Theodor Geiger - Soziologie der Erziehung: Braunschweiger Schriften 1929 - 1933 [1 ed.] 9783428472918, 9783428072910


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Theodor Geiger - Soziologie der Erziehung: Braunschweiger Schriften 1929 - 1933 [1 ed.]
 9783428472918, 9783428072910

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KLAUS RODAX

Theodor Geiger - Soziologie der Erziehung

Soziologische Schriften

Band 56

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Rodax, Klaus:

Theodor Geiger - Soziologie der Erziehung : Braunschweiger Schriften 1929 - 1933 I von Klaus Rodax. - Berlin : Duncker und Humblot, 1991 (Soziologische Schriften ; Bd. 56) . Zugl.: Passau, Univ., HabiL-Sehr., 1990 ISBN 3-428-07291-X NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-07291-X

Theodor Geiger Soziologie der Erziehung Braunschweiger Schriften 1929 -1933

Von

Dr. Klaus Rodax

Duncker & Humblot · Berlin

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .

11

TEILA Klaus Rodax

Soziologie im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Ideologiekritik Theodor Geiger als Professor der Soziologie mit einem besonderen Auftrag für die Soziologie der Erziehung an der Technischen Hochschule Braunschweig 1928 bis 1933 1. Ausgangsüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

2. Biographie . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

3. Berufung an die Technische Hochschule Braunschweig, Lehr- und Forschungssituation, Entlassung . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

4. Position innerhalb der frühen deutschen Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

5. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der allgemeinen Soziologie .. .. .. . .. .. .. .. .

137

6. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der Soziologie der Erziehung . . . . . . . . . . . . .

183

7. Kritische Würdigung . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 238

8. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

6

Inhaltsverzeichnis

TEIL B Theodor Geiger

Programmatische Grundlegung und Einteilung der Soziologie der Erziehung Soziologie und Erziehungswissenschaft. Programm einer Soziologie der Erziehung

317

Erziehung als Gegenstand der Soziologie. Systematischer Zweig . . . . . . . . .. . . . .. . . 331

Systematischer Zweig Die erzieherische Bedeutung der Familie in der Gegenwart (Aus dem Nachlaß)

353

Hat Braunschweig Bekenntnisschulsystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

Über Schulrechtsfragen (Aus dem Nachlaß) . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384

Bericht an die 8. Abteilung (Aus dem Nachlaß)

394

Denkschrift über die Reform des Studienplans für Erziehungswissenschaften (Aus dem Nachlaß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

Über die Ausbildung der Volksschullehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

Klassenlage, Klassenbewußtsein und öffentliche Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432

Die gesellschaftliche Bildungsaufgabe der kaufmännischen Schule . . . . . . . . . . . . . . . 450

Schlußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469

Möglichkeiten gesellschaftlicher Bildung durch die Schule (Aus dem Nachlaß)

473

Inhaltsverzeichnis Weltanschauung und Schule

7 490

Schulpflicht, Arbeitsmarkt und Wirtschaftsdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 l

Historischer Zweig

Bürokratismus und Erziehung . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . ... . . . . . . . 512

TEIL C (Anhang) Der Freistaat Braunschweig

559

Verzeichnis der Übersichten Übersichten im Teil A Übers. 1:

Stichwortartige Gegenüberstellung der alten und neuen Paragraphen der Prüfungsordnung von 1927 und 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

Übers. 2:

Lehrangebote Geigers an der VIII. Abteilung für Kulturwissenschaften der Technischen Hochschule Braunschweig für die Studienjahre 1929/30 bis 1933/34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Übers. 3:

Haupt- und nebenamtliche Fachvertreter mit der Lehrbefugnis ,.Soziologie" bzw. ,.Soziologie in Verbindung mit einer anderen Disziplin"

110

Übers. 4:

Rangordnung der namhaftesten Fachvertreter für Soziologie auf der Grundlage der Interviews Eubanks mit Freyer, Oppenheimer, Sambart, Spann, Tönnies, Vierkandt, Voegelin, A. Weber, von Wiese im Sommer 1934 ............................... . .................. . .. . ....

112

Übers. 5:

Geburtsjahrgänge der frühen deutschen Soziologen (Monat/Jahr) . . 114

Übers. 6a: Regional-universitäre Verteilung der frühen deutschen Soziologen (nach Name und Heimatuni_versität) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Übers. 6b: Regional-universitäre Verteilung der frühen deutschen Soziologen (nach Universitäten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . 118 Übers. 7:

Tönnies' typologische Unterscheidung von ,.Gemeinschaft und Gesellschaft" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Übers. 8:

Die Herkunftsmilieus der frühen deutschen Soziologen . . . . . . . . . . . . . 128

Übers. 9:

Politische Positionen der frühen deutschen Soziologen während der Weimarer Republik 1919- 1933 .. . . . . . ..... ............. ...... ... . ...

Übers. 10:

Lehrende, "ordentlich" emeritierte, zwangsemeritierte und emigrierte frühe deutsche Soziologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Übers. 11:

Geigers Anordnung der soziologischen Gesellungsgebilde . . . . . . . . . . 141

Übers. 12:

Universalistische und individualistische Gesellschaftsphilosophien

Übers. 13:

Entwicklung der Schichtstruktur der deutschen Gesellschaft in Geigers Frühschriften 1930- 1931 ... . .. . ... .. . . ........ ..... . .. . . . . 165

Übers. 14:

Begriffliches Analysekonzept in ,.Die soziale Schichtung des deutschen Volkes" (1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124

131

148

168

Verzeichnis der Übersichten

9

Übers. 15:

Roh- und Tiefengliederung des Lagerungsbildes in "Die soziale Schichtung des deutschen Volkes ( 1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Übers. 16:

Lagerungs- und Schichtungsbild in "Die soziale Schichtung des deutschen Volkes (1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Übers. 17:

Gliederungssysteme zur allgemeinen Soziologie und Soziologie der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Übers. 18:

Anzahl, Vorbildung und Herkunft der Lehrerstudenten an der Technischen Hochschule Braunschweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

Übersichten im Teil B

.. ... ... .. ................. .... ..

Übers. 1:

Familie kontra nichtfamiliale Mächte

365

Übers. 2:

Stichwortartige Gegenüberstellung der neuen und alten Paragraphen der Prüfungsordnung von 1927 und 1929 · . . ... ..... . .. .. ... .. . . . . . .. . 394

Übers. 3:

Vertretung der Fächer im Studienplan

Übers. 4:

Voraussichtliche Zu- oder Abnahme der erwerbstätigen, nichterwerbstätigen und gesamten Bevölkerung im Deutschen Reich 1925 - 1939 503

Übers. 5:

Jahr der Einführung der Schulzeitverlängerung und Entlastung für den Arbeitsmarkt ................. . ....... . . .. .......... . .... .. . .. ...... 505

....... ............. ..... ....... 404

Übersichten im Teil C Übers. 1: Studiengesamtplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

568/569

Verzeichnis der Abbildungen Abbildungen im Teil A Abb. 1: Positive Wahlen der Gesprächspartner Eubanks untereinander.... .... ...

120

Abb. 2: Bildende Mächte in der Lebenswelt des jungen Menschen für seine Persönlichkeitsentwicklung . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Abb. 3: Synopse des Lehrplanentwurfs Geigers .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 206 Abb. 4: Geigers Grundüberlegungen zur Soziologie der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . 234 Abb. 5: Komponenten und Ebenen eines Strukturmodells der Sozialisationsbedingungen .......... ......... . .. . ... ....... . . . ... .. . . . ... ... . . . .... . . ... . .. . ..... 276

Abbildungen im Teil C Abb. 1: Die Lage des Freistaates Braunschweig 1929 .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . .. .. .. 560 Abb. 2: Bürgerliches Flugblatt gegen die Schulpolitik des Ministers Sievers im Landtagswahljahr 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576

Vorwort Sollte man mir die Frage stellen, warum ich denke, daß Biographie und Werk des Soziologen Theodor Geiger, die vielfältig miteinander verwoben sind, auch heute noch eine solide Grundlage für eine fruchtbare wissenschaftliche Auseinandersetzung sein können, so würde ich zuerst die enge, unprätentiöse Verknüpfung von theoretischer Fragestellung mit empirischer Tatsachenforschung nennen, auf die Geiger stets besonderen Wert gelegt hat, wenn es für ihn darum ging, gesellschaftlich bedeutsamen Sachverhalten auf den Grund zu gehen. Er legt deshalb "in allen seinen fachlichen Arbeiten Wert darauf', wie Torben Agersnap sicherlich zu recht hervorhebt, "daß man systematisch das Wissen über die tatsächlichen Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft sammelt. Theorien werden am Schreibtisch des Forschers entwickelt, aber sie müssen laufend mit der Praxis zusammengehalten werden." 1 Dies gilt hauptsächlich im Hinblick auf das mich auch von Anbeginn meines Studiums an fesselnde Thema der sozialen Ungleichheit in Gesellschaft und Erziehungswesen. Es sei an dieser Stelle nicht verhehlt, daß in diesem Zusammenhang mein ethischer Grundsatz stets gewesen ist: Eine Gesellschaft muß sich daran "messen" lassen, wie sie in erster Linie mit ihren benachteiligten Mitgliedein umgeht. In den letzten Jahren habe ich diese Spur weiterverfolgt und zu vertiefen versucht. Dabei spielten sicherlich die bedeutsamen Arbeiten Georg Simmels, Max Webers, Nobert Elias', Basil Bernsteins, Pierre Bourdieus, Melvin L. Kahns, Hartmut von Hentigs und natürlich Klaus Hurrelmanns auf ihre je verschiedene Art und Weise eine herausragende Rolle. Im Laufe der Beschäftigung mit diesen unterschiedlichen theoretischen Ansätzen veränderte sich zudem der vergleichsweise rigide Anspruch, den ich noch zu Beginn meines Studiums hatte, nicht indessen das geschärfte soziale Problembewußtsein und die Suche nach überzeugenden soziologischen Erklärungen im Bereich sozialer Ungleichheit. Vor allem das prekäre Spannungsverhältnis von Gesellschaftsstruktur (also die Struktur funktionaler sozialer Differenzierungen, die sich aus den wechselseitigen Beziehungen der zentralen gesellschaftlichen Teilsysteme ergibt, und die Struktur sozialer Ungleichheit, die insbesondere die vertikale Gliederung der Gesellschaft in Klassen und Schichten je nach der Verteilung der Güter, Rechte, Chancen und Privilegien im Blick hat) und Persönlichkeitsentwicklung von Heranwachsenden in ihrem Lebensumfeld schien mir nach wie vor erklärungsbedürftig. 1 Agersnap 1991, S. 13.

12

Vorwort

Meine erste intensive Begegnung mit Arbeiten Theodor Geigers hatte ich im Rahmen meiner soziologischen Forschungstätigkeit an der Universität Passau. Sein virulente soziale Probleme aufgreifender, an harten sozialen Tatsachen sich orientierender ideologiekritischer soziologischer Zugang versprach mir für meine empirische Arbeit im Bereich der sozialen Ungleichheitsforschung auf dem Felde der Bildungs- und Erziehungssoziologie wichtige methodologische Hinweise und Erkenntnisse. Darüber hinaus wuchs die Faszination noch im Rahmen meiner soziologischen Lehrtätigkeit in der Lehrer- und Magisterausbildung, die für mich von Geigers bedingungsloser Absage an jegliche weltanschauliche Indoktrination ausging. Sie schien mir nicht nur eine solide wissenschaftliche Plattform zu sein, Studentinnen und Studenten in bestimmte gesellschaftliche Problernfelder einzuführen, sondern zugleich auch außerordentlich aufschlußreich und bedeutsam für deren Umgehen mit heiklen sozialen und pädagogischen Problemen in ihrer alltäglichen Praxisarbeit zu sein. Gewiß, man hat Geiger in bestimmten Fachkreisen immer geschätzt, nie ganz vergessen, woran sicherlich Rene König und Paul Trappe einen entscheidenden Anteil haben. Namentlich Rene König hat mich auf meine Frage nach der Bedeutung Geigers für die deutsche Soziologie wissen lassen: "Leider muß ich Ihnen sagen, daß ich Geiger nicht persönlich gekannt habe, obwohl ich ihn für den bedeutendsten Soziologen deutscher Zunge von damals hielt. Wir haben uns aber niemals persönlich kennen gelernt. Darum kann ich wegen Ihrer Frage ... nur darauf verweisen, was ich vielmals im Druck und auch in Vorlesungen gesagt habe. Ich halte ihn nach wie vor für den bedeutendsten Soziologen deutscher Zunge."2 Und doch gilt er eher als "sociologicus minor". Zwar stehen während seiner Zeit in Deutschland in der ersten Reihe oft illustre Köpfe, mögen sie nun Hans Freyer, Wemer Sombart, Ferdinand Tönnies, Alfred Vierkandt, Alfred Weber oder Leopold von Wiese heißen- für das öffentliche, vielleicht auch zum Teil für das wissenschaftliche Bewußtsein, sind sie wohl weitgehend verblaßt Sie führen im Hades der Bibliotheken ein Schattendasein, empfangen noch gelegentlichen Besuch von Doktoranden und Habilitanden. Allenfalls für ein "name-dropping" bleiben sie gut. Wenn sie überhaupt noch Beachtung finden, erhalten sie den vielsagenden Titel "vernachlässigte Klassiker". Wenn einer von ihnen eine Renaissance erlebt, genügt daher nicht der Hinweis auf allfällige Qualitäten eines Klassikers. Er muß schon mehr vorweisen können, um seine Bedeutung zu rechtfertigen. Bei Geiger kommt noch hinzu, daß er sich so sehr auf die zentralen sozialen Themen seiner Zeit eingelassen hat, daß der soziale Wandel dieser Verhältnisse unweigerlich auch das Veralten seines soziologischen Zugangs nach sich ziehen könnte.

2 Persönliches Schreiben an den Verfasser von Prof. Dr. Rene König, Köln, den 12. September 1990.

Vorwort

13

Warum also ist Geiger gegenwärtig noch so bedeutsam? Und warum ist es so eminent wichtig, sich gerade auch mit seiner Soziologie der Erziehung wieder auseinanderzusetzen? Die nächstliegende Antwort, daß bedeutsam ist, was ein Wissenschaftler dafür hält, würde, obwohl sie sicherlich nicht ganz falsch ist, der ernsthaften Sache zu wenig angemessen sein. Gibt es seriösere Gründe? Da ist sicherlich der Reiz eines sich einstellenden Deja-vu-Erlebnisses bei der Lektüre der erziehungssoziologischen Schriften Geigers zu nennen. Dieses resultiert nicht aus der Kenntnis der Vergangenheit, die zum Filter würde, um in der gegenwärtigen Diskussion in der Erziehungssoziologie Altes von Neuern scheiden zu können. Es liegt wohl näher, es als Folge eines Wissens über den zeitgenössischen Forschungsstand zu betrachten, von dem aus in die Vergangenheit vorgedrungen und das Gegenwartswissen einer neuen Bewertung unterzogen wird. Es ist also keineswegs das Deja-vu der Langeweile, das das scheinbar Neue in Frage zieht, sondern das Deja-vu des Triumphes, welches verborgene oder offene Behauptungen der Erst- und Einmaligkeit Lügen zu strafen versucht.3 Dieses belehrende Vergnügen, die scheinbare Originalität aktueller Standpunkte zu dekuvrieren, bringt die Wissenschaftsentwicklung nur dann ein Stück weiter, wenn auch die Bedingungen sorgsam erwogen werden, warum Geigers erziehungssoziologische Schriften nach einer Periode der Vergessenheit und der Verdrängung erneut beachtenswert erscheinen. Er hat gewiß bereits vieles auf den Punkt gebracht, womit er der Forschung auf dem Feld der Soziologie der Erziehung zuvorkam. "Begegnet man auf diesem Wege aktuellen Erkenntnissen, die möglicherweise als neuartig angesehen werden, so kann man sich wohl nicht mit der obligaten Feststellung begnügen, daß 'alles schon einmal dagewesen' sei. Es sind die Bedingungen der Erkenntnis, die zeitbedingten Voraussetzungen des Wissens, die Spielräume der Wissenschaft und die auf die Speicherung und Verwertung einwirkenden Relevanzsysteme, die in solchen Begegnungen sichtbar werden und die zu kennen und zu systematisieren die Wissenschaftsentwicklung voranbringt. "4 Die These, daß Geiger in diesem Sinne einem bestimmten Bedarf dient, liegt da wohl am nächsten. Er wäre dann ein Zeitgeistgenosse über die Jahre hin, ein Wahlverwandter, der es vermochte, grundlegende Fragestellungen anzusprechen. Und tatsächlich läßt sich aus seinen Schriften zur Soziologie der Erziehung eine solche Wahlverwandtschaft durchaus ablesen. Sie macht, neben dem unmittelbaren historischen Interesse an diesen Schriften, ebenso neugierig auf die Motive der wählenden heutigen Zeitgenossen. Dies ist für mich vor allem die scharfe Kritik an jeglicher Weltanschauung in der Soziologie der Erziehung, wie sie überhaupt für sein übriges soziologisches Werk charakteristisch ist, auf3

Siehe dazu auch Plake 1987b, S. 12.

4 Ebd., S. 13.

14

Vorwort

grund faktischer sozialer Gegebenheiten in einer Gesellschaft, die ihn auch gegenwärtig nicht vergessen sollte. Insbesondere Geigers immer wieder bekundete Ansicht, daß die Zeit der Metaphysik, Ismen und "großen Systeme" vorbei sei, die jede Wissenschaft in einem Anfangsstadium durchmachen müsse und die im Bereich der Sozialwissenschaft erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihren Abschluß fand, hat mich besonders nachhaltig beeindruckt. Sie ist bei ihm natürlich in erster Linie auf das Lehrgebäude des Marxismus gemünzt, aber man möchte sogleich ergänzend hinzufügen, sie gilt ganz gewiß auch für die gegenwärtig sich reger wissenschaftlicher "Nachfrage" erfreuenden systemtheoretischen Konstruktionsmodelle Parsansscher oder Luhmannscher Provenienz. In dem Maße aber, wie eine Wissenschaft wie die Soziologie jedoch zur exakten Erforschung von Einzelfragen vordringt, das hat Geiger schon früh sehr klar gesehen und mit großem Nachdruck vertreten, wächst bei den ernsthaftesten Vertretern das Mißtrauen des empirischen Sozialforschers gegenüber geschlossenen, eine ganze Wirklichkeitsschiebt in großem Zusammenhang erklärenden Systemen. Hier liegt meines Erachtens auch der Schlüssel für Geigers Soziologieverständnis im allgemeinen und seine Auffassung von der Soziologie der Erziehung im besonderen. Dieser Sachverhalt ist bislang überhaupt nicht angemessen beachtet und gewürdigt worden. Diese ganz nüchterne, undogmatische Offenheit Geigers, die den Menschen und Wissenschaftler zeit seines Lebens auszeichnete, war es, die mich so beeindruckt hat. Nicht nur Geigers Zugang zu seiner Theorie sozialer Schichtung, die Vielfalt der Themen, die Nuanciertheit der Untersuchungsgegenstände und die differenzierten empirischen Ergebnisse zeichnen ihn vor manch anderen renommierten Soziologen aus, die weitgehend einem abstrakten Modelldenken verhaftet bleiben, sondern insbesondere auch sein scharfer ideologiekritischer Blick. "Erkennen heißt", wie er es schon früh in seinem Aufsatz "Die KulturAufgabe der Volkshochschule" (1921) auf den Punkt brachte und später vielfach wiederholt in ähnlicher Weise formulierte, "die Dinge objektiv aus ihrem eigenen Aufbau zu verstehen, nicht aus dem subjektiven Gefühl heraus deuten. " 5 Diese Auffassung zieht sich konsequent durch seine wissenschaftliche Begrifflichkeit ebenso wie durch seine ganz konkrete Sicht der sozialen Realität, für die Geiger wie wohl kein anderer ein seismographisches Gespür gehabt hat.

Geiger hat in seinen fachlichen Arbeiten immer entschieden darauf beharrt, daß man das Wissen über die tatsächlichen Verhältnisse in der Gesellschaft systematisch zum Gegenstand der Soziologie zu machen habe. Um sie erforschen zu können, bedarf man Begriffe und einer Theorie, aus der hervorgehen muß, wonach man sehen soll. Aber sie müssen laufend auf die Praxis bezogen wer5

Wieder abgedruckt in Weinberg 1984 (ZitatS. 57).

Vorwort

15

den. Man darf die Fahne der Theorie keineswegs so hoch hissen, daß dabei der Bodenkontakt verloren geht. 6 Er hält es hierbei für zwingend geboten, daß Forscher sorgsam zwischen faktischen Informationen und Wertungen zu unterscheiden haben. Sie sollten in erster Linie an den tatsächlichen Gegebenheiten interessiert sein und zu diesen Theorien entwickeln. Die Soziologie als Wissenschaft verdankt ihren Erfolg, daran hat Geiger keinen Zweifel gelassen und immer eisern festgehalten, der Konsequenz, mit der sie auf Glaubensartikel verzichtet und sich statt dessen an das hält, was für jedermann empirisch nachprüfbar oder zu erkennen ist. Wissen über die gesellschaftliche Wirklichkeit habe für ihn daher stets auf einer begrifflich-theoretisch gesteuerten Erfahrung zu fußen.

Geiger hat in diesem Zusammenhang immer am Geist der Aufklärung als Richtschnur seines Handeins als Forscher festgehalten, der auf die Belehrung durch größeres Wissen und die Lemf

8.

l

1890 -99

"Urenkel"

~

......

......

Rothacker 3/88 Stoltenberg 5/88

Heyde 2/88

Freyer 7/87

Brinkmann 3/85 Honigsheim 3/85

Jahn 2/85

Günther 3/81 Kelsen 10/81

1880 - 89

"Enkel"

Übersicht 5: Geburtsjahrgänge der frühen deutschen Soziologen [Monat I Jahr]

4. Position innerhalb der frühen deutschen Soziologie

115

"aristokratischen" Individuen ist untergegangen, und mit ihr jene gesellschaftliche Ordnung des 19. Jahrhunderts, die sie zum größten Teil noch bewußt erlebt haben und in der die soziologischen "Vorlahren" aufgewachsen sind. Allerdings erscheint es als ein bedeutungsvoller generationsbedingter Unterschied, ob dieser politisch-kulturelle Zusammenbruch der Welt des 19. Jahrhunderts- wohl ein zentrales Resultat dieses Krieges und der sozialen Revolution- den 64jährigen, emeritierten Geheimrat Ferdinand Tönnies trifft, oder den 27jährigen, gerade zum Dr. jur. promovierten Theodor Geiger, der nach dem Ende des "Großen Krieges" sein berufliches und intellektuelles Leben erst beginnt. 10 Aber das "Kriegs- und Revolutionserlebnis" bringt nicht nur eine Zäsur im Lebensverlauf mit sich: Als verbindendes, inhaltliches Moment bildet sich für Geiger wie für seine Generation ein nüchternes, gänzlich unromantisches, "soziologisches" Denken heraus. "Gerade mit und durch die existentielle Erlahrung der Zerstörung der Welt des 19. Jahrhunderts, der Vernichtung der Individualität, Bildung und Kultur in den Schützengräben oder auf den Straßen und Hörsälen nach dem ,Zusammenbruch', formierte sich ein Sinn für die neuen gegebenen Realitäten, ein Geist neuer Sachlichkeit', der weder Raum für die ,Altersromantik' der soziologischen ,Großväter', noch die ,Neoromantik' der ,Söhne' ließ. Weder das an die Haeckel-Zeit erinnernde ,Freidenkertum' eines fortschrittsgläubigen Tönnies, noch jene, etwa bei Sombart zu verzeichnende, romantisierende, theologische Färbung der Wirklichkeitsinterpretation überstand das ,Stahlgewitter' des Ersten Weltkrieges und die Trostlosigkeit der Niederlage." 11 Und erst deren Dekuvrierung macht den nüchternen Blick frei für die eigentliche soziologische Aufgabe einer gesellschaftlichen Erklärung sozialer Wirklichkeit. Die Lebensläufe der Generation der "Urenkel" zeugen jedenfalls von der tiefen Spur, die der Erste Weltkrieg bei ihnen in Biographie und Werk hinterlassen hat: Bei Boehm, Salomon-Delatour, Mannheim und Solms unterbricht er das Studium, Horkheimer und Meusel beginnen damit erst nach seinem Ende und Geiger, der sein Jurastudium noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges abschließen kann, hält er zunächst von der Promotion ab. Von da an allerdings gehen sie -mit Ausnahme Geigers - sämtlich jenen Weg der ,,klassischen" Stationen eines deutschen Universitätsprofessors: Promotion (Boehm 1914, Salomon-Delatour 1916, Geiger 1918, Mannheim 1918, Meusel1922, Horkheimer 1925, Solms 1927), Assistenzzeit bzw. Privatdozentur (Salomon-Delatour 1921, Meusel1923, Horkheimer 1925, Mannheim 1926; Solms 1932) und Übernahme einer Professur (Salomon-Delatour 1924, Meusel 1926, Geiger 1928, Mannheim 1930, Horkheimer 1931, Boehm 1933, Solms 1941). 12 tionsverbindenden Bedeutung lassen sich auch generationstrennende Erfahrungen herausarbeiten (vgl. dazu Käsler 1984, S. 472). w Siehe dazu Käs1er 1984, S. 471 ff. II Ebd., s. 473. 12 Ebd., S. 473. 8*

116

A. Soziologie zwischen Ideologie und Ideologiekritik

Innerhalb der akademischen Soziologie der ausgehenden Weimarer Republik nimmt Geiger zweifellos eine periphere Stellung ein. Hinzu kommt sicherlich die besondere Situation der Lehrerausbildung an der Technischen Hochschule in Braunschweig und ihre "Randlage" in der Soziologie unter den Hochschulen im deutschsprachigen Raum (vgl. Übersicht 6a bzw. 6b). Übersicht 6a: Regional-universitäre Verteilung der frühen deutschen Soziologen (nach Name und Heimatuniversität) Name

'•Heimatuniversität"

Adler

Wien U

Barth

Leipzig U

Boehm

Berlin HSfPol

Bortkiewicz

Berl i n

Breysig

Be r lin U

U

Brinkmann

Heidelberg U

Dunkmann

Berlin TH

Eckert

Köln U

Freyer

Leipzig U

Geiger

Braunschwei

Goldscheid

Wien U

Grünberg

Frankfurt U

Günther

Innsbruck U

Hartmann

Wien u

Hertz Heyde

Halle ll Kiel U

Honigsheim

Köln U

Horkheimer

Frankfurt u

Jahn

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Kantorowi c z

Freiburg u

Kelsen

Wien u

Koigen

Berlin u

Mannheim

Frankfurt u

Meusel

Aachen TH

Meuter

Köln u

Miche l s

Turin u

Oppenheime r

Frankfurt U

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176

A. Soziologie zwischen Ideologie und Ideologiekritik

Die als Folge dieser zweifachen wirtschaftlichen Bedrängnis drohende Möglichkeit seiner Proletarisierung, also die Gefahr, in abhängige Lohnverhältnisse abzugleiten, sucht der alte Mittelstand mit politischen und sozialen Forderungen zu begegnen. In Übereinstimmung mit seiner ökonomischen Lage will er die wirtschaftliche Krise und Bedrängnis weder im sozialistischen noch im spätkapitalistischen Sinne, sondern in einem aus seinen Traditionen und Bindungen verstehbaren "altkapitalistischen (individuell-kapitalistischen)" Sinne gelöst sehen. Ein "besitzständischer Altkapitalismus", der dem Einzelunternehmer sozialen Schutz gewährt, ist das Credo des in "altkapitalistischer Wirtschaftsromantik" befangenen bürgerlichen Eigentumsdenkens des mittleren und kleineren Unternehmertums. 104 Mit dieser Verteidigung der wirtschaftlichen Stellung geht zugleich die Verteidigung des Sozialprestiges der Schicht als solcher einher. War der alte Besitzmittelstand noch vor einigen Jahrzehnten die führende gesellschaftliche Macht, so ist seine jetzige Situation durch den "relative(n) Schwund seines sozialen Gewichts und Prestiges" gekennzeichnet, der mehr als die wirtschaftlichen Bedrängnisse seine "nervöse Gereiztheit" ausmacht. Demzufolge steht er in ständiger Verteidigung seiner wirtschaftlichen Bedeutung und seines sozialen Status' mit den Waffen einer "zeit-inadäquaten Ideologie" zwischen den Fronten der Großkapitalisten und des Proletariats, deren Klassenkampf um die zukünftige Wirtschafts- und Gesellschaftsgestaltung über ihn hinweggeht. 105 2. die Tagewerker für eigene Rechnung (Proletaroide), die als Heimarbeiter, Kleinbauern mit Nebenerwerb durch Lohnarbeit oder Industriearbeiter mit landwirtschaftlichem Nebenerwerb ihren Berufstätigkeiten nachgehen. Einerseits rekrutieren sie sich zum Teil aus dem alten Besitzmittelstand, sind aber abgeglitten und leben vielfach resigniert. Nach Einkommen und Lebenshaltung ist dieser Teil des Volkes vielfach der Industriearbeiterschaft gegenüber im Nachteil, und zählt darum zu den proletaroiden Existenzen. Zwar sind sie nicht lohnabhängig, aber sie unterscheiden sich im Hinblick auf Einkommen und Lebenshaltung keineswegs vom Proletariat. Als "Zwergbesitzer" halten sie weiter am Eigentumsdenken unbeirrbar fest, sind jedoch als soziale Absteiger sehr anfällig gegen radikale politische Parolen und bekunden eine sehr konservative Haltung in vielen Lebensfragen. Vor allem die Proletamiden des Handelsgewerbes weisen einen besonders hohen Prozentsatz beruflich vollkommen unqualifizierter, fast parasitär zu nennender Existenzen auf. Mentalitätsmäßig ist für diese Schicht, beispielsweise der Hausgewerbetreibenden, ein Typ mit einer Vereinigung ,,koservativste(r) Haltung und wildestem politischem Radikalismus" kennzeichnend; ihr Realismus ist im Gegensatz zu dem des Industriearbeiters sehr gering ausgebildet. 106

104

105 106

Geiger 193lh, S. 625 bzw. Geiger 1932c, S. 136. Geiger 1930c, S. 643 bzw. Geiger 1932c, S. 88 f. Ebd., S. 91.

5. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der allgemeinen Soziologie

177

Auch die allgemeine Bestimmung des Proletamiden weist in die gleiche Richtung. Besonders in bezugauf den Gegensatz zwischen vermeintlicher Selbständigkeit einerseits und einer denkbar schwachen wirtschaftlichen Stellung andererseits. "Der Proletaroide ist zwar rechtlich und arbeitsorganisatorisch ,Herr seines Arbeitslebens', d. h. er disponiert selbst über seine berufliche Leistung, ist nicht den Arbeitsanweisungen eines Patrons unterworfen. Das unterscheidet ihn vom Lohnproletariat Aber der Proletaroide teilt mit dem Lohnproletarier das Schicksal, daß er ,unter Angebots-Druck steht', d. h. von Tag zu Tag zur Reproduktion seiner Arbeitsleistung gezwungen, von der Hand in den Mund lebt. Der Betrieb steht auf seinen zwei Augen und liegt brach, wenn der Inhaber auch nur für Tage seine Tätigkeit unterbricht. Er arbeitet zwar für eigne Rechnung, aber auch er lebt, wie der Lohnarbeiter, wesentlich von der Veräußerung seiner Arbeitskraft." 107 Aber die Illusion der Selbständigkeit wird dadurch bestärkt, daß er sozusagen die Rollen sowohl des Arbeitgebers als auch des Arbeitnehmers selbst innehat. 3. den neuen Mittelstand der Angestellten, Beamten und freien Berufe, der, im Gegensatz zum alten Besitzmittelstand, eine im wesentlichen neue Erscheinungsform im Bevölkerungsautbau ist. Für den eigentlichen Kern des neuen Mittelstandes, der Angestelltenschaft, ist deren Selbstbewußtsein und Lebensauffassung, aber auch deren Lebenshaltung und -stil - vor dem Hintergrund ihrer Abhängigkeit von dauernder Reproduktion des Lohnverhältnisses - in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen bedingt die ökonomische wie die soziale Vielfalt des neuen Mittelstandes, der dem Altproletariat der Industrie als "neues Proletariat der Schreibstuben" zur Seite trat, daß er, soll er einer Schicht entsprechen, in seinem neuen Sozialstandort erst noch eine standort- oder lagegemäße Mentalität und Haltung entwickeln bzw. sich in seiner neuen Soziallage erst noch zurechtfinden und ein eigenes Selbstverständnis herausbilden muß. Bis dieses, der eigentlichen wirtschaftlich-sozialen Stellung als Lohnabhängige gemäße Standortbewußtsein aber, als Voraussetzung ideologischer Formierung und solidarisch-kollektiven Handelns, alle Angestellten erfaßt hat, werden zum anderen die Angestellten als größter Teil des neuen Mittelstandes noch ihren unterschiedlichen traditionellen Vorstellungen und Ideologien treubleiben und zu keiner gemeinsamen schichttypischen Mentalität und Daseinsauffassung gelangen können. Was die Beamten als erheblichen Teil des neuen Mittelstandes betrifft, seien sie, ebenso wie die freien Berufe, "nicht ganz einwandfrei unterzubringen". Ihre ökonomische Sonderstellung liegt in der "Anwartschaft auf Alters- und Hinterbliebenenversorgung" begründet, in ihrer sozialen Sonderstellung, im Anteil an der staatlichen Macht, den jeder noch so kleine Beamte besitzt. So sind sie weder eine Klasse, kaum ein Stand, "sondern - namentlich in unserer bürokratisch 107

Ebd., S. 31 bzw. Geiger 1933d, S. 409 f.

12 Rodax

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A. Soziologie zwischen Ideologie und Ideologiekritik

belasteten deutschen Welt- fast eine Kaste", deren stark angewachsene untere Lagen, funktionell den kleineren Angestellten nahestehend, verzweifelt ständische Haltung und Prestige zu verteidigen suchen, seit der alte Beamtenstaat der Klassengesellschaft weichen mußte und mit ihm die gesellschaftliche Macht und Stellung der Beamtenschaft insgesamt schwand. 108 Die akademisch ausgebildeten Beamten dagegen stellen zusammen mit den freien Berufen wie Rechtsanwälte, Ärzte, freie Schriftsteller und der ebenfalls überwiegend in wirtschaftsfernen Bereichen tätigen Intelligenz den "Stand der Gebildeten", der durch besondere Leistungsqualifikationen und gutes Einkommen begünstigt, dennoch nicht ganz den verlorenen ,,Anspruch auf Führung in Staat und Kultur" verschmerzen kann und diesen Verlust insbesondere in Kreisen der freien Berufe durch ein Streben nach "bildungsständischer Geltung" kompensieren will. In der bürgerlich-ständischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zum Berufsstand verschmolzen, ist der "Stand der Gebildeten" ein "berufsständisches Relikt in der Klassengesellschaft", das sich innerhalb des neuen Mittelstandes "ein gemeinsames akademisches Standesbewußtsein" bewahrt hat. Als eigentlich historischer Kern des neuen Mittelstandes ist er die Bevölkerungsgruppe, die einen wirklichen substantiellen Positions- und Geltungsverlust im gesellschaftlichen Übergang zum Spätkapitalismus zu verzeichnen hat. 109 Über die Hälfte der gesamten Angestellten und Beamten zählt zu den kaufmännischen und verwaltenden, von denen insbesondere die einfachen Büroangestellten, "ein graues Heer" branchenindifferenter, meist wenig qualifizierter Lohnabhängiger, sich die Bezeichnung "Stehkragenproletarier" zugezogen haben. In ihrem sozialen Selbstverständnis noch unsicher, ohne aus ihrer neuen Lage erwachsener geistiger Orientierung und berufsständischer Konsolidierung, entwikkelt das Handels- und Büroangestelltentum, in Anlehnung an das Beamtenturn mit dessen Berufswelt es äußerlich Gemeinsamkeiten verbindet, ein ausgesprochenes "Bildungsstreben". Dieses zieltjedoch oft aufbillige Imitation der Kulturwelt und der Wertvorstellungen des gebildeten Bürgertums ab bzw. erschöpft sich in substanzloser Aneignung der an den Begriff des Beamtenturns geknüpften bildungsständischen Vorstellungen und Verhaltensweisen. Im Gegensatz zu den meist gering qualifizierten Büroangestellten finden die kaufmännischen Angestellten "als Nachwuchs des Berufsstandes der selbständigen Kaufleute" und in illusionärer Verkennung vom denkbaren Sozialaufstieg zum zukünftigen selbständigen Kaufmann mehr Halt in berufsständisch geprägter Mentalität. Beide Berufsgruppen sind jedoch innerhalb der Angestelltenschaft diejenigen, welche am meisten durch "Selbstillusionierung" bedroht sind, die aus der ihrer grundlegenden ökonomischen Situation unangemessenen geistig-ideologischen Abgrenzung zur proletarischen Klasse durch Übernahme bürgerlicher Anschauungen und Kulturbestände resultiert. uo 108 109

Geiger 1930c, S. 639, Geiger 1932c, S. 98. Geiger 1930c, S. 650, 1932c, S. 121 bzw. Geiger 1949b, S. 87 f.

5. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der allgemeinen Soziologie

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Mit den technischen Angestellten und dem Fachpersonal in Angestelltenpositionen verbindet die kaufmännischen die große Spanne unterschiedlicher beruflicher Qualifl.kationsgrade, die mannigfachen Variationen des Sozialstandorts, der beruflichen Tätigkeiten und des Ranges, vom Verkäufer bis zum Prokuristen bei den kaufmännischen, vom Maschinisten bis zum Ingenieur bei den technischen Angestellten. Gleichwohl ist für technische Angestellte in besonderer Weise "spezialistische Branchenkenntnis" charakteristisch, ein "besonderes technischberufliches Können", wodurch sie mehr als kaufmännische Angestellte eine durch ihre Arbeitsqualifikation motivierte berufsständische Geistesverfassung und Mentalität ausbilden. Das Angestelltenturn als Hauptkontingent des neuen Mittelstandes ist "in doppelter Weise ständisch afflziert". Als Abkömmlinge des städtischen Kleinbürgertums bringen die Angestellten kleinbürgerliches Kulturgut und bürgerlich-ständische Anschauungsformen in ihren neuen Sozialstandort mit und flnden sich dort im "Wunsch nach Wahrung der sozialen Geltung" vereint. Allen gemein, besonders aber den aus der Arbeiterschaft aufgestiegenen Angestellten, ist in Abgrenzung zur Arbeiterklasse die Betonung bildungsständischer Züge und "bourgeoiser Kultur- und Bildungsambitionen". Gerade der aus Arbeiterkreisen emporgekommene Angestellte wird dabei vom "Wunsch nach Geltungserwerb" getragen, um dem äußerlich sozialen Aufstieg auch subjektiv in Sozialanschauung und -haltung entsprechen zu können. 111 Diese "ideologische Verbürgerlichung" stellt im Grunde genommen nur eine Befangenheit in einer falschen, der neuen wirtschaftlich-sozialen Lage nicht entsprechenden "standort-inadäquaten Ideologie" dar. "Angst vor Mindereinschätzung " führt zu einer übertriebenen Abneigung gegenüber der proletarischen Klasse, wird allerdings über kurz oder lang im Zuge der hochkapitalistischen Entwicklung der illusionslosen Einsicht in die tatsächlichen Lagegegebenheiten der Angestelltenschaft weichen müssen. Erst dann aber wird das teils durch sozialen Abstieg, teils durch das neue Bewußtsein vom sozialen Aufstieg motivierte "Prestigebedürfnis nach Abhebung von der Arbeiterklasse" und Bewahrung des "höheren" sozialen Status' innerhalb der Angestelltenschaft einem "gesunden" Selbstverständnis weichen. Erst dann werden die "proletarischen Teilschichten, die ideologisch dem Bürgertum nahestehen", ihren eigentlichen Platz im Klassengefüge moderner Gesellschaften auch subjektiv, im Sinne standortgemäßen Sozialbewußtseins und lagekonformer Mentalität einnehmen können.uz Bei aller Verschiedenheit des neuen Mittelstandes nach sozialer Herkunft, Lebensauffassung, Mentalitäten und Lebensstandards seiner Angehörigen, meint Geiger doch bereits zwei grundlegende Gemeinsamkeiten ausmachen zu können, die ihn mit allen anderen lohnabhängig Erwerbstätigen verbinden: das .. Desinter110

Geiger 1930d, S. 19 bzw. Geiger 1932c, S. 101 ff.

112

Geiger 1930c, S. 546 ff. , 1931 f, S. 548 f. bzw. Geiger 1949a, S. 167.

u1 Geiger 1930d, S.l7ff., 1931f, S.548 bzw. Geiger 1932c, S. 102f.

12*

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A. Soziologie zwischen Ideologie und Ideologiekritik

essement am Privateigentum über Produktionsmittel" und die "Tendenz zu gewerkschaftlicher Organisation", die für die eigentlich antikapitalistische Gesinnung spricht, weil hierbei die Arbeitnehmerschaft dem "Verfügungsmonopol an Produktionsmitteln" das Tarifmonopol organisierter Lohnarbeit entgegensetzt. Die Integration des neuen Mittelstandes zu einem einheitlichen kollektiven Schichtgebilde, das neben oder mit Teilen des alten Mittelstandes eine eigenständige Stellung und Funktion als dritte ausgleichende und vermittelnde Macht zwischen den Gesellschaftsklassen des Proletariats und der Kapitalisten einnehmen könnte, erscheint Geiger schon aufgrund der weitreichenden Unterschiede sowohl des Sozialstandortes als auch der Mentalitätsstrukturen innerhalb des neuen Mittelstandes nahezu ausgeschlossen. 1 13 Diese fünf Hauptschichten ergeben nach Geiger ein facettenreiches Schichtungsbild der deutschen Gesellschaft und ihrer Mentalitäten, in dem, trotz aller Vielfalt und Buntheit, gleichwohl eine gewisse Ordnung herrscht. Allerdings, so seine Kardinalfrage, ist sie nach wie vor als eine Klassengesellschaft anzusehen, in der das Verhältnis zu den Produktionsmitteln wesentlich strukturbestimmend ist, oder brechen gar grundsätzlich andere Schichtungsprinzipien sich Bahn? Er äußert sich zu dieser Frage abschließend sehr zurückhaltend bis skeptisch: "Gegen die Annahme einer totalen Umschichtung ist nichts zu sagen und es ist durchaus möglich, ja naheliegend, daß der Vorabend eines solchen Umbaus angebrochen ist. Manche Zuckungen deuten darauf hin. Daß das Klassenprinzip sich bis heute noch nicht voll durchgesetzt, noch nicht alle Teile der Gesellschaft erlaßt hat, ist kein Gegenargument es war immer so und wird immer so sein, daß eindeutige

113 Geiger 1932c, S. 133. Erst ein Blick auf die unterschiedliche wirtschaftliche AusgangsJage und die dadurch gegensätzlichen, im Entwicklungsverlauf einer klassenstrukturierten Gesellschaft zwangsläufig in Erscheinung tretenden Wirtschafts- und Gesellschaftsvorstellungen zwischen selbständigen Mittel- und Kleinbesitzern (an Produktionsmitteln) und lohn- und gehaltsbeziehenden Mittelstandsangehörigen zeigt jedoch die entscheidenden gesellschaftlichen Frontlinien mit aller Deutlichkeit. Um als eine Schicht oder Klasse bzw. Kollektivmacht von gesellschaftlicher Bedeutung in Erscheinung treten zu können, bedürfte der Mittelstand einer im wesentlichen gleichartigen ökonomischsozialen Lage, um eine in den Grundzügen einheitliche, alle Angehörigen erfassende und aus der Lage verstehbare Kollektivideologie aufzubauen. Beides fehlt dem sogenannten Mittelstand. Er umfaßt in der modernen industriellen Klassengesellschaft die Bevölkerungsteile, die sich entweder aufgrundihrer unbestimmten Klassenlage (alter Mittelstand) oder aufgrundihrer bewußtseinsmäßig-ideologischen Vorbehalte (neuer Mittelstand) der Einordnung in die Klassenkollektive widersetzen, gleichzeitig aber, bei den Verschiedenheiten nach wirtschaftlicher Stellung und sozialer Gesinnung in ihren Reihen, niemals eine eigenständige, geschlossen formierte Sozialmacht werden bilden können. Als "typischer Ort des Kunterbunt der Gesellschaftsmentalitäten" (Ebd., S. 27) und unterschiedlichster Daseinsbedingungen bildet der Mittelstand in seinen beiden Teilen vielmehr "den gesegneten Boden ideologischer Verwirrung" (Geiger 1930c, S. 641). Nicht zuletzt deshalb ist er zudem in weiten Teilen von Lebensängsten und. Existenznöten geplagt, im besonderen Maße anfällig für die nationalsozialistische Propaganda (siehe dazu meine Überlegungen in "3. Berufung an die Technische Hochschule Braunschweig, Lehr- und Forschungssituation, Entlassung).

5. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der allgemeinen Soziologie

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Schichtungsbilder nur eine Tendenz ausdrücken und daß, während die Rudimente Sozialstruktur in den heutigen absterben, sich schon die Keime der morgigen vorbilden. Die universalsoziologischen Schichtungsbilder sind Typen, zwischen denen die gesellschaftliche Realität sich hinbewegt, ohne je auf den Ruhepunkt zu gelangen. Aber ich halte es bis jetzt nicht für möglich, das was vielleicht werden will, in die Formel einer neuen Struktur zu fassen; mag ein anderes Schichtungsprinzip sich anschicken, das klassenmäßige (des Verhältnisses zu den Produktionsgütern) abzulösen - ich sehe das neue Prinzip noch nicht klar und niemand hat es mir bisher so überzeugend weisen können, daß ich es für darstellbar hielte." 114 gestrig~r

Dahinter verbirgt sich für Geiger die Ratlosigkeit nach dem "Sturz der Götter". Die marxistische Deutung der Entwicklung der Gesellschaftsstruktur scheint ihm also aufgrund seiner empirischen Ergebnisse nicht mehr völlig überzeugend zu sein. Er gesteht jedenfalls unumwunden ein, daß sich das Festhalten an den Produktionsverhältnissen als unter den gegebenen Gesellschaftsverhältnissen wichtigster und entscheidenster Determinante sozialer Lagerung und sozialer Schichtung im Verlauf der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung ebensowenig aufrechterhalten läßt wie die kühne Prognose vom gesellschaftlichen Untergang des Mittelstandes. Geiger erscheint folglich die Abhängigkeit vom Marxschen Klassenbegriff das Maß des Nützlichen und Vertretbaren zu überschreiten, weil es einer wirklichkeitsnahen, erfahrungswissenschaftlich orientierten Forschung entgegenwirke und damit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung im Wege stehe. Es gelingt ihm aber (noch) nicht, das bekennt er freimütig, den Kern des sozialen Wandels empirisch zu fassen. Geiger hinterläßt folglich, wie es seine sachlich-nüchterne, an Tatsachen ausgerichtete Betrachtungsweise ist, keine großartigen soziologischen Ausblicke und Verheißungen, sondern zwangsläufig nur kritische Fragen, Zweifel und Ungewißheiten, die unter dem Motto stehen könnten: "Le provisoire- c'est le defin". Denn nichts als deren Vorläufigkeit und Offenheit ist für ihn endgültig. Es gehört hierbei gleichsam zu seinem zentralen wissenschaftlichen Postulat, höchst anfechtbare, vieldeutige und damit für ihn auf unbrauchbaren Begriffen basierende Sachverhalte abzulehnen und sich mit jenen, die sich ihrer bedienen, äußerst kritisch, gelegentlich auch mit Spott oder in Gestalt scharfer Polemik, auseinanderzusetzen. Es geht ihm dabei nicht nur um die bessere Definition und Präzision der soziologischen Begriffswerkzeuge, also um ein vorwiegend "wissenschaftstechnisches" Anliegen, sondern ebensosehr um deren Tilgung aus den weltanschaulichen und politischen Richtungskämpfen und den damit einhergehenden ideologischen Verzerrungen. Mit dieser nach seiner Auffassung dringendsten Aufgabe einer um Verwissenschaftlichung bemühten begriffskritischen Soziologie - so darf man wohl seine grundlegenden Intentionen und sein Verständnis 114

Geiger 1932c, S. 127 ff.

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A. Soziologie zwischen Ideologie und Ideologiekritik

im Kern resümieren - läßt sich die Geigersehe Gleichung "Begriffskritik sei gleich Ideologiekritik", die jeweils der empirischen Auflösung harre, wohl am besten auf einen gemeinsamen Nenner bringen.

6. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der Soziologie der Erziehung Geigers Grundanschauungen zur allgemeinen Soziologie gelten in jedem Fall auch maßgeblich für seine Schriften zur Soziologie der Erziehung. 1 Diese sind unmittelbar aus seinem Arbeitszusammenhang in der Lehrer-, vor allem der Volksschullehrerausbildung, an der Technischen Hochschule Braunschweig zwischen 1929 und 1933 entstanden - eine Folge davon, daß das Fach Soziologie hier seine deutsche Premiere als Wahlpflichtfach feiert, in der die Soziologie der Erziehung nun eine herausgehobene Stellung einnimmt. Seine Forschungen auf diesem Gebiet sind von allem Anfang an von dem grundlegenden Bemühen begleitet, der Versuchung hartnäckig zu widerstehen, durch vereinfachende Schlagworte, einseitige Verallgemeinerungen und kritiklose Übernahme zeitbedingter Urteile sich selber in ideologisch verfangliche Positionen zu begeben. In diesem Bemühen hat er sich dem Ziel verschrieben, an der Hinterfragung verschwommener, alteingefahrener Begriffe mitzuwirken, einen Kampf gegen allzu vereinfachende Annahmen und monokausale Erklärungsversuche zu führen, den großen erziehungssoziologischen Entwürfen, weil nicht aufgeschlossen für Neues, abzuschwören und jederzeit gegen offenen oder verhüllten "Dogmatismus" auf dem Boden sozialer Tatsachen entschieden kritisch Stellung zu beziehen. Geiger versucht dabei stets aus seinen wissenschaftlichen Einsichten Ratschläge, Hinweise und Schlußfolgerungen für die erzieherische Praxis der Pädagogen zu gewinnen. 2 Liest man Geigers erziehungssoziologische Schriften zunächst vor allem unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Hochschule und Volksschullehrerausbildung, dann ergibt sich folgender Argumentationsgang 3 : Siehe dazu Geiger 1931 i. Seine erziehungssoziologischen Schriften erscheinen bezeichnenderweise überwiegend in Lehrerzeitschriften wie dem "Schulblatt für Braunschweig und Anhalt. Vereinsblatt des Braunschweigischen Landes- und Anhaltlichen Lehrervereins e. V.", der "Bremischen Lehrerzeitung. Organ des Bremischen Lehrervereins", der freigewerkschaftlichen theoretischen Zeitschrift "Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde" und den pädagogischen Zeitschriften "Die Erziehung. Monatsschrift für den Zusammenhang von Kultur und Erziehung in Wissenschaft und Leben" sowie "Kultura Pedagogiczna". Darüber hinaus hat Geiger oftmals die Gelegenheit ergriffen, seine Überlegungen vor verschiedenen Lehrerforen öffentlich vorzutragen wie dem "Braunschweigischen Landeslehrerverein", dem "Ersten Deutschen Handelsschultag" und der "soziologisch-pädagogischen Arbeitsgemeinschaft". 3 Es wird hier offenkundig, daß Geiger in wesentlichen Punkten an seine Wissenschaftliehen Überlegungen zur Erwachsenenbildung an der Volkshochschule Groß-Berlin anschließt (vgl. dazu Weinberg 1984b, 1990). 1

2

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A. Soziologie zwischen Ideologie und Ideologiekritik

1. Aufgabenverständnis und Rechtfertigung der akademischen Volksschullehrerausbildung begründen sich aus der Tatsache, daß sie, um der Leistungsehrlichkeit und des geistigen Anspruchs willen, ihren Namen und wirklichen Charakter zu Recht tragen muß. Sie soll die Möglichkeit eröffnen, sich das Wissen anzueignen, das der Pädagoge für sein erzieherisches Handeln benötigt; eine Vermengung akademischer und seminaristischer Ausbildungsformen ist tunliehst zu vermeiden. 2. Um diese Aufgabe überhaupt angemessen angehen zu können, muß allerdings zuvor die Frage geklärt werden, um was für Wissen es sich handelt. Für Geiger steht zweifelsfrei fest, daß hierbei das Wissenschaftswissen in den "Erziehungswissenschaften im weiteren Sinne", also theoretische Pädagogik, Philosophie, Psychologie und Soziologie, eine wichtige Rolle spielen. Das Studium dieser Gebiete soll dem zukünftigen Pädagogen als Pflicht in dem Sinne auferlegt werden, daß das Berufsziel für Stoffwahl und Lehrmethode bestimmend ist. Geiger sieht ihren besonderen Wert darin, daß sie sich an gesellschaftlich bedeutsame pädagogische Fragen heranwagt, die eine Nähe zur Praxis der Lehrer aufweisen. Aber ausschlaggebend für die Rolle des Wissenschaftswissens in der Volksschullehrerausbildung ist nicht nur die Lebensnähe der Themen und Fragestellungen. Große Bedeutung mißt er ebenso der Forderung bei, daß alle beteiligten Wissenschaftsdisziplinen in der Lehrerausbildung sich gemeinsam des Stellenwerts dessen, was sie erforschen und ihrer Bedeutung für die Lehrerausbildung vergewissern. 3. Hochschulen sind im Laufe des 19. Jahrhunderts von Stätten des Forschens und des lebendigen geistigen Lebens in Verbindung mit allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu Ausbildungseinrichtungen für höhere Berufe geworden. Dort, wo ausschließlich geforscht wird, haben die Wissenschaftler durch die Wahl der Themen und Forschungsmethoden zumeist die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens aus dem Blick verloren. Diese Erstarrung und Abkapselung bedarf der Überwindung. Dies geschieht vor allem in den Wissenschaftsdisziplinen, in denen nicht die analytischen, sondern die interdisziplinären Forschungsperspektiven im Vordergrund stehen wie in Pädagogik, Psychologie oder Soziologie, weil sie ein lebendiges Verhältnis zur erzieherischen Sphäre herzustellen vermögen. An diese Entwicklung gilt es in der akademischen Volksschullehrerausbildung anzuknüpfen. 4. Nur eine akademische Volksschullehrerausbildung, die nicht ein "beziehungsloses Nebeneinander" einzelner Wissenschaftsdisziplinen darstellt, sondern ebenso den Gesamtzusammenhang im Blick hat, ist in der Lage, sich mit den wirklichen im sozialen Wandel für die Pädagogen bedeutsamen Problemen auseinanderzusetzen. Das dem dauernden Streben nach Wahrheit verpflichtete Wissenschaftsideal stellt hierbei ein moralisches Postulat dar, auf das bei der Bewältigung der durch den sozialen Wandel hervorgerufenen pädagogischen Probleme nicht verzichtet werden kann. 4

6. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der Soziologie der Erziehung

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5. Geiger vertraut aber keineswegs auf das natürliche Durchdringen der akademischen Volksschullehrerausbildung mit Wissenschaftswissen. Noch weniger gehören für ihn Wissenschaft und Fortschritt selbstverständlich zusammen. Inhalte und Methoden der akademischen Volksschullehrerausbildung sollen, so arbeitet er weiter heraus, wissenschaftlichen Grundsätzen verpflichtet sein. In den Erziehungswissenschaften erfahrene und mit der Praxis der angehenden Pädagogen vertraute Hochschullehrer sollen mit ihnen Wissen und Probleme erarbeiten, die zu selbständiger Lösung der Probleme befähigen. Kurz: Neben die praktischdidaktische Ausbildung, die unmittelbar den beruflichen Anforderungen dient, soll also eine Ausbildung treten, die zur selbständigen geistigen Schulung anhält. 6. Ziele und Möglichkeiten der akademischen Volksschullehrerausbildung sind gleichwohl begrenzt. In einer Zeit großer Erziehungsunsicherheit kommt es in besonderer Weise darauf an, sich den neuesten Wissensstand und die Fähigkeit zur eigenen Urteilsbildung und zum selbständigen methodischen Denken anzueignen. Es wäre daher eine große Über- bzw. Unterforderung, wollte man von der akademischen Volksschullehrerausbildung erwarten, daß sie Weltanschauungslehren verbreite oder gegen die Verstandesbildung zu Felde ziehe und der Erlebnisbildung das Wort rede. "Schaltet man die ,Verstandesbildung' (die nicht notwendig einseitigen Intellektualismus bedeutet) als minderwertig oder unwesentlich aus, stellt man die Fähigkeit eines unkontrollierbaren, ,seelischen Ergriffenseins' als allein bedeutsam in den Vordergrund, so kann man sich freilich in dem Gedanken wiegen, dies letzte sei allen gleichermaßen gegeben." 5 Geiger stellt also einen grundlegenden Zusammenhang zwischen akademischem Ausbildungsauftrag der Hochschule, ideologiefreier Volksschullehrerausbildung und ihrer vorwiegenden Orientierung an den Problemwissenschaften Pädagogik, Psychologie und Soziologie her. Für ihn handelt es sich dabei um mehr als nur eine theoretische Möglichkeit, vielmehr geht es ihm um eine Aufgabe, die praktisch zu verwirklichen ist. Die entscheidenden Anstöße zu einer Soziologie der Erziehung in Deutschland gingen, worauf Geiger in diesem Rahmen zunächst aufmerksam macht, folglich weniger von Wissenschaftlern als von engagierten Pädagogen aus 6 , denen es als "Gelegenheitssoziologen" jedoch an einer gründlichen soziologischen Schulung mangelte. 7 Daneben entstanden die ersten systematischen Untersuchungen über Siehe dazu Geiger 1932, S. 402. s Geiger 1928h, S. 358. 6 Siehe dazu insbesondere Geiger 1929 g, 1930 i. 1 Ihnen hält Geiger vor, und er bezieht sich dabei insbesondere auf Siegfried Kaweraus "Soziologische Pädagogik (21924), Rudolf Lochners "Deskriptive Pädagogik" (1927), Hugo Schröders "Soziologie der Volksschulklasse" (1928) und Carl Weiß' ,,Pädagogische Soziologie" (1929), daß sie "unendlich viel mehr hätten leisten können, hätten sie sich nicht darauf angewiesen geglaubt, die Kategoriensysteme mehrerer Soziologen der Gegenwart eklektisch miteinander zu verbinden und so aus nicht zusammenstimmenden 4

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A. Soziologie zwischen Ideologie und Ideologiekritik

den Zusammenhang von Erziehung und Gesellschaft vor allem im Rahmen einer politisch sich enragierenden und engagierenden sozialistischen Pädagogik. Geiger kritisiert die unterschiedlichen Repräsentanten dieser Ausrichtung vehement und wirft ihnen in alttestamentarischer Strenge vor, die Erziehungswissenschaft mit soziologischen Geboten zu belasten: "Wie allem Tun so erwachsen auch dem erzieherischen aus dieser These die richtungsweisenden Imperative. Eine ,Volksphilosophie' nennt Müller-Lyer sein soziologisches System nach phaseologischer Methode. Rückschauend stellt die Soziologie bisherige Gesellschaftsentwicklung fest, vorausschauend zeigt sie die Linie künftig gebotenen Vorwärtsschreitens an. Fußend auf diesem bürgerlichen Marxisten hat Kawerau ein soziologisches Bild des Erziehungswesens um die Jahrhundertwende zu geben versucht. Wo immer die Soziologie enzyklopädische Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft sein will, dort kann sie nicht anders als normativ gegenüber der Pädagogik auftreten. Die letzten Jahrzehnte brachten eine ganz neue soziologische Schule hervor, die an Levy-Bruhl und Durkheim anknüpft, deren Gedanken er aber in engen Zusammenhang mit der marxistischen Lehre zu bringen sucht: es ist der Kreis der erkenntnistheoretischen Soziologen um Max Adler (W. Jerusalem, S. Bernfeld u. a.), Forscher, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die soziale Bedingtheit auch der letzten Grundkategorien unseres Denkens nachzuweisen. In eigentümlicher dialektischer Wendung bemühen sich die Mitglieder dieses Kreises, der sich zum Teil mit dem der entschiedenen Schulreformer überschneidet, nicht nur den Erziehungsstil einer Epoche aus ihrem ökonomischsozialen Aufbau zu erklären, sondern andererseits in der Erziehung unmittelbar ein Klassenkampfwerkzeug zu erblicken (Ressentiments-Pädagogik). Bei Max Adler treten diese Gedanken in Verbindung mit Kant-Fragmenten, bei Siegfried Bernfeld in einem eigenartigen Gemenge mit Freudschen Ideen. Eine im Grunde ganz unmarxistische Auffassung; wie kann, wenn die geistige Welt nur Überbau der ökonomisch-sozialen ist, mit pädagogischen, also geistigen (ideologischen) Mitteln die Welt der Tatsachen verwandelt werden? Es ist vor allem Honigsheim, der die Doppelfunktion der Erziehung als ideologisches Werkzeug der Klassenherrschaft einerseits und des Klassenkampfes anderseits hervorzuheben nicht ermüdet." 8 Demgegenüber plädiert Geiger nachdrücklich für eine erfahrungswissenschaftlieh sich verstehende Soziologie, die die Phänomene der Vergesellschaftung in der Erziehung als soziale Tatbestände untersucht, also eine Wissenschaft vom sozialen Sein und Geschehen, nicht vom Sollen zu sein hat. Sie ist schlechthin Elementen ein Kategoriensystem für den Augenblicksbedarf gebastelt" (Geiger 1930i, s. 411). s Ebd., 409 f. "In ähnlicher Weise, doch mit Marx-feindlicher konservativer Tendenz stellt sich neuerdings die Gesellschaftsweisheit Kar! Dunkmanns dar, die ebenfalls mit einer soziologischen Kritik der Erkenntnis letzte, auch für die Pädagogik normative, Wahrheiten zu entdecken sich anheischig macht" (Ebd., S. 410).

