewährleisten sind, damit das Recht dem Bürger Rechte „zusichern“ und ihm damit als Schutzinstrument dienen kann. 20.2 Im Bereich des Steuerrechts äußern sich diese beiden Dimensionen ebenfalls. Es gibt Normen, die sich auf die statische Dimension der Rechtssicherheit beziehen, wie diejenigen, die Bestimmungen über den Inhalt (Gesetzmäßigkeitsregel) enthalten, oder über die Reichweite steuerrechtlicher Normen (Regel des Vorbehalts eines Ergänzungsgesetzes für den Erlass allgemeiner Normen), oder auf die dynamische Dimension, wie beispielsweise die bestimmten Situationen Stabilität gewährleistenden Normen (Regeln zum Schutz der vollendeten Rechtshandlung und der Rechtskraft und Regel des Rückwirkungsverbots bei Abgaben), oder die Vorzeitigkeit und Kontinuität der Rechtsordnung schützenden Normen (Regel der Vorzeitigkeit im Steuerrecht und Prinzip der Gleichbehandlung in steuerrechtlichen Materien). 21.1 Erkennbarkeit bezeichnet einen Zustand, in dem die Bürger in hohem Maß die Fähigkeit zum materialen und geistigen Verständnis der Argumentationsstrukturen besitzen, die materiale und prozedurale, minimal wirksame abstrakt-generelle Normen rekonstruieren, vermittels der Zugänglichkeit, Reichweite, Klarheit, Bestimmbarkeit und Vollstreckbarkeit der Normen. 21.2 Im Bereich des Steuerrechts gibt es verschiedene Normen, die sich auf die Kenntnis der steuerrechtlichen Normen seitens der Steuerzahler beziehen, um ihnen die sogenannte „Orientierungssicherheit“ vermittels des Zugangs, der Reichweite, der Klarheit und Bestimmtheit zu gewährleisten: es gibt steuerrechtliche Normen, die mittel- oder unmittelbar die Vorschriften von Abgaben regeln (Regeln zur Bestimmung der Abgabenarten, steuerrechtliche Kompetenzregeln, Besteuerungskriterien festlegende Prinzipien und Normen, welche die Quellen des Steuerrechts bestimmen), die Entstehung der Abgabenpflicht (Gesetzmäßigkeitsregel und Regel des Vorbehalts eines Ergänzungsgesetzes für bestimmte Materien), die Auslegung der Abgabengesetze (Gesetzmäßigkeitsregel, die mittelbar den Rekurs auf die Analogie zur Schaffung neuer Abgabenverpflichtungen verbietet), die Entstehung der Steuerforderung (Gesetzmäßigkeitsregel, die mittelbar die Bestimmung der Forderung nur aufgrund der gesetzlichen Bestimmung verlangt) und ihr Erlöschen (Regel des Vorbehalts eines Ergänzungsgesetzes zur Einführung allgemeiner steuerrechtlicher Normen, besonders über Verjährung und Verwirkung von Abgabenforderungen). 22.1 Verlässlichkeit bezeichnet den Idealzustand, in dem der Bürger wissen kann, welche Änderungen vorgenommen bzw. nicht vorgenommen werden können, und somit vermeidet, dass er in seinen Rechten enttäuscht wird. Sie liegt nur vor, wenn der Bürger heute wissen kann, dass die ihm gestern vom Recht zugesichterten Wirkungen auch heute gewährleistet werden, was von der Existenz eines Zustands der Unantastbarkeit vergangener Situationen, der Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung und dem Rückwirkungsverbot der gegenwärtigen Normen abhängt.

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22.2 Im Bereich des Steuerrechts gibt es zahlreiche Normen, die sich auf die Glaubwürdigkeit steuerrechtlicher Normen beziehen und den Steuerzahlern die sogenannte „Sicherheit beim Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart“ durch Stabilität und Wirksamkeit der Normen gewährleisten sollen: es gibt steuerrechtliche Normen, die mittel- oder unmittelbar die Auslegung und Anwendung der Steuergesetze regeln (Regel des Rückwirkungsverbots von Abgaben, welche die Änderung rechtlicher Kriterien bei der Anwendung der Gesetze verbietet), die Entstehung der Steuerforderung (Regel des Rückwirkungsverbots, die mittelbar die Anwendung des geltenden Gesetzes im Augenblick des Eintritts des Steuertatbestands bestimmt und die Anwendung neuer Kriterien auf vor seinem Erlass eingetretene Tatbestände ausschließt, Regel des Vorbehalts eines Ergänzungsgesetzes, um allgemeine steuerrechtliche Normen einzuführen einschließlich solcher über Steuerpflicht und Steuerveranlagung). 23.1 Berechenbarkeit bezeichnet den Idealzustand, in dem der Bürger wissen kann, wie und wann die Änderungen vorgenommen werden können. Sie verhindert somit die Überraschung des Bürgers. Sie liegt nur dann vor, wenn der Bürger heute die Wirkungen kontrollieren kann, die ihm vom Recht morgen zugewiesen werden, was wiederum nur dann der Fall ist, wenn er in hohem Maß die Fähigkeit hat, annähernd das reduzierte und wenig variable Spektrum derjenigen Kriterien und Argumentationsstrukturen vorwegzunehmen und zu ermessen, die heteronom und zwangsweise oder autonom und aus freien Stücken die eigenen und fremden Rechtshandlungen oder Tatsachen, die eingetreten sind oder eintreten können und strittig oder unstrittig sind, zuschreibbaren Rechtsfolgen und das zumutbare Zeitspektrum der Anwendung der endgültigen Rechtsfolge definieren. 23.2 Im Bereich des Steuerrechts gibt es mehrere Normen, die auf die Kontinuität steuerrechtlicher Normen bezogen sind und deren Ziel darin besteht, dem Steuerzahler die „Sicherheit im Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft“ vermittels der Vorzeitigkeit und Kontinuität der Änderungen und der normativen Kraft ihrer generellen und individuellen Normen zu gewährleisten: so gibt es steuerrechtliche Normen, die den Gegenstand und die Weise der Besteuerung regeln und erlauben, dass der Steuerzahler das Spektrum der zukünftigen Besteuerung ermessen kann, die zukünftige Wirkungen von Steuergesetzen vorwegnehmen, wie im Fall der Vorzeitigkeitsregel, und die die Kontrolle der Einhaltung der Steuerpflichten regeln (Prinzipien, die auf Verfahren und Klagen in steuerrechtlichen Sachen anwendbar sind, wie das Prinzip des ordnungsgemäßen Verfahrens und die Regeln der Begründung und Veröffentlichung der Akte und Entscheidungen). 24.1 Die Verbindung beider Dimensionen-der statischen und dynamischen Dimension-des Rechtssicherheitsprinzips ermöglicht den Nachweis, dass dieses insgesamt einen Idealzustand der Achtung des Menschen zu gewährleisten sucht, der gegen Täuschung, Enttäuschung, Überraschung und Willkür gefeit ist und damit den die Rechte des Steuerzahlers achtenden Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart und von der Gegenwart zur Zukunft schützt. Diese Elemente führen

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zu einer begrifflichen Neubestimmung der Rechtssicherheit als eines Bedingungsprinzips, das einen Zustand der Achtung der Grundrechte des steuerzahlenden Bürgers und der Mäßigung staatlichen Handelns durch rechtlich-rationale Kontrollierbarkeit der generellen und individuelle Normen rekonstruierenden Argumentationsstrukturen gewährleistet oder, einfacher formuliert, als eines die Achtung des Steuerzahlers als Bürgers gewährleistenden Prinzips. 24.2 Der vorgeschlagene Begriff der Rechtssicherheit im Steuerrecht fördert eine Verschiebung verschiedener Aspekte der Diskussion über die Rechtssicherheit: an Stelle eines Rechtssicherheitsbegriffs, der ausschließlich an die Gewissheit durch Kenntnis der vorherigen und abstrakten Bestimmung der gesetzlichen Tatbestände gebunden und durch Sprachbeschreibung überprüfbar ist, in dem das Recht die bloße Schöpfung einer Staatsgewalt ist und seiner eigenen Anwendung als etwas vollständig Gegebenes vorangeht, wird hier ein Rechtssicherheitsbegriff vorgestellt, dessen Zentrum dank der Verwendung der Sprache die argumentative und feststellbare Kontrolle durch die Erkenntnis der hermeneutischen Kriterien und Strukturen ist und in dem das Recht ein Produkt der Erfahrung ist und sich aus der Zusammenschau objektiver und subjektiver Aspekte ergibt die seiner Anwendung innewohnen. Damit wird das Verständnis der Rechtssicherheit als auf das Bestimmungsparadigma gegründete Inhaltsgarantie in Richtung einer Rechtssicherheit als auf das Paradigma der semantisch-argumentativen Kontrollierbarkeit gegründete Garantie der Achtung überwindet, wobei die Verwirklichung der Rechtssicherheit von gemeinsam zu bewertenden Elementen, Dimensionen und Aspekten abhängt. 25.1 Hinsichtlich des Vertrauensschutzes hängt das Vorliegen der Vertrauensgrundlage von der Prüfung verschiedener Kriterien auf Elemente ab, die untereinander interagieren und immer einerseits an die Grundrechte der Freiheit, des Eigentums und der Gleichheit und andererseits an die mit der staatlichen Tätigkeit zusammenhängenden Prinzipien gebunden sind. Das Fehlen eines Gesetzes darf, nur für sich genommen, nicht ausschließen, dass die Folgen der Steuervergünstigungen eintreten. Bei der Prüfung der normativen Akte, die sie gewährt haben, sind der Grad der Beständigkeit, der Individualität, der Entgeltlichkeit, der Wirksamkeit in der Zeit, der Erreichung der Zwecke, des Anscheins der Legitimität, der Abhängigkeit der Adressaten und der Verhaltenslenkung zu berücksichtigen. 25.2 Im Bereich des Steuerrechts ist die Anwendung des sogenannten Vertrauensschutzprinzips von enormer Relevanz auf der Ebene der Gewährung von Steuervergünstigungen, die eventuell nicht die von der Verfassung geforderten Formvorschriften beachtet haben, wie im Fall der Steuervergünstigungen ohne spezifisches Gesetz und ohne Festlegung in einem Abkommen zwischen Bundesstaaten. In diesen Fällen ist nicht nur der formale Aspekt zu berücksichtigen; die anderen mit der steuerlichen Vergünstigung verbundenen Elemente müssen ebenfalls bewertet werden, so die Grade der Beständigkeit, der Individualität, der Entgeltlichkeit, der Wirksamkeit in der Zeit, der Erreichung der Zwecke, des Anscheins der Legitimi-

