Thatchers konservative Revolution: Der Richtungswandel der britischen Tories (1975-1979) 9783486707519, 9783486566611

An Margaret Thatcher scheiden sich die Geister bis heute. Ihre Bewunderer vergleichen sie mit Charles de Gaulle und Wins

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German Pages 464 Year 2002

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Thatchers konservative Revolution: Der Richtungswandel der britischen Tories (1975-1979)
 9783486707519, 9783486566611

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Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London

Publications of the German Historical Institute London

Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Herausgegeben von Hagen Schulze Band 53

Publications of the German Historical Institute London Edited by Hagen Schulze Volume 53

R. Oldenbourg Verlag München 2002

Dominik Geppert

Thatchers konservative Revolution Der Richtungswandel der britischen Tories 1975–1979

R. Oldenbourg Verlag München 2002

Meinen Eltern

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Geppert, Dominik: Thatchers konservative Revolution : der Richtungswandel der britischen Tories 1975 1979 / Dominik Geppert. - München : Oldenbourg, 2002 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London ; Bd. 53) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2000 ISBN 3-486-56661-X

© 2002 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D - 81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-56661-X

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Inhalt

INHALT EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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PROLOG: THATCHERS WAHL ZUR PARTEIFÜHRERIN . . . . . . . . .

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1. Der Sturz Edward Heaths . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Aufstieg Margaret Thatchers . . . . . . . . . . . . . . .

27 41

DER THATCHER-FAKTOR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

I.

1. Thatchers politischer Stil . . . . . . . . . . . a) Die Macht des Wortes . . . . . . . . . . . b) Krise, Charisma und Führungskraft . . . c) Radikaler Populismus . . . . . . . . . . d) Die Waffen einer Frau . . . . . . . . . . . 2. Thatchers Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Individuum stärken . . . . . . . . . b) Die Aufgaben des Staates neu definieren c) Die Kräfte des Marktes freisetzen . . . . d) Die Nation zur Größe zurückführen . .

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DER ZUSAMMENBRUCH DER NACHKRIEGSORDNUNG . . . . .

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1. Die Krise der Nachkriegsordnung . . . . . . . . . . a) Thatcher und die Nachkriegsordnung . . . . . . b) Das Scheitern von Heaths „Stiller Revolution“ . c) Die Labour-Partei in der Krise . . . . . . . . . . 2. Das wachsende Krisenbewußtsein . . . . . . . . . . a) Die Diskussion über die britische Krankheit . . b) Diagnosen und Therapien. . . . . . . . . . . . . c) Thatchers ideologisches Erklärungsmodell . . .

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145 145 154 172 197 197 211 218

III. DER AUFSCHWUNG DER „NEUEN RECHTEN“ . . . . . . . . . .

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II.

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1. Die „Neue Rechte“ in Großbritannien vor 1975 . . a) Geistige Gründerväter . . . . . . . . . . . . . . b) Transmissionsriemen . . . . . . . . . . . . . . . c) Keith Joseph und das Centre for Policy Studies .

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Inhalt

2. Margaret Thatcher und die „Neue Rechte“ . . . . . . . . . . a) Thatchers Hinwendung zur „Neuen Rechten“ . . . . . . b) Der inhaltliche Einfluß der „Neuen Rechten“ . . . . . .

282 282 298

WIDERSTÄNDE GEGEN DEN THATCHER-KURS UND IHRE ÜBERWINDUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der Konflikt mit den innerparteilichen Gegnern. . . . . a) Thatchers Schwächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Weltsicht der gemäßigten Konservativen . . . . . c) Thatchers Strategien im Konflikt mit den moderates . 2. Der Streit um die konservative Gewerkschaftspolitik . . a) Die Ausgangslage, 1975–1977 . . . . . . . . . . . . . b) Zaghafte Positionsverschiebungen, 1977–1978 . . . . c) Die gewerkschaftspolitische Wende, 1978–1979 . . .

. . . . . . . .

319 319 327 341 364 364 379 391

Schlußbetrachtung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

417

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439

1. Ungedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439 439 442

Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

457

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

459

IV.

. . . . . . . .

Einleitung

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EINLEITUNG An Margaret Thatcher scheiden sich die Geister. Sie war nicht nur die erste Frau an der Spitze der Regierung einer großen westlichen Industrienation und länger ununterbrochen im Amt als alle britischen Premierminister seit Lord Liverpool (1812 bis 1827). Sie war auch umstritten wie kaum ein anderer Politiker des 20. Jahrhunderts.1 Noch heute bleibt fast niemand indifferent, wenn die Rede auf sie kommt. In Großbritannien vergleichen ihre Bewunderer sie mit Königin Elisabeth I., Winston Churchill, Charles de Gaulle – oder prophezeien wie der britische Fernsehjournalist und ehemalige Labour-Abgeordnete Brian Walden, in kommenden Jahrhunderten würden große Epen über sie geschrieben werden.2 Ihre gewiß nicht weniger zahlreichen Gegner bezeichnen sie als weiblichen Rambo oder „Attila die Henne“, nennen sie in einem Atemzug mit Hitler, Stalin und Mao Tsetung.3 Anläßlich der Publikation des ersten Bandes der Thatcher-Erinnerungen brachten die Produzenten der britischen Fernseh-Satire Spitting Image ein Heftchen mit dem Titel The Real Maggie Memoirs auf den Markt, in dem die Politikerin unter anderem als Jack the Ripper und als das todbringende Weltraummonster Alien porträtiert wurde. Meinungsumfragen unter den britischen Wählern ergaben entweder Respekt oder Abscheu, aber so gut wie nie Gleichgültigkeit ihr gegenüber.4 Bis heute entzweit die Politikerin die öffentliche Meinung Großbritanniens. Der Londoner Evening Standard schimpfte am 22. November 2000 anläßlich des zehnten Jahrestages von Thatchers Rücktritt: „Ten years after the malevolent old haddock was forced out, it is safer than ever to assume that, on any given issue, [she] will be absolutely, utterly, incontrovertibly 1

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4

Sämtliche in dieser Studie vorkommenden Amts- oder Berufsbezeichnungen wie „Politiker“, „Staatsmänner“, „Parteiführer“ und ähnliches sind geschlechtsspezifisch neutral gemeint. Jede andere Lösung wäre nicht nur kompliziert und mitunter verwirrend, sondern häufig geradezu sinnentstellend. Zit. nach HUGO YOUNG, One of Us. A Biography of Margaret Thatcher, London 1989, S. 136. Vgl. auch die Auflistung bei DENIS HEALEY, The Time of My Life, London 1989, S. 485. Der Schriftsteller und Publizist Robert Harris verglich ihre Erinnerungen mit Hitlers „Mein Kampf“; vgl. ANDREW J. DAVIES, We, the Nation. The Conservative Party and the Pursuit of Power, London 1995, S. 417. Den Vergleich mit Attila bemühte erstmals der Labour-Politiker Gerald Kaufman in einer Unterhausdebatte im November 1971; aus dem Hunnen wurde später die Henne Attila; siehe Hansard Vol. 826, Col. 617. Für die Vergleiche mit Mao, Lenin und Stalin siehe HEALEY, S. 353, 488. Spitting Image. Margaret Thatcha. The Real Maggie Memoirs, London 1993; DENNIS KAVANAGH, Thatcherism and British Politics. The End of Consensus?, Oxford 1987, S. 272–3.

8

Einleitung

wrong.“ In der konservativen Wochenzeitschrift The Spectator konnte man an demselben Tag hingegen lesen, Thatcher habe nicht nur das Ende des Kommunismus und die Wiedervereinigung Europas vorhergesagt, „[s]he was the political godmother of everything that is enterprising, free-booting and commercially creative about modern Britain.“ Man könne zu Thatcher stehen wie man wolle, hieß es im Daily Mirror, sie sei das größte politische Ereignis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen.5 Selbst in Deutschland fordert die ehemalige Premierministerin bis in die Gegenwart hinein heftige, meist negative Urteile heraus. Bundeskanzler Helmut Schmidt soll sie im Gespräch mit dem französischen Präsidenten Valery Giscard d’Estaing ein „Rhinozeros“ genannt haben.6 Der Herausgeber des Spiegel, Rudolf Augstein, bezeichnete sie 1982 als „selbstgerechte Hausfrau“.7 Der Sozialdemokrat Peter Glotz warf ihr Anfang der neunziger Jahre vor, sie habe England zu einem Flugzeugträger der Japaner gemacht. Jürgen Trittin, damals Vorstandssprecher der Grünen, stellte sie 1997 als nationalistische Europagegnerin mit dem Rechtspopulisten Jörg Haider aus Österreich und Jean Marie Le Pen vom französischen Front National in eine Reihe.8 Helmut Kohl schließlich pflegte gegen Ende seiner Amtszeit Thatchers Großbritannien als abschreckendes Beispiel für einen entfesselten Kapitalismus anzuführen.9 Auf der anderen Seite gilt sie deutschen Wirtschaftsliberalen zusammen mit Adam Smith, Ludwig Erhard und Friedrich August von Hayek als Ikone der freien Marktwirtschaft.10 Thatcher hat nicht nur auf Politiker, Wähler und Journalisten polarisierend gewirkt, sondern auch auf die reichhaltige, kaum noch zu überschauende Literatur, die sich mit ihr auseinandersetzt.11 Unter den mehr als zwei Dutzend Biographien, die über sie geschrieben wurden, überwiegen entweder Idealisierungen oder Pamphlete, abgewogene Darstellungen sind selten. 5 6 7 8

9 10

11

Alle Zitate aus The Independent, 25. November 2000. So jedenfalls HEALEY, S. 490. RUDOLF AUGSTEIN, „Yes, Ma’am“, in: Der Spiegel 19/1982. PETER GLOTZ, Die Linke nach dem Sieg des Westens, Stuttgart 1992, S. 74; JÜRGEN TRITTIN, Wem nützt der Euro?, in: CampusGrün. Hochschulzeitung von Bündnis 90/Die Grünen, Winter (1997), S. 2. So etwa in seiner Rede auf dem 19. Parteitag der CDU vom 12. bis 15. Oktober 1997 in Leipzig; abgedruckt in: CDU-Informationsdienst. Union in Deutschland (UiD) 32/1997, S. 14. Siehe etwa das Titelbild der Broschüre Der Aufbau eines think-tank für unternehmerisches und marktwirtschaftliches Denken, die 1998 vom Unternehmerinstitut (UNI) der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU) herausgegeben wurde. Einen Überblick über den Umfang der Literatur zum Thema vermittelt FAYSAL MIKDADI, Margaret Thatcher. A Bibliography (= Bibliographies of British Statesmen, No. 18), Westport, London 1993. Eine Bilanz der Thatcher-Ära findet man bei PETER RIDDELL, The Thatcher Era and its Legacy, 2. Aufl. Oxford 1993.

Einleitung

9

Die drei ersten Lebensbeschreibungen, die noch 1975 – im Jahr von Thatchers Wahl zur Tory-Chefin – erschienen, stammten allesamt aus den Federn konservativer Politiker und porträtierten die neue Parteiführerin als Idealgestalt.12 Auch spätere Lebensbilder dienten, insbesondere wenn Wahlen ins Haus standen, unverkennbar demselben Zweck.13 Auf der anderen Seite stehen Verunglimpfungen wie diejenige des walisischen Labour-Abgeordneten Leo Abse, der versuchte, Thatchers Persönlichkeit und Politik mit Hilfe vulgär-freudianischer Psychoanalyse zu erklären und den teilweise aggressiven Umgang mit ihren Mitmenschen auf fehlende mütterliche Liebe in der Kindheit zurückzuführen.14 Selbst die beiden bislang weitaus qualifiziertesten Biographien von Hugo Young, dem Chefkolumnisten des Guardian, und dem Historiker John Campbell konnten bei aller Sorgfalt im Umgang mit den Fakten ihre Antipathie gegenüber dem Gegenstand ihrer Darstellung nicht immer verbergen.15 Im Ausland ist Thatchers Vita vor allen Dingen in den Vereinigten Staaten auf Interesse gestoßen, während in Deutschland bislang nur ein nicht besonders tief schürfendes Lebensbild von Egbert Kieser sowie zwei übersetzte Biographien erschienen sind: die aus dem Französischen übertragene Arbeit Pia Paolis sowie die Übersetzung der soliden Studie der beiden Journalisten Nicholas Wapshott und George Brock von der Times.16 Daneben gibt es Hans-Peter Schwarz’ Studie über „Das Gesicht des Jahrhunderts“, die im Kapitel über „Die Epoche der Reformer“ ein knappes Thatcher-Porträt enthält.17

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17

GEORGE GARDINER, Margaret Thatcher. From Childhood to Leadership, London 1975; ERNLE MONEY, First Lady of the House, Frewin 1975; RUSSELL LEWIS, Margaret Thatcher. A Personal and Political Biography, Neuaufl. London 1984 (erste Aufl. London 1975). So etwa PATRICK COSGRAVE, Margaret Thatcher. A Tory and Her Party, London 1978; PATRICIA MURRAY, Margaret Thatcher, London 1978; PENNY JUNOR, Margaret Thatcher. Wife, Mother, Politician, London 1984; KENNETH HARRIS, Thatcher, London 1988; WENDY WEBSTER, Not a Man to Match Her, London 1990. LEO ABSE, Margaret Daughter of Beatrice: A Politician’s Psycho-Biography, London 1989. Eine andere kritische Biographie ist BRUCE ARNOLD, Margaret Thatcher. A Study in Power, London 1984. YOUNG, One of Us; JOHN CAMPBELL, Margaret Thatcher, Bd. 1: The Grocer’s Daughter, London 2000. EGBERT KIESER, Margaret Thatcher. Eine Frau verändert ihre Nation. Eine Biographie, Esslingen, München 1989; PIA PAOLI, Die Eiserne Lady. Die Biographie der Margaret Thatcher, Bonn 1991; NICHOLAS WAPSHOTT und GEORGE BROCK, Margaret Thatcher. Eine Frau regiert in Downing Street, Stuttgart, Herford 1984 (Titel der englischen Originalausgabe: Thatcher, London, Sydney 1983). In den USA erschienen u. a. ALAN J. MAYER, Madame Prime Minister. Margaret Thatcher and her Rise to Power, New York 1979; CHRIS OGDON, Maggie. An Intimate Portrait of a Woman in Power, New York u. a. 1990. HANS-PETER SCHWARZ, Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten, Berlin 1998 (Taschenbuch: München 2001), S. 719–28.

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Einleitung

Was für die Lebensbeschreibungen der Politikerin gilt, trifft auch auf die Interpretationen jenes „-ismus“ zu, dem sie den Namen gegeben hat: Die Geschichte der Bezeichnung „Thatcherismus“ ist die Geschichte eines Kampfbegriffes, der in der politischen Auseinandersetzung der siebziger, achtziger und neunziger Jahre von den verschiedensten Seiten instrumentalisiert wurde.18 Geprägt hat ihn die marxistische Linke – und zwar bereits vor dem konservativen Wahlsieg vom Mai 1979. Sie sah in Thatchers Politik die Speerspitze eines neuen Klassenkampfes und im „Thatcherismus“ eine in sich geschlossene Ideologie, die sich grundsätzlich vom britischen Konservatismus der Nachkriegszeit unterschied. Glaubt man den Tagebuchaufzeichnungen des Labour-Politikers Tony Benn, so spielte die Bezeichnung bereits in den Kabinettsdiskussionen im Dezember 1976 eine Rolle, als Vertreter des linken Parteiflügels Regierungschef James Callaghan und Schatzkanzler Denis Healey vorwarfen, eine allzu wirtschaftsfreundliche Politik zu betreiben, und diese polemisch „Thatcherismus“ nannten.19 In das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit drang der Begriff durch den neomarxistischen Soziologen und Kulturwissenschaftler Stuart Hall. Dieser interpretierte den „Thatcherismus“ im Januar 1979 in einem einflußreichen Aufsatz in Anlehnung an Antonio Gramsci als den Versuch, eine neue kapitalistische Hegemonie zu errichten, die mit dem sozialdemokratischen Konsens der Nachkriegszeit brach.20 Hall charakterisierte diese neuartige, radikale Erscheinungsform des britischen Konservatismus als „autoritären Populismus“.21

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Einen Überblick über die diesbezügliche Debatte geben BRENDAN EVANS und ANDREW TAYLOR, The Debate about Thatcherism, in: DIES., From Salisbury to Major. Continuity and Change in Conservative Politics, Manchester 1996, S. 219–40. Schreiben von Tony Benn an den Verfasser vom 1. Februar 1999, dem ein Auszug aus dem unveröffentlichten Tagebucheintrag vom 14. Dezember 1976 beilag; die erste Erwähnung in der gedruckten Fassung der Benn-Tagebücher datiert vom 18. Juli 1977, in: TONY BENN, Conflict of Interest. Diaries 1977–80, London u. a. 1990, S. 196. STUART HALL, The Great Moving Right Show, in: Marxism Today 23 (1), Januar 1979, S. 14–6. STUART HALL, Thatcherism – a new Stage?, in: Marxism Today 24 (2), Februar 1980, S. 26–8; STUART HALL, Authoritarian Populism: A Reply, in: New Left Review 151, May/June 1985, S. 115–24. Vgl. auch STUART HALL et al., Policing the Crisis, London 1978; STUART HALL und MARTIN JACQUES (Hrsg.), The Politics of Thatcherism, London 1983, STUART HALL, The Hard Road to Renewal. Thatcherism and the Crisis of the Left, London 1988; vgl. auch ANDREW GAMBLE, The Free Economy and the Strong State. The Politics of Thatcherism, London 1988. Halls Interpretation blieb innerhalb der marxistischen Linken nicht unumstritten. Man warf ihm vor, die ideologische Dimension allzu stark zu betonen, die sozioökonomischen Ursachen des „Thatcherismus“ zu vernachlässigen, und suchte nach einer umfassenderen Definition. An der Verwendung des Begriffs hielten jedoch auch Halls Kritiker fest. So vor allem BOB JESSOP et. al., Authoritarian Populism, Two Nations and That-

Einleitung

11

Seit Anfang der achtziger Jahre griffen Thatchers Anhänger und ihr wohlgesonnene Wissenschaftler die Bezeichnung „Thatcherismus“ auf und wandten sie ins Positive. Sie deuteten sie als eine Mischung aus unerschütterlichem Vertrauen in die Kräfte des Marktes, strenger Haushaltsdisziplin, niedrigen Staatsausgaben und Steuern, Patriotismus, dem Gedanken der Selbsthilfe, der Privatisierung maroder Staatsbetriebe und einer Portion Populismus.22 Einig war man sich mit der marxistischen Linken darüber, daß der „Thatcherismus“ einen Traditionsbruch bedeute. Mit ihm habe sich die Konservative Partei von den kollektivistischen und sozialistischen Irrwegen der Nachkriegszeit abgewandt, betonten die Thatcherites. Sie erblickten darin weniger einen neuen Autoritarismus als vielmehr eine Rückkehr zu jenen Eigenschaften, die das Land im 19. Jahrhundert groß gemacht hatten. Thatchers Gegner innerhalb der Tory-Partei bestritten, daß ihre Parteiführerin zu urbritischen Tugenden zurückgekehrt sei. Der „Thatcherismus“ war in ihren Augen ein Dogma, das dem britischen Konservatismus, der seinem Wesen nach unideologisch und pragmatisch sei, prinzipiell widersprach. Er berge die Gefahr in sich, daß die Unterprivilegierten, die durch das soziale Netz Gefallenen sich nicht auf ewig still in ihr Schicksal fügen, sondern eines Tages aufbegehren würden. Dann sähe sich die Tory-Partei jener gewaltsamen Veränderung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ordnung gegenüber, die zu vermeiden ihre vorrangige Aufgabe sei. Weil der „Thatcherismus“ nach Ansicht von Thatchers innerparteilichen Gegnern dem britischen Konservatismus derart widersprach, konnte er nicht von langer Dauer sein und mußte als zeitweilige Verirrung hingenommen werden.23

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cherism, in: New Left Review 147, September/Oktober 1984, S. 32–60; BOB JESSOP et. al., Thatcherism and the Politics of Hegemony: A Reply to Stuart Hall, in: New Left Review 153, September/Oktober 1985, S. 87–101; siehe auch BOB JESSOP et. al., Thatcherism. A Tale of Two Nations, Oxford 1988. Vgl. etwa MARTIN HOLMES, Thatcherism. Scope and Limits 1983–1987, Basingstoke 1989, S. 8–10; KENNETH MINOGUE, Introduction: The Context of Thatcherism, in: KENNETH MINOGUE und MICHAEL BIDDISS (Hrsg.), Thatcherism. Personality and Politics, London 1987, S. X–XVII; NIGEL LAWSON, The View From No. 11. Memoirs of a Tory Radical, London 1992, S. 64. Lawson, 1979 bis 1981 Staatssekretär im Schatzamt, später Energieminister und Schatzkanzler, hatte 1981 in einer Rede in Zürich als einer der ersten Tories öffentlich den Begriff in den Mund genommen und vom „Thatcherism in Practice“ gesprochen. Siehe auch SHIRLEY ROBIN LETWIN, The Anatomy of Thatcherism, New Brunswick/NJ 1992, die vor allem die spezifisch nationale Komponente des „Thatcherismus“, seine Wurzeln im „englischen Individualismus“ betont. „I do not regard ’Thatcherism’ – as it has been called – as more than a passing phenomenon in the evolution of the Conservative Party“, schrieb einer von ihnen. „[I]n a country like

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Einleitung

Eine vermittelnde Position nahmen später diejenigen ein, die Thatchers Politik zwar im Kern für richtig hielten, aber gleichzeitig die bruchlose Tradition des britischen Nachkriegskonservatismus bewahrt wissen wollten. Sie vertraten die These, der „Thatcherismus“ sei kein Bruch mit der Tradition der Tory-Partei, sondern eine nahtlose Fortsetzung, die lediglich auf die besonderen Bedingungen im Großbritannien der siebziger und achtziger Jahre reagiert habe. Der britische Konservatismus habe schon immer zwei unterschiedliche Strömungen in sich vereinigt: eine wirtschaftsliberale, für die freie Marktwirtschaft und Individualismus die zentralen Werte seien, und eine zweite, welche die Bedeutung von Gemeinschaft, Konvention, Tradition und Autorität betone. Diese Doppelgleisigkeit setze sich im „Thatcherismus“ fort.24 Eine fünfte Gruppe, der vor allem die gemäßigte sozialdemokratische Mitte der Labour-Partei und zahlreiche Journalisten angehörten, sprach dem „Thatcherismus“ jede innere Stringenz ab. Sie betonte seinen opportunistischen, eklektizistischen, pragmatischen Charakter und behauptete, Thatcher rede zwar viel von einer ideen- und überzeugungsgeleiteten Politik, aber ihre Ideen, ihre Überzeugungen seien nichts weiter als ihre instinktiven Meinungen zu allen möglichen Themen, die keine innere Logik und keinen Zusammenhang besäßen.25 Vertreter dieser Interpretationsrichtung betonten, daß alle großen Reformprojekte der Thatcher-Ära spontan entstanden, aus den Notwendigkeiten des Augenblicks geboren seien. Ihnen liege kein Generalplan zugrunde. „Thatcherism is an attitude of mind, a vision of the world“, schrieb der Publizist Ian Aitken 1987 im Guardian. „Big idea it is not.“26

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25 26

Britain it simply is not possible to go against the grain for more than a very limited period“; JIM PRIOR, A Balance of Power, London 1986, S. 261. Ähnliche Ansichten vertreten IAN GILMOUR, Inside Right, London 1977; IAN GILMOUR, Dancing with Dogma. Britain under Thatcherism, New York 1992; FRANCIS PYM, The Politics of Consent, London 1984. Für diese Interpretationslinie stehen zum Beispiel JIM BULPITT, The Discipline of the New Democracy: Mrs Thatcher’s Domestic Statecraft, in: Political Studies 34, 1986 (1), S. 19–39; DAVID WILLETS, Modern Conservatism, Harmondsworth 1992. Vgl. auch MICHAEL BENTLEY, Is Mrs Thatcher a Conservative? The Historical Roots of Thatcherism, in: Contemporary Record 3, 1989 (1), S. 35–6. So etwa HEALEY, S. 489; auch ERIC J. EVANS, Thatcher and Thatcherism, London, New York 1997, S. 2. The Guardian, 28. September 1987. Siehe hierzu die Studien des langjährigen Wirtschaftsund Politikredakteurs der Financial Times: PETER RIDDELL, The Thatcher Government, 2. Aufl. Oxford 1985; PETER RIDDELL, The Thatcher Decade. How Britain Has Changed During the 1980’s, Oxford 1989; RIDDELL, Thatcher Era. Ähnlich auch der langjährige Chefkolumnist des Guardian: PETER JENKINS, Mrs. Thatcher’s Revolution. The Ending of the Socialist Era, London 1987, S. 81.

Einleitung

13

Eine sechste Gruppe bildete schließlich jene kleine Zahl von Sozialdemokraten, welche die grobe Richtung von Thatchers Politik für notwendig hielt, aber den politischen Stil der Politikerin ablehnte. Sie verstanden den „Thatcherismus“ als Symptom, nicht als Ursache eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels. Die Entstehung neuer sozialer Gruppen und neuer Werte, die Herausbildung einer individualistischeren, stärker wettbewerbsorientierten Gesellschaft, in der Erbe und Titel weniger wichtig waren als Talent und Leistung – all diese Entwicklungen hätten in Großbritannien auch ohne Thatcher Platz gegriffen. Der Terminus „Thatcherismus“ war deswegen in ihren Augen eine Fehlbezeichnung. Die Person Margaret Thatchers sei unwichtig, auch jede andere Regierung wäre gezwungen gewesen, ähnliche Reformen durchzuführen wie sie.27 So unterschiedlich, ja widersprüchlich die skizzierten Deutungsmuster im einzelnen auch sind, bis zu einem gewissen Punkt stimmen sie miteinander überein: Sie alle gehen von der Tatsache aus, daß sich Großbritannien in den siebziger Jahren in einer tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Strukturkrise befand und daß Thatchers Politik als radikale Antwort auf die Frage verstanden werden muß, wie sich das Land aus dieser Krise befreien könne.28 Von diesem Umstand ausgehend, versucht die vorliegende Studie, „Thatcherismus“ nicht als Kampf-, sondern als analytischen Begriff zu nutzen, indem sie ihn als eine radikale Krisenbewältigungsstrategie auffaßt. Der Thatcherismus, so lautet die Hypothese, die dieser Untersuchung zugrunde liegt, war eine von Thatcher als Parteichefin der britischen Konservativen propagierte und vorangetriebene Politik zur Durchsetzung grundlegender Reformen in Staat und Gesellschaft. Akzeptiert man diese Prämisse, so rücken automatisch drei Gesichtspunkte ins Zentrum der Überlegungen: erstens die Person Margaret Thatchers und die Frage, welchen Anteil sie an der Entstehung und Durchsetzung des Thatcherismus hatte; zweitens der Zeitraum der Jahre 1975 bis 1979 als diejenige Phase, in der die Tory-Partei unter Thatchers Führung unmittelbar mit den Krisensymptomen der siebziger Jahre konfrontiert war; und drittens das Mischungsverhältnis von Planung und Zufall, Ideologie und Opportunismus, langfristigem Kalkül und spontanem Krisenmana27 28

Besonders pointiert vertritt diese These STEPHEN HASELER, The Battle for Britain. Thatcher and the New Liberals, London 1989, S. VIII. „Thatcherism can best be understood as a response to the troubles of the 1970s“, umschrieb der britische Historiker Robert Skidelsky 1989 den Ansatzpunkt seiner Betrachtungen über das Phänomen. „Almost everything done in the 1980s was an attempt to circumvent or avoid the dangers and difficulties of the 1970s“; ROBERT SKIDELSKY, The Origins of Thatcherism. The Audit of Thatcherism, in: Contemporary Record 3, 1989 (2), S. 12.

14

Einleitung

gement, das die Entwicklung der Politik beeinflußte. Ziel der Studie ist es, diese drei Aspekte miteinander zu verknüpfen und zu fragen, welche Rolle Thatcher während ihrer Amtszeit als Oppositionsführerin vom Februar 1975 bis zum Mai 1979 bei der Herausbildung des Thatcherismus spielte, welche strategischen und taktischen Überlegungen ihr Handeln bestimmten. Daß die Untersuchung mit dem konservativen Wahlsieg vom Mai 1979 abbricht, bedeutet nicht, daß die Entwicklung des Thatcherismus zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen war. Die Zäsur trägt vielmehr der Tatsache Rechnung, daß sich in der Folgezeit die institutionellen und machtpolitischen Rahmenbedingungen für die Formulierung und Umsetzung thatcheristischer Konzepte völlig veränderten – sei es aufgrund der gestärkten Position der Parteiführerin als Premierministerin oder wegen der nun vorhandenen Zugriffsmöglichkeiten auf die personellen und materiellen Ressourcen des Regierungsapparates. Von einer Untersuchung der Oppositionszeit darf man daher keine umfassende Analyse aller Aspekte des Thatcherismus erhoffen, wie er sich etwa in den späten achtziger Jahren darstellte. Man kann aber eine Antwort auf die Frage erwarten, wie stark ausgeprägt, wie deutlich entwickelt die thatcheristische Krisenbewältigungsstrategie beim Wahlsieg der Konservativen Partei im Frühjahr 1979 bereits war. Die Forschung tendiert bislang dazu, die Bedeutung der Oppositionsjahre für die Entwicklung des Thatcherismus eher gering zu veranschlagen.29 Allerdings kann sie sich bei ihrem Urteil bisher nicht auf gründliche Untersuchungen des einschlägigen Quellenmaterials stützen. Denn die meisten politikwissenschaftlichen Studien zum Thatcherismus beschäftigen sich mit den Regierungsjahren Thatchers, vor allem mit der Implementierung einzelner Politikprojekte; die Oppositionsjahre sind bislang meist als unbedeutende Vorgeschichte betrachtet und kurz abgehandelt worden.30 29

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„Before 1979 there existed only conviction, plus a mélange of intuitions, often conflicting theses – certainly not hegemonic – and an enormous yearning for an uncomplicated pristine past“, behauptete der Historiker Keith Middlemas 1991 in seiner groß angelegten, dreibändigen Studie über Power, Competition and the State, und der Soziologe Anthony Giddens konstatierte sieben Jahre später: „When Thatcher first came to power, she did not have a fully fledged ideology, which was developed as she went along“; KEITH MIDDLEMAS, Power, Competition and the State. Bd. 3: The End of the Postwar Era: Britain Since 1974, Houndmills/Basingstoke 1991, S. 223; ANTHONY GIDDENS, The Third Way. The Renewal of Social Democracy, Cambridge, Oxford 1998, S. 5. Vgl. auch ALAN RYAN, Party Ideologies Since 1945, in: Contemporary Record 1, 1988 (4), S. 21. So etwa RIDDELL, Thatcher Government; RIDDELL, Thatcher Decade; PETER M. JACKSON (Hrsg.), Implementing Government Policy Initiatives: The Thatcher Administration 1979–83, London 1985; MARTIN HOLMES, The Labour Government 1974–79, London, Basingstoke 1985; HOLMES, Thatcherism; DAVID MARSH (Hrsg.), Implementing Thatcherite

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Eine einzige schmale Untersuchung aus dem Jahr 1979 widmet sich den Oppositionsjahren der Tory-Partei unter Thatchers Führung.31 Auch die wenigen deutschen Beiträge zur Erforschung des Thatcherismus konzentrieren sich auf die Jahre nach 1979, insbesondere auf die Wirtschaftspolitik.32 Die britische Zeitgeschichtsforschung hat sich – nicht zuletzt aufgrund der meist strikter als in Deutschland eingehaltenen Trennung zwischen contemporary history und political science – bisher ebenfalls kaum mit den Jahren 1975 bis 1979 beschäftigt. John Ramsdens Studie über die Geschichte der Tory-Partei in der Nachkriegszeit umfaßt nur die Amtszeiten von Macmillan, Home und Heath und endet mit Thatchers Wahl zur Parteichefin.33 Eine zeitgeschichtliche Untersuchung über ihre Jahre als Oppositionsführerin jenseits von Mythologisierung und Verteufelung schließt somit eine Lücke in der Forschung und verspricht neue Erkenntnisse über das Wesen des Thatcherismus, indem sie die bislang vernachlässigten Bedingungen und Einflüsse, unter denen er entstand, stärker ins Auge faßt. Im Zentrum stehen dabei vier Fragenkomplexe: Erstens will die Studie ergründen, worin sich Thatcher während der Jahre 1975 bis 1979 von anderen Politikern unterschied, was das Spezifische ihres politischen Projekts war. Welche Ziele verfolgte sie? Worin sah sie ihre vorrangigen Aufgaben? Welches Bild vom Menschen und der Welt lag ihrem Handeln zugrunde? Wie urteilte sie über Staat und Gesellschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Worin unterschied sich ihr Politikstil vom Auftreten anderer britischer Politiker ihrer Zeit? Zweitens soll die Krise Großbritanniens, auf die der Thatcherismus reagierte, genauer beleuchtet werden. Welche Segmente von Politik, Wirtschaft

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Policies. Audit of an Era, Buckingham u. a. 1992; DAVID MARSH und R. A. W. RHODES, Implementing Thatcherism: Policy Change in the 1980s, in: Parliamentary Affairs 45, 1992 (1), S. 33–50, um nur einige zu nennen. ROBERT BEHRENS, The Conservative Party from Heath to Thatcher. Politics and Policies 1974–79, Westmead/Farnborough 1979. ANDREAS BUSCH, Neokonservative Wirtschaftspolitik in Großbritannien. Vorgeschichte, Problemdiagnose, Ziele und Ergebnisse des „Thatcherismus“, Frankfurt a. M. 1989; HANSPETER FRÖHLICH und CLAUS SCHNABEL, Das Thatcher-Jahrzehnt. Eine wirtschaftspolitische Bilanz, Köln 1990; ROLAND STURM (Hrsg.): Thatcherismus – eine Bilanz nach zehn Jahren, Bochum 1990; anders nur die Arbeit von KARL MATTHIAS KLAUSE, Die politischen Vorstellungen Margaret Thatchers in ihren Reden zwischen der Wahl zur Parteivorsitzenden und dem Regierungsantritt (1975–1979), unveröffentlichte Staatsexamensarbeit Berlin 1991, der insbesondere das erste Kapitel dieser Studie wertvolle Anregungen verdankt. JOHN RAMSDEN, The Winds of Change. Macmillan to Heath, London, New York 1996. Die Überblicksdarstellung JOHN RAMSDEN, An Appetite for Power. A History of the Conservative Party Since 1830, London 1998, ist zwar instruktiv, aber wegen ihrer Kürze kein vollwertiger Ersatz. Ähnliches gilt für ROBERT BLAKE, The Conservative Party From Peel to Thatcher, Neuaufl. London 1985.

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und Gesellschaft waren betroffen? Was waren die Krisensymptome? Wie interpretierte Thatcher die Krise und welche Lösungsvorschläge formulierte sie? Welche Entwicklungen beförderten die Verwirklichung ihrer Lösungsvorschläge? Drittens soll das geistige Umfeld untersucht werden, in dem der Thatcherismus entstand. Welche gesellschaftlichen Kräfte unterstützten die Politikerin? Aus welchen Gesprächszirkeln, think tanks und Kommunikationsnetzen bezog sie Inspiration, Ideen, Anregungen? Inwieweit waren diese Gedanken originell? Inwieweit griffen sie auf bereits bestehende Argumente und Traditionsbestände zurück? Der vierte Fragenkomplex schließlich kreist um die Hindernisse, die der Verwirklichung von Thatchers Projekt im Wege standen. Welche Gegenkräfte gab es? Womit begründeten diese ihre Opposition? Wie reagierten Thatcher und ihre Anhänger auf Widerstände? Wie gelang die Umsetzung ihrer Ideen in praktische Politik? Das Quellenmaterial, das für die Bearbeitung dieser Fragen zur Verfügung steht, ist wie häufig in der Zeitgeschichte von unterschiedlicher Qualität. Auf der einen Seite sprudelt es – etwa in Form von Zeitungsartikeln oder Politikerinterviews – so reichlich, daß man Mühe hat, die Flut einzudämmen. Auf der anderen Seite herrscht wegen vielfacher Sperrfristen und Zugangsbeschränkungen für wichtige Dokumente über weite Strecken gefährliche Dürre. Im vorliegenden Falle gilt dies nicht nur für die Akten der Labour-Regierung, die der üblichen dreißigjährigen Sperrfrist für Regierungsakten unterliegen, sondern insbesondere auch für Thatchers Privatarchiv, das die Politikerin dem Churchill College in Cambridge gestiftet hat und das bis auf weiteres der wissenschaftlichen Nutzung ebenfalls verschlossen bleibt.34 Trotz derartiger Hemmnisse sind die Forschungsbedingungen, was die Oppositionsjahre Thatchers angeht, vergleichsweise gut. Das Archiv der Konservativen Partei, das in der Bodleian Library der Universität Oxford aufbewahrt wird, steht der Forschung für die Jahre nach 1965, wenn auch nicht vollständig, so doch in wichtigen Teilbereichen offen. Es gibt eine umfangreiche Memoirenliteratur, zahlreiche Nachlässe und Privatarchive. Hinzu kommt, daß die Debatte über die Neuausrichtung der Tory-Partei nach 1975 nicht nur hinter zugezogenen Gardinen im Dunkel irgendwelcher Hinterzimmer stattfand, sondern auch und gerade im hellen Licht der Öffentlichkeit – in Broschüren, Kampfschriften, Reden, Inter-

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Gegenwärtig gilt eine Sperrfrist von dreißig Jahren; vgl. Schreiben von Judith Everton, Archivarin der Thatcher Papers, an den Verfasser vom 14. Oktober 1998.

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views und Zeitungsartikeln – geführt wurde und somit leicht erschließbar ist.35 Insgesamt lassen sich sechs verschiedene Quellengruppen unterscheiden. An erster Stelle sind die zeitgenössischen Reden und Interviews der Beteiligten – allen voran der Parteiführerin selbst – zu nennen, die Aufschluß über Ziele und Methoden der Politiker geben. Auch Flugschriften, Parteiprogramme und Wahlkampfmanifeste gehören in die Kategorie jener Quellen, die von vornherein für eine breite Öffentlichkeit bestimmt waren und daher leicht zugänglich sind, sei es daß sie sogleich oder später in Tageszeitungen, Wochenzeitschriften, Sammelbänden oder Broschüren publiziert wurden, sei es daß sie in Manuskript- oder Transkriptform im Parteiarchiv zu finden sind.36

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Direkte Zitate aus den englischsprachigen Quellen werden nicht übersetzt, um Nuancen und Untertöne nicht zu verwischen. Allerdings greift die Studie, wo immer autorisierte Übersetzungen vorliegen, auf die deutsche Fassung zurück. Dies gilt in erster Linie für Thatchers Erinnerungen, die nach der deutschen Ausgabe zitiert werden. Wichtige Parteidokumente für den Zeitraum der Studie sind: The Right Approach. A Statement of Conservative Aims, London 1976; The Right Approach to the Economy. Outline of an Economic Strategy for the Next Conservative Government, hrsg. von GEOFFREY HOWE et. al., London 1977. Alle britischen Wahlkampfmanifeste der Jahre 1959 bis 1987 sind abgedruckt bei F. W. S. CRAIG (Hrsg.), British General Election Manifestos 1959–87, 3. Aufl. Aldershot 1990. Ferner gibt es sechs Sammelbände mit Reden Thatchers: Let Our Children Grow Tall. Selected Speeches, London 1977; Small Today – Bigger Tomorrow. Three Speeches from the Small Business Bureau Conference, London 1984; In Defence of Freedom. Speeches on Britain’s Relations with the World, Buffalo, New York 1987; The Revival of Britain. Speeches on Home and European Affairs 1975–88, London 1989; Speeches to the Conservative Party Conference 1975–88, London 1989; The Collected Speeches, hrsg. von ROBIN HARRIS, London 1997. Im Falle Thatchers liegen sämtliche Stellungnahmen in der Öffentlichkeit aus dem Zeitraum von 1945 bis 1990 auf einer CD-Rom vor, die Oxford University Press im Herbst 1999 herausgegeben hat: Complete Public Statements, 1945–90 on CD-Rom, Oxford 1999. Zum Zeitpunkt der Publikation der CD-Rom war die Quellenauswertung der vorliegenden Studie abgeschlossen, so daß lediglich für stichprobenartige Schlußrecherchen auf die Edition zurückgegriffen werden konnte. Vgl. auch die Redensammlungen von PETER WALKER, Trust the People. The Selected Essays and Speeches of Peter Walker, London 1987; und die drei Redenbände von J. ENOCH POWELL, A Nation not Afraid, hrsg. von JOHN WOOD, London 1965; Freedom and Reality, hrsg. von JOHN WOOD, London 1969; Still to Decide, hrsg. von JOHN WOOD, London 1972. Hinzu kommen die von der Hansard Society herausgegebenen stenographischen Protokolle der Verhandlungen des Unterhauses Parliamentary Debates (Hansard). 5th Series. House of Commons. Official Reports. Her Majesty’s Stationary Office, London; künftig – unter Angabe des Datums, des Bandes sowie der entsprechenden Spalte – abgekürzt als: Hansard Vol. X, Col. Y. Über eine besonders umfangreiche Sammlung von Flugschriften und Broschüren verfügt die Bibliothek der London School of Economics (LSE). Vor allem die Ansichten kleinerer Gruppen innerhalb und außerhalb der Tory-Partei kann man gut aus diesen Heften und Propagandaschriften erschließen. Reden und Interviews werden vom Conservative Party Archive als Dokumente der public domain angesehen und unterliegen keinerlei Zugangsbeschränkungen.

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Hinzu kommen als zweite Quellengruppe Protokolle, Analysen, Strategie- und Arbeitspapiere aus dem Parteiarchiv der Tories, die zum internen Gebrauch bestimmt waren und heute in Teilen ausgewertet werden können. Besonders aufschlußreich sind die Protokolle des Schattenkabinetts (Leader’s Consultative Committee) sowie des engeren Führungszirkels um den Parteichef (Leader’s Steering Committee), die leider nur bis zum Jahr 1975 einsehbar, für die Analyse von Thatchers Aufstieg an die Parteispitze jedoch unverzichtbar sind.37 Daneben sind die Bestände des 1922 Committee, des Zusammenschlusses der konservativen Hinterbänkler im Unterhaus, sowie der Forschungsabteilung der Partei (Conservative Research Department) von Interesse.38 Wertvolle Informationen für die späteren Jahre kann man bis zur vollständigen Öffnung des Parteiarchivs vor allem dem Advisory Committee on Policy entnehmen, in dem in unregelmäßigen Abständen einzelne Mitglieder des Schattenkabinetts den gewählten Vertretern der Parteibasis über ihr jeweiliges Aufgabengebiet berichteten.39 Die dritte Gruppe von Quellen umfaßt Nachlässe, Privatarchive und Papiere von konservativen Politikern und deren Beratern.40 Ein derartiger Bestand, der zum konservativen Parteiarchiv gehört und sich in der Oxforder Universitätsbibliothek befindet, stammt von Keith Joseph, Thatchers intellektuellem und politischem Mentor, der 1995 starb. Leider umfaßt der Bestand nur Josephs Parteitätigkeit und ist – zumindest in den Teilen, die einsehbar waren – nicht immer ergiebig.41 Der Nachlaß des 1994 verstorbenen ehemaligen Parteivorsitzenden Peter Thorneycroft, der in der Hartley Library der Universität von Southampton aufbewahrt wird, enthält interessante Details, aber keine Schlüsseldokumente.42 Hingegen ist das Privatarchiv des ehemaligen Unterhausabgeordneten und Staatssekretärs im Vertei-

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CPA/LCC und CPA/LSC. Zu Aufgabe und Funktion der beiden Gremien siehe JOHN RAMSDEN, The Making of Conservative Party Policy: The Conservative Research Department Since 1929, London 1980, S. 186. CPA/1922 Committee und CPA/CRD. Die Geschichte des 1922 Committee untersuchen PHILIP GOODHART und URSULA BRANSTON, The 1922. The Story of the Conservative Backbenchers’ Parliamentary Committee, London 1973; zum Conservative Research Department siehe RAMSDEN, Conservative Research Department. Vgl. auch MICHAEL PINTODUSCHINSKY, Die Konservative Partei Großbritanniens 1945–1980, in: HANS-JOACHIM VEEN (Hrsg.), Christlich-demokratische und konservative Parteien in Westeuropa, 2. Aufl. Paderborn u. a. 1983, S. 22. CPA/ACP. Genaueres siehe RAMSDEN, Conservative Research Department, S. 187. Thatchers späterer Chef des Grundsatzreferates, John Hoskyns, etwa machte dem Verfasser ein Schlüsseldokument der konservativen Gewerkschaftspolitik, das Strategiepapier Stepping Stones, zugänglich; zitiert als „Hoskyns Papers“. CPA/NL Joseph. Zitiert als „Thorneycroft Papers“.

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digungsministerium Jonathan Aitken für die Untersuchung der Geschichte der Conservative Philosophy Group, einem jener Gesprächszirkel, aus denen die Parteichefin Anregungen bezog, unverzichtbar.43 Als ergiebigster Bestand erwies sich das Privatarchiv von Alfred Sherman, in den Anfangsjahren einer der wichtigsten Berater Thatchers, das sich im Royal Holloway College der University of London in Egham befindet.44 Weil Thatchers konservative Revolution kein plötzlicher Putsch war, sondern ein langwieriger, offen diskutierter und heftig umstrittener Prozeß, der sich zum großen Teil in den seriösen Tages- und Wochenzeitungen, aber auch in konservativen Parteizeitschriften abspielte, bildet eine Auswertung der Presse ein wichtiges Element der Quellenarbeit. Aus der Fülle britischer Printmedien zieht die vorliegende Studie vor allem die wichtigen überregionalen Tageszeitungen The Times, Financial Times und Guardian sowie den der Tory-Partei traditionell nahestehenden Daily Telegraph heran.45 Daneben wurden drei wichtige meinungsbildende Wochenzeitschriften, der liberale Observer, der konservative Spectator und der Economist, ausgewertet. Weitere Zeitungen und Zeitschriften – etwa die Sun, der Daily Express oder die Daily Mail – wurden nur stichprobenartig und von Fall zu Fall in die Analyse einbezogen. Für die Entstehung des Thatcherismus wichtige konservative Parteizeitschriften sind das Swinton Journal, Solon und Crossbow. Von Bedeutung sind darüber hinaus auch einige Zeitschriften der „Neuen Rechten“ wie The Free Nation oder Majority. Die fünfte Quellengruppe umfaßt autobiographische Selbstzeugnisse der handelnden Personen. Zwar gab es in der Konservativen Partei in jener Periode, die den Untersuchungszeitraum bildet, nichts, was sich mit den Tagebüchern der Labourpolitiker Richard Crossman, Tony Benn oder Barbara Castle vergleichen ließe.46 Man ist auf die Memoirenliteratur angewiesen, 43

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Aitken organisierte über Jahrzehnte hinweg die Treffen der Gruppe. Der Verfasser ist Aitken zu Dank dafür verpflichtet, daß er ihm Einblick in seine diesbezüglichen Privatunterlagen gewährt hat; der Bestand wird künftig als „Aitken Papers“ zitiert. Fortan zitiert als „Sherman Papers“. Zu Geschichte und Qualität des Bestandes siehe SIMON BURGESS und GEOFFREY ALDERMAN, Centre for Policy Studies. The Influence of Sir Alfred Sherman, in: Contemporary Record 4, 1990 (2), S. 14–5. Der Schwerpunkt der Analyse lag auf The Times, deren Index die Auswertung erheblich erleichtert. Zu deren Geschichte siehe JOHN GRIGG, The History of The Times, Bd. 6.: The Thomson Years 1966–81, London 1993. Entsprechende Informationen über die Financial Times findet man bei DAVID KYNASTON, The Financial Times. A Centenary History, London 1988; zum Daily Telegraph siehe DUFF HART-DAVIS, The House the Berrys Built – Inside the Telegraph 1928–88, London 1990. RICHARD CROSSMAN, The Diaries of a Cabinet Minister, Bd. 1, London 1975; Bd. 2, London 1976; TONY BENN, Against the Tide. Diaries 1973–76, London u. a. 1989; BENN, Conflict; BARBARA CASTLE, The Castle Diaries 1974–76, London 1980; BARBARA CASTLE, The

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mit all den Problemen und Fragwürdigkeiten, die dieser Quellengattung und ihrer rückschauenden, häufig der Selbstrechtfertigung der Autoren dienenden Betrachtungsweise anhaften. Jedoch erweist sich – in dieser Hinsicht wenigstens – der polarisierende Charakter des Thatcherismus nicht nur als Hindernis, sondern auch als Glücksfall für die Forschung. Beinahe alle wichtigeren Beteiligten haben sich mittlerweile bemüßigt gefühlt, ihre eigene Version und Deutung der Ereignisse zu Papier zu bringen.47 Der Zeithistoriker kann daher für fast alle nur denkbaren Aspekte der Untersuchung auf mehrere verschiedene Berichte zurückgreifen, diese miteinander in Beziehung setzen und sich durch ein Vergleichsverfahren der Wahrheit zumindest annähern.48 Zu den wichtigsten autobiographischen Quellen gehören außer Thatchers eigenen streitbaren Memoirenbänden die um Fairneß und Ausgewogenheit bemühten Erinnerungen ihres langjährigen Schatzkanzlers und Außenministers Geoffrey Howe, die gerade in ihrer Einseitigkeit ebenfalls aufschlußreichen Memoiren ihres Vorgängers Edward Heath sowie die sehr viel kürzeren, aber dennoch ergiebigen Aufzeichnungen ihres innerparteilichen Gegenspielers Jim Prior.49 Daneben existiert eine Vielzahl weiterer Erinnerungen von Anhängern und Gegnern innerhalb wie außerhalb der Konservativen Partei.50

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Castle Diaries. 1964–70, London 1984. Der jüngst erschienene zweite Band der Tagebuchaufzeichnungen des späteren konservativen Verteidigungsministers Alan Clark, damals noch als MP für Plymouth auf den Hinterbänken, enthält für den Untersuchungszeitraum kaum Aufschlußreiches; ALAN CLARK, Diaries. Into Politics, London 2000. Die wichtigste Ausnahme von dieser Regel war Keith Joseph. Vgl. dazu auch PETER CLARKE, The Rise and Fall of Thatcherism, in: Historical Research – Bulletin of the Institute of Historical Research 72, 1999, S. 301–2. MARGARET THATCHER, Downing Street No. 10, Düsseldorf 1993 (Titel der englischen Originalausgabe: The Downing Street Years, London 1993); MARGARET THATCHER, Die Erinnerungen 1925–1979, Düsseldorf u. a. 1995 (Titel der engl. Originalausgabe: The Path to Power, London 1995); GEOFFREY HOWE, A Conflict of Loyalty, London 1994; EDWARD HEATH, The Course of My Life, London 1998; PRIOR. Zu den Memoiren innerparteilicher Anhänger zählen NORMAN TEBBIT, Upwardly Mobile, London 1989; NORMAN FOWLER, Ministers Decide, London 1991; KENNETH BAKER, The Turbulent Years, London 1992; LAWSON; CECIL PARKINSON, Right at the Centre, London 1992; NICHOLAS RIDLEY, My Style of Government. The Thatcher Years, London 1991; RONALD MILLAR, A View From the Wings. West End, West Coast, Westminster, London 1993; RHODES BOYSON, Speaking My Mind. The Autobiography of Rhodes Boyson, London und Chester Springs 1995. Erinnerungen innerparteilicher Gegner sind REGINALD MAUDLING, Memoirs, London 1978; PYM; PETER CARRINGTON, Reflect on Things Past, London 1988; PETER WALKER, Staying Power. An Autobiography, London 1991; GILMOUR, Dancing; JULIAN CRITCHLEY , A Bag of Boiled Sweets, London 1995. Zu den wichtigsten Memoiren von Labourpolitikern zählen HAROLD WILSON, Final Term. The Labour Government 1974–76, London 1979; JAMES CALLAGHAN, Time and Chance, London 1987, und vor allem HEALEY.

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Ergänzt werden diese schriftlichen Quellen schließlich durch Interviews, die der Verfasser mit einigen Zeitzeugen führen konnte. Zwar war Margaret Thatcher selbst nicht zu einem Gespräch bereit, dafür aber manche ihrer Kollegen und Mitarbeiter – zum Beispiel Geoffrey Howe, der in der fraglichen Zeit Schattenschatzkanzler war, und dessen Berater Peter Cropper; Adam Ridley und Alfred Sherman, zwei Redenschreiber und Berater Thatchers während der Oppositionsjahre; Rhodes Boyson, ein konservativer Unterhausabgeordneter, der demselben Flügel der Tory-Partei angehörte wie Thatcher; und Jonathan Aitken, der seit 1975 die Conservative Philosophy Group organisierte, an der die Politikerin teilnahm.51 Andere Beteiligte wie die beiden Tory-Politiker Cecil Parkinson und Norman Tebbit oder John Hoskyns, der ehemalige Leiter von Thatchers Grundsatzreferat in 10 Downing Street, gaben schriftlich Auskunft.52 Weil der zur Verfügung stehende Quellenbestand derart heterogen ist, erlaubt er es, sich den skizzierten Fragekomplexen von verschiedenen Seiten zu nähern: aus der Binnensicht der Tory-Partei ebenso wie durch die Brille der veröffentlichten Meinung; mit den Augen Thatchers wie ihrer Gegner. Die Studie versucht in ihrer Gliederung, die verschiedenartigen Sichtweisen zu berücksichtigen und miteinander in Beziehung zu setzen. Ihr Aufbau folgt deswegen eher systematischen als chronologischen Kriterien, auch wenn die Bedeutung der zeitlichen Abfolge der Ereignisse für die Gliederung eine Rolle spielt. Die Untersuchung beginnt mit einer Rekonstruktion der Faktoren, die Thatchers Aufstieg zur Parteiführerin im Februar 1975 ermöglichten. Sie konzentriert sich in diesem Prolog auf die Führungskrise der Konservativen Partei im Jahr 1974 und die Frage, wie Thatcher von dieser Krise profitierte. Das erste Kapitel befaßt sich mit dem Lösungsansatz für diese Krise, den Thatcher anbot. Es analysiert ihre politischen Ziele, ihren spezifischen Politikstil, die Grundelemente ihrer Weltanschauung. Als Quellengrundlage dienen dabei in erster Linie ihre Reden und Interviews aus den Oppositionsjahren; ergänzend werden rückblickende Urteile und Einschätzungen aus den Erinnerungen herangezogen. Allgemein ist Vorsicht geboten, wenn man aus der Rhetorik oder den Memoiren von Politikern Rückschlüsse auf 51 52

Tonbandmitschnitte der Gespräche befinden sich im Besitz des Verfassers. Vgl. Schreiben von Cecil Parkinson an den Verfasser vom 27. November 1998; Schreiben von Norman Tebbit an den Verfasser vom 2. Dezember 1998; Schreiben von John Hoskyns an den Verfasser vom 23. November 1998. Der Wert dieser Kontakte beschränkte sich weitgehend darauf, einen Eindruck von den handelnden Personen zu bekommen und ein wenig der Atmosphäre jener Jahre nachzuspüren. Wichtige Informationen oder grundlegende neue Erkenntnisse konnten von den Gesprächen und Briefwechseln nicht erwartet werden.