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abgeneigt, der Pädagogik gegenüber richtungsweisend aufzutreten - schon um ihres eigenen, mühsam erkämpften Ansehens willen. "Nicht-aktivistisch aus Überzeugung bleibt sie als reine Theorie zurückgezogen im Hintergrunde, zufrieden damit, wenn sie nur ... Anregungen und Hilfe leisten darf und als bescheidene Hilfswissenschaft dort Anerkennung findet. Die Erziehungswissenschaft steht neuerdings im Begriffe, ihre Autonomie gegenüber der Philosophie, aber auch gegenüber jeder anderen Wissenschaft durchzusetzen. Fast scheint es, als könne ähnliches Schicksal Pädagogik und Soziologie darin zu Bundesgenossen machen. Hat doch auch die Soziologie Jahrzehnte hindurch gegen die Scheelsucht und den geistigen Imperialismus älterer Zweige einen zähen, heute noch nicht ganz verebbten Kampf um ihre· Anerkennung als selbständige Disziplin zu führen gehabt." 9 Diese Überlegungen belegen auch, wie wenig fruchtbar für Geiger eine strikte Unterscheidung zwischen allgemeiner Soziologie und Erziehungssoziologie ist. Allgemeine Soziologie ist sie insofern, als sie die gesellschaftliche Modalität an allen Erscheinungen menschlichen Daseins - ohne Ansehen der besonderen Intentions- und Handlungsinhalte (Wirtschaft, Kunst, Religion, Wissenschaft, Recht, Erziehung etc.) oder besonderer Formen ihres Kollektivdaseins (Familie, Schule, Recht, Staat etc.)- untersucht. Sie bleibt es auch, wenn sie in einem gegebenen Falle monographisch die gesellschaftliche Erziehungsmodalität der Schulklasse untersucht. Ihre Aussagen mögen allgemeineren oder engeren Geltungsbereiches sein, das heißt einfach verschiedenen Graden der generalisierenden Abstraktion entsprechen. Das jedoch sind allenfalls Gradunterschiede, die sich kontinuierlich über eine Skala erstrecken. Hierbei ist kein archimedischer Punkt auszumachen, an dem man mit Fug und Recht die allgemeine Soziologie enden und die Erziehungssoziologie beginnen lassen könnte. 10 Man könnte somit geneigt sein, so Geiger, die Soziologie der Erziehung in Anknüpfung an die Einteilung der allgemeinen Soziologie zu gliedern. Faßt man allerdings die Soziologie der Erziehung als Zweigdisziplin auf, die mit soziologischen Methoden den pädagogischen Gegenstand bearbeitet, so ist es doch angemessener und übersichtlicher, die Einteilung aus dem Gegenstand selbst zu entwickeln. 11 Erforscht sie aber als Gegenstand die gesellschaftliche Modalität näher bezeichneter Bereiche, Handlungen oder bestimmter Sozialgebilde, so verschmilzt sie notwendigerweise mit den entsprechenden speziellen Sozialwissenschaften, vor allem der Erziehungswissenschaft. In einem solchen Dschungel die viel verzweigten und verschlungenen Pfade zu bestimmen, ist aber gänzlich ohne ersichtlichen Erkenntnisgewinn. 12 Ebd., S. 410 f. Siehe dazu Geiger 1962a, S. 54 f. 11 Geiger 1930i, S. 420 f. 12 Siehe dazu Geiger 1962a, S. 55.

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A. Soziologie zwischen Ideologie und Ideologiekritik

Der eminent gesellschaftliche Charakter der Erziehung als einer unvermeidlichen sozialen Tatsache steht für Geiger dennoch über allem Zweifel, und zwar in einem mehrfachen Sinne: sozial, weil sich die Erziehung und ihre historische Gestalt allein als Aspekt von Natur nicht angemessen verstehen lassen, obwohl sie in einer "Naturtatsache", der Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit des Neugeborenen und Kleinkindes, ihren Anfang findet. Als soziale Tatsache gilt Erziehung ferner, weil sie sich auch unabhängig von den Vorstellungen, mit denen Pädagogen die gesellschaftlichen Ereignisse und Prozesse begleiten, auslegen und konkretisieren, je historisch eigenständig ausformt und offenbart, obwohl Erziehung zugleich ohne die unmittelbare, kommunikative und situative Begegnung von Erzieher und Kind nicht denkbar ist. Unvermeidlich ist diese soziale Tatsache daher nicht nur gegenüber den Absichten der Handelnden, sondern auch, weil sie sowohl in der ,,Natur" des Menschen wie in den Funktionsprinzipien einer jeden sozialen Gesellschaftsordnung angelegt ist und gefordert wird. Gesellschaft ist somit ohne Erziehung nicht denkbar, wie andererseits Erziehung nur in der sozialen Sphäre möglich ist, worauf Geiger nachdrücklich hinweist, weshalb denn auch das Erziehungsdenken für ihn immer dem Gesellschaftsdenken streng entspricht. "Nicht allein, nicht einmal vorwiegend in dem Sinne, daß die Erziehungsziele jeweils am gesellschaftlichen Willen ihrer Epoche ausgerichtet sind, sondern schon rein stilistisch in der Weise, daß die Auffassung vom Wesen der Erziehung jeweils aufs engste mit zeitgenössischer Art und Methode des Gesellschaftsdenkens zusammenhängt." 13 Damit jedoch ist Erziehung für Geiger zu einem zentralen Forschungsgegenstand innerhalb des Kreises gesellschaftlicher Kulturerscheinungen geworden. Grundprämisse ist für ihn die allgemeine These, daß sich der Prozeß der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit den sozialen und dinglich-materiellen Voraussetzungen der Lebenswelt, die historisch-gesellschaftlich vermittelt ist, besonders innerhalb der Gruppen 14 herausbildet . 15 Er schlägt deshalb für den Gegenstandsben Geiger 1930i, S. 405. ",Group' wastobe the core concept that occupied Geiger during the entire period of his sociological output in Germany, from 1926 to 1933. He shared this emphasis with several others, most notably Vierkandt ..." (Schroeter 1974, S. 61 ). Geiger betrachtet deswegen die "Gruppe" als die gegenwärtig bedeutendste Form der Vergesellschaftung. Er verwendet diesen Terminus sehr umfassend und bezeichnet damit unterschiedliche Lebenskreise wie "Familie", "Gassenkameradschaft", "Verein", "Partei" oder das "Staats-Volk". Gemeinsam ist ihnen: ,,Jeder Gruppe entspricht ein ihr eigener, im Mechanismus menschlichen Betätigungsdranges durchgesetzter So-Seins-Typus, den ich das Ich-Ideal der Gruppe nannte. Diesem Ich-Ideal, einer zur vorgestellten Gestalt geballten Reihe von Person-Qualitäten, gleicht der Genosse sich im Gruppenleben an. Doch ist zugleich dieses Ich-Ideal elastisch genug, um fortlaufend unter dem Einfluß der Persönlichkeiten Wandlungen ertragen zu können" (Geiger 1930i, S. 412 f.). "For this reason, ,the group' is the most important form of all for Geiger, because is is the key to explain how human beings develop. (By definition, ,man is a social creature' .). Thus the group has two distinct characteristics: it is a form of sociation, along with 14

6. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der Soziologie der Erziehung

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reich der Soziologie der Erziehung erstmals in Deutschland ein umfassendes Programm und eine differenzierte Einteilung vor, die von ihm in seiner Braunschweiger Zeit zwar nicht im Detail, aber in wichtigen Bereichen - und das ist bislang überhaupt nicht von (Erziehungs-)Soziologen zur Kenntnis genommen worden - erforscht werden und für die er auch eine besondere pädagogischsoziologische Begriffsbildung vorschlägt. 16 Programm und Einteilung sieht er als Raster für seine weitere Forschung an und gliedert den Gegenstand in einen systematischen und einen historischen Zweig. 17 couples, crowds, masses, associations and others, but it is also the structure which is necessary for all the other ones to be even possible. In short, unless someone has first developed into a social being within the context of a group, he cannot be called a ,human being' and cannot take part in any of the types of reciprocal social interaction, including other groups" (Schroeter 1974, S. 60). Kritisch merkt dazu Schroeter an: "On the rare occasions when Geiger even touched on what we would call ,macrosociological' concems he implied that there was no difference between face-to-face groups and !arge scale phenomens. This was a strange weakness in someone who put such great emphasis at the other extreme on the qualitative distinction between the couple and the group" (Ebd., S. 233). 15 Geiger bezieht sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Bedeutung der Littsehen phänomenologischen Strukturanalyse und hebt hervor, daß die Antithesis "Einzelmensch oder Gesellschaft" ihres logischen Schreckens entkleidet sei; sie seien nur die polaren Ausdrücke für einen identischen Gegenstand: den Menschen (vgl. Geiger 1930i, s. 412). 16 Im folgenden geht es deshalb zunächst weniger darum, Geigers allgemeine Ausführungen zum Programm und zur Einteilung der Soziologie der Erziehung in allen Einzelheiten nachzuzeichnen, wie er sie in seinen beiden programmatischen Schriften "Soziologie und Erziehungswissenschaft" ( 1929) und "Erziehung als Gegenstand der Soziologie" (1930) dargelegt hat, als vielmehr in erster Linie darum, seine eigenen erziehungssoziologischen Fragestellungen und Forschungen hier inhaltlich zu verorten. Es gilt dabei zu beachten, was Geiger selber in bezug auf die Einteilung der Soziologie der Erziehung für sich in Anspruch nimmt: "Was hier programmatisch in Kästchen sauber eingeteilt vorgeführt wurde, muß bei der Bearbeitung des Stoffes in mannigfacher Berührung stehen, und es ist fraglich, ob der Gliederung eines Werkes zur Soziologie der Erziehung zweckmäßigerweise gerade diese Einteilung zugrunde gelegt würden. Darum hat es sich auch hier nicht gehandelt, sondern um einen geordneten Überblick über die vielfache Verzweigung des Themas. Der Pädagog mag immerhin achselzuckend erklären, derartige Fragestellungen seien für ihn ohne praktisches Interesse. Man könnte ihm antworten, daß Wissenschaft grundsätzlich nicht nach ihrem praktischen Wert zu fragen hat, daß also der Soziolog als Forscher sich keineswegs lächerlich machen kann, wenn er in aller Tiefe und Breite die soziale Problematik der erzieherischen Sphäre durchforscht. Aber es ist nicht einmal ausgemacht, daß der Pädagog solches Beginnen mit einem Kopfschütteln abtut. Deshalb nicht, weil ganz offenbar derartige Forschungsbemühungen, und mag es auf theoretisch noch so unzulängliche Weise sein, gerade von Pädagogen und noch dazu von pädagogischen Praktikern angegangen wurden (Geiger hat hier vor allem wohl die Studien Rudolf Lochners "Deskriptive Pädagogik" (1927]) und Carl Weiss' "Pädagogische Soziologie" [1929] im Sinn, K. R.). Es scheint also doch, daß die Praxis selber mindestens an bestimmten Ergebnissen dieser theoretischen Forschung ein nennenswertes Interesse habe" (Geiger 1930i, S. 426). 11 Diese grundlegenden Überlegungen beruhen, was oftmals übersehen wird, auf verschiedenen Beiträgen, mit denen sich Geiger schon während seiner Tätigkeit an der

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A. Soziologie zwischen Ideologie und Ideologiekritik

A. Systematischer Zweig Gegenstand des systematischen Zweiges ist für Geiger die Erlorschung pädagogischer Vergesellschaftungsformen "als Gegebenheiten von zeitloser Geltung." 18 In einem allgemeinen und prinzipiellen Unterabschnitt ist hier das Wesen der Erziehung überhaupt als einer sozialen Erscheinung genauer zu erlorschen, die Erziehung und die ihr verwandten sozialen Vorgänge zu typisieren, gegeneinander abzugrenzen und die systematischen Unterschiede herauszuarbeiten. Zur Aufgabe steht hier vor allem die Sicherung zentraler soziologischer Begriffe wie Erziehung, Bildung und Unterricht sowie ihrer gesellschaftlichen Bedingungen und historischen Entwicklungen. Soziologisch bedeutet Bildung "ein Prozeß, der sich zwischen einer Gruppe und den ihr zugehörigen Menschen als Partnern oder Polen vollzieht." 19 Er bezeichnet ganz allgemein diejenige gesellschaftliche Praxis, in der sich Menschen ihre Kultur sowohl aneignen wie selbständig fortentwickeln. Sie ist zeitlich und sachlich nicht zu begrenzen, dauert ein Leben lang an und umfaßt das gesamte Bündel von universalen Kompetenzen und je besonderen Fertigkeiten, die in diesem Prozeß der Aneignung der Lebenswelt genutzt werden. Die bildenden Mächte in der Lebenswelt eines jungen Menschen bei seiner Persönlichkeitsentwicklung beschreibt Geiger programmatisch zunächst sehr allgemein; sie dienen einer ersten groben Darstellung des Sachverhalts (vgl. Abbildung 2). Die bildenden Mächte sind insbesondere: 1. die gesellschaftlich geformte Sachumwelt, Bauten, Kunstwerke, technische Vorrichtungen, die vom Menschen "domestizierte" Natur, die allein schon durch ihr Dasein, dadurch, daß sie von ihm in seinem täglichen Lebensraum immer wieder wahrgenommen werden und in sein Bewußtsein eingehen, eine formende Wirkung ausüben.

2. die menschliche Mitwelt, deren Beispiele in Form von Handlungsmustern Nachahmung finden. Ihre Wirkung wird oft als "unbewußte Erziehung" bezeichnet- vor allem wohl deshalb, weil man erst von der planmäßigen, wissenschaftlich begründeten Erziehung her auch auf die Bedeutung solcher Einwirkungen aufmerksam wurde. "Der Ausdruck", bemerkt Geiger, "ist nichts als eine forschungspsychologisch verständliche Metapher (,Die heimlichen Miterzieher' ). " 20 3. das öffentliche Urteil, das die Gruppe als Beteiligte zum Ausdruck bringt, wenn sie das abweichende Verhalten eines Mitglieds an dem "grupplichen IchVolkshochschule Groß-Berlin in besonderem Maße auseinandergesetzt hat (vgl. dazu auch Trappe 1959, 1978; Weinberg 1984a, 1990). 18 Geiger 1930i, S. 421. 19 Ebd., S. 413. 2o Ebd., S. 4l3.

6. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der Soziologie der Erziehung g e s e 1 1 s

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c h a f t 1 i c h o e f o r m t e S a c h u m w e 1 t

(Nachahmung von

z

Erwerb von Kompetenzen

Handlungsmustern)

unbewußte huno

a 1 s

L e b e n s r a u m

Abbildung 2: Bildende Mächte in der Lebenswelt des jungen Menschen für seine Persönlichkeitsentwicklung

Ideal" mißt und tadelt. Über ein Mitglied als solches urteilend, ist jeder andere stets Vertreter der Gruppenöffentlichkeit Das Urteil muß nicht mündlich verkündet werden - der mißbilligende Blick, Abweisung, kühle Aufnahme genügen oftmals als Zeichen des Ausdrucks. 4. Ist Bildung ein Vorgang, so ist- soziologisch gesehen- Erziehung die auf ihn gerichtete bewußte Tätigkeit. 21 Bilden muß im Grunde der Mensch sich 21 Die Erziehung wird für Geiger im Rahmen der Lehrerausbildung geradezu zu einem Schlüsselbegriff, und ihr widmet er seine ganze Aufmerksamkeit.

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selbst - oder ihn das Leben. Erziehung läßt sich in diesem Sinne eher als Beschreibung für einen Prozeß verwenden, in dem der Mensch die Kompetenz überhaupt erst erwirbt und festigt, um selbständig an der Auseinandersetzung mit der Kultur in ihren vielfältigen Formen teilzunehmen, die der Bildungsprozeß darstellt und sein Begriff beschreibt. Die Leistung der Erziehung ist in diesem Verständnis vorbereitender Natur, dem Thema nach begrenzt, während Bildungsprozesse solche Begrenzung nicht kennen. Die nüchterne, vorurteilsfreie Erfahrung zeigt Geiger die Menschen in Dutzenden von Gruppen eingeordnet und verhaftet. Und in jeder findet ein besonderer Bildungsvorgang statt, jede übt ihre Erziehung. So viele Gruppen, so viele Erziehungen - freilich sind nicht alle institutionalisiert. Erziehung ist folglich nichts, was ausschließlich Erwachsene an der Jugend vollbringen, "Erziehung hat gleich der Bildung kein Ende bis in den Sarg. Unser Leben lang stehen wir in so vielen Bildungsströmen wie Gruppen und müssen lebenslangErziehungendulden ." 11 Erziehung ist folglich eine Einflußnahme in bestimmter Richtung. Allerdings nicht alle persönliche Einflußnahme ist Bildungshilfe; sie muß vielmehr als solche gewollt sein. Suche ich den Mitmenschen zu einer bestimmten Handlung zu veranlassen, so beeinflusse ich ihn - doch erziehe ich ihn nicht. "Erziehung trifft die innere Haltung, Beeinflussung das Verhalten. Erziehung zielt auf den Menschen. Beeinflussung auf ein bestimmtes Sachziel, zu dessen Erreichung mir ein Mensch als Werkzeug erscheint. Gleich aller Dressur drückt bloße Interessenbeeinflussung das lebende Wesen zum Werkzeug meines Willens herab." 23 Auch das Gruppenurteil übt Einfluß auf die Persönlichkeit aus - es steht gewissermaßen in der Mitte. Von bloßer Beeinflussung unterscheidet es sich vor allem dadurch, weil es nicht auf ein einmaliges So-Handeln, sondern auf sich wiederholendes typisches Handeln, auf das Handeln selbst, nicht auf seinen sachlichen Erfolg zielt. Der Erziehung gegenüber steht es insofern zurück, als es sich mit typischem Verhalten begnügt und der Gesamthaltung des Menschen, auf die Erziehung sich gerade richtet, keine Beachtung schenkt. 24 Erziehung muß also stets als solche beabsichtigt sein. Doch ist es keineswegs nötig, daß der einzelne Erziehungsvorgang Glied in der Kette eines planvoll angelegten Erziehungsgeschehens sei. Bewußte Erziehung kann spontane Gelegenheitserziehung oder kann planmäßig sein, betont Geiger. Doch ist von planmäßiger Erziehung noch ein weiter Weg bis zur anstaltlieh eingerichteten. Sie setzt bereits eine komplexe Ausdifferenzierung des Gesellschaftsgefüges in seinen Kulturfunktionen voraus, und erst auf dieser Stufe beginnt es die Bildungshilfe, deren es die jungen Menschen in seinem Kreis für bedürftig hält, anstaltlieh zu organisieren und die Erziehungstätigkeit zum Inhalt eines Berufs zu machen. 22 23 24

Geiger 1930i, S. 415. Ebd., S. 414. Ebd., S. 414.

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Der so legitimierte Berufspädagoge leistet gesellschaftliche Bildungshilfe durch einen realitätsgerechten Unterricht. Dieser beruht in der Hauptsache auf der Schulung beruflicher Fertigkeit und Arbeitsdisziplin. Daneben besteht er in einem gründlichen sozialen Tatsachenunterricht, der die Selbstauseinandersetzung des jungen Menschen erleichtert und eine illusionäre Einstellung gegenüber den gesellschaftlichen Erscheinungen verhindert. Nur dadurch kann der Pädagoge erreichen, daß er selbst eine Macht im gesellschaftlichen Leben des jungen Menschen ist und nicht neben dem wirklichen Leben steht. 25 Manche Irrtümer und Widersprüche im Begriffsgebäude der Erziehungswissenschaft mögen daher rühren, daß die Erziehung vom Pädagogen einseitig aus dem Blickpunkt seines Standortes gesehen wird, ist er selbst als Vertreter seines Berufs doch erst auf der Stufe der institutionellen Erziehung möglich. Darum ist für ihn Inhalt seines Berufes "die Erziehung kat'exochen." 26 Öffentlichinstitutionelle Erziehung soll weder noch kann sie, dessen muß sich die Erziehungswissenschaft immer bewußt sein, alleinige Bildungshilfe sein - insbesondere, wenn man bedenkt, daß sie immer nur einen kleinen Teil des gesamten erzieherischen Wirkens überhaupt ausmacht. Denn die gruppen-subjektiv gebundene Erziehung "erfährt der Mensch daneben immer noch (als spontane oder planvolle) in seinen einzelnen Lebenskreisen und Milieus: in Familie, sozialer Klasse, Gesinnungsgemeinde, Beruf usw. Und er soll sie erfahren! In jenen Lebenskreisen haben soziale Sentiments, Traditionalismus und Revolutionismus ihre ,legalen' Örter. Es besteht keine Gefahr, daß der soziale Aktivismus zu kurz komme, wenn wir bedenken, daß öffentlich-institutionelle Erziehung immer nur einen kleinen Teil des gesamten erzieherischen Wirkens überhaupt ausmacht." 27 Gegenstand der Erziehungswissenschaft kann deswegen für Geiger in erster Linie nur die bewußte Erziehung sein. Daraus folgt für ihn dreierlei: Erziehung als spontane Funktion der Gruppe hat, in Verbindung mit den Prozessen der Sozialisierung und der Gruppenanpassung, sich stärker der eigentlich erzieherischen Aufgaben anzunehmen 28 , und als funktionsteilig verselbständigtes Kultursystem ist der Aufbau der institutionellen Erziehung und der verwickelte Zusammenhang der Erziehungsinstitutionen mit dem übrigen Gesellschaftsleben genauer zu erforschen. 29 Hierher gehört schließlich insbesondere auch die Analyse des Erziehungsprozesses als zwischenmenschlicher Vorgang von bestimmt gemeintem Sinn. Generell ist dieser zwar durch den allgemeinen Begriff der Erziehung gegeben, speziell variiert er jedoch entsprechend der jeweils herrschenden Siehe dazu insbesondere Geiger 1930d,e,g,h,i,n, 1933g. Geiger 1930i, S. 414. Siehe dazu ausführlicher Geigers Beitrag "Bürokratismus und Erziehung" in Teil B dieser Schrift. 21 Geiger 1929c, S. 835. 28 Der Gesamtzusammenhang mit dem Gruppenleben überhaupt, so betont Geiger, stellt hier mehr den Hintergrund dar (vgl. Geiger 1930i, S. 421). 29 Siehe dazu Geiger 1929c, 1930i. 25

26

13 Rodax

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Erziehungsideologie. Und es wird schnell offenkundig, daß erzieherische Akte nach Gepräge und Verlauf gemäß diesen Erziehungsideologien verschieden sein müssen: "Naturalistische Erziehung ,vom Kinde aus' vollzieht sich in andern Beziehungsformen als humanistische Erziehung zu ewigen Werten hin oder nationalistische Erziehung zur geheiligten Volkheit." 30 Gegenstand des besonderen oder beschreibenden Teils des systematischen Zweigs ist für Geiger die soziologische Analyse der Lebenskreise mit typisch erzieherischer Funktion, die auf die inhaltliche Beschreibung der gegenwärtigen oder historischen Vergesellschaftungsformen gerichtet ist. Als solcher Lebenskreis erscheine hauptsächlich die Schule, die Familie jedoch nur zum Teil. Denn sie hat außer den erzieherischen auch eine Reihe anderer Funktionen zu erfüllen. In ihrer erzieherischen Wirkung jedoch ist sie für Geiger hier nur so weit zu erörtern, als sie für den "Makrokosmos der Welt", nicht aber insoweit, als sie für ihren eigenen "Mikrokosmos" erzieht. 31 Für ihn stellt sich deshalb vordringlich die kritische Diskussion der Frage nach der gestellten Erziehungsaufgabe der Familie für das öffentliche Erziehungssystems. Sie ist gegenwärtig für die Familie nach Umfang und Dauer stark begrenzt. Denn alleinerziehend ist sie nur noch beim Kleinkind und bleibt hier weitgehend Stätte der Lebensfürsorge und Beaufsichtigung. Ihr fehlt, um charakterbildend wirksam werden zu können, die allgemeine Übersicht über den weiteren Lebensduktus des Kindes, zumal sie von seinem 6. Lebensjahr an zunehmend mit der Schule konkurriert. Diese ist nämlich nicht nur Unterrichts-, sondern zugleich auch Erziehungsinstanz. Neben der Schulerziehung ist der freibildende Einfluß der Lehrer höchst wirksam. Die Familie als Lebenskreis ist selber kaum noch das Milieu der transitiven Erziehung, ihre erzieherische Tätigkeit beschränkt sich in erster Linie auf ihren eigentlichen Lebenskreis, sie ist nur noch reflexive Erziehung. Folglich ist sie den schulischen Anforderungen der Gegenwart nicht mehr hinreichend gewachsen. 32 Im Mittelpunkt des Interesses steht hier für Geiger besonders die Frage, nach welchen Erziehungsgrundsätzen der Unterricht von Pädagogen in der Schule zu gestalten sei. Er sieht es als ihre wesentliche Aufgabe an, eine eigene "berufliche Denkwelt" 33 zu entwickeln. Das mag in einer Zeit klaren Zusammenspiels aller 30 Geiger 1930i, S. 422. "Die Fragestellung des Soziologen ist", so hebt Geiger in diesem Zusammenhang hervor, "theoretisch. Er interessiert sich für die Bedingtheit der sozialen Form des Erziehungsaktes durch dessen verschieden gemeinten Sinn. Der Pädagog würde anders fragen: ich verbinde mit meinem Erziehungsakt eine bestimmte Absicht; gibt es eine Möglichkeit, durch den Vollzug des Aktes in einer bestimmten sozialen Form, also durch Herstellung einer bestimmten Beziehungssituation, die Erreichung meiner besonderen Erziehungsabsichten zu erleichtern? Ganz grob und ohne Rücksicht auf ungezählte Feinheiten gefragt: stelle ich mich herrschaftlich, kameradschaftlich, auf kühlsachlichen Abstand oder irgendwie anders ein? Behandle ich eine Mehrheit von Zöglingen als solidarische Gruppe oder als Aggregat von Einzelwesen?" (Ebd., S. 422). 31 Ebd., S. 422. 32 Siehe dazu im einzelnen Geigers Ausführungen in seiner Vorlesung "Die erzieherische Bedeutung der Familie in der Gegenwart" in Teil B dieser Schrift.