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tät, der Abhängigkeit der Adressaten und der Verhaltenslenkung. Nur durch die gemeinsame und ausgewogene Einhaltung all dieser Elemente kann man gleichzeitig staatliches Handeln und Ausübung der Grundrechte auf der Ebene des Steuerrechts sicherstellen und so die Täuschung und Überraschung für den vermeiden, der legitimerweise auf dieGültigkeit der normativen Akte vertraut hat. 26.1 Die Frage, ob Ausübung der Freiheit ein unverzichtbares Erfordernis des Vertrauensschutzes ist bzw. nicht ist, beantworten wir, indem wir erstens feststellen, welcher Stabilitätstyp angestrebt wird ob auf die Rechtsordnung insgesamt bezogen, aufgrund des objektiven Erscheinungsbildes des Rechtssicherheitsprinzips, das Dauerhaftigkeit der Normen (Verlässlichkeit durch Beständigkeit) und stabile, moderate und stimmige Normentwicklung fordert (Berechenbarkeit durch Kontinuität), oder ob auf eine konkrete Situation bezogen, aufgrund der reflexiven Anwendung des Rechtssicherheitsprinzips, die ungerechtfertigte Einschränkungen in der vergangenen Ausübung rechtsorientierter Freiheit verbietet (Verlässlichkeit durch Vertrauensschutz); zweitens und als Folge, indem wir feststellen, ob die angestrebte Stabilität in den jeweils einschlägigen Grundrechten begründet bzw. nicht begründet ist. 26.2 Im Bereich des Steuerrechts können diese beiden Stabilitätstypen festgestelltund geschützt werden. Es gibt Situationen, in denen aufgrund der Berücksichtigung mittelbarer Wirkungen der steuerlichen Vergünstigung und aufgrund der Prüfung betroffener gutgläubiger Drittpersonen die Aufrechterhaltung der steuerlichen Vergünstigung vor allem für die Vergangenheit eine wesentliche Rolle für die Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung spielt. In anderen Situationen kann der Steuerzahler, unabhängig von diesen Elementen, über seine Grundrechte der Freiheit und des Eigentums disponiert haben, so dass die Aufrechterhaltung der steuerlichen Vergünstigung Bedingung des Vertrauens des Steuerzahlers auf die Rechtsordnung und eine Voraussetzung dafür ist, dass staatliches Handeln nicht Überraschung oder Täuschung produziert. 27.1 Je schwerer die verursachten Lasten sind, je länger die Dauer der scheinbaren Geltung der Vertrauensgrundlage ist und je schwieriger die Umkehrung der verursachten Wirkungen ist, desto intensiver wird die Einschränkung der Eigentums- und Freiheitsgrundrechte des Bürgers, desto stärker wird folglich der Vertrauensschutz sein und desto schwieriger wird auch die Rechtfertigung für seinen Ausschluss werden. 27.2 Die Berücksichtigung dieser Elemente ist wesentlich für die Überwindung einer bloß formalen Analyse steuerlicher Vergünstigungen, die ausschließlich auf die formale Regelmäßigkeit staatlichen Handelns konzentriert ist, zu einer gemeinsamen Prüfung sowohl des staatlichen Handelns und seiner Mäßigung, als auch der Ausübung der Grundrechte seitens des Steuerzahlers und ihrer Intensität, wobei das staatliche Handeln oft auch öffentliche Zwecke fördert. 28.1 Alle Elemente des Vertrauensschutzprinzips (Vertrauensgrundlage, Ausübung des Vertrauens und Enttäuschung des Vertrauens) müssen vorliegen, aber

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die geringe Intensität eines Elements kann durch die starke Intensität des anderen ausgeglichen werden, so dass man im Durchschnitt die minimale Dichter ihrer Voraussetzungen behaupten kann. 28.2 Diese gemeinsame und ausgewogene Bewertung aller Elemente des Vertrauensschutzprinzips verschiebt die Analyse der Wirkungen der steuerlichen Vergünstigungen von der abstrakten auf die konkrete Ebene und erlaubt eine Analyse sowohl des staatlichen Handelns als auch der Ausübung der Grundrechte der Steuerzahler. 29.1 Über das Rückwirkungsverbot lässt sich sagen, dass die Rückwirkung durch eine Regel verboten ist, wenn es sich um einen in der Vergangenheit vollendeten Akt handelt (wohlerworbenes Recht, vollendete Rechtshandlung, Rechtskraft und eingetretener Steuertatbestand), wobei in diesem Fall jede Art einer bloß horizontalen Abwägung ausgeschlossen wird; wenn der in der Norm vorgesehene Tatbestand eingetreten, aber noch nicht nach dem Gesetz abgeschlossen oder erfüllt ist und damit auch nicht von den Rückwirkungsverbotsregeln betroffen ist, wird es notwendig, den Eintritt der Voraussetzungen des Vertrauensschutzprinzips festzustellen, der unechte Rückwirkung oder rückwirkende Bezugnahme auf tatsächlich vorher bestehende Situationen abwenden kann, wobei ein Zustand des Vertrauensschutzes als vorliegend anzunehmen ist, wenn die Summe seiner Elemente in einem höheren Maß vorliegt. Hierunter ist der Fall zu verstehen, in dem ein Element nur in geringem Maße vorliegt, das aber dadurch ausgeglichen wird, dass andere Elemente in hohem Maße vorliegen. 29.2 Zweck der „an den Steuertatbestand gebundenen Regel des Rückwirkungsverbots“ ist nur die Abwendung der horizontalen Abwägung von durch ihren Tatbestand erfassten Situationen (Steuertatbestände, deren Eintritt mit den Dispositionsakten des Steuerzahlers zusammenhängt), ohne jedoch auszuschließen, dass es außerhalb ihrer einen Schutz des Steuerzahlers geben kann: wenn die vorgenommenen Akte gemäß der gesetzlichen Bestimmung abgeschlossen sind, sieht Art. 150 III a einen Schutz in Bezug auf Tatbestände vor; ansonsten greifen Art. 5 XXXVI, so dass selbst in den Fällen, in denen es keine abgeschlossene Rechtshandlung oder keinen abgeschlossenen Sachverhalt gibt, es Dispositionsakte der Steuerzahler und staatliche Verhaltensweisen geben kann, die den Ausschluss der Rückwirkungen der Gesetzgebung rechtfertigen. Wie wir gesehen haben, beeinträchtigt das Fehlendieser ausdrücklichen Regel im deutschen Grundgesetz in keiner Weise das vom Rechtsstaatsbegriff, vom Rechtssicherheitsprinzip und der Gesetzmäßigkeit und von den Freiheits- und Eigentumsrechten hergeleitete Vorzeitigkeitsprinzip. Hier ist die horizontale Abwägung dieses Prinzips mit anderen im konkreten Fall zu berücksichtigenden Interessen möglich. 30.1 Das Rückwirkungsproblem ist nicht mehr nur ein Problem der Beziehung der Normen in der Zeit (intertemporales Recht). Es wird zu einem Problem der willkürlichen Einschränkung von Grundrechten und des loyalen und gerechtfertigten staatlichen Handelns: rückwirkend ist nicht nur die Norm, die einen abge-

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schlossenen Tatbestand erfasst, sondern auch die Norm, die eine abgeschlossene Disposition aufgrund des zum Zeitpunkt ihrer Wahl geltenden Tatbestands erfasst, worunter die Norm zu verstehen ist, die nicht mehr durch eine Reaktion des Steuerzahlers rückgängig gemacht werden kann. 30.2 Nach dieser neuen Form der Analyse der Rückwirkung von Abgaben ist der Kern ihrer Prüfung nicht mehr die Feststellung des Eintritts bzw. Nicht­eintritts von Tatbeständen, sondern die Feststellung der Ausübung (und des Maßes dieser Ausübung) der Grundrechte. Die Nomenklatur fortgesetzter Tatbestände, die durch die immer punktuelle Berücksichtigung des Eintritts von Tatbeständen als überholt angesehen wird, gewinnt wieder an Bedeutung und rechtfertigt eine neue Untersuchung aus der Sicht der Grundrechte. 31.1 Die Zulässigkeit der Änderung der Verwaltungsakte hängt nicht von ihrer Rechtswidrigkeit ab, sondern von der Intensität des Handelns des Steuerpflichtigers gegründet ist, die auf sein Vertrauen und auf die Intensität der Einschränkung, welche die Änderung bewirken wird, weshalb die Aufhebung eines Verwaltungsakts nicht aufgrund der einfachen Tatsache angeordnet werden darf, dass dieser Akt in formaler Hinsicht rechtswidrig ist. 31.2 Im Bereich des Steuerrechts kann die Änderung der Verwaltungspraxis nicht mehr als Ergebnis einer bloßen Konvenienz- und Opportunitätsanalyse der Verwaltung gesehen werden. Sie muss stattdessen das Ergebnis der Kombination des Handelns der Verwaltung und des Handelns des Steuerzahlers sein, weshalb im Falle eines legitimen Vertrauens nur die Rücknahme pro futuro im Einklang mit den Übergangsregeln das Interesse des Staates mit dem der Privatperson harmonisieren kann. 32.1 Die Untersuchung der Rechtsprechungsänderung und ihrer Wirkungen hängt von ihrer eigenen Definition ab. Die Rechtsprechungsänderung kann als direkter Konflikt zwischen zwei gültigen, wirksamen und endgültigen, auf denselben Gegenstand bezogenen Entscheidungen definiert werden, weshalb man Rechtsprechungsänderung nicht mit Innovation oder Abweichung verwechseln darf. Die Änderung als solche ist aber nicht ausreichend, um Schutz zu begründen. Dieser ist nur zu gewährleisten, wenn es Akte der Disposition über Grundrechte aufgrund einer geänderten Rechtsprechung gibt, die als endgültig im Kompetenzbereich des Gerichts angesehen werden konnte. 32.2 Im Bereich des Steuerrechts gewinnt die Rechtsprechungsänderung eine einzigartige Bedeutung, wenn der Steuerzahler Akte der Disposition über Grundrechte aufgrund einer später abgeänderten richterlichen Entscheidung vornimmt. In diesem Fall ist das Vorliegen der Vertrauensgrundlage zu prüfen. Diese ist durch die Bindungskraft und durch den Anspruch auf Beständigkeit des legitimen Vertrauens des Steuerzahlers gekennzeichnet. Zu prüfen ist gleichfalls, ob über Grundrechte in Orientierung an der abgeänderten Entscheidung disponiert wurde und ob eine intensive Enttäuschung durch die abändernde Entscheidung eingetre-