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ihre politischen Überzeugungen ableiten will. Reden sind üblicherweise für spezielle Ereignisse geschrieben, Interviews wenden sich an eine ganz bestimmte Zuhörerschaft bzw. Leserschaft, und Erinnerungen dienen nicht selten der nachträglichen Selbststilisierung. Dies gilt selbstverständlich auch für Thatcher.53 Dennoch liegen in ihrem Fall die Dinge vergleichsweise günstig. Sie sei wie ein offenes Buch, was ihre Gedanken und Ansichten betreffe, hat einer ihrer Mitarbeiter einmal gesagt.54 „She is what she says she is“, betonte auch der britische Politologe Dennis Kavanagh in seiner Studie über Thatcherism and British Politics. Tief in ihrem Herzen sei Thatcher eine Missionarin, schrieb ihr Biograph Hugo Young. Sie sei von der Richtigkeit ihrer Ansichten derart durchdrungen, daß sie auch alle anderen überzeugen wolle.55 Thatchers Reden und Interviews aus den Jahren 1975 bis 1979 sind deshalb ein wichtiger Schlüssel zur Analyse ihrer Weltanschauung und des radikalen Reformprogramms, das sie entwickelte.56 Das zweite und dritte Kapitel gehen der Frage nach, wie Thatcher mit diesem Programm Erfolg haben konnte. Sie untersuchen die negativen und positiven Faktoren, die ihr in den Anfangsjahren als Tory-Chefin innerparteilich Auftrieb gaben und ihren Wahlsieg im Frühjahr 1979 ermöglichen halfen. Zusammenfassend lassen diese Faktoren sich als ein grundlegender Wandel des Meinungsklimas beschreiben. Der Terminus „Meinungsklima“ bezieht sich dabei nicht auf eine demoskopisch ermittelte „öffentliche Meinung“ aller Bürger, auch nicht auf irgendwelche abstrakten „politischen Ideen“, die auf geheimnisvolle Weise die Geschicke der Menschen leiten. Gemeint ist vielmehr ein Konsens in einigen Grundüberzeugungen über 53

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Fünf Jahre nach ihrem Sturz erklärte sie freimütig, welche Gründe sie zur Niederschrift ihrer Memoiren bewegt hatten. Man dürfe von vollbrachten Taten niemals erwarten, „daß sie etwa ‚für sich selbst sprechen‘, so sehr ein Politiker dies auch wünschen mag“, erklärte sie. „Vielmehr wollte ich zunehmend jene, die dachten und fühlten wie ich, die nächste politische Führungsgeneration und vielleicht sogar die folgenden, dazu anspornen, den Blick stets auf die richtigen Sterne gerichtet zu halten“; THATCHER, Erinnerungen, S. 542–3. Zit. nach RIDDELL, Thatcher Government, S. 8. KAVANAGH, Thatcherism, S. 5; YOUNG, One of Us, S. 206. Dem stimmt Robin Harris, der Herausgeber der gesammelten Reden der Politikerin, ausdrücklich zu. „[F]or Margaret Thatcher there has never been any evident temptation – perhaps temperamentally there was never much possibility – of her believing one set of propositions and publicly subscribing to another“; ROBIN HARRIS, Introduction, in: THATCHER, Collected Speeches, S. XIV. Die vorliegende Studie ist nicht die erste, die versucht, aus den öffentlichen Äußerungen eines Politikers Rückschlüsse auf seine Weltanschauung, seine politische Philosophie zu ziehen. Über so unterschiedliche Politiker wie Winston Churchill, Adolf Hitler und Helmut Schmidt sind ähnliche Studien geschrieben worden; vgl. MARTIN GILBERT, Churchill’s Political Philosophy, Oxford 1981; EBERHARD JÄCKEL, Hitlers Weltanschauung, erw. und überarb. Neuaufl. Stuttgart 1991; MARTIN RUPPS Helmut Schmidt. Politikverständnis und geistige Grundlagen, Bonn 1997.

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das Wesen und die Funktion des Staates und der Gesellschaft, die von den politisch Einflußreichen nicht in Frage gestellt, widerspruchslos akzeptiert oder aktiv bejaht werden.57 Im Mittelpunkt des Interesses steht nicht die gesamte Bevölkerung, sondern jene vergleichsweise kleine Anzahl maßgeblicher Politiker, Beamter, Interessenvertreter, Intellektueller und Journalisten in den sogenannten „Meinungsführermedien“, welche die politische Klasse eines Landes bilden.58 Das zweite Kapitel widmet sich zunächst den negativen Faktoren dieses Wandels: dem, was die Briten Thatchers negative resources nennen würden. Im Zentrum steht in diesem Abschnitt der Zusammenbruch der politischen und wirtschaftlichen Nachkriegsordnung Großbritanniens in den siebziger Jahren. Es soll untersucht werden, welche Faktoren zur Erosion und schließlich zum Kollaps dieser Ordnung führten und wie Thatcher darauf reagierte. In diesen Kontext gehört erstens das Scheitern der Regierung ihres Vorgängers an der Spitze der Tory-Partei, Edward Heath, in den Jahren 1970 bis 1974. Ein zweiter Faktor in der Analyse ist die Entwicklung der Labour-Partei unter Harold Wilson und James Callaghan. Es gilt zu untersuchen, wie die Tory-Chefin aus der Verschärfung der ökonomischen Krise unter der Labour-Regierung zwischen 1975 und 1979 politisches Kapital schlug, wie sie die Schwächung der moderaten Sozialisten und die Stärkung der extremen Linken für ihre Zwecke nutzte. Ein dritter negativer Faktor ist schließlich im wachsenden Krisenbewußtsein der veröffentlichten Meinung zu sehen. In diesem Zusammenhang ist vor allem zu fragen, welche Rolle Thatcher in der sich verschärfenden Diskussion über die Gründe des britischen Niedergangs spielte. Das dritte Kapitel befaßt sich mit Thatchers positive resources: den positiven, vorwärts treibenden Faktoren des Wandels. Am deutlichsten greifbar werden diese, wenn man den Siegeszug jener intellektuellen Strömung untersucht, die als britische „Neue Rechte“ bekannt geworden ist und sich durch eine eigentümliche Mischung aus konservativem und wirtschaftsliberalem Gedankengut auszeichnete.59 Anhand einiger Nachlässe und Me-

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Siehe hierzu KAVANAGH, Thatcherism, S. 17–9. Vgl. auch ANDREW DENHAM und MARK GARNETT, British Think-Tanks and the Climate of Opinion, London 1998, S. 18. Zum Begriff der „Meinungsführer-“ oder „Leitmedien“ siehe JÜRGEN WILKE (Hrsg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999, S. 302–5. Um Verwechslungen etwa mit der britischen Liberalen Partei und anderen Spielarten des Linksliberalismus zu vermeiden, verzichtet die Studie zumeist auf den Gebrauch des Wortes „Liberalismus“ und „Liberale“ ohne Präfix und verwendet stattdessen die Begriffe „Wirtschaftsliberalismus“ und „Wirtschaftsliberale“, auch wenn sich viele Angehörige dieser Gruppe selbst schlicht als „Liberale“ bezeichneten.

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moiren sowie zahlreich publizierter Zeitschriftenartikel, Manifeste, Broschüren, Kampfschriften und Flugblätter wird im einzelnen zu untersuchen sein, welche Gruppierungen und Institutionen der New Right im Verlauf der siebziger Jahre entstanden, woher sich ihre Mitglieder rekrutierten, um welche Themen, Ideen und Theorien sie sich scharten, welche Wege aus der Krise sie wiesen. In einem zweiten Schritt soll gefragt werden, wie Thatcher mit den Gedanken dieser Strömung in Kontakt kam, wie sie zu ihnen stand und sie für ihre politischen Ziele nutzbar machte. Das vierte Kapitel schließlich erfüllt eine doppelte Funktion. Es analysiert die Widerstände gegen den Thatcher-Kurs innerhalb der Konservativen Partei, vor allem im Partei-Establishment. Es soll gefragt werden, welche Einwände vorgebracht, wie diese begründet und welche Alternativen erörtert wurden. In diesem Zusammenhang sind auch die Methoden von Interesse, mit denen Thatcher sich gegen innerparteiliche Opposition durchzusetzen versuchte. Gleichzeitig will der Abschnitt die verschiedenen Fäden zusammenführen und anhand eines Beispiels zeigen, wie sich die Programmatik der Konservativen Partei im Spannungsgeflecht von Hindernissen und Antriebskräften konkret entwickelte. Als Fallstudie bietet sich das Verhältnis der Tories zu den Gewerkschaften an. Thatchers Vorgänger war nicht zuletzt über diese Frage gestürzt, sie stellte deswegen für seine Nachfolgerin eine besondere Herausforderung dar. Zudem beeinflußte die Gewerkschaftspolitik direkt oder indirekt viele andere Politikfelder – vor allem die besonders wichtige Strategie der Inflationsbekämpfung. Daher stießen hier die verschiedenen Ansichten innerhalb der Tory-Partei besonders heftig aufeinander. Die vorliegende Studie ist weder eine weitere Biographie Margaret Thatchers noch eine Geschichte der britischen Konservativen zwischen 1975 und 1979, wenn auch die Persönlichkeit der Tory-Chefin wie die Entwicklung ihrer Partei einen zentralen Platz einnehmen. Sie ist keine wirtschaftshistorische Analyse des relativen ökonomischen Niedergangs Großbritanniens, ebensowenig will sie eine umfassende Darstellung der Geschichte der „Neuen Rechten“ sein – obwohl beides immer wieder in die Untersuchung einfließt. Ziel der Studie ist es vielmehr, mit Hilfe eines politikgeschichtlichen Ansatzes, der Anregungen der Ideengeschichte aufgreift, die Entstehungsbedingungen des Thatcherismus zu beleuchten. Der Blick richtet sich dabei vorrangig auf diejenigen Politikfelder, die im Zentrum des thatcheristischen Projekts standen: im weitesten Sinne also die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Andere Bereiche wie die Außen-, Sicherheits- und Europapolitik, die Frage nach weitergehenden Autonomierechten für Wales, Schottland und Nordirland, der ganze Komplex der inneren Sicherheit, der Krimi-

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nalitätsbekämpfung oder auch die Einwanderungsproblematik spielen nur am Rande eine Rolle, auch wenn sie damals durchaus heftig und kontrovers diskutiert wurden. Ähnliches gilt für den internationalen Kontext. Die Untersuchung bemüht sich zwar, ihn stets im Blick zu behalten und immer wieder in die Analyse einfließen zu lassen. Ein breit angelegter Vergleich mit der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung in anderen Ländern würde jedoch den Rahmen der Studie sprengen. Dennoch war die Frage, warum es etwa in der Bundesrepublik in den späten siebziger und in den achtziger Jahren kein dem Thatcherismus vergleichbares Phänomen gab, ein wichtiger Antrieb, sich eingehender mit der Thematik zu beschäftigen. Im Hintergrund steht dabei auch die Frage nach der aktuellen Bedeutung des Thatcherismus: Ist es möglich, daß uns Teilaspekte des Phänomens hierzulande gleichsam zeitversetzt wiederbegegnen? Der Aufstieg des wirtschaftsliberalen Paradigmas, das Ausdünnen gewerkschaftlichen Einflusses, die Erosion der Sozialversicherungssysteme, Individualisierungstendenzen in vielen Bereichen der Gesellschaft, die Erfahrung des Reformstaus in der Spätphase der Kohl-Ära und darüber hinaus – sind all das Vorboten einer thatcheristischen Umwälzung in Deutschland? Gewährt ein Rückblick auf die britische Vergangenheit womöglich Ausblicke auf die deutsche Zukunft? Überlegungen wie diese verweisen auf die anhaltende Relevanz und Aktualität der Entstehungsjahre jenes politischen und weltanschaulichen Phänomens, dem Margaret Thatcher ihren Namen gegeben hat.

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PROLOG: THATCHERS WAHL ZUR PARTEIFÜHRERIN 1. DER STURZ EDWARD HEATHS Margaret Thatcher verdankte ihren Aufstieg an die Spitze der britischen Konservativen einer Reihe günstiger Umstände, mit denen niemand gerechnet hatte, am wenigsten sie selbst. Der erste Glücksfall war bereits der besondere Zuschnitt des Parteiführeramtes bei den Tories, deren leader nicht von der Parteibasis, sondern – seit 1965 – von den Abgeordneten der Unterhausfraktion gewählt wird.1 Seine Position ist dennoch deutlich stärker als diejenige etwa eines Fraktionschefs der deutschen Christdemokraten. Wenn die Partei an der Regierung ist, wird der Tory-Chef automatisch Premierminister und darf die Mitglieder seines Kabinetts ernennen. Ist die Partei in der Opposition, ernennt er die Schattenminister, die wie eine Regierung im Exil die verschiedenen Ministerien abdecken und als Experten für die unterschiedlichen Ressorts dienen. Außerdem bestimmt er den Chefeinpeitscher, den sogenannten Chief Whip, und die anderen Einpeitscher (Party Whips), die für den Zusammenhalt der Fraktion verantwortlich sind und den Informationsaustausch zwischen dem Parteiführer und den Hinterbänklern gewährleisten.2 Der Parteichef übt außerdem die Kontrolle über die nationale Parteiorganisation aus, das Conservative and Unionist Central Office. Als deren Geschäftsführer setzt er einen Parteivorsitzenden (Party Chairman) ein, der in seinem Auftrag die Alltagsgeschäfte des Parteiapparates leitet.3 Die Kette von Zufällen, die Thatcher in dieses einflußreiche Amt führte, begann mit einem Streik der Bergarbeitergewerkschaft im Winter 1973/1974. Der Ausstand brachte das öffentliche Leben Großbritanniens an den Rand des Zusammenbruchs und veranlaßte die Regierung, eine Kam1 2

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Siehe hierzu und zum Folgenden MICHAEL PINTO-DUSCHINSKY, Die Konservative Partei Großbritanniens 1945–1980, in: HANS-JOACHIM VEEN (Hrsg.), S. 22–5. Anders als im Deutschen hat die Bezeichnung „Hinterbänkler“ im Englischen keinen abwertenden Beigeschmack. Als backbenchers werden alle Abgeordneten verstanden, die nicht im Kabinett oder im Schattenkabinett vertreten sind; vgl. GOODHART und BRANSTON; PHILIP NORTON und ARTHUR AUGHEY, Conservatives and Conservatism, London 1981, S. 198–9. Im einzelnen bestand der Parteiapparat während der siebziger Jahre aus dem Hauptquartier am Smith Square 32 in der Nähe des Parlaments, einer separaten Forschungsabteilung (Conservative Research Department) mit eigenen Büros außerhalb der Parteizentrale sowie zwölf regionalen Büros in verschiedenen Landesteilen; vgl. STUART BALL, The National and Regional Party Structure, in: ANTHONY SELDON und STUART BALL (Hrsg.), Conservative Century. The Conservative Party since 1900, Oxford 1994, S. 169–220.

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pagne mit dem Titel S.O.S – Switch Off Something zu starten: Industriebetriebe wurden nur noch an drei bestimmten Tagen in der Woche mit Elektrizität versorgt. Öffentliche Gebäude und Büroräume durften nur eingeschränkt beheizt werden. Flutlicht und Leuchtreklame wurden verboten, Straßenlaternen früher abgeschaltet als gewohnt. Autos war es nicht erlaubt, schneller als fünfzig Meilen pro Stunde zu fahren; und die Rundfunkanstalten wurden angewiesen, das Fernsehprogramm jeden Abend schon um 22 Uhr 30 zu beenden.4 Da weder die Regierung noch die Bergarbeiter zum Einlenken bereit waren, sah Thatchers Vorgänger als Parteiführer der Konservativen, Premierminister Edward Heath, Anfang Februar 1974 keinen anderen Ausweg mehr als vorgezogene Unterhauswahlen, um durch einen Wahlsieg seine Verhandlungsposition gegenüber den Bergarbeitern zu verbessern.5 Die Wahlen fanden inmitten der schwersten Wirtschaftskrise der britischen Nachkriegszeit statt. Die Inflationsrate schnellte in die Höhe und erreichte im Jahresdurchschnitt 1974 rund 16 Prozent; die Produktivitätsziffern waren rückläufig, die Arbeitslosigkeit stieg. Allenthalben glaubte man, Heath werde einen erdrutschartigen Sieg erringen. Bei einer Wahl in Krisenzeiten würden die Bürger die amtierende Regierung unterstützen, lautete eine verbreitete Annahme. Die Tories vertrauten auf den „spirit of Dunkirk“ und den solidarisierenden Effekt der nationalen Notsituation. Selbst die Wettbüros sahen die Konservativen mit einer Marge von 2:1 als Favoriten.6 Um so überraschender war der Ausgang der Wahlen. Die Tories gewannen zwar rund 200 000 Stimmen mehr als die Labour-Partei (und damit 37,9 Prozent der Stimmen gegenüber Labours 37,1 Prozent), erhielten aber wegen der Unwägbarkeiten des Mehrheitswahlrechts vier Parlamentssitze weniger. Heath trat jedoch nicht sogleich zurück, sondern begann Koalitionsgespräche mit den Liberalen, die 14 Unterhaussitze gewonnen hatten. Ein Übereinkommen war von vornherein wenig wahrscheinlich.7 Die Libe-

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Zur Geschichte des Bergarbeiterstreiks siehe etwa JOHN CAMPBELL, Edward Heath, London 1993, S. 574–97; HENRY PELLING, A History of British Trade Unionism, 5. Aufl. Basingstoke 1992, S. 288–90; TAYLOR, S. 208–20; MARTIN HOLMES, The Failure of the Heath Government, 2. Aufl. Basingstoke 1997, S. 102–24. Den neuesten Forschungsstand zum Hintergrund von Heaths Entscheidung, die Parlamentswahlen vorzuziehen, referiert DENNIS KAVANAGH, The Fatal Choice: The Calling of the February 1974 Election, in: STUART BALL und ANTHONY SELDON (Hrsg.), The Heath Government: A Reappraisal, London 1996, S. 351–70. Heaths eigene Darstellung findet sich in HEATH, Course, S. 509–11. The Times, 15. Februar 1974. Die Liberalen standen eher mit den Tories als mit der Labour-Partei in direkter Konkurrenz. Zwölf ihrer vierzehn Abgeordneten hatten Konservativen den Wahlkreis abgenommen; und

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ralen waren nur dann bereit, in eine Koalition mit den Konservativen einzutreten, wenn diese einer grundlegenden Änderung des Mehrheitswahlrechts zustimmten und Heath als Premierminister zurücktrat. Die erste Bedingung konnte Heath in seiner eigenen Partei nicht durchsetzen, obwohl er vorsichtige Sondierungen in dieser Richtung anstellte; der zweiten Forderung Folge zu leisten, kam für ihn nicht in Frage.8 Als der Führer der Labour-Partei Harold Wilson daraufhin ein Minderheitskabinett zusammenstellte und eine Koalition seiner Partei mit irgendeiner anderen kategorisch ausschloß, war klar, daß es bald Neuwahlen geben würde. Wilson entschied sich, den Sommer hindurch abzuwarten, und verkündete im September, das Land solle am 10. Oktober wieder zu den Urnen schreiten. Die Konservativen konfrontierte der zweite Wahlkampf des Jahres mit einer schwierigen Entscheidung. Sollten sie mit dem gleichen Programm antreten, mit dem sie die Februarwahlen verloren hatten? Oder sollten sie wegen der denkbar knappen Niederlage ihre Politik vollständig ändern?9 Einerseits konnte man schlecht die politische Strategie radikal ändern, ohne die Glaubwürdigkeit der Parteiführung zu beschädigen. Andererseits hieße es, den Wählerwillen zu ignorieren, wenn man starrsinnig auf den Positionen vom Februar verharrte. Heath entschied sich für einen Mittelweg. Seiner Ansicht nach war die Partei nicht wirklich abgewählt worden; den Ruf „Es ist Zeit für einen Wechsel“ hatte man nicht vernommen. Statt dessen seien die Tories nur durch einen widrigen wahl-arithmetischen Zufall aus dem Amt vertrieben worden. Auf eine tiefschürfende programmatische Neuausrichtung könne man deswegen verzichten. Die Grundzüge der Außen-, Innen- und Wirtschaftspolitik blieben unverändert. Strategiedebatten fanden nicht statt.10 Nur die Haltung zu den Gewerkschaften wurde neu überdacht. Weil die Konfrontation mit den Bergarbeitern der Heath-Regierung das Genick gebrochen hatte, durfte die Partei auf keinen Fall wieder in den Ruf kommen, gewerkschaftsfeindlich zu sein, so die Überlegung. „Trade unions are

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von den hundert gescheiterten Liberalen mit den besten Stimmergebnissen hatten 98 gegen einen konservativen, nur zwei gegen einen Labour-Kandidaten verloren; DAVID BUTLER, und DENNIS KAVANAGH, The British General Election of February 1974, London u. a. 1974, S. 259. HEATH, Course, S. 518–9. Diese Frage stellte etwa Ian Gilmour, in The Times, 2. Mai 1974. Vgl. auch HOWE, S. 85. Vgl. BUTLER und KAVANAGH, 1974, S. 63; RAMSDEN, Winds of Change, S. 413–4. Als Beispiel für die unveränderte Haltung der Partei zu den zentralen Fragen siehe: Prices and Incomes Policy. Discussion Paper by the Leader of the Opposition’s Staff (ohne Datum), Kopie in: CPA/LCC/74/8.

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an important estate of the realm“, proklamierte das konservative Wahlkampfprogramm. Man werde eng mit ihnen zusammenarbeiten und hoffe, daß die konservativen Vorschläge für eine „industrial partnership“ zu effektiver Kooperation mit Arbeitnehmern und Management führen würden. Nicht nur mit den Gewerkschaften versuchten die Tories sich auszusöhnen, dem ganzen Land boten sie Versöhnung an. Die Konservative Partei, frei von jedem Dogma und jeder Abhängigkeit von einzelnen Interessengruppen, strebe zwar die Mehrheit im Unterhaus an, räumte das Wahlkampfprogramm fast verschämt ein, aber man werde diese Mehrheit dazu nutzen, die gespaltene Nation zu einen.11 Das Thema der nationalen Versöhnung zog sich wie ein Leitmotiv durch den Wahlkampf der Konservativen. In Zeitungsanzeigen warb die Partei in großen Lettern „Vote for National Unity“, der zwergenhaft kleine Zusatz „Vote Conservative“ war daneben fast gar nicht zu sehen.12 „No matter what policies are put forward during this Election campaign for tackling the grave problems we face“, erklärte William Whitelaw, einer von Heaths engen Vertrauten, „they will amount for nothing unless they are designed to unite the nation.“13 Er sage nicht, daß seine Partei ein Monopol der Weisheit besitze oder daß ihre Erfolgsbilanz makellos sei, verkündete Ian Gilmour, ein anderer Anhänger des Parteichefs. Er sage lediglich, die Geschichte der Tories, ihre bekanntermaßen moderate Politik, ihr common sense und ihre Fähigkeit, Menschen guten Willens über alle Parteigrenzen hinweg anzuziehen, sprächen dafür, daß sie das Land einigen könnten.14 Die Situation sei viel zu ernst für eine parteiliche Regierung, behauptete Lord Hailsham, der große alte Mann der Konservativen. Was man brauche, sei keine Regierung, die sich auf parteipolitische Ideologien stütze, sondern „a national policy based primarily on the needs of the situation and backed by the broad mass of patriotic public opinion“.15

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Im Wahlkampfmanifest hieß es wörtlich: „We will not govern in a narrow partisan spirit. After the election we will consult and confer with leaders of other parties and with the leaders of the great interests in the nation, in order to secure for the government’s policies the consent and support of all men and women of good will. We will invite people from outside the ranks of our party to join with us in overcoming Britain’s difficulties. The nation’s crisis should transcend party differences“; Conservative Election Manifesto, October 1974, zit. nach CRAIG, Manifestos, S. 215. Vgl. RAMSDEN, Winds of Change, S. 429. William Whitelaw am 21. September 1974 in Silloth: News Service GE 5/74. Ian Gilmour, am 23. September 1974 in Chalfont St. Peter: News Service GE 26/74. Lord Hailsham am 7. Oktober 1974 in der Guildhall, Preston: News Service GE 20. Vgl. auch seine Rede in der Oban High School in Argyll am 26. September 1974: News Service GE 41/74.

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Heath selbst bekannte in einem Rundschreiben an alle konservativen Kandidaten, das er in der letzten Woche vor der Wahl verschicken ließ: „I have no doubt that the real hope of the British people in this situation is that a national coalition Government involving all parties could be formed and that party differences could be put aside until the crisis is mastered.“ Wenn seine Partei eine Mehrheit erringe, werde er sich sofort daran machen, eine Regierung zu bilden, die über Parteigrenzen hinausgehe, die Männer und Frauen guten Willens repräsentiere, egal ob sie seiner, einer anderen oder gar keiner Partei angehörten. Das Wahlprogramm sei sorgfältig formuliert worden, um alle Vorschläge auszuschließen, die auch nur das geringste Risiko in sich bergen könnten, die Nation zu spalten.16 In einem Radiointerview drei Tage vor der Wahl schien Heath sogar die Möglichkeit seines Rücktritts anzudeuten, wenn auf diese Weise eine Koalitionsregierung mit konservativer Beteiligung zustande käme.17 Heaths Altruismus war jedoch vergeblich. Als am 10. Oktober das kürzeste britische Parlament seit 1681 endete und die Wähler zum zweiten Mal innerhalb von acht Monaten um ihr Votum gebeten wurden, verspielten die Tories ihre Chance, eine Koalitionsregierung zu bilden. Freilich war auch Wilson kein strahlender Wahlsieger. Anders als Labour gehofft und die meisten Kommentatoren angenommen hatten, konnte seine Partei ihre Position nur minimal verbessern. Sie baute ihren Vorsprung im Parlament zwar auf 42 Sitze aus und war jetzt mit 39,2 Prozent auch im Hinblick auf die Wählerstimmen die stärkste Kraft im Lande. Doch die Tories hatten nicht die erwartete derbe Schlappe erlitten.18 Heaths Ansehen innerhalb seiner Partei freilich hatten die beiden Wahlniederlagen und insbesondere die Koalitionsversprechen im OktoberWahlkampf entscheidenden Schaden zugefügt. Allen Umfragen zufolge war er der einzige Parteiführer, der konstant schlechtere Ergebnisse erzielt hatte als seine Partei. Nach der Niederlage vom Oktober sank seine Zustimmungsrate auf katastrophale 27 Prozent.19 Aus allen Teilen des Landes

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Edward Heath: Message to Conservative Party Candidates (ohne Datum), in: Election Manifestos. The Conservative Party, October 1974. Vgl. RAMSDEN, Winds of Change, S. 431. Der konservative Wahlkampf war effektiver als viele vermutet hatten. 69 Prozent der Wähler wußten von Heaths Versprechen, Nicht-Konservative an der Regierung zu beteiligen, und rund ein Fünftel sagte, dies habe es attraktiver gemacht, für die Tories zu stimmen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß einige Wähler, die sonst den Liberalen ihre Stimme gegeben hätten, deswegen konservativ wählten; siehe RAMSDEN, Winds of Change, S. 432–3. Vgl. auch PRIOR, S. 98. PHILIP WHITEHEAD, The Writing on the Wall. Britain in the Seventies, London 1985, S. 325.

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kamen die Abgeordneten von ihren Wahlkämpfen zurück und bestätigten diesen Eindruck. Schon im Frühjahr hatte der konservative Abgeordnete Norman Tebbit, ein Gegner des Heath-Kurses, konstatiert: „On the doorsteps I found Tory supporters simply could not identify with the Prime Minister or a Tory Party which had deserted Conservative policies, led the country into a coal strike it could not win and called a general election without any idea of what to do if it won. It was clear that Ted Heath was an electoral liability.“20 Andere Tory-Politiker brachten ähnliche Erkenntnisse von ihren Wahlkampftouren im Oktober mit. „Practically every MP I’ve spoken to, when they went out canvassing in the last election met the remark on the doorstep, ‚I would vote Conservative but not as long as Mr Heath is there‘“, erklärte ein Kritiker des Parteichefs.21 Man habe unter Heaths Kommando drei von vier Wahlen verloren, resümierte ein dritter. Das sei eine Bilanz, die kein Fußballtrainer, geschweige denn ein Parteiführer, sich leisten könne.22 Insgesamt sollen schon nach der Februarwahl rund hundert Tory-Abgeordnete zu verstehen gegeben haben, daß man ihrer Meinung nach mit Heath als Parteiführer die nächsten Wahlen nicht gewinnen werde.23 Bedrohlich für den Tory-Chef war, daß nicht nur innerparteiliche Kritiker zu derartigen Schlüssen kamen, sondern auch seine Anhänger.24 Heath fehle eine Eigenschaft, die Napoleon von seinen Generalen gefordert habe, bemerkte einer: Er habe einfach kein Glück.25 Selbst der ehemalige Schatzkanzler Reginald Maudling, der Heath bis zum Schluß unterstützte, mußte nach der Rückkehr aus seinem Wahlkreis zugeben, daß das Fußvolk den leader nicht sympathisch fand.26 An der Basis wuchs der Unmut. Ende März stellte die Unterhausabgeordnete Joan Quennel in einem Leserbrief an die Times fest: „Unlike previous leaders of the party [Heath] does not enjoy the warm and sym-

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TEBBIT, S. 223. Neil Marten, zit. nach: Daily Telegraph, 16. Oktober 1974. Ähnlich auch EDWARD DU CANN, Two Lives. The Political and Business Careers of Edward du Cann, Upton upon Severn 1995, S. 197. BOYSON, Speaking, S. 121. BEHRENS, S. 23. Siehe auch NIGEL FISHER, The Tory Leaders. Their Struggle for Power, London 1977, S. 147. „We had lost three out of four general elections the party had fought under his leadership. The first in 1966 could be forgiven, but the adverse effect of the twin defeats of 1974 on the party’s rank and file, and on its MPs, would be difficult to exaggerate“, so CRITCHLEY, Bag, S. 142. Vgl. MAUDLING, S. 206.

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pathetic support of the party’s grass-roots enjoyed by nearly all its previous leaders.“ Zwar fügte sie sogleich hinzu: „Instead he has respect.“27 Aber selbst diese Achtung bröckelte nach der zweiten Wahlniederlage. Im konservativen Ortsverein von Peckham stimmten bei einer Vertrauensfrage im Oktober nur acht von 16 der befragten Komiteemitglieder für den Parteiführer. In High Peak verabschiedete man nach der Diskussion der Wahlniederlage eine Erklärung an den heimischen Unterhausabgeordneten, in der die Parteiaktivisten ihre allgemeine Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Parteiführung zum Ausdruck brachten. Der Ortsverein von Harrow West verfaßte eine Stellungnahme, in der es hieß: „It would be beneficial to the Party if a change of leadership were seriously considered at the appropriate time.“ In Cambridgeshire wurde der Vorstand des Ortsvereins gefragt, ob er glaube, die Partei werde während der nächsten sechs Monate mit Heath an der Spitze besser fahren als ohne ihn oder umgekehrt. Nur elf Vorstandsmitglieder votierten für „besser“, zwölf für „schlechter“.28 Besonders die Parole der nationalen Einheit, mit der Heath den OktoberWahlkampf geführt und verloren hatte, geriet in die Kritik. „The national unity theme had worried some of our own supporters“, stellte Professor Esmond Wright während einer internen Wahlkampfanalyse des Advisory Committee on Policy fest, in dem die Parteiführung sich gewohnheitsmäßig über die Stimmung an der Basis informierte. Die Parole habe demotivierend gewirkt, viele Anhänger hätten nicht gewußt, wie sie darauf reagieren sollten.29 „What did seem to me self-evident was that the party had lost its way. What did we stand for?“, fragte der Abgeordnete Norman Fowler, der wie Wright zuvor nicht als Heath-Kritiker in Erscheinung getreten war. Er sei von dem Koalitionsgerede nicht sehr angetan gewesen, so Fowler. Auch Koalitionen benötigten schließlich irgendeine Art von Programm.30 Der Journalist Patrick Cosgrave, ein erklärter Gegner von Heath beim konservativen Wochenblatt Spectator, hatte dem Politiker schon die Sondierungsgespräche mit den Liberalen im Frühjahr übelgenommen.31 Nach der Oktoberniederlage warf er ihm vor, seine Koalitionspläne seien bloße Luftschlösser gewesen, die jeder inhaltlichen Aussage entbehrten und keine Lösungen für die anstehenden Probleme anböten: „[Heath] said he would

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The Times, 31. März 1974. RAMSDEN, Winds of Change, S. 438–9. CPA/ACP (74) 135th Meeting vom 4. Dezember 1974. FOWLER, S. 8. Siehe PATRICK COSGRAVE, The Frightening Scenario, in: Spectator, 9. März 1974.

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create a national government, but could not name a single figure of substance who would join it. He said he would take appropriate measures to meet [the crisis], but could not mention one.“32 Lord Coleraine, ein anderer Kritiker der Koalitionsidee, beklagte den Verlust konservativer Werte, Einstellungen und Tugenden, der mit einer Regierung der nationalen Einheit verbunden sei. Wenn die Partei ihre Identität verleugne, wie sie es in den vergangenen Wahlkämpfen getan habe, dann könne sie auch in Zukunft keine Wahlen gewinnen.33 Die Kritik blieb nicht auf die Führung des Wahlkampfes beschränkt, sondern weitete sich zu einer Grundsatzdiskussion aus. Schon nach der Niederlage im Februar monierte ein konservativer Hinterbänkler: „Decisions in politics are always difficult but it helps if you derive them from a philosophy or a set of principles. Many of us feel that we made too many concessions here.“34 Lord Coleraines Verdikt neun Monate später fiel ähnlich aus. In seinen Augen waren nicht die Wahlniederlagen entscheidend, sondern die Glaubwürdigkeit der Partei, die Heath verspielt hatte. Man müsse ihm nicht so sehr vorhalten, daß er drei Wahlen verloren, sondern daß er eine gewonnen und danach das intellektuelle wie moralische Kapital der Partei verspielt habe.35 Die Parteizeitschrift Crossbow, die sich bis dahin nicht als Kritikerin des Parteichefs hervorgetan hatte, schwenkte ebenfalls auf diese Argumentationslinie ein. In einem Leitartikel hieß es: „The major argument against Mr Heath’s continued leadership is not that the Party with him at its head will find it much harder to win elections, but that under him it has ceased to know where it is going and what it stands for.“ Die Ursache der aktuellen Malaise sei das Fehlen eines klaren Verständnisses davon, wie Wirtschaft und Gesellschaft funktionierten und welche Beziehung eine Regierung zu beiden Bereichen haben solle.36 Überall breitete sich die Überzeugung aus, Heath müsse als Parteiführer zurücktreten. Die großen Tageszeitungen spekulierten nur noch über das „Wann“ des Rücktritts, nicht mehr über das „Ob“. Dem jungen Abgeordneten Kenneth Baker, den Heath nach der zweiten Wahlniederlage gefragt hatte, ob er sein Parliamentary Private Secretary – eine Art parlamentarischer Staatssekretär – werden wolle, rieten politische Freunde, ein der-

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PATRICK COSGRAVE, The Intrigue to Keep Heath, in: Spectator, 26. Oktober 1974. LORD COLERAINE, The Failure of Edward Heath, in: Spectator, 2. November 1974. Zit. nach BUTLER und KAVANAGH, General Election 1974, S. 269. LORD COLERAINE, The Failure of Edward Heath, in: Spectator, 2. November 1974, S. 560. Crossbow, Dezember 1974.

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artiges Risiko nicht einzugehen.37 Selbst loyale Anhänger des Parteichefs begannen zu zweifeln. Er glaube nicht, daß die Partei mit Heath an der Spitze in einen weiteren Wahlkampf ziehen könne, sagte Patrick Jenkin, der dem Parteichef seinen Aufstieg bis in die Regierung verdankte und ihm trotz seiner Zweifel bis zum Schluß die Treue hielt. „What seems to me to be necessary is a period of reflection so that the changes may be effected decently and in a way that allows Ted to go on playing a major role in the Party and the shadow cabinet.“38 Die Empörung und Enttäuschung, die sich angestaut hatte, brach sich zuerst im 1922 Committee Bahn, dem traditionellen Sprachrohr der Hinterbänkler der Tory-Partei im Unterhaus. Viele Abgeordnete verlangten nach der zweiten Wahlniederlage innerhalb eines Jahres, der Vorstand des Komitees solle auf Neuwahlen für das Amt des Parteiführers drängen. Am 13. Oktober forderte der Komitee-Vorsitzende Edward du Cann seinen Parteichef im Namen der konservativen Hinterbänkler auf, er solle sich so bald wie möglich innerparteilichen Neuwahlen stellen.39 Enge politische Vertraute des Parteichefs wie Lord Carrington und James Prior spürten den anschwellenden Unmut. Sie drängten Heath, der Forderung nachzukommen. Wenn er nicht zum Rücktritt gezwungen werden wolle, müsse er sich möglichst rasch zur Wiederwahl stellen, ehe ein ernsthafter Herausforderer auftauche.40 Heath vertrat jedoch den Standpunkt, der Vorstand des Komitees repräsentiere nicht die Meinung aller Hinterbänkler. Für die kommende Wahlperiode müsse vielmehr eine neue Leitung des Ausschusses gewählt werden. Zudem, so fügte der Parteichef hinzu, hätte sich der alte Vorstand „heimlich“ im Privathaus du Canns und nicht in Räumen der Partei getroffen. Für ihn roch das nach Meuterei. Die Forderung nach Neuwahlen zur Parteiführung sei daher null und nichtig.41

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BAKER, S. 41. Zit. nach RAMSDEN, Winds of Change, S. 435. In seinen Erinnerungen machte du Cann aus seiner Kritik an Heath zwar keinen Hehl, betonte jedoch zugleich, er habe den Parteichef nur auf den ausdrücklichen Wunsch anderer Abgeordneter zum Rücktritt aufgefordert; er selbst sei gegen einen Rücktritt gewesen; vgl. DU CANN, S. 198–200. PRIOR, S. 98. HEATH, Course, S. 528–9. „After elections have taken place“, schrieb er am 17. Oktober an du Cann, „I look forward to meeting the Executive and, if invited, the 1922 Committee as a whole, to hear and discuss the views of our colleagues on any questions they may wish to raise about the best way forward for us as a Party in Opposition“; Schreiben von Heath an du Cann vom 17. Oktober 1974, in: CPA/1922 Committee/Correspondence 1969–79.

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Heaths Weigerung, sich freiwillig zur Wiederwahl zu stellen, erwies sich als schwerwiegender Fehler. Taktisch war es unklug, vom Vorstand des Komitees nach den Parlamentswahlen eine Wiederwahl zu fordern, sie für sich selbst als Parteiführer jedoch abzulehnen. Auch im Hinblick auf die Satzung des Komitees stand Heaths Forderung auf tönernen Füßen, wie der Abgeordnete Philip Goodhart die Times am 21. Oktober in einem Leserbrief wissen ließ. Am 9. Dezember 1923 habe das Komitee eine Resolution verfaßt, schrieb er, in der es hieß: „That until such time as a new Executive Committee can be appointed, the remaining members of the Executive be empowered to act.“ Peinlich für Heath war der Hinweis, er selbst habe im März 1974 eine Einladung des Vorstandes angenommen, obwohl dieser nach den Februarwahlen noch nicht neu gewählt worden war. Die Parteigeschichte liefere genug Belege dafür, schloß Goodhart, daß die alte Exekutive des Komitees verpflichtet sei, zwischen dem Ende der vorangegangenen Parlamentsperiode und der Wahl eines neuen Vorstandes zusammenzukommen und die Parteiführung zu beraten.42 Noch unangenehmer für den Parteichef war die Trotzreaktion der konservativen Hinterbänkler, die ihren 18-köpfigen Vorstand am 3. November geschlossen wiederwählten und mehrere, von Heaths Anhängern aufgestellte, Gegenkandidaten in Bausch und Bogen durchfallen ließen.43 Der Parteichef konnte seine Behauptung, du Cann und der alte Vorstand seien nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Hinterbänkler, nach dieser Demonstration der Einigkeit nicht länger aufrecht erhalten. Er mußte einwilligen, neue Modalitäten für seine Wiederwahl ausarbeiten zu lassen. Am 14. November kündigte Heath vor einer zum Bersten gefüllten Versammlung des Komitees an, ein Ausschuß unter dem früheren Premierminister Lord Home of the Hirsel (ehemals: Sir Alec Douglas-Home) werde ein entsprechendes Wahlverfahren ausarbeiten.44 Die bisherigen Regeln stammten aus dem Jahr 1965, als Douglas-Home – nicht zuletzt auf Druck von Heath – vom Parteivorsitz zurückgetreten war und die konservativen Parlamentsabgeordneten erstmals ihren Parteiführer in einer Wahl bestimmt hatten. Bis dahin war nach altem Brauch der neue leader aus informellen Beratungen der wichtigsten Parteioberen hervorgegangen.45 Die 42 43 44 45

Schreiben von Goodhart an The Times, 21. Oktober 1974, in: CPA/1922 Committee/Correspondence 1969–79. Vgl. RAMSDEN, Winds of Change, S. 438. Ebd., S. 440; siehe auch das Kurzprotokoll der Sitzung vom 14. November 1974, in: CPA/1922 Committee/Minute Book, S. 124. Vgl. VERNON BOGDANOR, The Selection of the Party Leader, in: SELDON und BALL (Hrsg.), S. 69–96.

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neue Regelung, die Lord Home am 11. Dezember vorlegte, wich in einigen Punkten geringfügig von der alten ab. Die wichtigste Änderung bestand darin, daß für den Sieg nicht mehr die absolute Mehrheit und ein Vorsprung von 15 Prozent der abgegebenen Stimmen ausreichen sollte. Vielmehr forderten Lord Home und seine Kollegen, der neue Parteiführer müsse einen Vorsprung von 15 Prozent aller Stimmberechtigten erreichen. Diese auf den ersten Blick unscheinbare Änderung machte es für den Amtsinhaber erheblich schwieriger, wiedergewählt zu werden. Denn nun konnten Unzufriedene, die sich der Stimme enthielten, ihn den Sieg kosten. Die neue Regelung wurde deswegen von konservativen Abgeordneten „Alecs Rache“ getauft. Allerdings scheint es nicht die Absicht Lord Homes gewesen zu sein, sich an Heath für das eigene Scheitern zehn Jahre zuvor zu rächen. Vielmehr mag der Ausschuß die Stellung des Parteichefs als derart geschwächt angesehen haben, daß er den Sieg eines Protestkandidaten für denkbar hielt und mit Hilfe des Quorums verhindern wollte. Kandidaten aus dem Parteiestablishment, die aus Loyalität zu Heath im ersten Wahlgang nicht antreten wollten, sollten in einem zweiten Wahlgang die Chance erhalten, ins Rennen zu gehen und den Außenseiter noch abzufangen.46 Heaths letzter Trumpf war die Tatsache, daß an ernsthaften Herausforderern Mangel herrschte. Als er selbst zehn Jahre zuvor Douglas-Home als Parteichef abgelöst hatte, war das noch anders gewesen. Damals hießen seine Gegenkandidaten Reginald Maudling und Enoch Powell; ein dritter – Iain Macleod – entschied sich zwar gegen eine Kandidatur, hatte seinen Ehrgeiz freilich nur vertagt, nicht begraben. Im Herbst 1974 konnte keiner der alten Rivalen mehr gegen Heath antreten. Macleod war 1970 gestorben; Maudling hatte sich nach einem geschäftlichen Skandal 1972 aus der Politik zurückziehen müssen; und Powell hatte die Partei im Februar 1974 aus Protest gegen ihre Europapolitik verlassen. Daher wurde ein Mann zum Hoffnungsträger aller Unzufriedenen, den sich unter anderen Umständen kaum jemand als möglichen Parteiführer hätte vorstellen können. Sir Keith Joseph galt zwar als menschlich angenehm und hochintelligent, aber auch als sprunghaft, unentschlossen und politisch ein wenig naiv.47 „Any less likely leader of a party has seldom been seen“, frohlockte ein Gefolgsmann des Parteichefs. „When Keith’s name was mooted, we all roared with laughter. If that’s the person who’s going to challenge Ted, then we’re all

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BLAKE, Conservative Party, S. 317–8; BEHRENS, S. 30. Vgl. die jüngst erschienene Biographie von ANDREW DENHAM und MARK GARNETT, Keith Joseph, Chesham 2001.

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right.“48 Im Gegensatz zu allen anderen konservativen Spitzenpolitikern distanzierte sich Joseph, der von 1970 bis 1974 Sozialminister in der HeathRegierung gewesen war, nach der ersten Wahlniederlage öffentlich von der Politik seines Parteichefs. Seine Kritik kam in der Öffentlichkeit gut an. Endlich habe sich ein führender Tory-Politiker mit Mut, Ehrlichkeit und Intelligenz von der verschwenderischen, zerstörerischen Wirtschaftspolitik vergangener Jahre losgesagt, hieß es im Spectator. „What now has to be discussed is the irreversible emergence of Sir Keith as a Conservative political leader of the first rank, and the probable next leader of the party.“49 Einige Abgeordnete auf den Hinterbänken des Parlaments sahen das genauso. In ihren Augen hatte Joseph alles, was ein künftiger Parteiführer benötigte: Er war ein scharfer Denker und fesselnder Redner, der auf den Parteitagen oft mit stehenden Ovationen bedacht wurde. Er fürchtete sich nicht, gegen allgemein anerkannte Ansichten seine eigenen Ideen zu setzen. Vor allem aber war er ein Mann von absoluter Integrität. Wenn es zu Neuwahlen für den Posten des Parteiführers käme, müßte man Joseph überreden zu kandidieren, meinte Fowler, der ihn zusammen mit einem anderen Hinterbänkler in seinem Abgeordnetenbüro aufsuchte und ihn seiner Unterstützung versicherte, sollte er sich zur Wahl stellen. „[Joseph] listened to what we said“, erinnerte sich Fowler später, „thanked us for our support; but did not absolutely commit himself to the battle.“50 Tatsächlich schied Joseph aus dem Rennen um die Parteiführung aus, noch ehe der Startschuß gefallen war. Am 19. Oktober fügte eine Rede im Grand Hotel in Birmingham seinen Erfolgsaussichten großen Schaden zu. In ihr forderte er eine Rückkehr zu traditionellen Werten und rief zu einer politisch-moralischen Erziehungskampagne für die ganze Nation auf. Die Ansprache war eigentlich wenig kontrovers, nur ihr letzter Absatz enthielt Sprengstoff. „The balance of our population, our human stock is threatened“, stellte der Politiker fest. Mütter aus unteren sozialen Schichten, vor allem minderjährige, unverheiratete Mädchen mit geringer Schulbildung, brächten inzwischen bis zu einem Drittel aller Kinder zur Welt. „They are producing problem children, the future unmarried mothers, delinquents, denizens of our borstals, sub-normal educational establishments, prisons, hostels for drifters.“ Ein hoher Prozentsatz dieser Geburten sei eine Tragödie für die Mutter, das Kind und die Gesellschaft. „If we do nothing, the nation moves towards degeneration, however much resources we pour into 48 49 50

Zit. nach OGDEN, S. 118. PATRICK COSGRAVE, The Man Who Told the Truth, in: Spectator, 14. September 1974. FOWLER, S. 9–10.

1. Der Sturz Edward Heaths

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preventive work and the over-burdened educational system.“51 Die Rede endete mit der Forderung, man müsse mehr Verhütungsmittel unters Volk bringen. Die unfreiwillige Ironie dieser Forderung in einer Rede, die für eine „Remoralisierung Großbritanniens“ warb, blieb den meisten verborgen. Statt dessen lösten die Bemerkungen zur Geburtenkontrolle einen Aufschrei der Empörung aus. Journalisten, Schriftsteller, Hochschullehrer, Bischöfe und Politiker warfen Joseph vor, er plädiere für die Tötung unwerten Lebens.52 Auch mancher, der nicht glaubte, Joseph spreche sich ernsthaft für irgendeine Form von Eugenik aus, bekam Zweifel am Fingerspitzengefühl eines Politikers, der ein so delikates Thema in mißverständlichen Formulierungen ansprach. Im Verlauf der unerfreulichen Diskussion entschied Joseph, er sei nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt, um das höchste Amt in der Partei ausfüllen zu können. Die Belastungen eines harten Wahlkampfs um die Parteiführung erschienen ihm allzu verletzend für sein sensibles Gemüt.53 Nur wegen des offenkundigen Mangels an Alternativen habe er überhaupt als potentieller Herausforderer gelten können, nicht wegen seiner eigenen Qualitäten.54 Am 18. November informierte er seine Anhänger in einem kurzen Brief über die Entscheidung.55 Joseph machte deutlich, daß ihn rein persönliche Gründe bewogen hatten, auf eine Kandidatur zu verzichten; politisch hielt er einen Wechsel an der Spitze der Partei weiterhin für notwendig. Die Suche nach einem Herausforderer ging weiter. Die Hoffnungen der Heath-Gegner konzentrierten sich nun auf Edward du Cann. Dessen Position als Vorsitzender des 1922 Committee verbürgte breite Unterstützung in der Parlamentsfraktion. Zudem hatte er nie einen Kabinettsposten unter Heath innegehabt und war frei von aller Verantwortung für die Fehler der Vergangenheit. Außerdem genoß du Cann, der in den sechziger Jahren einmal Vorsitzender der National Union gewesen war, noch Sympathien an der Basis der Partei.56 Heath erkannte, welch gefähr-

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Am 19. Oktober 1974 in Birmingham: News Service 509/74. Der Evening Standard titelte am 21. Oktober 1974: „Sir Keith in ‚Stop Babies‘ Sensation“; und der Guardian schrieb am 22. Oktober 1974„Sir Keith’s Birth Control Under Attack“. DENHAM und GARNETT, Joseph, betonen diesen Aspekt ganz besonders. Vgl. auch MORRISON HALCROW, Keith Joseph. A Single Mind, London 1989, S. 77; OGDON, S. 118. Vgl. JOHN RANELAGH, Thatcher’s People, London 1992, S. 137. Vgl. FOWLER, S. 11. Die National Union ist die landesweite Organisation der ehrenamtlich tätigen Parteibasis; sie veranstaltet die jährlichen Parteitage, koordiniert die Tätigkeit der lokalen Parteigliederungen und agiert in Streitigkeiten als Schlichterin. Vgl. MICHAEL PINTO-DUSCHINSKY, Die Konservative Partei Großbritanniens 1945–1980, in: HANS-JOACHIM VEEN (Hrsg.), S. 24–5.

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Prolog: Thatchers Wahl zur Parteiführerin

licher Gegner der Hinterbänkler werden konnte, und bot ihm, den er zuvor acht Jahre lang bei jeder Kabinettsumbildung geflissentlich übersehen hatte, einen Platz im Schattenkabinett an. Doch du Cann lehnte ab und untermauerte damit seinen Status als wichtiger Heath-Gegner.57 Kurz vor Weihnachten forderten ihn 15 Abgeordnete schriftlich auf, gegen den Parteiführer anzutreten.58 Freilich hatte auch du Cann Schwächen. Daß er nie ein Regierungsamt innegehabt hatte, befreite ihn zwar von lästiger Verantwortung, zugleich galt er jedoch manchem Abgeordneten als allzu unerfahren für das höchste Parteiamt, das schließlich möglichst bald nach 10 Downing Street führen sollte. Außerdem munkelte man, seine geschäftliche Tätigkeiten in der Londoner Finanzwelt seien in den Wochen und Monaten zuvor ins Zwielicht geraten. Keiner wußte, wie kompromittierend diese Kontakte im Ernstfall werden konnten. Entsprechend zögerte der Politiker wochenlang, ehe auch er am 13. Januar 1975 den Verzicht auf eine Kandidatur bekanntgab.59 Die Suche nach einem Gegenkandidaten erschien hoffnungsloser denn je. Eine Woche nach du Canns Verzichterklärung diskutierte der konservative Ortsverein von York über die Führung der Tory-Partei und konstatierte „the unfortunate absence of any alternative“.60 In der Tat offenbarten die Namen der Politiker, die nun als potentielle Herausforderer genannt wurden, die ganze Ratlosigkeit der Partei: Francis Pym zum Beispiel war zwar ein erfolgreicher, effizienter Chief Whip, aber auf den Gängen von Westminster tuschelten seine Kollegen, Churchill habe immer gesagt „‚Have the accountants on tap, not on top‘, and the same applies to Chief Whips“61; Julian Amery hatte seine große Zeit hinter sich; und Christopher Soames, Churchills Schwiegersohn und ehemals Botschafter in Paris, saß schon seit 1966 nicht mehr im Unterhaus.62 Sie alle tauchten ebenso rasch als Kandidaten auf wie sie wieder verschwanden. Es schien, als wünschten sich die konservativen Abgeordneten nichts sehnlicher als einen neuen Parteichef, wußten aber nicht wen.

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Siehe etwa Spectator, 28. Dezember 1974. Vgl. auch HEATH, Course, S. 529; FISHER, Tory Leaders, S. 160. Du Cann beteuerte in seinen Erinnerungen, er habe das Angebot abgelehnt, weil er als „Schiedsrichter“ im anstehenden Wahlkampf unparteiisch bleiben wollte; siehe DU CANN, S. 204. Ebd., S. 205. BEHRENS, S. 39. Zit. nach RAMSDEN, Winds of Change, S. 442. Zit. nach The Times, 20. Januar 1975. Daily Telegraph, 16. Oktober 1974; vgl. auch CAMPBELL, Heath, S. 663; TEBBIT, S. 140.