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gesellschaftlichen Lebenskreise unter einem obersten Sinn und Gesetz, in der auch die öffentlich-institutionelle Erziehung sicherlich in hohem Grade durch allgemein anerkannte "letzte Wertideen" bestimmt wird, ohne große Probleme zu bewerkstelligen sein. Zeigt aber die Gegenwart das Auseinanderfallen der einzelnen sozialen Lebenskreise in deutlichem Antagonismus, ergibt sich notwendig eine allgemeine Ziel- und Richtungsunsicherheit, in deren Atmosphäre öffentliche Erziehung nur noch unter Verzicht auf ein jenseits ihrer liegendes Ziel möglich sei. 34 Geiger zieht hierbei durchaus in Erwägung, daß der Pädagoge in seinem Denken und Handeln abhängig ist von den "Idealen und Willensrichtungen" der Gruppen, denen er sich zugehörig weiß - seiner sozialen Schicht, seiner politischen oder weltanschaulichen Richtung - , doch ist er es nicht restlos, wie er hinzufügt, sondern allenfalls in Grenzen. 35 Er ist es um so weniger, je klarer die pädagogische Berufsideologie durchgeformt ist und je problematischer mit zunehmender Ausdifferenzierung des sozialen Lebens die Festigkeit der Gruppenstrukturen wird. Denn im Bereich des autonomen Erziehungsdenkens ist er hauptsächlich Pädagoge, und in hohem Grade vermögen in der Sphäre dieses beruflichen Gedankenreiches die Gegensätze fachfremder Gruppenideologien zurückgedrängt bzw. abgeschwächt zu werden. "Er wird sich dann nicht mehr gedrungen sehen", und das ist wohl der Kern der nüchternen Geigersehen Analyse wie zugleich das Grundmotiv seiner Botschaft zu den Erziehungsgrundsätzen, "zu letzten, ein für allemal feststehenden objektiven Kulturwerten hin zu erziehen, wird nicht vergangenheit-gebunden den Zögling auf eine einmal erreichte Zuständlichkeit der nationalen Gruppe verpflichten müssen, noch wird er, ein gesellschaftlicher Neuerer, zu dem von ihm geschauten Wunschbild einer irgendwie gearteten Zukunftsgesellschaft revolutionär den jugendlichen Menschen hinzutreiben suchen. Hier verbindet eine Brücke die Ufer der modernen Soziolbgie und der autonomen Pädagogik. Autonome Pädagogik macht sich anheischig die Gesetze der Erziehung aus dem Wesenhaften des Erziehungsphänomens selber abzuleiten. Eine von allen Spekulationen befreite Gesellschaftslehre aber sieht Gesellschaft als ein niemals fix-seiendes, ewig werdendes, als Geschehnis, nicht als gefestigtes Sein. Es wandelt sich nicht nur jede einzelne Gruppe, sondern im Rahmen eines mannigfach zusammengesetzten Gesamtgefüges auch die Verspannung der einzelnen Gruppen und das Gewicht oder Übergewicht dieser oder jener. Unerforschlich ist der Ratschluß des Lebens. Wie heute der Soziolog sich hütet, Prophezeibungen künftiger Gesellschaftsentwicklungen in die Welt zu senden, so kann auch der 33 34 35

13*

Geiger 1930i, S. 417. Ebd., S. 417. Ebd., S. 417.

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autonome Pädagog einsehen, daß ihm nicht zusteht, den Büttel und Kerkermeister einer heute errichteten Gesellschaftsform zu spielen, noch auch als göttliche Vorsehung in der Gesellschaftsgeschichte aufzutreten, indem er sein Wunschbild der Zukunft als ,das Erziehungsziel' propagiert. Er legt die gesellschaftliche Sendung des Erziehungsvorgangs zugrunde. Sie lautet: Vergesellschaftungsdrang und Drang zur Eigentätigkeit liebend fördern. Nicht für eine bestimmte Gruppe -und sei es auch die Volksgemeinschaft- in ihrem Jetzt-So-Hier, noch für künftige Gesellschaft in ihrem von uns geforderten Morgen- und Anders-SeinSollen erzieht er, sondern er leistet Menschen Bildungshilfe zur Sozialität als Haltung und Funktion überhaupt, zu geselliger Wirksamkeit, Verantwortlichkeit und Brauchbarkeit (je nach Anlage). Für werdende Gesellschaft überhaupt, für das Werden als Urgesetz vergesellschafteten Menschturns wird erzogen. Gesellschaft an sich als freudig bejahtes Schicksal ist einziges Erziehungsprinzip. Der nicht voraussehbaren, noch bestimmbaren Geschichte überlassen wir als öffentliche Berufserzieher, in welcher Art Vergesellschaftungen dereinst Frucht bringen mag, was wir an Saat gelegt haben." 36 Nur auf diese Weise ist nach Geigers Verständnis öffentliche Erziehung überhaupt denkbar, die von Staats wegen der Erziehung anderer Lebenskreise vorgreift. 37 Und nur eine solche autonome Erziehung hat überhaupt die Chance zu so überlegener Entsagung. Not tut vor allem Bescheidenheit und letzter Respekt vor dem, was werden will. Das sei, so betont Geiger mit Entschiedenheit, keineswegs "feiger und eisiger Relativismus" 38 , ein entmannter Standpunkt des Allesgelten-lassens - es ist der letzte Schluß der Lebensweisheit in einer Zeit, die erst das Leben in seiner ganzen komplexen Vielfältigkeit und Eigengesetzlichkeit im Blick hat, die es gewagt hat, nicht mehr in Substanzen, sondern in Prozessen zu denken. 39 Geiger unterstützt damit aus soziologischer Sicht den Standpunkt, daß Erziehungswissenschaft nur möglich sei, wenn Erziehung mehr bedeute als bloße Anpassung an jeweils herrschende Gruppenzwänge. Sie hat von der zentralen pädagogischen Überlegung auszugehen: Nur dort, wo der Pädagoge die Prinzipien seines Berufshandeins nicht vom "Staats-Volk", seinem Auftraggeber, auferlegt bekomme, sondern diese in seiner Berufsideologie selbst ausmache, "da kann Ebd., S. 417 f. "Erziehung für vergesellschaftetes Menschturn überhaupt kann nicht fordern, daß der Mensch, als Katholik getauft, es bleibe bis in Ewigkeit; kann nicht fordern, daß er, geboren als Kind nationaldenkender Eltern, so denke wie sie; staatlich veranstaltete Erziehung kann nicht einmal zur Absicht haben, daß die heutige Verfassung des Deutschen Reiches, in der sie gesetzlich verankert ist, Geltung habe in alle Zeit" (Ebd., S. 419). 38 Ebd., S. 418. 39 Siehe dazu auch im einzelnen Geigers facettenreiche Darlegungen in seinen Beiträgen in Teil B dieser Schrift. 36 37

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Erziehung schon in ihrem gemeinten Sinn, in ihrer Absicht jenes gesellschaftliche Werden, die Ewigkeit veränderlichen Lebens mit einschließen, die spontane, vergangenheit-gebundene Erziehung zwar niemals hindem kann, ihrer Gesinnung nach aber nicht wi11."40 Die naturalistische Erziehung "vom Kinde aus" erfährt hier ihre Vervollkommnung und zugleich Überwindung. Der Naturalismus, Ergebnis einer atomistisch denkenden Epoche, betrachtet das Kind als etwas Einmaliges, Individuelles, das autark nach Entfaltung seiner persönlichen Eigenart strebt. Nach soziologischem Verständnis sind die Anlagen eines Kindes nicht nur individuell, sondern es besteht bei ihm von Anfang an der Drang zur Vergesellschaftung - gleichviel zu welcher. Es gebe keine ungeselligen Menschen, sondern allenfalls solche, die mangels für sie geeigneter Vergesellschaftungsmöglichkeiten gezwungen seien, ein ungeselliges Leben zu führen. "Nicht das Individuum also ist - noch spukt bei den Sozialpädagogen der contrat social! -für leidliche Einfügung in spekulativ genormte soziale Lebensordnungen zu erziehen, sondern der Mensch ist in der Entfaltung seiner individuellen sowohl als seiner vom Uranfang gegebenen sozialen Anlagen im Rahmen seiner, die sozialen Bedingungen einschließenden Lebenswelt zu fördem."4I Vor diesem Hintergrund kann nach Geiger gerade auch in einer Zeit des vielbeschworenen Glaubens an die ,.Volksgemeinschaft" auf die Verantwortung des einzelnen nicht verzichtet werden. Er erkennt direkte Beziehungen zwischen einer funktionalistischen Pädagogik, wie sie von Krieck vertreten wird, und der spekulativen, vor allem geistig-organizistischen (Schäffle, Barth) oder idealistisch-universalistischen Soziologie (Spann), die einem solchen Denken Vorschub leistet. Mit Litt stimmt er deshalb darin überein, daß sich der Mensch dem Gruppen-Ideal sowohl passiv anpaßt als auch aktiv gestaltend auf dieses Einfluß nimmt. Die unscharfe Polarität von "Gemeinschaft" und "Individuum" löst sich so in verschiedene Grade und Arten sozialer Erscheinungsformen des Menschen auf. Daher gehören für Geiger der Drang zur Vergesellschaftung und der zur Eigenständigkeil zu den unverzichtbaren Voraussetzungen des menschlichen Daseins schlechthin. Soziologie und Pädagogik haben nach seinem Verständnis beides zu fördern. Geiger läßt in diesem Zusammenhang zugleich erkennen, daß er in der Pädagogik einen Bundesgenossen sieht in einem zumeist ideologisch geführten Kampf, der mehr ist als eine reine akademische Kontroverse. Denn die Wissenschaft übt beträchtlichen Einfluß aus, der über ihre Grenzen hinausreicht. Sie hat, und hier wiederum vor allem die Pädagogik, Bildungs- und Erziehungsfunktion, die ihre 40 Geiger 1930i, S. 419.

41 Ebd., S. 419 f. "In welchen Vergesellschaftungen diese Anlagen des Menschen sich dereinst tätig entfalten werden, welchen Gruppierungen und Bestrebungen er sich zubekennen wird, das hängt unter anderm von dem Standort ab, der ihm im Leben gegeben wird" (Ebd., S. 420).

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Wirksamkeit vervielfältigen und so auf den öffentlich-politischen Bereich ausstrahlen. Umgekehrt bricht sich jedoch der ,. wilde Widerstreit im sozialen Willensleben unserer Epoche" 42 , wie Geiger sehr scharf beobachtet, ebenso in der Wissenschaft deutlich Bahn, wobei Soziologie und Pädagogik für eine weltanschauliche Indienstnahme durch herrschende oder zur Herrschaft strebende Gruppen besonders anfällig sind. Es offenbart sich schon sehr früh für ihn, daß beispielsweise die voranschreitende Verwissenschaftlichung der Pädagogik und ihre Professionalisierung den Berufsstand der Lehrer- wie übrigens auch viele andere akademische Berufsgruppen - nicht vor fachspezifischer Blindheit und politischer Borniertheit feit. Hinzu kommt, daß die konservative ebenso wie die progressive Pädagogik solche Gesellungs- und Vermittlungsformen favorisieren, die das ,,Erlebnis" als Mittel der Erziehung betrachten: Bünde und Gemeinschaften. Auch wenn diese Gemeinschaftspädagogik bis weit in das demokratisch-sozialistische Lager reicht, so gehört es doch vor allem zum sozio-kulturellen Umfeld der konservativen Revolution und insofern ins Vorfeld des Nationalsozialismus. Daher gilt: Nicht nur im akademischen Bereich, also im Verhältnis zu anderen Wissenschaften, sondern auch im Hinblick auf gesellschaftliche Institutionen und Gruppen hätten sich beide Disziplinen zu emanzipieren, komme es doch wesentlich darauf an, sich gegenseitig in diesem Autonomiestreben zu fördern und zu bestärken, was durch eine auf das Wissenschaftsverständnis verpflichtete wertneutrale Erfahrungswissenschaft sowie, damit einhergehend, durch einen von jeglicher Bevormundung freien Austausch von Erkenntnissen möglich sei. 43 Gegenstand des besonderen oder beschreibenden Teils des systematischen Zweigs ist für Geiger ferner die Lehre von den Anstalten und den Organisationen der Erziehung als Sozialgebilde von typisch erzieherisch gemeintem Sinn. 44 Das System der öffentlichen Erziehung in seinem Aufbau, seiner Gliederung und in der anstaltliehen Struktur seiner einzelnen Elemente (Schulen) steht hier zur Disposition. Die Erziehungsanstalten sind als jene Organisationsgebilde zu sehen, die für Lebenskreise mit typisch erzieherischer Funktion den vorgegebenen Rahmen darstellen. 45 In diesem Zusammenhang widmet Geiger auch der Bedeutung der Familie als Gesellschaftseinrichtung besondere Aufmerksamkeit. Denn gerade und vor allem weil sie mit öffentlicher Erziehungsmacht ausgestattet ist, wird die Familie zur rechtlich normierten Erziehungsinstitution - im Gegensatz zur Familie als Lebenskreis - erhoben. Dabei ist sorgsam darauf zu achten, daß die Familie als Ebd., S. 418. Siehe dazu auch Roeder 1964 und Plake 1987. 44 Dies ist für Geiger der soziologische Begriff der Anstalt (vgl. dazu Geiger 1930i, s. 424). 45 Ebd., S. 424. 42 43

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öffentliche Institution von Soll-Charakter und die Familien als reale Gesellschaftsgruppen von Tatsachen-Charakter sehr verschiedene Gesichter tragen. Im Zentrum steht hier vor allem die kritische Erörterung der Frage nach den typischen sozialen Bedingungen, die die tatsächliche Erziehungsfähigkeit der Familie erheblich beeinflussen, also ihr institutionelles Gewicht im Gesellschaftsgefüge, ihre ökonomische Lage sowie insbesondere ihre praktische Bedeutung für den Lebensstil der Gesellschaftsschicht, sei es nun beim Bauern, Besitzbürger (Klein- und Großbürger), Beamten, Intellektuellen oder Arbeiter. 46 Der Versuch von christlicher, zumal katholischer, Seite die Familie als die Keimzelle des Staates mit allem Nachdruck wieder stärker ins Bewußtsein zu rufen, um der zunehmenden Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens wirksam entgegentreten zu können, wird hier ebenfalls von Geiger eigens aufgegriffen und herb kritisiert. Es gilt in erster Linie für Bemühungen des Katholizismus, der familialen Erziehung ein eindeutig weltanschauliches Ziel zu setzen, um dadurch wieder mehr Einfluß auf sie zu erlangen. Gewiß ist ihm bewußt: Wo der soziale Lebensstil eines Kulturkreises gesichert und für alle Gruppengebilde im Staat normativ verbindlich ist, dort wird das Erziehungsziel fraglos anerkannt, dessen Einübung das Leben selbst besorgt. Die Erziehung ist dann statischkonservativ, weil sie in den durch die soziale Gleichgewichtslage bestimmten Bahnen als Funktion des Gesellschaftslebens abläuft. Aber in Zeiten der religiöskonfessionellen Emanzipation des Staates und des tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchs kann davon keine Rede mehr sein. Es wird, ohne sich auch nur darüber einigen zu können, wieder viel über das Ziel der Erziehung geredet. 47 Das muß natürlich den Katholizismus außerordentlich beunruhigen, jedoch vermag auch er keine Lösung anzubieten. Für ihn ist das unbedingte Ziel jeder Erziehung durch die Einsicht in den göttlichen Sinn des Lebens gegeben, der im Dienen besteht; als deren Grundsätze gelten Gerechtigkeit, Ehrfurcht, Hingabe, Weisheit und Kraft. 48 Die Familie als Ort christlicher Lebensauffassung wird dabei als Ausgangsbasis betrachtet, von der aus der Katholizismus seine öffentliche Position wieder zu festigen hofft. Geiger gesteht durchaus ein, daß es leicht sei, zu erziehen, wenn Familien an ein solches unbedingtes Erziehungsziel glauben. Aber: Sie tun es heute entweder gar nicht oder nur unvollkommen und mit einer Unsicherheit, die mit dem Begriff des Glaubens kaum noch in Einklang zu bringen ist. Gerade weil Familien so völlig privatisiert sind, gerade weil sie, trotz der durch die Reichsverfassung vorgegebenen Rahmenbedingungen, keine bedeutsame reale Funktion mehr im öffentlichen Leben ausüben, haben sie an erzieherischer Potenz und Kompetenz 46 Siehe dazu auch Geigers Überlegungen in seiner Vorlesung "Die erzieherische Bedeutung der Familie in der Gegenwart" in Teil B dieser Schrift bzw. meine Ausführungen in "5. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der allgemeinen Soziologie". 47 Siehe dazu auch Geiger 1929/30a. 48 Ebd., S . 44.

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verloren- ein Einwand, den er mit entsprechend argumentativen Akzentverlagerungen prinzipiell mit gleicher Schärfe gegenüber einer im nationalsozialistischen Geist argumentierenden Familienerziehung Kriecks wie auch gegenüber einem radikal-sozialistischen familialen lntervenierungs-Programm geltend macht. 49 In diesem Zusammenhang ist ebenso der von Geiger aufgegriffene, zum Teil erbittert geführte schulpolitische Streit um den weltanschaulichen Charakter der braunschweigischen Gemeindeschulen - nach Reichs- und Landesrecht - in allen seinen verwickelten Facetten zu erörtern, wie denn auch die Auseinandersetzung um den Inhalt der Schulartikel der Reichsverfassung seiner Meinung nach allzu einseitig als schulpolitischer Streit geführt wird. 50 Das verwirrt die Lage und verhindert eine seriöse Betrachtung. Gewiß handelt es sich hier, dessen ist sich Geiger natürlich bewußt, um eine Frage von außerordentlicher politischer Bedeutung und Tragweite. Er gibt aber sogleich kühl zu bedenken: Die Frage nach dem beschreibenden Rechtszustande sei ausschließlich Sache des Juristen- und Geiger läßt erst gar keinen Zweifel aufkommen, daß er diese Position einzunehmen gedenkt. Aufgabe der Politiker sei und bleibe hingegen das Problem künftiger Rechtsneugestaltung oder Umgestaltung. Darum mögen sie legitimerweise mit allen zu Gebote stehenden politischen Mitteln um eine Änderung des Rechtszustandes kämpfen. Nur sollten sie nicht in Ausnutzung einer zufälligen Machtkonstellation den Versuch machen, die Absicht, deren Verwirklichung zum Gesetz ihnen mißlang oder deren gesetzliche Verwirklichung sie nicht wagen dürfen, willkürlich in das Gesetz hineinzuinterpretieren und es dadurch zu diskreditieren. 51 In diesem Sinne muß Geiger betrübt feststellen, daß die Diderotsche Handlungsmaxime "Solange wir atmen, werden wir unvernünftige Gesetze bekämpfen 49 Siehe dazu im einzelnen Geigers Ausführungen in seiner Vorlesung "Die erzieherische Bedeutung der Familie in der Gegenwart" in Teil B dieser Schrift. 50 Siehe dazu vor allem die in dieser Schrift abgedruckten Beiträge Geigers "Hat Braunschweig Bekenntnisschulsystem?" (1930) und "Über Schulrechtsfragen" (1930). Gerade sein noch nicht veröffentlichter Vortrag "Über Schulrechtsfragen" macht dabei deutlich, wie weltanschaulich konfessionelle Gesichtspunkte bis in rechtstechnische Fragen hineinspielen. Diese Klärung der Rechtslage ist für Geiger wohl auch der eigentliche Anlaß seiner von ihm herausgegebenen und bearbeiteten Studie "Das Recht der Volks-, Mittel- und Berufsschulen im Freistaat Braunschweig. Quellen-Texte mit Erläuterungen", Braunschweig 1930. Er legt im Vorwort dazu dar, warum er als Soziologe und Jurist vor allem eine Beschäftigung mit dieser Materie für Studierende der Erziehungswissenschaft, Lehrer und Schulaufsichts-oder Schulverwaltungsbeamte als unverzichtbar erachtet: "Das Schulrecht des Reiches und der Länder ist im Werden. Und dieses Werden ist Gegenstand eines mehr zähen als heißen Kampfes der pädagogischen Richtungen und Weltanschauungsgruppen. Nicht nur wird künftiges Schulrecht die Frucht schulpolitischer Kämpfe sein, sondern auch umgekehrt sind die nach Reichs- und Landesrecht bestehenden schulrechtlichen Gestaltungen Positionen in diesem Kampf um das künftige Schulrecht, Positionen, die man bis in jede Handbreit Bodens hinein kennen muß, um sie ausnutzen zu können" (Geiger 1930b, S. IV f.). 51 Siehe dazu Geiger 1930f, S. 110 f.

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und werden nicht ruhen, bis man sie ändert. Solange sie aber bestehen, werden wir uns ihnen blindlings unterwerfen" ihre Wirkung auf Politiker weitgehend verfehlt habe. 52 Kein Hauch habe die Urheber jener Reichsschulgesetzentwürfe berührt, die der Verfassung durch Verkehrung ihrer schulrechtlichen Grundgedanken ins Gesicht schlagen, wie Geiger nach juristischer Prüfung der Kochschen, Keudellschen und Schieleschen Schulgesetzentwürfe nüchtern konstatieren muß. 53 Davon können ihn auch nicht - nach gründlichem Studium der entsprechenden Verfassungsartikel der Reichsverfassung-dieAuffassungen der damals angesehensten und bedeutendsten juristischen Autoritäten, die Staatsrechtier Anschütz und Lande, abbringen, die im Kern betonen, daß die bestehenden landesrechtliehen Normen über denen der Reichsverfassung stehen und den Charakter der Gemeindeschulen bestimmen, ob sie als Konfessions- oder als Simultanschule zu führen seien. Im Ergebnis gelangt Geiger nach eingehendem juristischen Prüfen und Abwägen zur Auffassung: "Im Deutschen Reiche herrscht als Schulformkraft uneingeschränkt geltenden Verfassungsgrundsatzes die Gemeinschaftsschule. Wo in einem Lande eine andere Schulform die Regel ist, sei es die bekenntnisfreie oder Bekenntnisschule, dort herrscht ein verfassungswidriger Zustand - gleichviel, ob dieser Zustand schon vor Erlaß der RV. (Reichsverfassung, K. R.) waltete oder erst nachher geschaffen wurde. Die Länder sind durch die Reichsverfassung verpflichtet, die Gemeinschaftsschule als Regelschule durchzuführen. Entgegenstehendes Landesrecht ist laut Art. 13 RV. seit Erlaß der Reichsverfassung null und nichtig geworden." 54 Keinen Hauch des Diderotschen Geistes macht Geiger auch bei jenen politischen Vertretern im Freistaat Braunschweig aus, die- in den Jahren 1918 I 19 außerstande ihre Bekenntnisschulwünsche legal durchzusetzen - nunmehr verantwortungslos alles daransetzen, am geltenden Recht in ihrem Sinne herumzurütEbd., S. 111. Ebd., S. 110 ff. 54 Ebd., S. 115 f. "Man wird mir nicht vorwerfen dürfen," so beteuert Geiger mit allem Nachdruck, "ich umkleidete nur meine schulpolitischen Wünsche mit einem juristischen Mantel. Ich würde mir nicht die Gemeinschaftsschule der Reichsverfassung wünschen, sondern allgemein und ausnahmslos eine öffentliche Schule, die Bekenntnis und Bekenntnisunterricht Sache der Bekenntnisgemeinschaften sein läßt. Ich halte die Einbeziehung der Bekenntnisse in das öffentliche Schulwesen eines bekenntnismäßig so gemischten politischen Gebildes, wie das deutsche Volk es ist, für untunlich. Ich meine, ein moderner Staat müsse die Bekenntnisfreiheit seiner Bürger schützen, er habe ihnen die ungehinderte Betätigung ihres Glaubens zu gewährleisten, aber damit habe er auch genug getan. Er braucht nicht die Erfüllung der erzieherischen und unterrichtlichen Sonderinteressen der Bekenntnisgemeinschaften auf eigene Regie und Kasse zu übernehmen.W o es aber um die Frage nach dem gegenwärtig kraft Rechtens bestehenden Charakter der braunschweigischen Gemeindeschulen geht, hat meine politische Ansicht zu schweigen, wie die jedes andern. Nur um zweierlei handelt es sich: Um den Inhalt der geltenden Rechtsregeln und um die tatsächliche Gestaltung des Schulwesens" (Ebd., S. 111). 52 53

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teln. 55 Auch ihnen erteilt er eine geharnischte juristische Lektion in Sachen bestehender Rechtslage und weist nach, daß das Ergebnis der "nach Bekenntissen nicht getrennten Schule" günstig sei. 56 Der Gemeinschaftscharakter der braunschweigischen Schulen ist in der Rechtslage vom Stichtag der Reichsverfassung zu klar begründet, als daß er ernsthaft angezweifelt oder gar erfolgreich bestritten werden könnte. Die Schulen stehen grundsätzlich Angehörigen aller Religionen und Weltanschauungen offen, ihr Lehrkörper ist nicht nach Bekenntnisgrundsätzen zusammengesetzt, sie haben die Religion nach Konfessionen getrennt als Lehrfach. In ihrem sonstigen Unterricht vereinen sie aber die Kinder aller Konfessionen und Weltanschauungen und gestalten diesen Unterricht frei von allen Bekenntnisbindungen. 57 Die Verfechter des Bekenntnisschulgedankens können nichts für sich ins Feld führen, als den Namen, den die braunschweigischen Gemeindeschulen in dem längst zermürbten Gesetz von 1913 als Attribut noch führen: "evangelisch-lutherisch". Namen allerdings, so belehrt Geiger sie, seien Schall und Rauch. Wenn schon "historisch bedingte Namen ihren Sinn bewahrten, müßte ein Baron noch immer ein ,Knecht' und der Marschall von Frankreich ein ,Stallmeister' sein." 58 Schon als die Revolution ausbrach, seien die braunschweigischen Gemeindeschulen keine Bekenntnisschulen im eigentlichen Sinne mehr gewesen. 59 Der Name "evangelisch-lutherisch" sei- auch gemessen an der Definition der Bekenntnisschule, wie sie in den Reichsschulgesetzentwürfen von Koch, Keude/1 und Schiele vorgesehen sind - so zur bloßen historischen Formel degradiert. Wohl wird der Bekenntnischarakter einer Schule nicht dadurch berührt, daß ausnahmsweise und von Fall zu Fall auch bekenntnisfremde Kinder zugelassen werden. Aber von Bekenntnisschule kann überhaupt keine Rede mehr sein, "wenn alle Kinder rechtlich gezwungen sind, die Schule dieser einen Form (,die Volksschulen' des Landes!) zu besuchen" 60 - von den wenigen, im Gesetz besonders erwähnten Ausnahmen einmal abgesehen. 6t 55 Geiger hat hier besonders den ehemaligen Braunschweigischen Volksbildungsminister Marquordt (1924-1927), DVP, von der bürgerlichen Einheitsliste (BEL) im Visier, dem er vorwirft, mit gespaltener Zunge zu reden. Dieser bekannte sich "im Jahre 1927 rückhaltlos als Freund eines staatlich-öffentlichen Schulwesens, das kirchlich-konfessionellen Gedanken nicht in höherem als dem durch die Reichsverfassung unbedingt gebotenen Maße aufgeschlossen sein sollte. Leider ist der Abgeordnete Marquordt nicht bei dieser Beurteilung des Schulzustandes in Braunschweig geblieben" (Ebd., S. 124). 56 Ebd., S. 116 ff. 57 Ebd., S. 122. 58 Ebd., S. 116. 59 "Das alte Gesetz von 1851/1898 hatte noch die Formel, auch bekenntnisfremde Kinder könnten in die evangelisch-lutherischen Gemeindeschulen aufgenommen werden. Das Gesetz von 1913 nennt die ,ev.-luth.' Gemeindeschulen in § 3 ,die Volksschulen' des Landes, spricht nicht von ,evangelischer', sondern von ,christlicher' Bildung und spricht in § 11 für alle Kinder ohne Unterschied des Bekenntnisses die Pflicht zum Besuch der ,ev.-luth.' Gemeindeschule aus" (Ebd., S. 116). 60 Ebd., S. 117.