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ten ist. Liegen diese Elemente vor, wird nur der konkrete Fall zeigen, ob die prospektive Wirksamkeit der abändernden Entscheidung oder die Übergangsregeln die Pflicht zur Beständigkeit mit der Notwendigkeit der Änderung der Rechtsordnung harmonisieren werden. 33.1 Obwohl die Variation der Wirkungen bei der Kontrolle der Verfassungsgemäßheit erlaubt ist, ist sie eingeschränkt und hängt von bestimmten Voraus­ setzungen (Ausnahmecharakter des zu entscheidenden Falls und Nichtvorliegen der eklatanten Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Akts), von Zwecken (Wiederherstellung des „Zustands der Verfassungsgemäßheit“, unmittelbarer Schutz der objektiven Rechtssicherheit und mittelbarer Schutz der Grundrechte, Abwendung einer „schweren“ Bedrohung der Rechtsunsicherheit) und Verfahren (Gewährleistung der Anhörung der Parteien über die Variation, Erhaltung der rückwirkenden Wirksamkeit für den Ausgangsfall, die parallelen und die nicht von der Verwirkung erfassten Fälle, sichere Anwendung der Wirkungsmodulation aufgrund der Rechtssicherheit) ab. 33.2 Die Variation der Wirkungen zur Erhaltung vergangener Wirkungen von für verfassungswidrig erklärten Steuergesetzen kann im Allgemeinen nicht aufgrund des Rechtssicherheitsprinzips vorgenommen werden, da Rechtssicherheit im Steuerrecht den Steuerzahler gegen den Staat schützt. Im Gegensatz zu anderen Grundrechte gewährleistenden Gesetzen stellt die Verfassungswidrigkeitserklärung des Steuergesetzes sofort den vorher verletzten Zustand der Verfassungsgemäßheit wieder her, weshalb kein Grund zur Nichtanordnung seiner Ungültigkeit besteht. Außerdem eliminiert die Erhaltung der Wirkungen des verfassungswidrigen Steuergesetzes den Abwehrcharakter der Grundrechte und die minimale Wirksamkeit des Grundrechts auf effektiven und universellen Rechtsschutz. 34.1 Rechtssicherheit, so wie sie in der CF/88 bestimmt ist, kann nicht nur nicht vom Staat zur Legitimation der Einschränkung von Freiheitsgrundrechten benutzt werden, sondern darf auch im Fall der Einführung von Steuerpflichten nicht die Beibehaltung der Wirkungen rechtfertigen, da dieses Verfahren die Rechtssicherheit mehr einschränkt als fördert: wenn die eingetretenen Wirkungen der verfassungswidrigen Norm mit dem Anspruch auf Schutz der Rechtssicherheit in der Vergangenheit beibehalten werden, wird die Rechtssicherheit in der Zukunft noch stärker eingeschränkt, nämlich durch den Ansporn zum Erlass neuer verfassungswidriger Normen und, folglich, durch den Ansporn zur Einschränkung der Wirksamkeit und Berechenbarkeit des Rechts. Die im deutschen Grundgesetz statuierte Rechtssicherheit kann ebenfalls nicht vom Staat verwendet werden, um eine Einschränkung der Freiheitsgrundrechte zu begründen, da sie selbst als Garantie des Bürgers gegen den Staat und nicht als deren Gegenteil bestimmt worden ist. 34.2 Im Bereich des Steuerrechts ist die Beibehaltung der eingetretenen Wirkungen verfassungswidriger Gesetze ein Ansporn zum zukünftigen Erlass neuer verfassungswidriger Gesetze, aufgrund der unvermeidlichen finanzpolitischen und finanzwirtschaftlichen Wirkung jeder steuerrechtlichen Norm: wenn die durch-

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schlagende finanzpolitische und finanzwirtschaftliche Wirkung der Verfassungswidrigkeitserklärung mit Wirkung ex tunc die Grundlage der Variation der Wirkungen der Entscheidung ist, wird die Chance auf Beibehaltung der Wirkungen des Gesetzes umso größer sein, je durchschlagender diese Wirkung ist. Je einschränkender also das Steuergesetz ist, desto durchschlagender wird die finanzpolitische und finanzwirtschaftliche Wirkung sein; und je durchschlagender diese Wirkung ist, desto größer wird die Chance sein, dass es als verfassungsmäßig angesehen wird. Diese perverse Argumentation führt dazu, dass ein Steuergesetz umso größere Chancen hat, für verfassungsgemäß erklärt zu werden, je „verfassungswidriger“ es ist. Diese Verständnis steht nicht nur in einem frontalen Gegensatz zum Rechtssicherheitsprinzip, sondern widerspricht auch den elementarsten Anforderungen des Rechtsstaats und darüberhinaus der menschlichen Vernunftfähigkeit. 35.1 Rechtssicherheit hat als Voraussetzung, dass die Bedingung der Verwirklichung der Normen vorliegen, auf die der Bürger vertraut hat, um Akte der Disposition über seine Grundrechte vorzunehmen. Diese „Sicherheit der Verwirklichung“ hängt sowohl vom Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz als von institutionellen Voraussetzungen ab, ohne die dieser Schutz nicht effektiv sein kann. Das Prinzip des ordnungsgemäßen Verfahrens, als logisch-prozedurale Folge der Wirksamkeit der Grundrechte selbst, legt die Bedindungen fest, ohne die der Bürger nicht imstande ist, das seine Rechte einschränkende staatliche Handeln abzuwehren. 35.2 Auf der Ebene des Steuerrechts setzt die „Sicherheit der Verwirklichung“ das Vorliegen effektiver Mechanismen der Verteidigung des Steuerzahlers gegen jede Art der Einschränkung seiner Grundrechte voraus, sei es im Bereich des Aufsichtsverfahrens, sei es im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren selbst. Ohne die dem ordnungsgemäßen Verfahren innewohnenden Garantien (unparteilicher gesetzlicher Richter, Bekanntgabe und Veröffentlichung, rechtliches Gehör, umfassende Verteidigung)ist das Rechtssicherheitsprinzip im Bereich des Steuerrechts nicht zu verwirklichen. Und ohne die institutionellen Bedingungen der Unabhängigkeit der Judikative, des Zugangs zu ihr und der Pflicht zur Entscheidung jedes ihr vorgelegten Falls ist die Verteidigung des Steuerzahlers gegen die Besteuerungsgewalt ebenfalls nicht durchzusetzen. 36.1 Rechtssicherheit erfordert die Sicherheit des Übergangs von der Gegenwart in die Zukunft vermittels der Vorzeitigkeit, der Kontinuität und der Bindungskraft der Normen. Nur durch diese Garantien kann der Bürger in Zukunft seine in der Gegenwart ausgeübte Freiheit ohne Überraschung oder Täuschung sichergestellt wissen. 36.2 Im Bereich des Steuerrechts wirken sich diese Forderungen besonders auf die Notwendigkeit zur Mäßigung der Änderung steuerrechtlicher Normen aus: die Änderung eines jeden Rechtssystems kann nur als mit den Grundrechten der Steuerzahler vereinbar angesehen werden, wenn Übergangsregeln und Billigkeits­ klauseln vorliegen, welche die Notwendigkeit der Änderung mit der Pflicht zur Achtung des vergangenen Handelns des Steuerzahlers harmonisieren können.

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37.1 Rechtssicherheit fordert zudem, dass zukünftiges staatliches Handeln mit vergangenem staatlichen Handeln übereinstimmt, vorbehaltlich eines Rechtfertigungsgrunds für die Aufgabe der vorher angewandten Regeln, immer abgemildert durch den Erlass von Übergangsregeln und Billigkeitsklauseln. 37.2 Im Bereich des Steuerrechts verhindert die Forderung nach Normkon­ tinuität durch Willkürverbot, dass der Staat Lenkungsprinzipien eines bestimmten steuerrechtlichen Systems übernimmt, um sie später völlig ungerechtfertigt aufzugeben, damit wird das Rechtssicherheitsprinzip verletzt. 38.1 Die Rechtswirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips beinhaltet seine normative Funktion, verstanden als Art und Weise, auf die es Wirkungen auf andere Normen oder das menschliche Verhalten erzeugt, und die normative Kraft im Sinn der Form, in der es sich im Konflikt mit anderen Normen positioniert. Die normative Funktion des Rechtssicherheitsprinzips ist relativ, da die Gestaltung seiner normativen Eigenschaft und seiner verschiedenen Wirksamkeitsfunktionen von der Perspektive, aus der es untersucht wird, abhängt. 38.2 Diese Wirksamkeitsfunktionen abbilden sich im Bereich des Steuerrechts, da auch in diesem Normbereich festzustellen ist, welche die normative Kraft der Sicherheit ist und welche ihre Wirksamkeitsfunktionen sind. Da das Rechtssicherheit eine Begründungseigenschaft für die Gültigkeit steuerrechtlicher Normen hat, kann seine normative Kraft niemals ganz ausgeschlossen werden. 39.1 Wird das Rechtssicherheitsprinzipsprinzip in seiner Beziehung zu Prinzipien erforscht, welche die Verwirklichung eines noch weiteren Zustands durchsetzen, übernimmt es die Rolle des Unterprinzips und übt eine definitorische Wirksamkeitsfunktion in Bezug auf dieses Ideal aus. In dieser Beziehung und Perspektive übernimmt es eine Position analytischer Minderwertigkeit. Die Auslegung konkretisiert sich „von unten nach oben“. Dies ist der Fall in der Beziehung des Rechtssicherheitsprinzips zum Rechtsstaatsprinzip. 39.2 In steuerrechtlichen Materien ist die Beziehung zwischen dem Rechts­ sicherheitsprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip von grundlegender Bedeutung, besonders um Interpretationen auszuschließen, die am Ende rechtswidrige Akte ohne die Hinzutreten weiterer Elemente aufrechterhalten, die dies rechtfertigen könnten. 40.1 Wenn das Rechtssicherheitsprinzip in seiner Verbindung mit Prinzipien untersucht wird, welche die Verwirklichung von eingeschränkteren Idealen durchsetzen, nimmt es die Position eines Oberprinzips ein und übernimmt verschiedene auf diese Ideale bezogene Funktionen: die interpretative Wirksamkeitsfunktion, wenn es den Parameter zur Auslegung der Unterprinzipien abgibt; die abschirmende Wirksamkeitsfunktion, wenn es funktioniert, um die konkrete Anwendung eines der Unterprinzipien, das sich punktuell als mit dem weiteren Zustand unvereinbar erweist, zu verhindern; eine integrative Wirksamkeitsfunktion, wenn es das Instrument zur Auffüllung des sich aus dem punktuellen Ausschluss eines Unterprinzips ergebenden Vakuums ist.