2. Der Aufstieg Margaret Thatchers

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2. DER AUFSTIEG MARGARET THATCHERS Selbst als die Partei fieberhaft nach einer Alternative zu Heath suchte, kam zunächst kaum jemandem der Name Margaret Thatcher in den Sinn.63 Sie galt als die „Quotenfrau“ im Führungsteam der Tories: intelligent, mit scharfer Zunge und kräftigen Ellenbogen, aber eben doch eine Quotenfrau. 1925 in dem Städtchen Grantham in Lincolnshire geboren, entstammte sie einer kleinbürgerlichen Methodistenfamilie, die es mit Fleiß, Strebsamkeit und harter Arbeit aus ärmlichen Verhältnissen zu bescheidenem Wohlstand gebracht hatte. Mit den gleichen Tugenden gelang es der jungen Margaret, die mittelenglische Provinz hinter sich zu lassen und Karriere zu machen. Nach dem Besuch einer Staatsschule gewann sie ein Stipendium für die Universität Oxford, wo sie Chemie studierte und sich in der Konservativen Partei zu engagieren begann. In den beiden Unterhauswahlen von 1950 und 1951 sorgte sie als blutjunge Kandidatin des rechten Parteiflügels über ihren Wahlkreis in Dartford (Kent) hinaus für einigen Wirbel, auch wenn sie beide Male ihrem Gegenspieler von der Labour-Partei deutlich unterlag. Wenig später heiratete sie den wohlhabenden Geschäftsmann Denis Thatcher, bekam Zwillinge und studierte Jura, ehe sie 1959 für den NordLondoner Wahlkreis Finchley ins Unterhaus einzog.64 Zäh, zielstrebig und unauffällig arbeitete sie sich seit Ende der fünfziger Jahre innerhalb der Fraktion nach oben und hatte jene Posten inne, die damals in einer konservativen Partei für eine Frau passend erschienen: 1961 wurde sie Parlamentarische Staatssekretärin im Ministerium für Rentenfragen und Soziale Sicherheit, diente auch in der Opposition zunächst als Sprecherin für Rentenfragen, ehe sie 1965 für Wohnungsbau zuständig und 1966 Stellvertreterin des Schattenschatzkanzlers wurde. 1967 übernahm sie das Schattenressort für Brennstoff und Energie und 1969 schließlich das Schattenressort für Bildungsfragen, das sie auch als Ministerin in der HeathRegierung von 1970 bis 1974 innehatte. In allen diesen Ämtern erwies sie sich als harte Arbeiterin, die zu rechnen verstand, sich durchzusetzen wußte und völlig in ihrem jeweiligen Aufgabengebiet aufging. Mit Debatten über die großen politischen Fragen wurde sie nicht identifiziert.

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Auch wenn sie hin und wieder in der Presse als eine mögliche, wenn auch unwahrscheinliche Kandidatin genannt wurde; vgl. etwa Daily Express, 9. April 1974; The Times, 11. September und 16. Oktober 1974; Sunday Times, 13. und 20. Oktober 1974. Die bislang ausführlichste Darstellung von Thatchers Jugend und Karrierestart findet sich bei CAMPBELL, Thatcher, S. 1–121.

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Prolog: Thatchers Wahl zur Parteiführerin

Wenn Thatcher an politischen Fragen interessiert war, die über ihr eigenes Ressort hinausgingen, diskutierte sie diese höchstens im privaten Kreis. Weder in ihrem Ministerium noch im Kabinett fiel sie durch besonderen Eifer bei der Diskussion großer politischer Zusammenhänge auf. Sir William Pile, ihr oberster Beamter im Erziehungsministerium, erinnerte sich später: „I think in the four years in the Department she showed, at all events, very little interest in anything outside the Department’s brief, outside the contents of her red box.“65 In Kabinettssitzungen verhielt sie sich ähnlich. Ihr Ministerkollege Jim Prior konnte sich im Rückblick nicht daran erinnern, daß sie jemals etwas von sich gab, was nichts mit ihrem Ressort zu tun hatte. Sie gehörte zwar Heaths Kabinetten an, war aber nie einer seiner innerparteilichen Gefolgsleute. Persönlich standen sich die beiden zu keiner Zeit nahe.66 Heath ließ Thatcher spüren, daß er sie für keine große politische Begabung, für wenig klug und sensibel hielt. Einige konservative Kabinettsmitglieder haben in ihren Memoiren darüber berichtet, wie der Premier die Ministerin vor versammeltem Kabinett abkanzelte.67 Bei der Sitzordnung im Kabinett achtete er zudem sorgfältig darauf, daß Thatcher ihm nicht direkt gegenüber saß, sondern in der hintersten Ecke des Raumes, wo es schwieriger für sie war, die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden zu gewinnen und ins Gespräch einzugreifen.68 Nach der Wahlniederlage im Februar 1974 begannen auch die politischen Differenzen zu wachsen. Als Heath in der ersten Kabinettssitzung nach den Wahlen bei seinen Kollegen vorfühlte, was sie von der Wahlrechtsänderung hielten, die von den Liberalen zur Bedingung einer Koalition gemacht wurde, soll Thatcher entrüstet ausgerufen haben: „Oh, no we couldn’t. Think how many seats we would lose.“69 In ihren Memoiren kommentierte sie diese Sitzung mit den Worten: „[I]n meinem Herzen wußte ich, daß es Zeit war für einen Wechsel, nicht nur in der Regierung, sondern auch in der 65 66

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Zit. nach HUGO YOUNG und ANNE SLOMAN (Hrsg.), The Thatcher Phenomenon, London 1986, S. 59. „There was such obvious antagonism between Ted and Margaret“, erinnerte sich ein Kabinettskollege, „that anyone could have foretold that if ever opportunity presented itself, the political dagger would be cheerfully slipped out of the stocking-top and into the substantial frame of her Leader. They were enemies, naked and unashamed, and they had been from the start“; RAWLINSON, S. 248. Ähnlich auch Industrieminister John Davies im Gespräch mit dem Labour-Politiker Tony Benn; vgl. Tagebucheintrag vom 29. Juni 1977, in: BENN, Conflict, S. 182. RAWLINSON, S. 246. RAMSDEN, Winds of Change, S. 444–5; vgl. Tagebucheintrag vom 29. Juni 1977, in: BENN, Conflict, S. 182. Zit. nach VERNON BOGDANOR, The Fall of the Heath Government and the End of the Postwar Settlement, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 371–89 (S. 373).

2. Der Aufstieg Margaret Thatchers

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Konservativen Partei.“70 Freilich wahrte sie nach außen die Loyalität zum Parteiführer, auch wenn sie sich hinter den Kulissen dafür einsetzte, daß Joseph ihn bei nächster Gelegenheit als Tory-Chef ablösen sollte. In den Sitzungsprotokollen der Führungsebene des Schattenkabinetts finden sich jedoch für den Zeitraum zwischen den beiden Wahlen keine Hinweise darauf, daß sie ihrem Unmut und ihren Zweifeln Luft gemacht, offene Kritik an der Parteilinie geübt hätte. Mit Feuereifer stürzte sie sich statt dessen auf die neue Aufgabe als Schattenministerin für Umweltfragen, die Heath ihr zugewiesen hatte.71 Sie selbst scheint sich zu dieser Zeit noch nicht als ernsthafte Anwärterin für das höchste Amt gesehen zu haben. „It will be years before a woman either leads the Party or becomes Prime Minister“, sagte sie in einem Gespräch mit der Liverpool Daily Post im Juni 1974. „I don’t see it happening in my time.“72 Für eine Frau sei es äußerst schwierig, bis zur Spitze zu gelangen, erklärte sie in einem anderen Interview. Außerdem glaube sie, daß man, um die Partei führen zu können, zuvor Schatzkanzler, Außen- oder Innenminister gewesen sein müsse. Die drei Spitzenämter würden einem Selbstvertrauen geben und das Vertrauen anderer erwekken.73 Ihren Namen könne man von der Liste streichen, erklärte sie noch Mitte Oktober einem Reporter der Evening News, der fragte, ob sie gegen Heath antreten werde.74 Ihrer Skepsis zum Trotz rückte die Politikerin nach der Wahlniederlage vom Februar immer mehr ins Rampenlicht und wurde zu einer Hoffnungsträgerin der Tories. Das lag zum einen daran, daß sie durch ihre Entschlossenheit und ihren unbedingten Siegeswillen innerhalb einer geschlagenen, orientierungslosen Partei positiv auffiel.75 Außerdem hatte Heath der ungeliebten Ministerin mit dem Umweltressort eines der wenigen Sachgebiete zugewiesen, in dem für ihre Partei im Wahlkampf Erfolge zu verbuchen waren. Die beiden von ihr geleiteten Arbeitsgruppen zur Wohnungsbaupolitik und zur Reform der Gemeindesteuern, der sogenannten rates, konzentrierten sich auf drei Vorschläge: erstens werde eine Tory-Regierung Sozialwohnungen unter Marktpreis an die Mieter verkaufen; zweitens solle

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THATCHER, Erinnerungen, S. 286. Vgl. CPA/LCC/74 passim; LAWSON, S. 11. Zit. nach COSGRAVE, Thatcher, S. 48. Evening Standard, 15. Oktober 1974. Evening News, 11. Oktober 1974. „I was impressed by her vigour and energy“, erinnerte sich der spätere Schatzkanzler Nigel Lawson, der als junger Abgeordneter im Oktoberwahlkampf erstmals mit ihr zusammenarbeitete. „While almost all her former Cabinet colleagues [. . .] were demoralized by ejection from office, she went to work with a will“; LAWSON, S. 11.

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der Hypothekenzins gesenkt werden; und drittens würden die Tories das gegenwärtige System durch ein gerechteres ersetzen. Keiner dieser Vorschläge ging auf Thatcher selbst zurück. Der Verkauf von Sozialwohnungen war eine Lieblingsidee des Heath-Vertrauten Peter Walker; die Hypothekenzinsen wollte der Parteichef selbst deutlich radikaler gesenkt sehen, als Thatcher recht war; und auch bei der Reform der Gemeindesteuer war er die treibende Kraft. Thatcher folgte zunächst nur widerwillig.76 Keines der drei Projekte lag auf der Linie einer marktradikalen Reformpolitik, die man später mit ihrem Namen verband. Die Senkung des Hypothekenzinses lief dieser sogar direkt zuwider, beruhte sie doch auf einer nur notdürftig als Steuererleichterung kaschierten staatlichen Subvention – vor allem für junge Familien aus der Mittelklasse, die unter den Eigenheim-Erbauern und -Käufern überproportional vertreten waren. Dafür erfüllten die Wahlkampfthemen einen anderen Zweck. Sie machten die Schattenumweltministerin unter den traditionellen Tory-Wählern der Mittelschicht populär; vor allem deshalb, weil sie, im Gegensatz zu Heath, jeden Gedanken an eine Koalitionsregierung entrüstet von sich weisend, am 1. Oktober auf ihrer letzten Pressekonferenz vor den Wahlen verkündete, ihre Wahlkampfversprechen jedenfalls seien keine Verhandlungsmasse.77 Den nächsten Schub erhielt Thatchers Karriere Anfang November, als Heath sie zur Stellvertreterin des neuen Schattenschatzkanzlers Robert Carr berief. Weil sie sich zu dieser Zeit bereits seit Wochen als Wahlhelferin Josephs engagierte, ging der Parteichef ein hohes Risiko ein. Eine Anhängerin seines Herausforderers würde eine Hauptrednerin bei der anstehenden Haushaltsdebatte im Parlament sein. Thatchers Beförderung macht daher im Rückblick dreierlei deutlich: Sie zeigt, wie gering der Parteichef immer noch über die Erfolgsaussichten Josephs, geschweige denn Thatchers dachte. Die Nominierung einer erklärten Gegnerin ist zugleich ein Beleg dafür, daß Heath innerparteilich schwer angeschlagen war, dringend einen Erfolg in der Parlamentsdebatte benötigte und daher bereit war, jede Waffe im Arsenal der Partei zu nutzen – selbst wenn sie zweischneidig war. Außerdem belegt Thatchers Aufstieg aber auch, daß nun selbst der Parteichef ein politisches Talent in ihr sah, das es zum eigenen Nutzen zu fördern galt. In der ersten Runde der Budgetdebatte am 14. November rechtfertigte Thatcher die auf sie gerichteten Hoffnungen. Ihrem Kontrahenten Harold Lever von der Labour-Partei, einem Geschäftsmann aus reicher Familie, 76 77

Siehe THATCHER, Erinnerungen, S. 287–98; HEATH, Course, S. 523. So GARDINER, S. 159–60.

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warf sie an den Kopf, es gebe vier Arten, zu Geld zu kommen: Man könne es machen, man könne es verdienen, man könne es heiraten, und man könne es leihen. Er scheine in allen vier Methoden versiert zu sein.78 Schatzkanzler Denis Healey, der sich gerade ein Haus auf dem Land gekauft hatte, verspottete sie mit den Worten, sie sei entzückt, daß der Schatzkanzler als großer Sparer im Protokoll stehe. „I know that he believes in buying houses in good Tory areas.“79 Derartige Attacken waren weder subtil noch geistreich und brachten auch die inhaltliche Auseinandersetzung nicht voran. Aber sie waren ganz nach dem Geschmack der konservativen Abgeordneten auf den Hinterbänken. Einer von ihnen schrieb acht Tage später an die Politikerin, wenn sie sich um die Führung bewerbe, werde sie mit ziemlicher Sicherheit gewinnen, er jedenfalls hoffe auf ihre Kandidatur und tue alles für sie, was er könne.80 Thatcher selbst hielt jedoch trotz der verunglückten Rede in Birmingham immer noch an Joseph als Wunschkandidaten fest. Erst als er ihr mitteilte, er werde nicht antreten, scheint sie die eigene Kandidatur ernsthaft erwogen zu haben. Ihren Memoiren zufolge hatte sie zu Joseph gesagt: „Schau, Keith, wenn du nicht kandidierst, tue ich es; es muß sich jemand aufstellen lassen, der unsere Auffassung vertritt.“81 Das Gespräch in Heaths Büro, in dem sie dem Parteiführer einige Tage später förmlich erklärte, daß sie gegen ihn antreten werde, verlief frostig. Heath stand nicht vom Schreibtisch auf, bot ihr keinen Stuhl an, sondern sagte nur: „If you must. You’ll lose.“82 Thatcher ging mit der Kandidatur zum ersten Mal in ihrer Karriere ein großes politisches Risiko ein.83 Nichts spricht für die These, sie habe in einem kühl kalkulierten Schachzug zunächst Keith Joseph als Strohmann benutzt, um dann selbst nach vorn zu preschen.84 Trotz ihrer jüngsten Erfolge war sie krasse Außenseiterin in der Auseinandersetzung mit Heath. Abgesehen von der Tatsache, daß sie sich als Frau in der Männerwelt der Politik, noch dazu in einer konservativen Partei, um das höchste Amt bewarb, hatte sie bislang keines der drei großen Ministerien geleitet. Aus dem Establishment der Partei war nur Joseph bereit, sie zu unterstützen. Von

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Am 14. November 1974 im Unterhaus; Hansard Vol. 881, Col. 614. Ebd., Col. 623. Schreiben von Geoffrey Finsberg an Margaret Thatcher; zit. in THATCHER, Erinnerungen, S. 317. THATCHER, Erinnerungen, S. 318. CAMPBELL, Heath, S. 663. Anderer Ansicht ist CAMPBELL, Thatcher, S. 283–4. Siehe auch The Times, 30. Dezember 1974. So jedoch ARNOLD, S. 106.

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den Hinterbänken des Parlaments hatte sie zwar einige Sympathiekundgebungen erfahren, aber über eine eigene Hausmacht verfügte sie nicht. Ihr Ehemann Denis hielt wenig von dem Entschluß seiner Frau: „Du mußt verrückt geworden sein. Du hast nicht den Hauch einer Chance“, soll er zu ihr gesagt haben.85 Der gleichen Ansicht waren auch die großen Zeitungen des Landes. Thatcher sei „precisely the sort of candidate [. . .] who ought to be able to stand, and lose, harmlessly“, schrieb der Economist.86 Die Londoner Buchmacher bezifferten ihre Chancen mit fünfzig zu eins.87 Sie selbst schätzte ihre Aussichten ebenfalls nicht hoch ein. „Ted mußte gehen“, schrieb sie in ihren Erinnerungen, „und das hieß, daß ihm jemand den Handschuh hinwerfen mußte. Siegte er, war ich politisch am Ende. [. . .] Ich dachte aber, daß ich, indem ich ins Rennen ging, andere stärkere Kandidaten ebenfalls dazu bewegen konnte“.88 Dieses Kalkül erklärt, warum sich Thatcher in den ersten Wochen nach der Ankündigung ihrer Kandidatur nicht um ein professionelles Management für den anstehenden innerparteilichen Wahlkampf kümmerte und sich statt dessen völlig auf die Vorbereitungen für die nächsten Runden der Haushaltsdebatte im Unterhaus konzentrierte. Bis weit in den Januar hinein waren William Shelton und Fergus Montgomery die einzigen Abgeordneten, die sich offen zu ihr bekannten. Shelton verfügte über keinen nennenswerten Einfluß in der Fraktion, und Montgomery verschwand im Januar auf eine Reise nach Afrika, von der er erst nach dem ersten Wahlgang zurückkehrte.89 An der Parteibasis galt die Politikerin immer noch nicht als ernsthafte Kandidatin. Als zum Beispiel am 7. Januar 1975 in einer Diskussion des Tory-Ortsvereins von Saffron Walden heftige Kritik an Heath laut wurde, tauchte Thatchers Name als Alternative nicht auf.90 Auch im ToryEstablishment hielt man sie nach wie vor für ein politisches Leichtgewicht, dessen Erfolgsaussichten verschwindend gering waren. „We don’t have to take this Thatcher business seriously, do we?“, soll Rab Butler, einer der elder statesmen der Partei, damals gefragt haben.91 Ihre Position verbesserte sich erst, als du Cann eine Woche später seinen Verzicht auf eine Kandidatur bekanntgab. Seine Gefolgschaft, die nun ohne Führung war, erklärte sich nach längerer Diskussion mehrheitlich bereit, in 85 86 87 88 89 90 91

THATCHER, Erinnerungen, S. 18. The Economist, 30. November 1974. RAMSDEN, Winds of Change, S. 442. THATCHER, Erinnerungen, S. 318–9. Vgl. COSGRAVE, Thatcher, S. 57; FISHER, Tory Leaders, S. 163; GARDINER, S. 180. Vgl. RAMSDEN, Winds of Change, S. 439. So jedenfalls Chris Patten, zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 299.

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Thatchers Lager überzuwechseln. Du Canns Wahlkampfleiter Airey Neave trat an Thatchers einzigen verbliebenen Anhänger William Shelton heran und sagte: „Edward zieht seine Kandidatur zurück. Wenn wir uns einigen können, führe ich Edwards Truppen Margaret zu.“92 Die „Einigung“ lief darauf hinaus, daß Neave die Leitung der Kampagne in seine Hände nahm und Shelton ihn unterstützte. Innerhalb kürzester Zeit stellten die beiden eine Gruppe aus etwa fünfzig Abgeordneten zusammen, die eine gut organisierte, effektive Mannschaft bildeten. Über Neaves Motive, sich für Thatcher zu engagieren, ist viel spekuliert worden. Hartnäckig hält sich das Gerücht, der bekannte Schriftsteller und Kriegsheld, der im Zweiten Weltkrieg aus dem Gefangenenlager Colditz in Sachsen entflohen und später als Ankläger in den Nürnberger Prozessen aufgetreten war, habe den Parteichef aus persönlichen Gründen verabscheut und um jeden Preis stürzen wollen.93 Man munkelte, Neave habe 1959 als junger Staatssekretär den damaligen Chief Whip Heath aufgesucht, um ihm mitzuteilen, er habe eine leichte Herzattacke erlitten und müsse deswegen kürzer treten. Darauf soll Heath geantwortet haben: „Well, that’s the end of your political career, then.“94 Heath bestritt freilich in seinen Memoiren diese Anekdote vehement. Neave und er hätten sich weder gestritten, noch habe er den anderen jemals verletzt.95 Fest steht jedoch, daß Neave überzeugt war, Heath müsse als Parteichef abgelöst werden. Im Dezember 1974 suchte er ihn persönlich auf und riet ihm zurückzutreten.96 Aber Thatcher war nicht Neaves erste Wahl, wenn es darum ging, den Parteichef zu ersetzen. Zwar kannten sich die beiden aus ihrer Zeit als Londoner Anwälte und durch gemeinsame Aktivitäten im Parlament. Doch Neave habe zunächst stark an den Erfolgsaussichten der Politikerin in der Auseinandersetzung mit Heath gezweifelt, berichtete seine Frau später. Er sei zudem niemals „a lady’s man“ gewesen, sondern habe die meiste Zeit unter Männern gelebt. Zwei Dinge hätten ihn schließlich überzeugt: Thatchers Patriotismus – „the welfare of the country was the most important thing as far as they were both concerned“ – und ihr Auftreten in der Haushalts-

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Zit. nach THATCHER, Erinnerungen, S. 324; vgl. hierzu und zum folgenden auch FISHER, Tory Leaders, S. 163–4; COSGRAVE, Thatcher, S. 59. Vgl. AIREY NEAVE, Nuremberg. A Personal Record of the Trial of the Major Nazi War Criminals in 1945–46, London 1978. Zit. nach MAYER, S. 118; ähnlich auch THATCHER, Erinnerungen, S. 322; Ian Gow in: RANELAGH, S. 140; PRIOR, S. 99. HEATH, Course, S. 531. Ebd., S. 531–2.

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debatte im Parlament. „If she could deal with that she could deal with anything.“97 Thatcher und Neave waren sich einig, daß ihre wichtigste Aufgabe darin bestand, der Öffentlichkeit und den Tory-Abgeordneten zu beweisen, daß die Politikerin aus dem Holz geschnitzt war, aus dem man Parteiführer macht. Zu diesem Zweck organisierten sie ein Pressegespräch mit den politischen Korrespondenten der wichtigsten nationalen und regionalen Zeitungen. Kaum jemand unter den Anwesenden sei Thatcher gegenüber ursprünglich positiv eingestellt gewesen, erinnerte sich ein Teilnehmer später. Im Laufe des Gesprächs habe sich die Politikerin jedoch als derart sachkundig, routiniert und kompetent erwiesen, daß jeder im Raum beeindruckt gewesen sei. „I remember very well everyone saying ‚Ouf! She’s quite something.‘“98 Die nächste Bewährungsprobe fand im Parlament statt, wo am 21. und 22. Januar wieder eine Debatte zum Haushaltsgesetz auf dem Programm stand. Schatzkanzler Denis Healey, ein gefürchteter, witziger und scharfzüngiger Redner, bezeichnete sie in einem seiner Beiträge als „the Passionara of privilege“. Thatcher war nicht um eine Antwort verlegen. „Some Chancellors are macroeconomic“, rief sie unter dem Beifall ihrer Fraktion. „Other Chancellors are fiscal. This one is just plain cheap.“ Im gleichen Atemzug stellte sie richtig, sie sei keineswegs besonders bevorrechtigt aufgewachsen, sondern „with no privilege at all“.99 Im Parlament komme es nicht darauf an, was man sage, sondern wie man es sage, vertraute sie an diesem Abend dem konservativen Einpeitscher für das Haushaltsgesetz Cecil Parkinson an.100 Aber nicht nur durch ihre Schlagfertigkeit und ihren Angriffswillen beeindruckte sie ihre konservativen Kollegen, sondern mindestens ebenso sehr durch ihre Sachkenntnis. Aus dem Schlagabtausch mit Healey ging sie als Punktsiegerin hervor. Ein ums andere Mal konnte sie den Schatzkanzler düpieren und zeigen, daß er nicht alle Details seines Budgets beherrschte.101 Mit ihrer vehementen Attacke auf den gefürchteten Healey flößte sie ihrer in zwei Wahlen gedemütigten Partei neuen Mut und Zuversicht ein. Parkinson glaubte, ihr Auftreten im Parlament habe man-

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Lady Neave zit. nach YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 31–2. Frank Giles von der Sunday Times, der das Pressegespräch im Rückblick fälschlicherweise auf die Zeit nach Thatchers Wahlsieg datiert, zit. nach RANELAGH, S. 160; vgl. auch GARDINER, S. 183; COSGRAVE, Thatcher, S. 59; THATCHER, Erinnerungen, S. 326. Am 22. Januar 1975 im Unterhaus; Hansard Vol. 884, Cols. 1551 u. 1554. PARKINSON, S. 127. Siehe die Debatte vom 21. Januar 1975 im Unterhaus; Hansard Vol. 884, Cols. 1383–95.

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chen Abgeordneten zu ihr umschwenken lassen, so sehr habe sie an diesen beiden Abenden das Haus dominiert.102 Allmählich begann das Heath-Lager, Thatcher als Gegnerin ernst zu nehmen, zumal inzwischen deutlich geworden war, daß sie die einzige ernsthafte Gegenkandidatin bleiben würde. Nur ein anderer Bewerber hatte sich gemeldet: Hugh Fraser, ein freundlicher Hinterbänkler vom rechten Flügel der Partei. Er besaß weder Anhänger noch eine Wahlkampfmannschaft, war von Anfang an chancenlos und ließ sich wohl nur aufstellen, um Gegnern des Parteichefs, denen es widerstrebte, eine Frau zu wählen, eine Alternative zu Thatcher zu bieten. Ein Schattenminister, so konnte man im Observer lesen, habe zynisch gesagt, Fraser könne lediglich mit der Unterstützung der „MCP’s“ rechnen: „Male Chauvinist Pigs who are anti-Heath and won’t vote for Mrs Thatcher.“103 Im Spectator hieß es bissig, im gegenwärtigen Zustand der Partei könne beinahe jeder zum neuen Parteiführer gewählt werden – Fraser aber nicht.104 Die Attacken des Heath-Lagers konzentrierten sich daher ganz auf Thatcher. Bereits im November hatten einige Anhänger des Parteichefs versucht, sie durch eine Pressekampagne lächerlich zu machen. Zu diesem Zweck wurde ein Interview, das sie im Spätsommer der Zeitschrift Pre-Retirement Choice gegeben hatte, ausgegraben. Darin hatte sie älteren Leuten mit niedrigen Renten geraten, sich einen Vorrat an Konserven anzulegen. Jede gute Hausfrau nehme beim Einkaufen mehrfach mit, was gerade billig sei, anstatt im letzten Augenblick loszulaufen und das gleiche Produkt für teures Geld zu kaufen. Am 27. und 28. November erschienen in mehreren Zeitungen Berichte, in denen ihr vorgeworfen wurde, sie fordere die Leute zu „Hamsterkäufen“ auf.105 Der ehemalige Chief Whip Martin Redmayne, inzwischen Vizepräsident des Kaufhauses Harrods, warnte im Fernsehen, jede Anregung zu Panikkäufen laufe dem öffentlichen Interesse zuwider. Thatcher konterte, indem sie einigen Kamerateams erlaubte, den Inhalt ihrer Speise-

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Parkinson zit. nach YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 31; siehe auch PRIOR, S. 99–100. Vgl. zum Rededuell Healey-Thatcher auch die Passage bei LEWIS, Thatcher, S. 96–103. The Observer, 26. Januar 1975. PATRICK COSGRAVE, Clear Choice for the Tories, in: Spectator, 25. Januar 1975. Vgl. zu Frasers Kandidatur auch MAYER, S. 118 sowie Frasers Artikel in The Times 31. Januar 1975, der die Überschrift trägt: „Tories need a new leader to heal the wounds and take the party back to grass roots“. Siehe etwa „A Ham is a Ham to Mrs Thatcher in: The Guardian, 28. November 1974. Die Idee für die Kampagne stammte angeblich von Heaths Vertrautem Peter Walker, so jedenfalls PRIOR, S. 100.

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Prolog: Thatchers Wahl zur Parteiführerin

kammer und ihrer Schränke zu filmen.106 Sie war entschlossen, sich von derartigen Tricks nicht abschrecken zu lassen. Zu Harry Creighton, dem Herausgeber des Spectator, der sie in diesen Tagen fragte, ob sie dem Druck gewachsen sei, soll sie gesagt haben: „Don’t misunderstand me. I saw how they broke Keith, but they won’t break me.“107 Nach dem Scheitern der Medienkampagne wechselten Heaths Anhänger die Stoßrichtung ihres Wahlkampfes. Sie versuchten nun, Thatcher als eine engstirnige Vertreterin der südenglischen Mittelschicht darzustellen, die vielleicht in den idyllischen Dörfchen und Vorstädten der Home Counties erfolgreich sein könne, niemals jedoch in den Midlands, in Nordengland oder gar in Schottland und Wales. Heath warnte, seine Partei dürfe nicht zu einer „middle-class protection society“ verkommen, und Gilmour riet den Tories, sich nicht zurückzuziehen „behind a privet hedge into a narrow world of class interests and selfish concerns“.108 Die Anspielung auf die in südenglischen Kleinstädten beliebte, als bieder geltende Ligusterhecke sollte deutlich machen, daß die Bemerkung gegen Thatcher gemünzt war, die von den Großen der Partei als typische Kleinstadt-Spießerin angesehen wurde. Andere Heath-Anhänger ließen sich ähnlich vernehmen. Whitelaw etwa mahnte: „To adopt narrowly based attitudes centred on one section of the community or one part of the country would be disastrous.“109 Walker sah die Gefahr, daß seine Partei in den Bunkern und Schlupflöchern einer engen Mittelstandspolitik Zuflucht suchen könnte.110 Noch deutlicher wurde Schattenschatzkanzler Carr, der schrieb: „[W]e must never become just a middle-class party. If we did, we might become a more cohesive party, but one condemned to permanent opposition.“111 Die Ansichten des Establishments der Konservativen Partei fanden ihren Widerhall in den Medien. Im Guardian hieß es, Thatchers MittelklasseImage bedeute die sichere Niederlage für die Tories bei den nächsten Parlamentswahlen.112 Der Daily Express urteilte, Thatcher sei „totally out of touch with anybody but carefully corseted, middle-class, middle-aged ladies“.113 Im Observer war zu lesen, die Politikerin habe „the unfortunate,

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THATCHER, Erinnerungen, S. 320. Vgl. auch Thatchers Rechtfertigung gegenüber der Presse, etwa in: The Times, 29. November 1974. Zit. nach COSGRAVE, Thatcher, S. 20. Siehe auch OGDON, S. 122. Beide Zitate nach PETER COCKERELL, Live from Number Ten, London 1988, S. 216. Daily Telegraph, 1. Februar 1975. Zit. nach RAMSDEN, Winds of Change, S. 446. Daily Telegraph, 29. Januar 1975. Guardian, 27. Januar 1975. Zit. nach COSGRAVE, Thatcher, S. 14.

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and probably unfair, image of a gracious middle-class matron who lives remote from the dust and toil of industrial Britain“.114 Im Sunday Mirror hieß es, sie sei „a limited, bossy, self-righteous and self-complacent woman“.115 Und die Financial Times bemerkte, daß Thatcher für jeden nördlich des Trent [des Flusses, der als Grenze zwischen Südengland und den Midlands gilt, D.G.] ebenso gut vom Mars kommen könnte.116 Fast alle Zeitungen sprachen sich für Heath aus, auch wenn sich die Begeisterung für den Parteichef in Grenzen hielt. Kein einziges Blatt bekannte sich zu Thatcher, die nur im Daily Telegraph und im Spectator Anhänger besaß.117 Auch das Oberhaus und die Parteibasis hielten loyal zum Parteichef. Am 3. Februar, dem Tag vor dem ersten Wahlgang, berichteten Vertreter der Lords und der National Union dem 1922 Committee, ihre Gremien hätten sich mehrheitlich für Heath ausgesprochen.118 Am Tag zuvor hatte auch Lord Home dem Amtsinhaber seine Unterstützung zugesagt.119 Heaths Problem bestand darin, daß weder Lord Home und die anderen Mitglieder des Oberhauses noch die Parteibasis oder die Journalisten bei der bevorstehenden Wahl eine Stimme hatten. Letztlich kam es nur auf die Entscheidung der konservativen Unterhausabgeordneten an. Bei denen jedoch war Heath im Januar 1975 unbeliebter denn je. Zur Kritik an seiner politischen Strategie gesellte sich immer öfter der Vorwurf, er sei abweisend, arrogant, spreche nicht mit einfachen Abgeordneten. Der Parteichef habe sich nicht genügend um die menschliche Seite der Politik gekümmert, schrieb einer seiner Anhänger im Rückblick: „[H]e wasted no time in gossip [. . .] and he would be unlikely to know the name of one’s wife. He was crippled by shyness.“120 Seine Gegner fanden, er sei nicht bloß zurückhaltend, sondern unnahbar und selbstherrlich.121 Selbst Heaths politische Freunde mußten zugeben, daß ihr Parteiführer Schwächen hatte, wenn er mit anderen Men-

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The Observer, 2. Februar 1975. Sunday Mirror, 9. Februar 1975. Financial Times, 31. Januar 1975. Der Economist drückte mit seiner Wahlempfehlung eine Stimmung aus, die viele teilten: „There should be no doubt in sophisticated Tory minds what the best result on Tuesday [dem Wahltag, D.G.] would be [. . .] The Party should cease havering and give its most forceful man the backing he needs [. . .] We say this as a newspaper which has held since the October election, and still holds, only lukewarm admiration for the leader of the opposition“; Economist, 1. Februar 1975. Siehe Guardian, 4. Februar 1975; vgl. auch RAMSDEN, Winds of Change, S. 447; THATCHER, Erinnerungen, S. 329–30. Vgl. The Times, 3. Februar 1975. CRITCHLEY, Bag, S. 142. Siehe zum Beispiel FOWLER, S. 8.

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schen kommunizieren sollte.122 Zudem ging das Gerücht, der Parteichef habe in den Jahren 1974 und 1975 an einer Schilddrüsenerkrankung gelitten, die längere Zeit nicht diagnostiziert worden war. Immer wieder soll er mitten in einem Gespräch oder Essen eingeschlafen sein, was seinen Mitmenschen als grobe Unhöflichkeit erscheinen mußte.123 Whitelaw schrieb im Februar 1975 an einen Parteifreund, in den vergangenen Wochen und Monaten habe der Parteiführer „an almost prison-like isolation“ entwickelt.124 Hinzu kamen Schwierigkeiten, die jeden Politiker plagen, der lange Zeit Parteiführer oder Regierungschef war. Alle ehrgeizigen Hinterbänkler, denen er kein Amt gegeben hatte, waren enttäuscht; jeder Minister oder Schattenminister, den er einmal entlassen hatte, grollte. Darüber hinaus murrten auch all jene Abgeordneten, die als Lohn für lange Dienste auf einen Adelstitel spekuliert hatten. Heath hatte mit der Tradition seiner Partei, derzufolge jeder Abgeordnete nach einer bestimmten Anzahl von Jahren im Unterhaus mit dieser typisch britischen Art der Ehrung rechnen konnte, gebrochen. Er wollte Adelstitel nur noch als Lohn für besondere Leistungen vergeben wissen. Etwa fünfzehn Abgeordnete – und deren Frauen – hätten sich aus diesem Grund von ihm zurückgesetzt gefühlt, vermutete Walker.125 Dementsprechend schwierig war es für Heath, sich loyale Unterstützung innerhalb der Fraktion zu sichern, zumal er sich als Parteiführer nicht allzu tief in die Niederungen eines Wahlkampfes begeben wollte. Er veranstaltete lediglich kurze Treffen mit einzelnen Abgeordneten in seinem Büro. Baker, einer der beiden Leiter seines Wahlkampfteams, erinnerte sich später, wie kontraproduktiv diese Gespräche waren: „[I]t was rather like being summoned to the Head-master’s study“, schrieb er, „one knew one was there for a purpose, it was rather uncomfortable, and the sooner it was over the better.“126 Noch unglücklicher fielen Heaths Versuche aus, in der Lobby des Unterhauses auf einmal jene Jovialität zu demonstrieren, die man so lange bei ihm vermißt hatte und die nicht seinem Temperament entsprach. Die Vertrauten des Parteichefs begannen derweil zu zählen, wieviele Stimmen auf ihn entfallen würden. Dabei gingen sie allzu offensichtlich vor, 122

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Prior etwa beschrieb Heaths Umgangsformen mit den Worten: „at times brusqueness amounting to rudeness, yet also the shyness of an introvert; and sometimes a reaction of great frustration that he could not always get through to people“; PRIOR, S. 39, 101. WAPSHOTT und BROCK, S. 145. Heath selbst bestritt später, 1974 unter krankheitsbedingten Ausfallerscheinungen gelitten zu haben; siehe HEATH, Course, S. 512. Brief von William Whitelaw an Peter Thorneycroft vom 13. Februar 1975, in: Thorneycroft Papers; MS 278 A 962/3/10. WALKER, Staying Power, S. 128–9; vgl. auch PHILIP NORTON, Conservative Dissidents. Dissent within the Parliamentary Conservative Party 1970–74, London 1978, S. 236. BAKER, S. 44.

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wie sich Norman Tebbit, der für das Thatcher-Team arbeitete, später erinnerte. „Ted Heath’s friends [. . .] too easily fell into the trap of putting junior colleagues into a position where answers were given to please rather than to inform.“127 Die Versuchung für einen ehrgeizigen Abgeordneten war groß, erst einmal mit „Ja“ zu antworten, wenn ihn die Heath-Leute fragten, ob er für den Parteiführer stimmen würde. Nach dem ersten Wahlgang konnte man im Economist lesen, einige Abgeordnete hätten verschämt zugegeben, ihr Name tauche auf den Listen aller drei Kandidaten als sichere Stimme auf.128 Auf der Grundlage dieser zweifelhaften Ergebnisse ihrer Befragungen gelangten Heaths Anhänger zu der Ansicht, ihr Kandidat werde im ersten Wahlgang überlegen gewinnen. Ihre Taktik bestand darin, die Siegessicherheit demonstrativ zur Schau zu stellen. Allen Abgeordneten, die darüber nachdachten, für Thatcher zu stimmen, sollte klar sein, wie aussichtslos ihr Unterfangen war. Neaves Mannschaft ging umgekehrt vor. Sie zog ihre Erkundigungen im Stillen ein. Manchmal wußten die Abgeordneten nicht, daß es ein Mitglied des Thatcher-Teams war, mit dem sie gerade über die bevorstehenden Wahlen gesprochen hatten. Neave erwies sich als glänzender Stratege und Taktiker.129 Gleichzeitig verbreiteten Thatchers Leute das Gerücht, sie rechneten mit rund siebzig Stimmen für ihre Kandidatin, weniger als ihre Erkundigungen in Wirklichkeit ergeben hatten. „We knew that a good many colleagues might want to get rid of Ted Heath but not necessarily to elect Margaret“, erklärte Tebbit später den Sinn dieser Aktion. Ziel war es, die Stimmen derjenigen zu gewinnen, die Thatcher wählen würden, damit Heath zurücktrat und im zweiten Wahlgang ein anderer Parteiführer bestimmt werden konnte. Um dies zu erreichen, mußten Thatchers Helfer einen Balanceakt vollführen: Ihre Kandidatin mußte auf der einen Seite stark genug erscheinen, um Heath schlagen zu können; aber auf der anderen Seite auch so schwach, daß ihr Sieg unmöglich erschien.130 Neaves Standardantwort auf die Frage nach Thatchers Aussichten lautete daher: „Margaret is doing well, but not quite well enough.“131

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TEBBIT, S. 179. The Economist, 25. Januar 1975. „[He] ran a brilliant campaign“, erinnerte sich Prior, dessen Dienstzimmer direkt gegenüber von Thatchers Büro lag, wo Neave sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. „There was a constant flow of MPs to see them, and I began to realize that these were drawn from a wide cross-section of the Party“; PRIOR, S. 99. Vgl. TEBBIT, S. 179. Zit. nach FISHER, Tory Leaders, S. 169.

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Thatcher selbst verfolgte vor dem ersten Wahlgang vier Ziele: Erstens versuchte sie, die Vorwürfe und Bedenken zu entkräften, die sich gegen ihre Person und gegen ihre Ansichten richteten. In einer Rede vor Parteiaktivisten in ihrem Wahlkreis in Finchley am 31. Januar erklärte sie: „Some people, in the Press and outside it, have not hesitated to impugn my motives, to attribute to me political views which I have never expressed and do not hold, and to suggest that the idea of a woman aspiring to lead a great party is absurd – a strangely old-fashioned view, I should have thought.“ Sie sei nicht die Vertreterin privilegierter Schichten, als die sie hin und wieder dargestellt werde. „You can forget all the nonsense about ‚defence of privilege‘ – I had precious little ‚privilege‘ in my early years.“ Wer behaupte, alle ihre Anhänger seien reaktionäre Rechte, erweise Heath einen Bärendienst, so Thatcher. Denn damit erkläre er implizit, daß die Anhänger des Parteiführers nur auf dem linken Parteiflügel zu finden seien.132 Zweitens bemühte sie sich, aus der verbreiteten Unzufriedenheit mit Heath Kapital zu schlagen. In einem Artikel im Daily Telegraph sprach sie die beiden Wahlniederlagen an, die ihre Partei unter seiner Führung 1974 erlitten hatte: „To deny that we failed the people is futile as well as arrogant. Successful governments win elections. So do parties with broadly acceptable policies. We lost.“ Die Niederlagen waren kein ungefährliches Thema für Thatcher, hatte sie doch als Ministerin an der Formulierung der Regierungspolitik mitgewirkt. Sie griff diesen Punkt von sich aus auf, indem sie schrieb: Two electoral defeats in a year do not represent total disaster; but they could prove to be the beginning of a disastrous decline unless Conservatives have the courage and humility to examine the reasons for their defeat [. . .] I was a member of the last Conservative Cabinet, from 1970 to 1974, with a share in the collective responsibility for its policies. It seems to me that this involves a further responsibility – to recognise the failures and to try to see that the mistakes are not repeated.133

Die Botschaft dieser Sätze war klar: Während Heath an der Politik festhielt, die in die Niederlage geführt hatte, wollte Thatcher aus den Fehlern lernen. Er stand für Stagnation, sie für einen Neuanfang. In einem offenen Brief an den Parteivorsitzenden ihres Wahlkreises vom 1. Februar spielte sie geschickt auf eine weitere Schwäche des Parteiführers an, indem sie schrieb, sie stehe für „leadership that listens“. Der größte Fehler der Vergangenheit habe darin bestanden, zu wenig auf die Sorgen und Vorschläge der Partei-

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Vor Aktivisten der Finchley and Friern Barnet Conservative Association am 31. Januar 1975, zit. nach GARDINER, S. 223–5 (S. 224). Daily Telegraph, 30. Januar 1975.

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basis gehört zu haben. Der Appell, man müsse den Dialog in der Partei öffnen und ein breiteres Spektrum von Begabungen in die Parteiarbeit einbeziehen, sollte alle diejenigen ansprechen, die sich in der Vergangenheit von Heath zurückgesetzt gefühlt hatten. „To listen and to lead – that is our role“, faßte sie ihr Verständnis von der Aufgabe eines Parteichefs zusammen.134 Das dritte Thema, das Thatcher in ihren Reden immer wieder aufgriff, war die Forderung nach einer Rückkehr zu konservativen Grundwerten. In der Rede in Finchley erklärte sie : In the desperate situation of Britain today, our party needs the support of all who value the traditional ideals of Toryism: compassion and concern for the individual and his freedom; opposition to excessive State power; the right of the enterprising, the hard-working and the thrifty to succeed and to reap the rewards of success and pass some of them on to their children; encouragement of that infinite diversity of choice that is an essential of freedom; the defence of widely-distributed private property against the Socialist State; the right of man to work without oppression by either employer or trade union boss.

Es gebe ein weitverbreitetes Gefühl im Lande, so Thatcher, daß die Konservative Partei diese Ideale nicht entschieden genug verteidigt habe, daß Großbritannien deswegen auf eine schiefe Bahn geraten sei und zu sozialistischer Mittelmäßigkeit abzurutschen drohe. „That course must not only be halted“, erklärte sie, „it must be reversed.“135 In diesem Zusammenhang nahm sie den Vorwurf, sie repräsentiere lediglich die engen Klasseninteressen der Mittelschichten, offensiv auf. In dem schon zitierten Artikel im Daily Telegraph schrieb sie: [I]f „middle-class-values“ include the encouragement of variety and individual choice, the provision of fair incentives and rewards for skill and hard work, the maintenance of effective barriers against the excessive power of the State and a belief in the wide distribution of individual private property, then they are certainly what I am trying to defend. This is not a fight for „privilege“; it is a fight for freedom – freedom for every citizen.136

Viertens schließlich wollte Thatcher den Eindruck vermitteln, sie verkörpere das neue Selbstbewußtsein, den wiedergefundenen Mut zum Angriff, den ihre Partei in den letzten Monaten so schmerzlich vermißt hatte. Heath sollte im Vergleich mit ihr als ein Mensch erscheinen, der zwar oft von

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Schreiben an Councillor N.J. Sapsted, Vorsitzender der Finchley and Friern Barnet Conservative Association vom 1. Februar 1975, abgedruckt bei GARDINER, S. 225–6. Ansprache vor der Finchley and Friern Barnet Conservative Association am 31. Januar 1975, zit. nach GARDINER, S. 223–5 (S. 225). Daily Telegraph, 30. Januar 1975.

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Führung redete, in Wirklichkeit aber unter dem Druck der Ereignisse ständig zurückwich. Am wirkungsvollsten gelang ihr die Demonstration dieser Eigenschaften am Vorabend der Wahl in der Fernsehsendung World in Action. Die Entscheidung, dort aufzutreten, bewies Mut.137 Aber die Risikobereitschaft machte sich bezahlt, denn die Politikerin wurde nicht nur fair behandelt, sondern erhielt zudem die Möglichkeit, sich vor großem Publikum schlagfertig und angriffslustig zu zeigen. Auf die Frage etwa, warum die Tory-Abgeordneten am nächsten Tag für sie stimmen sollten, antwortete sie: „They know I don’t flinch from attack. I can and do attack quite vigorously when it is needed.“138 Nicht wenige ihrer AbgeordnetenKollegen, die sich in den Gängen des Unterhauses vor den Fernsehschirmen drängten, hörten Sätze wie diesen mit Hoffnung. Auch das Presseecho war positiv. Die Times pries Thatchers Charme, ihre Bescheidenheit und stellte fest, daß ihre Anhänger schon immer gesagt hätten, sie trete im Fernsehen gekonnter auf als Heath. Selbst der Guardian, ansonsten kein Freund der Politikerin, konstatierte: „Her family apparently think that television doesn’t do her justice, but she has resourcefully picked it up and used it like a pistol.“139 Es wird nie endgültig zu klären sein, ob es Thatchers temperamentvolle Auftritte oder Neaves taktische Winkelzüge waren, die letztlich den Ausschlag gaben. Fest steht, daß am Dienstag, den 4. Februar 1975, die Sensation gelang: Im ersten Wahlgang entfielen auf Thatcher 130 Stimmen, auf Heath 119 und auf Fraser 16; elf Abgeordnete enthielten sich. Zwar fehlten der Politikerin aufgrund des neuen Wahlmodus’ 31 Stimmen zum Sieg, ein zweiter Wahlgang war erforderlich. Aber sie lag doch klar vorn und hatte den amtierenden Parteichef deutlich geschlagen. Heath mußte das Votum der Fraktion akzeptieren. Er trat unverzüglich zurück. Für den zweiten Wahlgang durften sich neue Bewerber melden. Vor allem Heaths politische Freunde, die im ersten Wahlgang aus Loyalität zu ihm nicht kandidiert hatten, traten jetzt hervor. Der aussichtsreichste unter ihnen war der Parteivorsitzende Whitelaw, der Wunschkandidat all jener im Parteiestablishment, die Heaths politische Linie weiterhin für richtig hielten, aber glaubten, daß dieser zu viele Gegner hatte, um durchhalten zu können. Auch Prior, John Peyton und Geoffrey Howe waren aus Verbun137

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The Observer zum Beispiel urteilte: „Since Mrs Thatcher probably ranks somewhere near the Chilean junta in World in Action’s scale of affection, it seemed possible they were examining her as a toxic phenomenon. Perhaps it was assumed that mere exposure would suffice“; The Observer, 9. Februar 1975. Zit. nach COCKERELL, S. 217. The Times, 4. Februar 1975; The Guardian, 4. Februar 1975.

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denheit mit Heath zunächst nicht angetreten und fühlten sich jetzt frei, ihre Chancen zu erproben, auch wenn ihre Erfolgsaussichten gering waren.140 Thatcher mußte befürchten, daß zahlreiche Abgeordnete im ersten Wahlgang nur für sie votiert hatten, um Heath zum Rücktritt zu zwingen. Deren Stimmen würden im zweiten Wahlgang wahrscheinlich auf Whitelaw entfallen. Mit den Anhängern Frasers, der seine Kandidatur nach dem ersten Wahlgang zurückgezogen hatte, konnte sie nicht rechnen, denn er hatte dazu aufgerufen, im zweiten Wahlgang für Whitelaw zu stimmen. Die konservativen Lords im Oberhaus ließen wissen, zwei Drittel von ihnen unterstützten Whitelaw.141 Dennoch erreichte die Politikerin im zweiten Wahlgang am 11. Februar die erforderliche Mehrheit. Sie erhielt 146 Stimmen, Whitelaw 79, Prior und Howe jeweils 19 und Peyton elf. Thatchers Wahl zur Parteiführerin ist meist nicht als ihr Sieg, sondern als Heaths Niederlage gedeutet worden.142 Diese Interpretation ist sicherlich richtig. Freilich erklärt sie nur den Sieg im ersten Wahlgang. Im zweiten stand Heath jedoch nicht mehr zur Wahl, die Abgeordneten hätten sich problemlos für Whitelaw oder einen der anderen Kandidaten entscheiden können. Vier Faktoren waren ausschlaggebend dafür, daß Thatchers Anhängerschaft nicht schmolz, sondern sogar noch um 16 Stimmen anwuchs. Erstens war sie mit einem Mal von einer Außenseiterin zur Favoritin geworden. Als die National Union dem 1922-Komitee am 10. Februar das Ergebnis ihrer jüngsten Umfrage unter Parteiaktivisten mitteilte, war die Stimmung an der Basis umgeschlagen. Mehrheitlich sprachen sich die Mitglieder jetzt für Thatcher aus. Reihenweise schwenkten die Ortsvereine, die zuvor für Heath votiert hatten, zu ihr um.143 Auch in der Labour-Partei glaubte man inzwischen an ihren Sieg. Industrieminister Tony Benn vertraute am 5. Februar seinem Tagebuch an, er rechne damit, daß sie ihre männlichen Kontrahenten hinwegfegen werde, schon allein deshalb, weil der ganze Wahlkampf zu einer rein negativen „Stoppt Thatcher-Kampagne“ geworden sei, was ihr große Sympathien einbringen müsse.144 140 141 142

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Howe gab als Grund für seine Kandidatur an: „[I wanted] to stake a claim to front- rather than middle rank rating in the next stage of Conservative politics“; vgl. HOWE, S. 92. The Times, 11. Februar 1975. „She won because she was not Heath“, schrieb etwa BLAKE, Conservative Party, S. 320–32. Nigel Lawson behauptete: „[I]t was more a rejection of Ted – on personal and political grounds alike – than a positive endorsement of her“; LAWSON, S. 13. Stellvertretend für viele andere siehe auch HARRIS, Thatcher, S. 32; Prior, in: YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 30. John Ramsden, der die Protokolle dieser Ortsvereine ausgewertet hat, gelangt zu dem Ergebnis, im zweiten Wahlgang sei Thatcher auf einmal zur Kandidatin des Establishments geworden; RAMSDEN, Winds of Change, S. 452–3. Siehe auch The Times, 11. Februar 1975. Tagebucheintrag vom 5. Februar 1975, in: BENN, Conflict, S. 311.

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Zweitens scheinen viele Tory-Abgeordnete ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber der Politikerin verspürt zu haben, die Heaths Abwahl durch ihre mutige Kandidatur ermöglicht hatte.145 Prior schrieb später: „Her courage in opposing Ted went down well in the Party.“ Wer wie er nicht im ersten, sondern erst im zweiten Wahlgang angetreten sei, so Prior, dem hätten Thatchers Anhänger Feigheit vorgeworfen.146 In der Tat konnte man im Daily Telegraph, der sich inzwischen als einzige Tageszeitung offen zu Thatcher bekannte, lesen: „A whole gang of faint hearts left it to a courageous and able woman. If they ganged up to deny her her just reward it would smell.“147 Folgte man der Argumentation der Zeitung, so war es ein Gebot der Fairneß, im zweiten Wahlgang für Thatcher zu stimmen, auch wenn man nicht zu ihren Anhängern zählte. Drittens mag eine leise Skepsis an der Eignung Whitelaws für das höchste Parteiamt eine Rolle gespielt haben. Der Politiker war zwar liebenswürdig und allgemein geachtet – der ideale Mann, um eine gespaltene Partei zu versöhnen. Aber ob seine freundliche, verbindliche Art geeignet war, der Labour-Partei wirkungsvoll Paroli zu bieten, bezweifelten manche.148 Außerdem identifizierten die Abgeordneten Whitelaw allzu sehr mit seinem Freund Heath, den sie doch gerade abgewählt hatten.149 Whitelaw selbst spürte diese Verdrossenheit. „In their present mood the party was determined to sweep away Ted and everything to do with him“, schrieb er zwei Tage nach seiner Niederlage an einen Parteifreund. „The party wanted a new start and they have got one.“150 Der Wunsch nach einem Neuanfang war der vierte – und entscheidende – Grund, warum Thatcher sich gegen Whitelaw durchsetzte. „Mr Whitelaw will keep the Tory Party on the same course as the one it has now been steering for some years“, hieß es im Leitartikel der Times am Wahltag. „Mrs Thatcher will bring about a sharp change of direction.“151 Die ToryFraktion entschied sich gegen die Sicherheit des Altbekannten, die sie mit Whitelaw verband, und für einen Aufbruch ins Ungewisse. Der Wunsch zu erfahren, wohin der neue Weg führe, war bei den konservativen Abgeord145 146 147 148 149 150 151

„Margaret had won above all because [. . .] she had had the guts to offer her colleagues the choice“, schrieb HOWE, S. 93. PRIOR, S. 100. Daily Telegraph, 6. Februar 1975. So jedenfalls THATCHER, Erinnerungen, S. 332. „I did not vote Ted out in order to have Willie thrust on me“, bekannte ein Hinterbänkler; zit. nach ALAN WATKINS, Mrs Thatcher’s Bandwagon, in: New Statesman, 7. Februar 1975. Brief von William Whitelaw an Peter Thorneycroft vom 13. Februar 1975, in: University of Southampton/Hartley Library, Thorneycroft – Private Papers; MS 278 A 962/3/10. The Times, 11. Februar 1975.

2. Der Aufstieg Margaret Thatchers

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neten zu diesem Zeitpunkt weniger ausgeprägt als das Bedürfnis, die ausgetretenen Pfade zu verlassen – egal in welche Richtung. Thatcher erschien ihnen als Garantin des Aufbruchs. Sie hatte in den Wochen zuvor Mut, Entschlossenheit und Angriffslust bewiesen, genau die Tugenden, die in der Vergangenheit bei Heath vermißt worden waren. Selbst ihre innerparteilichen Gegner mußten diese Stärken anerkennen.152 Mehr als alle anderen Kandidaten habe sie Zuversicht und Gewißheit ausgestrahlt, räumte einer von ihnen ein. „Amidst the shambles and doubts of that time, here was one person who could articulate a point of view with conviction.“153

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„[I]t was impossible to withhold admiration for her fantastic determination and energy“; schrieb ANTHONY MEYER, Stand Up and Be Counted, London 1990, S. 73. PYM, S. 5; ähnlich auch FISHER, Tory Leaders, S. 181–2.