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Neben der Bekenntnisschulfrage gerät jedoch ebenso Anfang der dreißiger Jahre die akademische Volksschullehrerausbildung an der Technischen Hochschule Braunschweig zunehmend ins Kreuzfeuer der politischen Kritik. 62 Entgegen unterschiedlicher Bewertung im einzelnen teilt man im akademischen Lehrkörper im allgemeinen die Auffassung, daß, trotz einiger Fehler und noch zu lösender Probleme, die Volksschullehrerausbildung an der Technischen Hochschule eine erfreuliche Entwicklung genommen und sich insgesamt bewährt habe. Diese Auffassung wird von Geiger in entscheidenden Punkten nicht geteilt, weshalb er in dieser wichtigen Sache das Wort ergreift und sich eingehend mit der akademischen Volksschullehrerausbildung auseinandersetzt 63 61 Die Anhänger des Bekenntnisschulgedankens können sich ebensowenig darauf berufen, "das Land habe unter der Herrschaft des Bekenntnisschulsystems eben im wesentlichen nur evangelische Bekenntnisschulen gebraucht, denn es habe eine konfessionell homogene Bevölkerung. 6 Prozent der braunschweigischen Staatsbürger sind nicht evangelisch und nur acht deutsche Länder sind bekenntnismäßig stärker gemischt als Braunschweig (Zählung von 1925). Für die Katholiken bestehen katholische Schulen, für die Reformierten eine reformierte? -an wie vielen Orten? Überall dort, wo nur eine ,ev.-luth.' Schule besteht, wären auch anders Gesinnte zu deren Besuch gezwungen. Und wenn das nur ein oder zwei Kinder wären, so widerspräche es doch dem Art. 135 RV. Wenn katholische Eltern ihr Kind in eine evangelische Schule schicken - ihre Sache! Wenn sie es dorthin schicken müssen - Bruch der heiligst verbrieften verfassungsmäßigen Rechte des Staatsbürgers. Und das wäre in Braunschweig der Fall. Diese Kinder werden vom Religionsunterricht befreit? Vortrefflich! Aber im Schulerlaß Marquordt vom 19. 9. 1925 wird verlangt (Il, 1), der gesamte Unterricht habe der gekennzeichneten evangelischen Bekenntniseigenart der Schule Rechnung zu tragen. Das widerspricht schon dem § 3 des Braunschweigischen Gemeindeschulgesetzes, wo nur von christlichem, nicht evangelisch-lutherischem Geiste die Rede ist. Es ist aber unmöglich angesichts des Art. 135 RV. Katholische, jüdische und bekenntnislose Kinder sollen sich bieten lassen, daß ihnen die Geschichte des dreißigjährigen Krieges ,unter Rücksichtnahme auf den evangelischen Bekenntnischarakter der Schule' vom protestantischen Standpunkt vorgetragen wird? Man weiß, was das heißt: der edle Gustav Adolf, der niemals des Länderraubes willen, sondern einzig von religiöser Begeisterung getragen, in den Krieg zog; und dagegen: der Satan Tilly. Was heißt dagegen ,Rücksicht auf die Gefühle Anders-Denkender'? Neutralität dieser Art ist Unsinn. Das Bild, das der gläubige Protestant vom dreißigjährigen Krieg haben muß und hat, dieses Bild schon verletzt die Gefühle des gläubigen Katholiken. Es verletzt sogar mich, der ich längst nicht mehr katholisch bin, einfach, weil es der kaiserlichen Partei nicht gerecht wird. Mit Recht hat das Ministerium Sievers (Schulerlaß vom 7. l. 1928) diesen Erlaß seines Vorgängers als verfassungswidrig aufgehoben" (Ebd., S. 117). 62 "Der Studienplan zur Lehrerausbildung an der TH", so bemerkt Sandfuchs, "war bereits 1927 als vorläufig und revisionsbedürftig angesehen worden; insbesondere die hohe Zahl der Pflichtstunden hatte von vornherein Bedenken erregt. Inzwischen haben sich die Probleme durch die Erweiterung des Lehrkörpers noch vermehrt" (Sandfuchs 1978, S. 311 ). 1931 und 1932 sind daher Jahre der Bilanz. "Die beiden ersten Jahrgänge haben die Ausbildung durchlaufen, die gemachten Erfahrungen fordern Verbesserungen heraus. Die im ganzen Reich einsetzende Kampagne gegen die akademische Lehrerausbildung und die finanzielle Notlage des Landes erfordern ihre erneute Rechtfertigung. Das personelle Revirement hat in einigen Bereichen ein Vakuum hinterlassen, das sinnvoll ausgefüllt werden muß.... Dies alles ist Grund zu gründlicher Bestandsaufnahme und Reformvorschlägen" (Ebd., S. 289). 63 Für Geiger ist diese Frage auch deshalb von so zentraler Bedeutung und Brisanz, stellt sie doch die entscheidende Grundlage seiner Lehr- und Forschungstätigkeit an der

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Geiger macht in seiner Argumentation von vornherein unmißverständlich klar, daß man über die Vorzüge und Nachteile der akademischen und seminaristischen Volksschullehrerausbildung gewiß verschiedener Meinung sein kann. Nur eine Meinung allerdings gibt es darüber, daß man sich den neuen, akademisch ausgewiesenen Pädagogen als eigenverantwortlichen Beherrscher der Erziehungsproblematik schlechthin denken müsse. Er soll nicht eine ihm übermittelte, erzieherisch-unterrichtliche Kunstlehre, soll nicht Rezepte im Rahmen eines auf Konsens beruhenden festen Erziehungsprogramms, wie es noch in der traditionellen seminaristischen Ausbildung praktiziert wurde, anwenden, "sondern sein berufliches Alltagstun aus dem selbstgeschauten und durchschauten Sinn der Erziehung im Gesamtvorgang volklichen Lebens täglich und stündlich neu gestalten" müssen. 64 Dieses setze "Leistungsehrlichkeit und geistige Sauberkeit (voraus), die von den deutschen Volkslehrern mehr als von den Vertretern irgendeines Berufsstandes verlangt werden muß, Name und wirklicher Charakter der Lehrerausbildung" müssen übereinstimmen 65 ; andernfalls gewinne es allzuleicht den Anschein, als diene die Verkündigung der akademischen Volksschullehrerausbildung nur berufspädagogischem Ehrgeiz als Vorwand. Vor diesem Hintergrund geht Geiger mit der bisherigen akademischen Volksschullehrerausbildung hart ins Gericht und beleuchtet grell ihre neuralgischen Punkte. 66 Die Studierenden beklagen sich zum Teil mit Recht, wie er ihnen durchaus zugesteht, bitter über eine zu starke Arbeitsbelastung, mehr noch über eine Zersplitterung durch allzu große Vielfalt der Arbeitsgebiete innerhalb des Technischen Hochschule in Braunschweig dar. Im übrigen hatte er sich bereits an der Volkshochschule Groß-Berlin intensiv mit Fragen der didaktischen Planung und Reflexion der Erwachsenenbildung beschäftigt (siehe dazu ausführlich Weinberg 1984a). Er kann deshalb mit guten Gründen in die Auseinandersetzung um die Hochschulausbildung von Volksschullehrern und um die in der Prüfungsordnung von 1929 festgelegten Anforderungen eingreifen. Die Diskussion ist dokumentiert durch einen von Geiger erstatteten "Bericht an die 8. Abteilung" (1929), in dem die Texte der Prüfungsordnungen von 1927 und 1929 verglichen sind und über die Verhandlungen mit dem Ministerium für Volksbildung berichtet wird. Er hat seine Überlegungen später fortgeführt in den in Teil B dieser Schrift abgedruckten Beiträgen "Denkschrift über die Reform des Studienplans für Erziehungswissenschaften" (1931) und "Über die Ausbildung der "Volksschullehrer" (1932) (vgl. auch meine Ausführungen in "3. Berufung an die Technische Hochschule Braunschweig, Lehr- und Forschungssituation, Entlassung"). Wie ernst und wichtig es Geiger mit der akademischen Lehrerausbildung im übrigen ist, dokumentiert auch sein Vortrag ,,Zusammenarbeit zwischen Soziologie und ihren Nachbarfachern", den er am 28. Februar 1932 auf der Frankfurter Dozententagung im Institut für Sozialforschung gehalten hat (vgl. von Wiese 1932). 64 Geiger 1932b, S. 393. 65 Geiger 193li, S. 1. 66 "Aus privaten, stichwortartigen Notizen Roloffs (eines Kollegen Geigers, K. R.) ist zu ersehen", wie Sandfuchs erläuternd hinzufügt, "daß er nicht mit dieser Schärfe urteilt. Gleichwohl drücken Geigers ,Denkschrift über die Reform des Studienplans für Erziehungswissenschaften' und seine Schrift ,Über die Ausbildung der Volksschullehrer' nicht allein seine spezielle Auffassung aus, sondern sind aus der Diskussion der Abteilung entstanden" (Sandfuchs 1978, S. 289).

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akademischen Studienganges, was letztendlich zu "substanzlosem Examensgefasel" führe. 67 Die Lehrenden rügen vor allem, daß neben der hochschulmäßigen Ausbildung die Schulpraxis und die Anleitung in den so genannten technischen Fächern wie Musik, Zeichnen, Turnen, Werkunterricht, Gartenbau, Nadelarbeit, Kochen, Säuglingspflege einhergeht, die die Möglichkeit zu häuslicher Arbeit in den wissenschaftlichen Fächern arg beeinträchtigt. 68 Den Grund für diese Mängel sieht Geiger in erster Linie in einer Vermengung akademischer und seminaristischer Ausbildungsformen und -inhalte, die notwendig zu einem unseligen Zwittergebilde führen. Erfolgversprechende Reformen müßten erstens die Frage, wie an einer Hochschule Theorie und Schulpraxis in der Volksschullehrerausbildung miteinander verbunden werden sollen, erneut diskutieren und anders als bisher lösen sowie insbesondere die Zuständigkeit für die gesamte Ausbildung in eine Hand legen; zweitens eine sinnvolle Konzentration auf wenige akademische Studienfächer im Auge haben, damit jene Arbeitsintensität gefordert werden könne, die dem Ernst eines wissenschaftlichen Studiums Geiger 1932 b, S. 402. "Dieses Nebeneinander drückt sich schon darin aus", wie Geiger plausibel begründet, "daß zwei verschiedene Instanzen als Ausbildungsträger erscheinen. Der Student ist an der Hochschule immatrikuliert, die schulpraktische Unterweisung und die Schulung in den technischen Fächern untersteht der Schulverwaltung. Das macht sich bis in die scheinbar belanglosesten Einzelheiten bemerkbar, z. B. darin, daß der Studierende neben dem Belegheft der Hochschule ein besonderes Testierbuch für die Schulverwaltung zu führen hat! Die heutige Ordnung der Dinge ist geeignet, die beiden Ausbildungsträger in ein Verhältnis abträglicher Konkurrenz statt förderlichen Zusammenwirkens zu bringen. Ein Hochschulstudium fordert einen ganzen Mann. Die akademischen Lehrer klagen nicht ohne Grund darüber, daß die Studierenden nur mit halber Kraft beim Wissenschaftsbetrieb sind, der doch nun einmal akademische Hauptaufgabe ist. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: die Hochschulferien sind zum großen Teil durch Unterrichtspraxis (früher ,Landschulaufenthalt') oder technische Kurse mit Beschlag belegt. Es ist ein arger Irrtum anzunehmen, die Studierenden seien an der Hochschule nur durch sieben Monate des Jahres beschäftigt, sie könnten die übrigen fünf in anderer Weise nutzbringend anwenden. Die Hochschulferien sind mit gutem Grund so lang. Sie sind nicht nur Erholungszeit, sondern unverzichtbarer Bestandteil des akademischen Arbeitssystems. Wie der Professor das Semesterende sehnsüchtig erwartet - nicht, um aller Pflichten ledig spazierengehen, sondern um endlich in voller Sammlung arbeiten zu können, so müßte es auch beim Studenten sein: das Korn, das er während des Semesters in seine Scheuer eingefahren hat, sollte er während der Ferien vermahlen. Als der so genannte Landschulaufenthalt noch nicht den Finanzschwierigkeiten zum Opfer gefallen war, kamen die jungen Leute weder erholt noch wissenschaftlich gereift und gefördert zum Semesterbeginn. Abgespannt und mißvergnügt nahmen sie auf den Bänken Platz und begannen bestenfalls dort wieder, wo sie am Semesterende aufgehört hatten. Noch jetzt treten die weiblichen Studierenden das Semester mit einer Verspätung von zwei bis drei Wochen an, weil der Ferienkursim-Kochen sich solange hinzieht. Die Versäumnis einiger Stunden ist an sich nicht so bedenklich; hat doch der Akademiker das gute und wohlerworbene Recht, zu ,schwänzen'. Aber einmal ist es ein erheblicher Unterschied, ob der Student auf eigne Verantwortung von seiner akademischen Freiheit Gebrauch macht, oder ob er zwangsläufig vom Kollegbesuch abgehalten wird, indem der eine Ausbildungsträger dem andern Abbruch tut" (Ebd., S. 394 f.). 67

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entspräche; drittens schließlich die pflichtgebundenen Vorlesungs- und Übungsstunden so vermindern, daß für häusliches Studium ausreichend freie Zeit verfügbar bliebe. Geiger hält es deswegen für zwingend geboten, das Studium straffer als bisher auf das vorgestellte Berufsbild des Volksschullehrers hin auszurichten. Dies könne nur gelingen, wenn die einzelnen Wissenschaften nicht um ihrer selbst willen betrieben werden, sondern sich auf ihre jeweils besonderen Beiträge zur ErheBung des Erziehungsproblems beschränken würden und wenn die Fächer und Inhalte einander sinnvoll zugeordnet seien. Er erstellt daher einen um die theoretische und angewandte Pädagogik gruppierten Lehrplanentwurf (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3: Synopse des Lehrplanentwurfs Geigers Quelle: Geiger 1932b

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Den Lehrplanentwurf gliedert Geiger in vier Hauptgruppen 69 : 1. Theoretische und angewandte Pädagogik, einschließlich Lehrproben und technische Fächer 70; 2. Pädagogische Hilfswissenschaften (Psychologie, Philosophie, allgemeine und pädagogische Soziologie); 3. Wahlfach (verschieden verbundene Einzeldisziplinen in drei Hauptklassen: geisteswissenschaftliche Klasse [Religionswissenschaften, Psychologie, Philosophie, Literatur, Geschichte, (Soziologie)], sozialwissenschaftliche Klasse [Soziologie, allgemeine Staatslehre, Sozialökonomik (Geschichte)], naturwissenschaftliche Klasse [Mathematik, Physik, Chemie, Geographie, Biologie]; 4. Ergänzungsfächer (Schulhygiene, Schulrecht und Schulverwaltung, Jugendwohlfahrt und Staatsbürgerkunde, Gesellschaftskunde des deutschen Volkes). Im Zentrum der Studien stehen für Geiger die theoretische Pädagogik 71 und ihre Hilfswissenschaften (Philosophie, Psychologie, Soziologie), die er auch als Ebd., S. 409 ff. Geiger äußert in seiner Kritik an den "technischen Fächern", daß die fachdidaktische Ausbildung ein seminaristisches Relikt sei, das nicht dem gegenwärtigen Stand pädagogischen Denkens entspreche; es genüge daher eine allgemeine Didaktik und Methodik. "In etwas vereinfachender Formel ausgedrückt: die Didaktik hat an die Methodik Boden verloren. Wir stehen heute auf dem Standpunkt: wer sich, gleichviel an welchen Unterrichtsgegenständen, die Fähigkeit des Unterrichtens erworben hat, der wird jedes beliebige Gebiet unterrichtlich bewältigen können, indem er die allgemeinen Prinzipien des Lebrens in selbständig gestaltender Tätigkeit anwendet. Es bedarf nicht einer unterrichtlichen Ausbildung in umfassender gefächerter Besonderung" (Ebd., S. 407 f.). Sandfuchs merkt dazu an: "Die konkrete Ursache dieser Kritik ist die zunehmende Ausweitung der technischen Fächer, die von Böse (Landesschulrat für das Volksschulwesen in Braunschweig, K. R.) in der Sorge um die Belange der Berufspraxis betrieben wird, in der die Lehrenden der Hochschule aber wegen des damit verbundenen Zeitaufwandes und der unwissenschaftlichen Arbeitsweise eine Gefahr für das wissenschaftliche Studium sehen. Geiger schätzt die Notwendigkeit fachdidaktischer Studien mit Sicherheit falsch ein, was sowohl auf seine mangelnde Kenntnis dieses Problembereiches als auch auf den seinerzeitigen Stand der Fachdidaktik zurückzuführen ist" (Sandfuchs 1978, S. 402). Es ist schwer zu entscheiden, ob diese Kritik Sandfuchs' berechtigt ist, beruft sich doch Geiger auf "sachverständigen Bericht" (Ebd. S. 407), wie er gleich zu Beginn seiner Ausführungen zu den "technischen Fächern" anmerkt. 71 Die theoretische Pädagogik, so betont Geiger, sei "in ihrem Bestand als autonome Wissenschaft noch recht unzureichend gefestigt, jedenfalls hierin nicht allgemein anerkannt. Selbst die entschiedenen Vertreter der autonomen Pädagogik greifen beim Aufbau ihrer Theorie mehr als die Forscher auf andern Gebieten in den Ideenbereich und Erkenntnisbestand benachbarter Wissenschaften über. Wir sehen im gegenwärtigen Augenblick die zur Autonomie als Wissenschaft hinstrebende theoretische Pädagogik in ebendem Zustande, dem wir allenthalben begegnen, wo ein Forschungsgebiet und eine Erkenntnismethode sich neu konstituiert: um einen Kristallisationspunkt herum legen sich zunächst Komplexe, die bisher Randgebiete andrer Wissenschaften waren. Die durchgreifende Neuordnung der Fragestellungen, die Durchdringung des Gegenstandskomplexes aus dem Aspekt der Frageabsicht, die für eine neu konsolidierende Wissenschaft konstitutiv ist, erfolgt erst allmählich" (Geiger 1931 i, S. 4). 69

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"Erziehungswissenschaften im weiteren Sinne" bezeichnet. 72 Insbesondere von der theoretischen Pädagogik als zentralem Arbeitsfach fordert er mehr als bisher den Zusammenhang theoretischen Erkennens und erzieherischen Handeins für die Studierenden einsichtig werden zu lassen. Das wird nur dann der Fall sein, wenn der Vertreter dieses Faches in seiner Person pädagogische Theorie und Schulpraxis vereinigt. Von den Erziehungswissenschaften insgesamt verlangt Geiger, das "beziehungslose Nebeneinander" zu überwinden 73 , ihre Inhalte unter den Vertretern abzustimmen und sich auf die beruflichen Erfordernisse des Volksschullehrers zu konzentrieren. Nur so werde man auch die zu hohe Pflichtstundenzahl für die Studierenden in diesen Fächern auf ein solches Maß zurückführen können, daß eine innere Verarbeitung des Erworbenen möglich wird. 74 Das Wahlfachstudium habe, so Geiger, im Volksschullehrerstudium eine ganz andere Bedeutung als im Oberlehrerstudium. Hier wird das Studium zum Erwerb der Lehrbefähigung im sachlich gegliederten Unterrichtssystem der höheren Schule betrieben. Im ungefacherten Unterricht der Volksschule dagegen kommt dieses Prinzip nicht in Frage. Die für den Schulunterricht erforderlichen sprachlichen Kenntnisse etwa müsse der Studierende bereits zur Hochschule mitbringen, auch bedürfe er des Mathematikstudiums nicht für den späteren Rechenunterricht Recht verstanden kann das Wahlfach für den künftigen akademisch ausgebildeten Volksschullehrer nur den Sinn haben, da er von den erziehungswissenschaftliehen Fächern keines "in wissenschaftlicher Systematik" umfassen könne, "um der wissenschaftlichen Zucht willen" ihm einen Ausgleich zu bieten: Er solle ein Gebiet "in fachsystematischem Zusammenhang und zweckfrei betreiben und so jenen Begriff von wissenschaftlicher Arbeit bekommen, ohne den er nicht das moralische Recht hat, sich Akademiker zu nennen." 75 72 Geiger 1932 b, S. 399. Sie sind die Gesamtheit derjenigen Erkenntnisgebiete, die ihre Beiträge zu einer Gesamtschau der Erziehung leisten. "Bei seminaristischer Ausbildung mochte es genügen, wenn der junge Lehrer diese Lernelemente aus der Hand des pädagogischen Praktikers, also aus zweiter Hand, empfing. Akademische Ausbildung erfordert, daß dem Studierenden der unmittelbare Zugang zu diesen Quellen eröffnet werde. Jede dieser Hilfswissenschaften ( - ich spreche geflissentlich nicht von ,Grundwissenschaften') gibt von sich aus nur einen Aspekt auf die Erziehung. Aufgabe des werdenden jungen Lehrers ist es, die in den systematischen Zusammenhängen der verschiedenen Disziplinen gewonnenen Teileinsichten selbst zur eigenen Gesamtschau zu verarbeiten. Gerade in dieser geistigen Eigenverantwortlichkeit bewährt sich die hochschulmäßige Ausbildung der Lehrer- oder sie ist Trug" (Ebd., S. 399). 73 Ebd., S. 402. 74 "Dabei ist", das konzediert Geiger, "auf den Habitus heutiger Jugend Rücksicht zu nehmen, die offenbar besser lesend lernt und handfester Führung bedarf. Der akademische Lehrbetrieb ist daher weitgehend auf Schulung, vielleicht bis zur amerikanischen Methode des text-book, abzustellen" (Ebd., S. 403). Geiger selbst hat in Braunschweig nach dieser Methode gearbeitet (vgl. dazu auch Geiger 1930a). 75 Geiger 1932 b, S. 404. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den § 14 der Prüfungsordnung meint Geiger, das Wahlfach werde "deutlich um seines formal-bildenden Wertes, nicht um der unterrichtlichen Verwertbarkeit der erworbenen Fachkenntnisse willen, betrieben" (Geiger 1931 i, S. 8). Kritisch äußert sich Sandfuchs zu dieser Sichtweise: "Durch diesen Irrtum (?) gelangt

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Geiger unterbreitet in diesem Zusammenhang zwei beachtenswerte Vorschläge: 1. Philosophie, Psychologie und Soziologie sollen in den Kreis der Wahlfächer aufgenommen werden. Besteht bei Studierenden besondere Neigung für eines dieser Fächer, so ist nicht einzusehen, warum sie nicht durch zusätzliche Beschäftigung über das im Rahmen der allgemeinen pädagogischen Ausbildung gebotene Maß hinaus die Befähigung zu "spezialwissenschaftlicher Arbeit" nachweisen können. "Den Studierenden wäre Erleichterung und größere Bewegungsfreiheit geschaffen, den Professoren fruchtbare und erquicklichere Arbeit ermöglicht, wenn die Wahl des Spezialfachs vollkommen freigestellt wäre.... Wer Philosophie, Psychologie, Soziologie als Pflichtfach für Pädagogen - und nur als solches - zu lehren hat, ist gezwungen, jahraus jahrein eine Elementarlehre vorzutragen. Das mag in der ersten Zeit eine reizvolle unterrichtsmethodische Aufgabe sein; ist sie erfüllt, so bleibt jene Leere und geistige Stockung, die dort eintritt, wo die Tagesordnung des Berufs hinter dem Können zurückbleibt. Darunter leidet endlich nach Jahren der Eifer und sogar die unterrichtliche Leistung. Die technisch-naturwissenschaftlichen Kollegen haben an ihrer Tätigkeit, soweit sie die Studierenden der Erziehungswissenschaften betrifft, keine reine Freude. Sie haben aber die Möglichkeit, sich in der Arbeit mit ihren Fachstudierenden geistig schadlos zu halten. Die Vertreter der Pflichtfächer in der Abteilung VIII sind z. Z. hoffnungslos der inneren Verödung ausgeliefert, wenn sie nicht ihren Lehrberuf als lästige Unterbrechung ihrer Forschungsarbeit am Schreibtisch auffassen."76 2. Die Spezialisierung der Wahlfächer sei zu weit getrieben. Wenn beispielsweise Sozialökonomik, was geboten sei, in den Kreis der Wahlfächer aufgenomGeiger zu der Einschätzung, die den didaktischen Aspekt des Wahlfachstudiums völlig verfehlt, die in engem Zusammenhang mit seinen Ausführungen zu den technischen Fächern steht, in denen er erklärt, eine ,Fächerung der didaktischen Ausbildung sei unnötig, ja gefahrlich" (Sandfuchs 1978, S. 321). Sandfuchs konzediert aber zugleich, daß der einschlägige§ 14 der Prüfungsordnungen von 1927 und 1929 widersprüchliche Aussagen enthält, die der eindeutigen juristischen Klärung harren (Ebd., S. 320). Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß Geiger sein Fachinteresse bei seiner Argumentation in den Vordergrund rückt. Das gilt ebenso für Sandfuchs' Aussage: "An dieser Stelle ist auch der Nachteil einer verdeckten standespolitischen Argumentation offenkundig. Die Forderung nach einem von Schulzwecken freien, lediglich zwecks Erwerb formal-wissenschaftlicher Qualifikation und I oder des damit verbundenen persönlichkeitsbildenden Effektes willen studierten Wahlfachs ist leichter durchzusetzen als ein Studium in einem (Volks-)Schulfach. Ersterem kann jede beliebige wissenschaftliche Disziplin dienen, letzteres ist weder sachlich möglich (Welchem Volksschulfach entspricht eine universitäre Wissenschaftsdisziplin?) noch politisch erreichbar" (Ebd., S. 321 f.). Mir scheint dieser Einwand nicht überzeugend, denn es ist schwer vorstellbar, daß Geiger aus einer verdeckten standespolitischen Sicht heraus argumentiert, um Zustimmung zu erlangen - nein, hier legt der akademische Hochschullehrer, der um Leistungsehrlichkeit in der Volksschullehrausbildung bemüht ist, seine Ansichten und berechtigten Interessen offen. 76 Geiger 1931 i, S. 9 f. 14 Rodax

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men werde, so bedürfe sie als wissenschaftliches Wahlfach indes der Ergänzung durch Soziologie ebenso, wie umgekehrt Soziologie als Wahlfach nur unter Einbeziehung von Ökonomik, Geschichte oder Philosophie denkbar sei. Der Katalog der Wahlfächer trage allzu sehr in seiner gegenwärtigen Form das Signum der "Fächerung", wie sie für den Lehrplan einer höheren Schule kennzeichnend sei. Wissenschaftssystematisch sei er nicht länger zu verantworten und sollte einer Kombination zusammengehöriger Fächerklassen weichen. 77 Unverzichtbar bleiben schließlich für Geiger auch einige Ergänzungsfächer. Sie spielen insofern eine Sonderrolle, als Staatsbürgerkunde im späteren Schulunterricht erforderliche Kenntnisse über den derzeit gültigen "Normenaufbau des staatlich geeinten Volkes (unter Rückgriff auf die geschichtliche Entstehung dieser staatlichen Lebensform)" 78 vermittelt, Schulrecht und Schulverwaltung darüber hinaus als technisches Berufswissen für den zukünftigen Volksschullehrer unentbehrlich seien. In enger Nachbarschaft und Beziehung zur Staatsbürgerkunde möchte Geiger eine "Gesellschaftskunde des deutschen Volkes" betrieben wissen, die, im Gegensatz zur normativ-historischen Staatsbürgerkunde, als Soziographie den tatsächlichen Zustand des Volkes, seine natürlichen und sozialen Bevölkerungsbewegungen, seine berufliche, wirtschaftliche und soziale Gliederung, die wesentlichen sozialen Strukturen, die wichtigen gesellschaftlichen Strömungen und Ansätze zu neuen Lebensformen in der deutschen Gegenwart beschreibt. Er stellt sie als Studienfach zwischen Staatsbürgerkunde, Soziologie und Ökonomik; im Unterricht durch den Volksschullehrer siedelt er sie zwischen Staatsbürger- und Heimatkunde an. 79 Geigers Reformplan, vom ihm als Diskussionsvorschlag verstanden, berührt den existierenden Lehrplan in seinen stofflichen Forderungen kaum. Er gründet, wie er abschließend vor dem Hintergrund der vorgetragenen Klagen von Studierenden und Hochschullehrern resümiert, insbesondere darauf, "die stofflichen Elemente anders anzuordnen und so aus dem Mosaik ein strukturiertes Gefüge beziehungsvoll aufeinander abgestimmter Teile zu machen. Dadurch allein wird schon Erleichterung und Entlastung für die Studierenden erreicht, ohne daß ihnen in der Sache etwas nachgelassen ist; im Gegenteil, die Arbeit wird zugleich sehr viel intensiver gestaltet, die tatsächlichen Forderungen können höher gestellt und - ihre Erfüllung kann zuverlässiger kontrolliert werden. Die Entlastung beruht 77 Geiger erwähnt innerhalb der drei bereits genannten Hauptklassen, der geistes-, der sozial- und naturwissenschaftlichen, folgende mögliche Verbindungen: "MathmatikPhysik-Chemie; Chemie-Biologie; Geographie-Geophysik-Geologie, Philosophie-Psychologie; Literaturwissenschaft-Geschichte-Philosophie; Religionswissenschaft-Philosophie; Soziologie-Philosophie-Psychologie; Soziologie-Geschichte-Ökonomik; Ökonomik-Soziologie.- Tritt eine Disziplin in mehreren Verbindungen auf, so hat sie sinngemäß nicht in jeder gleiches Gewicht, wird auch da und dort thematisch in verschiedener Betonung betrieben werden müssen" (Geiger 1932b, S. 405). 78 Ebd., S. 406. 79 Ebd., S. 406.