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40.2 Dies ist im Bereich des Steuerrechts in der Beziehung der Fall, die das Rechtssicherheitsprinzip zu den Prinzipien der Gesetzmäßigkeit (als Ideal der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns), des Rückwirkungsverbots (als Ideal der rechtlichen Regelung zukünftiger Fälle) und des Vertrauensschutzes (als Ideal des Schutzes von Akten der Disposition, die ursächlich an vorhergehende staatliche Handlungen gebunden sind) unterhält: das Rechtssicherheitsprinzip gibt als Oberprinzip den Auslegungsparameter der Neubestimmung dessen ab, was auf eingeschränktere Art von seinen Unterprinzipien statuiert wird, oder von einer Norm, die imstande ist, die Anwendung eines Unterprinzips zu blockieren und in der Folge das abgeleitete Vakuum der Blockierung zu bilden. 41.1 Wird das Rechtssicherheitsprinzip in seiner unmittelbaren Funktionsweise ohne Zwischenschaltung irgendeiner Norm untersucht, sei es eines Prinzips oder einer Regel, hat es die Eigenschaft eines Prinzips und übernimmt unmittelbar eine integrative Wirksamkeitsfunktion, indem es das ursprüngliche Vakuum ausfüllt, das durch das Fehlen von die Situation spezifisch normierenden Regeln oder Prinzipien hinterlassen wurde. 41.2 In steuerrechtlichen Materien erweist die integrative Wirksamkeitsfunktion die Unnötigkeit von unterverfassungsrechtlichen Regeln, die unverzichtbare Voraussetzungen der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit festlegen. Es genügt dann die unmittelbare Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips selbst, um Gültigkeits- und Wirksamkeitsbedingungen allgemeiner und individueller steuerrechtlicher Normen sicherzustellen. 42.1 Wird Rechtssicherheit in ihrer Beziehung zu anderen Normen und damit in ihrer mittelbaren Wirksamkeit untersucht, kann sie mal die Eigenschaft eines Unterprinzips annehmen, falls der Blickwinkel der Untersuchung ihre Beziehung als Norm trifft, die ein umfassenderes anzustrebendes Ideal vorgibt, mal die Rolle eines Oberprinzips spielen, falls der Blickwinkel der Untersuchung ihre Verbindung zu Normen trifft, die weniger umfassende Ideale vorgeben. 42.2 Im Bereich des Steuerrechts dient das Rechtssicherheitsprinzip sowohl als konkretisierendes Element des Rechtsstaatsprinzips, besonders, um rechtswidrige Akte abzuwehren, die nicht die Gewaltentrennung, die Normhierarchie, die Klarheit und die vorgängige Kenntnis der Normen beachten, als auch als eingeschränktere Ideale definierendes Element, vornehmlich derjenigen, die sich auf Gesetzmäßigkeit und Rückwirkungsverbot bei der Anwendung steuerrechtlicher Normen beziehen. 43.1 Die CF/88 hat die Rechtssicherheit in verschiedenen Bereichen geregelt, indem sie entweder beispielsweise die Rechtskraft, das wohlerworbene Recht und die vollendete Rechtshandlung schützte oder die Rückwirkung der Steuergesetze bezüglich der Verwirklichung des Tatbestands verbot. Statt ein Element zu bilden, um Gegenstand der Abwägung zu sein, wird Rechtssicherheit in diesen Fällen in ihrer Eigenschaft als Prinzip verfassungsrechtlich durch Regeln konkretisiert, die

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sich als solche nicht einer bloß horizontalen Abwägung unterwerfen. Das Fehlen dieser Regeln im Grundgesetz beeinträchtigt in keiner Hinsicht den Schutz, den die Rechtsordnung der Vergangenheit gewährt und der auch aus dem Begriff des Rechtsstaats, der Gesetzmäßigkeit und der Freiheits- und Eigentumsrechte abgeleitet werden kann. Wo diese Regelung jedoch nicht besteht, ist eine horizontale Abwägung dieses Prinzips mit anderen im konkreten Fall vorliegenden Interessen möglich. 43.2 Diese Regelung der Rechtssicherheit wird im Steuerrecht mit dem Zweck wichtig, bloß horizontale Abwägungen auszuschließen, die rechtskräftige Urteile in steuerrechtlichen Materien beseitigen versuchen oder die Verwendung rechtswidrig erlangter Beweismittel im steuerrechtlichen Verfahren rechtfertigen sollen. Die Regelung der Rechtssicherheit in bestimmten Materien ist eine Verstärkung der Wirksamkeit der dem Steuerzahler gegebenen Garantien, die nicht einmal die Berücksichtigung der Einnahme- oder Vollstreckungszwecke des Staates ausschließen kann. 44.1 Die objektive Wirksamkeit des Rechtssicherheitsprinzips kann vom konkreten und subjektiven Standpunkt aus als ein „Recht auf Sicherheit“ erfahren werden, das nichts weiter als das Rechtssicherheitsprinzip in seiner reflexiven Wirksamkeit ist. 44.2 Auf der Ebene des Steuerrechts ermöglicht das Rechtssicherheitsprinzip, wenn es schon nicht die Forderung nach allgemeinen steuerrechtlichen, dem Kompetenzbereich der Legislative und Exekutive vorbehaltenen Politikprogrammen erlaubt, zumindest die Forderung nach punktuellen Erscheinungsformen, die sie in bestimmten Situationen gewährleisten sollen, vor allem durch Ausschluß der Überraschung und Täuschung im staatlichen Handeln. 45.1 Da das Rechtssicherheitsprinzip die gemeinsame Verwirklichung mehrerer Sachverhalte erfordert, die teils intermediär, teils final sind und nicht notwendig zusammenfallen, kann es passieren, dass infolge eines zu entscheidenden Falls eine Art von Konflikt der Rechtssicherheit mit sich selbst ausbricht, nämlich in dem Sinn, dass die Förderung eines Zustands die Einschränkung eines anderen konkret und diametral gegensätzlichen Zustands impliziert. Die Lösung besteht dann darin, diese beiden Idealsachverhalte so ins Gleichgewicht zu bringen, dass die Bemühung um Rechtssicherheit einen Zuwachs in ihrer Gesamtheit verursacht, d. h. dass die Verwendung des Rechtssicherheitsprinzips als Fundament einer gegebenen Entscheidung zu einer durchschnittlich höheren Verwirklichung der es bildenden Idealsachverhalte als zum Gegenteil führt. 45.2 Im Bereich des Steuerrechts kann die Verwendung des Rechtssicherheitsprinzips niemals seine Einschränkung in einem höheren Maß implizieren, nicht nur in Ansehung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern auch in gemeinsamer Prüfung seiner statischen und dynamischen Aspekte. Rechtssicherheit ist, wie man nicht müde werden sollte zu unterstreichen, entweder integral oder keine Rechtssicherheit.

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46.1 Verstanden als Norm, die Ideale der Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts statuiert, darf das Rechtssicherheitsprinzip niemals aufgegeben werden. Was eintreten kann ist, dass in einigen Fällen ein Element eines seiner Ideale einer seiner Dimensionen unterschiedlich angepasst werden kann, infolge seiner Beziehung zu den Idealen anderer Dimensionen. Die Rechtssicherheit in der Einheit ihrer Ideale ist jedoch niemals Gegenstand eines vollständigen Ausschlusses. Was passiert, ist die Anwendung, in geringerem Maß, eines Elements zugunsten der Anwendung, in höherem Maß, eines anderen bzw. mehrerer anderer Elemente. 46.2 Obwohl die Rechtssicherheit ein Prinzip ist, da sie eine Norm ist, welche die Suche nach einem Idealsachverhalt statuiert, ohne von vornherein das zu seiner Erreichung notwendige Mittel anzugeben, verfügt sie nicht über die Wirksamkeit prima facie einiger Prinzipien, sei es im Sinn einer punktuell unanwendbaren Norm (Wirksamkeit prima facie als zerstreubare normative Kraft), sei es im Sinn einer konkret ausschließbaren Norm (Wirksamkeit prima facie als ausschließbare normative Kraft), sei es auch im Sinn einer in ihrer Einheit einschränkbaren Norm (Wirksamkeit prima facie als einschränkbare normative Kraft). 47.1 Das Rechtssicherheitsprinzip ist eine Norm, die Träger einer Wirksamkeit sui generis in der Hierarchie der Prinzipien ist, eine Art Bedingungsnorm oder Strukturnorm, ohne dessen minimale Wirksamkeit die anderen Normen ebenfalls nicht minimal wirksam wären. Es ist auch ein „Vermittlungsprinzip“, da es funktionale Bedingungen für die die Rechtsordnung bildenden Prinzipien und Regeln festlegt. 47.2 Im Rahmen des Steuerrechts erlaubt die Berücksichtigung des Rechts­ sicherheitsprinzips als die Gültigkeit bedingendes und die Wirksamkeit der Steuernormen instrumentalisierendes Prinzip den Nachweis, dass das Rechtssicherheitsprinzip nicht vollständig ausgeschlossen werden kann, selbst nicht unter dem Vorwand der Erreichung staatlicher Zwecke, unabhängig davon, ob diese sich auf die Einnahmen oder auf die Kontrolle der haupt- oder nebensächlichen Abgabenverpflichtungen beziehen. 48.1 Das Rechtssicherheitsprinzip übernimmt eine besondere Rolle, da es im nationalen Abgabensystem spezifische und emphatische Normen gibt, die Instru­ mente der Gewährleistung der Verständlichkeit des Rechts sind: die Bestimmbarkeit der Tatbestände (Regel der Gesetzmäßigkeit und System der Kompetenzregeln); die Verlässlichkeit des Rechts (Regel des Kompetenzvorbehalts eines Ergänzungsgesetzes zur Regelung der Verwirkung und der Verjährung), durch die Geltung (Regel des Rückwirkungsverbots) und durch das Verfahren (ausdrückliche Regeln der Öffnung des steuerrechtlichen Subsystems zu in ihm nicht vorgesehenen Rechten und Garantien, wie im Fall des Schutzes des wohlerworbenen Rechts, der Rechtskraft und der vollendeten Rechtshandlung); die Berechenbarkeit des Rechts durch Nichtüberraschung (Regel der Vorzeitigkeit). Alle diese Regeln sind auch aus der vom deutschen Grundgesetz statuierten Verfassungsordnung ableitbar.