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Prolog: Thatchers Wahl zur Parteiführerin

1. Thatchers politischer Stil

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I. DER THATCHER-FAKTOR 1. THATCHERS POLITISCHER STIL A)

DIE MACHT DES WORTES

Die neue Parteiführerin hatte sich zwar innerhalb der Tory-Fraktion im Unterhaus einige Popularität erworben. Aber nicht einmal den konservativen Abgeordneten, geschweige denn einer breiteren Öffentlichkeit war klar, wofür sie eintrat, wie ihre politischen Ziele lauteten. Selbst ihre wenigen Anhänger waren nicht sicher, für welche Inhalte sie stand.1 Für die meisten Briten war sie ein unbeschriebenes Blatt. „We know about the hair-do’s, but what about the politics?“, fragte die Sunday Times nach Thatchers innerparteilichem Wahlsieg süffisant.2 Ihr Selbstbewußtsein und ihre Energie seien bekannt, befand der Observer in einem Artikel mit der Überschrift „Auf der Suche nach Margaret Thatcher“. Unsicher sei hingegen, wo sie politisch stehe und wohin sie die Konservative Partei führen werde.3 „No doubt Mrs Thatcher and her colleagues will quickly work out what Thatcher-type Toryism is really about“, hieß es in der Sun. „What is important to all of us is that they should once again be clearly seen to be standing for something.“4 Wenn die Politikerin bei den nächsten Wahlen zur Premierministerin gewählt werden wollte, mußte sie den Parteimitgliedern und Wählern in der Tat vermitteln, wofür sie eintrat, woran sie glaubte, wie sie ihr Land und ihre Partei aus der Krise führen wollte. Labours Mehrheit im Unterhaus war so dünn, daß die Tories jederzeit mit Neuwahlen rechnen mußten. Um so drängender stellte sich für die neue Parteiführerin das Problem, sich im Land bekannt und ihre Partei wieder populär zu machen. Die Konservativen benötigten nicht nur eine Zukunftsvision und die richtige Politik, betonte sie in ihrer ersten Ansprache als Parteiführerin. Sie müßten diese Politik auch ansprechend präsentieren.5

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„She was almost unknown“, schrieb ein früher Anhänger Thatchers im Rückblick. „Outside the world of education, of which she had been Secretary of State, few knew anything of her“; RIDLEY, S. 11. Sunday Times, 16. Februar 1975. The Observer, 16. Februar 1975. The Sun, 12. Februar 1975. „It is no good having a first class product unless people know about it. And they won’t know about it unless we tell them about it“; Antrittsrede auf der Parteiversammlung im EuropaHotel in London am 20. Februar 1975: News Service 143/75.

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I. Der Thatcher-Faktor

Eine besonders wichtige Rolle spielten in den Oppositionsjahren daher Thatchers Reden, auf deren Ausarbeitung sie besondere Sorgfalt verwandte. Freilich eigneten sich nicht alle Ansprachen, die sie als Parteiführerin zu halten hatte, gleichermaßen dafür, ihre politischen Ideen und einen eigenen Stil zu entwickeln. Da gab es zunächst einmal jene Stegreif-Ansprachen und Grußworte, für die sie, wie jeder Politiker, auf ein Arsenal erprobter Versatzstücke zurückgriff und die sie ohne ausgearbeiteten Redetext, höchstens mit einem Stichwortzettel in der Hand hielt.6 Eine zweite Art von Reden waren die Unterhausreden, deren Text sie, wie andere führende Politiker auch, vorab an die Presse verteilen ließ. Auch diese Ansprachen taugten meist nicht, um prinzipielle Überlegungen anzustellen. Wegen der konfrontativen Atmosphäre des britischen Parlaments konnte kaum ein Politiker jemals seine Rede zu Ende bringen, ohne durch Zwischenrufe oder spöttische Bemerkungen unterbrochen zu werden. Wer dort sprach, war gut beraten, schlagfertig und angriffslustig auf gegnerische Politiker loszugehen und keine grundsätzlichen Fragen zu erörtern. Auf alles, was auch nur entfernt an einen akademischen Vortrag erinnerte, reagierte das Unterhaus allergisch.7 Was blieb, waren große Festansprachen und politische Reden vor Parteigliederungen und Bürgern überall im Lande. Diesen Gelegenheiten widmete sich die Politikerin mit außergewöhnlicher Sorgfalt. Sie verwandte auf die Zusammenarbeit mit ihren Redenschreibern mehr Zeit und Energie als andere Politiker. Der Schriftsteller und Redenschreiber Ronald Millar, der zuvor für Heath gearbeitet hatte, verglich die Herangehensweise der beiden: „Ted Heath used to discuss a speech with his speechwriter. The guy would write it. Ted would read it. Right. Fine. That was it. For Margaret there are endless drafts and redrafts and revisions of the redrafts, all of which adds up to an awful lot of typing.“8 Am Anfang stand die Suche nach einem passenden Thema, die sich oft über Wochen erstrecken konnte. Hatte sich die Politikerin entschieden, las sie, was ihr zu der Frage in die Hände fiel, und hörte sich nach Ideen um. Dann folgte ein langes Gespräch mit dem Redenschreiber, in dem sie ihre Vorstellungen erläuterte und dem Betreffenden die mit Kommentaren ver-

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Vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 354. So zumindest LAWSON, S. 254; vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 354. In der Edition von Thatchers gesammelten Reden, die 1997 erschienen sind, finden sich denn auch unter 59 abgedruckten Reden lediglich sechs Unterhaus-Ansprachen – bezeichnenderweise allesamt zum Falklandkrieg; siehe THATCHER, Collected Speeches. Zit. nach MAYER, S. 21. Die Entstehung einer Thatcher-Rede sei ein komplexer und mysteriöser Vorgang gewesen, schrieb Millar in seinen Erinnerungen: „Its origin was part design, part accident“; MILLAR, S. 275.

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sehenen Photokopien übergab, die sie selbst durchgearbeitet hatte. Nachdem der Schreiber den ersten Entwurf verfaßt hatte, traf man sich ein zweites Mal. Meist wurde der erste Versuch zerpflückt und verworfen. Es folgten ein zweiter, dritter, vierter Entwurf. Egal, wie aufreibend dies für sie oder ihre Helfer sein mochte – an dem Text wurde so lange gefeilt, bis sie zufrieden war.9 Häufig fand die Endredaktion erst in der Nacht statt, bevor die Rede zu halten war. Sie könne sich am besten konzentrieren, wenn sie unter Termindruck stehe, sagte die Politikerin in einem Interview; ihre Mitarbeiter drängten sie immer, ihre Reden drei Tage vor der Zeit fertig zu haben, aber dazu sei sie nicht in der Lage.10 Mit der Zeit begannen die Redenschreiber, sich mit Thatchers Arbeitsweise abzufinden. Charles Powell, später lange Zeit ihr engster außenpolitischer Berater, verfaßte schließlich sogar eine Liste mit nützlichen Tricks für alle, die an Thatchers Reden mitschrieben. Die erste Regel lautete: Schreib niemals etwas Wichtiges in den ersten Entwurf; er wird ohnehin abgelehnt werden. Die zweite besagte: Behalte Dir Deine wirkliche Gliederung für den zweiten Entwurf vor; dem ersten wird sowieso vorgeworfen werden, er habe keine. Immer Rudyard Kiplings gesammelte Werke griffbereit haben, so die dritte Regel. Die vierte hieß: Schreibe niemals einen Schlußabsatz, bis die Zeit so gut wie abgelaufen ist, sonst wird er zurückgewiesen. Die fünfte und letzte Regel lautete: Mach Dich darauf gefaßt, bis sechs Uhr morgens wachzubleiben.11 Nicht alle Helfer waren davon überzeugt, daß diese Arbeitsweise sinnvoll, geschweige denn effektiv war. Ihr späterer außenpolitischer Chefberater Percy Cradock fand, für Thatcher Reden zu schreiben, sei eine Tortur gewesen. Die Politikerin habe keinerlei Gespür für Rhythmus und Sprache, und schon nach der zweiten Überarbeitung hätten die Sätze jede Lebendigkeit und Spritzigkeit verloren. Am Ende eines langen, zermürbenden Prozesses würde sich vor lauter Müdigkeit dann keiner mehr darum scheren, welche Worte man letztlich verwendete.12 1978 forderte einer ihrer Redenschreiber verzweifelt:

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So Patrick Cosgrave, der seit Anfang 1975 zu ihren Beratern zählte; siehe COSGRAVE, Thatcher, S. 26. The Times, 19. Mai 1975. Oft wurden Kollegen, Helfer und Vertraute zu diesen Nachtsitzungen dazugebeten. Norman Tebbit erinnerte sich an ein Treffen, das sich bis drei Uhr nachts erstreckte, ohne daß ein Ende abzusehen war: „I was beginning to wilt and was caught in the midst of a great yawn. You’re not very bright tonight, Norman’, she commented. ‚It’s not tonight‘ I said rather huffily, ‚it’s tomorrow bloody morning‘“; TEBBIT, S. 146. Die Powell-Regeln sind zitiert bei MILLAR, S. 281. PERCY CRADOCK, In Pursuit of British Interest. Reflections on Foreign Policy under Margaret Thatcher and John Major, London 1997, S. 21.

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[S]omething must be done, and done quickly, about Margaret’s speech-writing machinery. Last week, she asked Alfred [Sherman, D.G.] to compose a piece on conscience for an American luncheon. She rejected his first draft and asked me to produce another according to a carefully-discussed scheme. I did so, and this was in turn rejected. She then invited another draft from Alfred, but insisted on discussing my draft with me for three hours at the end of which she decided on a completely new structure, of which Alfred was informed at ten o’clock at night. This is madness.13

Thatcher selbst gab später zu, daß Redenschreiben auch für sie eine Qual sei. „[W]hen it comes to writing down a speech, I don’t like doing it“, erzählte sie einem Vertrauten. „I find it awkward and rather difficult.“14 Die komplizierte Routine des Schreibens und Redigierens erfüllte jedoch, allen Redundanzen zum Trotz, ihren Zweck: Thatcher, die über einen klaren analytischen Verstand, aber über wenig Sprachgefühl verfügte, brachte mit Hilfe der „Wortschmiede“, wie sie die Redenschreiber nannte, ihre Gedanken in eine ansprechende Form, ohne dabei die Kontrolle über das zu verlieren, was sie sagte. Ausgearbeitete Entwürfe zu redigieren, fiel ihr leichter, als selbst einen Text zu schreiben.15 Die Politikerin legte Wert darauf, daß alles, was sie in ihren Reden sagte, nicht nur ihren Ansichten entsprach, sondern auch zu ihrer Persönlichkeit paßte. „It’s fine dear, but it’s not me“, lautete ihre Standardfloskel, wenn ihr eine Textpassage nicht gefiel.16 Jedes Wort durchlief erst ihre Kritik, bevor es sich in einer Rede wiederfand. „It’s most important that the words on your lips are your words“, sagte sie, „that they express your feelings from the pit of your guts, that they mirror the stuff of which you are made.“17 Die Politikerin achtete sorgfältig auf die logische Stringenz ihrer Reden. Unter keinen Umständen habe sie jemals einen Entwurf akzeptiert, von dessen gedanklicher Geschlossenheit sie nicht völlig überzeugt gewesen sei, so ein Berater.18 Oft organisierte sie inoffizielle Seminare zu bestimmten 13 14 15

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Schreiben T. E. Utleys vom 6. Dezember 1978, in: Sherman Papers, Box 19, Folder 4. Zit. nach GEORGE ROBERT URBAN, Diplomacy and Disillusion at the Court of Margaret Thatcher: An Insider’s View, London 1996, S. 41. „[O]nce a speech has been written for me, I’ve got something to sink my teeth into“, erklärte sie. „I can recast it, I can reorganize it. I can throw out a paragraph, bring in a bit from someone else’s draft, rephrase the language and taste the words I’m going to use [. . .] That is why I need help. Once I’ve got that, I revivify the argument, I recycle the thinking and make them my own. But I must first have a text in front of me“; zit. nach ebd., S. 41. MILLAR, S. 278. Zit. nach URBAN, S. 41; vgl. auch THATCHER, Downing Street, S. 432. Thatcher sei die treibende Kraft hinter jeder Rede gewesen, bestätigte Millar, „its coronary artery was hers. Her views, her opinions, her kind of language and her guidance were behind every contentious syllable“; MILLAR, S. 283. COSGRAVE, Thatcher, S. 25.

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Themen, deren Ergebnisse nicht in ein Strategiepapier oder in eine politische Entscheidung, sondern in eine größere Rede mündeten. In ihren Memoiren schrieb sie: [Diese Arbeitssitzungen mit den Redenschreibern] sind für mich Gelegenheiten, kreativ und politisch zu denken sowie umfassendere Gedankengänge zu entwerfen und bestimmte politische Maßnahmen in sie einzupassen. Oft stützte ich mich auf Sätze und Gedanken aus diesen Arbeitssitzungen, wenn ich frei sprach [.. .] oder in Fernsehinterviews Antworten gab.19

Diese Interviews, nicht nur im Fernsehen, sondern auch in Zeitungen und im Rundfunk, waren neben den politischen Reden das zweite wichtige Kommunikationsmittel, mit dessen Hilfe sich die neue Parteiführerin im Lande bekannt machte. Anders als beim Redenschreiben mußte sie im direkten Gespräch mit einem Journalisten selten nach Worten ringen.20 Brian Connell von der Times, der im Mai 1975 eines der ersten großen Interviews mit der neuen Tory-Chefin führte, schrieb, Thatcher verfüge über eine bemerkenswerte gedankliche und sprachliche Klarheit. „The sentences come out fully turned, logical and consequential. There are few repetitions or pauses. The more she gets into her subject, the straighter she sits up, hands clasped in her lap, with the occasional downward glance in search of the exact phrase. The sheer quickness and organization of her mind is impressive.“21 Hinter Thatchers zunehmend selbstbewußtem Auftreten vor Fernsehkameras und in Zeitungsredaktionen verbarg sich minutiöse, sorgfältige Vorbereitung. Jahre später berichtete sie einem Vertrauten, wie sie sich für ein großes Fernsehinterview zu rüsten pflegte: I mobilized everyone who could possibly help me. I called the best brains from government departments – the Foreign Office, the Ministry of Defence, the General Staff, the Treasury – they all had to come and advise me, putting before me every scrap of information I might need [. . .] During the dry runs I insisted on mounting, they put the trickiest questions to me and I had to answer them thinking on my feet. Also, I read all the relevant papers, which were legion [. . .] There was a lot of homework in it, you know.22

Wie bei ihren Reden legte Thatcher auch in ihren Interviews und bei anderen Auftritten in der Öffentlichkeit großen Wert darauf, daß ihr Charakter beim Publikum ankam. „You can’t alter your personality“, sagte sie in einem

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THATCHER, Downing Street, S. 432. Vgl. URBAN, S. 41. The Times, 19. Mai 1975. Zit. nach URBAN, S. 42. In den Oppositionsjahren verwandte die Politikerin ähnlich viel Energie und Zeit auf die Vorbereitung ihrer Fernsehauftritte – allerdings mit Hilfe eines sehr viel kleineren Stabes.

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I. Der Thatcher-Faktor

Interview. „You just can’t. You don’t try to.“ Freilich war sie auf der anderen Seite auch nicht daran interessiert, tatsächlich so, wie sie war, mit allen Fehlern und Unzulänglichkeiten, dem Publikum präsentiert zu werden: „If you discovered some irritating mannerism that you didn’t previously know about, of course you’d try to get rid of them, because if you don’t people will be distracted by them and not listen to what you’re saying.“23 In ihren Erinnerungen schrieb sie, jeder Politiker müsse sich entscheiden, inwieweit er zu einer Veränderung von Auftreten und äußerer Erscheinung um der Medien willen bereit sei. „Es mag ja fürchterlich ehrenwert klingen, wenn man derlei Konzessionen ablehnt, aber wer in der Öffentlichkeit tätig ist, verrät damit eher mangelnden Willen zur Macht“.24 Wenn Thatcher sagte, sie wolle den Wählern als sie selbst gegenübertreten, meinte sie damit ein Idealbild ihrer selbst, das sie mit ihrer Wahl zur Parteichefin neu entwarf. Facetten ihrer Persönlichkeit und Biographie, die ihrer neuen Aufgabe und ihrer politischen Botschaft nicht mehr entsprachen, wurden unterdrückt. So pflegte sie auf den Vorwurf, sie sei eine privilegierte Vertreterin des wohlhabenden Mittelstandes, mit dem Verweis auf die kleinbürgerlichen Verhältnisse zu antworten, denen sie entstammte. Daß sie alles getan hatte, um diesen Umständen zu entkommen, daß sie einen reichen Mann geheiratet und ihre Kinder auf die teuersten Privatschulen geschickt hatte, blieb unerwähnt.25 Auch alle Äußerlichkeiten, die ihre Wähler irritieren mochten, wurden durch harte Arbeit und eiserne Selbstdisziplin ausgemerzt. Als erste britische Politikerin beschäftigte sie einen Imageberater, den Fernsehproduzenten Gordon Reece, der ihr zum Beispiel riet, keine Hüte mehr zu tragen, um dem Image der reichen Vorstadtdame entgegenzuwirken.26 Gemeinsam mit Reece arbeitete sie vor allem an ihren Auftritten im Fernsehen. Denn so überzeugt sie davon war, daß diesem Medium entscheidende Bedeutung für ihren langfristigen Erfolg zukommen würde, so unzufrieden war sie zunächst mit ihrer Erscheinung auf dem Bildschirm. Ein britischer Fernsehjournalist erinnerte sich an einen Auftritt der damaligen Erziehungsministerin aus dem Jahr 1970, bei dem sie in einem Park zu sehen war, umgeben von spielenden Kindern: „She was saying ‚I believe you should have a choice for your children‘ and gave the impression she hoped

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The Observer, 25. Februar 1979. THATCHER, Erinnerungen, S. 351. Vgl. CAMPBELL, Thatcher, S. 1–3. Daily Mail, 24. Januar 1975. Vgl. hierzu und zum folgenden JUNOR, Thatcher, S. 102; THATCHER, Erinnerungen, S. 352.

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they wouldn’t be sick all over her dress.“27 Noch in den ersten Monaten nach ihrem Amtsantritt als Parteichefin, erinnerte sich ein anderer Journalist, habe sie sich verhalten wie ein afrikanischer Buschmann, der zum ersten Mal eine Kamera sieht und fürchtet, sie werde seine Seele stehlen.28 Sie könne sich im Fernsehen einfach nicht natürlich verhalten, gestand sie in einem Zeitungsinterview vor ihrem ersten Parteitag als Tory-Chefin. „So far I have found it very difficult to feel relaxed in front of television cameras. [. . .] I’m not an actor.“29 Erst nach vielen Übungsstunden mit Reece begann sie, sich sicherer zu fühlen. Dabei unterschied sie sorgfältig zwischen Inhalt und Verpackung. Sein Job bestehe darin, Thatcher der Nation zu präsentieren, beschrieb Reece seine Aufgabe. Er habe nichts mit dem Inhalt ihrer Reden zu tun.30 Wenn dies auch eine vornehme Untertreibung war, trifft sie doch einen wahren Kern: So bereitwillig Thatcher Details ihres Lebenslaufes und ihr äußeres Erscheinungsbild den Erfordernissen ihrer neuen Aufgabe und den vermeintlichen Wünschen der Wählerschaft anpaßte, so kompromißlos blieb sie, was die politischen Aussagen anbetraf, mit denen sie sich an die Briten wandte. Einem Mitarbeiter der Werbeagentur Saatchi and Saatchi, die 1979 ihren Wahlkampf leitete, soll sie bei der ersten Begegnung gesagt haben: „If by any chance you have the skills to dupe the people, please do not use them on my behalf. If they don’t want me, I don’t want to be elected, because if they don’t want me, it won’t work.“31 B)

KRISE, CHARISMA UND FÜHRUNGSKRAFT

Im Jahr vor Thatchers Wahl zur Führerin der Konservativen Partei veröffentlichte der britische Politologe Dennis Kavanagh eine Studie mit dem Titel Crisis, Charisma and British Political Leadership.32 Darin stellte er die These auf, Großbritannien sei ein Land, das nur in Krisenzeiten starke politische Führer akzeptiere, sich in normalen Zeiten dagegen durch eine herzliche Abneigung gegen dynamische Führungsfiguren auszeichne. Kavanagh führte dies auf vier Gründe zurück: Erstens fehlten dem britischen Premierminister jene sichtbaren Insignien der Macht, über die etwa der ame27 28 29 30 31 32

Zit. nach COCKERELL, S. 213. Ebd., S. 220. The Observer, 12. Oktober 1975; vgl. auch COSGRAVE, Thatcher, S. 209. Zit. nach Daily Telegraph, 3. Oktober 1975. Zit. nach RANELAGH, S. 214. DENNIS KAVANAGH, Crisis, Charisma and British Political Leadership, London, Beverly Hills 1974.

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rikanische Präsident verfüge und die in Großbritannien dem Monarchen vorbehalten blieben. Zweitens komme der Premier aus den Reihen der Unterhausabgeordneten, habe sein politisches Geschick daher stets auf dem parlamentarischen Parkett und nirgendwo sonst unter Beweis gestellt. Wer außerhalb des Parlaments politisches Talent entfalte, sei im britischen System chancenlos. Drittens gebe es in seinem Land keine Tradition heroischer, charismatischer und populistischer Führergestalten wie etwa in Frankreich oder den Vereinigten Staaten. Das schwach entwickelte Staatsbewußtsein und die selbstbewußte Bürgergesellschaft Großbritanniens gäben einen denkbar schlechten Nährboden für „große Männer“ ab. Viertens schließlich sorge die relative Abgeschlossenheit der britischen politischen Klasse und ein gut entwickeltes Patronagesystem dafür, daß nur Politiker an die Spitze gelangen könnten, die sich vollkommen den Spielregeln des Establishments angepaßt hätten. Vertrauenswürdigkeit, Sicherheit, Verläßlichkeit und Selbstbeherrschung seien die Tugenden, über die verfügen müsse, wer in diesem System aufsteigen wolle. Außenseiter und Quereinsteiger hätten kaum eine Chance. Es ist interessant, sich Kavanaghs Einschätzung vor Augen zu führen, wenn man den politischen Stil untersucht, den Margaret Thatcher als Oppositionsführerin entwickelte. Sie war zwar im innerparteilichen Wahlkampf gegen Heath mit der Parole „leadership that listens“ angetreten. In den Reden, mit denen sie sich in den nächsten vier Jahren bei ihren Landsleuten bekannt machte, sprach sie jedoch mehr vom Führen als vom Zuhören. Schon in ihrer ersten Ansprache als Parteiführerin am 20. Februar 1975 erklärte sie, die vielen Tory-Anhänger, die ihr in den vergangenen Tagen geschrieben hätten, hätten immer wieder auf zwei zentrale Erfordernisse hingewiesen: „They demanded a forthright style of leadership [. . .] Secondly, they demanded more emphasis on principle.“33 Die neue Tory-Chefin war fest entschlossen, diesem Bedürfnis zu entsprechen. Einer ihrer späteren Berater bezeichnete die Kombination von Führungsbereitschaft, Willenskraft und Überzeugungsstärke im Rückblick als das Geheimnis ihres Erfolges. „She represented energy, courage and will. She was a natural force; and in a world which many found too complex for their liking she was often admired for the strength of her views, regardless of their substance. She satis-

33

Antrittsrede auf der Parteiversammlung im Europa-Hotel in London am 20. Februar 1975: News Service 143/75. Zwei Wochen später in ihrem ersten größeren Fernsehauftritt als Parteichefin wiederholte sie: „[P]eople want a clear lead on what to do [. . .] I want to lead the people of this country“; Fernsehwerbespot am 5. März 1975: News Service 192/75.

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fied a widespread yearning for leadership, which at root was probably a nostalgia for past simplicities and days of greater British power.“34 Auch wenn Thatchers Auftreten als Parteichefin zunächst noch unsicher und tastend war, entwickelte sie schon frühzeitig eine genaue Vorstellung davon, wie das Land zu führen sei. Bereits bei ihrem ersten Amerikabesuch im September 1975 beschrieb sie, was sie unter politischer Führung verstand. Politik sei nicht nur die Kunst des Möglichen. Wer dies sage, laufe Gefahr, für unmöglich zu halten, was möglich, ja erstrebenswert sei, wenn man nur über mehr Mut oder tiefere Einsicht verfüge. Es sei vielmehr Aufgabe der Politiker, der öffentlichen Meinung um zwei oder drei Jahre voraus zu sein, Gefahren vorauszusehen, vor ihnen zu warnen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. „This, it seems to me, is the essential task of a leader – not to follow public opinion from the back but to lead it from the front.“35 Sie war überzeugt, daß Willensstärke und Entschlußkraft alles entschieden, und glaubte daran, daß Geschichte von großen historischen Persönlichkeiten gemacht werde.36 Bereits in den Oppositionsjahren gab sie ihren Glauben an die Bedeutung des menschlichen Willens zu Protokoll. „I do not believe that history is writ clear and unchallengeable“, erklärte sie in einer Rede in Zürich. „History is made by people: its movement depends on small currents as well as great tides, on ideas, perceptions, will and courage, the ability to sense a trend, the will to act on understanding and intuition.“37 Die Aufgabe eines politischen Führers bestand darin, die großen Strömungen der Zeit zu erkennen und sie mutig und willensstark für die eigenen politischen Ziele zu nutzen. Da Führungskraft in Thatchers Augen eine derart entscheidende politische Tugend war, gehörte der Vorwurf fehlender Füh-

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CRADOCK, S. 20. Am 25. September 1975 im Empire Club, Toronto/Kanada: News Service 811/75. Im selben Sinne äußerte sich Thatcher ein Jahr später in Australien: „We politicians have to argue the case. We have to persuade and convince a wide range of interests that what we propose is fair and reasonable. [. . .] It is the politicians’ job to warn the people of the consequences [of different economic policies, D.G.], and to win their support for the prudent course of action, because ultimately its success will depend on the measure of consent it commands“; am 15. September 1976 vor dem Institute of Directors in Sidney: News Service 846/76. „In common with other charismatic leaders, she believed that human determination and energy could move mountains“, erinnerte sich ein Berater später. „She was a great voluntarist, an exponent of the heroic view of history, of events shaped by great men and women“; CRADOCK, S. 206. Am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 21–30 (S. 22); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 49). Vgl. auch die Rede am 24. März 1975 vor der Federation of Conservative Students’ Conference in der Ranmoor Hall der Sheffield University: News Service 261/75, S. 4. Ähnlich auch Chris Patten, zit. in: YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 139.

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rungsbereitschaft zu den wichtigsten Kritikpunkten, die sie gegen den Premierminister Wilson ins Feld führte.38 Wenn dieser das Land nicht führen könne oder wolle, müsse er beiseite treten und jemandem das Ruder überlassen, der dazu in der Lage sei: „The choice is up to him. He must lead Britain, or he must go!“39 Daß sie an Wilsons Stelle Führungsqualitäten zeigen würde, daran ließ sie keinen Zweifel. Alles, was man als Staatsmann brauche, seien Zeit, Geduld – und Führungswille.40 Zu politischer Führung gehöre auch die Bereitschaft anzuecken, den politischen Streit zu suchen und für seine Überzeugungen zu kämpfen: I wouldn’t be worth my salt, if I weren’t attracting some controversy and criticism. Everyone in the world who has done something in life has attracted criticism. If your main objective was, ‚please, I just want to be liked and have no criticism‘ you would end up by doing nothing in this world.41

Diese Einstellung entsprang nicht erst späteren Erfolgen, sie findet sich schon in einem Artikel im Sunday Express, den Thatcher schrieb, als sie noch nicht zur Parteiführerin gewählt worden war. „The job of politicians is not to please everyone“, heißt es darin, „but to do justice to everyone.“42 Der Unterschied ist klein, aber fein: Wer es anderen recht machen will, benötigt keinen eigenen Standpunkt. Wer dagegen anderen Gerechtigkeit widerfahren lassen will, muß genau wissen, was er selbst unter Gerechtigkeit, unter Gut und Böse versteht. Thatcher war nicht grüblerisch veranlagt. Ihre Überzeugungen bildeten den sicheren, unverrückbaren Boden, auf dem sie sich bewegte. Tiefschürfende Selbstprüfungen waren ihr fremd. „Curiously enough, there is no hesitation about the big things in life“, sagte sie über sich in einem ihrer ersten Interviews als Parteichefin.43 Ihr langjähriger Staatssekretär im Erziehungsministerium, William Pile, berichtete, sie sei der einzige Mensch, den er niemals sagen gehört habe „Ich frage mich, ob“. Sie kenne keinen Zweifel, habe auf alles eine Antwort parat.44 Thatcher selbst zitierte gern ihren Lieblingsdichter Rudyard Kipling mit den Worten: 38 39 40

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Vgl. Ansprache auf der Jahreskonferenz der Schottischen Konservativen am 17. Mai 1975, News Service 473/75. Am 14. Juni 1975 vor der Jahreskonferenz der Konservativen Partei von Wales in Aberystwyth: News Service 586/75. „It will need a Government that looks ahead instead of being endlessly preoccupied with tomorrow morning’s papers. It will need a Government with the single-mindedness and with the skill to keep all its economic policies moving in one direction; a government with the courage to see the job through“; am 20. März 1976 auf dem Central Council Meeting in Norwich: News Service 317/76. Zit. nach JUNOR, Thatcher, S. 2. Sunday Express, 9. Februar 1975. The Times, 19. Mai 1975. Vgl. YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 25–6.

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„I don’t spend a lifetime watching which way the cat jumps. I know really which way I want the cats to go.“45 Die neue Parteiführerin der Konservativen war dazu bereit, ihre moralischen Grundsätze nicht nur darzulegen, sondern auch für sie in die Schlacht zu ziehen. Einer ihrer Vorgänger, Harold Macmillan, hatte einmal gesagt, die Leute sollten sich an Bischöfe halten, wenn sie moralische Führung suchten.46 Thatcher war vom Gegenteil überzeugt: Die Führung in der geistigen und moralischen Auseinandersetzung gehörte für sie zu den wichtigsten Aufgaben eines Politikers. Seine Funktion bestehe darin, erklärte sie in einem Zeitungsinterview, die Leute davon zu überzeugen, daß eine Handlungsweise klüger sei als eine andere: „You can only get other people in tune with you by being a little evangelical about it“.47 Mit diesem Verständnis von den Führungsaufgaben eines Politikers unterschied sie sich grundlegend vom Normaltypus des britischen Politikers, wie ihn Kavanagh in seiner Studie beschrieben hat. Es ist bezeichnend, daß sie sich unter all ihren Vorgängern ausgerechnet Winston Churchill als Vorbild und Leitfigur aussuchte – jenen großen Außenseiter unter den konservativen Parteiführern des zwanzigsten Jahrhunderts. Er war nicht nur der mythenumrankte Führer im Krieg, der Großbritannien zur finest hour, dem Sieg über Hitler, geführt habe. Sie sah in ihm auch – zu Unrecht, wie man inzwischen weiß48 – den entschlossenen Kämpfer für marktwirtschaftliche Reformen und gegen sozialistische Mißwirtschaft.49 Ganz bewußt stilisierte sich Thatcher von Anfang an als Nachfolgerin Churchills, den sie vertraulich „Winston“ zu nennen pflegte. An der Wand ihres Büros im Unterhaus hing sein Porträt, das später gemeinsam mit ihr nach 10 Downing Street umzog.50 In ihrem ersten Fernsehinterview nach der Kür zur Parteichefin ließ sie nicht zufällig die Riege ihrer Vorgänger, in die sie sich einreihte, gerade mit ihm beginnen.51 In einer Rede in Neuseeland bezeichnete sie 45 46 47 48

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Zit. nach KAVANAGH, Thatcherism, S. 252. Zitiert bei ANTHONY SAMPSON, The New Anatomy of Britain, London 1971, S. 104. Zitate aus The Observer, 12. und 25. Februar 1979; vgl. auch KAVANAGH, Thatcherism, S. 9, 250. Siehe ANTHONY SELDON, Churchill’s Indian Summer. The Conservative Government 1951–55, London 1981, der darlegt, wie die Tory-Partei unter Churchill zwischen 1945 und 1951 die grundlegenden Reformen der Labour-Regierung akzeptierte. Die Veränderungen, die sie vorschlage, seien keineswegs ein Sprung ins Ungewisse, rief sie 1979 auf einer Wahlkampfkundgebung: „They are changes that have been tried in Britain back in the fifties and which worked here, when Winston Churchill led us out of the dull, drab days of post-war Labour-Britain and set the people free“; am 1. Mai 1979 auf der konservativen Wahlkundgebung in der Stadthalle von Bolton: News Service GE 800/79. Vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 47. Zit. nach COCKERELL, S. 219.

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Churchill ausdrücklich als „meinen Helden“, wenn sie auch im gleichen Atemzug kritisierte, er sei gegen das Frauenwahlrecht gewesen.52 Immer wieder ließ sie in ihre Ansprachen Churchill-Zitate oder Anspielungen auf seine berühmten Reden einfließen. „Never in the field of human credit has so much been owed“, rief sie zum Beispiel in ihrer ersten Parteitagsrede als Tory-Chefin, und jeder im Saal dürfte sich sofort an Churchills Lob für die britischen Piloten nach der Battle of Britain erinnert haben: „Never in the field of human conflict has so much been owed by so many to so few.“53 In einer Ansprache vor dem Junior Carlton Club Political Council spielte sie auf Churchills berühmte Durchhalte-Parole aus dem Jahr 1940 an. „We shall go on to the end, we shall fight in France, we shall fight on the seas and oceans [. . .] we shall fight on the beaches, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills; we shall never surrender“, hatte Churchill verkündet. In Thatchers leicht abgewandelter Fassung lautete die Losung: „We shall fight Socialism wherever we find it: at Westminster, in County Halls, in Borough and District Chambers.“54 Es ist erhellend, vor dem Hintergrund von Thatchers bewußter Identifizierung mit Churchill noch einmal auf Kavanaghs Studie zurückzukommen: Der Politologe sah in Churchill das typische Beispiel des charismatischen Führers, der sich von anderen Politikern vor allem in vier Punkten unterscheide: Erstens könne er in Großbritannien nur in einer Krisensituation an die Spitze gelangen. Zweitens gelinge es ihm, direkt an das Volk zu appellieren, eine besondere Beziehung zwischen Führer und Gefolgschaft herzustellen. Drittens zeichne er sich durch ungewöhnliche persönliche Eigenschaften aus: etwa durch das Bewußtsein seiner Einzigartigkeit, seiner besonderen Mission und seiner Überzeugung, das Schicksal der Nation zu verkörpern. Viertens schließlich pflege er einen revolutionären Führungsstil, der sich zum Beispiel in der Verachtung bürokratischer Regierungsmethoden, einem besonderen Aktionsdrang oder ausgefallenen Arbeitsgewohnheiten ausdrücken könne.55 Alle vier Punkte treffen auch auf den politischen Stil Margaret Thatchers zu.

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Am 10. September 1976 bei einem Parliamentary Luncheon in Wellington, Neuseeland: News Service 832/76. Am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag in Blackpool; abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–27 (S. 20); auch abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 31). Das Churchill-Zitat stammt vom 20. August 1940: Hansard 5th series, Vol. 364, col. 1167. Am 4. Mai 1976 vor dem Junior Carlton Club Political Council, abgedruckt in: THATCHER, Children, 51–9 (S. 52). Vgl. KLAUSE, S. 41. KAVANAGH, Crisis, S. 11–22.

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Sie wurde zwar nicht wie Churchill im Krieg an die Spitze eines bedrohten Landes gerufen, sondern in Friedenszeiten an die Spitze einer demoralisierten Partei. Dennoch verdankte sie wie er ihren unerwarteten Aufstieg einer Situation, die von immer mehr Menschen als zunehmend krisenhaft wahrgenommen wurde. Beide Politiker hatte das Bewußtsein, daß es wie bisher nicht weitergehen könne, daß ein radikaler Wechsel nötig sei, an die Spitze der Partei getragen. Wie Churchill stammte sie zwar aus den Reihen der konservativen Unterhausabgeordneten, war aber nicht mit Hilfe des Partei-Establishments, sondern gegen dessen Willen zum höchsten Amt aufgestiegen.56 Sie liebte wie er den direkten Appell an ihre Mitbürger. Ihre Reden waren voll von Aufforderungen zum Handeln, deren Sprache häufig bewußt Churchills Rhetorik nachempfunden war. Als die Politikerin zum Beispiel in Blenheim, Churchills Geburtsort, sprach, endete sie mit einem pathetischen Aufruf, der an ihr großes Vorbild erinnerte. „[G]reat and noble things rarely come easily“, rief sie. „They have to be striven for with all one’s strength. There must be passion or they will not start. There must be energy or they will not grow. There must be faith or they cannot prosper. There must be dedication or they will not endure.“57 In einem Interview bekannte Thatcher, daß es insbesondere die Fähigkeit, Menschen anzuspornen, war, die sie an Churchill bewunderte.58 Gleichzeitig pflegte die Politikerin den Mythos des großen Staatsmannes, der vom Schicksal dazu auserwählt worden sei, sein Land und die Welt in größter Bedrängnis zu retten. In ihrer ersten Parteitagsrede als Tory-Chefin bezeichnete sie Churchill als „a man called by destiny to raise the name of Britain to supreme heights in the history of the free world“.59 Thatcher war nicht die einzige und schon gar nicht die erste, die dem Churchill-Kult huldigte.60 Mit ihrer Begeisterung für Churchill hatte es jedoch eine besondere Bewandtnis. Sie glaubte wie er an eine besondere, historische Berufung des 56 57 58 59

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Zu den Widerständen innerhalb des Tory-Establishments gegen Churchill siehe ANDREW ROBERTS, Churchill und seine Zeit, München 1998, S. 191–290. Am 16. Juli 1977 in Blenheim: News Service 758/77. „It was incredible what he was able to persuade people to do“; The Observer, 12. Oktober 1975. 10. Oktober 1975: Ansprache auf dem Tory-Parteitag in Blackpool, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–27 (S. 18); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 29–30). Schon zu Lebzeiten des Staatsmannes, im Jahr 1949, hatte der Philosoph Isaiah Berlin geschrieben, Churchill habe sich in ein öffentliches Image verwandelt, das vom inneren Wesen des Mannes nicht länger zu unterscheiden sei: „a mythical hero who belongs to legend as much as to reality, the largest human being of our time“; zit. nach MICHAEL IGNATIEFF, Isaiah Berlin. A Life, London 1998, S. 196.

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britischen Volkes zur Freiheit – die Whig-Interpretation der Nationalgeschichte in ihrer Tory-Variante. Thatcher sah sich selbst in einer vergleichbaren Rolle wie ihr Held im Jahr 1940: das Land wachzurütteln, an seine historische Mission zu erinnern und in den Kampf zu führen. „We are fighting as we have always fought – for great and good causes“, sagte sie im März 1975 in ihrer ersten großen Rede als Parteichefin. „For the rights of the weak as well as the strong. For the right of the little man as well as the big man. We are fighting to defend them against the power and might of those who rise up to challenge them. And we will never stop fighting.“61 Thatchers Überzeugung, zu einer schicksalhaften Aufgabe bestimmt zu sein, schwand nicht; eher nahm sie im Laufe der folgenden Zeit noch zu. Am Ende der Oppositionsjahre, nach ihrem ersten Wahlsieg im Mai 1979, sah sie sich berufen, ihr Land aus tiefer Not zu retten. In ihren Erinnerungen zitierte sie den britischen Staatsmann Chatham, Premierminister von 1766 bis 1768, mit den Worten: „Ich weiß, daß ich dieses Land retten kann, und daß nur ich dazu in der Lage bin.“ Es wäre anmaßend, sich mit ihm zu vergleichen, fügte sie hinzu, „aber wenn ich ehrlich bin, muß ich eingestehen, daß meine Hochstimmung [nach dem Wahlsieg, D.G.] aus einer ähnlichen inneren Überzeugung erwuchs.“62 Was Kavanagh „revolutionären Führungsstil“ nannte, unterschied sich im Falle Thatchers ganz wesentlich von demjenigen Churchills. Das begann bei der Disziplin-besessenen Arbeitsweise der Tochter eines methodistischen Kleinbürgers, die im krassen Gegensatz zu den eher künstlerischexzentrischen Gewohnheiten des Aristokraten Churchill stand, und endete mit der Arbeit in einem parteiübergreifenden Kriegskabinett des Zweiten Weltkrieges, die nur sehr bedingt mit den Aufgaben einer Oppositionsführerin in den siebziger Jahren zu vergleichen war. Dennoch gab es auch hier eine überraschende Anzahl von Parallelen. Beide mißtrauten der Verwaltungsbürokratie, auch wenn sie gezwungen waren, mit ihr zusammenzuarbeiten. Bei Thatcher ging der Argwohn auf ihre Zeit im Erziehungsministerium zurück. Ihr damaliger Staatssekretär, William Pile, hatte den Eindruck, sie habe von Beginn an eine tiefsitzende Skepsis, ja sogar Mißtrauen gegenüber ihren Beamten gehabt.63 Dieser Eindruck war nicht falsch. Ihrem Biographen George Gardiner berichtete die Politikerin 1975 über ihre Erfahrungen als Ministerin:

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Am 15. März 1975 vor dem Conservative Central Council in Harrogate; abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 20–2 (S. 21–2). THATCHER, Downing Street, S. 22. Vgl. YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 24.

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It was interesting to sit on the policy meetings and see how the advice offered by the civil service changed according to the minister. I came to the conclusion that the civil service tend not to put up advice that they think the minister will reject. After a minister has been in office some time in a department, therefore, you tend to get rather limited advice coming up.64

Erschwerend kam hinzu, daß Thatchers Reformdrang in Whitehall auf wenig Gegenliebe stoßen mußte, bestand doch eine der wichtigsten Aufgaben der Bürokratie darin, für Kontinuität zu sorgen, drastische Veränderungen abzufedern. Anhänger des Status quo horchten skeptisch auf, wenn Thatcher verkündete: „[T]here are moments when the overwhelming need is for action. There are times when the problems of the nation are too pressing for anything but immediate solution. When the crisis really breaks, everything else must be put aside. [. . .] A week can be a lifetime in a crisis.“65 Gerade diesen Drang zur Tat bewunderten jedoch die Anhänger der Politikerin. „What attracted me to work for her“, bekannte einer ihrer engen Mitarbeiter, „was her absolute commitment, a slightly reckless feeling that she had to achieve real change even though it meant, as a politician, living very dangerously. She had a sort of mission-orientated approach, a taskforce orientated approach.“66 Diese Hingabe an das Prinzip „Action This Day“ war eine weitere Eigenschaft, die sie mit Churchill verband. Beide waren Tatmenschen, denen nichts so verhaßt war wie Passivität.67 C)

RADIKALER POPULISMUS

Eine weitere Besonderheit von Thatchers politischem Stil war ihr Populismus, den sie nicht verschämt verbarg, sondern zu dem sie sich stolz bekannte. In einem Radio-Interview aus dem Jahr 1985 bekräftigte sie ausdrücklich, ihre Spielart des Konservatismus sei radikal und populistisch: „I would say many of the things I’ve said strike a chord in the hearts of ordinary people.“68 Schon früh in ihrer Karriere hatte die Politikerin eine ausgeprägte populistische Ader erkennen lassen – etwa wenn sie sich Anfang

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Zit. nach GARDINER, S. 145; vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 200; YOUNG, One of Us, S. 48. Am 21. Juni 1975 in Beechwood: News Service 621/75. John Hoskyns zit. nach RIDDELL, Government, S. 41 In Bezug auf Thatcher verwendet diese Formulierung John Biffen; zit. nach RANELAGH, S. 23; siehe auch CRADOCK, S. 22. Für Churchill siehe LORD NORMANBROOK et al., Action This Day. Working with Churchill, London 1968. Am 17. Dezember 1985 in einem Radio-Interview für die BBC; zit. nach KAVANAGH, Thatcherism, S. 252. Vgl. auch die Einschätzung der Labour-Politikerin Barbara Castle in: Tagebucheintrag vom 12. Februar 1975; CASTLE, Diaries 1974–76, S. 310.

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der sechziger Jahre als eine von wenigen Tory-Abgeordneten für die Prügelstrafe bei jugendlichen Gewalttätern aussprach oder später immer wieder für die Wiedereinführung der Todesstrafe eintrat.69 Thatchers Populismus beruhte auf der Überzeugung, eine Frau aus dem Volk zu sein, wie die große Masse ihrer Landsleute zu fühlen. Sie sei fest überzeugt, schrieb sie in ihren Erinnerungen, „daß ich auf seltsame Weise instinktiv für die große Mehrheit der Bevölkerung sprach und wie sie empfand“.70 Sie identifizierte sich mit den „einfachen Leuten“, nahm für sich in Anspruch, für die „masses of middle Britain“ zu sprechen, die von den Politikern vergeblich verlangten, sie sollten sich für sie einsetzen.71 Sie wollte dem „man in the street“, den „ordinary decent people“ eine Stimme geben, für die Sparsamkeit und harte Arbeit noch Tugenden seien.72 Sie zweifelte nicht daran, daß sich ihre Ansichten mit der Meinung einer Mehrzahl ihrer Landsleute deckten. Sie waren common sense – etwas, das in Thatchers Augen alle vernünftigen Menschen guten Willens mit ihr teilen mußten. Der Begriff des common sense zog sich wie ein roter Faden durch ihre Reden.73 Die Gleichsetzung ihrer Ansichten mit den Werten ihrer Partei und den Haltungen der Durchschnittsbürger variierte sie in ihren Reden wieder und wieder. Die folgenden Auszüge aus einer Rede vor der Jahreskonferenz des konservativen Studentenverbands sind dafür nur ein – freilich besonders augenfälliges – Beispiel: „In most things you’ll find that Conservative sense makes common sense [. . .] I am convinced that what we Conservatives stand for is basically common sense [. . .] That is the commonsense way and that is the Conservative way [. . .] It makes sense, commonsense and Conservative sense.“ Leider, so schloß sie diese Rede, sehe die Realität (noch) anders aus. Denn in den vergangenen drei Jahren habe im Land nicht common sense geherrscht, sondern sozialistischer Nonsens.74

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Vgl. dazu CAMPBELL, Thatcher, S. 134. THATCHER, Erinnerungen, S. 504. Vgl. zum Folgenden KLAUSE, S. 28–34. Am 14. Juni 1975 auf dem Parteitag der walisischen Konservativen in Aberystwyth: News Service 586/75. Am 22. September 1975 in einer Vorlesung an der Roosevelt University in Chicago: News Service 789/75, S. 5. „Those who share our common sense views are not a small beleaguered minority“, erklärte sie. „We are a party of ordinary people with ordinary hopes and beliefs [. . .] On matters that concern ordinary men and women it is we who represent the majority view“; am 8. Oktober 1976 auf dem Tory-Parteitag in Brighton, zit. nach The Times, 9. Oktober 1976. Am 4. April 1977 auf der Jahreskonferenz der Federation of Conservative Students in Egham/Surrey: News Service 410/77, S. 1–4.

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Großbritanniens Problem, wie Thatcher es sah, bestand darin, daß nicht die „common sense majority“ im Lande das Sagen hatte, sondern einige wenige Extremisten in der Labour-Partei. Ihr Ziel war es, die bislang „schweigende Mehrheit“ dazu zu bringen, sich politisch bemerkbar zu machen.75 Es sei durchaus möglich, schrieb sie bereits im Februar 1975, die Mehrheit der vernünftigen Leute in dem Versuch zu einigen, das Land gemeinsam aus der gegenwärtigen Malaise zu befreien. Aber dies werde nicht durch vage Appelle an die „nationale Einheit“ gelingen, wie sie Heath vorgeschwebt hatten; noch weniger durch einen Mischmasch von Kompromissen, die es allen recht zu machen versuchten. Statt dessen müsse man der Einsicht, dem gesunden Menschenverstand der Briten vertrauen: „Surely the basis of unity is common sense.“76 Wenn man ihren Landsleuten nur deutlich genug machte, wie die Wirklichkeit aussah, zwischen welchen Alternativen sie zu wählen hatten, dann konnte über ihr Urteil kein Zweifel bestehen: „[E]very time the people are faced with the choice – the choice between a free society or a socialist/communist state – when they are faced with it and they recognise it, they totally reject it.“77 Das Problem bestand lediglich darin, daß noch nicht genug Menschen erkannt hatten, vor welche Wahl sie gestellt waren. Aber das würde sich ändern, je stärker sich die wirtschaftlichen und politischen Probleme des Landes unter der sozialistischen Regierung zuspitzten. „I think that there are more and more people every day waking up to the grim realities“, behauptete sie bereits im Februar 1975 zuversichtlich.78 Letztlich war auf das Urteilsvermögen der Briten Verlaß, davon war die Politikerin überzeugt. Der Mensch, zumindest der Brite, war im Kern vernünftig und gut. Er besaß jenen gesunden Menschenverstand, der ihm sagte, was für ihn selbst, für seine Familie und Freunde gut und richtig war – obwohl, oder vielleicht gerade weil, er keinen Gedanken an abstrakte moralische Regeln verschwendete.79 „The common sense of the people tells us what to do“, erklärte sie vor dem National Press Club in Washington. „I trust people. I want to return power where it belongs – to the people. The 75

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„The common sense majority must become actively involved and see that their will is the one that prevails“, erklärte sie vor schottischen Tories; am 17. Mai 1975 auf der Jahreskonferenz der Schottischen Konservativen in der Caird Hall in Dundee: News Service 473/75, S. 6, 8. Sunday Express, 9. Februar 1975. Antrittsrede auf der Parteiversammlung im Europa-Hotel in London am 20. Februar 1975: News Service 143/75, S. 3. Am 21. Februar 1975 in der Stadthalle von Glasgow: News Service 148/75, S. 2. So etwa am 14. Dezember 1978 bei der Verleihung des „Woman of Conscience Award“ in New York: News Service 1609/78, S. 5.

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people have good sense.“80 Der durchschnittliche Brite sei weder Philosoph noch Ökonom; er besitze keine klar formulierte Theorie, die ihm sage, warum eine freie Gesellschaft einer kollektivistischen überlegen sei. „But he has felt the shortcomings of collectivism and he senses that something is fundamentally wrong.“81 Ein Teil der aktuellen Misere Großbritanniens rühre daher, daß die Briten durch staatliche Bevormundung daran gehindert würden, ihren Verstand, ihre Fähigkeiten, ihre Kreativität unter Beweis zu stellen. Bei einem Besuch in Neuseeland sagte sie: The British have the ability, the resources, the experience, the education and the toughness to solve all their problems and to embark upon a new period of economic prosperity, social progress, revived strength and authority in world affairs, with a renewed and mounting self-confidence. [. . .] What the people of Britain need, and are entitled to, is a fair chance to show what they can do. At present they are not getting that chance. My purpose in politics is to do all I can to ensure that they do.82

Es sei ein unerträglicher Zustand, daß der Staat seinen Bürgern Vorschriften machte, wie sie zu leben hatten. Genau umgekehrt müßte es sein. Der Staat solle sich verhalten wie ein rechtschaffener Bürger: Er solle sparsam sein, nicht über seine Verhältnisse leben, über den Tag hinaus planen und in guten Zeiten Notgroschen für Krisenjahre beiseite legen.83 Diese Regeln hatten den Vorteil, für jedermann verständlich zu sein. Die Politikerin verstand es, komplizierte volkswirtschaftliche Zusammenhänge in eine Sprache zu übertragen, die aus der Alltagswelt der Bürger stammte. Was sie auf dem Parteitag 1976 in Brighton forderte, mußte jedem einleuchten, der mit knappem Gehalt über die Runden zu kommen suchte: „We first have to put our finances in order. We must live within our means. The Government must do so and we must do so as a country. We cannot go on like this. We are paying ourselves more than the value of what we produce. We are spending more than we earn and the gap has to be bridged.“84 80

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Am 19. September 1975 vor dem National Press Club in Washington: News Service 788/75, S. 6. Ähnlich auch bei einem Staatsbesuch in Neuseeland: „We believe in the invincibility of the human spirit. Why should mankind descend again into a new version of the Dark Ages? Our faith is contained in the words of Lord Randolph Churchill – ‚Trust the people‘“; am 10. September 1976 bei einem Parliamentary Luncheon in Wellington: News Service 832/76, S. 8. Am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 21–30 (S. 27); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 55). Am 10. September 1976 bei einem Parliamentary Luncheon in Wellington in Neuseeland: News Service 832/76, S. 5. So etwa am 12. Februar 1977 in Newport auf der Isle of Wight: News Service 160/77, S. 1–2. Am 8. Oktober 1976 auf dem Tory-Parteitag in Brighton, zit. nach The Times, 9. Oktober 1976.

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Thatcher trat in ihren Reden nicht als Berufspolitikerin auf, sondern als Sprecherin des Volkes.85 Häufig zitierte sie in direkter Rede, was der Durchschnittsbrite ihrer Meinung nach dachte. „I find people saying ‚Get Government out of our hair‘“, verkündete sie etwa.86 Oder: „Increasingly, people are asking ‚Why make the effort?‘, ‚Why work at all?‘, ‚Why should I break my back for nothing?‘, ‚Why bother?‘.“87 Im letzten Fernsehwahlwerbespot vor den Unterhauswahlen im Mai 1979 wandte sie sich direkt an die Wähler vor den Bildschirmen: „I can well imagine you saying to yourselves – ‚If only the politicians would be quiet; if only we could sit peacefully for a few minutes and think about our country and its future and the decision you are asking us to make.‘ I know how you feel.“88 Häufig tauchte in ihren Reden die Unterscheidung zwischen „Us“ und „Them“ auf, die sich im englischen Sprachgebrauch ursprünglich auf Klassenunterschiede bezog, von Thatcher aber umfunktioniert, auf den Gegensatz von Staat und Bürger angewandt wurde: „Wir“ hart arbeitenden, tugendhaften einfachen Leute werden von „ihnen“ – den Bürokraten, Politikern, Gewerkschaftsführern – schikaniert, um unsere Ersparnisse gebracht, hinters Licht geführt. „[A]ll along, they have been spending more and more money – our money.“89 Sie war überzeugt, ihr Gespür für die Ansichten einfacher Menschen rühre daher, daß sie selbst aus kleinen Verhältnissen stamme.90 Eine wichtige Komponente ihrer Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit bestand darin zu betonen, daß sie sich aus eigener Kraft nach oben gearbeitet hatte. In einem Radiointerview im März 1975 erklärte sie:

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„[Politicians’] concern is with people“, schrieb sie im Januar 1975, „and they must look at every problem from the grassroots, not from the top looking down“; Daily Telegraph, 30. Januar 1975. Am 22. September 1975 in einer Vorlesung an der Roosevelt University in Chicago: News Service 789/75, S. 6. Am 10. September 1976 bei einem Parliamentary Luncheon in Wellington in Neuseeland: News Service 832/76, S. 4. Am 30. April 1979 in einem Fernsehwahlwerbespot: News Service GE 786/79, S. 1. Am 3. März 1976 auf dem Jahrestreffen des Greater London Area Council in der Caxton Hall in London: News Service 231/76, S. 1. Die von der Regierung verschuldete Inflation, so Thatcher an anderer Stelle, „robs us all of the money we put by for our old age“; am 14. Juni 1975 auf der Jahreskonferenz der Konservativen Partei von Wales in Aberystwyth: News Service 586/75, S. 2. „Deep in their instincts people find what I am saying and doing right“, versicherte sie nach ihrer Wahl zur Regierungschefin. „And I know it is, because that is the way I was brought up. I’m eternally grateful for the way I was brought up in a small town. [. . .] I sort of regard myself as a very normal ordinary person, with all the right, instinctive antennae“; Sunday Times, 3. August 1980.