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auf Stundenersparnissen durch Fortfall von Doppelarbeit, die sich aus der teilweisen thematischen Überlagerung einzelner Wissensgebiete ergibt. Die Erleichterung und gleichzeitige Intensivierung des Studiums liegt darin, daß sich bei sinnvoller Gliederung des gesamten Arbeitspensums dessen einzelne Elemente dem Studierenden von Anbeginn an ihrem Ort im Bezugssystem seiner Berufsproblematik darstellen. Außerdem ist er durch die Beschränkung der Pflichtstundenzahl für eigene häusliche Arbeit freigesetzt, die zur Vertiefung und Verarbeitung erworbener Kenntnisse unentbehrlich ist." 80 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 1932 ist allerdings Geigers Reformplan aufgrund der veränderten politischen Realität im Freistaat Braunschweig bereits Makulatur. 81 Erschwerend mag, neben der prekären finanziellen Situation im Freistaat Braunschweig, hinzugekommen sein, daß ab 1931 der Numerus clausus in der akademischen Volksschullehrerbildung eingeführt wird, so daß andere Probleme die VIII. Abteilung für Kulturwissenschaften bewegen und zahlreiche abgewiesene Bewerber notgedrungen die Gmynasiallehrerausbildung einschlagen müssen. 82 Ebd., S. 410. Aus den Wahlen 1930 in Braunschweig geht eine bürgerlich-nationalsozialistische Koalition hervor, die die Sozialdemokraten nach dreijähriger Alleinregierung ablöst. Der Wahlkampf wird vor allem gegen die Futterkrippenwirtschaft der SPD geführt. Sie hatte unter ihrem Volksbildungsminister Sievers allzu schnell und offensichtlich Männer seines Vertrauens in die Schlüsselpositionen der akademischen Volksschullehrerbildung und Schulverwaltung gebracht. Die akademische Volksschullehrerbildung geriet dadurch bei der gesamten bürgerlichen Rechten als eine sozialdemokratische Angelegenheit in Verruf. "Schon in seiner Etatrede vom Februar 1931 hatte der bürgerliche Sprecher Dr. Marquordt die Überprüfung der achten Abteilung im Sinne des Regierungsprogramms gefordert. Die Regierung, die übrigens gerade nach der Ernennung des deutschnationalen Fraktionsführers Dr. Roloff zum planmäßigen außerordentlichen Professor an der Technischen Hochschule erneut den Vorwurf parteipolitischer Futterkrippenwirtschaft hören mußte, konnte sich nun auf den Wunsch der Landtagsmehrheit berufen, als sie am 15. April 1931 den umstrittenen Professor Riekel (seines Zeichens Sozialdemokrat und Lehrstuhlinhaber für Pädagogik, K. R.) emeritierte und damit die große Personalbereinigung in der Lehrerbildung einleitete" (Roloff 1961, S. 47; siehe dazu auch Sandfuchs 1978, 1986 bzw. den Anhang in dieser Schrift). Die gemäßigt-bürgerlichen Braunschweiger Neueste Nachrichten bringen denn auch keine neuen Stimmungen und Gefühle mehr zum Ausdruck als sie am 21. April 1931 im Aufmacher "Aufräumungsarbeiten an der T. H. Die Wiedergeburt der Pädagogischen Abteilung" ankündigen, die Mängel in der akademischen Lehrerbildung beseitigen sollen: "Es muß dazu von vornherein gesagt werden, daß Maßnahmen, die an der Hochschule die 8. Abteilung betreffen, fast immer einen Sozialdemokraten oder Demokraten mittreffen, weil andere Dozenten an dieser Abteilung kaum vorhanden sind . Unter Herrn Sievers jedenfalls sind ausschließlich Sozialdemokraten, meistens sogar solche vom radikalen Flügel, an die Abteilung berufen worden. Es sind die Professoren Jensen, Paulsen, Riekel, Geiger und Staats und die Dozenten von Fankenberg, von Bracken und Lange. Die Berufung des früheren Bibliothekars Schneider aus Wolfenbüttel, der gleichfalls Sozialdemokrat ist, wurde durch die Landtagswahl vom 14. September vereitelt. Ist das alles nur Zufall gewesen? Oder ist man eher berechtigt, für dieses merkwürdige Farbenspiel bei den Berufungen politische Momente als maßgebend anzunehmen?" (Braunschweiger Neueste Nachrichten vom 21. April 1931, S. 2). 8o

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Geiger findet die Zulassungsbeschränkung zum akademischen Volksschullehrerstudium zwar durchaus verständlich, ist doch die Technische Hochschule in erschreckendem Maße zu einem "Asyl für beruflich Obdachlose" geworden, gleichwohl verhehlt er seinen großen Unmut und seine tiefe Abneigung über diese Maßnahme nicht, weil dadurch der "freie Wettbewerb um den Tüchtigkeitsrang" außer Kraft gesetzt werde. Darüber hinaus macht er aber auch ernst~ berufsund personalpolitische Bedenken geltend. Jede individuelle Auslese sei höchst mühsam und ziehe viele Unannehmlichkeiten und Einsprüche nach sich, daher sei "einer schematischen Auslese auf Grund der Reifezeugnisse" der Vorrang zu geben. 83 Geiger scheut sich auch nicht davor, dieses Verfahren als "Gegenauslese" zu bezeichnen mit der plausiblen Begründung, daß vielen Abiturienten, trotz erzieherischer Begabung, wegen mäßiger Reifezeugnisse der Lehrerberuf versagt bleibe. Ein glänzendes Reifezeugnis sei kein Hinweis auf besondere pädagogische Fähigkeiten, es bringe lediglich den Fortgang der höheren Schule angemessen zum Ausdruck und sei als Maßstab für die Auslese künftiger Lehrer so systemfremd wie nur möglich. Auf diese Weise gelangen vorwiegend die ausgesprochen theoretischen Begabungen zum Zuge. "Das Ausleseprinzip steht also in kaum verständlichem und scharfem Widerspruch dazu, daß gerade die Schulverwaltung sonst die erzieherisch-praktische Bewährung merkbar höher bewertet, als die wissenschaftliche Befähigung und Leistung." 84 Geiger schlägt deshalb vor, daß der Lehrstuhlinhaber für Pädagogik und seine aus der Schulpraxis hervorgegangenen erfahrenen und bewährten Mitarbeiter nach dem zweiten Semester, vor der Zulassung zur Unterrichtspraxis in den Ausbildungsschulen, ein Eignungsgutachten abgeben sollten. Die möglicherweise bei einem negativen Gutachten verlorengegangenen zwei Semester könnten bei einem Wechsel des Studienfaches als "philosophisches Jahr" berücksichtigt werden. 85 Gegenstand des besonderen bzw. beschreibenden Teils des systematischen Zweigs ist für Geiger schließlich die Lehre von Verflechtung und Wettbewerb erzieherischer Sozialgebilde untereinander und mit anderen Gesellschaftsgebilden. Hier untersucht er zunächst das Ineinandergreifen schulischer und außerschu82 "Im Jahre 1932 werden z. B. nur 60 Studenten zugelassen, es gibt ,sehr viel mehr Bewerber'" (Sandfuchs 1978, S. 325). Außerdem ist für das Lehrfach "Soziologie" wie auch für die "Soziographie" in der akademischen Lehrerausbildung nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Freistaat Braunschweig im März 1933 ohnehin kein Platz (siehe dazu Sandfuchs 1978, S. 318). 83 Geiger 1932b, S. 411 f. 84 Ebd., S. 411 f. 85 "Sollten sich aber in absehbarer Zeit die Dinge wieder normal gestalten und das Mißverhältnis zwischen Zudrang zum Studium und Lehrerstellen schwinden, so wird eine Vorauslese zu Beginn des Studiums oder der praktischen Ausbildung verzichtbar, die akademische Schlußprüfung träte dann von selbst wieder als einzige und abschließende Auslese in Geltung" (Ebd., S. 412).

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lischer Gesellschaftsbildungen arn Kind und am Lehrer- vor allem, wie gesellschaftliche Rangschichtungen in sie hineinwirken und was für Erziehungsaufgaben dabei insbesondere der Lehrer im Hinblick auf die Klassenlage des Kindes wahrzunehmen habe. 86 Geiger erklärt es zu seiner vordringlichen pädagogischen Aufgabe, beim Kind Verständnis zu wecken für die eigene Klassenlage, ihm Bildungshilfe in dem Sinne zu leisten, daß er es in der Auseinandersetzung mit seiner Lebenswelt unterstützt, es in seiner Selbstverständigung fördert und ihm das Hineinwachsen und die angestrebte Einordnung in die Erwachsenengesellschaft erleichtert. In

einer Klassengesellschaft ist die objektive Lebenswelt jedes Kindes wesentlich durch seine Klassenlage bestimmt, demnach ist die Gewinnung von Verständnis für die eigene Klassenlage ein wesentlicher Teil der Selbstverständigung und ist das bewußte Fußfassen in der sozialen Klasse eine Grundvoraussetzung für die 86 Dieses Thema steht im Zentrum der Überlegungen Geigers und der Lehrerausbildung in seiner Braunschweiger Zeit. Davon zeugen vor allem die in dieser Schrift abgedruckten Beiträge: "Klassenlage, Klassenbewußtsein und öffentliche Schule" (1930), "Die gesellschaftliche Bildungsaufgabe der kaufmännischen Schule" (1930), "Möglichkeiten gesellschaftlicher Bildung durch die Schule" (1930), "Weltanschauung und Schule" (1930) und "Bürokratismus und Erziehung" (1933). Die gewichtigsten Schriften sind in diesem Zusammenhang gewiß "Klassenlage, Klassenbewußtsein und öffentliche Schule" und "Die gesellschaftliche Bildungsaufgabe der kaufmännischen Schule", weil Geiger hier am umfassendsten die Bedeutung des sozialen Hintergrundes und der Klassenlag~ der Kinder für die Schule bzw. den Lehrer herausarbeitet. Wegen der weitgehenden Ubereinstimmung des Aussagengehalts in den beiden Schriften habe ich mich auf die erstgenannte beschränkt. Auch in den anderen genannten Schriften wird das Thema von ihm dem Tenor nach mit gewissen unterschiedlichen Akzenten behandelt. Soweit er auf die Klassenlage der Kinder eingeht, formuliert er, wie es seine wissenschaftliche Art ist, sehr pointiert, um das Problem scharf hervortreten zu lassen sei es, daß er die Lebenswelt des Proletarierkindes mit der des Bürgerkindes kontrastiert, oder sei es, daß er sich über den gesellschaftlichen Standort der kaufmännischen Angestellten ausläßt. Ziel ist es für ihn, daraus pädagogische Einsichten und Folgerungen für die Unterrichtspraxis der betroffenen Lehrer zu gewinnen. Es ist aber auch unverkennbar, daß sich Geigers Darlegungen 1930, sofern sie die Klassenlage behandeln, inhaltlich noch sehr stark am dichotomischen Marxschen Klassenmodell orientieren. "Diese Betrachtungen gehen von der Klassenschichtung moderner Bevölkerungen als einer Tatsache aus. Nicht nur die Schulpolitik muß damit in ihrer Schulgestaltung rechnen; ganz gleich, welche Kompromisse und Plattformen sie findet - jeder einzelne Lehrer muß sich in seinem ganz konkreten Erziehungsverhältnis zu jedem seiner Schüler mit der Problematik der Klassenstruktur der Gesellschaft auseinandersetzen. Ich unterstelle als selbstverständlich, daß - ganz abgesehen von einem etwa klassenneutralen Ehrgeiz der öffentlichen Schule - Lehrer wie Schüler Glieder von Gesellschaftsklassen sind; daß der Schule weder aufgegeben noch möglich ist, dem Kind seine Klassenprägung ,abzuzüchten'; daß keinem Lehrer die Verleugnung seiner Klassenhaltung ,im Amte' zugemutet werden kann. Erziehung erfaßt auf der ,Aktiv'seite (des Lehrers) und auf der ,Passiv'seite (des Schülers) so sehr den ganzen Menschen- oder sie hört auf, ihres Namens wert zu sein -, daß sie unmöglich ,in Absehung von der Klassenzugehörigkeit' (auf Lehrers oder Schülers Seite) verlaufen kann. Wer mit seinem sozialen Willen auf der Seite der proletarischen Klasse steht, wird das auch in seiner Rolle als Lehrer nicht verhehlen können noch dürfen" (Geiger 1930 g, S. 260, siehe dazu auch meine Ausführungen in "5. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der allgemeinen Soziologie").

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positive Einordnung in die Erwachsenengesellschaft als deren vollwertiges und aktives Glied." 87 Die Klassenlage des Kindes im pädagogischen Prozeß zu leugnen, hieße eine wolkenkuckucksheimerische Phrasenpädagogik zu betreiben. Die Schule in einer klassenmäßig strukturierten Gesellschaft hat demnach grundsätzlich in ihrer Rekrutierung die Klassenschichtung wiederzuspiegeln. Damit redet Geiger nicht etwa ideologischem Übereifer der Pädagogen das Wort, ganz im Gegenteil fordert er keine Begriffs- und Wortagitation. Es sollten Situationen und soziale Tatsachen der Lebenswelt des Kindes Eingang in den Unterricht finden und genutzt werden, um die Klassenbedingtheit zu verdeutlichen keinesfalls dürfen sie von dogmatischen Klassenressentiments, durch Phrasen und Symbole geleitet sein. 88 Denn ,,klassenbewußt ist nicht der haßgeladene Schreihals, nicht der ,Unterdrückungsschnüffler', sondern der wissend, klar und sicher in seiner Welt stehende Mensch." 89 Klassenbewußtsein zu besitzen, heißt dann einmal im wesentlichen zu wissen, wo man in der Gesellschaft steht, und zum anderen daraus angemessene Konsequenzen für das eigene soziale Handeln zu ziehen. Der gefährlichste Fehler, den der Pädagoge in der Erziehung also begehen kann, ist, der Gesinnungsinzucht Vorschub zu leisten. 90 Sobald er nämlich versucht, mit den "höheren" Weihen antiquierter "Drillpädagogik" oder proletarischer Klassenkampfpädagogik ausgestattet, nicht anschaulich Gegegebenes "belehrend" an das Kind heranzutragen, verfällt er in jenen unsachlichen Verbalismus, jene Begriffs- und Wörterbelehrung, die das wirkliche Elend einer konservativen, und nur insofern zu Recht so arg gescholtenen, aber auch das einer progressiv sich dünkenden Schule ist: "Wir lächeln überlegen und mitleidig über den Lehrer, der von seinen Achtjährigen einen Aufsatz über die weltpolitische Bedeutung der Amerikaflüge Eckeners fordert? Dabei muß Gerede, müssen zusammengelesene, ausgehöhlte Worthülsen zutage kommen? Genau das gleiche tut der Lehrer, der den Achtjährigen in die Klassenstruktur der Gesellschaft einweihen will - den kleinen Hosenmatz, der kaum über den engen Rahmen seines heimischen Lebenskreises hinausblicken gelernt hat und noch alle Mühe hat, mit den wenigen sozialen Kreisen fertig zu werden, in denen er ganz aktiv drinnen steht: Familie, Schulgemeinde, Gassenkameradschaft, Nachbarschaft. Dort bringt er, mit Verlaub zu sagen, noch ,die Ebd., S. 331. "Wenn im Erziehungsvorgang die Klassenideologie- sei es eine affektive oder rationale- als Gegenstand des Verbalunterrichts der kindlichen Erfahrung vorauseilt, so handeln wir gegen den Grundsatz, daß das Leben den Menschen bildet, wir laufen vor dem Leben her, rennen ihm davon. Wir züchten junge Menschen, die nicht mit beiden Beinen auf der Erde stehen, die also nicht klassenbewußt im eigentlichen Sinne sind" (Ebd., S. 337). 89 Ebd., S. 337. 90 Ebd., S. 339. 87 88

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Beine durcheinander'. Der soziale Raum, in dem die Klassengegensätze strukturbestimmend sind, ist auf der sozialen Landkarte des Achtjährigen noch in blanco, wie die unerforschten Gebiete auf dem Globus. Haben unsere alten Schulen Phrasenpatriotismus gezüchtet, als sie uns Kindem von Deutschlands Größe, durch Bismarck gegründet, vorschwännten, als sie uns über ,den Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze' im genormten Aufsatzstil salbadern ließen? Wer dem Achtjährigen von seiner Klassenlage redet, tut genau das gleiche mit umgekehrtem politischem Vorzeichen. Durch das Vorzeichen wird seine Leistung pädagogisch nicht besser." 91 Geiger tritt deshalb mit allem Nachdruck für eine "neue Sachlichkeit" auch in der Erziehung ein, die die sozialen Tatsachen ohne Maske und in aller Härte zur Kenntnis nimmt. 92 Gerade wenn klassenbewußte junge Menschen erzogen werden sollen, darauf wird er nicht müde zu verweisen, müssen sie angesichts der sozialen Realität dazu werden, und es muß unbedingt vermieden werden, daß sie dann "gekeilt" werden. 93 Alle Erziehung in der Schule, vor allem die im 91 Ebd., S. 333. Wie erbost und scharf Geiger als Sozialist mit Sozialisten abrechnet, die den Klassenkampf in der Schule predigen wollen, belegt eindrucksvoll seine kritische Rezension von Siegfried Semfelds Studie "Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf, Berlin 1928". Semfeld "ist Panrevolutionist; er ist Rebell von Profession. Seine pädagogische Tendenz geht daher nicht auf Befreiung der Schule von der kapitalistischen Klassenherrschaft, sondern er wiii alte, älteste Pädagogik mit umgekehrtem, nämlich proletistischem Vorzeichen. Darin gleicht er Lamszus in Hamburg, den ich neulich behaupten hörte: alter Stadtviertel architektonische Schönheit dem Kind zu zeigen sei bourgeois -denn in den alten Mauem niste die Tuberkulose; Prozentrechnung zu lehren sei bourgeois - denn in % werde der Profit ausgedrückt. - Ich nenne das proletistisch-pädagogischen Verfolgungswahn. Zu beachten: wenn B. die Möglichkeit neutraler Erziehung leugnete, stimmte ich ihm bei, wenn er den Klassenkampf um die Schule für unvermeidlich hält - schön. Aber er predigt: Klassenkampf in der Schule; Schule als Schauplatz, nicht als Gegenstand des Klassenkampfes -nicht als eine die gegenwärtige pädagogische Situation bedrohende Erscheinung, sondern als pädagogisches Prinzip. ,Pädagogik ist ein Stück Klassenkampf. Ressentiment-Pädagogik von Abis Z. Revolution in ihrer destruktiven Phase (von der konstruktiven weiß B. nichts) als absolut gültiges Prinzip. Daher seine Liebe zur strukturlosen Masse, seine Abneigung gegen strukturierte Gruppen (sei es Schulklasse oder Bund). Daher die- allen Ernstes- vorgebrachte Behauptung: eine Schülerbewegung könne nur von Rebellen und Schulverbrechern getragen sein. Zu Rebellen sind seiner Aussage nach vor allem Kinder von Großbourgeois, Intellektuellen oder Juden prädestiniert. Man darf wohl sagen: die Semfeldsehe Pädagogik ist das Produkt seines eignen Schulrebellenturns also Ressentiment. Als Sozialist wehre ich mich gegen diese Erniedrigung der Schule zum Werkzeug des Klassenkampfs- so sehr ich die verlogene Phrase der ,überpolitischen' Erziehung und Bildung ablehne. Um aber keine falsche Meinung aufkommen zu lassen: als der gescheite Mensch, der B. ist, sagt er einem auch dort, wo man vor Widerspruch gegen ihn fast explodiert, unendlich viel Richtiges und Treffendes, freilich manchmal in gar zu gehässiger Form, die seiner Argumente Wirkung auf den politischen Gegner beinträchtigen muß" (Geiger 1928/29a, S. 48). 92 Siehe dazu beispielsweise Geiger 1930 g. 93 Ebd., S. 336.

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Sozialuntenicht, muß daher in erster Linie Auseinandersetzung des Kindes mit Gegebenheiten seiner sozialen Lebenswelt sein. 94 Nur was ihm anschaulich ist, ist ihm soziale Tatsache- nicht irgendwelche abstrakt-begrifflichen Kategorien. Nur über das, was ihm vertraut und bekannt ist, kann es sich verständigen. "Und Selbstverständigung ist dem Vorgang der Bildung gleichzusetzen. Selbstverständigungshilfe ist Erziehung." 95 Zu ihr gehört durchaus notwendigerweise auch die bourgeoise Gegenklasse und ihre Lebensform. Es gibt nichts, was dem klassengemäßen Denken und Urteilen des Kindes und vorurteilsfreiem Kennenlernen und gegenseitigem Verstehen förderlicher sein könnte als die Erfahrung vom klassenentsprechenden anderen Denken des Kindes einer anderen Klasse - ein wichtiger Grund für Geiger, entschieden für die "Koedukation der sozialen Klassen" in einer Einheitsschule zu einzutreten. 96 94 Geiger führt dazu in seinem Vortrag "Möglichkeiten gesellschaftlicher Bildung durch die Schule" (1930) prägnant und teils sarkastisch aus: " ... am liebsten wäre mir eine Schule, in der gar nicht erzogen, sondern nur unterrichtet wird. Die Verketzerung der Lemschule, die sich da und dort noch immer breit macht, halte ich für arg verfehlt. Es kommt nur darauf an, was gelernt wird. Es gibt eine ganz unübertreffliche Art der gesellschaftlichen Bildungshilfe in der Schule. Das ist der Sozialunterricht Damit meine ich freilich nicht ganz das, was als staatsbürgerlicher Unterricht gepflegt wird. Dieser staatsbürgerliche Unterricht allein ist mir zu sehr auf den augenblicklichen Zustand unserer Institutionen zugeschnitten, politisch zu lammfromm, erinnert mich zu sehr an den berühmten ,Boden der gegebenen Tatsachen'. Er fordert auf der andem Seite zu sehr zur pädagogischen Gegenaktion einer klassenkämpferischen Staats- und Gesellschaftskritik heraus. Verurteilen Sie bitte dieses vielleicht unvorsichtige aber offene Bekenntnis nicht, ehe Sie die nähere Begründung zur Kenntnis nehmen. Ich meine, daß der junge Mensch, wenn das begriffliche Verständnis für gesellschaftliche Dinge bei ihm erwacht, also etwa vom 13. Jahr ab, einen sozialen Tatsachenunterricht braucht, der durch Anschauungsunterricht unterstützt wird. Wir sollten mit ihm zum Beispiel Sozialstatistik treiben. Davon wissen die jungen Leute nichts. Es ist schmählich, daß wir heute junge Menschen mit dem Reifezeugnis bekommen, die ohne Ahnung davon sind, wie groß der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung ist, welche Teile der Erwerbstätigen Arbeiter, Angestellte, Bauern undsoweiter sind. Ich habe Schüler, die, wenn sie im zweiten Semester zu mir in die Lehre kommen, nichts von Tarifverträgen wissen. Die Schule hat ihnen die Reife bescheinigt. Es kann nicht ausbleiben, daß unreife, dumme Jungens- verzeihen Sie das harte Wort - gegen den Marxismus in den Kampf ziehen, ohne jede Ahnung davon, was Marxismus ist. Daß sie die sonderbarsten Urteile über den Arbeiter und sein Arbeitsschicksal abgeben, ohne je eine moderne Fabrik betreten und die Industriearbeit wenigstens oberflächlich gesehen zu haben. Daß sie zu Lohnkämpfen Stellung nehmen, ohne zu wissen, wieviel der Arbeiter am Freitag in seiner Tüte übers Zahlbrett bekommt. Daß sie von den sozialistischen Arbeitern als vaterlandslosem Gesindel reden, weil sie nie gefragt worden sind, wieviel denn dann noch als ,wahres deutsches Volk' übrig bleibt. Bitte, ich nenne erfahrene Fälle, nicht erdachte Beispiele. Das alles würde zu politisch gesellschaftlicher Bildung gehören. Meinen Beispielen entspricht auf der andern Seite: das Gerede vom vollgefressenen Bourgeois, vom schlemmernden Industrieritter und dergleichen" (Geiger 1930n, S. 13 f.). 95 Geiger 1930 g, S. 333. 96 "Der Streit darüber ist hin und her gegangen und tut es noch. Praktisch ist die Frage gar nicht so bedeutsam, weil in der Großstadt durch die Trennung der bürgerlichen und proletarischen Wohnviertel die Kinder einer Schule nach ihrer sozialen Herkunft meist annähernd homogen sind und weil man das Schulwesen kleinerer Orte doch kaum

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Dem Lehrer fallt dabei die wichtige Erziehungsaufgabe zu, diese Selbstverständigungshilfe zu fördern und intensiv zu unterstützen, indem er die Lebenserfahrung des Kindes zum Ausgangspunkt im Unterricht nimmt und durch Tatsachenkenntnisse ergänzt. Für ihn bedeutet dies konkret: Grundsätzlich tritt an die Stelle einer Programmerziehung die Ge/egenheitserziehung, in der die Lebensunterweisung nicht nach einem vorgefaßten Lehrplan abläuft, sondern an Situationen anknüpfend, Gelegenheiten abwartet und in der er nicht eine Problematik aufrollt und dann dem Kinde "unterrichtend etwas mitteilt", sondern auf die Fragestellung des Kindes verständnisvoll eingeht. Er wird dann beobachten und den richtigen psychologischen Moment abwarten, in dem das Kind seinerseits hinter dem Einzelerlebnis, das es selbst hatte, oder das ihm am Mitschüler anschaulich wird, weitere allgemeine Zusammenhänge zu ahnen beginnt. Diese Ahnung zu klären, zur Selbstverständigung darüber beizutragen, ist vornehmste Erzieheraufgabe und nicht die Pädagogik zur Magd einer Weltanschauung zu degradieren 97 : "Wenn der Vater des zehnjährigen Arbeiterkindes ,die Papiere' bekommen hat, spät nachts betrunken heimkommt, die Mutter verprügelt und das Kind nach der Flucht der Mutter hilfesuchend zum Lehrer kommt, so ist eine eklatante erzieherische Gelegenheit gegeben, denn das Kind wird selber etwa fragen, wie es denn möglich ist, daß der sonst so gqtmütige Vater in einen solchen Koller verfallt. Hier, wo die Erklärung des Geschehnisses aus der Klassenlage dem kindlichen Bedürfnis entgegenkommt, den Vater (nicht gerechtfertigt, aber) verständlich zu sehen, ist die Chance des Erziehers besonders groß." 98 auch noch hiernach gliedern könnte. Die programmatische Gleichung weltliche Schule

= Schule der proletarischen Kinder ist aber sehr bedenklich, wenn sie auch (meines

Erachtensteilweise wegen einer gewissen Fehlorientierung der freidenkerischen Schulpropaganda) leider weitgehend der tatsächlichen Lage von heute entspricht. Hier handelt es sich aber mehr um Grundsätze der Erziehungspolitik als um Bewertung der augenblickIichen Lage. Selbstverständlich kann die ,Koedukation der sozialen Klassen' niemals in den Dienst der Klassenversöhnung gestellt werden, schon deshalb nicht, weil die soziale Frage nicht von der Schule und überhaupt nicht mit erzieherischen Mitteln zu lösen ist. Noch weniger schwebt mir etwa die Pflege einer romantischen Volkseinheit durch die Schule vor (weil das Wort ,Volkheit' noch nicht Mißbildung genug ist, hat man jetzt noch ,Volkschaft' dazu erfunden). Ich meine durchaus, daß die Kinder als Kinder ihrer sozialen Klasse aufwachsen sollen, aber es scheint mir, daß es dazu der klassenmäßigen Trennung, der Isolierung kaum bedarf, ja im Gegenteil, daß diese Isolierung gefahrlieh ist. ,Keine Gemeinschaft mit dem sozialen Gegner"!' sei die Parole des Klassenkampfes? Mir scheint, die natürliche Isolierung besorgt das Leben dann schon selbst und an seinen Realitäten scheiden sich die Geister. ,Gesellschaftsklasse' ist ein Wort, das es nur in Zweizahl oder Mehrzahl gibt. Wir verlangen Anschaulichkeit der pädagogischen Gegenstände. Nun wohl: Klassenlage wird nur anschaulich am GegenbeispieL Die Gesellschaftsklassen sind Korrelate innerhalb der Gesellschaftsstruktur. ,Man definiert einen Gegenstand, indem man sein Gegenteil defmiert' , ist dialektischer Grundsatz. Man hat eine Gesellschaftsklasse nur anschaulich in Front mit der Gegenklasse" (Ebd., S. 338). 97 Ebd., S. 334. 98 Ebd., S. 334.