Schlussfolgerungen und Thesen

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48.2 Diese spezifischen Normen statten die Ideale, deren Verwirklichung vom Rechtssicherheitsprinzip angeordnet wird, gewissermaßen mit einer Widerstandsbzw. Schutznatur aus. Diese Natur zeigt sich beispielsweise in der Neubestimmung des Prinzips des Rückwirkungsverbots und in der Wiederaufnahme der Diskussion um die Verwendung der Wirkungsvariationen der Entscheidungen im Bereich des Steuerrechts. 49.1 Die durch die Konkretisierung der steuerrechtlichen Beziehung eingeschränkten Rechtsgüter können einen noch stärker akzentuierten Schutzcharakter verlangen, da das Rechtssicherheitsprinzip je nach Gegenstand, Intensität und Zweck der Einschränkung von Grundrechten noch in einer stärker schützenden Form zu berücksichtigen ist, vor allem in den Fällen, in denen Akte der Disposition über Grundrechte der Freiheit und des Eigentums vorgenommen worden sind, deren Missachtung die Behandlung des steuerzahlenden Bürgers als eines bloßen Objekts zur Folge haben würde. 49.2 Der Widerstands- oder Schutzcharakter, den das Rechtssicherheitsprinzip im Steuerrecht annimmt, ist also nicht einheitlich: infolge der Existenz abstrakter Normen, die einen allgemein schützenden Charakter zuschreiben, ist er abstrakt stärker; konkret muss er aber umso stärker sein, je plötzlicher und drastischer die Grundrechte der Freiheit, des Eigentums, der Gleichheit und der Menschenwürde des steuerzahlenden Bürgers eingeschränkt werden. 50.1 Das Rechtssicherheitsprinzip ist ein Bedingungsprinzip, das einerseits einen Zustand der Achtung der Grundrechte des steuerzahlenden Bürgers und andererseits ein Ideal der Mäßigung staatlichen Handelns gewährleistet. Seine Bestimmung als Achtung des Handelns und der Argumentation des Steuerzahlers als vernunftfähigen Bürgers erhaltendes Prinzip provoziert eine außerordentliche Veränderung in der Analyse des Steuerrechts selbst: Geltung und Wirksamkeit steuerrechtlicher Normen können nicht mehr unter dem ausschließlichen Blickwinkel ihrer formalen Struktur, semantischen Reichweite oder intertemporalen Beziehung untersucht werden; diese Elemente sind stattdessen aus einer Perspektive zu erforschen, die ausgewogen den Modus, den Rhythmus und die Intensität der Ausübung der Grundrechte mit dem Modus, dem Rhythmus und der Intensität staatlichen Handelns kombiniert. 50.2 Dieses Verständnis des Rechtssicherheitsprinzips als ein Prinzip, das neben der Begründung der Geltung und Instrumentalisierung der Wirksamkeit der steuerrechtlichen Normen nicht nur staatliches Handeln begrenzt und lenkt, sondern darüber hinaus die Grundrechte des Steuerzahlers und die entsprechende Argumentation gewährleistet und achtet, ermöglicht, dass das Steuerrecht selbst nicht mehr ein auf Ausübung der Staatsgewalt durch den Staat konzentriertes Recht ist, um vor allem ein den Grundrechten verpflichtetes Recht zu sein.

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Personenverzeichnis Aarnio, Aulis  91, 141, 216, 244, 292 Alexander, Larry / Sherwin, Emily  528 Alexy, Robert  233, 555, 565 Allorio, Enrico  33 Alpa, Guido  46, 53, 245–246 Altmeyer, Sabine  313, 322 Álvarez Martínez, Joaquín  513 Alvaro de Oliveira, Carlos Alberto  174, 268, 302, 509 Amaro, Luciano  294, 389–390, Antunes Rocha, Cármen Lúcia  102, 299 von Aquin, Thomas  271 Arcos Ramírez, Federico  33–34, 36, 37, 41, 42, 43, 58–59, 61–62, 65, 69–70, 82, 85, 87, 90, 96, 103–105, 108, 113, 124, 126, 148, 169, 179–180, 189, 199, 221, 245, 248, 250–251, 253–254, 271–272, 284, 287, 291, 331, 507–508, 516, 525, 527, 550, 562, 575–576 von Arnauld, Andreas  32, 35, 38, 39, 42, 50–51, 53–55, 58–60, 68–69, 71, 79, 82, 85, 87, 99, 102, 106, 148, 159, 162, 166, 171–172, 174, 183, 186, 221, 231, 245, 251, 257, 267, 272, 288, 338, 485, ­554–555, 559–560, 574, 577 Arndt, Hans-Wolfgang  174, 424 Asorey, Rubén  42, 86, 240, 244, 550 Ataliba, Geraldo  30, 49, 74, 76, 149, 152, 166, 169–170, 262, 454, 471, 517, 519, 530, 550 Ávila, Ana Paula Oliveira  477, 491, 547 Ávila, Humberto  92, 281, 491 Azoulai, Loïc  244, 559, 562 Baleeiro, Aliomar  395 Bandeira de Mello, Celso Antônio  194, 526, 573 Bankowski, Zenon  38 Baptista, Patrícia Ferreira  33, 385, 526 Barroso, Luís Roberto  48, 198, 296–297 Barzotto, Luis Fernando  278

Battiffol, Henri  352 Bauer, Hartmut  41–42, 55, 571 Beck, Ulrich  35 Becker, Alfredo Augusto  492, 530 Beermann, Johannes  389 Benda, Ernst / Klein, Eckart  507 Bendix, Ludwig  32 Berger, Thomas  333 Bermejo Vera, José  33 Bernuz Beneitez, Maria José / Pérez Cepeda 63 Bertea, Stefano  110, 112, 126, 141–142, 151, 216, 218 Bierweiler, Alexia  85, 178 Birk, Dieter  81 Blegvad, Mogens  78, 246 Blüggel, Jens  435, 437–438, 440–441, ­443–445, 473, 482 Bobbio, Norberto  67, 86, 94–95, 210 Boissard, Sophie  67, 243 Botallo, Eduardo Domingos  549 Bours, Jean-Pierre  41, 62 Bracker, Susanne  285 Bräunig, Anja  166, 344 Brischke, Hans-Jürgen  390 Bröhmer, Jürgen  181, 196, 217 Brügger, Winfried  32, 109, 149, 155 Buchwald, Delf  174, 553 Burdeau, Georges  29 Burmeister, Joachim  336, 359, 398, 408, 410, 539 Cabrillac, Rémy  32 Calamandrei, Piero  243 Calliess, Christian  35–37, 84 Calmes, Sylvia  58, 68, 102–103, 108, 117, 130, 159, 174, 222–223, 244–245, 288, 309–310, 312–313, 316, 321–323, 327, 348, 361, 563 Canaris, Claus-Wilhelm  363, 531–532 Canazaro, Fábio  203, 258

Personenverzeichnis Carcassonne, Guy  42 Carmignani, Giovanni  156 Carnelutti, Francesco  29, 53 Carrazza, Roque Antônio  53, 165, 167, 172, 174–175, 181, 199, 220, 239, 262, 282, 389, 399, 482, 490, 510, 512–513, 515, 525, 530, 540, 545, 547, 549–550, 556, 573 Carvalho, Paulo de Barros  34, 86, 88–89, 91–92, 150, 158, 172, 194, 244, 285, 289, 293–294, 389, 508, 530, 535, 577 Cavalcanti Filho, Theophilo  33, 35, 57, 61, 65, 95–96, 101, 103, 117–118, 149, 156, 168, 284, 524, 550, 574, 576 Chang, Ruth  572 Chevallier, Jacques  41, 48, 54, 104, 177, 271 Christensen, Ralph / Kudlich, Hans  513 Clemens, Thomas / Dollinger, Franz-­ Wilhelm / Umbach, Dieter  431, 435 Coing, Helmut  86, 526 Correia, J. M. Sérvulo  33 Corsale, Massimo  66, 120 Couret, Alain  49 Couto e Silva, Almiro do  37–39, 58, 126, 296, 298, 308, 314, 317, 321–322, 336, 347, 384–386, 397, 562, 574, 576 Dalichau, Beatrice  542 Degenhart, Christoph  539 Delpérée, Francis / Rasson-Roldand /  Verdussen, Marc  246 Dengo, Atílio  354, 364, 380 Denninger, Erhard  228 Depenheuer, Otto  379–380 Dietlein, Johannes  50, 445, 488 Douet, Frédéric  33, 37, 40–41, 43, 71, 82, 97, 104, 122, 245, 323 Dourado, Ana Paula  33, 142 Drüen, Klaus-Dieter  447–448, 476–478, 486–487, 491 Duarte, Ronnie Preuss  509–510 Dubs, Hans  410 Duong, Lémy  130, 244 Dworkin, Ronald  216, 532 Eckhoff, Rolf  50 Endicott, Timothy A. O.  237

637

Engel, Christoph  391, 399 Esser, Josef  529 Evers, Adalbert / Nowotny, Helga  65, 83 Falcão, Amilcar de Araújo  530 Farber, Daniel / Sherry, Suzanna  57 Farjat, Gérard  104 Favoreu, Louis  33 Feltes, Thomas  63 Ferrajoli, Luigi  36, 40, 124, 175, 257 Ferraz Júnior, Tércio Sampaio  34, 79, 122, 129, 238, 249, 260, 262–263, 299–300, 302, 366–367, 507, 518–519 Ferreira Filho, Manoel Gonçalves  42, 175 Ferrero Lapatza, José Juan  39, 271 Fiedler, Winfried  395, 542 Figueiredo, Lúcia Valle  174, 332 França, Limongi  298 Frändberg, Ake  190, 192 Frank, Jerome  33, 65, 67, 95, 100, ­122–123, 210 Friauf, Karl Heinrich  184 Fromont, Michel  33 Fuller, Lon  33, 86, 103, 412–413 Gadamer, Hans-Georg  527, García de Enterría, Eduardo  33, 36–37, ­40–42, 51, 88, 257, 264, 531–532 García Manrique, Ricardo  65 Garlicki, Leszek  248 Geiger, Theodor  84, 244–246, 252, 284 Germann, Oscar Adolf  32, 159 Gianformaggio, Letizia  33, 50, 67, 87, 124, 243, Giannini, Massimo S.  33 Gigante, Marina  381 Godoi, Marciano Seabra de  100 Gomes Canotilho, José Joaquim  33, 131, 251, 273 Gometz, Gianmarco  33, 53, 57–59, ­61–62, 70, 82, 87–90, 94–96, 103, 107, ­112–113, 117–119, 121, 123–124, 130, 139–143, 148, 152, 159, 215, 221, ­227–228, 507–508, 517, 548 Gonzalez Navarro, Francisco  179 Goos, Christoph / Hillgruber, Christian  431, 435 Göring, General Hermann  151