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I represent an attitude, an approach, and I believe that that approach is borne out by a development in my own life [. . .] going to an ordinary State school, having no privilege at all, except perhaps the ones which count most – a good home background, with parents who are very interested in their children and interested in them getting on. And that’s what I see as the kind of Conservative approach which I believe in: being able by your own efforts, to help your children to have a better chance than you did.91

Eine zentrale Rolle in Thatchers Berichten über ihre Jugend spielte das Geschäft ihrer Eltern in Grantham. All die Tugenden, die sie als Parteiführerin predigte, sah sie im Leben, in der Arbeit ihrer Eltern in reinster Form verkörpert: Fleiß, harte Arbeit, Sauberkeit, Sparsamkeit, Pünktlichkeit, auf eigenen Füßen stehen, niemandem zur Last fallen, sondern selbst anderen helfen.92 Ebenso bezeichnend wie die biographischen Details, die Thatcher herausstrich, waren diejenigen, die sie geflissentlich überging. Dazu gehörte vor allem die Tatsache, daß sie mit Denis Thatcher 1951 einen reichen Mann geheiratet hatte, der es ihr ermöglichte, ihre politische Karriere ohne finanzielle Sorgen zu verfolgen. In keiner der Reden, auch nicht später in den Erinnerungen wurde dieser Umstand erwähnt. Er paßte weder zum Selbstbild Thatchers noch zu ihrem sorgfältig gepflegten öffentlichen Image von der Frau aus dem Volke.93 Schuldgefühle wegen ihres Erfolges verspürte Thatcher nicht. „What have I got to be guilty about?“, fuhr sie einem Journalisten über den Mund, der sie gefragt hatte, ob sie sich wegen ihres sozialen Aufstiegs schuldig fühle. „What I have and where I am is the result of continuous effort and the courage to take the next step.“94 Die Botschaft kam an. In Presseberichten wurde die neue Parteiführerin als Frau aus dem Volk porträtiert, die es aus einfachen Verhältnissen bis an die Spitze geschafft hatte. Der Daily Telegraph schrieb am Tag nach ihrer Wahl zur Parteichefin in einem begeisterten Leitartikel: [Thatcher] believes in the ethic of hard work and big rewards for success. She has arisen from humble origins by effort and ability and courage. She owes nothing to

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Am 5. März 1975 in einem Party Political Broadcast für BBC 1 (maschinenschriftliches Transkript im CPA). Siehe etwa die Interviews in The Times, 19. Mai 1975; The Observer, 5. Oktober 1975. Vgl. CLARKE, Rise, S. 308. The Observer, 5. Oktober 1975. Die Weigerung, sich in irgendeiner Weise schuldig zu fühlen, bezog sich nicht nur auf ihren persönlichen Erfolg, sondern auch auf die Geschichte ihrer Partei. Im Gegensatz zu Baldwin und den konservativen Parteiführern der Nachkriegszeit fehle ihr „the sense of what she termed ‚bourgeois guilt‘ (perhaps aristocratic guilt is more appropriate) for the mass unemployment of the 1930s“; so KAVANAGH, Thatcherism, S. 117–8.

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inherited wealth or privilege. She ought not to suffer, therefore, from that fatal and characteristic 20th-century Tory defect of guilt about wealth. All too often this has meant that the Tories have felt themselves to be at a moral disadvantage in the defence of capitalism against socialism.95

Mit der in zahlreichen Interviews unermüdlich wiederholten Geschichte ihrer Kindheit führte Thatcher einen Topos in die Selbstdarstellung des konservativen Parteiführers ein, der bislang keine Rolle gespielt hatte. Amerikanische Präsidenten mochten erzählen, wie sie aus einer ärmlichen Blockhütte ins Weiße Haus gelangt waren; als Führer der britischen Tory-Partei tat man so etwas nicht. Heath etwa, der als Sohn eines Zimmermannes wie Thatcher aus der unteren Mittelschicht stammte, hatte seine Herkunft nie betont. Im Gegenteil, angeblich überwarf er sich 1967 mit dem damaligen Parteivorsitzenden du Cann unter anderem deshalb, weil dieser vorschlug, Heath der Öffentlichkeit als völlig neuen Typus eines Tory-Chefs vorzustellen: ein zukünftiger Premierminister, der sich aus einfachsten Verhältnissen nach oben gearbeitet hatte. „I did tell him“, so du Cann später, „that we could project his personality as the son of a lower-middle-class family.“ Heath habe diese Art der Präsentation jedoch mißbilligt.96 Ihm war es nicht wichtig, den Wählern als Mann aus dem Volke zu gelten. Vielmehr wollte er von denjenigen als Gleichberechtigter anerkannt werden, denen er seine Karriere verdankte und mit denen er täglich zusammenarbeitete – und das war das immer noch aristokratisch und großbürgerlich geprägte Establishment der Konservativen Partei. In diesem Kreise erschien es ihm unpassend, einen familiären Hintergund zu betonen, der ihn hier zum Außenseiter stempelte. Seine Nachfolgerin sah das anders. Sie war nie vom ToryEstablishment protegiert worden, sondern hatte ihren Erfolg im Gegenteil gerade gegen die Granden der Partei erfochten. Einen direkten Draht zu den Wählern zu finden, erschien ihr wichtiger, als von Menschen anerkannt zu werden, denen sie nichts verdankte, von denen sie sich nicht geachtet fühlte und die sie ihrerseits im Grunde ihres Herzens für Weichlinge hielt.97 Hinzu kam, daß sich im Laufe der siebziger Jahre die konservative Unterhaus-Fraktion insgesamt rascher veränderte als der Zirkel der Politiker an 95 96 97

Daily Telegraph, 12. Februar 1975. JAMES MARGACH, Anatomy of Power, London 1978, S. 166. John Ramsden hat darauf hingewiesen, wie verächtlich Thatcher im zweiten Band ihrer Erinnerungen (der die Jahre bis 1979 behandelt) an vielen Stellen über das Partei-Establishment spricht: es habe sich geweigert, weibliche Kandidaten für Unterhauswahlen aufzustellen, habe Menschen ihres sozialen Hintergrundes verachtet, mit Mißbilligung auf die Speisen geblickt, die sie bei Festen in ihrem Haus servierte usw.; siehe ANTHONY SELDON und JOHN RAMSDEN, The Influence of Ideas on the Modern Conservative Party. Anthony Seldon interviews John Ramsden, in: Contemporary British History 10, 1996 (1), S. 184.

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ihrer Spitze. Nach den Wahlen vom Oktober 1974 konnten nur noch 107 von 277 Tory-Abgeordneten auf mehr als zehn Jahre Parlamentserfahrung zurückblicken. Mit den Neuzugängen hatten sich die soziale Zusammensetzung der Fraktion, der Umgangston und der Arbeitsstil verändert, wie der Abgeordnete Julian Critchley scharfsichtig bemerkte, der 1970 in ein Unterhaus zurückkehrte, das er sechs Jahre zuvor verlassen hatte. Die Konservative Partei habe sich verändert, schrieb er. Sie sei weniger homogen in ihrer sozialen Zusammensetzung und stärker ideologisch ausgerichtet. Die Abgeordneten arbeiteten härter als früher, sie trügen neuerdings Anzüge von der Stange und manche sogar Wildlederschuhe – in Critchleys Augen ein Gipfel der Geschmacklosigkeit.98 In der Tat waren in den siebziger Jahren erstmals mehr Tory-Abgeordnete an Staatsschulen erzogen worden als in Eton. Erstmals bildeten Geschäftsleute rund die Hälfte der Fraktion, während der Anteil der traditionell dominierenden Gruppe der Offiziere und Landbesitzer auf ein Zwölftel geschrumpft war.99 Viele dieser Neulinge konnten mit Thatchers aggressivem, populistischen Stil mehr anfangen als mit den würdigeren, gedämpfteren, ironischeren Umgangsformen traditioneller Tory-Politiker.100 Auch außerhalb des Parlaments, an der Parteibasis, stieß Thatchers populistisches Politikverständnis auf Zustimmung. Viele Parteimitglieder spürten, daß die Politikerin ihre Sorgen und Ängste ernstzunehmen, ja zu teilen schien. Sie gehörte zu den wenigen konservativen Parteichefs, die einen direkten Draht zur Basis fanden. Anders als ihre Vorgänger sah sie in den einfachen Parteimitgliedern kein notwendiges Übel, sondern teilte viele ihrer Ansichten. Das habe es seit Jahrzehnten nicht gegeben, schrieb ihr späterer Schatzkanzler Nigel Lawson in seinen Memoiren. „Harold Macmillan had a contempt for the party, Alec Home tolerated it, Ted Heath loathed it. Margaret genuinely liked it. She felt a communion with it, one which later expanded to embrace the silent majority of the British people as a whole.“101 Wie recht Lawson hatte, unterstreicht die Reaktion des greisen Ex-Parteiführers Macmillan auf den Stil der neuen Tory-Chefin. Macmillan habe einen von Thatcher geleiteten Parteitag im Fernsehen verfolgt, berichtete ein Vertrauter. „Extraordinary affair“, soll er anschließend gesagt haben: 98 99 100 101

Zit. nach RAMSDEN, Winds of Change, S. 399. Vgl. ebd., S. 400; BYRON CRIDDLE, Members of Parliament, in: SELDON und BALL (Hrsg.), S. 145–67. Ein gutes Beispiel für diesen neuen Typus des konservativen Unterhausabgeordneten ist Norman Tebbit; vgl. TEBBIT. LAWSON, S. 14.

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I have attended many conferences, normally sitting on the platform. We used to sit there listening to these extraordinary speeches urging us to birch or hang them all or other strange things. We used to sit quietly nodding our heads and when we came to make our speeches we did not refer to what had been said at all. They gave us good ovations and that was that. But watching [Thatcher] at the party conference last week, I think she agrees with them.102 D)

DIE WAFFEN EINER FRAU

Macmillan stand mit seiner Verwunderung nicht allein. Weiten Teilen des konservativen Establishments erschien die neue Parteiführerin beunruhigend fremdartig, irgendwie unpassend, ein politischer Stilbruch. Der ehemalige konservative Unterhausabgeordnete Jock Bruce-Gardyne stellte in seiner 1984 erschienenen Studie über Thatchers erste Amtszeit als Premierministerin fest, sie habe als erster Außenseiter seit Andrew Bonar Law (1858–1923) die Spitze der Tory-Partei und später der britischen Regierung erklommen. Zwar wurde sie 1975 als erste Frau Mitglied des traditionsreichen Carlton Club, der immer noch als heimliche Parteizentrale der Tories galt. „[B]ut in the true sense she is not a joiner“, so Bruce-Gardyne, „she will never be absorbed by the Establishment.“103 Die Erfahrung, gesellschaftlich nicht voll akzeptiert zu sein, war nicht neu für Thatcher. Schon während ihrer Studienzeit in Oxford hatte sie am Rande gestanden – als grammar school girl an einer von Privatschülern dominierten Universität und als Konservative am traditionell fortschrittlich-linken Somerville College, dessen Dozentinnen und Studentinnen auf die Tory-Studentin aus der Provinz mit neugieriger Verachtung herabschauten.104 Ihre Abneigung gegen „das Establishment“ dürfte nicht zuletzt in den prägenden Erlebnissen in Oxford ihre Wurzeln haben. In vielerlei Hinsicht hat Thatcher den Habitus der Außenseiterin während ihrer gesamten politischen Karriere nie abgelegt, sondern geradezu kultiviert. Selbst nach ihrer Wahl zur Parteichefin sei sie auf seltsame Weise distanziert geblieben, schrieb ihr Parteifreund Prior später. „She felt able to divorce herself from decisions which she did not like, as if at times the Party [. . .] were nothing to do with her.“105 Tatsächlich war Thatcher innerhalb der Welt, in der sie sich bewegte, in dreifachem Sinne eine Außenseiterin: erstens wegen ihrer sozialen Herkunft aus der unteren Mittelschicht; zweitens wegen ihrer religiösen Wurzeln im

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Zit. nach WALKER, Staying Power, S. 138. JOCK BRUCE-GARDYNE, S. 1. Siehe hierzu jetzt CAMPBELL, S. 50. PRIOR, S. 103.

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Methodismus. Beides rückte sie in einer Partei, die in ihrem Establishment immer noch aristokratisch, großbürgerlich und anglikanisch geprägt war, unweigerlich an den Rand. Das Bemerkenswerte an Thatchers Umgang mit diesem Umstand nach ihrer Wahl zur Tory-Chefin war, daß sie dessen Bedeutung nicht herunterspielte, sondern hervorhob und als Waffe im politischen Kampf einsetzte. Sie betonte die Bedeutung ihrer Erziehung in einem methodistischen Elternhaus und strich absichtlich ihre Herkunft „aus dem Volke“ heraus. Der dritte Aspekt von Thatchers politischem Außenseitertum, die Tatsache, daß sie eine Frau ist, läßt sich viel schwieriger erfassen. Die Politikerin selbst erwähnte diesen Aspekt in ihren Reden selten. Wenn sie in Interviews direkt darauf angesprochen wurde, bagatellisierte sie seine Bedeutung. Natürlich werde sie – gerade bei Auslandsbesuchen – dann und wann zunächst als ein Phänomen betrachtet, räumte sie im Mai 1975 ein. „But we soon get to grips with the problems, then it doesn’t matter whether you are a man or a woman. What matters is your grasp of the problems and the need for action.“106 Mit Feminismus oder der Frauenrechtsbewegung mochte sie nichts zu tun haben. Als ein Journalist sie in ihrer ersten Pressekonferenz als Parteichefin auf die Emanzipation der Frau ansprach, bemerkte sie schnippisch: „What has it ever done for me?“107 Thatcher wollte dem Eindruck entgegenwirken, sie verdanke ihren Aufstieg nicht eigenen Fähigkeiten, sondern ihrem Geschlecht. Deswegen lehnte sie auch die von einem ihrer Mitarbeiter aufgebrachte Idee einer demoskopischen Umfrage ab, die ermitteln sollte, wie man die Tatsache einer Frau an der Parteispitze möglichst gewinnbringend einsetzen konnte.108 Doch egal, wie sehr sich Thatcher später dagegen sträubte, die Tatsache, daß zum ersten Mal in einem westlichen Industrieland eine Frau an die Spitze einer großen Partei gewählt worden war, spielte in der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Wahl anfangs eine überragende Rolle. Die britischen wie internationalen Medien konzentrierten sich zunächst vor allem auf diesen Aspekt.109 Daß ausgerechnet die britischen Konservativen eine Frau 106 107

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The Times, 19. Mai 1975. Vgl. auch The Observer, 12. Oktober 1975. Zit. nach COSGRAVE, Thatcher, S. 14. Bei ihrem ersten USA-Besuch im Herbst 1975 erwiderte sie auf eine ähnliche Frage: „Einige von uns praktizierten das schon längst, als von Befreiung der Frau überhaupt noch nicht die Rede war“; zit. nach WAPSHOTT und BROCK, S. 225. Siehe PATRICK COSGRAVE, Thatcher. The First Term, London 1985, S. 22. Vgl. etwa die Titelgeschichte des Spiegel, 7. Mai 1979, unter der Überschrift „Die Salome der britischen Politik“, in der Thatcher mit Königin Elisabeth I., Zarin Katharina II. Golda Meir und Indira Gandhi verglichen wurde. Siehe zuvor auch schon einen Fotoartikel im Stern, 24. Oktober 1975, in dem Thatcher unter anderem beim Tapezieren ihres Hauses abgebildet wurde.

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als leader gewählt hatten, besaß Sensationscharakter. Die Tories selbst schienen sich, nachdem der erste Schrecken vorüber war, nachträglich selbst auf die Schultern zu klopfen für den Mut, den sie mit ihrer Entscheidung bewiesen hatten. „[T]here is one delightful feature which has relieved us all“, schrieb Macmillan, „the breakthrough of women’s lib[eration] into the Conservative Party from which men have deposed and a gracious lady has taken the leadership amid universal acclaim.“110 Auch du Cann bezeichnete es im Rückblick als besonderen Coup für die Konservative Partei, eine Frau zur Parteichefin bestimmt zu haben: „the first woman in history to lead a political Party – since Boadicea“.111 Gleichzeitig sprach jedoch einiges dafür, daß Großbritannien und die Tories nicht wirklich auf eine Frau an der Spitze der Konservativen Partei vorbereitet waren. Der Chauvinismus seiner Landsleute, besonders der Frauen, sei immer noch beträchtlich, schrieb der Leitartikler der Times im Oktober 1974. Thatchers Geschlecht würde ein gewaltiges Handicap für sie und ihre Partei sein. Zwei Monate später hieß es in derselben Zeitung, die Tories wollten einfach keine Frau an ihrer Spitze.112 Schon die bloße Existenz von Frauen im Unterhaus war noch ungewöhnlich. Nur fünf Jahre zuvor, im Parlament von 1966 bis 1970, war Thatcher noch eine von lediglich sieben Frauen gewesen, die neben 246 Männern auf den konservativen Bänken im Unterhaus saßen.113 Selbst aus den Jahre später geschriebenen Memoiren führender Tory-Politiker steigt noch eine Ahnung davon auf, wie unnormal eine Frau in der Politik, in der Konservativen Partei zumal, bis weit in die siebziger Jahre erschien.114 Vergleicht man die Passagen der Memoiren, in der konservative Politiker ihre erste Begegnung mit Thatcher beschreiben, so fällt auf, wie viel dort von ihrer äußeren Erscheinung die Rede ist. Er habe sie erstmals 1959 gesehen, schrieb Peter Rawlinson, ein Kabinettskollege Thatchers aus den Jahren 1970 bis 1974: „I noticed in the committee room a pretty girl. She had a creamy pink and white complexion, and beautifully, too beautifully, coiffed fair hair, not a single strand out of place. But there was a rather prim pursing about her

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Zit. nach ALASTAIR HORNE, Harold Macmillan, Bd. 2, New York 1991, S. 618. DU CANN, S. 206. The Times, 16. Oktober und 18. Dezember 1974. „In my male chauvinist fashion I regarded all women politicians as essentially second-rankers“, räumte ein anderer Journalist später freimütig ein; JOHN JUNOR, Listening for a Midnight Train, London 1990, S. 226. PETER CLARKE, Hope and Glory. Britain 1900–90, Harmondsworth 1996, S. 358. „[A]t that time the few women in the Parliamentary party tended not to be accepted so easily by their male colleagues“, räumte Prior ein, der wie Thatcher 1959 erstmals ins Unterhaus gewählt, aber sehr viel schneller sozial akzeptiert wurde; PRIOR, S. 21.

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lips. To look at, she was certainly far better than any other girl I had ever seen in the House.“115 John Boyd-Carpenter, 1961 ihr Minister im Rentenministerium, gab zu Protokoll, „that to the male eye she always looked as though she had spent the morning with the coiffeur and the afternoon with the coutourier“; auch wenn er respektvoll einräumte, sie habe lange und hart im Ministerium gearbeitet.116 Du Cann erinnerte sich ebenfalls zunächst an Thatchers Aussehen, als er sich ihre erste Begegnung ins Gedächtnis zurückrief: „She was strikingly attractive, obviously intelligent, a goer.“117 Ronald Millar, später ein enger persönlicher Freund der Politikerin, ließ bei der Beschreibung der ersten Begegnung vor seinem geistigen Auge „the little black dress with pearls“ auftauchen, das sie an jenem Abend trug, „especially the pearls, which set off the imperious neck to perfection“.118 Es ist schwer vorstellbar, daß dem Erscheinungsbild eines Mannes von seinen Kollegen ähnliche Aufmerksamkeit gewidmet worden wäre. Die Galanterie, die aus den Sätzen Millars spricht, bildete die freundliche Variante des Verhaltens gegenüber einer Frau in der Männerwelt der Politik. Die unerfreuliche Kehrseite waren schlüpfrige Bemerkungen und kaum verhohlene Herablassung. Thatcher wurde durch diese Erfahrungen geprägt, ob sie es wollte oder nicht.119 Sie selbst beschrieb in ihren Erinnerungen die „Macho-Heiterkeit“, die ihr beim ersten Auftritt als Oppositionsführerin im Unterhaus entgegenschlug, und erwähnte an anderer Stelle, vermutlich sei „eine Frau – selbst wenn sie ihr ganzes Berufsleben in einer Männerwelt verbracht hat – emotional für persönliche Verunglimpfungen anfälliger als die meisten Männer“.120 Der Schutzpanzer, den sich Thatcher gegen Seitenbemerkungen ihrer männlichen Kollegen zulegte, war ein makelloses Erscheinungsbild. Wenn eine Frau Parteiführer sei, erklärte sie Freunden, müsse sie nicht nur Politiker sein, sondern auch gut aussehen. Viel Zeit verbrachte sie in einem Friseursalon am Thurloe Place in Kensington, wo sie sich ihr Haar alle zwei Tage legen und einmal in der Woche färben ließ, seit sie von 1976 an zu-

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RAWLINSON, S. 246. JOHN BOYD-CARPENTER, Way of Life, London 1980, S. 133. DU CANN, S. 206. MILLAR, S. 218, 219. „Nobody could have fought through the spoken and unspoken prejudices of the fifties“, bemerkte ein Helfer aus der Oppositionszeit, „the giggles and sneers of the sixties, and the concealed male resentment and subtle male condescension of the seventies and eighties, without bearing the scars“; Spectator, 15. April 1989. THATCHER, Erinnerungen, S. 218.

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nehmend ergraute.121 In täglichen Gesprächen mit ihrem Imageberater diskutierte sie die Wahl ihrer Kleidung, die sie auf seinen Rat hin bei Fernsehinterviews auf den Hintergrund des jeweiligen Studios abstimmte. Reece riet ihr, Pastellfarben zu tragen und niemals ein hellgrünes Kleid vor einem hellblauen Hintergrund. Derartige Unstimmigkeiten machten den Gesprächspartner instinktiv unzufrieden und unruhig, erklärte er.122 Auch im Parlament achtete Thatcher sorgfältig auf ihre Garderobe. Im winzigen Lady Members’ Room des Unterhauses hing stets ein halbes Dutzend ihrer Kleider, auf dem Boden standen in einer ordentlichen Reihe mindestens acht Paar Schuhe. Zwischen zwei Parlamentsauftritten schlüpfte sie häufig in das Zimmer, um sich rasch umzuziehen.123 Die Sorgfalt bei der Auswahl ihrer Kleidung ging einher mit eiserner Selbstkontrolle in der Öffentlichkeit. Ein Fotograf der Daily Mail, der sie Anfang 1976 mehrere Monate begleitete, um einen ungewöhnlichen Schnappschuß zu erhaschen, klagte später, er könne sich an keinen Politiker mit soviel Selbstbeherrschung erinnern. Wenn man die Königin auf einer elftägigen Auslandsreise nach PapuaNeuguinea begleite, dann bekomme man wenigstens mal einen verlorenen Schuhabsatz, ein Gähnen oder ein Augenrollen vor die Linse. „Seit dreißig Jahren beherrscht sich die Königin vor den Kameras, und trotzdem hat man am Ende noch was im Kasten. Bei Thatcher: nichts.“124 Ein größeres Problem war die Stimme der Politikerin, die ihr Parteifreund Chris Patten einmal wenig schmeichelhaft mit dem unerfreulichen Schrillen eines Zahnarztbohrers verglich.125 Tatsächlich hatte sie Schwierigkeiten, sich gegen eine Geräuschkulisse zu behaupten. In den hitzigen Debatten des Unterhauses, wo sich die Abgeordneten oft gegen einen beträchtlichen Lärmpegel durchsetzen müssen, war dies ein Handicap. Menschen mit hoher Stimmlage neigen unter derartigen Umständen dazu zu kreischen, um sich Gehör zu verschaffen. Auch ihre Wirkung in Rundfunk- und Fernsehsendungen litt unter diesem Makel. „Mrs Thatcher has a very attractive voice in ordinary conversation – warm and intelligent“, hieß es in einem Gutachten über die Qualitäten ihrer Radiostimme, „but it has a fairly wide variation of pitch: it exaggerates it and easily makes it sound raucous and

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Siehe WAPSHOTT und BROCK, S. 10–1, 209. Daily Telegraph, 3. Oktober 1975; vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 352. Vgl. YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 38. „She was convinced“, erinnerte sich Lawson, „that her authority – in a world in which a woman’s appearence is always subject of comment, a man’s only occasionally – would be diminished if she were not impeccably turned out at all times“; LAWSON, S. 127. Zit. nach WAPSHOTT und BROCK, S. 209–10. Siehe CAMPBELL, S. 176.

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unpleasing.“126 Hinzu kamen in Thatchers Fall Spätfolgen eines verunglückten Sprechtrainings aus ihren Jugendtagen. Schon als Schülerin hatte sie zusätzlich zu ihrem normalen Stundenplan Sprechunterricht genommen.127 Vor dem Beginn des Studiums in Oxford suchte sie auf Rat ihres Vaters noch einmal einen Sprechlehrer auf, um endgültig ihren LincolnshireAkzent loszuwerden, der sie im vornehmen Oxford als Mädchen aus der Provinz und Angehörige der unteren Mittelschicht verriet.128 Der Übung war jedoch nur ein halber Erfolg beschieden. Die Studentin verlor zwar ihren heimatlichen Zungenschlag, aber die neue, ungewohnte Sprechweise ließ ihre Stimme nicht nur unnatürlich hoch klingen, sondern auch unecht und gekünstelt wirken. Noch Jahre später fiel ihre irritierende Angewohnheit auf, dann und wann das falsche Wort zu betonen. „There were some technical errors“, kritisierte das bereits erwähnte Gutachten, „she tended to put undue emphasis on some words“ – ein Hinweis darauf, daß sie sich in der Hochsprache immer noch nicht ganz zu Hause fühlte.129 Als Oppositionsführerin widmete sie sich daher noch einmal intensiv der Verbesserung ihrer Sprechweise. Mit Hilfe einer Trainerin vom National Theatre arbeitete sie daran, ihre Stimme tiefer, natürlicher und wärmer klingen zu lassen.130 Thatcher hatte jedoch längst herausgefunden, daß es nicht nur Nachteile hatte, in der Männerwelt der Politik eine Frau zu sein, und sei es zunächst nur, weil man als eine von lediglich einer Handvoll Frauen nicht unbemerkt bleiben, der Beförderung kaum entgehen konnte.131 Sie verwandelte ihr Geschlecht gezielt und geschickt in einen politischen Trumpf – gegenüber ihrem Schattenkabinett, gegenüber der konservativen Unterhausfraktion, der Labour-Partei, den Medien und den Wählern. Im Verhältnis zu ihrem Schattenkabinett, das von tiefem gegenseitigem Mißtrauen geprägt war, machte sie sich, bewußt oder unbewußt, die Tatsache zunutze, daß sie viele ihrer Kollegen verunsicherte.132 Man kann Thatchers Lage mit derjenigen eines linkshändigen Boxers vergleichen, der gegenüber anderen im Vorteil ist, weil er

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Mrs Thatcher: broadcasting (Report from George Gretton, 2. 3. 77), in: Sherman Papers, Box 20, Folder 1 (AC 933). So die Schulkameradin Dreda Domacki aus Grantham, zit. in: YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 15. Siehe JUNOR, Thatcher, S. 11–2. Mrs Thatcher: broadcasting (Report from George Gretton, 2. 3. 77), in: Sherman Papers, Box 20, Folder 1 (AC 933); vgl. auch RAWLINSON, S. 246. Vgl. JUNOR, Thatcher, S. 102; THATCHER, Erinnerungen, S. 352; siehe auch Interview mit Sir Adam Ridley, 14. Januar 1999. So jedenfalls CLARKE, Rise, S. 308. Vgl. hierzu G. E. MAGUIRE, Conservative Women. A History of Women and the Conservative Party 1847–1997, Houndmills 1998, S. 184.

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ständig gegen Rechtshänder kämpft, während seine Gegner äußerst selten auf Linkshänder treffen. „[My shadow cabinet colleagues] may be more conscious of me as a woman than I am of them as men“, sagte sie in einem Zeitungsinterview.133 Damit untertrieb sie gewaltig. Die meisten Mitglieder ihres Schattenkabinetts hatten kaum Erfahrungen mit Frauen in der Politik, schon gar nicht mit solchen, die wie Thatcher aus der unteren Mittelschicht stammten. Viele von ihnen waren zu einer Zeit in public schools, in Oxford oder Cambridge erzogen worden, als Frauen dort nicht zugelassen oder wenigstens in separaten Colleges untergebracht waren. Kaum einer von ihnen dürfte zuvor von einer Frau, von der Tochter eines Ladenbesitzers gar, Anweisungen erhalten haben.134 Ihre Kollegen seien nicht daran gewöhnt gewesen, sich in einer untergeordneten Stellung gegenüber einer dominanten Frau zu befinden, schrieb Thatchers Biograph Kenneth Harris, „who liked to begin a discussion by putting forward her own views, would interrupt the subsequent speaker as soon as he said something with which she did not agree, and appeared to have the conviction, which she did not trouble to conceal, that the opinion she held was almost certain to be right.“135 Hinzu kam, daß Thatcher keine Antenne für Doppeldeutigkeiten und schlüpfrige Anspielungen besaß, wie sie in Männergesprächen immer wieder vorkommen. Als sie etwa in einer Unterhausdebatte irgendein neues statistisches Detail mit den Worten präsentierte: „I have the latest red-hot figure“, brach das versammelte Plenum in schallendes Gelächter aus. Nur der Rednerin selbst blieb der Grund für die plötzliche Heiterkeit verborgen.136 Für jenes Gemisch aus Ironie und verstecktem Hintersinn, das bei vielen ihrer männlichen Kollegen den Umgangston prägte, fehlte ihr jedes Gespür. Von der partei-übergreifenden männlichen Kameraderie, die nicht zuletzt auf diesem Umgangston, auf typisch britischem Understatement und augenzwinkerndem Einverständnis beruhte, war sie ausgeschlossen – zumal sie während ihrer gesamten parlamentarischen Karriere kaum Zeit in den Bars und Rauchzimmern des Unterhauses verbrachte, wo ihre männlichen Kollegen sich zu treffen und einander über die Parteigrenzen hinweg kennenzulernen pflegten.137 Wenn Thatcher etwas sagte, meinte sie es wört-

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The Observer, 18. Februar 1979. „I have never been spoken to that way in my life“, beklagte sich zum Beispiel ihr Stellvertreter William Whitelaw im privaten Kreis; zit. nach NOEL ANNAN, Our Age: Portrait of a Generation, London 1991, S. 433. HARRIS, Thatcher, S. 60. Thatcher selbst hat diese Anekdote in einem Interview berichtet, in: The Observer, 18. Februar 1979. „The camaraderie, the relaxed, joky, allusive style, the affectation of doing things well with-

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lich. Wenn man ihr etwas erzählte, verstand sie es buchstäblich. Wenn sie etwas nicht begriff, zögerte sie nicht, solange zu fragen, bis es ihr klar war. Sie habe Fragen gestellt, die kein Mann vorzubringen wagte, weil er damit seine Unkenntnis zugegeben hätte, berichtete einer ihrer Mitarbeiter. Ihr hingegen habe es nichts ausgemacht, für ahnungslos gehalten zu werden.138 Diese Eigenschaft machte sie schon früh zu einer unbequemen Kollegin. Woodrow Wyatt, ein Labour-Abgeordneter und Kolumnist des Sunday Mirror, der über gute Kontakte zur Tory-Partei verfügte, schrieb im Dezember 1969: She is more a niggler than a debater. Anti-feminists may feel that she is the sort of thing that happens if you allow women to go into politics. Her air of bossiness, her aptitude for interfering, can be very tiresome and irritating to easy-going men who do not want to be kept up to scratch, particularly by a female. It confirms their suspicion that women prefer petty points to the broad view.139

Im direkten Gespräch mit Thatcher taten sich die männlichen Größen der Tory-Partei schwer, ihrem Ärger Luft zu machen. Als wohlerzogene Gentlemen waren sie gewohnt, Damen ritterlich und zuvorkommend gegenüberzutreten. In Auseinandersetzungen mit einer streitlustigen Person wie Thatcher war Ritterlichkeit jedoch mitunter hinderlich.140 Auch in der konservativen Unterhausfraktion brachte die neue Parteichefin die ritterlichen Tugenden ihrer männlichen Kollegen zum Vorschein. Im 1922 Committee war es seit jeher Brauch, daß die Abgeordneten sitzen blieben, wenn der Parteiführer den Raum betrat. Als Thatcher jedoch dem Komitee ihren Antrittsbesuch abstattete, veranlaßte eine spontane Regung der Höflichkeit die Abgeordneten, sich geschlossen von ihren Plätzen zu erheben. Thatcher erkannte die günstige Gelegenheit und nutzte sie. „She made a procession to her seat“, erinnerte sich einer der Anwesenden, „as though she expected them to remain standing; and when she got there turned as though to say, ‚Please be seated‘.“141 Die Wirkung der Szene auf die anwesenden Männer muß beträchtlich gewesen sein. Einer von ihnen erzählte später: „Suddenly she looked very beautiful – and very frail, as the half-dozen

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out trying, the view of politics, and most other things, as a game, these expressions of the ruling male culture [. . .] all these were alien to her“, erinnerte sich CRADOCK, S. 21. RANELAGH, S. X; vgl. auch ebd., S. 282. Sunday Mirror, 28. Dezember 1969; zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 176. Whitelaw gab später zu, „[that we did] somehow show more deference to a woman than we would to a man leader. Women get away with more with men than men do. We all know that, and I don’t think [Thatcher is] in the least afraid to use the feminine touch to get her way if she wants to“; zit. nach YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 39–40. Vgl. auch RAMSDEN, Winds of Change, S. 426. Zit. nach HARRIS, Thatcher, S. 97. Vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 340.

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knights of the shires towered over her. It was a moving, almost feudal, occasion. Tears came to my eyes.“142 Derartige Szenen blieben nicht auf das 1922 Committee beschränkt, sie wiederholten sich auch im Plenum des Parlaments. „Margaret’s election has stirred up her own side wonderfully“, notierte die Labour-Politikerin Barbara Castle spitzzüngig in ihrem Tagebuch, all her backbenchers perform like knights jousting at a tourney for a lady’s favours, showing off their paces by making an unholy row at every opportunity over everything the Government does. [. . .] She sat with bowed head and detached primness while the row went on: hair immaculately groomed, smart dress crowned by a string of pearls. At last she rose to enormous cheers from her own side to deliver an adequate but hardly memorable intervention with studied charm.143

Ein Teil dieser Schilderung mag eher auf Castles Einbildungskraft und Spottlust zurückzuführen sein als auf das wirkliche Verhalten der konservativen Fraktion. Es kann jedoch wenig Zweifel daran bestehen, daß der Anblick von Thatchers zierlicher Gestalt im Kreise der Männer um sie herum bei manchem Abgeordneten wirklich Beschützerinstinkte und eine gewisse emotionale Loyalität hervorrief.144 Die Labour-Partei war in der Einschätzung Thatchers gespalten. Führende Frauenrechtlerinnen der Partei begrüßten ihre Wahl begeistert.145 Castle vermerkte am 11. Februar in ihrem Tagebuch: „I can’t help feeling a thrill [. . .] I have been saying for a long time that this country is ready – even more than ready – for a woman Prime Minister.“146 Die meisten ihrer Kabinettskollegen beurteilten Thatchers Wahl freilich anders. Unmittelbar vor dem ersten Urnengang der Tory-Fraktion hatte der Economist einen Labour-Minister mit der Bemerkung zitiert, wenn Thatcher gewählt würde, bedeute dies für seine Partei 25 ungestörte Jahre in der Regierung.147 Nach der Wahl war die Stimmung im sozialistischen Lager dementsprechend fröhlich. Man lachte, scherzte und klopfte sich gegenseitig auf die Schultern. Die britischen Wähler seien noch nicht bereit, eine Frau als Regierungschefin ernsthaft in Betracht zu ziehen, glaubte man in der 142 143 144 145

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HOWE, S. 94. Tagebucheintrag vom 4. März 1975; CASTLE, Diaries 1974–76, S. 329. So jedenfalls RAMSDEN, Winds of Change, S. 454; vgl. auch COSGRAVE, Thatcher, S. 17–8. „I am very happy to see a woman leading a political party for the first time in Britain“, bemerkte eine von ihnen. „I expect I shall have plenty of cause to oppose policies which the Conservative party will adopt under her leadership but nothing can detract from her achievement. The Tories of all people have broken through the sex discrimination barrier“; Renee Short zit. nach Daily Telegraph, 13. Februar 1975. Tagebucheintrag vom 11. Februar 1975; CASTLE, Diaries 1974–76, S. 309. The Economist, 8. Februar 1975.

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Führungsriege der Labour-Partei. Thatcher werde im Wahlkampf für ihre Partei zum Klotz am Bein. „That’s it, we’re home and dry“, lautete die überwiegende Meinung. „No need to worry about the next election. It’s a foregone conclusion. Well, how could the Tory Party – the Tory Party – possibly win with a woman at the head?“148 Doch auch wenn die LabourPartei insgeheim hoffte, eine Frau an der Spitze werde ihre Gegner schwächen, machte Thatchers Wahl Premierminister Wilson seine Arbeit im Unterhaus nicht leichter. Wenn er seine Gegnerin im Parlament allzu höhnisch oder verächtlich behandelte, geriet er in den Ruf, ein Frauenfeind zu sein, darüber wurde man sich in der Labour-Partei zunehmend klar.149 Thatchers Vorteil bestand darin, daß sie umgekehrt vergleichbare Rücksichten nicht nehmen mußte. Im Gegenteil: Je heftiger sie Wilson und später dessen Nachfolger James Callaghan attackierte, desto größer war der Beifall, den sie erntete. In der öffentlichen Wahrnehmung profitierte sie ebenfalls von der Tatsache, daß sie eine Frau war. „Mrs Thatcher’s chief asset is her sex“, wie es der Spectator im Sommer 1976 leicht herablassend formulierte.150 Schon bei ihren ersten beiden Wahlkämpfen 1950 und 1951 hatte sie als jüngste Frau, die sich um einen Unterhaussitz bewarb, ungleich mehr Medienaufmerksamkeit auf sich gezogen als Hunderte ihrer älteren männlichen Kollegen in vergleichbaren Wahlkreisen. „She’s young – only 24 – and she is beautiful“, schrieb im Februar 1950 die Sonntagszeitung People, die sie als „the election Glamour Girl“ titulierte. „Lovely fair hair and beautiful blue eyes [. . .] By the way she’s got brains as well.“151 Als sie acht Jahre später zur Kandidatin des Wahlkreises Finchley gewählt wurde, konzentrierte sich die Berichterstattung der Presse hauptsächlich auf die Tatsache, daß die dortigen Tories sich für eine Frau entschieden hatten. „Barrister, Housewife, Mother of Twins“, titelte die Finchley Press; die Schlagzeile im Evening Standard lautete: „Tories Choose Beauty“. Ein Jahr später wurde sie vom Daily Mirror – gemeinsam mit der Labour-Politikerin Pat Llewellyn-Davies – zur schönsten Frau im Wahlkampf 1959 gekürt. Nach ihrem Einzug ins Parlament schrieben die Evening News, auf Thatchers Sohn anspielend: „Mark’s Mummy Is An MP Now“, und bezeichneten sie als „Britain’s most talked-

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Zit. nach MARCIA FALKENDER, Downing Street in Perspective, London 1983, S. 233. „Harold couldn’t pour scorn on a woman“, notierte Industrieminister Benn in seinem Tagebuch, „because the people wouldn’t have it“; Tagebucheintrag vom 4. Februar 1975; BENN, Conflict, S. 311. Spectator, 19. Juni 1976. People, 12. Februar 1950; zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 79.

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about, hard-hitting woman MP“.152 Auf höheren Ebenen wiederholte sich der gleiche Effekt nach ihrer Wahl zur Parteichefin im Januar 1975 und zur Premierministerin im Mai 1979. Jeweils galt ein Gutteil der Presse- und Rundfunkberichte nicht ihrer Person, sondern dem Umstand, daß nun erstmals eine Frau an der Spitze der Konservativen Partei bzw. eines führenden westlichen Industrielandes stand. Gegenüber den britischen Wählern präsentierte sich Thatcher, ihrem populistischen Politikverständnis folgend, als Frau aus dem Volke. Sie versuchte nicht, typisch weibliche Klischees zu vermeiden, sondern posierte ganz im Gegenteil gern als Hausfrau, Gattin und Mutter, ließ sich beim Einkaufen, Staubsaugen und Abwaschen filmen. In Interviews erzählte sie bereitwillig, wie sie am Wochenende die liegengebliebene Hausarbeit verrichtete, wo sie ihrem Ehemann Denis dessen Lieblingsschinken kaufte und wie sie ihrer Familie täglich das Frühstück bereitete. Über ihre Kleidergröße plauderte sie bei diesen Gelegenheiten ebenso wie über die Vorzüge von Gesichtscremes und die Frage, ob sie jemals weine.153 In ihren Reden verwies sie hin und wieder darauf, wie nützlich ihr Wissen als Hausfrau im politischen Alltagsgeschäft sei. Die Wendungen, die sie dabei benutzte, veränderten sich im Laufe der Jahre wenig. Schon bei ihrem ersten Wahlkampf 1950 hatte sie sich direkt an die weiblichen Wähler gewandt: „Don’t be scared of the high-flown language of economists and cabinet ministers; but think of politics of our own household level. After all, women live in contact with food supplies, housing shortages and the ever decreasing opportunities for children.“154 Beinahe dreißig Jahre später, im Wahlkampf 1979, hatte sich die Grundmelodie nicht verändert. „[A] woman can have qualities a man may not have. I do my own shopping. I do know what women have to put up with. I know what it’s like to run a home and a job.“155 Die Medien griffen das Image der Politikerin mit den Hausfrauentugenden begierig auf. Im Daily Mirror, dessen Reporter Thatcher während des Wahlkampfes um die Parteiführung ein Wochenende lang begleitete, konnte man zum Beispiel lesen: „Margaret Thatcher had all her chores neatly lined up at the weekend. First there was the kitchen to tidy. Then the bathroom, a dash around with a duster and on to the shopping and the laundry. And after that

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Finchley Press, 18. Juli 1958; Evening Standard, 15. Juli 1958; Daily Mail, 23. September 1959; Evening News, 25. Februar 1960; zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 114, 119, 124. Siehe etwa The Observer, 12. Oktober 1975; vgl. auch COCKERELL, S. 235. Zit. nach JUNOR, Thatcher, S. 32. The Observer, 18. Februar 1979.

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she had to tidy up the Tory party, polish off Ted Heath and give Britain a good spring cleaning.“156 Die Schwierigkeit für Thatcher und ihre Berater bestand nach 1975 darin, die Hausfrauenqualitäten, die weibliche Seite der Politikerin überhaupt, mit der Überzeugungskraft und Führungsstärke zu verbinden, die sie ebenfalls vermitteln wollte. Wie konnte sie zugleich hart und weich, entscheidungsfreudig und mitfühlend, angriffslustig und verständnisvoll wirken? Ironischerweise half ausgerechnet die Sowjetunion, dieses Dilemma aufzulösen. Als Thatcher im Januar 1976 eine ihrer ersten außenpolitischen Reden hielt, in der sie die Sowjetunion heftig anfeindete, antwortete der Rote Stern (Krasnaja Zvezda), die Zeitung der Roten Armee, mit einem Artikel unter der Überschrift „Die Eiserne Dame macht Angst“.157 Thatcher erkannte sofort, wie nützlich die Bezeichnung sowohl für ihr innen- als auch außenpolitisches Image war. „Ladies and Gentlemen“, begrüßte sie wenige Tage später die Mitglieder ihres Ortsvereins in Finchley, „I stand before you tonight in my green chiffon evening gown, my face softly made up, my fair hair gently waved [. . .] The Iron Lady of the Western World! Me? A Cold Warrior?“158 Im März 1976 beendete sie eine Schimpftirade auf Schatzkanzler Healey mit den Worten: „So much for the Iron Chancellor. I begin to wonder if the Russians weren’t right. Perhaps this country needs an Iron Lady.“159 Auch in ihrer nächsten großen anti-kommunistischen Rede zur Außenpolitik Ende Juli tauchte der Begriff wieder auf. „Perhaps once again I shall be called the Iron Lady for daring to voice these things“, konstatierte sie im Anschluß an ihr Plädoyer für wirtschaftliche Sanktionen gegen Moskau. „Iron? I know not. But I do know that the one thing that has meant more than anything else in my life is that my children and their generation have not had to risk everything in war as their fathers did before them.“160 Von nun an gehörte das Schlagwort von der Eisernen Lady zur Grundausstattung ihrer Reden und Interviews und der Kommentare über sie.161

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Daily Mirror, 3. Februar 1975. Krasnaja Zvezda Nr. 19, 24. Januar 1976, S. 3. Der Autor J. Gavrilov beschäftigte sich darin mit Thatchers Rede vom 19. Januar 1976: Speaking at Kensington Town Hall, News Service 42/76. Am 31. Januar 1976 in ihrem Wahlkreis in Finchley: News Service 94/76, S. 1. Am 20. März 1976 beim Central Council Meeting in Norwich: News Service 317/76, S. 6. Am 31. Juli 1976 auf einer Kundgebung Dorking/Surrey, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 29–39 (S. 38). Vgl. COCKERELL, S. 234.

2. Thatchers Ziele

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2. THATCHERS ZIELE A)

DAS INDIVIDUUM STÄRKEN

Thatcher entwickelte in den Oppositionsjahren nicht nur einen unverkennbaren eigenen Politikstil. Sie entwarf auch die Grundzüge ihrer persönlichen Weltanschauung, eine spezifische Hierarchie moralischer Werte und politischer Ziele, in deren Mittelpunkt die Begriffe „Freiheit“ und „Individuum“ standen. „Freedom will be our battle cry; and the individual will be our watchword.“ Als Thatcher im Mai 1976 den Delegierten des CDUParteitages in Hannover, zu dem sie als Ehrengast eingeladen war, diese Worte zurief, wollte sie nicht nur ihre Verbundenheit mit den Westdeutschen zum Ausdruck bringen.162 Zugleich benannte sie die beiden grundlegenden Begriffe ihres Weltbildes, von denen ausgehend man ihren politischen Feldzug verstehen muß. Ihr erstes und wichtigstes Ziel bestand darin, das Individuum zu stärken – und zwar in einem doppelten Sinne. Zum einen wollte sie die Freiheit des einzelnen wieder ins Zentrum des Weltbildes ihrer Landsleute rücken. Großbritannien, ja die gesamte westliche Wertegemeinschaft konnten ihrer Ansicht nach nur überleben, wenn die Gewichte innerhalb der Gesellschaft zugunsten der Rechte und Pflichten der Bürger verschoben wurden, wenn kollektive Einheiten wie der Staat oder die Gewerkschaften, die in den vergangenen Jahrzehnten unverhältnismäßig viel Macht usurpiert hatten, entmachtet wurden. „[F]reedom is individual; there is no such thing as ‚collective freedom’“, lautete der Kernsatz ihrer Überzeugung.163 Zum anderen wollte sie das Individuum dadurch stärken, daß sie bestimmte Tugenden postulierte, die den einzelnen wortwörtlich „stärker“ machten.164 Mut, Risikobereitschaft, Verantwortungsgefühl, Unabhängigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, auch Abenteuerlust und Entdeckungsgeist – das waren die Eigenschaften, die Großbritannien in ihren Augen in der Vergangenheit groß gemacht hatten und die es auch aus der gegenwärtigen Krise in eine bessere Zukunft führen würden. Die Freiheit des Individuums nahm in Thatchers Reden ungewöhnlich breiten Raum ein. „[I]f we are to change our direction“, rief sie den Delegierten des Parteitags der Jungkonservativen zu, „if we are to fight for the

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Am 25. Mai 1976 auf dem CDU-Parteitag in Hannover: News Service 544/76, S. 5. Am 20. September 1976 vor dem Federal Council der Liberal Party of Australia in Melbourne, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 10–7 (S. 13). Diesen Punkt betont insbesondere LETWIN.

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I. Der Thatcher-Faktor

resurgence of Britain, we must start with the liberty of the individual.“165 Jeder Versuch, die Gesellschaft zu verbessern, Staat und Wirtschaft zu reformieren, mußte beim einzelnen Mensch ansetzen, bei seinen Wünschen, seinen Plänen, seinem Ehrgeiz, davon war sie überzeugt. Nur wer die Energie der Bürger freizusetzen verstand, hatte eine Chance, positive Veränderungen zu erreichen. Bei einer Wahlkampfrede in Cardiff fragte sie: [W]hat is the real driving force in society? It is the desire for the individual to do best for himself and his family. How is society to be improved? By millions of people resolving that they give their children a better life than they have had themselves. There is no substitute for this elemental human instinct.166

Freiheit und Individualismus waren für sie aber nicht bloß Mittel zum Zweck gesellschaftlicher Reform. Sie waren Werte an sich. Sie bildeten das Fundament der europäischen Kultur. Der Glaube an den Wert jedes einzelnen Menschen sei die wichtigste Gemeinsamkeit der europäischen Nationen, so Thatcher. „We accept the moral commitments of a free society, which have been handed down to us from their origins among the Jews and Greeks through the rich development of the Christian tradition.“167 Zusammen mit Patriotismus und Religiosität gehörte die Freiheit des einzelnen ihrer Ansicht nach zu den Grundwerten der westlichen Welt, für die es sich lohnte, Opfer zu bringen, sogar sein Leben zu riskieren. „To fight and to make sacrifices men need an ideal. They will fight for freedom as they will fight for flag or religion, because freedom is based on more than economic and political convenience; it embodies the sanctity and uniqueness of the individual, a keystone of Western society.“168 Freiheit war in ihren Augen auch dann ein Wert an sich, wenn sie in Konflikt mit anderen Gütern, etwa mit gesellschaftlicher Harmonie oder sozialer Gerechtigkeit, zu geraten schien.169 Im Zweifelsfalle rangierte die Freiheit des einzelnen über den Interessen irgendwelcher Kollektive. Die Annahme, daß die Rechte einer Gruppe von Menschen höher einzustufen waren als Individualrechte, hielt

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Am 8. Februar 1976 auf dem 16. Parteitag der Jungkonservativen in Scarborough: News Service 128/76, S. 2. Am 16. April 1979 in der Stadthalle von Cardiff: News Service GE 542/79, S. 7. Am 24. Juni 1977 vor dem Centro Italiano di Studi per la Conciliazione Internazionale in Rom, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 33–42 (S. 34, 41). Am 10. September 1977 vor der English Speaking Union im River Oaks Country Club in Houston/USA: News Service 883/77, S. 2. „[E]ven when freedom, as it sometimes does, seems to be working against social harmony, we must remember that it has its own intrinsic value, just because men and women were born to be free“; am 30. März 1978 in der Kirche St Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 62–70 (S. 69); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 70–7 (S. 76).

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sie für einen sozialistischen Irrtum: „The Socialist concept that rights belong ,collectively‘ to groups, and not to individuals, is extremely dangerous. It implies that some men, those in groups, are entitled to such rights, while others are not.“170 Freiheit, wie Thatcher sie verstand, gab dem Menschen nicht nur Rechte, sie brachte auch Pflichten und den Zwang zu möglicherweise schwierigen Entscheidungen mit sich. Gerade darin lag ihrer Ansicht nach die besondere Würde des Menschen: „There are many difficult things about freedom: it does not give you safety; it creates moral dilemmas for you; it requires selfdiscipline; it imposes great responsibilities; but such is the destiny of man and in such consists his glory and salvation.“171 In diesem Zitat tauchen die beiden Aspekte auf, um die Thatchers Reden über die Freiheit des Individuums immer wieder kreisen: die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit für den einzelnen Menschen, freie Entscheidungen zu treffen und die moralische Verantwortung, die dem Individuum aus dieser Freiheit erwächst. Die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen, war in Thatchers Augen die Grundbedingung der Freiheit des Menschen. Ohne diese Wahlfreiheit gab es keine anderen Formen der Freiheit. Nicht einmal die Unterscheidung zwischen Gut und Böse hatte ohne sie irgendeinen Sinn. Denn nur wo der Mensch zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen konnte, hatte er die Chance, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen. Nur wo er sich zwischen zwei Alternativen entscheiden konnte, hatte er die Möglichkeit, Gutes oder Schlechtes zu tun: „Choice is the essence of ethics, if there were no choice, there would be no ethics, no good, no evil; good and evil have meaning only in so far as man is free to choose.“172 Die Freiheit zu wählen mußte in allen Bereichen des menschlichen Lebens gegeben sein, ehe man wirklich von einer freien Gesellschaft sprechen konnte. Das galt nicht nur im Großen, bei Grundsatzentscheidungen in Ethik und Politik, sondern auch und gerade im Kleinen, in Alltagsentscheidungen: „Power is primarily the power of choice. Choice in small things, and in big things, the food you buy, the house you rent or the

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Am 20. September 1976 vor dem Federal Council der Liberal Party of Australia in Melbourne, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 13. Zum Folgenden, insbesondere zum Zusammenhang von Wahlfreiheit und Verantwortung, siehe KLAUSE, S. 45–58. Am 30. März 1978 in der Kirche St Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 62–70 (S. 70); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 70–7 (S. 77). Am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 21–30 (S. 26); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 53).