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Die Erklärungen des Lehrers können natürlich nicht erschöpfend sein, sondern müssen dem kindlichen Anschauungshorizont zugänglich und gemäß sein. Die weitere intellektuelle Vertiefung der Erklärung muß offenbleiben, sie muß sich selbst als vorläufige Stufe, als Provisorium verstehen - sonst wirkt sie doktrinär und riegelt ab, wo sie doch erst erschließen soll. Vom Lehrer verlangt das ein hohes Maß an sozialem Engagement und vor allem Loyalität- nicht Neutralität. Sie setzt voraus, wie Geiger es in klassischer pädagogischer Manier auf den Punkt bringt, daß der Lehrer seine Schüler unbedingt dazu anhält, sich sachlich mit Problemen und Aufgaben auseinanderzusetzen, daß er - gleichgültig wo er mit seiner Meinung steht und welche Gesellschaftsklasse unter den Schulkindern überwiegt - "eine Majorisierung, sagen wir ruhig: eine. Einschüchterung der Minderheit energisch verhindert. Es ist gar nicht nötig, es ist nicht einmal möglich, daß so eine Auseinandersetzung mit allgemeiner Meinungsharmonie endet. Aber es ist nötig und - auch bei sehr jugendlichen Schulkindern in der Phase des erwachenden Intellekts - möglich, daß Vorbringungen des Gegners überlegt, geprüft und gewürdigt werden. Für loyale, sagen wir menschlich anständige Auseinandersetzung kann der Lehrer sorgen, ohne daß er Versöhnungspolitik treibt und ohne daß er ,sich der eigenen Meinung enthält'. Je loyaler die Auseinandersetzung verläuft, desto deutlicher tritt am Ende der Rückstand an klassengebundenen Denkvoraussetzungen hervor, desto mehr also ist durch die endlich ermittelte Distanz der Standorte der Festigung des Klassenbewußtseins gedient. Die Jugendlichen einigen sich nicht auf ein Urteil, aber sie sehen ein, weshalb sie sich nicht einigen können; sie treten einander bis an die Ränder der Klassenkluft gegenüber und lernen ohne Schwindelanfall in den Abgrund hinabblicken. Das ist wichtiger als Urteils-Einigung. Voraussetzung bleibt dafür nur, daß der Auseinandersetzungsgegenstand nicht jenseits der Anschauungswelt der Kinder liegt."99 Geiger macht aber in diesem Zusammenhang eines auch unmißverständlich klar: Man muß sich tunliehst vor der Überschätzung der Erziehung in der Schule im besonderen und der weltgestaltenden Macht der Worte und Begriffe im allgemeinen hüten. 100 Die öffentliche Erfolglosigkeit des weltanschaulichen Drills, welcher Couleur auch immer, gilt ihm als Beweis dafür, daß Schule nur begrenzte Wirkung haben kann und allenfalls das Gegenteil von dem hervorbringt, was sie beabsichtigt. Denn sie widerspricht so kraß dem Grundsatz, daß das Leben den Menschen bildet. Was hat denn die "alte Schule" - und Geiger bezieht sich hier auf die Erfahrungen seiner eigenen Generation - bei der bürgerlichen Jugend der in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Geborenen mit ihrer vorrevolutionären Propagandaerziehung eigentlich bewirkt? Doch nur dies: Daß sie zunächst mißtrauisch, dann abtrünnig wurden. Und hat nicht ebenso die kommunistische Parolenerziehung im revolutionären Rußland die 99 Ebd., S. 339 f. 10o

Siehe dazu insbesondere Geiger 1930d,e,g,h,i,n,o.

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aufgeweckte Jugend zutiefst bolschewismusskeptisch gemacht? Je aufgeklärter die Jugend, desto mißtrauischer begehrt sie gegen das auf, was ihr gesagt wird und desto schärfer wendet sie sich gegen jeglichen Versuch zu doktrinärer politischer Beeinflussung. Nicht die Schule und nicht die Propaganda schafft eine "neue Welt", das ist Geigers Maxime, "sondern das Leben selbst und die Tat des Menschen, zu der er die Antriebe aus seinem begriffenen Leben, nicht aus erzieherischen und rhetorischen Apostrophen erfährt. " 101 Sein Interesse gilt allerdings nicht nur der Bedeutung, Berücksichtigung und Auswirkung unterschiedlicher sozialer Lebenswelten von Kindem für den Unterrichtsalltag, sondern er geht ebenso der Frage des weiteren Zusammenhangs zwischen der Schule als Institution und der übrigen für die Schule als solche oder für das Elternhaus des Kindes gewichtigen sozialen Voraussetzungen nach. Insbesondere untersucht er hier zunächst den Zusammenhang zwischen der bildungspolitisch und der -ökonomisch brisanten Frage der Verlängerung der Volksschulpflicht auf neun Jahre und den ständig steigenden Erwerbslosenziffern in einer Phase großer Wirtschaftsdepression Anfang der dreißiger Jahre. Hintergrund dieser Überlegungen ist die vielfach vertretene wirtschaftspädagogische These, daß das neunte Volksschuljahr bei seiner Einführung mit einem Schlag den Arbeitsmarkt um einen ganzen Jahrgang Jugendlicher entlaste. 102 Ob und inwieweit dieses wirtschaftliche Argument stichhaltig ist, überprüft Geiger empirisch anband der veröffentlichten Daten der Berufszählung des Deutschen Reiches aus dem Jahre 1931. Er gibt allerdings vorweg sogleich zu bedenken, daß es äußerst verhängnisvoll und wenig überzeugend sei, eine pädagogische Maßnahme mit wirtschaftlichen - also systemfremden - Überlegungen zu begründen. Er gesteht aber auch ein, daß es angesichts der sechs Millionen Erwerbslosen gewiß verlockend sei, rund eine halbe bis eine Million Erwerbssuchende durch eine Verlängerung der Schulzeit vom "leergefegten" Arbeitsmarkt femzuhalten. Geiger stellt sich deshalb die Frage: Wie wirkt sich die Verminderung der Erwerbssuchenden durch Einführung des neunten Schuljahres empirisch aus? Das Ergebnis ist ernüchternd und führt zu einem verblüffenden Einblick. Die Entlastung des Arbeitsmarktes bedeutet nur dann eine wirtschaftliche Erleichterung, wenn das Arbeitsvolumen und damit das Volkseinkommen wächst. Siehe dazu Geiger 1930 g, S. 337 f. ,,Angesichts der wachsenden Erwerbslosenziffern weisen die Bevölkerungsstatistiker seit Jahren darauf hin, daß bald ein Zeitabschnitt komme, wo der Arbeitsmarkt auf natürlichem Wege entlastet werde: der Neuandrang Jugendlicher müsse nachlassen, wenn die schwachbesetzten Geburtenjahrgänge der Kriegszeit ins erwerbsfähige Alter einrücken. Diese Erwartung wirkte in eigenartiger Weise auf das Gebiet der Schulpolitik herüber; nicht nur mit pädagogischen Gründen wurde nämlich ein neuntes Schuljahr gefordert, sondern man hoffte dieses Verlangen den Politikern, Wirtschaftlern, überhaupt der öffentIichen Meinung dadurch schmackhaft zu machen, daß man die wirtschaftlichen Folgen der geplanten pädagogischen Maßnahme ausmalte ..." (Geiger 1932a, S. 193). 101

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Wird der Arbeitsmarkt aber einfach durch das Fernhalten bisher arbeitsuebender Bevölkerungsteile entlastet, bleibt wirtschaftlich prinzipiell alles beim alten: die Bevölkerungsstruktur, die Zahl der Arbeitsplätze und das Volumen des Sozialprodukts bleiben unverändert. Nach wie vor muß die gleiche Anzahl von Menschen vom gleichen Sozialprodukt leben. Nur, und das ist der springende Punkt der Geigersehen Analyse, wird die Last der Alimentation für einen Teil der NurVerzehreT auf andere Schultern abgewälzt. Bisher wurden Erwerbslose stets aus Versicherungs- und Steuerbeiträgen der Allgemeinheit alimentiert, mit Einführung des neunten Volksschuljahres wird hingegen die Sozialbelastung zur Familienbelastung - mit der schwerwiegenden Folge, daß die Väter vor allem aus Arbeiterfamilien ein Jahr länger für ihre heranwachsenden Kinder aufkommen müssen. "Aus einer solidarischen Alimentationslast des Volkes wird eine individuelle Alimentation der Familie." 103 Ein neuntes Volksschuljahr als Heilmittel gegen Erwerbslosigkeit und Wirtschaftsdepression erweist sich mithin als völlige Fehlspekulation, ja "Nebelkerzenwerfen" und ändert am wirtschaftlichen Elend nicht das geringste. 104 Das aber ist für Geiger noch lange kein überzeugendes Argument gegen das neunte Schuljahr an sich und sagt auch noch nichts über die pädagogisch-praktischen Folgen einer solchen Maßnahme aus. Gerade ein Teil der Pädagogen selbst hat leider, wie Geiger zu bedenken gibt, das Problem in der öffentlichen Debatte als ausschließlich wirtschaftliches behandelt. Sie haben den schlichten Grundsatz außer acht gelassen: pädagogische Forderungen nur mit pädagogischen Argumenten zu begründen. Wenn ein neuntes Volksschuljahr pädagogisch als sinnvoll erachtet wird, so muß es gefordert und durchgesetzt werden, auch wenn es die familialen Belastungen für die Zukunft empfindlich erhöht. 105 Das ändert nach Geiger indes nichts an der berechtigten Kritik der Gegner eines neunten Schuljahres, die es als wirtschaftspädagogisch verfehlt bezeichnen. Man fürchtet im Hinblick auf die gegenwärtige Struktur und Organisation der Volksschule vor allem eine wirtschaftsentfremdende Verschulung durch eine noch stärkere Ausbreitung der"Verbalkultur". Für die erziehungspolitisch verantwortliehen Pädagogen ergibt sich daraus keineswegs zwingend der Verzicht auf ein neuntes Volksschuljahr, wohl aber die begründete Einsicht, daß seine Einführung nicht einfach die gegenwärtige Volksschule um ein Jahr verlängern darf. Ebd., S. 190 f. ,,Ist dieser Satz belegt, so hat der Sozialwissenschaftler sein Fach bestellt und der Pädagog hat das Wort" (Ebd., S. 201). Gleichwohl kann Geiger nicht umhin, wenn auch mit aller gebotenen Vorsicht, zum Problem des neunten Volkschuljahres auch pädagogisch Stellung zu beziehen. 105 "Des weiteren kann ich mir sehr wohl denken, daß man die gegenwärtige Lage auf dem Arbeitsmarkt als- in diesem Sinne ,günstige' Gelegenheit nutzt: ,gehen schon 6 Millionen gezwungenerweise müßig, warum dann nicht die 14- bis 15jährigen unter ihnen noch in der Schule behalten?' Das ist aber etwas sehr viel anderes als die Anpreisung des 9. Schuljahres zur Heilung unserer wirtschaftlichen Leiden!" (Ebd., S. 201). 103

104

6. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der Soziologie der Erziehung

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Das, was schulorganisatorisch geboten sei, drückt sich wohl am klarsten in dem Vorschlag aus, das neunte Jahr als "vorberufliche Berufsschule" einzurichten. Es müßte unbedingt sichergestellt sein, daß die heranwachsenden Kinder nicht einfach vom Wirtschaftsleben künstlich ferngehalten, sondern in ihm um so intensiver auf die zukünftige berufliche Ausbildung vorbereitet werden. Nur so ist es überhaupt möglich, den Repräsentanten "der Groß- und Kleinwirtschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen, sie zu zwingen, daß sie ihre wirtschaftspädagogischen Einwände fallen lassen - es sei denn sie wollten sich dem Vorwurf aussetzen, diese Bedenken seien nur die billigen Vorwände unsozialen Steuergeizes gewesen. Aber mehr. Ein 9. Schuljahr, das die Wirtschaftstauglichkeit merkbar hebt, bringt eine sozialwirtschaftlich produktive und also vertretbare Jugendbelastung des Bevölkerungskörpers. Ein 9. Schuljahr, das der Volksschule heutigen Stils eine im Lehrprinzip unveränderteFortsetzungals Asylfür jugendliche Erwerbslose anhängt, wäre sozialökonomisch Verschwendung und pädagogisch eine Mißgeburt ." 106 B. Historischer Zweig Im historischen Zweig der Soziologie der Erziehung will Geiger nicht mehr das vergesellschaftete Erziehungsgeschehen im Ruhezustand behandeln, sondern er will nunmehr die Betrachtung durch die Einbettung des Erziehungsgeschehens in den gesellschaftsgeschichtlichen Ablauf ergänzt wissen. Eine historische Soziologie der Erziehung hätte sich demnach insbesondere den folgenden zentralen Aufgaben zu stellen 107: 1. Erforschung der geschichtlichen Typen der Erziehung und ihres stilverwandten Zusammenhangs mit den jeweiligen zeitgenössischen Gesellschaftsstrukturen. 2. Erforschung der geschichtlichen Typen des Erziehungsdenkens und ihrer Abfolge. Hier erst käme man überhaupt zu einer Soziologie der Pädagogik, während man es bisher nur mit Soziologie der Erziehungspraxis ("Pädagogie") zu tun gehabt hat. Um zwei miteinander verzahnte Fragen vor allem dreht es sich hier: a) Wie sind Erziehungsideologie und Erziehungswissenschaft im Sinne der Wissenssoziologie Max Schelers oder Karl Mannheims durch den gesamten Gesellschafts- und Geistesstil einer Epoche bestimmt? b) Wie wirkt eine so beeinflußte Erziehungsideologie (Pädagogik) wieder auf die Erziehungspraxis (Pädagogie) zurück? In diesem Zusammenhang wären hauptsächlich die Fragen zu klären: Inwieweit schafft ein durchgebildetes pädago106 101

Ebd., S. 202. Siehe dazu Geiger 1930i, S. 425 f.

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gisches Berufsdenken den besonderen Menschentypus des "homo pädagogicus", der in spezieller erzieherischer Verantwortung und Haltung dem Druck der auf ihn eindringenden sozialen Mächte wie Parteipolitik, Klassenlage und Bürokratie Widerstand zu leisten fähig ist? Und inwieweit wird schließlich umgekehrt die Erziehungsideologie durch derartige soziale Mächte in ihrer pädagogischen Eigengesetzlichkeit abgeschwächt oder verändert? Geiger versucht diese für ihn zentralen Aufgaben und Fragen, denen sich eine historische Soziologie der Erziehung in jedem Fall zu widmen hätte, in einer längeren Abhandlung zum Thema "Bürokatismus und Erziehung" der Klärung ein wesentliches Stück näherzubringen. Ausgangspunkt ist hier für ihn die grundlegende Webersehe Aussage, daß die Bürokratisierung allenthalben von Emanzipationserscheinungen begleitet ist, die bisher hauptsächlich nach zwei Richtungen als organisatorische Emanzipation des Apparates und als fachdisziplinäre Emanzipation des Funktionärkörpers geklärt worden ist. 108 Zunächst wertvolles Werkzeug der Herrschaftsausübung in den Händen des Machtinhabers, gewinnt die Bürokratie durch ihr spezialisiertes Fachwissen jedoch prinzipiell die Möglichkeit, sich in ihrer Amtsverwaltung den Weisungen des Machtinhabers zu entziehen.109 Max Weber führt die Gefahr der Entmachtung des Machtinhabers- ob dies nun ein Mensch (Monokrat), eine kleine Kaste der Reichen (Aristokratie, Oligarchie) oder die souveräne Allgemeinheit selbst (Demokratie) sei- vor allem auf die Überlegenheit des Spezialwissens der Fachbürokratie zurück. Je umfassender und komplizierter das Fachwissen wird, desto mehr gerät der Machtinhaber gegenüber seiner Fachbürokratie in die Defensive, ja in die Rolle des Dilettanten. Die Bürokratie festigt überdies die Position ihrer sachverständigen Überlegenheit vielfach noch durch Geheimhaltung ihrer Methoden, die ihrem eigenen Prestige zugute kommt. Das berufsständisch-solidarische Geltungsstreben bedient sich der überlegenen Fachtechnik ausschließlich als der nächstliegenden Chance und entwickelt daraus ihre "berufsständische Unentbehrlichkeitsideologie". Offenbar gibt es aber nach Geiger noch einen dritten Weg des fachbürokratischen Unabhängigkeitsstrebens, den Max Weber wahrscheinlich noch nicht gesehen hat: die ideologische Emanzipation des Funktionsinhaltes. "Hier handelt es sich nicht um sozial-standortlich, sondern um weltanschaulich gebundenes Denken. Es kann nur dort entstehen, wo sich der Umfang der Funktionen mit dem jeweiligen Ausschnitt der Kulturgebiete (Recht, Erziehung, Technik usw.) deckt. Wir müssen uns das folgendermaßen vorstellen: Wo und soweit nämlich der Inhalt der bürokratisierten Funktionen mit einem Kulturgebiet zusammenfällt, erfährt das Fachwissen seine Aufgipfelung in einem spezifischen Fachdenken. 10s Siehe dazu Weber 1922, S. 650 ff. 109 Siehe hierzu und im folgenden ausführlich in Teil B dieser Schrift den erstmals im Deutschen zugänglichen Beitrag Geigers "Bürokratismus und Erziehung" (zuerst 1933).

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Diese fachgebundene Ideologie, eine Lebensauffassung und Art der Weltbetrachtung mit einer ihr eignen Rangordnung der Werte, wirkt ebenfalls emanzipierend, aber in ganz anderer Weise, als das berufsständische Geltungsdenken. Auch hier liegt zwar der erste Ursprung im Fachwissen, aber der Weg ist nicht bezeichnet durch den Satz ,Wissen ist Macht', sondern er führt über die dem Fach als Kulturgebiet entsprechende geistige Grundhaltung, Wertbestimmung und Lebensform. Die Emanzipation vollzieht sich in der gegenüber der jeweiligen geschichtsgebundenen Gesellschaftsform transzendenten Sichtweise eigengesetzlicher Ideengänge." 110 Die Emanzipation durch Ausnutzung überlegenen Fachwissens vollzieht sich in der Ebene der Macht, in der Ebene geschichtlich aktueller Vergesellschaftung: Macht steht gegen Macht; Machtstreben gegen Machtbesitz. Die Emanzipation durch das Fachdenken aber bedeutet letztendlich den Einbruch der verbindlichen Idee in die Sphäre der legitimen Macht. Es emanzipiert sich im Grunde nicht die Bürokratie von ihrem legitimen Auftraggeber, sondern die Amtsfunktion von der Bindung durch Herrschaftsinteressen. Nicht der Auftraggeber verliert seine Macht, sondern die Verbindlichkeit seiner Herrschaft wird aus der Atmosphäre fragloser Gültigkeit in die der veränderbaren Zeitlichkeit gerückt; sie wird, wie Geiger mit Blick auf Weber betont, gewissermaßen säkularisiert. · Diesen Vorgang am Beispiel des bürokratisierten Erziehungswesens zu umreißen und gewisse Erscheinungen nachdrücklicher aufzuzeigen, sieht Geiger in diesem Zusammenhang als seine vordringliche Aufgabe an. Erziehung wird in allen Kollektiven an den Mitgliedern, vornehmlich an jungen Menschen geübt. In welchem Umfang und mit welcher Intensität, hängt jeweils davon ab, wie stark "der kollektive Personentypus ist." 111 Die Formung der Persönlichkeit im Sinn des gruppliehen Personentypus heißt dann Bildungsprozeß und Erziehung ist alles bewußt auf Förderung und Steuerung dieses Prozesses gerichtete Handeln. Originäre Erziehungstätigkeit innerhalb einer sozialen Gruppe ist immer gruppensubjektiv; sie ist an dem für die Gruppenmitglieder verbindlich gemeinten Personentypus ausgerichtet. In den einfachen Verhältnissen der Frühzeit und in kleineren Gruppen erfolgt Erziehung der jungen Menschen bis heute sozusagen unter der Hand. Sie bildet kein erkennbar abgegrenztes System sozialen Handelns, ist nicht ausdrücklich institutionalisiert; ihre Erziehungsakte sind derart in den sonstigen allgemeinen Alltagsverlauf eingeflochten, daß sie nicht als besondere Erziehungshandlung in Erscheinung treten, sondern naiv in den Gesamtvollzug des Lebens einbezogen sind. Es gibt "also kein Erzieheramt, denn Eltern (in der ,Familien'gruppe) oder Altmitglieder wirken auf Kinder und Jugendliche oder Gruppenneulinge nicht kraft Auftrags, sondern kraft faktisch gegebenen Überge110

Ebd., S. 19 f.

n1 Ebd., S. 21.

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wichts ein. Im übrigen kann in jedem Augenblick jeder Genosse zum Erzieher jedes andern werden, indem er ihm gegenüber die hergebrachten Lebens- und Benehmensregeln der gemeinsamen Gruppe vertritt. Die Erziehungsfunktion ist also nicht grundsätzlich an die kategorische Distanz eines Lebens- oder Rangalters gebunden." 112 Die erste Vorstufe zur Bürokratisierung der Erziehung ist die Institutionalisierung, also die Einrichtung einer geregelten Lehre. Sie besteht beispielsweise im mittelalterlichen Handwerk oder in den Schamanenkasten jedoch ohne Erziehungsbeamtentum: Die Lehre ist hier nicht als besondere Aufgabe bürokratisiert, sondern mit der Berufsausübung des ausgebildeten Berufsträgers verbunden. Das Berufserzieherturn und damit die Bürokratisierung der Erziehung ist an den Typus der Schule in irgendeiner Form gebunden. Nun erst beginnt auch die Entwicklung einer eigenständigen pädagogischen Fachtechnik. Schule, Berufserzieherturn und pädagogische Fachtechnik sind sehr alte Erscheinungen, dagegen Pädagogik als systematische Wissenschaft und erzieherisches Fachdenken eine verhältnismäßig sehr junge, erst seit gut hundert Jahren bekannte Erscheinung, wie Geiger betont; sie tritt erst mit der Entstehung des modernen Nationalstaates auf. Die Erklärung dafür ist recht einfach: Die alten Schulen sind entweder nur Berufs- und Standesschulen oder elementare Lernschulen, die als solche keiner systematischen Erziehungstheorie bedürfen. Das gilt für Klerikerseminare und gelehrte Schulen gleichermaßen wie für Adelsschulen, klösterliche Elementarschulen und Ratsschreiberschulen. Soweit es sich um Standesschulen handelt, ist das Schulwesen schulungsinhaltlich gegliedert, wie die Gesellschaft selbst kulturfunktional und berufsständisch strukturiert ist. Für die eigentlich erzieherische Funktion der Schule bedeutet das: Die ständischen Erziehungsideale sind gar nicht besonders reflektierte Erziehungsziele, sondern sie bilden die fraglos gegebene Atmosphäre, in der erzogen wird. Der Hauptinhalt des Unterrichts ist konkrete, gegenstandsbestimmte Unterweisung. Diese Inhalte überwiegen erst recht in den alten Volksschulen, die reine Lernschulen waren; die eigentlich erzieherische Note war an die religiöse Sittenlehre gebunden, deren Geist auch die soziale Lebenswelt als Atmosphäre durchdrang. Die Sozialstruktur der Lehrerschaft spiegelt das Bild der Schulorganisation wider. Es gibt im Grunde keinen einheitlichen Lehrerstand, sondern allenfalls mehrere, ständisch differenzierte Erzieherbürokratien: voran den Lehrklerus, dessen berufsständischer Ort durch den klerikalen, nicht durch den erzieherischen Amtscharakter bestimmt ist; dann die Schulbürokratien der einzelnen Stände, aus den Standeskollektiven hervorgegangene, im Standesdenken erzogene und groß gewordene Funktionäre, deren geistige Welt in erster Linie durch den

112

Ebd., S. 23.

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kulturbezogenen Inhalt ihres Berufsstandes bestimmt ist, während die Erziehungsfunktion nur ein Anhängsel bleibt. An dieser ständischen Gliederung des Schulwesens, in dem für einen berufsbewußt integrierten Gesamtstand der Erzieher kein Platz ist, ändert auch die seit Comenius und Leibniz angebahnte, unter dem Einfluß des Merkantilismus fortschreitende, für Preußen im Allgemeinen Landrecht von 1794 vollendete Verstaatlichung des Schulwesens nichts. Der absolutistische Staat läßt den ständischen Charakter des Soziallebens prinzipiell unangetastet, er setzt sich nur als Garant und Kontrollinstanz darüber. "Der Lehrer der alten Garnisonsschule des XVIII. Jahrhunderts ist vor allem Soldat und erst dann Erzieher. Der Lehrer im Priesterseminar ist vor allem Kaplan und erst dann Lehrer der Priester. Der Lehrklerus, der in Elementarschulen an den Klostern und Orden unterrichtet, besitzt in erster Linie das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Geistlichkeit und erst dann das Bewußtsein seiner Erziehungsfunktion." 113 Klerikale Lehrerschaft, Küsterschulmeister 114 oder Veteranenstockmeister sind folglich nur Vorläufer einer berufsständisch geschlossenen Erzieherbürokratie, die in Preußen mit den Stein-Hardenbergischen Reformen, also mit dem Aufkommen des modernen Nationalstaats, ihren Anfang nimmt. Erstmals gewinnt nun, unter Fichtes Einfluß, der Gedanke einer wirklich allgemeinen Volksbildung Gestalt, einer Bildung für die Jugend des Volkes, nicht nur für das niedere Volk. Stein will den Militärstaat in jedem Fall durch den Erzieherstaat, das Untertanenturn in jedem Fall durch die staatsbürgerliche Solidarität ersetzen. Damit erst werden die Erzieher der aus der ständischen Absperrung befreiten Volksschule zum Berufsstand innerhalb des Staates. Erzieher von Berufs wegen erziehen nun junge Staatsbürger, nicht mehr Kinder dieses oder jenes Standes. In dem Maße, wie diese Gedanken konkrete Form annehmen, nimmt auch die allgemeine Erziehungslehre als systematische Wissenschaft ihren Ursprung. Das Prinzip "ist noch ganz unsystematisch bei Pestalozzi angelegt- bezeichnend bei einem Erziehungspraktiker reinsten Wassers. Herbart beschert uns dann in seinen ,Vorlesungen' 1835 das erste geschlossene System einer allgemeinen Erziehungstheorie. Mit der planmäßigen, allgemein-theoretischen Ausbildung von Berufslehrern beginnt im Jahre 1809 Zeller. Und auch hier dienen als Muster die Anstalten Pestalozzis, die zwar ein Jahrhundert früher in Stettin unter der Regentschaft Friedrich Wilhelm /. in Francke schon einen Vorläufer findet, aber bei ihm eben, abgesehen von der pietistisch-religiösen Tendenz, rein didaktisch orientiert ist." 115 Auf zwei parallelen Wegen setzt sich Geiger zufolge die Entwicklung zur allgemeinen Erziehungswissenschaft durch: m Ebd., S. 31. Siehe dazu auch Geiger 19301. 115 Bürokratismus und Erziehung, S. 44 f . 114

15 Rodax

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1. Der Staat, der sich kraft seines Absolutheitsanspruches als oberste Kulturinstanz ansieht, veranlaßt eine allgemeine Volkserziehung. Diese wird generell, jenseits der besonderen, inhaltlich bestimmten Lehrpragmatiken verschiedener Standesgruppen zum abgegrenzten, seine eigene Theorie begründenden Kulturgebiet 2. Eine nunmehr zahlreiche, als Berufsstand geschlossene Erzieherbürokratie benötigt eine allgemeine Erziehungstheorie, die sie teils nur anwendet, teils selbst entwickelt. Die allgemeine Erziehungswissenschaft ist und bleibt zunächst überwiegend Sache der Volksschullehrerschaft und dringt erst von da allmählich in das Facherzieherturn vor. Geiger erinnert in diesem Zusammenhang daran, wie wenig mit Pädagogik beschwert noch die Gynmasiallehrergeneration gewesen ist, die ihn einst unterrichtet hat. Erst nach der Jahrhundertwende wird auch die höhere Schule pädagogisiert. Der Berufsstand der Lehrer entwickelt aus einer systematisch geschlossenen allgemeinen Erziehungswissenschaft ein Weltbild und eine Wertbestimmung, aus denen die eigene pädagogische Weltanschauung erwächst. Welcher Art, so fragt Geiger nun weiter, ist die damit vorgezeichnete Emanzipation des bürokratisierten Erziehungswesens, und worin zeigt sie sich? Es ist schon vom Gruppensubjektivismus aller originären Erziehung die Rede gewesen, die unter der Hand bei der Berufsausbildung der Jugend miteinfloß. Das Ziel der Erziehung ist hier durch das Kollektiv in seiner jeweiligen Zuständigkeit und seinen Anforderungen vorgegeben. Es werden nirgends Menschen erzogen, sondern Träger kollektiv bestimmter Rollen; hier Christen und Kleriker, dort Handwerker, Soldaten, Gelehrte, Herren, Bauern- und schließlich, vom Staat und in seinem Auftrag: Untertanen, Staatsbürger und Patrioten. Der moderne Nationalstaat, obwohl er sich selbst gerne als Sachwalter eines allgemeinen Menschentums darstellt, will doch Menschen auch im Sinne seines jeweiligen Kultur- und Machtstaates begriffen wissen und sie nicht um ihrer selbst willen erziehen lassen - es wäre ja sonst kein Machtgebilde. Natürlich will er ebenso seine Jugend zu brauchbaren Berufsträgem und zu loyalen, regierlichen Staatsbürgern erzogen wissen. Sofern er mit der Erfüllung dieser wichtigen Aufgabe eine eigene Lehrerbürokratie betraut, die Trägerio einer disziplinär gesicherten Erziehungswissenschaft ist, und indem er die Verantwortung der Erziehung ihrem Berufsgewissen überträgt, ist die ideologische Emanzipation der Erziehung bereits angebahnt, mindestens aber ermöglicht. Das Berufsgewissen richtet sich zwar an den herrschaftlichen Dienstanweisungen, jedoch immanent und daher autonom an den Ideen der Berufstheorie aus. In der pädagogischen Theorie allerdings ist die verbindliche Instanz die allgemeine Idee der Erziehung - nicht mehr die an den Ansprüchen eines Herrschafts- und Verfassungsstatus' orientierte erzieherische Absicht des Nationalstaates. Ziel der Erziehung ist hier nicht mehr partiell der Träger einer