638

Personenverzeichnis

Grau, Eros Roberto  37, 41, 51, 53, 103, 141, 143, 149, 180, 213, 215, 255, 291, 507, 525, 532, 573 Graumann, André  544 Grimm, Dieter  34, 36, 38 Groll, Klaus-Michael  38, 43, 50, 176 Grunsky, Wolfgang  425 Guastini, Riccardo  565 Guckelberger, Annete  294 Günther, Klaus  235 Gurlit, Elke  397 Gusy, Christoph  38, 41, 54, 99, 127, 149, 152, 186 Gutierrez, Monica Madariaga  101 Habermas, Jürgen  124, 217, 282, 292, 527, 574 Habscheidt, Gerhardt  138, 437, 446, 488– 489, 498 Hart, H. L. A.  86, 123, 529 Hartz, Wilhelm  122, 178, 545, 574 Hayek, Friedrich A.  151 Heinig, Hans Michael  50, 577 Hey, Johanna  32, 34, 42, 46, 49, 54, 66, 182–187, 215, 278, 287, 289, 291–294, 311–314, 316–318, 324–328, 332, 338, 341, 343, 349, 351, 354, 360, 364, 366– 367, 375–380, 384–385, 387–392, 395– 396, 398, 409, 417, 419–420, 422–423, 429, 524–525, 542–543 von Hoecek, Mark  144, 373, 411 Hoffmann-Riem, Wolfgang  55, 541 von Holleuffer, Carl Eschwin Albert  32 Horn, Hans-Detlef  42 Horvath, Estevão  202 von Humboldt, Wilhelm  81 Husserl, Gehart  131–133, 138 Iliopoulos-Strangas, Julia  379 von Ipsen, Jörn  391, 452 Isensee, Josef  326, 331–333, 335–336, 392 Jackson, Bernard  244 Jahrreiß, Hermann  63, 65 Jenetzky, Johannes  41 Jestaedt, Matthias  318, 533 Jori, Mario / Pintore, Anna  96

Juratowitch, Ben  190, 192, 253, 352, 365, 412, 448 Justen Filho, Marçal  194, 335 Kafka, Franz  156 Kagan, Shelly  555, 564, 570 Kähler, Lorenz  400, 403, 405, 408–409 Kant, Immanuel  527 Kaufmann, Arthur  218 Kaufmann, Franz-Xaver  54, 59, 63, 65, 81, 83–85, 88, 246, 324, 509 Keil, Ulrich  418, 421 Kelsen, Hans  58, 100 Kirchhof, Paul  55–56, 81, 128, 182, 188, 241, 287, 315, 332, 367, 380, 401, 412, 475–476, 538 Klappstein, Verena  408–409 Knapp, Blaise  560 Koch, Michael  77, 197, 509 Köhl, Harald  84 Korioth, Stephan / Schlaich, Klaus  431, 435 Kötter, Matthias  63 Kozinski, Alex  58, 143 Krawietz, Werner  55 Krebs, Walter  50 Kreibich, Roland  329, 337, 392 Kriele, Martin  448 Kunig, Philip  174, 553 Lafay, Fabien  57 Lagerpetz, Olli  84 Lambert, Pierre  108 Lechner, Hans / Zuck, Rüdiger  431, 435 Legrand, P.  74 Lehner, Moris  315 Leisner, Anna  32, 56, 95, 179, 182, 184, 187, 289, 525 Leisner, Walter  359 Lembcke, Oliver W.  497 Lieber, Tobias  235 Lièvre-Gravereaux, Amélie  48, 121, 207 Lilie, Hans  421 Limbach, Jutta  84, 109, 231 Lindeiner, Fabian  549–550 Lombardi, L.  524 Lopez de Oñate, Flavio  33, 66 Loser, Peter  363

Personenverzeichnis Louven, Christoph  413, 418, 420–422, 424–425, 476 Lübbe, Christiane  401, 417, 429 Lübbe-Wolff, Gertrude  477 Luchaire, François  33 Luhmann, Niklas  55, 65, 84, 103, 228, 246, 249, 270, 492 Luzzati, Claudio  33, 89–90 MacCormick, Neil  126, 148–149, 216, 233–236, 273, 281, 576 Machado, Hugo de Brito  239–240, 254, 576 Machado Derzi  31, 34, 42, 44, 51, 60–62, 102, 123–124, 133, 136, 188–189, 193, 202, 209, 215, 220, 231–232, 270, 274– 275, 283, 312, 325, 337, 390, 395, 401, 408, 419–420, 456, 478, 483, 491–492, 503, 547, 550–551, 577 Maffini, Rafael  159, 222 Mainka, Johannes  195, 476 Maior Borges  30–31, 34, 88–89, 150, 175, 193, 209, 212, 262, 267, 300, 454, 530, 556, 573–574 Maneira, Eduardo  200 Marinoni, Luiz Guilherme  300, 302 Marmor, Andrei  93, 147, 192, 235, 239, 253, 271, 333, 352 Martins-Costa, Judith  37, 40, 304, 307–308 Mathieu, Bertrand  82, 219, 244, 560, 562 Medauar, Odete  35 Medeiros, Rui  491, 503 Medicus, Dieter  401 Mellinghoff, Rudolf  52, 56, 292, 308, 312, 314, 321–332, 334, 340–341, 359, 525 Mendes, Gilmar  431 Menke, Cassiano  202, 538 Menzel, Andreas  398 Mertens, Bernd  32, 40 Mezquita del Cacho, José L.  33, 82, 86, 106, 131, 244, 550, 577 Meßerschmidt, Klaus  40 Mayer, Mathias  50 Miranda, Jorge  33 Meyer, Joseph  32 Meyer, Wolfgang  490 Moderne, Franck  33

639

Möllers, Christoph  180 Moes, Christoph  73, 437, 447–449, ­486–487 Möstl, Markus  84, 109–110 von Mohl, Robert  32, 243 Molfessis, Nicolas  41, 48, 79, 401–402, 410, 416–417, 504 Moreira Alves, José Carlos  297 Muckel, Stefan  162, 172, 178–179, 182, 188, 314, 325, 341, 383 Müller, Jörg Peter / Seer, Roman  73, 435, 448–449, 478–479, 484, 486 Müller-Grune, Sven  392 Muñagorri, Ignacio / Pegoraro, Juan  63 Münch, Christof  39, 54, 105, 146, 257, 291, 315 Navarro Coêlho, Sacha Calmon  199, 294, 350, 389, 396, 525, 530 Nelles, Marcus  574, 576 Neumann, Franz  54 Neves, Marcelo  217, 270 Novaes, Jorge Reis  33 Novoa, César García  33, 36, 39, 63, 68–69, 71, 92, 98, 100–101, 105, 109, 137, 206, 216, 239, 244, 249, 253, 256, 271, 323, 359, 361, 559, 562–563 Nozick, Robert  573 Offe, Claus  84 Ortmann, Andreas  476 Ossenbühl, Fritz  37–38, 43, 195, 314, 318, 321–322, 325, 328, 340, 344, 383–386 Ost, François  34, 43, 48, 228, 232, 249, 288–289, 413, 525–526 Pacteau, Bernard  33, 126, 249, 411, 431 Palombella, Gianluigi  36, 112, 124, 231, 282, 573 de Paola, Leonardo  540 Passaglia, Paolo / Pizzorusso, Alessandro  56, 164, 196 Paulsen, Leandro  58, 102, 239, 510, 521 Peces-Barba, Gregório  33 Peczenik, Aleksander  162, 244, 285, 292, 575 Peine, Franz-Joseph  539 Perez, Jesus Gonzales  399

640

Personenverzeichnis

Perez Luño, Antonio Enrique  29, 31, ­33–34, 48, 68–69, 87–88, 101, 112, 121, 126, 244–245, 247, 250, 361, 367, 507, 559, 563 Pessoa, Fernando  246, 581 Pessoa de Mendonça, Maria Luiza Vianna 201 Petermann, Franz  83–84 Petit, Jacques  297 Pezzer, Heinz-Jürgen  32, 338 Pfersmann, Otto  87, 130, 160 Philippe, Xavier  131, 560 Pieroth, Bodo  318, 354, 365 Pieroth, Bodo / Schlink, Bernhard  186 Pohl, Heike  138, 191, 422 Preiser, Friedrich  270 Püttner, Günter  385 Rabello Filho, Francisco Pinto  200, 519 Rabinowicz, Wlodek  570 Racine, Jean-Baptiste / Siiriainen, Fabrice  50, 54, 101–102, 109 Radbruch, Gustav  81, 86, 103, 552, 574 Raitio, Juha  33, 281 Randak, Michael  391 Rawls, John  54, 86, 151, 324, 333 Raz, Joseph  33, 54, 123, 149, 156, 175, 186, 245, 248, 251, 256, 271–272, 291, 333, 352, 382, 432, 507, 510 Reale, Miguel  33, 56, 83, 88, 149, 172, 328, 552 Recasens Siches, Luis  81, 87, 149 Redor, Marie-Joële  181 Reinhardt, Michael  190, 539, 545 Reis, Patrice  244 Ribeiro, Ricardo Lodi  34, 236, 275, 283, 389, 475, 519 Riggert, Rainer  545 Ripperger, Tanja  84 Riva, Enrico  172, 302 Robbers, Gerhard  576 Rocha, Sérgio André  275, Rocha, Valdir de Oliveira  394 Romagnosi, Giandomenico  210 Rorive, Isabelle  401, 409 Roth, Thomas  512 Rosa, Hartmut / Scheuermann, William  43 Roubier, Paul  33, 77, 150, 243