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home you own; the clothes you wear or the holidays you choose. Where you invest, the risks you take. All these individual choices are a fundamental part of freedom.“173 Diese Aufzählung macht deutlich, daß Thatcher insbesondere an ökonomische Entscheidungen, an die Wahlfreiheit des Konsumenten in der Wirtschaft, dachte, wenn sie von choice sprach. Die Leute müßten frei wählen können, welche Güter und Dienstleistungen sie konsumierten, führte sie aus. „When they choose through the market their choice is sovereign. They alone exercise their responsibility as consumers and producers.“174 Nur das freie Spiel der Kräfte auf dem Markt eröffne den Bürgern die Möglichkeit, aus verschiedenen Angeboten auszuwählen und somit freie Entscheidungen zu treffen. Der Markt zwinge die Produzenten, auf die verschiedenen Wünsche ihrer Kunden einzugehen und ihnen die Wahl zwischen unterschiedlichen Waren zu geben. Der Staat hingegen tendiere dazu, Wahlmöglichkeiten einzuschränken, den Bürgern Vorschriften zu machen, ihnen die Wahl abzunehmen: „The chance to make consumer choices, even to pick between brands of tea, makes of shirts or types of newspaper – this freedom is essential if manufacturers are to respond to the demands of the individuals, and not be governed by the dictates of the State.“175 Eine der schlimmsten Untaten des „Sozialismus“ bestand darin, daß er dem Menschen die Möglichkeit zu wählen verweigerte.176 In einer Welt ohne Wahlfreiheit würden die Menschen gleichgemacht; ihre Initiativkraft und Kreativität würden nicht als schöpferisch, sondern als störend empfunden und durch bürokratische Kontrollen eingedämmt: „Where there is no choice we are reduced to a world in which everyone must do the same thing – not their own thing. The sort of world where it is difficult to run even a small business without constant interference. Where filling the forms, and fulfilling the regulations can take almost as much time as the

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Am 1. Juli 1975 bei einem Lunch der Gesellschaft „Aims for Freedom and Enterprise“ im Europa Hotel in London: News Service 648/75, S. 4. Am 4. Juli 1977 in ihrer Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 54); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 63). Am 8. Februar 1976 auf dem 16. Parteitag der Jungkonservativen in Scarborough: News Service 128/76, S. 3. „[T]he Socialist-statist philosophy [. . .] sets up a centralized economic system to which the individual must conform, which subjugates him, directs him and denies him the right to free choice“; am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 21–30 (S. 26), ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 53).

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useful job you are actually trying to do.“177 Sozialisten glaubten, man könne den Menschen nicht zutrauen, für sich selbst zu entscheiden, sagte die Politikerin an anderer Stelle. „Socialism is the denial of choice, the denial of choice for ordinary people in their everyday lives.“178 Wer im Supermarkt nicht die Wahl zwischen verschiedenen Produkten hatte, war genauso unfrei wie derjenige, der nicht die Möglichkeit hatte, zwischen verschiedenen Parteien mit verschiedenen Programmen zu wählen. Wie die Diktatur die politische Freiheit bedrohte, so bedrohten Monopole – private wie staatliche – die wirtschaftliche Freiheit. Der freie Wettbewerb in der Wirtschaft war für die Freiheit ebenso wichtig wie der Wettstreit der Parteien. Wer in die wirtschaftlichen Freiheiten des einzelnen eingriff, gefährde auf lange Sicht auch dessen politische Freiheit. „There is an increasing belief that freedom is divisible“, kritisierte sie im Juli 1975, „that you can have political freedom and economic slavery. That you can preserve intellectual freedom and destroy commercial independence. That you can fight for freedom of speech and yet overthrow freedom of enterprise. No myth is more dangerous. Freedom is indivisible.“179 Ohne persönliche Freiheit gebe es überhaupt keine Freiheit, wiederholte sie bei anderer Gelegenheit. „And if personal economic freedom is slowly strangled, political freedom will not survive.“180 Thatcher beschränkte sich jedoch nicht darauf, die Rechte des Individuums in Staat und Wirtschaft hervorzuheben. Zugleich betonte sie seine Pflichten. Wahlfreiheit und moralische Verantwortung waren in ihren Augen zwei Seiten derselben Medaille. Weil der einzelne die Chance hatte, sich frei zu entscheiden, mußte er auch die Verantwortung für seine Entscheidungen tragen. „[P]eople have a moral responsibility which they must accept. Moral in the widest sense of the term. Moral responsibility for their own actions.“ Es ging nicht an, daß manche Menschen zwar die angenehmen Aspekte ihrer Freiheit genossen, die unangenehmen jedoch auf die Gesellschaft abwälzen wollten. „We must exorcise the idea that if you do something wrong it is not your fault but the fault of the society around. [. . .] We’ve got to move forward to a society in which the individual accepts a moral responsibility for his or her own actions.“181 177 178 179 180 181

Am 8. Februar 1976 auf dem 16. Parteitag der Jungkonservativen in Scarborough: News Service 128/76, S. 3. Am 31. Januar 1976 in ihrem Wahlkreis in Finchley: News Service 94/76, S. 9. Am 1. Juli 1975 bei einem Lunch der Gesellschaft „Aims for Freedom and Enterprise“ im Europa Hotel in London: News Service 648/75, S. 2. Am 20. Februar 1976 in der St. George’s Hall in Exeter: News Service 175/76, S. 7. The Observer, 25. Februar 1979. Vgl. auch ihre Ansprache am 14. Dezember 1978 bei der

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Die menschliche Freiheit, wie Thatcher sie verstand, zog Risiken nach sich: Im Erfolgsfall erntete man die Früchte – und bei Mißerfolgen mußte man die Konsequenzen tragen.182 Jeder Mensch war für sein eigenes Schicksal selbst verantwortlich. Der Staat durfte ihm diese Verantwortung nicht abnehmen. Aufgabe der Politik konnte es dementsprechend nicht sein, den Menschen Rettung durch den Staat zu versprechen. „It is part of my political faith“, so Thatcher, „that people must save themselves. Many of our troubles are due to the fact that our people run to politicians for everything.“183 Wenn man forderte, jeder solle sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, mußte man sich mit dem Umstand abfinden, daß einige dieser Aufgabe besser gewachsen waren als andere. Thatcher sah darin kein Problem. Im Gegenteil. Sie betrachtete die Ungleichheit der Menschen nicht als Übel, das man hinnehmen mußte, sondern als ein Gut, das es zu fördern galt. „Some Socialists seem to believe that people should be numbers in a State computer. We believe they should be individuals. We are all unequal. No one, thank heavens, is quite like anyone else [. . .] We believe that everyone has the right to be unequal.“184 Wer dagegen von „sozialer Verantwortung“ und „gemeinsamer Verantwortung“ sprach, den betrachtete die Politikerin mit Mißtrauen. Jeder, der so argumentierte, wollte sich nur selbst aus der Verantwortung stehlen, vermutete sie. Ihrer Ansicht nach krankte die britische Gesellschaft genau daran, daß alle irgendwie verantwortlich waren, aber niemand sich verantwortlich fühlte. „[T]he concept of social responsibility has turned sour in practice“, betonte sie und erläuterte in einer anderen Rede, warum das so war: „The truth is that individually man is creative; collectively he is spendthrift.“185 Wirkliche soziale Verantwortung begann für sie damit, daß jeder für sich selbst zu sorgen versuchte. Nur wer in der Lage war, allein zurechtzukommen, konnte in einem – notwendigen und wünschenswerten – näch-

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Verleihung des „Woman of Conscience Award“ der „Appeal of Conscience Foundation“ in New York: News Service 1609/78, S. 4. Vgl. ihre Rede am 6. Juni 1975 beim Annual Luncheon des Institute of Directors im Penns Hall Hotel in Sutton Coldfield: News Service 561/75, S. 4. Am 19. September 1975 vor dem National Press Club in Washington: News Service 788/75, S. 1. Am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag in Blackpool, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–28 (S. 25–6); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 36). Am 15. September 1975 vor dem Institute of Socio-Economic Studies in New York, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 1–17 (S. 3); ähnlich am 16. April 1979 in der Stadthalle von Cardiff: News Service GE 542/79, S. 7.

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sten Schritt für andere Verantwortung übernehmen: für seine Familie, seine Firma, seine Nachbarschaft.186 Thatchers Weltanschauung ging vom Individuum aus, blieb aber nicht bei ihm stehen. Vielmehr forderte sie ausdrücklich aktives Engagement für andere, freilich in konzentrischen Kreisen: zuerst für die nächsten Angehörigen, dann für Nachbarn und Freunde, später vielleicht für Region und Nation, erst ganz zum Schluß für die gesamte Menschheit. Anders gewendet: Nur wer in der Lage war, auf eigenen Füßen zu stehen, für sich und seine Angehörigen selbst zu sorgen, der konnte auch ein verantwortungsbewußter Bürger sein. Für Thatcher war kein freies Gemeinwesen von Dauer denkbar, das sich nicht aus selbstverantwortlichen Bürgern zusammensetzte. „The sense of being self-reliant, of playing a role within the family, of owning one’s own property, of paying one’s way, are all part of the spiritual ballast which maintains responsible citizenship, and provides the solid foundation from which people look around to see what more they might do, for others and themselves.“187 Die Ansichten über Freiheit und Individuum, die Thatcher äußerte, waren weder neu noch originell. Man konnte alles, was sie zu diesen Themen sagte, bei jenen Klassikern des englischen Liberalismus nachlesen, die sie in ihren Reden und Interviews gern zitierte. Bei Jeremy Bentham etwa, der 1832 starb, findet man dieselbe individualistische Betrachtungsweise der Gesellschaft. Das Interesse der Gemeinschaft sei nichts anderes als die Summe aller Einzelinteressen, aus denen sie sich zusammensetzt.188 Mit John Stuart Mill und Lord Acton, herausragenden Vertretern der nächsten Generationen liberaler Denker, betonte Thatcher den Eigenwert der indi186

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Im Juli 1977 erklärte sie etwa: „Let us start from the idea of self. There is not, and cannot possibly be, any hard-and-fast antithesis between self-interest and care for others, for man is a social creature, born into family, clan community, nation, brought up in mutual dependence. The founders of our religion made this a cornerstone of morality. The admonition: love thy neighbour as thyself, and do as you would be done by, expresses this. You will note that it does not denigrate self, or elevate love of others above it. On the contrary, it sees concern for self and responsibility for self as something to be expected, and asks only that this be extended to others. This embodies the great truth that self-regard is the root of regard for one’s fellows“; am 4. Juli 1977 in ihrer Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 53–4); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 62). Am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 21–30 (S. 26); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 53). „The community“, schrieb Bentham, „is a fictitious body, composed of the individual persons who are considered as constituting, as it were, its members“; JEREMY BENTHAM, Introduction to the Principles of Morals and Legislation, hrsg. von WILFRID HARRISON, London 1948, S. 126.

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viduellen Freiheit, die – anders als Bentham behauptet hatte – nicht der utilitaristischen Suche nach dem größten Glück der größten Zahl geopfert werden dürfe. Vielmehr finde die Freiheit des einzelnen nur an der Freiheit der anderen Menschen ihre Grenze.189 Wie Lord Acton war Thatcher der Meinung, die Freiheit sei kein Mittel zum Zweck, sondern selbst das höchste politische Ziel.190 Dies alles war nicht neu. Erstaunlich war die Selbstverständlichkeit, mit der die Führerin der Konservativen Partei liberales Gedankengut aufgriff und sich zugleich über die Fortentwicklung der liberalen Tradition in England seit etwa 1870 hinwegsetzte. Seit dieser Zeit hatten liberale Theoretiker den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft zunehmend als künstlich kritisiert und festgestellt, daß eine derartige Konzeption als Basis für eine Diskussion über die Aufgaben und Pflichten der Regierung unbrauchbar sei. Die Freiheit dürfe nicht länger ausschließlich negativ definiert, sondern müsse statt dessen positiv verstanden werden, als „power or capacity of doing or enjoying something worth doing or enjoying“.191 In dieser Sicht der Dinge war der Staat nicht mehr die Bedrohung, gegen die es sich zu schützen galt. Vielmehr kam ihm die Aufgabe zu, die Bedingungen zu schaffen, in denen eine positiv verstandene Freiheit gelebt werden konnte. Damit rückte das, was man seit Beginn des 20. Jahrhunderts „Chancengleichheit“ nannte, in den Mittelpunkt liberalen Denkens. Freiheit war ein auf die Gesellschaft und nicht mehr allein auf das Individuum bezogener Begriff geworden.192

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„[T]he sole end“, schrieb Mill, „for which mankind are warranted, individually or collectively, in interfering with the liberty of action of any of their number, is self protection [. . .] the only purpose for which power can be right-fully exercised over any member of a civilized community against his will, is to prevent harm from others“; JOHN STUART MILL, Essay on Politics and Society. Collected Works of John Stuart Mill. Bd. 28, Toronto 1977, S. 223–4; Thatcher zitierte Mill in diesem Sinne etwa am 10. Oktober 1968: „What’s Wrong with Politics“. Address to the Conservative Political Centre Meeting, Blackpool, abgedruckt in: GARDINER, S. 207–16 (S. 213). Vgl. LORD ACTON, The History of Freedom in Antiquity, zit. nach ALAN BULLOCK und MAURICE SHOCK (Hrsg.), The Liberal Tradition from Fox to Keynes, 2. Aufl. London 1966, S. 121; Thatcher zitierte Acton zum Beispiel am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 21–30 (S. 26); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 54), und am 4. Juli 1977 in ihrer Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 58); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 66–7). THOMAS HILL GREEN, Liberal Legislation or Freedom of Contract, zit. nach BULLOCK und SHOCK (Hrsg.), S. 180. Vgl. ALAN BULLOCK und MAURICE SHOCK, Englands liberale Tradition, in: LOTHAR GALL (Hrsg.), Liberalismus, Königstein/Taunus 1980, S. 254–82 (S. 272). Siehe hierzu auch MICHAEL FREEDEN, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1986.

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Thatchers Abneigung gegen einen so verstandenen „positiven“ Freiheitsbegriff und ihr Rückgriff auf die liberalen Theorien der ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts beruhte nicht auf intensivem philosophischen Studium. Sie war eine pragmatische Politikerin, keine Philosophin, die sich für spekulative Gedankengebäude um ihrer selbst willen interessierte. Wer ihre tiefsitzenden Überzeugungen über den Wert individueller Freiheit verstehen will, sollte daher nicht bei den liberalen Philosophen des 19. Jahrhunderts nachschlagen, sondern bei einem Theologen des 18. Jahrhunderts – bei John Wesley, dem Gründervater des Methodismus. Weil viele Führer der Gewerkschaftsbewegung aus den Reihen jener methodistischen Laienprediger hervorgingen, denen Wesley eine Mindestausbildung durch Selbststudium auferlegte, hat man gesagt, die britische Arbeiterbewegung verdanke dem Methodismus mehr als dem Marxismus.193 Ähnliches könnte man von Thatcher behaupten: Auch sie verdankte dem Methodismus mehr als den Werken Mills.194 Allerdings entstammte sie nicht jenen methodistischen Freikirchen, die sich von der Hauptkirche abspalteten und zu einer der Wurzeln der britischen Arbeiterbewegung wurden. Ihre Familie blieb Wesleys Interpretation des Methodismus treu, die sich weniger von der anglikanischen Hochkirche unterschied und theologisch wie sozial durchaus konservative Züge trug.195 Die Politikerin hat in zahlreichen Interviews und Reden bekräftigt, wie wichtig ihre Erziehung durch ein tiefreligiöses, methodistisches Elternhaus für sie und ihre Schwester gewesen sei. Ihre ganze Jugend habe sich rund um die methodistische Kirche abgespielt.196 „My father“, erzählte sie in einem Interview kurz vor ihrem ersten Parteitag als Tory-Chefin, „was a religious man, a Methodist, who believed that your religious belief should show in the way you live every day. You went to church three times on Sundays, but you didn’t then give your religion a rest for the other six days of the week – you practised it“.197 Thatcher betonte später stets, welch großen Einfluß insbesondere ihr frommer Vater, Alfred Roberts, auf die Herausbildung ihrer Überzeugungen ausgeübt habe. Roberts war ein geachteter Mann in seiner Stadt, der sich mit Fleiß und Selbstdisziplin aus einfachen Verhältnissen zum Besitzer zweier Kolonialwarenläden emporgearbeitet hatte. Er war 193 194 195 196 197

Das Zitat wird gemeinhin Morgan Phillips, ehemals Generalsekretär der Labour-Partei zugeschrieben; zit. nach JENKINS, S. 83. So HARRIS, Thatcher, S. 2; siehe auch CLARKE, Rise, S. 306, 320. RUPERT E. DAVIES, Methodism, Harmondsworth 1963, S. 187. Vgl. auch CAMPBELL, Thatcher, S. 15–6. THATCHER, Erinnerungen, S. 18. The Observer, 5. Oktober 1975.

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nicht nur lange Jahre Ratsherr (alderman) und später sogar Bürgermeister in Grantham, sondern auch ein eifriger Laienprediger in der methodistischen Gemeinde der Stadt.198 Im Zentrum des Methodismus, den Thatchers Familie praktizierte, standen Sünde, Versöhnung und die Forderung nach einem persönlichen Glaubensverhältnis zu Jesus Christus. Im Unterschied zu den Geistlichen der anglikanischen Hochkirche verlangten die methodistischen Laienprediger persönliche Entscheidungen der Gläubigen. Nicht die Kirche, sondern der Glaube jedes einzelnen stand im Mittelpunkt. „What mattered fundamentally“, beschrieb Thatcher später das methodistische Glaubensverständnis ihrer Jugend, „was man’s relationship to God, and in the last resort this depended on the response of the individual soul to God’s Grace.“199 Was die junge Margaret von ihrem Vater in erster Linie lernte, waren nicht theologische Raffinessen, sondern die praktische Umsetzung dieses individualistischen Glaubens. Man könnte die Lehren, die Alderman Roberts seiner Tochter beibrachte, auf drei einfache Leitsätze reduzieren: Erstens: Tue, was dein Gewissen dir rät, nicht was andere sagen! Zweitens: Hilf dir selbst und anderen, dann hilft dir Gott! Drittens: Harte Arbeit ist gottgefällig! Hinter dem ersten Leitsatz verbarg sich die feste Überzeugung, daß die Unterscheidung zwischen Gut und Böse einen Sinn hatte, daß es im irdischen Leben letztlich um einen Kampf zwischen den Kräften des Lichts und den Mächten der Finsternis ging, bei dem es keine Kompromisse gab. Jahre später erklärte Thatcher: „I am in politics because of the conflict between good and evil, and I believe that in the end good will triumph.“200 Diese Denkweise führte sie selbst auf den Einfluß ihres Vaters zurück. Auf die Frage eines Journalisten, was sie von ihm gelernt habe, antwortete sie: „His simple conviction that some things are right, and some are wrong. His belief that life is ultimately about character, that character comes from what you make of yourself.“201 In Gewissensfragen durfte es keine Kompromisse und Halbheiten, keine Rücksichtnahmen auf Mehrheitsentscheidungen geben. Sich von der Menge treiben zu lassen, war falsch. Sie müsse ihre eigenen Entscheidungen treffen, hatte der Vater der jungen Margaret bei-

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„He brought me to believe all the things I do believe“, erklärte seine Tochter am Tag ihrer Wahl zur Premierministerin, „and they’re the values on which I fought the election. [. . .] I owe almost everything to my father“; zit. nach JUNOR, Thatcher, S. 67. Am 30. März 1978 in der Kirche St Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 62–70 (S. 63); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 70–7 (S. 71). Daily Telegraph, 18. September 1984. The Observer, 5. Oktober 1975.

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gebracht, wie sie sich später erinnerte: „You don’t do something because your friends are doing it. You do it because it’s the best thing to do. [. . .] Don’t follow the crowd; don’t be afraid of being different. You decide what you ought to do, and if necessary you lead the crowd. But you never just follow.“202 Der absolute Vorrang des eigenen Gewissens, den Thatcher von ihrem Vater lernte, war eine wichtige Wurzel jenes unbeugsamen moralischen Überlegenheitsgefühls, jener von keinem Zweifel angenagten Selbstsicherheit, ja Selbstgerechtigkeit in Grundsatzfragen, die sie als Parteiführerin an den Tag legte. Der zweite Leitsatz kreiste um die Fragen von Selbst- und Nächstenliebe. Alfred Roberts lehrte seine Tochter, daß beides eng zusammenhinge. „[H]e had a Christian belief in the strong helping the weak, the better-off helping the poor, he believed the principle that should activate people was a wish to stand on their own two feet.“203 Thatcher wuchs in der nonkonformistischen Tradition demokratischer Selbstverwaltung auf. Wie selbstverständlich ging sie davon aus, daß Hilfe für die Mitmenschen eine Angelegenheit des privaten Engagements, praktizierter und gelebter Religiosität war, keine Aufgabe für den Staat. Ihre Eltern hätten sie stets ermutigt, „to think in terms of practical help“, erzählte sie in einem Interview, „and to think very little of people who thought that their duty to the less well-off started and finished by getting up and protesting in the market place. That was ducking it, passing off your responsibilities to someone else.“204 Umgekehrt war es Pflicht jedes in Not geratenen, alles in seinen Kräften stehende zu tun, um sich selbst aus seiner Misere zu befreien. Thatcher lernte, zwischen verschämten und unverschämten Armen zu unterscheiden: die einen waren unverdient in Schwierigkeiten geraten, strampelten sich ab und waren zu stolz, Almosen anzunehmen. Ihnen mußte man helfen, nicht aber jenen, „denen Unabhängigkeit und Achtbarkeit wenig sagte, die sich bereitwillig vom Staat abhängig machten und nicht daran dachten, selbst etwas zu unternehmen, um ihr Los zu verbessern oder ihren Kindern einen besseren Start ins Leben zu ermöglichen“.205 Diese Armen verdienten keine Hilfe, sondern Verachtung. Eng damit verbunden war der dritte Leitsatz: Arbeite hart und strenge dich an, und es wird dir nicht nur auf Erden gut ergehen, sondern du wirst 202

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Zit. nach HARRIS, Thatcher, S. 46. Ähnlich am 30. März 1978 in der Kirche St Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 62–70 (S. 63); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 70–7 (S. 71). The Observer, 5. Oktober 1975. Zit. nach JUNOR, Thatcher, S. 7–8. THATCHER, Erinnerungen, S. 632. Vgl. auch GARDINER, S. 18.

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im Himmel dafür auch deinen Lohn erhalten! Thatchers Eltern hielten sich streng an diese Regel und erzogen ihre beiden Töchter zu Sparsamkeit, Ernsthaftigkeit und Fleiß. „There was more than just having to work to live“, erinnerte sie sich später an die Atmosphäre, die in ihrem Elternhaus herrschte, „there was work as a duty“.206 Trägheit sei in ihrer Familie ein Fremdwort gewesen, schrieb sie, „teils, weil sie Sünde war, teils weil es viel zu viel zu tun gab, teils zweifellos auch, weil wir nun einmal so veranlagt waren“.207 Die junge Margaret wuchs in einer Umgebung auf, in der Muße als Verschwendung und Luxus als Laster galt. Arbeit war das leitende Prinzip des Lebens in ihrem Elternhaus, allein von ihm hingen Erfolg und Mißerfolg ab. Diese Einstellung prägte das gesamte Leben der Politikerin. „Work is the most important thing, and comes first“, erklärte sie 1975.208 Umgekehrt wuchs sie in der Überzeugung auf, daß sie es verdiene zu gewinnen, wenn sie zuvor nur richtig geschuftet hatte. „I wasn’t lucky. I deserved it“, soll sie gesagt haben, als man der damals Neunjährigen zum Sieg bei einem Gedicht-Wettbewerb gratulierte.209 Thatchers Biograph John Campbell hat darauf hingewiesen, daß ihr Verhältnis zu den Eltern komplizierter und getrübter gewesen sein dürfte, als die idealisierenden Erinnerungen aus späterer Zeit weismachen wollen. In der Tat hat die Politikerin weder ihre Heimatstadt noch ihre Eltern besonders häufig besucht, nachdem sie einmal der provinziellen Enge entkommen war. Als sie im März 1977 eine Rede in Grantham hielt, erwähnte sie ihre besondere Beziehung zu dem Ort mit keinem einzigen Wort.210 Auch vom strengen Methodismus ihrer Eltern wandte sie sich später ab. Doch an den Tugenden, die sie in ihrer Jugend erlernt hatte, hielt sie fest: Sparsamkeit, harte Arbeit, Selbstdisziplin waren Eigenschaften, die sie wieder und wieder in ihren Reden einforderte.211 Zwar behauptete sie nicht, ein Christ müsse zwangsläufig die Tory-Partei wählen. Aber an eine „tiefe und schicksalhafte Übereinstimmung“ zwischen der Marktwirtschaft und dem Christentum glaubte sie doch.212 Einem amerikanischen Publikum erklärte sie:

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The Times, 19. Mai 1975; vgl. auch The Observer, 5. Oktober 1975. THATCHER, Erinnerungen, S. 24. GARDINER, S. 51. LEWIS, Thatcher, S. 11. Am 4. März 1977 in Grantham: News Service 270/77. Vgl. etwa ihre Rede am 8. September 1975 in Aberdeen: News Service 753/75, S. 4; oder ihre Vorlesung an der Roosevelt University in Chicago am 22. September 1975: News Service 789/75, S. 5. THATCHER, Erinnerungen, S. 642.

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I was not brought up to prosperity. Hard work was the only way. We did not live wastefully, slothfully or indolently. The struggle to win a worthwhile life is more rewarding in every sense. It is a moral struggle and the morality of work, of selfsacrifice, of trying to do the right thing at whatever cost – that is the puritan morality of the founders of America. It is the morality of capitalism.213

Zu den religiösen Wurzeln ihrer politischen Überzeugungen bekannte sie sich so offen wie kein anderer Tory-Führer des 20. Jahrhunderts. Eine freie Gesellschaft konnte ohne ein Wertesystem, das auf den Fundamenten der christlichen Religion ruhte, auf Dauer nicht bestehen, daran glaubte sie fest. „[T]he great values on which we stand come not from the State but from a higher authority. Rights and wrongs do not spring from the edicts of a nation state, they come from the teachings of a Faith.“214 Ohne diese religiöse Grundlage würden Werte und Tugenden wie Wahrheit, Fairneß, Gerechtigkeit, Toleranz, Verständnis rasch verdorren und absterben, wie eine Blume, die man von ihren Wurzeln abschneidet.215 Ohne ein kollektives Ethos, ohne einen gemeinsamen Wertekanon könne eine freie Gesellschaft nicht überleben: „Freedom will destroy itself if it is not exercised within some sort of moral framework, some body of shared beliefs, some spiritual heritage transmitted through the Church, the family and the school.“216 Gleichzeitig konnte man aber auch den Wert des Individuums innerhalb einer freien Gesellschaft nicht richtig bemessen, wenn man dessen religiöse, spirituelle Dimension außer acht ließ: „Our religion“, so Thatcher, „teaches us that every human being is unique and must play his part in working out his own salvation.“ Während Sozialisten von der Gesellschaft aus dächten und sich fragten, wie das Individuum ins Kollektiv eingefügt werden könne, begännen die Konservativen mit dem einzelnen Menschen, dessen soziale und wirtschaftliche Beziehungen zu anderen nur einen Teil seiner Existenz ausmachten.217 Ohne das religiöse Fundament war der Individualismus letztlich haltlos und potentiell selbstzerstörerisch; erst das Christentum

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Am 19. September 1975 vor dem National Press Club in Washington: News Service 788/75, S. 5. Am 14. Dezember 1978 bei der Veleihung des „Woman of Conscience Award“ in New York: News Service 1609/78, S. 1. Am 13. April 1976 vor der Templeton Foundation bei der Verleihung eines Preises „for Progress in Religion“ in der Guildhall: News Service 400/76, S. 1. Am 30. März 1978 in der Kirche St Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 62–70 (S. 68); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 70–7 (S. 75). Am 4. Juli 1977 in ihrer Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 52); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 61).

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I. Der Thatcher-Faktor

machte ihn stark und wertvoll – „a faith that believes in the essential dignity and importance of each and every human being and that he has a purpose to fulfil here on earth“.218 B)

DIE AUFGABEN DES STAATES NEU DEFINIEREN

Thatchers zweites politisches Ziel bestand darin, die Aufgaben des Staates zu reduzieren, ihn zugleich aber auf seinen zentralen Tätigkeitsfeldern effektiver, durchschlagskräftiger zu machen. „Begrenzung der Staatsmacht“ hieß die Losung, mit der sie ins Feld zog. In einem Interview verkündete sie: Limitation of government doesn’t make for a weak government, don’t make that mistake. If you’ve got the role of government clearly set out, then it means very strong government in that role. Very strong indeed. You weaken government if you try to spread it over so wide a range that you’re not powerful where you should be because you’ve got into areas where you shouldn’t be.219

Konkret bedeutete dies, daß sich der Staat aus weiten Teilen des Wirtschaftslebens und der Wohlfahrt, in denen er sich eingenistet hatte, zurückziehen sollte, während er im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit gestärkt werden mußte. Um diese Forderungen verstehen zu können, muß man sich zunächst fragen, was die Politikerin unter dem Begriff „Staat“ verstand. Für Thatcher war der Staat kein umfassendes Ganzes, sondern ein Teil der Gesellschaft. Er bestand ganz konkret aus den Menschen im Staatsdienst und aus denen, die den Staat politisch leiteten, aus den Beamten und aus den Politikern, die den Beamten Anweisungen erteilen konnten. In all ihren Reden gebrauchte sie die Begriffe „Staat“ und „Regierung“ (state und government) synonym. Der Staat war für sie nichts anderes als die Regierung. Staatshandeln war Regierungshandeln. Insoweit stand sie ganz in einer spezifisch englischen Tradition, der beispielsweise der deutsche Staatsbegriff mit seinen Anklängen an Hegel zutiefst fremd ist. Thatcher ging jedoch in ihrer Skepsis gegenüber dem Staat viel weiter als die meisten ihrer Zeitgenossen. Staat und Regierung waren im Gegensatz zum Individuum nicht gottgegeben. Sie mußten ihre Existenzberechtigung durch konkrete Notwendigkeiten rechtfertigen. Der Staat, die Regierung sollte nur dort handeln, wo das Individuum allein nicht in der Lage dazu war. In der Hauptsache dachte die Politikerin an drei Bereiche: Zum einen müsse der Staat seine Bürger gegen innere und äußere Feinde schützen und 218 219

Am 13. April 1976 vor der Templeton Foundation bei der Verleihung eines Preises „for Progress in Religion“ in der Guildhall: News Service 400/76, S. 1. The Observer, 25. Februar 1979. Vgl. KLAUSE, S. 59–65.

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den Gesetzen Achtung verschaffen. Auf diesem Feld kam ihm ohne Zweifel das Gewaltmonopol zu. Zum anderen habe staatliches Handeln auch im sozialen Bereich, im Gesundheitswesen und in der Bildung seine Berechtigung. Allerdings dürfe der Staat auf diesen Feldern kein Monopol beanspruchen; freiwillige soziale Dienste, private Altersvorsorge und Krankenversicherungen, Privatschulen, familiäre Hilfe und Freundesdienste – all das seien notwendige und wünschenswerte Ergänzungen zum Wohlfahrtsstaat. Schließlich solle sich der Staat auch in der Wirtschaft engagieren, allerdings nur dort, wo sichergestellt sei, daß private Unternehmen die gleiche Leistung nicht genauso gut oder besser erbringen konnten, also etwa bei Verhinderung von Monopolbildungen, der Durchsetzung privatrechtlicher Verträge, der Förderung des Wettbewerbs, der Garantie fairer Handelsbedingungen, der Aufrechterhaltung bestimmter Anreize und der Regelung von Gesundheits- und Sicherheitsstandards.220 Wenn man die Realität mit dieser Aufzählung verglich, mußte man zu dem Schluß kommen, „that the great mistake of the last few years has been for the government to provide or legislate for almost everything“.221 Der Staat hatte sich in Thatchers Augen auf die falschen Aufgaben konzentriert. Während er seine wichtigste Aufgabe, den Schutz seiner Bürger nach innen und außen, vernachlässigte, hatte er sich beinahe ein Monopol bei der Bereitstellung sozialer Dienste angemaßt und stand im Begriff, auch im Bereich der Wirtschaft zur dominierenden Kraft zu werden und die Privatwirtschaft an die Wand zu drücken. Seine Nachtwächterfunktion im Wirtschaftsleben habe er längst aufgegeben und greife auf verschiedenste Weise direkt in den Markt ein: sei es als Arbeitgeber in den großen Staatsbetrieben, sei es als Quelle von Subventionen für Betriebe, die ohne staatliche Finanzhilfe nicht lebensfähig wären, oder, mittels seiner Einkommenspolitik, als letzte Instanz für die Festsetzung von Löhnen und Gehältern. Die Bezeichnung mixed economy werde mißbraucht, um Eingriffe der Regierung in beinahe alle Bereiche des Wirtschaftslebens zu rechtfertigen. Folglich würden die Höhe von Investitionen, Preisen und Löhnen nicht mehr nach ökonomischen, sondern nach politischen Kriterien festgelegt. Der Staat blähe sich immer weiter auf, während die Wirtschaft ihres Eigenrechtes beraubt wurde. Nun seien auch private Unternehmen gezwungen, sich große Büro220

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Besonders deutlich wird Thatchers Staatsverständnis in ihrer Ansprache vor der Bow Group in der Royal Commonwealth Society in London am 6. Mai 1978, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 71–82 (S. 78–79); ähnlich am 20. September 1976 vor dem Federal Council der Liberal Party of Australia in Melbourne, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 12–13. Am 10. Oktober 1968: „What’s Wrong with Politics“. Address to the Conservative Political Centre Meeting, Blackpool, abgedruckt in: GARDINER, S. 207–16 (S. 209).

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kratien zuzulegen, um den staatlichen Anforderungen nach immer neuem Datenmaterial und aktuellen Statistiken für die zentrale Wirtschaftsplanung zu genügen. Vor diesem Hintergrund hatte der Begriff mixed economy jeden Sinn verloren. „The mixed economy has become a mixed-up economy“, spottete sie, „where the Government has departed from its valid and essential role and has become hopelessly entangled in the everyday business and personal decisions that are normal processes of a free society.“222 Nicht nur der Interventionsstaat, auch der Wohlfahrtsstaat wuchs Thatchers Ansicht nach über jedes vernünftige und notwendige Maß hinaus.223 Spätestens seit ihrer Zeit als Staatssekretärin im Ministerium für Rentenfragen und Soziale Sicherheit zwischen 1961 und 1963 war sie fest davon überzeugt, daß der Sozialstaat nicht nur verschwenderisch, sondern auch ineffektiv war. Im Parlament machte sie sich einen Namen als sparsame Verwalterin von Steuergeldern. Privat klagte sie einer Schulfreundin, wie schrecklich ihre Aufgabe sei, die darauf hinausliefe, die Ansprüche von Leuten abzuwehren, die „our money“ wollten.224 Während der Zeit als Oppositionsführerin mehr als zehn Jahre später hielt sie sich zwar mit direkten Angriffen auf den Sozialstaat zurück.225 Sie griff seine Errungenschaften nicht frontal an. Sie forderte zunächst nur, seine Leistungen nicht zu glorifizieren, sondern kritisch und unvoreingenommen zu überprüfen. Nachdem der Wohlfahrtsstaat in Großbritannien mittlerweile mehr als dreißig Jahre alt und allgemein akzeptiert sei, erklärte sie einem amerikanischen Publikum, müsse man nun seine Leistungen und Mängel einer Prüfung unterziehen.226 Besonders deutlich wird Thatchers Einstellung zum Sozialstaat am Beispiel ihrer Äußerungen zum nationalen Gesundheitswesen, dem National Health Service (NHS), den sie als große Errungenschaft pries. Gleichzeitig wies sie jedoch darauf hin, daß gerade die Monopolstellung des staatlichen

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Am 11. November 1976 vor dem Institute of Directors in der Royal Albert Hall, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 40–7 (S. 43). Vgl. ihre Rede vor der Bow Group in der Royal Commonwealth Society in London am 6. Mai 1978, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 71–82 (S. 77–8). Zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 144. „It is not part of my party’s thinking that we should dismantle the welfare state“, erklärte sie. Zugleich erinnerte sie aber daran, daß nichts im Leben umsonst sei. „We must remember that nothing is free – or as one phrase has it, ,There is no such thing as a free lunch‚“; am 20. September 1976 vor dem Federal Council der Liberal Party of Australia in Melbourne, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 10–7 (S. 12–3). Am 15. September 1975 im Institute of Socio-Economic Studies in New York, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 1–17 (S. 2–3).

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Gesundheitssystems in Großbritannien zu Ineffizienz und steigenden Preisen geführt habe. Der NHS bot in ihren Augen keinerlei Gewähr dafür, daß seine Leistungen besser waren als diejenigen anderer Gesundheitssysteme in anderen Ländern. „In medicine, we are dealing in Britain with a myth as well as an achievement. The achievement is the Health Service, and the myth is that its establishment necessarily creates a system of public health superior to elsewhere, where a higher proportion is financed through private insurance, including occupational and trade union schemes.“227 Wenn die Politikerin auch darauf verzichtete, direkte Eingriffe in den Sozialstaat zu fordern oder gar konkrete Veränderungen vorzuschlagen, machte sie doch deutlich, wo ihre Präferenzen lagen: bei der privaten Initiative. Das Wuchern der Staatsaufgaben hatte zwei verheerende Folgen: Mit der zunehmenden Ausweitung seiner Pflichten wurde der Staat immer bürokratischer und unbeweglicher. Zudem schränkte seine Entgrenzung die persönliche Freiheit der Bürger in unzulässiger Weise ein. Sie hemmte ihre Eigeninitiative und würde im Laufe der Zeit jedes Gespür für Selbstverantwortung und Selbständigkeit verkümmern lassen. Die Ineffektivität der Regierung zeige sich darin, daß die Ausgaben der öffentlichen Hand ständig wuchsen, die Leistungen, die sie bereitstellte, sich jedoch nicht im gleichen Maße verbesserten, sondern – ganz im Gegenteil – stetig schlechter wurden.228 Vor zwanzig Jahren, so Thatcher im September 1976, habe der Privatsektor sechzig Prozent der britischen Volkswirtschaft ausgemacht, der öffentliche Sektor vierzig Prozent; heute sei es umgekehrt.229 In demselben Zeitraum habe sich jedoch die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft erheblich verschlechtert.230 Das gleiche galt für die Sozial- und Bildungspolitik. „[W]ho seriously believes“, fragte sie, „that the massive increase in State spending has been matched by an equally great improvement in the standard of state services? Too often the reverse has happened.“231

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Vor der Bow Group in der Royal Commonwealth Society in London am 6. Mai 1978, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 71–82 (S. 77). „The growth in Government has resulted in a substantial rise in public spending. Public ownership has been extended, and more and more taxpayers’ money has been pumped into companies that no prudent banker could go on supporting for long. Government spending is now so high that we have penal levels of direct taxation [. . .] And yet, despite these levels of taxation, the government still needs to borrow on a massive scale“; am 11. November 1976 vor dem Institute of Directors in der Royal Albert Hall, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 40–7 (S. 41). Am 20. September 1976 vor dem Federal Council der Liberal Party of Australia in Melbourne, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 11–2. Etwa am 2. April 1979 in einem Fernsehwahlwerbespot: News Service 439/79, S. 3. Am 20. März 1976 beim Central Council Meeting in Norwich, News Service 317/76, S. 9.

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I. Der Thatcher-Faktor

Thatchers Ansicht nach wurden die – notwendigerweise begrenzten – Finanzmittel des Staates überdies in nutzlose, ja kontraproduktive Aktivitäten investiert, zum Beispiel in das Wachstum der Regierungsbürokratie und deren unsinnige Tätigkeiten.232 Ineffizienz und Überbürokratisierung seien die beiden Grundübel eines auswuchernden Staates, der jedes Maß und jede Kontrolle über sein Wachstum verloren hatte. Beides trug maßgeblich dazu bei, den Staat in den Augen seiner Bürger nachhaltig zu diskreditieren. „The more the State’s powers are extended“, lautete Thatchers Fazit, „the less its authority is respected by the people.“233 Noch bedenklicher erschien ihr, daß die Freiheit des einzelnen Bürgers immer stärker beschnitten wurde, je mehr der Staat seinen Aufgabenbereich ausweitete. Weil sie den Staat mit Regierung und Ministerialbürokratie gleichsetzte, war er in ihren Augen lediglich ein Teil der Gesellschaft, eine Interessengruppe unter vielen, in der man nicht in erster Linie den potentiellen Wohltäter, sondern vor allem den möglichen Gegner der Freiheit des einzelnen zu erblicken hatte. Politiker und Beamte bedrohten ihrer Ansicht nach die Freiheit der Bürger ebenso wie jede andere Gruppe, die zu viel Macht in ihren Händen konzentrierte.234 Thatcher glaubte nicht wirklich an eine große Verschwörung finsterer sozialistischer Gestalten, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Bürger ihrer Freiheit zu berauben, auch wenn ihre heftige Kritik an der Labour-Partei diesen Schluß hin und wieder nahelegte. In weniger polemischen Reden bestritt sie nicht, daß jemand, der zum Wohle der Menschen die Macht des Staates ausdehnen wollte, unter Umständen aus idealistischen Motiven handelte. In der Tat mochte ein sozialistischer Staat, der seine Bürger von der Wiege bis zur Bahre umsorgte und ihnen die Verpflichtung abnahm, für ihr Schicksal selbst Verantwortung zu tragen, für Bequeme und Faule durchaus verführerisch sein, erklärte sie. Die Kehrseite bestand jedoch darin, daß ein derartiger Staat zur Erfüllung seiner umfassenden Aufgaben so viel Steuern

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„Whitehall is strangling local democracy with reams of red tape“, erklärte sie auf einer Wahlkampfveranstaltung im Frühjahr 1979. „Does the Home Office really have to send a circular to local authorities telling them what colour shirts firemen should wear? Does the Department of Education have to give instructions about the vitamin content of margarine? Is it really essential for the DHSS to send letters to Chief Executives of certain districts advising them on the processing, handling and cooking of trout?“; am 24. März 1979 bei der Conservative Central Council Annual Conference im St John’s Hotel in Solihull: News Service 408/79, S. 7. Am 6. Mai 1978 vor der Bow Group in der Royal Commonwealth Society in London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 71–82 (S. 79). Vgl. etwa ihre Ansprache am 1. Juli 1975 bei einem Lunch der Gesellschaft „Aims for Freedom and Enterprise“ im Europa Hotel in London: News Service 648/75, S. 2.

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von seinen Bürgern einfordern mußte, daß er ihnen gleichzeitig auch die Chance raubte, ihre eigenen Wünsche zu verwirklichen. „To the extent that the fruits of their efforts are appropriated by the State [. . .] they not only have their responsibility taken away from them, but the ability to make their wishes felt.“235 Wieder und wieder hob sie hervor, wie stark die Steuerlast für den Durchschnittsverdiener infolge der wachsenden Ausgaben der öffentlichen Hand angestiegen war. Seit 1963 sei der Anteil der Steuern am verfügbaren Gesamteinkommen des Volkes von fünf auf 25 Prozent angestiegen – eine erhebliche Verschlechterung der Position des normalen Bürgers, „[who] has moved, over a few years, from a position of paying negligible taxes and deductions to one in which the burden has become large and onerous“.236 Die Steuerlast, die dem einzelnen auferlegt wurde, hatte in Großbritannien inzwischen bedrohliche Ausmaße erreicht, davon war sie überzeugt. „The economy is bearing its maximum degree of public expenditure consistent with a democratic way of life“, erklärte sie einem amerikanischen Publikum. Die Bürger sähen inzwischen immer weniger ein, warum sie stetig schlechter werdende Leistungen des Staates mit immer höheren Steuern finanzieren sollten.237 Die Bedrohung der individuellen Freiheit durch den Staat mußte man sich Thatcher zufolge nicht als einmaligen Akt vorstellen, sondern als schleichendes Gift. Der Staat nahm den Bürgern nicht mit einem Mal alle ihre Rechte, sondern ging behutsam und schrittweise vor.238 Er griff hier in ihr Leben ein, nahm ihnen dort eine Entscheidung ab, gewährte ihnen hier eine Wohltat, schrieb ihnen dort vor, was sie zu tun hatten. Mit diesen unzähligen kleinen Eingriffen veränderte sich nicht nur die Herrschaft des Staates, sondern auch die Gesinnung seiner Bürger. „Wie der Charakter des Bürgers, so der Charakter des Staates“, schrieb sie in ihren Erinnerungen, „und zugleich: Wie der Charakter des Staates, so der Charakter des Bürgers.“ Diese Entsprechung beinhaltete eine Hoffnung und gleichzeitig eine Gefahr. Auf der einen Seite konnte die Politikerin hoffen, daß die Bürger in ihrer Mehrzahl eigenständiger und selbstverantwortlicher waren als der

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Am 4. Juli 1977 in ihrer Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 54); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 63). Am 15. September 1975 im Institute of Socio-Economic Studies in New York, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 1–17 (S. 8). Wörtlich sagte sie: „They would rather have a little less public service and more freedom of choice on how they spend the money they earn“; am 22. September 1975 in ihrer Vorlesung an der Roosevelt University in Chicago/USA: News Service 789/75, S. 6. Vgl. The Observer, 25. Februar 1979.

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Staat, in dem sie lebten; ein Regierungswechsel würde eventuell ungeahnte Kräfte freisetzen, neue Horizonte eröffnen und notwendige Reformen ermöglichen, auch wenn sie schmerzhaft waren. Auf der anderen Seite mußte sie aber auch fürchten, daß „selbst das beste freie Regierungssystem [. . .] nicht gegen tiefreichende Veränderungen der Haltung und Mentalität der Bevölkerung im allgemeinen und der politischen Klasse im besonderen gefeit [ist]“.239 In einem Staat, der sich für alles zuständig erklärte, würden die Bewohner über kurz oder lang ihr Gespür dafür verlieren, für sich und andere selbst verantwortlich zu sein. Thatcher legte deswegen besonderen Wert auf die moralischen Gründe für eine Begrenzung der Staatsaufgaben. Der Staat solle schon allein deswegen im sozialen und karitativen Bereich nicht allein maßgeblich sein, weil eine staatliche Monopolstellung die Bürger von jeder sozialen Verpflichtung entbinde und ihre Hilfsbereitschaft verkümmern ließe.240 Immer wieder kam Thatcher darauf zurück, wie notwendig es sei, daß der Staat in einer christlichen Gesellschaft Tugend nicht usurpiere. Die Bürger müßten vielmehr ermutigt werden, selbst tugendhaft zu handeln, sich um kranke Angehörige, Alte, Behinderte zu kümmern: „Once you give people the idea that all this can be done by the State, and that it is somehow secondbest or even degrading to leave it to private people [. . .], then you will begin to deprive human beings of one of the essential ingredients of humanity – personal moral responsibility. You will, in effect, dry up in them the milk of human kindness.“ Gern wies die Politikerin in diesem Zusammenhang darauf hin, daß schon in der Bibel ein Privatmann und nicht der Staat jenen Mann rettete, der unter die Räuber gefallen war: „I wonder whether the State services would have done as much for the man who fell among the thieves as the Good Samaritan did for him?“241 Thatcher fand die Ausdehnung der staatlichen Aufgaben in der Wirtschafts- und Sozialpolitik um so bedenklicher, als die Regierung gleichzeitig

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THATCHER, Erinnerungen, S. 641. Vgl. auch ihre Iain Macleod Memorial Lecture vom 4. Juli 1977, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 55); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 63–4). „In the market economy, people are free to give their money and their time for good causes. They exercise their altruism on their own initiative and at their own expense, whether they give directly and personally or through institutions, charities, universities, churches or hospitals. When the State steps in, generosity is increasingly restricted from all sides“; am 4. Juli 1977 in der Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 57); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 66). Am 30. März 1978 in der Kirche St Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 62–70 (S. 66); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 70–7 (S. 73).

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in jenen Kernbereichen ihrer Zuständigkeit versagte, die ihr niemand abnehmen konnte – nämlich bei der Verteidigung und der inneren und äußeren Sicherheit und der Stabilität der Währung: „It is a bitter irony that as Government has aspired to do more and more, it is unable to discharge its basic functions.“242 Während sie den Interventions- und Sozialstaat schwächen wollte, war es zugleich ihr Ziel, den Staat als Garanten für Recht und Ordnung zu stärken. Für sie bestand seine oberste Pflicht und wichtigste Aufgabe darin, die Freiheit und Sicherheit der Bürger zu gewährleisten.243 Wenn sie im Bereich der inneren Sicherheit einen stärkeren Staat forderte, drückte sie damit nicht nur ihr Verständnis von einer grundlegenden Verpflichtung des Staates aus, die ihm niemand abnehmen konnte. Sie entsprach, wie sie glaubte, auch einem dringenden Wunsch der meisten Bürger, die sich gerade auf diesem Gebiet von der Staatsmacht alleingelassen fühlten.244 Dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, der rule of law, kam in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu. Nur mit seiner Hilfe konnten Sicherheit und Freiheit der Bürger zugleich gewahrt werden, ohne das eine zugunsten des anderen zu vernachlässigen. Einen Gegensatz zwischen Rechtsstaat und Freiheitsstaat sah Thatcher nicht. Daher konnte sie betonen, die Rolle des Staates in einer Demokratie sei „first and foremost to uphold the rule of law.“245 Für sie war dies die wichtigste Errungenschaft des britischen Volkes im Laufe seiner Geschichte. Das Rechtsstaatsprinzip, nicht das allgemeine Wahlrecht oder der Parlamentarismus, war dafür verantwortlich, daß sich die Briten ein freies Volk nennen konnten: „Long before we had a universal franchise in this country we called ourselves a free people. This is due to our reverence for the Rule of Law.“ Umgekehrt habe keine Nation jemals ihre Freiheit bewahren können, wenn sie erst einmal den Respekt vor dem Recht und die Einsicht, daß man Gesetze einhalten

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Am 11. November 1976 vor dem Institute of Directors in der Royal Albert Hall, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 40–7 (S. 42–3). „Conservatives believe that the protection of the citizen as he goes about his lawful and peaceful pursuits is the Government’s prime duty“; am 24. Mai 1978 auf der Annual Conservative Women’s Conference in der Central Hall in Westminster: News Service 710/78, S. 2. „[T]here is one vital area in which people are looking with increasing anxiety to Government to give a lead. They expect Government to provide a firm framework of justice, law and public order in which physical security can be assured, property rights respected, and free choice exercised“; am 12. Februar 1978 auf der Young Conservative National Conference in Harrogate: News Service 194/78, S. 4. Am 30. März 1978 in der Kirche St Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 62–70 (S. 68); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 70–7 (S. 76). Vgl. KLAUSE, S. 149–55.

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muß, verloren hatte.246 Wenn die Politikerin gefragt wurde, was die britische Demokratie ausmachte, nannte sie an erster Stelle weder die Souveränität des Parlaments noch freie Wahlen, sondern den Rechtsstaat: „[N]o one and no institution should be so important as to be above the law. The law must apply to those who govern in the same way as it applies to those who are governed. No-one should suffer punishment unless he has broken the law and that fact has been established by independent judges in impartial courts.“247 Dieses grundlegende Prinzip sah sie in Großbritannien gefährdet. Zwei Entwicklungen vor allem bedrohten die rule of law: Überkomplizierte und in ihren Wirkungen unfaire Gesetze untergruben das Vertrauen der Bürger in einen Rechtstaat, den sie immer weniger durchschauten, dessen Sanktionen sie aber als ungerecht empfanden. Zum ersten Mal in ihrem Leben, so Thatcher im September 1976, sehe sie das Rechtsstaatsprinzip in Großbritannien in Gefahr, und zwar nicht zuletzt wegen der Politiker, die unverständliche Gesetze verabschiedeten: „The citizen is now assailed with the Statutes of frightening complexity. The ancient dictum that ignorance of the law is no excuse falls to the ground if the laws themselves are beyond the comprehension of the citizen.“ Wenn vielen Bürgern diese Gesetze, die sie kaum verstanden, als unfair und einseitig erschienen, mußte man sich Sorgen um die Zukunft des Rechtsstaates machen. Einfach, klar und fair mußten Gesetze sein, wenn sich der Rechtsstaat bewähren wollte.248 Das Problem wurde dadurch verschärft, daß der Staat zwar immer mehr und immer kompliziertere Gesetze erließ, sie jedoch anschließend nicht mit der notwendigen Konsequenz durchsetzte. Gesetze, die lediglich auf dem Papier standen, aber nicht angewandt wurden, unterminierten das Rechtsempfinden der Bürger zusätzlich.249 Eine weitere, dem Rechtsstaat drohende Gefahr sei die allgemeine Erosion traditioneller Werte, die auch die Ehrfurcht vor Recht und Gesetz nicht verschonte. In der Vergangenheit seien erprobte überkommene Werte zugunsten von soziologischen Theorien beiseite geschoben worden, die jeg-

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Am 13. Mai 1978 bei der Scottish Conservative Party Conference Rally in Perth (ohne Signatur im CPA). Am 21. Oktober 1978 beim Ersten Nationalkongreß der Union de Centro Democratico in Madrid: News Service 1339/78, S. 4. Am 10. September 1976 bei einem Parliamentary Luncheon in Wellington in Neuseeland: News Service 832/76, S. 6. „[I]f it is to be respected the law must be properly enforced and the guilty person found and convicted“; am 13. Mai 1978 auf der Scottish Conservative Party Conference Rally in Perth (ohne Signatur im CPA).

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licher Erfahrung widersprächen. Politiker, Sozialwissenschaftler und Journalisten hatten alles daran gesetzt, den einzelnen von aller Schuld frei zu sprechen und die Gesellschaft, das soziale Umfeld, für die Verfehlungen der Individuen verantwortlich zu machen, davon war sie fest überzeugt.250 Wie falsch diese Sichtweise war, könne man schon daran erkennen, daß die Verbrechensrate in den dreißiger Jahren, als es den Briten schlechter ging, viel niedriger gewesen sei als in der Gegenwart. Außerdem sei es einfach nicht richtig, daß Verbrechen nur von Menschen begangen würden, die arm oder arbeitslos seien.251 Der wirkliche Grund für zunehmende Kriminalität sei die Aushöhlung persönlicher Verantwortung und Selbstdisziplin. Man dürfe sich nicht wundern, wenn die Achtung vor dem Gesetz schwinde, erklärte Thatcher im Februar 1978. „When the philosophy prevails that the State is responsibe for just about everything, the way is open for a society in which the individual feels responsible for nothing.“252 Wenn sich die Sichtweise durchsetzte, daß „der Staat“ oder „die Gesellschaft“ für die Handlungen der Individuen verantwortlich waren, blieb kein Raum mehr für individuelle Freiheit, moralische Entscheidungen des einzelnen; ja, selbst die Unterscheidung zwischen Gut und Böse hatte dann keinen Sinn mehr. Für Thatcher lag die Schlußfolgerung auf der Hand: „While we must do everything to improve social conditions where they are bad, the truth is that crime grows where the pressure of established values and conventions is removed.“253 Es galt, das Individuum und seine Verantwortung auch bei der Verbrechensbekämpfung wieder ins Zentrum zu stellen. „We must teach that each of us is a responsible person who can choose his own course of action and who has a duty to others to do as he would be done by. That morality is largely based on religious virtues.“254 Die religiösen Werte, an die Thatcher dachte, waren jene christlichen Werte, die das Individuum und seine Verantwortung in den Mittelpunkt rückten. Das Christentum, wie sie es verstand, lehrte aber darüber hinaus,

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„Twenty years of social analysis and woolly political theory have been aimed at trying to ,prove‘ that crime and law-breaking are not the responsibility of the individual, but are the fault of the social conditions and society“; am 13. Mai 1978 auf der Scottish Conservative Party Conference Rally in Perth (ohne Signatur im CPA). Am 24. Mai 1978 auf der Annual Conservative Women’s Conference in der Central Hall in Westminster: News Service 710/78, S. 3. Am 12. Februar 1978 auf dem Parteitag der Jungkonservativen in Harrogate: News Service 194/78, S. 4. Am 13. Mai 1978 auf der Scottish Conservative Party Conference Rally in Perth (ohne Signatur im CPA). Am 24. Mai 1978 auf der Annual Conservative Women’s Conference in der Central Hall in Westminster: News Service 710/78, S. 3.