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kollektiven Rolle als Staatsbürger, sondern der ganze Mensch. Darüber hinaus ist das erzieherische Denken nicht an der zeitgebundenen Zuständigkeit des Staates und Staatsvolkes ausgerichtet, sondern "an meta-sozialen zeitlosgemeinten verbindlichen Ideen." 116 Pestalozzi ist nach Geiger ein gutes Beispiel dafür, wie das Erziehungsdenken sich von gruppensubjektiv gesetzten zu allgemein menschlichen Zielbildern wandelt: Er hat zwar den Gedanken der lndustriosität aus der Ideenwelt des Merkantilismus übernommen, dort aber ist der industriöse Mensch nur der Typus, den der Staat zu benötigen glaubt und den er darum in diesem Sinne ausbilden läßt. Bei Pestalozzi hingegen wird die wirtschaftliche Leistungstüchtigkeit und Leistungsehrlichkeit zum Kernstück des sittlichen Charakters schlechthin. Kurz: Der Typ der lndustriosität wird aus der Verbundenheit mit wirtschaftlich-politischem Interessendenken herausgelöst "und in die Welt des sittlichen Denkens, in den Ideenbezirk der Humanität, erhoben." 117 Die ideologische Emanzipation des bürokratisierten Erziehungswesens vom Herrschaftsinteresse des Auftraggebers kann im großen und ganzen nicht deutlicher aufgezeigt werden als an dem besonderen Weg, den der Gedanke der "autonomen Pädagogik" genommen hat: "In der Kulturpädagogik ansetzend, durch Diltheys Akademierede von 1888 propagiert, bedeutet autonome Pädagogik zunächst nur: die Lösung der Erziehungswissenschaft aus der Umklammerung durch Ethik, Psychologie oder sonst eine ,Grundwissenschaft'; also bis hierher eine reine Angelegenheit der Wissenschaftssystematik und Wissenschaftstheorie. Wie aber die Autonomie der Erziehungswissenschaft allmählich umgedeutet wird, in eine pädagogische Autonomie, darin bestehend, daß die Normen und Ziele des Erziehungshandeins innerhalb des erziehungswissenschaftliehen Gedankensystems ausgemacht werden sollen - das ist unverkennbare Erscheinung einer erzieherischen Berufsideologie, das ist pädagogische Weltanschauung schlechthin. In dieser pädagogischen Richtung, für die Gustav Wyneken repräsentativ ist, erhält der Berufserzieher eine fachlich-theoretische Legitimation auf dem Gebiet der ,Erziehung' dafür, sein Erziehungshandeln abseits der staatsvolklichen Herrschaftsansprüche (der Nation), abseits aller nicht dem pädagogischen Gedankensystem selbst immanenten Normen überhaupt zu orientieren." 118 Ebd., S. 47. Ebd., S. 47. 11s Ebd., S. 47 f. ,,Es ist kein Wunder," so fährt Geiger kritisch fort, "daß politisch oppositionell oder revolutionär eingestellte Pädagogen die Chance, die ihnen die ideologische Emanzipation des Erziehungsdenkens gewährt, besonders begierig ergreifen, sodaß gelegentlich nicht mehr ganz klar ist: Wird da eigentlich für einen pädagogischen Gedanken mit politischen Mitteln, oder wird für einen politischen mit pädagogischen Mitteln gekämpft? Da man Forderungen und Wünsche des eigenen politischen Willens gemeinhin als sittliche Forderungen zu empfinden und darzustellen pflegt, liegt nichts näher, als daß eine politisierte Gruppe der Lehrerschaft ihre eigene politische Ideologie zuerst ethisch 116

117

15*

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Hier erreicht das pädagogische Weltanschauungsdenken schlechthin seine Blüte. Erziehung hat nun nichts mehr mit der objektiven Kultur zu tun, sie ist nicht mehr Funktion der Kulturüberlieferung, sondern: der Pädagoge selbst schafft Kultur. In vereinfachender Weise könnte man auch sagen: die gesamte objektive Kultur wird durch Pädagogik ersetzt. Dabei ereignet sich für Geiger das ganz Sonderbare: Die kategorische Distanz des Erziehens wird aufgehoben. Alte und junge, reife und reifende Generation stehen einander nicht mehr gegenüber, wobei im bürokratisierten Erziehungswesen die Lehrerschaft der Jugend gegenüber die reife Generation repräsentiert. Schüler und Lehrer ziehen an einem Strang und treten der übrigen Gesellschaft gemeinsam gegenüber. Das paradoxe dieser Erscheinung liegt darin, daß die Lehrerschaft in ihrem erzieherischen Absolutismus eigentlich sich selbst und ihr soziales Amt verneint. 11 9 Nun will Geiger aber gewiß nicht den fatalen Eindruck entstehen lassen, als behaupte er, das Erziehungswesen werde auf diese Weise tatsächlich der staatlichen Aufsicht generell entzogen. Das treffe so wenig ein, meint er, wie etwa die Entwicklung eines von Herrschaftsinteressen emanzipierten Rechtsdenkens die Rechtsprechung tatsächlich dem Einfluß der legitimen, politischen Macht entziehe. Die ideologische Emanzipation der Lehrerschaft von der konkreten sozialen Herrschaftsverfassung ist keineswegs eine vollständige, sondern allenfalls eine wirksame Tendenz. Vor allem zwei Faktoren verhindern eine vollkommene ideologische Emanzipation des Erziehungswesens aus dem staatlichen Herrschaftsbereich. Zum einen ein persönlicher Faktor: Es geht gar nicht um eine Emanzipation der Erzieherschaft selbst, sondern, wie schon gezeigt, zunächst um eine solche des Funktionsinhaltes, der Erziehung, von den Bedingungen der Herrschaftsverfassung. Die Emanzipationstendenz ist also beim Erzieher wirksam, sofern und soweit er sich in der ideal-erzieherischen Denkweise bewegt und Träger eines pädagogischen Fach- und Weltanschauungsdenkens ist. Dennoch bleibt er in jedem Fall Erziehungsbeamter für den wohl noch immer das Wort gilt: "Wes Brot ich eß', des begründet und dann unter Berufung auf die gesellschaftskritische Kompetenz des Erzieheramtes für ,die bessere Gesellschaft von morgen' erzieht. Letzthin scheint es gelegentlich, als sei nicht mehr der Staat Instanz über seinem Erziehungswesen, sondern das Erzieherturn kritische und normierende Instanz für das staatliche Leben und Werden" (Ebd., S. 50 f.). Geiger sieht sehr klar die heraufziehende Gefahr, und das ist wohl für ihn der tiefere Hintergrund seiner Überlegungen, in welchem Maße auch der reformpädagogische Diskurs unter dem Einfluß von bürgerlichem Kulturpessimismus und neuidealistischer Schwärmerei, Parlamentarismusverachtung und Parteienhaß stehe, einen ausgeprägten Hang zur Gemeinschaftsideologie, zum Führerkult und Irrationalismus entwickele und damit letztlich dem Nationalsozialismus in die Hände spiele. 119 Sie spielt, wie Geiger beispielhaft hinzufügt, "in der pädagogischen Revolution der Erwachsenenwelt gegenüber eine ähnliche Renegaten- und Überläuferrolle, wie Teile der bürgerlichen Intelligenz sie in der proletarischen Revolution übernehmen" (Ebd.,

s. 52).

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Lied ich sing"'. Als Beamter und natürlich in seiner bürgerlichen Existenz ist er an den Staat mit seiner jeweiligen Herrschaftsverfassung gebunden. 120 Zum anderen aber ist es der organisatorische Faktor. Schulverwaltung und Schulaufsicht erheben als Epibürokratien den ausführenden Lehrern gegenüber immer wieder nachhaltig als Auftragsinstanz den staatlichen Machtanspruch ins Bewußtsein. Kollegiale Schulverwaltung, Abschaffung oder Auflockerung der Lehrpläne, Anspruch auf Besetzung der Schulverwaltungsämter mit Lehrern sind dabei als Versuche zur "Neutralisierung" zu werten. Die Schulverwaltungsbürokratie bildet nämlich eine Schutzmauer gegen jene Emanzipationsform, die sich aus dem pädagogischen Fach- und Weltanschauungsdenken entwickelt. Sie selbst weist zwar auch eine Neigung zur Emanzipation auf, aber diese Neigung ist mit den Angelegenheiten des Verwaltungsapparates und der -technik aufs engste verknüpft. Die damit verbundene Ideologie bewirkt auch, daß die Schulverwaltung prinzipiell eine Gegnerin jeder eigenständigen pädagogischen Maßnahmen der Lehrerschaft ist - vor allem aber ist sie die entschiedene Gegnerin aller Versuche, das pädagogische Handeln aus dem staatlichen Herrschaftsbereich herauszulösen. Sie verfährt dabei nach dem einfachen Grundsatz, daß Verwalten mit der Neigung zum Ausgleichen verbunden ist und nur ähnliche, nach einem gewissen Schema ablaufende Tätigkeiten sich leicht auf dem Verwaltungswege technisch handhaben lassen. Ein Verwaltungsbeamter oder ein ,,Epibürokrat", der sich rein formaler Technik bedient, kann also kein selbständig handelnder pädagogischer Fachtheoretiker sein, "der tief in die Welt der geltenden pädagogischen Ideen eingedrungen ist - sondern umgekehrt: Als Fürsprecher der formellen Staatsmacht ist er doppelt so stark an der Dauerhaftigkeit des jeweiligen staatlichen Machtdenkens interessiert- sein Berufsdenken ist das des treuen Staatsdieners." 121 Sowohl hinsichtlich der Geschichte des Schulwesens als auch der Dogmengeschichte der Pädagogik, für die Geiger noch eine Fülle weiterer Einsichten und anschaulicher Beispiele vorträgt, kann es hier nur bei ersten grundlegenden Hervorhebungen einzelner Erscheinungen der ideologischen Emanzipation des Erziehungswesens auf dem Wege über das pädagogische Fachdenken der Volksschullehrerschaft bleiben. Sie dienen in erster Linie dazu, seine zentralen Absichten, die er an eine historisch-ideologiekritische Soziologie der Erziehung stellt, deutlich werden zu lassen. 120 "Aus diesem Grund zum Beispiel kann sich die Mehrheit der Beamten sehr schnell mit jeder neuen politischen Situation einverstanden erklären und ,auf den Boden vollendeter Tatsachen stellen'. Erzieher, bei denen dieses retardierende Motiv nicht wirksam ist, in deren Persönlichkeit der verpflichtete Beamte dem radikalen erzieherischen Absolutisten nichts abzudingen vermag, werden irgendwann für den Staat als Erziehungsbeamte nicht mehr tragbar sein, oder selbst die Fesseln der Beamtenpflicht nicht mehr ertragen können. Der Ort ihrer Bestimmung ist die ,Freie Schulgemeinde' oder der Privatunterricht" (Ebd., S. 53 f.). 12 1 Ebd., S. 54.

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Historische und systematische Soziologie der Erziehung sind, faßt man Geigers theoretische Überlegungen und Forschungsergebnisse zusammen, ein Teilgebiet der Soziologie, nicht der Pädagogik, weil sie die erzieherischen Vergesellschaftungserscheinungen mit soziologischen Methoden bearbeiten. 122 Gleichwohl ist es praktisch angemessener, Programm und Einteilung einer Soziologie der Erziehung, worauf er großen Wert legt, nicht von der Einteilung der allgemeinen Soziologie nachbildend abzuleiten, sondern entsprechend dem besonderen Gegenstand eigens zu gliedern und genauer zu erforschen. Wem dient, so fragt Geiger schließlich, eine so breit angelegte Erforschung der Soziologie der Erziehung, und hat sie überhaupt praktische Bedeutung? Die Initiative vor allem aus dem Kreis engagierter Vertreter der Volksschullehrerschaft zeige schon, so Geiger, daß ein akutes praktisches Bedürfnis vorgelegen habe, das offenkundig aus der Entwicklung der eigenen pädagogischen Berufsideologie erwachsen sei. Es gehört dabei zum unverzichtbaren Credo des zeitgenössi122 Geiger 1929 c, S. 838. Er unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht, wie Brinkmann (1986, S. 236 f.) behauptet, prinzipiell von dem Pädagogen Aloyis Fischer, der in Alfred Vierkandts "Handwörterbuch der Soziologie" (1931) davon spricht, daß ,.die pädagogische Relation ... ein soziologischer Sachverhalt" sei, gleichwohl aber die "Darstellung des pädagogischen Sinn- und Richtunggehaltes dieses Sozialverhältnisses nicht Sache der Soziologie", sondern in erster Linie der Pädagogik sei. "Man kann ... das auch so ausdrücken, daß man sagt: die Soziologie untersucht an allen realen Erziehungen und Erziehungsvorgängen lediglich die Konsequenzen des Sachverhalts, Wechselwirkung zu sein, die Pädagogik dagegen die speziell erzieherische Zweck-, Sinn-, Richtungsbestimmtheit dieser Wechselwirkung; zur Pädagogik gehört Absicht und Ziel der Wechselwirkung, eine Aufgabe, die durch sie und in ihr gelöst werden soll, zur Soziologie die unvermeidliche Notwendigkeit der Verbundenheit von Menschen oder die Wechselwirkungen ,an sich' zwischen solchen, die erziehen und erzogen werden. Schon daraus folgt, daß Soziologie nicht normativ für Pädagogik ist, denn jede Wechselwirkung ist gegen eine mögliche Aufgabe neutral, formal; folgt ferner, daß Ziele und Zwecke der Erziehung, auch Mittel und Verfahren derselben, Kriterien guter und schlechter Erziehung nicht aus ihrem Charakter als Sozialverhältnisse deduziert werden können ... , daß eine Reduktion der Pädagogik auf Soziologie ebenso unmöglich ist, wie eine Reduktion der Rechtswissenschaft, Sprachwissenschaft oder Wissenschaft eines anderen sozialen Gegenstandes auf sie. Die Pädagogik bleibt autonom was etwas anderes besagt als: die Erziehung sei autonom - und die Ansätze zu einer soziologischen Pädagogik enthalten einen Soziologismus, der ebenso falsch ist wie der Psychologismus in der Pädagogik. Bewiesen ist lediglich Recht und Pflicht der Soziologie, auch von der Erziehung zu handeln, aber lediglich insofern in der pädagogischen Relation eine mögliche Urbeziehung zwischen Menschen enthalten ist, und sofern in der privaten bzw. öffentlichen Erziehung" eine solche vorliegt (Fischer 1931, S. 409 f.). Ich vermag nicht zu sehen, wie man daraus einen Gegensatz im Objektbereich zwischen Pädagogik und Soziologie herauslesen kann und ihn zum prinzipiellen disziplinären Zankapfel zwischen Geiger und Fischer hochstilisiert, wie das Brinkmann (1986, S. 236 f.) in seiner Studie dartut. Geiger hat nie der Pädagogik das Recht abgesprochen, ihren eigenen Gegenstandsbereich zu bearbeiten und bezeichnet denn auch folgerichtig die Soziologie der Erziehung als eine Hilfswissenschaft der Pädagogik. Beide Disziplinen, Pädagogik und Soziologie der Erziehung, haben gewiß Erziehung in zweifacher Weise zum Forschungsgegenstand: hinsichtlich ihres sozialen und personalen Brennpunktes, aber unter jeweils eigener methodologischer Perspektive, wie Geiger das klar herausgearbeitet hat und wie das auch Fischer gutheißt.

6. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der Soziologie der Erziehung

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sehen Erziehungsdenkens, daß die sozialen Kräfte des jungen Menschen nicht nur allseitiger Entwicklung und Förderung kognitiver Fähigkeiten bedürfen, sondern ebensosehr, gleich allen anderen körperlichen, geistigen und seelischen Anlagen, der aktiven Einbeziehung in den Erziehungsprozeß. 123 Unter diesen Voraussetzungen bedarf die Volksschullehrerschaft nicht nur einer unmittelbar aus der eigenen konkreten schulischen Anschauung gewonnenen oder intuitiven Erfassung des Erziehungsprozesses, sondern in weit stärkerem Maße der rationalen theoretischen Durchdringung der Vergesellschaftungskräfte und -vorgänge im allgemeinen und insbesondere im pädagogischen Wirkungsbereich. Man wird es dem Soziologen als Theoretiker nicht verübeln dürfen, so gibt Geiger zu bedenken, wenn er seinen Forschungsinteressen ohne Rücksicht auf praktischen Nutzen nachgeht, fügt aber sogleich für ihn wieder typisch und richtungsweisend hinzu: "Der Praktiker findet doch seine Rechnung. Geht er mit der Theorie eine Ehe ein, so bringt der Theoretiker seine ordnenden Begriffe, der Praktiker seine erfahrenen Kenntnisse der Tatsachen mit; er sehe auch am Ende, was er mit den Ergebnissen der Forschung wird machen können. Praktische Förderung mit Recht erwartend und heischend mag er sicher sein: wissenschaftliche Forschung darf sich noch sehr in theoretischer Askese zurückziehen - wo immer sie wirklich neue Wahrheit findet, schlägt sie der Praxis noch heute übers Jahr zum Nutzen aus." 124 Nachdem bisher der theoretische Stellenwert und die Reichweite der erziehungssoziologischen Schriften Geigers im Kontext seiner programmatischen Grundlegung und Einteilung der Soziologie der Erziehung erstmals systematisch entfaltet worden sind, sollen nun als Ergänzung und Fortführung seine Grundüberlegungen zur Soziologie der Erziehung im Gesamtzusammenhang dargestellt werden. Es gilt hier allerdings einschränkend daran zu erinnern, daß er eine befriedigende sozialwissenschaftliche Systematisierung des gesamten Zusammenhangs der Soziologie der Erziehung als eine schwierige, wenn nicht gar unlösbare Aufgabe ansieht. Vermutlich ist sie, und hier argumentiert Geiger durchaus folgerichtig und konsequent im Sinne seines Soziologieverständnisses, sogar müßig, insofern sie für ihn die Ergiebigkeit der einzelwissenschaftlichen Forschung um nichts fördert. Jedenfalls sperrt er sich energisch dagegen, "Sozialwissenschaft" als wissenschaftssystematische Kategorie zu begründen. Tut man es trotzdem, und es gibt aus seiner Sicht prinzipiell keinen Einwand dagegen, dann muß man sich aber darüber im klaren sein, daß dies nur eine handliche 123 ,,Darin geht die moderne Pädagogik über den Psychologismus hinaus. Die Formel ,vom Kinde aus' erweitert sie: ,vom Kinde als sozialem Wesen aus'. Gesellschaft ist nicht nur, wie die idealistische Philosophie es wollte, ,sittliche Bestimmung' des Menschen, sondern von Anfang an gegebene ,Seins-Bestimmtheit' des Menschen. Wir erziehen also nicht nur für die Gesellschaft' sondern durch das gesellige Leben, zu dem die Neigung, ja die psychische Notwendigkeit im Kinde- wenn auch auf typisch kindliche Weise- vor aller Erziehung angelegt ist" (Geiger 1929c, S. 839). 124 Ebd., S. 839.

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A. Soziologie zwischen Ideologie und Ideologiekritik

Bezeichnung ist, unter der man heuristische Überlegungen zusammenträgt, die nur einen Überblick über die Soziologie der Erziehung erlauben. 125 In diesem Sinne lassen sich Geigers Grundüberlegungen zur Soziologie der Erziehung, obwohl von ihm nirgendwo systematisch im Gesamtzusammenhang ausformuliert, dem Anspruch nach durchaus als ein allgemeines Ordnungsraster zentraler theoretischer Zusammenhänge zwischen Gesellschaftsstruktur, Erziehung, gesellschaftlicher Bildung und Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen verstehen. Es gestattet zum einen, die wesentlichen theoretischen Annahmen darzustellen und zum anderen ermöglicht es, deren theoretische Verknüpfung zugleich in eine hierarchisch-strukturelle Ordnung nach Gesellschafts-, Organisations-, Institutions-, Interaktions- und Individualebene zu bringen. Auf diese Weise kann ein wechselseitiges Bedingungsgefüge sozialer und personaler Einflüsse aus Geigers erziehungssoziologischen Schriften rekonstruiert werden 126, das bedeutsame Grundannahmen der Soziologie der Erziehung angemessen zu veranschaulichen vermag (vgl. Abbildung 4). Die Gesellschaftsstruktur (die Struktur funktionaler sozialer Differenzierung, die sich aus den Wechselbeziehungen der zentralen sozialen Teilsysteme ergibt, und die Struktur sozialer Ungleichheit, insbesondere die hierarchische Gliederung der Gesellschaft in Schichten und Klassen je nach Verteilung ökonomischer, sozialer und kultureller Ressourcen und Partizipationschancen sowie die sie einbettende soziale Wert- und Normenstruktur) beeinflußt wesentlich den unterschiedlichen sozialen Standort des jungen Menschen in einzelnen Schichten und Klassen, seine Lebenswelt, gesellschaftliche Bildung 127 , Mentalität und Ideologie. Nach diesen Vorstellungen wird der junge Mensch in eine bestimmte Schichtoder Klassenlage hineingeboren, das heißt in eine Lebenswelt, deren äußere Umstände, entsprechend dem sozialen Standort der Eltern, typisch für das Schicksal seiner Gesellschaftsschicht bzw. -klasse sind. Wichtig und charakteristisch ist hierbei, daß dadurch sein Standpunkt und sein soziales Handeln nicht ein für allemal festgelegt sind, wohl aber der geometrische Ort seiner möglichen Standpunkte und Handlungsmöglichkeiten, die Umstände und Schicksal ihm vorgezeichnet haben. Die gesellschaftliche Bildung leistet dabei im Grunde der junge Mensch selbst oder das Leben an ihm. Bildung oder Charakter überhaupt sind 125 Geiger reserviert dafür, wie schon gezeigt, den Begriff "Gesellschaftskunde", der eine darstellerische, nicht aber eine Erkenntnisleistung bezeichnet (vgl. dazu Geiger 1962a, S. 54). 126 Siehe dazu im einzelnen Geiger 1930d,e,f,g,h,i,n,o, 1931i,j, 1932a,b, 1933f. 121 Es ist unverkennbar, welch große Übereinstimmung der Geigersehe Bildungsbegriff hier mit dem Begriff der Sozialisation aufweist (vgl. dazu vor allem Hurrelmann und Geulen 1980, Hurrelmann 1974, 1975, 1976, 1986, Hurrelmann und Engel 1989, Hurrelmann und Nordlohne 1989, Hurrelmann und Mansel1991, Krecker 1988), obwohl er diesen nicht verwendet. Die mit der Bezeichnung Erziehung nicht zu erfassenden Prozesse und Bedingungen der Sozialisation sind unter dem Begriff der Bildung, wenn auch nicht problemlos, noch am besten einzuordnen.

6. Gegenstand und Erkenntnisabsicht der Soziologie der Erziehung

233

also fortgesetzte Selbstverständigung des jungen Menschen in aktiver Auseinandersetzung mit seinen Lebensbedingungen. Die Gesellschaftsstruktur prägt ebenso Funktion und Funktionsbereich des Erziehungssystems als institutionelle und organisatorische Verfassung einzelner zentraler Erziehungsinstanzen wie Schule (bzw. Hochschule) und Familie. 128 Die Festlegung des gesellschaftlichen Aufgabenfeldes dieser Instanzen, der Zuschnitt ihrer internen Rollen-, Macht- und Sympathiestrukturen für die pädagogischen Unterrichtsprinzipien. Die aus dem unterschiedlichen sozialen Wert- und Normensystem der Schicht- und Klassenstruktur sich ableitenden Zielvorstellungen für die gesellschaftliche Bildung bestimmen 129 ihrerseits zu einem hohen Grad Form und Inhalt der unmittelbaren Interaktion, also der Prozesse, die in direktem Bezug zur Mentalität bzw. Ideologie und Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen stehen. Die besondere Stärke gerade der Erziehungsinstitution Schule (bzw. Hochschule) gegenüber anderen Organisationen wie etwa Kirchen, Betriebe, Massenmedien liegt vor allem in der unmittelbaren Interaktion und Kommunikation der Lehrer mit den ihnen anvertrauten jungen Menschen, die im Mittelpunkt ihrer weltanschaulich unbelasteten Erziehungs- und Ausbildungsbemühungen stehen. In diesem Sinne gehört es zu einer ihrer vornehmsten Pflichten, dieses Potential der unmittelbaren sozialen Beziehungen in der Schule zu stärken und pädagogisch angemessen zu fördern. Geiger sieht allerdings auch sehr klar: Trotz des formell hohen Stellenwerts der Erziehungsorganisationen bringt es der soziale Wandel der Gesellschaftsstruktur in fortgeschrittenen kapitalistischen Industriegesellschaften aber auch mit sich, daß insbesondere die Erfüllung der Erziehungsaufgaben sowohl durch das Festhalten an für unveniickbar geltenden traditionellen Werten und Normen als auch durch das Predigen des Klassenbewußtseins außerordentlich gefährdet sei. Weltanschauliche Erziehung als "Erziehung zur Weltanschauung" durch Erziehungsorganisationen ist unnötig und unmöglich, weil die Einheitlichkeit des epochalen Weltbildes längst verloren gegangen ist. Überlieferter sozial-standortlieber Lebensauffassung als solcher darf in öffentlichen Erziehungsorganisationen kein Raum mehr gewährt werden. Sie darf auch nicht - bei Strafe des Verfassungsbruchs, wie der Jurist Geiger mahnend hinzusetzt - als legitim vorausgesetzt und etwa zur Grundlage der weltanschaulichen Erziehung gemacht werden. Sachlich würde solch eine Sichtweise arger Gesinnungsinzucht und ideologisch-doktrinärer Verkleisterung Vorschub leisten. Als aufgeschlossener Pädagoge muß der Lehrer es mithin als seine vornehmste Berufsaufgabe betrachten, dem jungen Menschen Bildungshilfe in dem Sinne zu gewähren, daß er ihn in der Auseinandersetzung mit seiner Lebenswelt unterstützt, ihn in seiner Selbst12s 129

Siehe dazu auch Strzelewicz 1979, Prahl 1989, S. 161. Siehe dazu unter anderem Menzel 1985.

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I

Organisati onsund Institutionsebene )

Gesel.lschaftseben e

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funkt1onale soziale II Differenzie rung 1~

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I

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+ keine Bekenntnis schule

+ Verzicht auf jenseitige Ziele

Schule

+ konkurrier t mit Schul.e

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+ Wohngegend

+ Sachumwelt

+ sozial.e Bezugsgruppen (z. B. Spiel- und Klassenkamerad schaft)

+ sozialer Standort der Schichten und Klassen

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~~hierarchische soziale~ I Ungleichhe it

+ Erziehungs aufgabe nach Umfang und Dauer begrenzt (Kleinkind)

Familie

institution elle und organisato rische Verfassung der Erziehungs instanzen

Historisch er Kontext

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soziale Wert- und Normenstru ktur

+ diffenrenz iert nach sozial.en Schichten und Kl.assen

+ Lebenswelt en überschneid en sich teil.weise

+ beschränkt offen und durchlässig

- nicht mehr Stände,

Gesellscha ftsstruktur

gesellscha ftliche Funktion des Erziehungs systems

Historisch er Kontext

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Individualebene

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{=gefugtes,

~ Ideologie Ideen- und Wertsystem) iu~erliches

+ intellektuel le und emotionale Verarbeitung der Lebensumstande {=Selbstvers tindigung)

+ persönliche Auseinandersetzung mit der Lebenswelt

gesellschaft liche Bildung

Lebenswelt

1

Abbildung 4: Geigers Grundüberlegungen zur Soziologie der Erziehung

Persönlichke itsentwicklun g des jungen Menschen {Handlungssp ielraum)

Mentalität {= eigenes lebendiges Verhiltnis zur Welt)

J

f

+ nicht mehr transitive. sondern reflexive Erziehung

der Familienerzie hung mehr

+ kein ethischer Wert

+ den Bildungsanfo rderungen nicht mehr hinreichend gewachsen

Form und Inhalt der Interaktion

+ Selbsterziehu ngshilfe {• Bildungshilfe )

+ Tatsachenun terricht am Beispiel Gelegenheits erziehung

pädagogische Prinzipien der Erziehung im Unterricht

und Klassen {Einheitsschu le)

+ Koedukation der Schichten

und burokratisie rte Erziehung {Berufserzieh erl

+ institutiona lisierte

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