Rudolf, Walter  63 Rümelin, Max  32, 52, 81, 149, 159, 245, 247, 552, Sachs, Michael  431, 435 Sangmeister, Bernd  447 Sarlet, Ingo Wolfgang  109, 158, 191 von Savigny, Friedrich Carl  32, 210, 257 Schachtschneider, Karl Albert  174, 367, 379 Schauer, Frederick  106, 284, 433, 528 Scheffelt, Michael  405 Schmidt, Reiner  55 Schmidt-Aßmann, Eberhard  55, 197 Schoch, Friedrich  55 Scholz, Franz  9, 32 Schoueri, Luís Eduardo  34, 37, 179, 201, 205, 282, 332, 380 Schrimm-Heins, Andrea  29, 32, 53, 64, 82, 83, 85, 580 Schütz, Anton  84 Schwarz, Kyrill-Alexander  58, 195, 307, 312, 314, 325–326, 332, 335, 340–341, 344, 384–385, 392–393, 397 Schweer, Martin / Thies, Barbara  84 Seabra De Moura, Frederico Araújo  203, 258 Seer, Roman  73, 429, 435, 437, 447–449, 471, 478–479, 484, 486–487, 489, 497, 505–507 Seiller, Bertrand  213–214 Sendler, Horst  36, 39, 41–43, 56, Seyfarth, Georg  410, 473, 495 Silva, José Afonso da  105–107, 297 Silva Velloso, Carlos Mário  296 Smith, Eivind  156, 238 Sobota, Katharina  68, 130, 173–174, 223, 553, 556 Sommermann, Karl-Peter  577 Sousa, Rubens Gomes de  262 Stelzer, Manfred  50, 57 Stern, Klaus  174 Stötzel, Martin  34–35, 42, 48, 61, 298, 316, 318, 322, 325–329, 333, 348–349, 359, 362, 364, 399 Summers, Robert  148, 175, 177, 251, 433, 479, 576 Sunstein, Cass  572

Personenverzeichnis Sypnowich, Christine  248 Szczekalla, Peter  50, 445 Tamanaha, Brian Z.  36, 148, 175, 378, 470, 529 Theodoro Júnior, Humberto  301 Tipke, Klaus  447, 489 Torres, Ricardo Lobo  34, 84, 88–89, 107, 109, 118, 123, 125, 150, 155, 179, 204, 212, 215, 236, 260, 274–278, 283, 289, 390, 509, 537, 560, 574, Troper, Michel  177 Uecker, Stefan  53 Uhlrich, Hanns  149, 184 Urbina, Sebastián  176 Valembois, Anne-Laure  33–35, 37, 39–44, 56, 59–60, 62, 69, 71, 93, 101, 103, 127, 138, 149–150, 160, 169, 175–177, 181, 190, 195, 204, 208, 215, 222–224, 244– 245, 248–249, 253, 257, 272, 285, 508, 525, 544, 557–558, 560, 563, 578 della Valle, Eugenio  41, 191, 244, 257, 329, 388 Valverde, Gustavo Sampaio  300 Vedel, Georges  101–102 Vieira, José Roberto  83, 248 Vieira de Andrade, José Carlos  513 Viets, Bodo  114, 426 Villa, Vittorio  93

641

Villegas, Héctor  83, 152, 550 Vogel, Klaus  60, 186, 367, 381 Vonkilch, Andreas  131, 155, 408–409, 502, 505 Waldhoff, Christian  95, 367, 412, 448, 478, 504 Waldron, Jeremy  33, 151, 174, 200, 413, 490 Wallerath, Maximilian  540–542 Watt, Horatia Muir  401, 482 Weber, Max  54, 296 Weber-Dürler, Beatrice  296, 328, 331, 336, 341, 343 Weinberger, Ota  91 Wetzel De Mattos, Sérgio Luiz  509, 512 Wiedemann, Herbert  31, 184, 240 Wissmann, Hinnerk  40 Xavier, Alberto  58, 100, 122, 131, 274 Yannakopoulos, Constantin  172 Zanella di Pietro, Maria Sylvia  72, 131, 154, 168, 290, 292, 294, 329–330, 390, 392 Ziegler, Christoph Eduard  545 Zilvetti, Fernando Aurélio  100 Zimmer, Willy  114, 173, 244, 272, 361, 526, 560 Zuck, Rüdiger  431, 435

Sachverzeichnis Aktivität des Staates – Finanzielle Aktivität des Staates ​ ­203–204 – Interventionstätigkeit des Staates  205 Allgemeinheit  58, 175 Amtsblatt 546 Analogie, Analogieverbot  261 Änderungsentscheidung 403 Anhörung  197, 504, 514 Ankündigung 323–324 Antinomien 267 Antragstellung 510 Argumentation  216, 280 Argumentationslast 348 Argumentationsstrukturen 241 Aufhebung  132, 303–304 Ausbleiben eines Schadens  306 Auslegung  91–92, 111–112, 122–126, ­140–145, 235–236, 278–280, 531–532 – argumentative Konzeption  112, 141, 276 – objektivistische Konzeption  111, 140 Ausnahme 270 – natur des Falls,  493 Autonomie – individuelle  192, 221 – föderative 259 Befehl  378, 432 Begriff 274 – nicht-klassifikatorischer Begriff  141 Begründung 282 Bekanntgabe, Bekanntmachung (s. a. Normative Zugänglichkeit)  255, 567 Berechenbarkeit  102, 214, 229, 246, 258, 516, 600 Beständigkeit  61, 288–289 – anspruch  325–327, 419–425 Bestehen (s. a. Materiale Erkennbarkeit) ​ 253 Bestimmbarkeit  100,141, 273 Bestimmtheit  57, 74, 100, 140, 212–217

Beweis 234 Bürger  127–128, 129–130 Dauer der Rechtsordnung (s. a. Normstabi­ lität und Wirksamkeit)  290–293 – durch Bewahrung der Gehalte  290–291 – durch Bewahrung der Normen  291–293 Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung, siehe Dauer der Rechtsordnung Dauerschuldverhältnisse 359 Dezisionismus 199 Diskontinuität 34 Diskurs  93, 282 Effektivität des Rechts  228, 350 Eingetretener Tatbestand  302–303 Endgültigkeit 326 Entscheidung – ad hoc 234 Entscheidungswirkungen  431, 468 Erkennbarkeit  212, 229, 245, 258, 599 – Materiale 253–270 – Intellektuelle 271–285 Ermessen  446, 534, 541 Erwartungen 308 Ewigkeitsklauseln (s. a. Dauer der Rechtsordnung) 290–291 Exekutive 540–543 Flexibilität 55 Freiheitsrechte 183–185 Fristen  293–294, 322 Gehör, rechtliches  197 Geltung, siehe Materiale Erkennbarkeit Generalklauseln 39 Gerechtigkeit 573–577 Gerichtsverfahren 139 Gesetzblätter, siehe Verkündungsblätter Gesetzesänderung 352–382 Gesetzmäßigkeit  142, 199

Sachverzeichnis Gestaltungssicherheit 253 Gewissheit  60, 140–141 Gleichheit 189–190 Gleichheitssatz 189 Grundlagen der Rechtssicherheit – Unmittelbare 167–173 – Mittelbare, durch Deduktion  173–193 – Mittelbare, durch Induktion  193–206 Grundrechte 129 – als Abwehrrechte  488 – Eingriff 488 Handlungsfreiheit, allgemeine  199, 445–446 Harmonisierung 531 Haushaltsplanung 476 Hinweis  332, 573 Individualisierung 40 Individualität 335 Information (s. a. Mitteilung )  35, 99, ­156–157, 271–272, 508, 513 Inhaltsbestimmbarkeit (s. a. Verständlichkeit) ​273–284 Inhaltssicherheit 271 Instabilität 34 Interpretation – als argumentationsbedürtige Aktivität ​ 122, 126 – als Bezeichnung eines Gegenstands  121, 125 – Probleme der Interpretation  234 – verfassungskonforme 484 Ius certum  31 Judikative 543–547 Klarheit 271–272 Kodifizierung (s. a. Normative Reichweite) ​ 256–257 Kohärenz  233, 284–285 Kommunikation 251 Kommunikationsfreiheit 176 Kompetenzen  165–167, 262 Komplexität  34–35, 37–40, 44, 50, 55 Konsistenz 285 Konsolidierung der Situationen – faktische Konsolidierung der Situationen  303–306

643

– rechtliche Konsolidierung der Situationen  296–303 Kontinuität 524–526 Kontrolle – abstrakte  223, 268, 301, 311, 319 – der Verfassungsmäßigkeit  431–468 – diffuse  224, 269, 419 – konkrete  268–269, 300–302, 311, ­319–320 – konzentrierte  223, 418 – rationale  141, 216, 232, 235 Kontrollierbarkeit staatlichen Handels  238 Legalität  100, 273–276 Legitimation  277, 282 – für direkte Aktionen  205–206 Legislative 534–539 Logik des Rechts  486, 492 Lücken, Lückenschließung, siehe Analogie Mäßigung  584, 585 Menschenwürdeprinzip 190–193 Metadiskurs  282, 582 Methode – analytische 66 – anthropologische 83 – dogmatische  65, 66 – historische 64 – ökonomische 84 – philosophische  65, 84 – politische  65, 84 – psycologische 83 – soziologische  65, 84 Mitteilung (s. a. Information, Stellungnahme) 161 Moderationsprinzip 381 Möglichkeit der normativen Identifikation  265–270 Moral, siehe Werte Ne bis in idem  197, 510, 514 Nichtigkeit  385, 399–400, 431 Nichtigkeitserklärung 436–450 Norm, Normen – Allgemeine, siehe Normative Reichweite – Anwendbare, siehe Möglichkeit der normativen Identifikation