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daß jeder Mensch infolge der Erbsünde Böses in sich trug, das man weder durch gute Gesetze noch durch institutionelle Reformen tilgen konnte. Daher konnte man auch die Kriminalität nicht einfach zum Verschwinden bringen, indem man alle Menschen reich machte. Man konnte niemals eine perfekte Gesellschaft hervorbringen, egal wie viele neue Gesetze man erließ oder wie viele Beamte man einstellte, um die neuen Gesetze anzuwenden. Es blieb ein Rest von Abgründigem in jedem Menschen, das man nur mit den Kategorien von Gut und Böse beschreiben, dessen man nur mit Schuld und Strafe Herr werden konnte. Ohne Gesetze und den Willen, sie buchstabengetreu anzuwenden, konnte deswegen ihrer Ansicht nach keine Gesellschaft auskommen. „[M]an is inherently sinful and in order to sustain a civilized and harmonious society we need laws backed by effective sanctions.“255 Aufgabe des Staates war es in Thatchers Augen, Gesetze zu erlassen, die Leib und Leben der Bürger schützten, und dafür zu sorgen, daß diese Gesetze angewendet und Verbrecher ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. Fragen der Resozialisierung oder der Verbrechensprävention mußten hinter dieser schlichten und einfachen Forderung zurückstehen. Die Opfer von Verbrechen, die gesetzestreue Mehrheit der Bürger und die Hüter des Gesetzes, versicherte die Politikerin immer wieder, stünden ihrem Herzen näher als die Täter.256 Ihr Plädoyer für einen starken Staat, der seine Bürger schützte, galt nicht nur im Innern, sondern auch nach außen. Die Feinde, die Freiheit, Eigentum und Leben der britischen Bürger bedrohten, befanden sich nicht nur innerhalb der Grenzen des Landes, sondern auch außerhalb. Es sei die Pflicht jeder Regierung, stellte sie fest, „to safeguard its people against external aggression; to guarantee the survival of our way of life“.257 Auch in der Außenpolitik konnte nur ein starker Staat Sicherheit garantieren. Sich auf die Friedensbereitschaft seiner äußeren Feinde zu verlassen, erschien 255

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Am 30. März 1978 in der Kirche St Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 62–70 (S. 69); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 70–7 (S. 76). Sie glaube, erklärte sie auf dem Tory-Parteitag 1978, „that to keep society free the law must be upheld. We are 100 per cent behind the police, the courts, the judges, and not least the law-abiding majority of citizens. To all those in law enforcement we pledge not just our moral but our practical support. As for the law-breakers, whether they are professional criminals carrying firearms or political terrorists, or young thugs attacking the elderly, or those who think they can assault policemen with impunity, we say this: ,You will find in the new Conservative Government a remorseless and implacable opponent‘“; am 13. Oktober 1978 auf dem Tory-Parteitag in Brighton, abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 78–90 (S. 88). Am 19. Januar 1976 vor Konservativen in Kensington Town Hall, abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 39–47 (S. 39).

2. Thatchers Ziele

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Thatcher genauso leichtfertig wie das Vertrauen darauf, auch ohne Polizei und Gerichte würden alle Bürger friedlich zusammenleben, wenn man sie nur freundlich genug darum bat. „[A]s long as we have potential enemies“, erklärte sie, „we must recognize that peace can only be maintained through strength. Our first duty is to defend our own.“258 Druck mußte man mit Gegendruck beantworten, davon war sie überzeugt, egal ob gegen innere Feinde wie Terroristen, Räuber und Mörder oder gegen äußere Feinde wie die Russen. Eine schlagkräftige Armee war für sie deswegen ebensosehr ein Gebot politischer Klugheit und Vorsicht wie eine starke Polizei. Mit ihrer Vorstellung von den Grenzen und Aufgaben des Staates war Thatcher eine Ausnahmeerscheinung unter den britischen Spitzenpolitikern ihrer Zeit. Ganz deutlich wird dies, wenn man ihre Einstellung zu den beiden Themen Arbeitslosigkeit und zentrale Planung betrachtet. Die meisten ihrer männlichen Kollegen – in beiden großen Parteien – hielten das Ziel der Vollbeschäftigung sowie staatliche Wirtschaftsplanung für historische Fortschritte, nicht für Irrwege der Geschichte. Beides waren für die meisten führenden Konservativen und Labour-Politiker Errungenschaften der Nachkriegszeit, hinter die man nicht zurückgehen durfte. Thatcher sah das ganz anders. Ein wichtiger Grund für die unterschiedliche Einschätzung waren die prägenden Eindrücke aus der Jugendzeit, die sie bzw. ihre Kollegen erfahren hatten. Die meisten Männer, die in den sechziger und siebziger Jahren an der Spitze der beiden großen Parteien standen, waren während des Ersten Weltkrieges zur Welt gekommen. Heath wurde 1916 geboren, sein Stellvertreter Whitelaw 1918; Wilson war Jahrgang 1916, Schatzkanzler Healey Jahrgang 1917. Die formativen Erlebnisse der Jugend und frühen Mannesjahre dieser Politiker waren die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre, die sie als Heranwachsende bewußt erlebten, sowie der Militärdienst während des Zweiten Weltkrieges. Diese beiden Erfahrungen drückten ihrer Weltsicht unübersehbar den Stempel auf. Die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre wurde für viele von ihnen zu einer traumatischen Erfahrung. Wilsons Vater, ein Chemiker aus Huddersfield in Yorkshire, verlor mehrfach seine Anstellung – ein Erlebnis, das der Sohn zeit seines Lebens nicht vergaß. Auch Heath war nachhaltig schockiert vom Elend dieser Jahre. Seine Generation, erklärte er im Unterhaus, sei in die Politik gegangen, um zu verhindern, daß Vergleichbares

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Am 23. Juni 1978 vor den Grandes Conférences Catholiques in Brüssel, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 45–56 (S. 46).

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I. Der Thatcher-Faktor

noch einmal geschehe.259 Es sei sicher, sagte er an anderer Stelle, „that we will never be able to win popular support for an economic system which tolerates with genial indifference a steady one or two million people, or more, out of work for any length of time. Nor will we deserve to do so.“260 Zustände wie in den dreißiger Jahren durfte man in Großbritannien nie wieder zulassen, lautete die Schlußfolgerung, die junge Männer wie Heath und Whitelaw, Wilson und Healey aus dem Massenelend der dreißiger Jahre zogen. Wenn der ungezügelte Kapitalismus derartiges Elend hervorbringen konnte, mußte man ihm Fesseln anlegen. Die zweite prägende Erfahrung dieser Generation war der Militärdienst, der Männer aus unterschiedlichsten Lebenszweigen, Berufen und sozialen Schichten zu einer gemeinsamen Aufgabe zusammenbrachte.261 Die Politik der Nachkriegszeit, behauptete Healey in seinen Memoiren, sei in beiden großen Parteien von Männern gestaltet worden, die aufgrund ihrer Erfahrungen als Soldaten im Krieg gelernt hätten, Probleme anders anzugehen. Zwei Lehren hätten er und andere seiner Generation aus der Militärzeit gezogen: den Wert von Kameradschaft und die Wichtigkeit der Planung. „[T]he most valuable legacy of war service was the knowledge that I depended on other people and that other people depended on me.“ Dieses Wissen habe die Kameradschaft im Krieg ausgemacht, die in Friedenszeiten fehle. Außerdem, so Healey weiter, wisse jeder, der einmal Soldat war, um die Bedeutung zentraler Planung – „without the most careful planning, involving consultation with all the interests concerned, no operation has a chance of success.“262 Es war kein Zufall, daß eine Generation von jungen Politikern, die mit derartigen Erkenntnissen aus dem Krieg zurückkehrte, gesellschaftliche Solidarität und den Glauben an die Möglichkeiten vernünftiger Planung zum Kern ihrer politischen Philosophie machte. Thatcher teilte keine dieser Schlüsselerfahrungen ihrer männlichen Kollegen. Obwohl im Oktober 1925 geboren und nicht einmal zehn Jahre jünger als Heath oder Healey, entstammte sie bereits einer anderen Generation. In ihren Memoiren finden sich kaum Bemerkungen über das Elend der dreißiger Jahre. Die Depressionsjahre, so heißt es dort lediglich,

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Am 27. November 1980 im Unterhaus; Hansard, Vol. 994, col. 603. Am 21. November 1975 bei der Konferenz „Future of Capitalism“ in Rom: News Service 971/75, S. 4. „There can be no doubt“, schrieb Whitelaw in seinen Erinnerungen, „that our wartime experience had a profound effect on the lives of all those who took part“; WILLIAM WHITELAW, The Whitelaw Memoirs, London 1989, S. 19. HEALEY, S. 53, 73.

2. Thatchers Ziele

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trafen weniger Grantham selbst als vielmehr die umliegenden Agrargemeinden, und auch diese natürlich erheblich weniger als die von der Schwerindustrie abhängigen Städte im Norden. Die meisten Fabriken der Stadt [. . .] arbeiteten weiter. Wir lockten sogar Neuinvestitionen an [. . .] Auch das Geschäft meiner Familie war gesichert; essen müssen die Leute immer, und alle unsere Läden waren gut geführt.263

Natürlich gab es Freunde der Familie, die keine Arbeit hatten. Aber die Politikerin erinnerte sich später nur daran, wie einer nach dem anderen wieder Arbeit fand, nicht wie er sie zuvor verloren hatte.264 Bis etwa 1940 ging die Arbeitslosigkeit in Großbritannien in der Tat massiv zurück und blieb auch für die nächsten drei Jahrzehnte nahezu verschwunden. Was Thatcher bewußt erlebte, war weniger die Massenarbeitslosigkeit der dreißiger Jahre als vielmehr die Periode der Vollbeschäftigung nach 1945. Arbeitslosigkeit war für sie eine schlechte Erfahrung, die andere in der Vergangenheit gemacht hatten, aber kein drängendes Problem, mit dem man sich in der Gegenwart beschäftigen mußte. Nicht dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, sondern gegen Inflation und mangelnde Produktivität der britischen Wirtschaft galt ihre Hauptsorge. „No Government deliberately creates unemployment“, schrieb sie kurz vor ihrem innerparteilichen Wahlsieg. „But equally politicians should not be hypnotised by dubious statistics into subsidising the wrong things. We can’t go on forever propping up inefficient firms and ailing industries. It’s not fair to the workers in them who could be found greater security and higher earnings elsewhere.“265 Viel deutlicher konnte man den Unterschied zwischen ihr und Heath nicht formulieren. Als junges Mädchen, das bei Kriegsausbruch nicht einmal vierzehn Jahre alt war, sammelte Thatcher auch keine Erfahrungen im Militärdienst. Der Krieg präsentierte sich ihr aus der Perspektive der Heimatfront: Freiwilligendienste in den Soldatenkantinen, Schlangen vor den Geschäften und vereinzelte Luftangriffe auf Grantham, die insgesamt 78 Opfer forderten und die Thatchers Familie in Ermangelung eines Luftschutzkellers unter den Eßtisch zwangen.266 Die junge Margaret erlebte nicht die Kameradschaft der Armee, sondern den Anstieg der progressiven Einkommensbesteuerung auf rund 50 Prozent (das Doppelte der Vorkriegszeit), nicht die Schrecken der Schlachten, sondern die Alltagssorgen. Der enorme Anstieg der Regie-

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THATCHER, Erinnerungen, S. 37. „[B]y the time I was into my teens“, erklärte sie im Oktober 1975 in einem Zeitungsinterview, „the unemployment problem was slowly improving and was less bad than it had been in the early thirties“; The Observer, 5. Oktober 1975. Sunday Express, 9. Februar 1975. THATCHER, Erinnerungen, S. 46–7.

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rungsausgaben von einer Milliarde Pfund im Jahr 1939 auf vier Milliarden 1941 und sechs Milliarden 1945 verband sich in ihrer Erfahrungswelt weniger mit einer gut funktionierenden, am Ende siegreichen militärischen Maschinerie als mit Lebensmittelkarten, bürokratischen Kontrollen und dem Verbot, Benzin für Privatautos zu kaufen. Die Lehren, die sie, ihren Memoiren zufolge, aus dem Krieg gezogen haben will, waren denen von Healey oder Heath genau entgegengesetzt: Man mußte so schnell und gründlich wie möglich zum Zustand der Vorkriegszeit zurückkehren, als die Menschen „ein wahrlich anständiges und gesundes Leben führten und ihre Wertvorstellungen eher durch die Gemeinde als durch die Regierung geprägt wurden.“267 Vollständige staatliche Kontrolle aller Lebensbereiche war allenfalls in Ausnahmesituationen wie im Kampf gegen Hitler zu rechtfertigen, als Muster für Friedenszeiten taugten Kriegspolitik und Kriegswirtschaft nicht. Ganz im Gegenteil, sie schadeten nur. „[I]t was during the wars“, erklärte Thatcher im Mai 1978, „that the Government – or rather its economic advisers – first began to believe that one of the State’s duties was to ‚manage‘ the economy; an idea which would not have occurred to any administration during the days of our economic greatness.“268 Auf der anderen Seite erfuhr Thatcher am Beispiel ihrer Eltern, wie Fleiß und harte Arbeit zu Stabilität und bescheidenem Wohlstand führten. Während ihre etwas älteren Kollegen in der Depressionszeit das Scheitern des kapitalistischen Systems zu sehen glaubten und begannen, nach Korrektiven oder Alternativen Ausschau zu halten, erlebte sie im Geschäft ihrer Eltern in Grantham das genaue Gegenteil. Jenen sei der Kapitalismus fremd und unerbittlich vorgekommen, schrieb sie in ihren Erinnerungen, ich empfand ihn als vertraut und kreativ. Ich durfte mitansehen, daß mein Vater die Zahl seiner Angestellten vergrößern konnte, weil er seine Kunden zufriedenstellte. Ich wußte, daß es der internationale Handel war, der Tee, Kaffee, Zucker und Gewürze herbeischaffte [. . .] Es gibt keinen besseren Lehrkurs für das Verständnis des freien Unternehmertums als das Leben in einem Laden. Was ich in Grantham gelernt habe, ließ mich die abstrakte Kritik am Kapitalismus, die ich später hörte, an der Wirklichkeit meiner ureigensten Erfahrungen messen. So wurde ich immun gegen die im Nachkriegsengland gängige Wirtschaftsweisheit.269

Diese Schilderung ist sicherlich idealisiert und von späteren Erfahrungen nachhaltig geprägt worden. Dennoch trifft sie im Kern zu. Als Tochter eines 267 268 269

THATCHER, Erinnerungen, S. 46. Am 6. Mai 1978 vor der Bow Group in der Royal Commonwealth Society in London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 71–82 (S. 78). THATCHER, Erinnerungen, S. 656.

2. Thatchers Ziele

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Kaufmanns erlebte Thatcher in ihrer Jugend ganz konkret und direkt, wie die Gesetze des freien Marktes, das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage funktionierten. Sie lernte, daß man nur ausgeben kann, was man zuvor eingenommen hat, und daß Bankrott macht, wer diese Grundregel nicht beachtet. C)

DIE KRÄFTE DES MARKTES FREISETZEN

Die Aufgabe, Arbeitsplätze zu schaffen und den Wohlstand der Bürger zu mehren, kam nicht dem Staat, sondern dem Markt zu, so das Credo der Tory-Chefin.270 Der Staat sei lediglich in der Lage, Reichtum, den andere geschaffen hatten, umzuverteilen oder zu verbrauchen, nicht selbst hervorzubringen. Er war „a user not a creator of wealth“.271 Wohlstand und Arbeitsplätze konnte nur das Zusammenspiel der freien Individuen im Marktgeschehen schaffen. Thatcher sah es als ihre dritte große Aufgabe an, den Markt von den schädlichen Einflüssen des Staates und der Politik zu befreien, die mit ihren Eingriffen und Kontrollen dem für alle segensreichen Gewinnstreben des einzelnen im Wege standen. Ihr Lösungsvorschlag war einfach. Der Staat, die Politik sollten sich selbst beschränken und die freie Wirtschaft fördern. Der öffentliche Sektor mußte schrumpfen, der Privatsektor wachsen. „[W]e want a free economy not only because it guarantees our liberties, but also because it is the best way of creating wealth and prosperity for the whole country.“272 Der Motor der Krisenbewältigung sollte nicht der Staat, sondern die freie Wirtschaft sein. Der Regierung kam dabei lediglich eine assistierende Rolle zu. Den zentralen Part mußte das freie Unternehmertum spielen. Denn nur das freie Unternehmertum konnte die Arbeitsplätze, die Exporte, den Wohlstand und die Innovationen hervorbringen, die nötig waren, um Großbritanniens Zukunft zu sichern: Free Enterprise provides the jobs – nearly three quarters of all employment – and my goodness we need those jobs. Free Enterprise provides the exports – nearly 95% of all we sell abroad – and my goodness we need those exports. Free Enterprise creates the wealth – nearly three thousand million pounds were paid in taxation last year – and my goodness this Government needs money. Free Enterprise provides

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Am 15. September 1976 vor dem Institute of Directors in Sydney: News Service 846/76, S. 2. Am 9. März 1977 bei „The Guardian ‚Young Businessman of the Year’ Award“, abgedruckt in: THATCHER, Children, S. 87–91 (S. 88). Am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag in Blackpool; abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–27 (S. 23); auch abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 34).

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the inventiveness – there would be no North Sea Oil without Free Enterprise who found it and developed it.273

Das freie Unternehmertum verfolgte somit nicht nur seinen privaten Gewinn, sondern diente zugleich der ganzen Nation, indem es individuelle Tugenden wie Ehrgeiz, Kreativität und Tatkraft forderte und förderte; indem es den Reichtum erwirtschaftete, den ein Staat für alles, was er tat, brauchte; indem es durch den Wettbewerb die Preise niedrig hielt; und vor allem indem es neue Technologien und Produkte entwickelte, die die Wahlfreiheit der Kunden in den Geschäften vergrößerten.274 Thatcher ging so weit, im Zusammenhang mit der Privatwirtschaft vom „nationalen Interesse“ zu sprechen, das andere Politiker sonst eher im Munde führten, wenn es um außenpolitische Haupt- und Staatsaktionen ging: „The highest national interest to be pursued by private industry is the creation of wealth.“275 Privates Unternehmertum war Thatcher zufolge für beinahe alles Große und Gute in der Geschichte der Menschheit verantwortlich. Free enterprise has been the engine which created the wealth which freed hundreds of millions of people from the day-long struggle; every day a battle merely to keep body and soul together. It has enabled the arts to flourish. And to become, not just the preserve of the rich, but to be enjoyed by men and women from every walk of life. It has created the wealth to finance science and technology; to continue the struggle to overcome the scourges of poverty and disease.276

Diese historischen Leistungen konnte das System der freien Marktwirtschaft nur deshalb vollbringen, weil es auf natürliche Weise das Gewinnstreben des Individuums mit der Wohlfahrt der Nation verband. Es sorgte dafür, daß Kreativität, Tatkraft, Fleiß und Risikobereitschaft erfolgreicher Unternehmer auch allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft zugute kamen.277

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Am 1. Juli 1975 bei einem Lunch der Gesellschaft „Aims for Freedom and Enterprise“ im Europa Hotel in London: News Service 648/75, S. 1. „[P]rivate enterprise is by far the best method of harnessing the energy and ambition of the individual to increasing the wealth of the nation; for pioneering new products and technologies; for holding down prices through the mechanism of competition; above all for widening the range of choice of goods and services and jobs“; am 15. September 1975 im Institute of Socio-Economic Studies in New York, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 1–17 (S. 16). Am 11. November 1976 vor dem Institute of Directors in der Royal Albert Hall, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 40–7 (S. 45). Am 1. Juli 1975 bei einem Lunch der Gesellschaft „Aims for Freedom and Enterprise“ im Europa Hotel in London: News Service 648/75, S. 4 (Kopie im CPA). „[F]ree enterprise has enabled the creative and acquisitive urges of man to be given expression in a way which benefits all members of society. Any man may test his skill, his capacity and his will to work, his tenacity and his vision against the demands of the market

2. Thatchers Ziele

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Das harmonische Zusammenspiel der verschiedenen Einzelinteressen erklärte Thatcher, indem sie auf die Ideen des klassischen Liberalismus, insbesondere Adam Smiths, zurückgriff. Diese Vorstellungen basierten auf der Grundannahme, daß der Markt souverän sei, die Interessen der einzelnen in natürlicher Weise miteinander harmonierten und die Individuen sich je nach ihren Fähigkeiten in das harmonische Ganze einer arbeitsteiligen Tauschwirtschaft einfügten. Diese Idee einer natürlichen Harmonie des Marktes findet man in reinster Form in Thatchers Ansprache in der Kirche St. Lawrence Jewry, wo sie erklärte: „[U]ltimately true harmony consists in the willing co-operation of free men.“278 Der Antrieb, der im Marktgeschehen den Wohlstand aller vorantreibt, ist Adam Smith zufolge der Eigennutz der Individuen. Der Egoismus des einzelnen wird in der Marktwirtschaft von einer „unsichtbaren Hand“ gelenkt, zum Vorteil für alle. In einer arbeitsteiligen Tauschwirtschaft muß jeder dem anderen dienen, um sich selbst zu dienen. Thatcher hielt diese Erkenntnisse auch zweihundert Jahre nach dem Erscheinen von Adam Smiths Hauptwerk The Wealth of Nations für aktuell und richtig. Sie forderte ihre Zuhörer auf, Smith zu lesen, both for what he said and for what he did not say, but is often ascribed to him. He did not say that self-interest was good per se; he saw it as a major drive which can be a blessing to any society able to harness it and a curse to those who cannot harness it. He showed how the market economy obliges and enables each producer to serve the consumer’s interest by serving his own.279

Die Voraussetzung dafür, daß die „unsichtbare Hand“ helfend eingreifen konnte, bestand darin, daß der Staat seinerseits von unnötigen Eingriffen in die Wirtschaft absah. Denn die staatliche Verwaltung war, wie Thatcher es sah, nicht in der Lage vorherzusehen oder gar im voraus festzulegen, was sich aus den zusammenspielenden Initiativen unzähliger freier Individuen mit unterschiedlichsten Motivationen und Handlungsgründen entwickeln würde: „Now since people in their day-to-day lives are motivated by this complex of attitudes – self-regard and fellow-feeling, group and sectional interests, personal and family responsibility, local patriotism, philanthropy – an economy will be effective only in so far as it can contain and harness all

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place and the customer“, sagte sie am 1. Juli 1975 bei einem Lunch der Gesellschaft „Aims for Freedom and Enterprise“ im Europa Hotel in London: News Service 648/75, S. 4–5. Am 30. März 1978 in der Kirche St. Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 62–70 (S. 69); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 70–7 (S. 76). Am 4. Juli 1977 in ihrer Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 54); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 63).

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these drives.“280 Wenn die staatliche Bürokratie mit ihrem begrenzten Informationsstand und ihrem eingeschränkten Verständnis dennoch lenkend und planend ins Marktgeschehen intervenierte, störte sie das natürliche und segensreiche Zusammenspiel der Einzelinteressen.281 Dem Staat blieben zwei Aufgaben – eine negative und eine positive. Die negative Aufgabe bestand darin, darauf zu achten, daß er gegenüber dem Privatsektor nicht allzu groß und dominierend wurde, sei es als Arbeitgeber, sei es in Bezug auf den Prozentsatz der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt. Es ging nicht an, daß der Staatssektor den privaten Sektor dominierte, wie er dies Thatcher zufolge in Großbritannien tat.282 Im Gegenteil: „[W]e should have ,a mixed economy‘, where a large profit-motivated private sector co-exists alongside a substantial, but defined area of Government activity.“283 Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildete die „offenkundige“ Tatsache, daß der Staat nicht imstande war, alle Aufgaben in einer Gesellschaft zu erfüllen: „The Welfare State can never provide everything. No council budget, however high the rates, could afford enough social workers to replace the good neighbour [. . .] we must remind ourselves before it is too late that we are responsible for ourselves and our families before, after and above any role that the state can play.“284 Das galt nicht nur für Sozialhilfe und Altenpflege im kommunalen Rahmen, sondern noch viel mehr für die nationale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Das Engagement des Staates bei der Schaffung von Arbeitsplätzen zum Beispiel stieß nicht nur rasch an seine Grenzen, es war auch kontraproduktiv. Jedes Pfund, das in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Staates floß, wurde letztlich der Privatwirtschaft und damit produktiver Verwendung entzogen. Denn diese Maßnahmen trieben wie alle Ausgaben des Wohlfahrtsstaates die Steuern in die Höhe. Dadurch raubte die Regierung den Unternehmen zum einen das 280

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Am 4. Juli 1977 in ihrer Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 54); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 63). „The essence of a free society is that there are whole areas of life where the State has no business at all, no right to intervene. The spontaneous coming-together of people in a common interest leads to creative relations between people in a way with which authority’s forced groupings cannot compete“; am 6. Mai 1978 vor der Bow Group in der Royal Commonwealth Society in London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 71–82 (S. 79). Am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 21–30 (S. 23); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 51). Am 11. November 1976 vor dem Institute of Directors in der Royal Albert Hall, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 40–7 (S. 42). Am 21. Mai 1975 auf der Annual Women’s Conference in der Central Hall in Westminster: News Service 499/75, S. 3.

2. Thatchers Ziele

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Kapital, das sie für Investitionen brauchten. Zum anderen kam der Staat meist nicht mit den Steuergeldern aus, sondern mußte zusätzlich Schulden machen. Das ließ sodann die Zinsen steigen und machte es für Unternehmen unattraktiver, Kredite für Investitionen aufzunehmen: „The seen effect is of a cosy, benevolent government handing out sums of money and creating a lot of jobs in the public sector. The unseen effect is that the life-blood of the productive sector is drained away and its capacity to build tomorrow’s prosperity is irreparably damaged.“285 Außerdem waren Arbeitgeber wie Arbeitnehmer in der freien Wirtschaft den Gesetzen des Marktes unterworfen und somit gezwungen, Realitätssinn und Augenmaß zu bewahren. Die vom Staat geschaffenen und unterhaltenen Arbeitsplätze dagegen hingen nicht von den Marktgesetzen ab, sondern vom politischen Willen, sie weiterhin aus der Staatskasse zu finanzieren: „The threat of bankruptcy for one’s employer, and unemployment for oneself, is a powerful factor causing a return to reality. Unfortunately, the public sector is at present almost wholly insulated from such realism. [. . .] If a private business is bankrupt, then it is bankrupt. In the public sector, the fact that a nationalised industry is technically bankrupt is irrelevant.“286 Wer im öffentlichen Dienst oder in Staatsbetrieben beschäftigt war, mußte deswegen weniger an Produktivität oder Effizienz interessiert sein als vielmehr an der Schaffung oder Bewahrung eines politischen Klimas, das für den Erhalt seines möglicherweise unproduktiven oder ineffizienten Arbeitsplatzes günstig war. Ein Teufelskreis, der nur durchbrochen werden konnte, wenn man die Zahl der Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor so gering wie möglich hielt.287 Der Staat hatte für Thatcher neben dieser negativen aber auch eine positive Aufgabe. Er konnte und sollte die Initiativkräfte der Individuen fördern und die natürlichen Energien der Bürger freisetzen helfen.288 Zwar konnte er nicht selbst Gewinne erwirtschaften, wohl aber für Rahmenbedingungen sorgen, die es den einzelnen Bürgern, der Industrie, dem Handel 285

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Am 15. September 1976 vor dem Institute of Directors in Sydney: News Service 846/76, S. 6 [Hervorhebungen im Original]. Vgl. auch ihre Rede am 15. September 1975 im Institute of Socio-Economic Studies in New York, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 1–17 (S. 12). Am 11. Juni 1975 beim Jahresdinner der National Union im Constitutional Club: News Service 572/75, S. 10–11. Am 11. November 1976 vor dem Institute of Directors in der Royal Albert Hall, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 40–7 (S. 41). „The proper role of Government is to set free the natural energy of the people. That means real rewards for effort and skill. It means restoring a wide degree of freedom to the forces that make up human society“; am 16. April 1979 in der Stadthalle von Cardiff: News Service GE 542/79, S. 7.

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erleicherten, Wohlstand zu schaffen.289 Bereits wenige Tage vor ihrer Wahl zur Parteiführerin hatte die Politikerin auf einer Versammlung der konservativen Jugendorganisation erläutert, wie sie sich diese Rahmenbedingungen vorstellte. Man müsse ein Wirtschaftsklima schaffen, „which enables private initiative and private enterprise to flourish for the benefit of the consumer, the employer, the employee, the pensioner, and society as a whole [. . .] the person who is prepared to work hardest should get the greatest rewards and keep them after tax [. . .] We should back the workers and not the shirkers.“290 Vier Jahre später, am Beginn des Unterhauswahlkampfes im Winter 1979, machte Thatcher mit diesen Forderungen Ernst. Anstatt im Falle eines Wahlsiegs staatliche Beihilfen für verschiedene Interessengruppen anzukündigen, beschränkte sie sich darauf, von den Bürgern Eigeninitiative, Fleiß und Anstrengung zu verlangen. In einem Interview im Februar 1979 kündigte sie an: If somebody comes to me and asks: „What are you going to do for us small business men?“ I say „The only thing I’m going to do for you is make you freer to do things for yourselves. If you can’t do it then, I’m sorry, I’ll have nothing to offer you. You must understand this. If all you want is to be able to batten on somebody or something other than yourself, don’t come to me, just go and vote Labour.“291

Eine Bevölkerungsgruppe, auf die sie bei ihrem Vorhaben, die Kräfte des Marktes freizusetzen, besondere Hoffnungen setzte, waren die Unternehmer. Sie waren nicht nur die natürlichen Verbündeten im Kampf gegen die Ausweitung der Staatsmacht. Ihr Erfolg oder Mißerfolg entschied letztlich auch darüber, ob Thatchers politische Strategie zum Ziel führte. Nur die Unternehmer konnten jenen Wohlstand schaffen, für jenen Produktivitätszuwachs sorgen, den das Land brauchte, um seine politische und ökonomische Krise zu überwinden. „I am convinced that you and your colleagues are the best suited to be the creators of wealth in society“, verkündete sie vor australischen Industriellen. „We in Government can only consume and transfer it. This wealth-creating role which is your calling, demands enterprise and risk-taking, efficiency and competition.“292

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Am 9. März 1977 bei der Verleihung von „The Guardian ‚Young Businessman of the Year‘ Award“, abgedruckt in: THATCHER, Children, S. 87–91 (S. 88). Zit. nach The Observer, 9. Februar 1975. The Observer, 25. Februar 1979. Am 15. September 1976 vor dem Institute of Directors in Sydney: News Service 846/76, S. 2; ähnlich auch am 28. Februar 1975: Speaking to Party Workers at Beaminster School, Dorset, News Service 166/75, S. 3.

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Eigeninitiative, Risikobereitschaft, Effizienz und Wettbewerbssinn – die Eigenschaften, mit denen sie den idealen Geschäftsmann beschrieb, glichen aufs Haar den Attributen, die sie in ihren Reden immer wieder dem freien Individuum zuschrieb. Der Unternehmer war für sie geradezu der Idealtypus jenes unabhängigen, selbstverantwortlichen Bürgers, der die Grundlage jedes gesunden demokratischen Staatswesens bilde. All die Tugenden, die sie in ihren Landsleuten stärken wollte, sah sie im Unternehmer in vorbildhafter Weise verkörpert. Der Menschentyp, der vor ihrem geistigen Auge auftauchte, wenn sie das freie Unternehmertum pries, war nicht so sehr der Industriekapitän oder Finanzmagnat als vielmehr der Existenzgründer, der sich und seine kleine Firma mit Kreativität und harter Arbeit durchboxen mußte. Sie forderte ihre Zuhörer auf: Let us examine those doughty and independent firms who produce more than half of the wealth of the realm. In their beginnings they are rooted in the decision of one man, or maybe two, to leave the security of employment, and to go it alone. To risk the modest savings on which the family would depend in hard times. Today the men and women who set out on this venture know that there can be no fast and easy way to make a fortune. It is hard, unremitting and often a lonely toil.

Die Politikerin sah im Typus des Geschäftsmannes, den sie mit diesen Worten pries, nicht nur ein Vorbild für ihre Landsleute, sondern zugleich die Verkörperung des wahren britischen Volkscharakters, der in der Gegenwart zwar verschüttet sein mochte, unter den Trümmern der aktuellen Malaise aber immer noch vorhanden war: „It is the unquenchable spirit of enterprise that is the bedrock of our national character. It is a trait that should be encouraged, not stifled.“293 Sie sah eine wichtige Aufgabe darin, die Stellung der Unternehmer in der britischen Gesellschaft zu stärken, zum einen ganz praktisch dadurch, daß sie sich für den Abbau bürokratischer Hindernisse und Steuersenkungen einsetzte, zum anderen aber auch auf einer ideellen Ebene. Sie wollte den Geschäftsleuten die Anerkennung zurückgewinnen, die ihnen angeblich seit Jahren zu Unrecht verweigert wurde.294 Verantwortlich für die geringe Wertschätzung, die Unternehmer in Großbritannien erfuhren, so empfand sie es, war das in der britischen Gesellschaft herrschende Meinungsklima, das wirtschaftlichen Erfolg gering schätzte oder sogar verleumdete und in dem unternehmerische Initiative nicht gedeihen konnte. Anstatt Anreize

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Am 21. Mai 1975 bei der Annual Women’s Conference in der Central Hall in Westminster: News Service 499/75, S. 3, 4. Vgl. Rede am 15. September 1976 vor dem Institute of Directors in Sydney: News Service 846/76, S. 1.

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für Investitionen und Initiative zu schaffen, hätten die Politiker sich dem Meinungsklima gebeugt, es sogar zugelassen, daß die Lebensstandards von Unternehmern und Managern durch Steuern, Gehaltskontrollen und Geldentwertung stetig sanken. „There is a sense of despair and hopelessness amongst our wealth creators“, konstatierte sie. „They perceive the increasingly political character of the business world while they, along with many others, bear the personal cost of financing more Government. The matter can be put quite simply. There is a vendetta against success.“295 Die Diskreditierung von wirtschaftlichem Erfolg habe inzwischen dazu geführt, daß der Beruf eines Sozialarbeiters der öffentlichen Meinung als tugendhaft, derjenige eines Managers oder Geschäftsmannes dagegen als moralisch minderwertig gelte. Thatcher versuchte nach Kräften, dieser Sichtweise entgegenzuwirken. Es sei genauso idealistisch und nützlich, predigte sie ausgerechnet auf der Social Services Conference in Liverpool, „to go into industry and commerce as a way of earning your living and providing something over for others as it is to work directly in the social services. Indeed without that effort, we couldn’t have good social services.“296 Die Unternehmer forderte sie auf, sich nicht einer Propaganda zu beugen, die Profit und Gewinnstreben als Teufelszeug darzustellen trachtete. Mit Sorge sehe sie, daß sich viele Geschäftsleute bereits dem Zeitgeist fügten. „Even businessmen who should know the truth, are liable to surrender to this propaganda; to become apologetic about the profits they legitimately earn. Some use the word ,surplus‘ to describe the earnings of their company.“ Wenn die Unternehmer selbst derartig defensiv argumentierten, durfte man sich nicht wundern, wenn der Durchschnittsbürger argwöhnisch aufmerkte und tatsächlich zu glauben begann, daß es zwielichtig, ja womöglich anrüchig sei, wenn Unternehmen Gewinne machten. Die Konservative Partei, so Thatcher, mußte sich diesem Trend entgegenstemmen. „One of the most useful things that we Conservatives can do is to discard any residue of this defensive mentality and tirelessly proclaim that the prosperity and ultimately, the freedom of this country cannot be secured unless the role of profit is recognized and indeed enhanced.“297 Sie selbst wurde in ihren Reden und Interviews nicht müde zu betonen, wie wichtig Gewinne für eine prosperierende Wirtschaft seien. Es sei falsch, 295 296 297

Am 11. November 1976 vor dem Institute of Directors in der Royal Albert Hall, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 40–7 (S. 41–2). Am 2. Dezember 1976 auf der Social Services Conference in Liverpool, abgedruckt in: THATCHER, Children, S. 81–6 (S. 82). Am 4. Mai 1976 vor dem Junior Carlton Club Political Council, abgedruckt in: THATCHER, Children, S. 51–9 (S. 54–6).

2. Thatchers Ziele

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erklärte sie, daß sich Labour-Minister beklagten, die Privatwirtschaft investiere nicht genug, wenn die Regierung den Unternehmern gleichzeitig durch exzessive Besteuerung die Gewinnspannen beschneide und ihnen damit die Möglichkeit und den Anreiz zu investieren raube.298 Wenn ein Geschäftsmann nur ein Fünftel oder ein Sechstel seiner Profite aus einem neuen Unternehmen behalten könne, weil der Rest ihm von der Steuer weggefressen werde, stünden die Chancen schlecht, daß er das Geschäft überhaupt in Angriff nehme. Wenn er es dennoch täte, dann sähe er sich unerbittlichen Lohnforderungen seiner Arbeiter ausgesetzt, die auf diese Weise auf die immer höheren Steuern reagierten, die auch auf ihren Schultern lasteten. Der Unternehmer könne zwar versuchen, die gestiegenen Löhne in Form höherer Preise an seine Kunden weiterzugeben. Doch sei er nicht in der Lage, seine Preise rasch und hoch genug anzuheben, um seine Gewinnspanne zu bewahren. Daher schrumpften seit Jahren die durchschnittlichen Profitraten – „before tax, after tax, as share in national income or as a rate of return on capital. Since retained profits are the principal source of funds for investment and profit levels, the main incentive, capital expenditure in private industry, has faltered more and more.“299 Die einzige Chance, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, bestand für Thatcher darin, die Staatsausgaben zu begrenzen, die Steuern zu senken und damit die Gewinnmargen der Unternehmen zu vergrößern.300 Die ideale Gesellschaftsordnung, die Thatcher vorschwebte, war ein Kapitalismus nach amerikanischem Vorbild, in dem jedem aus eigener Kraft der Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär gelingen konnte. Geschick, Fleiß und Leistungsvermögen, nicht die soziale Herkunft sollten über Erfolg oder Mißerfolg entscheiden. Reichtum und Macht sollten nicht in wenigen Händen konzentriert, sondern breit im Volk gestreut sein. Der Staat sollte dem Bürger dienen, nicht über ihn herrschen. „Let me give you my vision“, rief sie den Delegierten auf der Parteikonferenz im Oktober

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„Tomorrow’s jobs depend on today’s investment. Today’s investment depends on yesterday’s profits. Without profits tomorrow’s jobs are in jeopardy“; am 6. Juni 1975 beim Annual Luncheon des Institute of Directors (Midlands Branch) im Penns Hall Hotel in Sutton Coldfield: News Service 561/75, S. 2. Am 15. September 1975 im Institute of Socio-Economic Studies in New York, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 1–17 (S. 9–10). „We must get private enterprise back on the road to recovery“, betonte sie auf ihrer ersten Parteikonferenz als Tory-Chefin. „And the way to recovery is through profits“; am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag in Blackpool; abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–27 (S. 23–4); auch abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 34). Siehe zu diesem Komplex, insbesondere zur Bedeutung von freiem Unternehmertum und Profit, KLAUSE, S. 82–99.

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1975 zu, „a man’s right to work as he will, to spend what he earns, to own property, to have the State as servant and not as master.“301 „Volkskapitalismus“, people’s capitalism oder auch popular capitalism, nannte sie diese Vision bei anderer Gelegenheit.302 Das wesentliche Merkmal dieses Volkskapitalismus bestand für sie darin, daß nicht nur einige wenige von den Segnungen des Marktes profitieren sollten, sondern alle. Das setzte voraus, daß Großbritannien zu einer Gesellschaft von Eigentümern und Aktionären wurde – zu jener „property owning democracy“, die Anthony Eden in den fünfziger Jahren als Ziel der Konservativen bezeichnet hatte.303 Die Politikerin sah sich und ihre Partei dabei auf einem guten Weg. Als die Konservativen 1951 wieder an die Regierung gekommen waren, so Thatcher, wohnten nur 29 Prozent der Menschen im Eigenheim, 1964 waren es 45 Prozent und beim letzten Regierungswechsel 1974 sogar 52 Prozent.304 Nicht nur auf dem Immobiliensektor entwickelte sich die Vermögensbildung der Briten in ihren Augen erfreulich, sondern auch bei Aktien, Rentenpapieren und Lebensversicherungen.305 Daß immer mehr Menschen in Großbritannien zu Hauseigentümern oder Besitzern von Wertpapieren wurden, war ihrer Meinung nach aus drei Gründen wichtig. Erstens stärkte es die britische Wirtschaft und erhöhte zugleich die Chance auf friedliches Einvernehmen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Wenn die Arbeiter gleichzeitig auch als Investoren und Eigentümer an ihrem Betrieb beteiligt waren, so rechnete Thatcher, hätten sie „[a]s shareholders and employees [. . .] an identical interest in industrial and commercial prosperity“. Langfristig werde man auf diesem Wege das Ende aller Klassenkonflikte erreichen.306 Zweitens hatte die Ausdehnung der Eigentumsrechte eine politische Dimension. Sie sollte die ökonomische

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Am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag in Blackpool; abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–27 (S. 23); auch abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 34). Am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 21–30 (S. 28); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 55). Zur Entstehung des Begriffs siehe LAWSON, S. 224. Auch Thatcher benutzte in ihren Reden den Begriff „property owning democracy“ immer wieder, etwa am 12. Februar 1978 auf dem Parteitag der Jungkonservativen in Harrogate: News Service 194/78, S. 5. Am 31. Januar 1976 in ihrem Wahlkreis in Finchley: News Service 94/76, S. 8. Vgl. etwa ihre Rede vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich am 14. März 1977, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 21–30 (S. 28); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 55). Am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 21–30 (S. 28); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 55).

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Macht auf mehr Schultern verteilen und damit letztlich auch politische Macht dezentralisieren. Außerdem war Eigentum für Thatcher der beste Schutz gegen die Willkürmacht des Staates.307 Drittens schließlich verwies sie auf die moralische oder erzieherische Bedeutung von Eigentum. Am Beispiel des Hauseigentums erläuterte sie, wie eigener Besitz die Menschen zu Sparsamkeit erzog, zu harter Arbeit anhielt und vor allem lehrte, das Eigentum anderer zu achten. Zugleich sorge es wegen der Möglichkeit, Besitz zu vererben, für gesellschaftliche Kontinuität und Stabilität.308 Im Hauseigentümer sah Thatcher, ähnlich wie im Unternehmer, jene Tugenden verkörpert, die sie im Lande stärken wollte: Er war unabhängig von einem Vermieter, für den Erhalt und Ausbau seiner vier Wände selbst verantwortlich, und hatte die Chance, sein Haus nach seinen eigenen Wünschen zu gestalten. Die Antwort auf die Frage, warum viele Leute erhebliche finanzielle Opfer auf sich nahmen, um ihr eigenes Haus zu kaufen, lag in den Augen der Politikerin deswegen nahe: „The answer is because it gives them a sense of independence, of self-reliance, of individuality. They feel some of the pride of ownership. [. . .] Here is a firm foundation on which to build a policy.“309 In Thatchers Fall enthielten diese Worte eine besondere Wahrheit. Zum einen waren relativ wohlhabende Hausbesitzer sowie selbständige Unternehmer aus der Mittelschicht ganz buchstäblich die Wähler, auf denen die Politik der Tory-Chefin aufbaute, bildeten sie doch ein entscheidendes Bevölkerungssegment ihres eigenen Wahlkreises in Finchley, wo der Anteil von Selbständigen und Hausbesitzern mehr als doppelt so hoch war wie im Landesdurchschnitt.310 Zum anderen waren sie aber auch die Bevölkerungsgruppe, auf die sie als Oppositionsführerin landesweit ihre Hoffnungen setzte. Dies waren „ihre Leute“, deren Interessen, Vorlieben und Abneigungen sie teilte, deren Werte und Ziele sie in ihrer Politik reflektierte. 307

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„Ownership which is widely dispersed is the best bulwark against coercive power. Our forefathers knew this and Conservative policies in modern times have long recognized it“; am 12. Februar 1978 auf dem Parteitag der Jungkonservativen in Harrogate: News Service 194/78, S. 2. „Home ownership not only means security for the individual“, stellte sie fest, „it also means security and continuity for society as well. Security because people who work hard to buy their own homes have learned the responsibility of property and have a respect for other people’s property as well. Continuity because the ownership of a house is not just for one generation – its value is in more ways than one passed to the next, and the next“; am 31. Januar 1976 in ihrem Wahlkreis in Finchley: News Service 94/76, S. 7. Am 21. Mai 1975 auf der Annual Women’s Conference in der Central Hall in Westminster: News Service 499/75, S. 2. Vgl. BERNARD DONOUGHUE, Finchley, in: DAVID BUTLER und ANTHONY KING, The British General Election of 1964, London, New York 1965, S. 241.

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I. Der Thatcher-Faktor

Zugespitzt könnte man sagen, daß Thatcher sich Großbritannien als ein einziges großes Finchley vorstellte, das von freien, selbstverantwortlichen Bürgern bewohnt wurde – oder zumindest bewohnt werden sollte. Der zweite Ort auf der Welt neben Finchley, wo Thatcher sich zu Hause fühlte, dem sie sich instinktiv verbunden wußte, waren die USA. Die Tugenden des freien Unternehmertums, die begrenzten Aufgaben des Staates und das Vertrauen in die Kräfte der Marktwirtschaft, um die ihre Reden immer wieder kreisten, sah sie als gemeinsames kulturelles Erbe der angelsächsischen Nationen, das in den Vereinigten Staaten lebendiger war als in Großbritannien. Spätestens seit ihrem ersten Amerika-Besuch 1967 betrachtete sie die amerikanische Tradition wie selbstverständlich als Teil der eigenen. „You have always been a land of individuals to whom excessive government is alien“, rief sie neun Jahre später einem amerikanischen Publikum zu. „We in Britain today echo that feeling. The State, through monopoly, coerces man. Freedom, through choice, enriches him.“311 Die Verbundenheit mit den USA hatte ihre Ursache nicht zuletzt in der geistigen Verwandtschaft von Thatchers im Methodismus wurzelnder Weltsicht mit dem Puritanismus der amerikanischen Gründerväter, der sich tief in den Traditionen- und Wertebestand der Vereinigten Staaten eingeprägt hatte. Sendungsbewußtsein, Moralismus, Individualismus und ein ausgeprägtes Erfolgsethos sind Gemeinsamkeiten, die ins Auge springen.312 Thatchers Identifizierung mit dem Ersatzvaterland jenseits des Atlantik ging so weit, daß sie in ihren Reden amerikanische Sprichworte und die Aphorismen amerikanischer Präsidenten häufiger zitierte als britische. Oft deckten sich die einfachen Wahrheiten, die in diesen Zitaten zum Ausdruck kamen, exakt mit ihren eigenen Ansichten. Bei ihrer ersten Reise in die USA im Herbst 1975 zitierte sie eine Bauernregel aus dem Mittleren Westen, die lautete: „Don’t cut down the tall poppies – let them rather grow tall.“ Thatcher führte diese Wendung weiter, um ihre Idealvorstellung einer Gesellschaft zu beschreiben: „Let our children grow tall – and some grow taller than others, if they have it in them to do so. We must build a society in which each citizen can develop his full potential, both for his own benefit and for the community as a whole; in which originality, skill, energy and thrift are rewarded; in which we encourage rather than restrict the variety

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Am 20. Oktober 1976 vor der American Chamber of Commerce im Grosvenor House in London: News Service 1011/76, S. 5. Zur Bedeutung des Puritanismus für die politische Kultur der USA siehe KNUD KRAKAU, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin in den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankfurt a. M., Berlin 1967, S. 30–67.

2. Thatchers Ziele

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and richness of human nature.“313 Ein anderes amerikanisches Sprichwort zitierte Thatcher ein Jahr später während einer Reise durch Australien. „Any government that is big enough to give you all what you want, is strong enough to take away everything you have.“314 Dieser kurze Satz, aus dem das ganze, tief in der amerikanischen Tradition verwurzelte Mißtrauen gegen die Staatsmacht sprach, brachte zum Ausdruck, was auch die ToryChefin dachte. Ihr Lieblingszitat stammte von Abraham Lincoln, einem Mann, der mehr über die Freiheit wisse, als die meisten von uns vergessen könnten, wie sie Jahre später vor dem polnischen Senat erklärte.315 Sie zitierte Lincolns Worte bei den verschiedensten Gelegenheiten während ihrer Karriere.316 Sie trug sie wie einen Talisman immer bei sich.317 Auf dem leicht vergilbten, zerknitterten Zettel, den sie stets in ihrer Brieftasche aufbewahrte, standen nur wenige Worte: You cannot bring about prosperity by discouraging thrift. You cannot strengthen the weak by weakening the strong. You cannot help strong men by tearing down big men. You cannot help the wage-earner by pulling down the wage-payer. You cannot further the brotherhood of man by encouraging class hatred. You cannot help the poor by destroying the rich. You cannot establish sound security on borrowed money. You cannot keep out of trouble by spending more than you earn. You cannot build character and courage by taking away man’s independence. You cannot help men permanently by doing for them what they could and should do for themselves. D)

DIE NATION ZUR GRÖSSE ZURÜCKFÜHREN

Brüderlichkeit statt Klassenhaß, Ermutigung für die Gesunden, Kräftigen und Reichen, Wohlstand, Sparsamkeit, Eigeninitiative und Unabhängigkeit – wie in einem Brennglas waren in dieser Lincoln-Rede die Prinzipien und Tugenden gebündelt, mit deren Hilfe Thatcher Großbritanniens Niedergang aufhalten und zu neuem Aufstieg wenden wollte. Dies war neben der Stärkung des Individuums, der Beschneidung der Staatsaufgaben und 313 314 315 316 317

Am 15. September 1975 im Institute of Socio-Economic Studies in New York, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 1–17 (S. 16). Am 20. September 1976 vor dem Federal Council der Liberal Party of Australia in Melbourne, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 11. Am 3. Oktober 1991 im polnischen Senat in Warschau, abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 500–10 (S. 510). Etwa in ihrer ersten größeren Rundfunkrede als Parteichefin am 5. März 1975 auf BBC Radio 4: News Service 190/75, S. 2. So übereinstimmend JUNOR, Thatcher, S. 98–100; MILLAR, S. 227; Thatcher selbst sagte vor dem polnischen Senat, sie trage den Auszug aus der Lincoln-Rede seit dem Beginn ihrer politischen Karriere vor vierzig Jahren immer bei sich: THATCHER, Collected Speeches, S. 510.

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dem Freisetzen der wohltätigen Kräfte des Marktes ihr viertes Ziel: dem Land das Ansehen und den Rang in der Welt wiederzuverschaffen, den es in den vorangegangenen Jahrzehnten eingebüßt hatte. „To make Britain great again“, war für sie nicht nur ein eingängiger Werbespruch, sondern ein ernstgemeintes Anliegen. Sie besaß eine feste – freilich idealisierte – Vorstellung davon, wie Großbritannien in seiner großen Zeit einmal gewesen war und wie es in Zukunft wieder werden sollte. „As de Gaulle with France, Mrs Thatcher had a ,certain idea‘ of Britain“, bemerkte einer ihrer außenpolitischen Berater im Rückblick. „She was concerned explicitly with its regeneration, both at home and abroad.“318 Das innen- und das außenpolitische Reformprojekt hingen nicht nur eng miteinander zusammen, sie wiesen auch ähnliche Strukturprinzipien auf: So wie sich die Gesellschaft aus Individuen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Tugenden und Fehlern zusammensetzte, so bestand die internationale Staatengemeinschaft aus verschiedenen Nationen, die ebenfalls eigene Charaktere, Fähigkeiten und Schwächen besaßen. Individuen wie Nationen standen in stetem Wettbewerb miteinander, bei dem die besten gewinnen und die schlechteren zurückfallen würden. Dementsprechend tauchten in ihren Reden andere Nationen eher als Konkurrenten denn als Partner oder gar Freunde auf. „Japan and Germany“, erklärte sie den Parteitagsdelegierten im Oktober 1978 in Brighton, „have a large and growing share of our markets. Both are winning your customers and taking your jobs.“ Da die Lösung des Problems nicht darin bestehen konnte, den – natürlichen, notwendigen und richtigen – Wettbewerb zu verhindern, galt es statt dessen, besser zu werden als die Rivalen, wenn nötig, auch von ihnen zu lernen. „Of course, we in Britain see the German success and want it here“, fuhr sie fort, „the same living standards, the same output, the same low rate of inflation. But remember what they have also had in Germany is strict control of the money supply, no rigid incomes policy, less state control than we have, lower personal tax, and unions which are on the side of the future, not refighting the battle of the past.“319 Indem Thatcher den einzelnen Bürger dazu erzog, sich mutig dem freien Wettbewerb zu stellen, würde sie auch die britische Nation als ganze auf dem Weltmarkt wieder konkurrenzfähig machen, davon war sie überzeugt. Unterstützt würde sie bei dieser Aufgabe, so meinte sie, von einem spezifisch britischen Volkscharakter, der sich durch Individualismus, Freiheits318 319

CRADOCK, S. 28. Am 13. Oktober 1978 auf dem Tory-Parteitag in Brighton, zit. nach: THATCHER, Collected Speeches, S. 78–90 (S. 84).