644

Sachverzeichnis

Normative Reichweite  256–265 Normative Zugänglichkeit  253–256 Normativität – klarheit, siehe Klarheit – kontrolle, siehe Kontrolle Normstabilität  290–507, 290 Normverständlichkeit  271, 276 Nulla poena sine lege  159, 199–200, 225 Oberprinzip  556, 607 Objektivität – diskursive 92 – semantische 92 Öffentlichkeitsprinzip 196 Ordnung, Rechts  113–115, 284–285 Ordnungsfunktion 96 Orientierungssicherheit 68 Paradoxien,  38, 40, 41, 43, 48, 50, 53, 54, 62, 93, 99, 102, 108, 159, 235, 237, 319, 323, 427, 486, 508 Prinzipien – Demokratieprinzip 181 – Gleichheitsprinzip 189–190 – Menschenwürdeprinzip 190–193 – Öffentlichkeitsprinzip 196 – Prinzip des budgetären Dispositionsschutzes 478 – Prinzip der funktionalen Gewalten­ teilung 180 – Prinzip der Gewaltenteilung  180 – Prinzip der Verlässlichkeit der Haushaltsplanung 476 – Prinzip des Eigentumsschutzes  181–183 – Prinzip des Familienschutzes  188 – Prinzip des Freiheitsschutzes  185–188 – Prinzip des sozialen Rechtsstaats ​ ­178–180 – Prinzipien der Berufsfreiheit und der freien wirtschaftlichen Betätigung ​ ­183–185 – Rechtsstaatsprinzip 173–178 – Sittlichkeitsprinzip 193–195 – Verfahrensprinzipien 196–197 – Wirksamkeitsfunktion – abgeleitete integrative  557–558 – abschirmende  558, 607 – definitorische  555–556, 607

– integrative  607, 608 – interpretative  556–557, 607 – neugestaltende  557, 559–561 – stützende 558–559 – ursprüngliche integrierende  561 Privat– autonomie 241 – recht  241, 261 Prospective overruling 461 Rationalität 233 Recht – als diskursive Aktivität  583 – als eines vorgegebenen Gegenstands  582 Rechts – anwendungsgleichheit 189 – Argumentative Rechtsauffassung  126 – gewissheit 140–141 – idee 103–104 Rechtsarbeiter 130–131 Rechtsauffassung – Argumentative 126 – Objektivistische 125 Rechtsbegriffe  39, 230 – nichtklassifikatorische 230 – unbestimmte 39 Rechtskraft 299–302 Rechtsnorm, Rechtsnormen – befristete 77–78 – Begriff 88 – Inkrafttreten 353 Rechtsordnung 113 Rechtsprechungsänderung 400–431 – Begriff 402 – rückwirkende 410–418 Rechtssicherheit – als definitorisches Element  85–87 – als Ergebnis der Rechtsidee  103–104 – als Ergebnis positiven Rechts  104–105 – als Fiktion  100 – als Illusion  58, 67, 100 – als Metanorm  586 – als Mythos  67, 100 – als Normprinzip  88–99 – als Oberprinzip  556–561 – als Protoprinzip  579 – als Regel  586 – als Tatsache  87

Sachverzeichnis – – – – – –

als vermittlungsprinzip  226, 610 als Wert  87–88 Begriff  229, 579, 585, 598, 601, 611 Begriffsbestimmung 211–238 Definition 229–239 Dimension – Dynamische 287–551 – Statische 251–287 – Finalistische Aspekte  99–152 – Grundlage – Mittelbare 173–206 – Unmittelbare 167–173 – Instrumentelle Aspekte  152–155, 226, 583 – Normative Funktion  555–563 – Normative Kraft  563–573 – Objetiver Aspekt  113–126 – Quantitativer Aspekt  140–147 – Rechtfertigungsaspekt 147–152, ­226–239 – rhythmische Sicherheit  524–526 – Sachlicher Aspekt  99–113 – Sicherheit, nicht juristisch verstanden ​ 82–85 – Sicherheit der Wirksamkeit  519–524 – Steuerrechtssicherheit  239–242, 475 – Strukturelemente 99–103 – Subjektiver Aspekt  126–133 – und Gerechtigkeit  573–577 – und Staatszwecke  577–580 – Verwirklichungssicherheit 507–516 – Zeitlicher Aspekt  134–139 Rechtskonzeption – argumentative 74 – objektivistische 74 Rechtsordnung  219, 284 – Dauer der  290 – durch Bewahrung der Gehalte  290 – durch der Bewahung der Normen ​291 – Kohärenz der  284 – Konsistenz der  285 Rechtsschutz 510 Rechtsprechungsänderung (s. a. Vertrauensschutz und Judikative) 400–431 Regeln – Ergänzungsgesetzvorbehalt 202–203 – Gesetzmäßigkeit 199–200 – Rückwirkungsverbot 201

645

– Verbot einer Abgabe mit Konfiskationswirkung 202 – Verfassungsänderungsverbot 198 – Vorzeitigkeit 200–201 – Übergangsregeln 524–526 Reichweite (s. a. Materiale Erkennbarkeit) 253–270 Respektabilität des Steuerzahlers  579 Richter – Unabhängigkeit  466, 510, 512, 540, 543 Risikogesellschaft 43 Rücknahme, siehe Aufhebung, Verwaltungsakt Rückwirkung 367–375 – Rückbewirkung von Rechtsfolgen ​ ­367–369 – Tatbeständliche Rückanknüpfung ​ ­369–374 – Vorveranlasste Sachverhalte  374–375 Rückwirkungsverbot  201, 355–366 Schwesterprinzipien  71, 573 Sicherheit – der Normanwendung  116–117 – der Rechtsordnung  113–115 – des eigenen Handels  117 – des Handels einer Drittperson  118 – durch die gesetzgebende Gewalt  131 – durch die rechtsprechende Gewalt  133 – durch die vollziehende Gewalt  132 – einer Norm  115–116 – Faktische Sicherheit  119 – für alle Bürger  127 – für den einzelen Bürger  127 – für den Staat  128 – Verhaltenssicherheit 117–119 – Wert der – mit funktionalem Wert  147 – mit instrumentellem Wert  148 – Wissenschaftliche Sicherheit  120–121 Sittlichkeitprinzip 193–195 Solidarität 577–580 Souveränität 259 Sozialstaatprinzip 577–580 Staat – Rechtssicherheit für den Staat  128–129 Staatszwecke 577–580 Stabilität (s. a. Normstabilität) 55–56

646

Sachverzeichnis

Steuerrechtssicherheit – Begriff 239 – Definition 241–242 – schützende Funktion  239 Stimmigkeit, siehe Konsistenz System 148 Systemgerechtigkeit, siehe Kohärenz Tatbestand 302 Transitionales Recht  78, 79 Transparenz  181, 217, 237–239 Treu und Glauben  305–306, 322, 330, 392, 398, 541–542 Typisierung  128, 260 Typus 274 Übergang – von der Gegenwart in die Zukunft ​ ­516–551 – von der Vergangenheit zur Gegenwart ​ 290–516 Unantastbarkeit 293 – durch Ablauf der Zeit  293 – durch Ausbleiben eines Schadens ​306 – durch faktische Konsolierung der ­Situationen  303 – durch rechtliche Konsolidierung der Situationen 296 Ungewissheit (s. a. Gewissheit)  34–35, 38, 52, 76 Übergangsrecht 77–78 Unsicherheit (s. a. Sicherheit) 146 – Ursachen – geringe 146 – gesellschaftliche 35 – große 146 – juristische 49 – rechtswissenschaftliche 57 Unveränderlichkeit 101–102 Unvereinbarkeit 458 Vagheit  40, 66 Variation von Entscheidungswirkungen – Durch das deutsche Bundesverfassungsgericht 436–449 – Durch den Obersten Bundesgerichtshof in Brasilien  450–493 – im Allgemeinen  468–474

– im Steuerrecht  474–493 – Voraussetzungen der Entscheidung mit Wirkung pro futuro  493–507 Verbot einer Abgabe mit Konfiskationswirkung 202 Verfahren – behördliches  117, 139 – gerichtliches  117, 139 – die zumutbare Dauer des Verfahrens ​ 547–549 – Prinzipien 196–197 Verfassungsänderung 198–199 Verfassungsbeschwerde 205 Verfassungsprinzipien, siehe Prinzipien Verfassungswidrigkeitserklärung 450–457 – fälle der abgemilderten Verfassungswidrigkeitserklärung 457–458 Verhalten  152, 219 Verhältnismäßigkeit 277 Verjährung 295–296 Verkündung 131–132 Verlässlichkeit  101–102, 213, 229, 245, 258, 599 – Normverlässlichkeit 290–516 Vernunftigkeit  101, 113 Veröffentlichung (s. a. Normative Zugänglichkeit) 253–255 Versprechen  288–289, 348–352, 378–379 Verständlichkeit – durch Normbestimmbarkeit  272–287 – durch Normklarheit, siehe Norm­ verständlichkeit 271 – Inhaltsbestimmbarkeit  273–284 – Sprachliche Klarheit  272 Vertrauen 340–341 – Ausübung des Vertrauens  344–352 – Enttäuschung des Vertrauens  344 – Gestaltungskriterien 319–340 – Regeln für die Anwendung des Vertrauens­schutzprinzips  350 – Vertrauensgrundlage 313–340 – Vertrauensschutz, allgemeine Bemer­ kungen ​307–312 – Vertrauensschutz und Legislative, siehe Gesetzesänderung – Vertrauensschutz und Exekutive  383–400 – Vertrauensschutz und Judikative, siehe Rechtsprechungsänderung

Sachverzeichnis Verwaltungsakt 391–396 – Aufhebung  132–133, 303–306 Verwaltungspraxis 390–391 Verwaltungsverträge 397–398 Verwirkung 293–295 Verwirkungssicherheit 507 Vollendete Rechtshandlung  298 Vorhersehbarkeit (s. a. Berechenbarkeit) ​ 102–103 Vorrang der Verfassung  261 Vorrang des Gesetzes  540 Vorzeitigkeit  200–201, 519–524 – des Finanzjahrs  519–522 – von neunzig Tagen  522–523 – Zumutbare Vorzeitigkeit  523–524 Wechselwirkung 247 Wert 87 Widerruf, siehe Aufhebung Widerspruchsfreiheit, siehe Kohärenz, Konsistenz

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Widerstandscharaketer  239, 611 Willkür, Willkürverbot  235, 527, 549–551 Wirksamkeit – prima facie  564–570 – pro tanto  570–571 – strukturelle Bedingung  572–573 Wirksamkeitsfunktion der Prinzipien, siehe Prinzipien, Wirksamkeitsfunktion Wirtschaft 183–185 Wohlerworbenes Recht  172–173 Zeit, siehe Zeitlicher Aspekt der Rechts­ sicherheit – Moment der Feststellung oder Voraus­ sage der Rechtssicherheit  139 – Moment der Verwirklichung der Rechtssicherheit (Gestern, Heute und Morgen) ​ 134–138 Zugänglichkeit  253–256 Zugehörigkeit 264–265