2. Thatchers Ziele

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liebe, Kreativität, Erfindungsgabe und Geschäftssinn auszeichnete. Die Politikerin glaubte fest an die Existenz derartiger kollektiver Qualitäten und Fehler von Nationen. „[T]he national character of a people“, erklärte sie in einer Rede in Brüssel, „may give a nation historic goals which persist through changing political ideologies.“320 In ihrer Brüsseler Rede zitierte sie zwar nur den russischen Expansionsdrang, der ihrer Ansicht nach weit vor die bolschewistische Revolution zurückreichte, aber das Konzept erschien ihr universal anwendbar. Die Deutschen etwa waren aus Thatchers Sicht nicht nur fleißig, gemeinschaftsorientiert und arbeitsam, sondern auch ängstlich, aggressiv, überheblich, rücksichtslos, selbstgefällig, sentimental und von Minderwertigkeitskomplexen geplagt, wie eine staunende Weltöffentlichkeit mehr als zehn Jahre später anläßlich der deutschen Wiedervereinigung aus dem engsten Umkreis der Premierministerin erfahren sollte.321 Der Nationalcharakter konnte unter Umständen eine Zeitlang verblassen, von anderen Eigenschaften überdeckt werden, letztlich war er jedoch nur schwer veränderbar, davon war Thatcher überzeugt. Im deutschen Falle gab diese Annahme später Anlaß zu der Sorge, die demokratisch geläuterten Nachkriegsdeutschen könnten bei Gelegenheit wieder zu mordlüsternen Eroberern mutieren. Für die Zukunft Großbritanniens schöpfte die Politi320 321

Am 23. Juni 1978 bei „Les Grandes Conférences Catholiques“ in Brüssel, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 45–56 (S. 49). Im März 1990 hatte Thatcher in Chequers, dem Landhaus britischer Premierminister, ein Seminar mit einer Handvoll britischer und amerikanischer Deutschlandkenner veranstaltet, in dem über die Auswirkungen der sich abzeichnenden deutschen Wiedervereinigung diskutiert wurde. Vier Monate später erschien unter der Überschrift „Be nice to German bullies, PM told“ in der britischen Presse (The Independent, 15. Juli 1990) ein Protokoll der Diskussion, das wohl von Thatchers Privatsekretär Charles Powell verfaßt worden war. Daraus ging hervor, man sei sich darüber einig gewesen, daß die Deutschen immer noch die oben aufgeführten nationalen Eigenschaften besäßen. Die meisten der geladenen Gäste haben inzwischen ihre Erinnerung an das Treffen veröffentlicht und mehr oder weniger deutlich bestritten, sich an der Formulierung eines deutschen Volkscharakters beteiligt zu haben; siehe GORDON A. CRAIG, Die Chequers-Affäre von 1990. Beobachtungen zum Thema Presse und internationale Beziehungen, in: VfZ 39, 1991 (4), S. 611–23; TIMOTHY GARTON ASH in: FAZ, 18. Juli 1990; FRITZ STERN in: FAZ, 26. Juli 1990 (in gekürzter Fassung auch in: The Washington Post, 29. Juli 1990); NORMAN STONE in: FAZ, 19. Juli 1990 und in: The Times, 16. Juli 1990; URBAN, S. 120–55. Auffällig ist Thatchers Schweigen über die Episode, die sie in ihren Erinnerungen mit keinem Wort erwähnt. Als indirekter Kommentar kann jedoch eine Bemerkung über den Rücktritt ihres Freundes Nicholas Ridley angesehen werden, der etwa zur selben Zeit sein Ministeramt niederlegen mußte, weil er den Deutschen in einem Interview nachsagte, immer noch den Kontinent unterjochen zu wollen. Thatcher merkte zu Ridleys Rücktritt in ihren Erinnerungen an: „Tatsächlich war es seine zu große Ehrlichkeit, die ihn letztlich zu Fall brachte. Der amerikanische Journalist Michael Kinsley hat einen Fauxpas als die Mitteilung einer unbequemen Wahrheit definiert. Ich muß sagen, daß meine Erfahrung die Richtigkeit seiner Definition bestätigt“; THATCHER, Downing Street, S. 445.

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I. Der Thatcher-Faktor

kerin während der Oppositionsjahre daraus jedoch Hoffnung. Mochte der britische Volkscharakter in den zurückliegenden Jahrzehnten auch deformiert und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden sein, wenn es ernst wurde, war auf die Briten immer noch Verlaß. „[T]his is still, in spite of everything, the same British nation that it ever was. The British are still a wonderfully inventive, wonderfully ingenious people [. . .] The British people have beyond the shadow of a doubt the ability to prosper.“322 Andere Charaktereigenschaften, durch die sich das britische Volk in Thatchers Augen vor anderen auszeichnete, waren Freiheitsliebe, Mut, Abenteuerlust, Entschlossenheit – kurz: die Tugenden des Unternehmers, den die ToryChefin in ihren Reden pries. „We are still the same people who have fought for freedom, and won. The spirit of adventure, the inventiveness, the determination are still strands in our character.“ Diese schlummernden Fähigkeiten galt es zum Leben zu erwecken, wenn Großbritannien wieder Erfolg haben, ein Volk freier Unternehmer werden wollte. Die Politikerin war überzeugt, daß dies gelingen könne. „We may suffer from a British sickness now“, fuhr sie fort, „but our constitution is sound and we have the heart and will to win through. I believe in Britain. I believe in the British people. I believe in our future.“323 Der Wiederaufstieg des Landes konnte Thatchers Ansicht nach nur über eine Erneuerung des Selbstbewußtseins der Nation führen. Die Briten mußten den Stolz auf die eigene Vergangenheit und das Vertrauen in die Tugenden jenes britischen Volkscharakters zurückgewinnen, an den sie – im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen – fest glaubte. Denn nicht ökonomische Schwäche war in ihren Augen die Wurzel allen Übels, sondern fehlendes Selbstbewußtsein.324 Auf ihrer ersten Parteikonferenz als Tory-Chefin betonte sie, die größte Herausforderung ihrer Zeit sei, nicht nur die Wirtschaftskrise zu überwinden, sondern mehr noch das verlorengegangene Selbstvertrauen als Nation zurückzugewinnen.325

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Am 3. März 1976 beim Jahrestreffen des Greater London Area Council: News Service 231/76, S. 9. Am 19. September 1975 vor dem National Press Club, Washington, News Service 788/75, S. 7. „We can recognise that the true crisis is social and political so that it can be resolved only by changed attitudes“, sagte sie am 11. Juni 1975 beim Jahresdinner der National Union: News Service 572/75, S. 12. „Serious as the economic challenge is, the political and moral challenge is just as grave and perhaps even more so because economic problems never start with economics. They have much deeper roots in human nature and roots in politics“; am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–28 (S. 20); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 31).

2. Thatchers Ziele

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Der erste Schritt auf dem Weg zurück zum Erfolg bestand für sie darin, den Glauben an die große Vergangenheit des britischen Volkes als Kraftquelle wiederzugewinnen. In einem Kampf um die Deutungsmacht über das nationale Erbe stritt sie darum, ihre Interpretation gegen diejenigen durchzusetzen, denen sie vorwarf, die britische Geschichte umschreiben zu wollen: „We are witnessing a deliberate attack on our values, a deliberate attack on those who wish to promote merit and excellence, a deliberate attack on our heritage and our great past, and there are those who gnaw at our national self-respect, rewriting British history as centuries of unrelieved gloom, oppression and failure – as days of hopelessness, not days of hope.“326 Welches Bild der britischen Vergangenheit sie gegen diese Verfallsgeschichte setzen wollte, wurde schon bei ihrer Antrittsrede als konservative Parteiführerin deutlich, als sie ausrief, eine große Nation könne nicht ohne Vision und Ziel nur von einem Tag zum nächsten leben: Had that been sufficient for Britain we should never have built a great Commonwealth of nations; we should never have set out on those great adventures in Elizabethan times to discover unknown lands; we should never have annunciated or practised some of the great legal principles which recognised the fundamental rights of man and their equality before the law. We should never have founded a Parliamentary democracy, and we should never have fought to keep those ideals a reality for all, or to see that freedom and liberty did not perish.327

Redepassagen wie diese machen deutlich, welch zentrale gesellschaftliche Werte für Thatcher Nationalgefühl und Patriotismus darstellten. Der Appell an das nationale Ehrgefühl war niemals nur Selbstzweck, sondern diente immer auch der Mobilisierung gesellschaftlicher Schwungkraft für das geplante Reformwerk, wie die Politikerin in ihren Erinnerungen selbst festhielt: „[Mit nationalen] Traditionen und Symbolen können Einzelpersonen mit konträren Interessen zur Zusammenarbeit und zu Opfern für das Gemeinwohl veranlaßt werden.“ Außerdem setzte sie darauf, das Zusammengehörigkeitsgefühl als Nation werde die Härten des unausweichlichen Wandels für die Bevölkerung abfedern. Nationale Gemeinschaft und nationale Kontinuität lieferten „den lebenswichtigsten psychologischen Schutz gegen die desorientierenden Stürme des Wechsels: eine Identität, die uns das Gefühl festgegründeter Existenz verleiht.“ Das Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit und Identität bedurfte freilich der steten Pflege. Es

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Am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–28 (S. 22); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 32–3). Am 20. Februar 1975 in ihrer Antrittsrede im Europa-Hotel in London: News Service 143/5, S. 1–2.

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I. Der Thatcher-Faktor

sei notwendig, postulierte sie, die „edlen Begebenheiten und Themen der eigenen Geschichte“ aufzuspüren und darauf ein anständiges und aufgeschlossenes kollektives Selbstbild zu errichten.328 Dies war nicht nur eine Erkenntnis im Rückblick. Schon in ihrer ersten Parteitagsrede als ToryChefin verankerte sie die Tugenden, die Großbritannien in der aktuellen Krise benötigte, in der britischen Vergangenheit. „Was für eine Nation sind wir?“, fragte sie und antwortete: We are the people that in the past made Great Britain the Workshop of the world, the people who persuaded others to buy British, not begging them to do so but because it was best. We are a people who have received more Nobel Prizes than any other nation except America, and head for head we have done better than America, twice as well in fact.

Zu den Erfindungen, welche die Welt den Briten verdankte, gehörten laut Thatcher Computer, Kühlschrank und Elektromotor ebenso wie Stethoskop, Kunstseide, Edelstahl, Panzer, Fernsehen, Penicillin, Radar, Düsentriebwerke, Luftkissenboote und die Kohlenstoff-Faser.329 Untersucht man Thatchers Vorstellung verschiedener Nationalcharaktere genauer, gelangt man zu der Schlußfolgerung, daß schon während des Zweiten Weltkrieges das Fundament ihrer instinktiven Einstellung sowohl zur britischen Nation als auch zu anderen Völkern gelegt wurde. Diese Erkenntnis nimmt nicht Wunder, wenn man bedenkt, daß die Politikerin nicht einmal vierzehn Jahre alt war, als der Krieg begann, und zwanzig, als er endete. Er überschattete einen großen Teil jener Jugendjahre, in denen häufig die Fundamente politischer Überzeugungen gelegt werden. Die dreißiger Jahre, in denen Thatchers eigenen Angaben zufolge ihr politisches Bewußtsein erwachte, waren von einer Abfolge von Krisen auf dem europäischen Kontinent geprägt: Abessinien, die Wiederbewaffnung des Rheinlands, der Spanische Bürgerkrieg, die Tschechoslowakei und das Münchener Abkommen, der Anschluß Österreichs. Auch wenn sie kaum Einzelheiten dieser außenpolitischen Turbulenzen verstanden haben dürfte, prägte sich der jungen Margaret doch die Grundstimmung jener Jahre unauslöschlich ins

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THATCHER, Erinnerungen, S. 605. Den Stolz auf die eigene Nationalität als Triebkraft eines ehrgeizigen Reformprojekts zu wählen, lag in Großbritannien so nahe wie in kaum einem anderen europäischen Land. Bis in die achtziger Jahre hinein erklärten in Meinungsumfragen weit mehr als die Hälfte aller Briten (55 Prozent), sie seien „sehr stolz“ auf ihre Nation – ein Wert, der nur noch von Irland (66 Prozent) und den USA (79 Prozent) übertroffen wurde; vgl. HAGEN SCHULZE, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, S. 329–30. Am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–28 (S. 22–3); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 33).

2. Thatchers Ziele

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Gedächtnis und veranlaßte sie rund sechzig Jahre später zu der Bemerkung, in ihrer Lebenszeit seien alle Probleme stets vom europäischen Festland ausgegangen, alle Lösungen hingegen aus der angelsächsischen Welt gekommen.330 Der unerschütterliche Glaube an die Überlegenheit der Angelsachsen und an die besondere Beziehung Großbritanniens zu den Vereinigten Staaten wurzelte im Patriotismus der Kriegsjahre, zumal Thatcher den Krieg nicht in der ganzen Brutalität erlebte wie viele ihrer späteren Kollegen in der Politik, die als Soldaten kämpften. Prägend für sie war weniger der Schrekken der Schlachten als vielmehr das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, für eine gute Sache zu kämpfen, die am Ende triumphieren werde. „Even in the greatest depths of the war we had great faith in the future of Britain“, schrieb sie Jahre später im Observer. „[No one] had the slightest doubt that we were going to win. [. . .] We all had faith in the future, in our ability to rise again.“331 Sie müsse gestehen, schrieb sie in ihren Erinnerungen, „daß ich die patriotische Überzeugung hegte, daß es bei einer so großartigen Führung, wie ich sie von Winston Churchill in den Radiosendungen erfuhr, fast nichts gab, was das britische Volk nicht bewerkstelligen konnte.“332 Großbritannien war und blieb in ihren Augen der Hort der Freiheit, Deutschland der Aggressor auf dem europäischen Kontinent; während Frankreich sich nie völlig vom Ruf des unsicheren Kantonisten, des schwankenden Verbündeten befreien konnte, blieben die Vereinigten Staaten stets der starke und verläßliche Partner, als den sie die junge Margaret in der Kriegskoalition – und seit 1942 ganz konkret in den amerikanischen Luftwaffenstützpunkten rund um Grantham – erlebt hatte.333 Während sich in ihren Reden zahllose Hinweise auf die special relationship Großbritanniens zu den USA finden334, war die Politikerin zu klug, in der Öffentlichkeit ihren negativen Vorurteilen, vor allem über Deutschland,

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Wörtlich sagte sie: „We are quite the best country in Europe. In my lifetime all our problems have come from mainland Europe and all the solutions from English-speaking nations“; The Times, 6. Oktober 1999. Vgl. HANS-HERMANN HERTLE, „Reservations about German Reunification were widespread“. Interview with Sir Charles Powell, Private Secretary to former British Prime Minister Mrs Margaret Thatcher, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 18/19, Juni 2000, S. 43. The Observer, 5. Oktober 1975. THATCHER, Erinnerungen, S. 46. Vgl. CAMPBELL, Thatcher, S. 41. Siehe allgemein hierzu auch DAVID REYNOLDS, Rich Relations. The American Occupation of Britain 1942–45, London 1995. Vgl. etwa ihre Reden vom 19. September 1975 vor dem National Press Club in Washington: News Service 788/75, und am 10. September 1977 vor der English Speaking Union im River Oaks Country Club in Houston/Texas, News Service 883/77.

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I. Der Thatcher-Faktor

Ausdruck zu verleihen. Zahlreiche überlieferte Bemerkungen, die sie über die Jahre zu Freunden, Beratern und Kollegen machte, weisen jedoch alle in dieselbe Richtung. Für Thatcher sei nur die Beziehung zu den USA von Bedeutung gewesen, schrieb ihr langjähriger Schatzkanzler Nigel Lawson, die Kontinentaleuropäer hingegen betrachtete sie „with distrust and, in private, with undisguised distaste and hostility. Germany, in particular, increasingly became the butt of the visceral sentiments she had developed during the war.“335 Ein außenpolitischer Berater klagte darüber, die Politikerin habe sich zunehmend dagegen gewehrt, ihre tiefverwurzelten Vorurteile über Deutschland und Frankreich an der Realität der Gegenwart zu messen. „The past, and especially the symbolism of the Second World War and the empire, still loomed large in Margaret Thatcher’s imagination“.336 Ein anderer Berater meinte, sie habe insgesamt von Ausländern wenig gehalten, wenn sie nicht aus der angelsächsischen Welt kamen, und habe dementsprechend kaum Interesse für kontinentaleuropäische Traditionen oder Politiker gehegt.337 Bundeskanzler Kohl schnappte im Dezember 1989 bei einer Sitzung der Staats- und Regierungschefs der EG in Straßburg eine Bemerkung der britischen Premierministerin auf, die sie im Vertrauen, nicht gehört zu werden, von sich gab: „Zwei Mal haben wir sie geschlagen, jetzt sind sie wieder da.“338 Manches von der Bitterkeit und den Vorurteilen Thatchers gegenüber Deutschland mag auf die Meinungsverschiedenheiten über die europäische Integration zurückzuführen sein, die sie während ihrer Amtszeit als Premierministerin mit Kohl hatte. Aber schon während der Oppositionsjahre schimmerte in ihren internen Bemerkungen manchmal das – im Ersten Weltkrieg entstandene und im Zweiten bestätigte – Klischeebild von den Deutschen als fügsamem und zugleich aggressivem Volk durch, das unter einer entschlossenen Führung zu den erstaunlichsten Dingen fähig war.339 Derartige Antipathien und Vorurteile waren freilich bis 1989/90 weitgehend von den Dichotomien des Kalten Krieges überlagert. Der wichtigste Feind, gegen den sich Großbritannien verteidigen mußte, war für Thatcher 335 336 337 338 339

LAWSON, S. 900. URBAN, S. 5. CRADOCK, S. 21. HELMUT KOHL, „Das Tor der Geschichte war offen, und wir sind hindurchgegangen“, in: Die Welt, 6. November 1999. Als ihr Schattenschatzkanzler Howe beispielsweise 1977 dafür warb, eine „Konzertierte Aktion“ von Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften nach bundesdeutschem Vorbild in Großbritannien einzuführen, lehnte Thatcher mit der – teils hochachtungsvollen, teils verächtlichen – Begründung ab, „daß das bei den Deutschen nur funktioniert, weil sie Deutsche sind“; THATCHER, Erinnerungen, S. 474.

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die Sowjetunion, nicht Deutschland. Die gemeinsame Gegnerschaft erschien wichtiger als die Erinnerung an zwei Weltkriege, in denen Briten und Deutsche sich als Feinde gegenübergestanden hatten. Berlin war in ihren Augen lange Zeit mindestens ebensosehr Frontstadt des westlichen Bündnisses wie ehemalige Reichshauptstadt. In dem vom Eisernen Vorhang geteilten Deutschland hoffte sie besonderes Verständnis für ihre Idee einer neuen Politik der Stärke gegenüber dem Kommunismus zu finden.340 Wie sehr die sowjetische Führung unter Leonid Breschnew ihre Bereitschaft zur Entspannung auch betonen mochte, für die konservative Parteichefin zählten Taten. Und die sprachen ihrer Meinung nach gegen Moskau. Man müsse sich nur anschauen, welche Politik die sowjetische Führung tatsächlich verfolge, bemerkte sie bereits im Januar 1976 in einer Redepassage, die bestimmt nicht ganz ungewollt Erinnerungen an das Flottenwettrüsten mit Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg wachrief: [They] are rapidly making their country the foremost naval and military power in the world. They are not doing this solely for the sake of self-defence. A huge, largely land-locked country like Russia does not need to build the most powerful navy in the word just to guard its own frontiers. No. The Russians are bent on world dominance, and they are rapidly acquiring the means to become the most powerful imperial nation the world has ever seen.341

Der Westen dagegen ließ wegen seiner ökonomischen Schwierigkeiten bedenklich in seiner Verteidigungsbereitschaft nach. Statt aufzurüsten wie die Sowjetunion, rüstete er ab – und das, obwohl er dem Gegner wirtschaftlich immer noch haushoch überlegen war.342 Angesichts der in ihren Augen verfehlten KSZE-Konferenz von Helsinki sowie des Ausbaus des sowjetischen Militärpotentials und der Unterstützung, die marxistische „Befreiungsbewegungen“ in Afrika von der UdSSR erhielten, warnte die Tory-Chefin vor weiteren Abrüstungsbemühungen des Westens. „To remain free we must stay strong and alert“, mahnte sie in ihrer ersten großen Rede zur Außenpolitik im Sommer 1975 am Vorabend der Helsinki-Konferenz.343

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Siehe etwa ihre Rede vom 25. Mai 1976 auf dem CDU-Parteitag in Hannover: News Service 544/76, S. 2. Am 19. Januar 1976 vor Konservativen in der Kensington Town Hall, abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 39–47 (S. 39–40). „[A]lthough we have been the most economically successful countries in the world“, klagte sie, „we are not spending enough on defence in relation to the threat we face“; am 23. Juni 1978 bei „Les Grandes Conférences Catholiques“ in Brüssel, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 45–56 (S. 50). Am 26. Juli 1975 bei einer Veranstaltung der Chelsea Constituency Association, abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 23–8 (S. 24).

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I. Der Thatcher-Faktor

Die Freiheit Westeuropas mit allen Kräften zu verteidigen, liege auch im Interesse der Osteuropäer, behauptete sie zwei Jahre später in Rom. Our first duty to liberty is to keep our own. But it is also our duty – as Europeans – to keep alive in the Eastern as well as in the Western half of our continent those ideas of human dignity which Europe gave to the world. Let us therefore resolve to keep the lamps of freedom burning bright so that all who look to the West from the shadows of the East need not doubt that we remain true to those human and spiritual values that lie at the heart of European civilization.344

Erst als das Gefühl, von der UdSSR bedroht zu werden, mit dem Aufstieg Michail Gorbatschows allmählich nachließ, und zugleich die aus Thatchers Sicht zunehmend unerwünschten Auswirkungen der europäischen Integration stärker spürbar wurden, verblaßte die Idee einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft und die versunken geglaubten Feindbilder aus der Zeit der Weltkriege tauchten wieder auf. Immer stärker nahm jetzt „Europe“, „the continent“ oder auch „Germany“ die Rolle des Gegners ein. Die Formen freilich, in denen die Politikerin den neuen Konflikt wahrnahm, die Metaphern, mit denen sie ihn beschrieb, blieben dieselben. Großbritannien stand als Vorkämpferin der Freiheit und des Individualismus auf der Seite des Lichts und focht gegen die Mächte der Dunkelheit, die mit Staatsmacht, Bürokratismus und Sozialismus gleichgesetzt wurden.

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Am 24. Juni 1977 im Centro Italiano di Studi per la Conciliazione Internazionale in Rom, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 33–42 (S. 36).

1. Die Krise der Nachkriegsordnung

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II. DER ZUSAMMENBRUCH DER NACHKRIEGSORDNUNG 1. DIE KRISE DER NACHKRIEGSORDNUNG A)

THATCHER UND DIE NACHKRIEGSORDNUNG

Thatchers Programm stellte einen bewußten Bruch mit der politischen und ökonomischen Ordnung dar, die in Großbritannien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges etabliert worden war.1 Diese Nachkriegsordnung war Ausdruck eines bestimmten Verständnisses vom Wesen der Politik, die Thatcher nicht teilte. Die meisten ihrer Kollegen in beiden großen Parteien gingen von der Annahme aus, daß es vorrangige Aufgabe der Politik sei, mit Hilfe institutionalisierter Konsultationen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen zu vermitteln. Regierungskunst bestand so gesehen darin, in einem begrenzten Kreis von Eingeweihten aus Politik, Verwaltung und Lobby-Gruppen die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen miteinander zu harmonisieren.2 Der Oxforder Historiker Brian Harrison hat die These aufgestellt, das konsensuale, auf Ausgleich und Kompromiß bedachte Politikverständnis im Vereinigten Königreich habe zwei Wurzeln: eine institutionelle und eine kulturelle. Auch wenn im politischen System Großbritanniens, oberflächlich betrachtet, die Gegensätze zwischen Opposition und Regierung auffielen, wirke gerade die Polarisierung letztlich mäßigend auf die Parteien. Keine Seite verliere jemals die Hoffnung, mittelfristig selbst wieder an die Regierung zu gelangen. Dies stärke die gemäßigten Kräfte und führe dazu, daß die politische Mitte von beiden großen Parteien umworben werde. Hinzu treten Harrison zufolge kulturelle, mentale Besonderheiten: die Achtung vor dem fair play; die breite Akzeptanz etablierter Spielregeln und Verhaltenskodices, die nicht schriftlich fixiert sind und trotzdem eingehalten werden; die Bedeutung von Institutionen wie Personen, die als Schiedsrichter und Streitschlichter fungieren – seien es Richter, königliche Unter-

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Diese These vertreten auch DENNIS KAVANAGH und PETER MORRIS, Consensus Politics from Attlee to Major, 2. Aufl. Oxford 1994. Die Prämisse, auf der dieses Politikverständnis beruhte, hat der Labour-Politiker Denis Healey in seinen Memoiren treffend beschrieben, als er behauptete, „that lack of understanding is the main cause of all evil in public affairs – as in private life. Nothing is more likely to produce understanding than the sort of personal contact which involves people not just as officials or representatives, but also as human beings“; siehe HEALEY, S. 196.

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II. Der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung

suchungskommissionen (Royal Commissions), der Sprecher des Unterhauses oder der Monarch selbst; schließlich auch die Tradition eines einflußreichen und zugleich politisch neutralen Civil Service, dessen Charakter sich in der deutschen Übersetzung „Ministerialbürokratie“ nur unzureichend widerspiegelt.3 Ihren deutlichsten Ausdruck fanden diese institutionellen und kulturellen Eigenheiten Großbritanniens nach 1945 in einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die es in dieser Form vor dem Krieg nicht gegeben hatte. Ihre Grundgedanken gingen nicht zuletzt auf die Theorien des Ökonomen John Maynard Keynes zurück und wurden später unter der verallgemeinernden Bezeichnung „Keynesianismus“ bekannt. Keynes, der in seinen Studien in der Zwischenkriegszeit, vor allem in seiner General Theory of Employment, Interest and Money aus dem Jahr 1936, den Gedanken einer grundlegenden Reform des kapitalistischen Wirtschaftssystems entwickelt hatte, hielt den Kapitalismus für reformbedürftig, wenn er gegen Faschismus und Kommunismus bestehen wollte, gleichzeitig aber auch für reformfähig.4 Einzelne, begrenzte Veränderungen, glaubte er, würden ausreichen, um die Mängel des gegenwärtigen Systems zu beheben. Man kann die wichtigsten Neuerungen, die Keynes und andere vorschlugen, als die Pfeiler betrachten, auf denen die britische Nachkriegsordnung ruhte. Den ersten Pfeiler bildete die Vollbeschäftigung als wichtigstes Ziel der Wirtschaftspolitik. Vor dem Hintergrund der Massenarbeitslosigkeit der dreißiger Jahre hatte Keynes den größten Mißstand in der offenkundigen Unfähigkeit eines ungesteuerten Kapitalismus erblickt, mit dem Problem der Erwerbslosigkeit fertig zu werden. Seine Lösung setzte voraus, daß der Staat mittels der Steuerpolitik und öffentlicher Ausgaben die gesamtwirtschaftliche Nachfrage regulierte und die Volkswirtschaft damit stabil hielt. Die Regierung durfte nicht auf der Angebotsseite intervenieren, sondern mußte auf der Nachfrageseite aktiv werden. Dem Ökonomen schwebte eine Aufgabenteilung zwischen Staat und Markt vor, derzufolge sich der Staat um die makroökonomische Steuerung der Nachfrage zu kümmern hatte, während der Markt wie bisher auf der mikroökonomischen Ebene für die richtige Verteilung von Ressourcen und die Honorierung 3 4

BRIAN HARRISON, The Rise, Fall and Rise of Political Consensus in Britain Since 1940, in: History 84, 1999, S. 308–10. JOHN MAYNARD KEYNES, The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936. Zu Keynes und dem Keynesianismus siehe etwa: ROBERT LEKACHMAN, The Age of Keynes, London 1967; PETER CLARKE, The Keynesian Revolution in the Making 1924–36, London 1988; ROBERT SKIDELSKY, John Maynard Keynes. 3 Bde., London 1983, 1992, 2000.

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wirtschaftlicher Effizienz sorgen würde. Im Jahr 1944 tauchte das Staatsziel der Vollbeschäftigung erstmals in einem Regierungsdokument auf. Seither wurde es von allen Parteien akzeptiert. Im Einklang mit Keynes’ Ideen betrachteten alle britischen Regierungen seit 1945 die Steuerung der Nachfrage über Staatsausgaben und Steuern als geeignetes Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Die Gefahr der Geldentwertung dagegen meinten die britischen Politiker vernachlässigen zu können, hatten sie doch im Gegensatz zu den Deutschen in ihrem Leben keine Inflationserfahrung machen müssen. „People quite like inflation really“, pflegte der konservative Premier Harold Macmillan zu spotten. „The poor like it because they’ve more pound notes in their pocket, the rich like it because they can always sell a picture or something. It’s only retired colonels who don’t like it.“5 Macmillan begriff wie beinahe alle Politiker seiner Generation Inflation und Arbeitslosigkeit als ein System kommunizierender Röhren, das der Staat über seine Haushaltsund Steuerpolitik in seinem Sinne und entsprechend den je gegebenen Umständen beeinflussen konnte: Erhöhte er die Nachfrage durch eine Ausweitung der Staatsausgaben, so stiegen die Preise und die Arbeitslosigkeit sank; dämpfte die Regierung die Nachfrage durch Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen, so sanken die Preise und die Arbeitslosigkeit stieg. Der zweite Pfeiler der Nachkriegsordnung war die sogenannte mixed economy, eine Wirtschaftsverfassung, die aus einer Mischung von Privatund Staatswirtschaft bestand. Sie ging auf die Verstaatlichungspolitik unter Clement Attlee zurück, die zunächst weniger eine Nachfrageregulierung im Sinne Keynes’ als vielmehr eine direkte Planung und Lenkung der Volkswirtschaft vorsah. Konsequent wurden Teile der kriegsgeschwächten britischen Privatwirtschaft in Staatsbesitz überführt. Weil die nachfolgenden Regierungen diese Maßnahmen nur in Einzelfällen rückgängig machten, sondern dazu tendierten, sie weiter auszubauen, befanden sich Ende der sechziger Jahre beträchtliche Teile der Schwerindustrie, Transport- und Energiewirtschaft Großbritanniens in staatlicher Hand, vor allem die Kohleförderung, die Gas- und Elektrizitätsversorgung, die Luftfahrt und das Eisenbahnnetz, von 1949 bis 1953 und seit 1968 auch die Eisen- und Stahlproduktion. Die verbliebene Privatwirtschaft bewegte sich innerhalb eines von der Regierung festgelegten Regelwerks, zu dem im internationalen Vergleich hohe Steuern ebenso gehörten wie umfangreiche Subventionen für strukturschwache Regionen.6 5 6

Zit. nach PRIOR, S. 120. Siehe hierzu KENNETH O. MORGAN, Labour in Power. 1945–51, Oxford, New York 1983, S. 94–141.

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II. Der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung

Die dritte Säule der Nachkriegsordnung bildete die institutionalisierte Kooperation der Regierung mit den Gewerkschaften. Deren Macht ging bis auf den Trade Disputes Act von 1906 zurück, der ihnen weitgehende Immunität gegenüber Haftungs- und Schadensersatzansprüchen verlieh. Seit 1945 hatten sie zudem eine Schlüsselstellung innerhalb des politischen Systems gewonnen.7 Alle Regierungen der Nachkriegszeit, ob Labour oder Tory, waren ebenso wie der Civil Service daran interessiert, mit den Gewerkschaftsführern und nicht gegen sie zu arbeiten.8 Auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene wurden Gewerkschaftsführer in konsultative und exekutive Strukturen eingebunden, in denen es nicht nur um Lohnabschlüsse, sondern auch um allgemeinere Fragen wirtschaftlichen Managements ging. Beide Seiten sollten aus einvernehmlichen Regelungen Nutzen ziehen: Der Regierung war daran gelegen, Streiks und die damit verbundenen Schäden für die Volkswirtschaft zu vermeiden. Ziel der Gewerkschaftsführer war es, den Grundsatz des free collective bargaining zu bewahren und gesetzliche Festschreibungen aus den Arbeitsbeziehungen nach Möglichkeit herauszuhalten. Den deutlichsten Ausdruck fand die Macht der Gewerkschaften im sogenannten closed shop, den sie in der Nachkriegszeit in zahlreichen Betrieben durchsetzen konnten.9 Der vierte Pfeiler war der Sozialstaat. Zwar gab es in Großbritannien bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, ja sogar schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges vereinzelt staatliche Zuwendungen im Alter, bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Aber die Idee eines umfassenden Wohlfahrtsstaates wurde erst während des Zweiten Weltkrieges geboren und danach – wenn auch nur in Teilen – in die Realität umgesetzt. Das Schlüsselereignis war die Publikation des sogenannten Beveridge Reports im Jahr 1942, der ein alle Bürger von der Wiege bis zur Bahre umfassendes nationales Versicherungssystem vorschlug.10 Der zentrale Bestandteil des gigantischen Projekt, das von der Attlee-Regierung nur in Teilen verwirklicht wurde, war der National

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Zur Geschichte der britischen Gewerkschaftsbewegung siehe PELLING; TAYLOR. Der gewerkschaftliche Dachverband, der Trades Union Congress, „was regarded as an Estate of the Realm, the undisputed representative voice of working people. Its leaders were treated by the state as important figures whose consent and advice was needed not just for the achievement of stable and effective industrial relations but in wider policy areas“; TAYLOR, S. 329. Hinter der Bezeichnung closed shop verbarg sich die Kopplung des Arbeitsplatzes an die Zwangsmitgliedschaft in einer bestimmten Gewerkschaft; vgl. etwa PELLING, S. 237–8. Zu den Grundgedanken des Berichts siehe WILLIAM BEVERIDGE, The Pillars of Security, New York 1943. Vgl. auch die Biographie des Autors von JOSÉ HARRIS, William Beveridge. A Biography, Oxford 1977, sowie die Geschichte des britischen Sozialstaates von NICHOLAS TIMMINS, The Five Giants. A Biography of the Welfare State, London 1995.

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Health Service aus den Jahren 1946/48. Im Gegensatz zu den Gesundheitssystemen vieler anderer westlicher Industriestaaten beruhte er nicht auf dem Versicherungsprinzip, sondern wurde aus Steuern finanziert, war also eine staatliche Leistung, die man kostenfrei in Anspruch nehmen konnte.11 Der Begriff, auf den diese wirtschaftliche und politische Ordnung Großbritanniens seit den sechziger Jahren zunehmend gebracht wurde, war die Bezeichnung „Konsens“ (consensus). Sie hing eng mit dem vom amerikanischen Soziologen Daniel Bell 1962 proklamierten „Ende der Ideologie“ zusammen. Enttäuschung über die Sowjetunion auf der sozialistischen Linken gekoppelt mit dem Aufbau des Wohlfahrtsstaates habe, so Bells These, unter Intellektuellen zu einem weitgehenden Konsens über politische Fragen geführt.12 In Großbritannien verstand man darunter die prinzipielle Übereinstimmung innerhalb der politischen Klasse über die groben Umrisse der vier Pfeiler der Nachkriegsordnung oder, in den Worten der Politikwissenschaftler Dennis Kavanagh und Peter Morris, „a set of parameters which bounded the set of policy options regarded by senior politicians and civil servants as administratively practicable, economically affordable and politically acceptable“.13 Wichtiges Kennzeichen des Konsenses war die Kontinuität der Regierungspolitik über Parteigrenzen und die Ablösung der Regierungsmannschaften hinweg. Der Economist prägte für diese Konstanz bereits 1954 den Begriff „Butskellism“, eine Kombination aus den Namen von Richard Austen (Rab) Butler und Hugh Gaitskell: Letzterer war 1950 und 1951 Labour-Schatzkanzler und galt als Musterbeispiel des gemäßigten Sozialisten; Butler, sein Nachfolger im Amt des Schatzkanzlers, gehörte zum fortschrittlichen Flügel der Tory-Partei. Beide verfolgten, so die These des Economist, eine keynesianische Nachfragepolitik, die am Ziel der Vollbeschäftigung orientiert war.14 Wann der Konsens begann, zu dessen Symbolen Gaitskell und Butler wurden, darüber streiten die Historiker. Manche datieren seine Entstehung auf die Jahre 1916 bis 1924, andere auf die Kriegskoalition 1940 bis 1945,

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Daneben exisitierten andere Sozialleistungen wie Familien- und Kindergelder, sozialer Wohnungsbau, die staatliche Förderung von Schul- und Universitätsbildung. Siehe DANIEL BELL, The End of Ideology, New York 1962, S. 402. Zur Verbreitung und Funktion der Theorie vom „Ende der Ideologie“ vgl. die Ausführungen bei MICHAEL HOCHGESCHWENDER, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998, S. 466–79, 534–47. KAVANAGH und MORRIS, Consensus, S. 15. Vgl. auch DAVID DUTTON, British Politics since 1945: The Rise and Fall of Consensus, Oxford 1991. The Economist, 13. Februar 1954.

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wieder andere auf die Regierungszeit Attlees von 1945 bis 1951.15 Eine Minderheit von Wissenschaftlern bestreitet, daß es überhaupt ein Phänomen gegeben habe, das die Bezeichnung „Konsens“ verdient. Der Londoner Historiker Ben Pimlott etwa hielt ihn für eine Illusion, ein Trugbild, das sich schnell auflöse, wenn man es genauer betrachte.16 Er verwies darauf, daß die handelnden Politiker zu jener Zeit keineswegs das Gefühl gehabt hätten, Teil eines nationalen Konsenses zu sein. Auch die Wählerschaft sei damals stärker und dauerhafter in verschiedene Lager gespalten gewesen, als es sich mit der Idee einer Übereinstimmung in den politischen Grundfragen vertrage.17 Andere Historiker verwiesen darauf, daß Labour- und ToryPartei mit ihrer keynesianischen Wirtschaftspolitik nicht nur in Einzelfragen unterschiedliche Ziele verfolgt, sondern im Rahmen des Keynesianismus auch ganz verschiedenartige Methoden angewandt hätten.18 So zutreffend einige Aspekte dieser Kritik auch sind, aus der Distanz eines Vierteljahrhunderts fallen heute die Gemeinsamkeiten in wirtschaftsund sozialpolitischen Grundannahmen, die innerhalb der politischen Klasse Großbritanniens damals vorherrschten, stärker ins Auge als die Unterschiede.19 Ein vergleichender Blick auf andere Staaten des Westens unterstreicht dies. Weder das Politikverständnis noch der Inhalt der britischen Nachkriegsordnung rechtfertigen es, von einem Sonderweg Großbritanniens zu sprechen. Beides war lediglich die spezifisch britische Ausprägung 15

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Die erste These vertritt zum Beispiel KEITH MIDDLEMAS, Politics in Industrial Society. The Experience of the British System Since 1911, London 1979; der bekannteste Vertreter des zweiten Standpunktes ist PAUL ADDISON, The Road to 1945. British Politics and the Second World War, London 1975; zur dritten These siehe etwa STEPHEN BROOKE, Labour’s War: the Labour Party during the Second World War, Oxford 1992. BEN PIMLOTT, Is the „Postwar Consensus“ a Myth?, in: Contemporary Record 3, 1989 (2), S. 13; vgl. auch DERS., The Myth of Consensus, in: LESLIE M. SMITH (Hrsg.), The Making of Britain: Echoes of Greatness, London 1988. Der angebliche Konsens sei erst im Rückblick entstanden, er sei „the product of a consensus among historians about those political ideas that should be regarded as important, and hence to be used as touchstones of the consensus“; PIMLOTT, Postwar Consensus, S. 13. Der Begriff „Butskellism“ verschleiere diese Unterschiede, erklärte etwa der Glasgower Wirtschaftshistoriker Neil Rollings, der bestritt, daß die Politik der beiden Schatzkanzler wirklich identisch gewesen sei. Der Wirtschaftsboom der fünfziger Jahre und die daraus resultierende Vollbeschäftigung hätten lediglich über weiterhin bestehende, tiefgreifende Unterschiede hinweggetäuscht; NEIL ROLLINGS, „Poor Mr Butskell: A Short Life, Wrecked by Schizophrenia“?, in: Twentieth Century British History 5, 1994, S. 183–205. Auch der Politikwissenschaftler Martin Holmes behauptete, ein Konsens habe zwischen 1945 und 1972, wenn überhaupt, dann nur dem Namen nach existiert; HOLMES, Thatcherism, S. 18. Vgl. schon SAMUEL BEER, Modern British Politics, London 1965, S. 359. In diesem Sinne auch DENNIS KAVANAGH, The Postwar Consensus, in: Twentieth Century British History 3, 1992 (2), S. 175–89, PAUL ADDISON, British Historians and the Debate about the Post-War Consensus, Austin/Texas 1996; HARRISON.

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einer Vorstellung vom wünschenswerten Zusammenhang zwischen Staat und Wirtschaft, Individuum und Gesellschaft, die sich nach 1945 mit unterschiedlichem Tempo überall in Nordamerika und Westeuropa durchsetzte. Man hat die Weltanschauung, die diesem Konvergenzprozeß zugrunde lag, „Konsensliberalismus“, ihre sozio-ökonomische Organisationsform „Konsenskapitalismus“ genannt und auf deren Wurzeln im angelsächsischen Liberalismus hingewiesen. „Die besondere Eigenart des Konsensliberalismus, die ihn vom früheren Liberalismus unterschied“, so Anselm DoeringManteuffel, „lag auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung. Während der frühere amerikanische [und auch britische, D.G.] Liberalismus staatsfern war und dem laisser faire huldigte, verstand sich der Konsensliberalismus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ausdrücklich als gemäßigt etatistisch. [. . .] Damit die Freiheit des Individuums gewährleistet werden könne, war der starke Staat erforderlich.“20 Die Methoden, mit deren Hilfe dieses Ziel in den verschiedenen Staaten der westlichen Welt erreicht werden sollte, unterschieden sich – bei allen Differenzen im Detail – im Prinzip kaum voneinander. Gezielte Interventionen des Staates in die Wirtschaft, Ausbau des Wohlfahrtsstaates, makroökonomische Steuerung im Sinne von Keynes und die Überwindung des Klassenkampfes durch Kooperation zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Staat hießen die Stichworte. Beispiele aus der Geschichte der Bundesrepublik reichen von der Mitbestimmung, die Kanzler Adenauer 1951 im Einvernehmen mit der SPD und den Gewerkschaften durchsetzte, über die Rentenreform, die 1957 ebenfalls mit den Stimmen der oppositionellen Sozialdemokratie verabschiedet wurde, bis hin zum „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ von 1967, mit dem die Große Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten auch in die westdeutsche Wirtschaftsverfassung keynesianische Steuerungselemente einführte.21 Ein wichtiger Unterschied zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik bestand darin, daß jenseits des Kanals Mitte der siebziger Jahre eine Politikerin an die Spitze der Konservativen Partei gewählt worden war, die sich vorgenommen hatte, mit der konsensorientierten Ordnung der Nachkriegszeit zu brechen. Schon ihr Politikstil war ein Verstoß gegen alle 20 21

ANSELM DOERING-MANTEUFFEL, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 76. Zur Mitbestimmung siehe zum Beispiel HANS-PETER SCHWARZ, Die Ära Adenauer 1949–1957, Stuttgart 1981, S. 127–30; immer noch grundlegend zur Rentenreform HANS GÜNTER HOCKERTS, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945–57, Stuttgart 1980; zum Stabilitätsgesetz vgl. KLAUS HILDEBRAND, Von Erhard zur Großen Koalition 1963–69, Stuttgart 1984, S. 287–9.

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politischen Benimmregeln der Nachkriegszeit. Thatcher setzte auf Führungskraft und Überzeugungsstärke statt auf Ausgleich und Mäßigung. Sie appellierte nicht an die verschiedenen Interessengruppen, sondern ganz bewußt an diesen vorbei an das Volk. In der Art eines Volkstribunen schlug sie sich auf die Seite der Bürger – gegen „die Politiker“, „die Regierung“, „das Establishment“. Sie kultivierte ihren Status als Außenseiterin, teilte und schürte das Mißtrauen breiter Bevölkerungsteile gegenüber Abmachungen im kleinen Kreis, hinter verschlossenen Türen. Auch ihre politischen Ziele widersprachen dem Status quo. Sie versuchte nicht, das bestehende System von Fehlern zu befreien und effektiver zu machen, sondern wollte gänzlich andere Parameter politischen Handelns etablieren. Ihre Neudefinition der Staatsaufgaben schloß eine Abkehr von der mixed economy ein, die sie als „mixed up economy“ verspottete. Vollbeschäftigung zu gewährleisten, war nicht das Ziel eines begrenzten Staates, wie sie ihn anstrebte. Nur der Markt konnte Arbeitsplätze schaffen. Das oberste wirtschaftspolitische Ziel des Staates war es statt dessen, für sichere Rahmenbedingungen, vor allem für eine stabile Währung zu sorgen. Die Kooperation mit den Gewerkschaftsführern gehörte zu jener Art der Insider-Politik, die sie anprangerte. Sie tendierte eher dazu, die Bevölkerung und die einfachen Gewerkschaftsmitglieder auf den Machtmißbrauch durch die Führung hinzuweisen und den Volkszorn gegen sie zu mobilisieren. Zum Wohlfahrtsstaat finden sich in den Jahren 1975 bis 1979 wenig konkrete Aussagen.22 Thatcher war zu vorsichtig, sich in diesem sensiblen Bereich allzu weit aus dem Fenster zu lehnen. Sie warnte jedoch davor, die Errungenschaften des Sozialstaates zu glorifizieren und mahnte eine kritische Überprüfung seiner Leistungen an. Die Vision einer radikalen Reform von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, die brüsk mit allen Regeln der britischen Nachkriegsordnung brach, wäre zu Zeiten, als diese Ordnung problemlos funktionierte, politischer Selbstmord gewesen. Thatchers große Chance bestand jedoch darin, daß in den siebziger Jahren die meisten Gewißheiten der Nachkriegsordnung unter dem Eindruck äußerer und innerer Krisen infrage gestellt wurden. Der Verschleiß alter Erklärungsmodelle, die Diskreditierung überkommener Überzeugungen war das, was man Thatchers negative resources nennen könnte. Während die meisten anderen Politiker versuchten, den Einsturz der alten Ordnung abzuwenden, prangerte sie deren Konstruktionsfehler 22

Zur Politik der Thatcher-Regierungen auf diesem Gebiet in den achtziger Jahren siehe PAUL PIERSON, Dismantling the Welfare State? Reagan, Thatcher and the Politics of Retrenchment, Cambridge 1994.

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an und plädierte dafür, etwas gänzlich Neues zu errichten. Auf diese Weise profitierte sie von der sich verschärfenden politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes. Bereits Ende der sechziger Jahre zeigten die vier Pfeiler der britischen Nachkriegsordnung gefährliche, sich vertiefende Risse. Viele der riesigen Staatsbetriebe arbeiteten zunehmend unrentabel und verschlangen ständig mehr Subventionen, während die Produktivitätszuwächse der Privatindustrie immer weiter hinter anderen westlichen Industrienationen zurückblieben. Gleichzeitig hatte sich das System der kommunizierenden Röhren zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit als Illusion erwiesen: Die britische Wirtschaft litt unter einer Kombination von steigender Inflation und steigender Arbeitslosigkeit (Stagflation). Die Kooperation zwischen Regierung und Gewerkschaften schon seit Ende der fünfziger Jahre zunehmend konfliktträchtig. Zum einen waren die mächtigen britischen Gewerkschaften in gewisser Hinsicht machtloser als etwa ihre westdeutschen Partnerorganisationen. Das lag vor allem daran, daß die britische Gewerkschaftsbewegung nicht wie in der Bundesrepublik nach Wirtschaftszweigen organisiert war, sondern in viele hundert, mitunter winzig kleine Einzelgewerkschaften zerfiel, die untereinander um Verhandlungsmacht konkurrierten und sich gegenseitig Mitglieder abwarben. So waren 1960 rund zehn Millionen Briten in 664 verschiedenen Gewerkschaften organisiert, von denen lediglich 183 dem TUC angehörten.23 Der gewerkschaftliche Dachverband hatte in Großbritannien viel größere Schwierigkeiten als in der Bundesrepublik, eine für alle Einzelgewerkschaften verbindliche Politik durchzusetzen. Hinzu kam, daß die Kriegs- und Nachkriegsgeneration der mächtigen, kooperationswilligen Gewerkschaftsführer im Verlauf der fünfziger und frühen sechziger Jahre von intransigenteren Nachfolgern abgelöst worden war, die sich immer weniger kompromißbereit zeigten und die Zeit der Vollbeschäftigung zur Durchsetzung ihrer Lohnforderungen nutzten.24 Außerdem war das Verhältnis der Gewerkschaften zum modernen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit von einer seltsamen Widersprüchlichkeit geprägt. Einerseits verstanden sich die britischen Gewerkschafter mehrheitlich als Sozialisten, die den Aufbau eines umfassenden Sozialstaates und ein progressives Steuersystem ebenso begrüßten wie die Verstaatlichung von Industrie und Bankwesen sowie weitreichende Kompetenzen der Regierung in der Wirtschaftsplanung und -lenkung. Andererseits jedoch wehrten sie sich vehement gegen jede Einmischung des Staates in die Tarifhoheit. Der 23 24

Vgl. PELLING, S. 320. Siehe hierzu TAYLOR, S. 99–125; PELLING, S. 239–82.

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Grundsatz des free collective bargaining blieb ihnen heilig, jede Form der Lohnpolitik oder anderer Einmischungen des Staates stieß auf erbitterten Widerstand.25 Auch der Sozialstaat geriet immer stärker unter Druck. Das kräftige Wirtschaftswachstum der fünfziger und sechziger Jahren hatte Verteilungskonflikte zwischen Steuerzahlern auf der einen Seite und den Beziehern von Sozialleistungen sowie den verschiedenen staatlichen Institutionen, die sie bereitstellten, auf der anderen Seite abgefedert. Staatsausgaben, Bruttosozialprodukt und Reallöhne waren gleichermaßen angestiegen. Mit dem abflauenden Wirtschaftswachstum der sechziger und siebziger Jahre machten sich allerdings die wachsenden staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen in steigenden Steuern und Abgaben bemerkbar. Hatte der Durchschnittsverdiener 1960 acht Prozent seines Einkommens als Steuern und Abgaben gezahlt, so war es 1975 ein Viertel.26 B)

DAS SCHEITERN VON HEATHS „STILLER REVOLUTION“

Edward Heath, der 1970 überraschend zum britischen Premierminister gewählt worden war, erkannte früher als die meisten, daß die Nachkriegsordnung baufällig geworden war. Er wollte die Risse im Fundament kitten, das Bauwerk renovieren, ohne jedoch seine gesamte Statik zu verändern, und als einer der großen Reformer in die Geschichte Großbritanniens eingehen, der die Wirtschaft modernisiert, Industrie und Handel wiederbelebt und sein Land eng mit den Staaten Westeuropas verbunden hatte.27 Dem britischen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der das Herzstück seines Reformprojekts bildete, kam dabei eine doppelte Bedeutung zu: außenpolitisch sollte Krieg zwischen den Nationen Westeuropas künftig unmöglich sein, und innenpolitisch, so hoffte Heath, würde Großbritannien durch den verschärften Wettbewerb mit den anderen westeuropäischen Volkswirtschaften ein moderneres, leistungsfähigeres Land werden. Sein ehrgeiziges Modernisierungsprogramm verstand er nicht zuletzt als Vorbereitung auf die europäische Zukunft. Bürokratische Hindernisse sollten aus dem Weg geräumt, die rapide ansteigende Inflation gestoppt, die

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„Let us face the reality“, erklärte Gewerkschaftsführer Jack Jones 1969 dem Labour-Kabinett, das über eine Reform der Gewerkschaftsgesetzgebung nachdachte. „The question isn’t whether our scheme works or your scheme works. It is the fact that our people won’t accept government intervention“; zit. nach HEALEY, S. 407. Vgl. TAYLOR, S. 339. Vgl. KAVANAGH, Thatcherism, S. 46–7. Eine ausgewogene Bilanz der Heath-Regierung zieht der Sammelband von BALL und SELDON (Hrsg.); kritischer ist: HOLMES, Failure. Vgl. auch Heaths eigene Darstellung in HEATH, Course, S. 325–520.

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destruktive Macht der Gewerkschaften durch eine umfassende Gesetzgebung gebrochen und überall freier Unternehmergeist entfacht werden.28 Das Schattenkabinett hatte sich gründlich auf die Reformvorhaben vorbereitet. Heath hatte seine Mannschaft dazu angehalten, weniger die Politik der Labour-Regierung zu torpedieren als vielmehr konkrete eigene Vorschläge zu erarbeiten.29 Untermalt wurden die Reformpläne von einer wirtschaftsliberalen Rhetorik, die sich kaum vom Tenor späterer ThatcherReden unterschied. „We must create a Britain that is bold, in which the spirit of adventure and enterprise can be given full play“, hatte Heath schon 1966, kurz nach seiner Wahl zum Parteichef, verkündet.30 Die wirtschaftsliberale Stoßrichtung der konservativen Modernisierungspolitik, die aus derartigen Sätzen zu sprechen schien, wurde nach einem Londoner Hotel unter dem Schlagwort Selsdon Park bekannt. Dort traf sich Ende Januar 1970 das konservative Schattenkabinett, um sein Wahlkampfprogramm zu erarbeiten, in dem viele Beobachter einen deutlichen Rechtsruck der Partei erblickten. Labour-Führer Wilson taufte Heath damals „Selsdon Man“, was Assoziationen an einen prähistorischen, barbarischen Urmenschen wecken und die Brutalität der konservativen Politik hervorheben sollte.31 Die Rhetorik des Wahlkampf-Manifests klang in der Tat ähnlich marktradikal wie spätere Thatcher-Reden.32 Im Zentrum der Auflistung detaillierter Vorschläge für eine konservative Regierungspolitik stand der Kampf gegen steigende Preise. Die Inflation müsse unter Kontrolle gebracht werden; diese Aufgabe genieße absolute Priorität. Die staatliche Kontrolle von Lohnerhöhungen, die unter Labour eingeführt worden war, um die Geldentwertung zu bremsen, habe versagt und werde unter einer Tory-Regierung nicht wie28 29

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Vgl. das konservative Wahlkampf-Manifest von 1970, das den Titel „A Better Tomorrow“ trug; siehe CRAIG, Manifestos, S. 113–20. So MARTIN BURCH, Approaches to Leadership in Opposition: Edward Heath and Margaret Thatcher, in: ZIG LAYTON-HENRY (Hrsg.), Conservative Party Politics, London 1980, S. 172. EDWARD HEATH, The Great Divide, London 1966, S. 11. Auch in der Forschung hielt man „Selsdon Park“ längere Zeit für „a shift to the right. It marked the beginning of the call to ‚roll back the frontiers of government‘“, so etwa ALAN SKED und CHRIS COOK, Post-War Britain. A Political History, 4. Aufl. Harmondsworth 1993, S. 244. Eine genauere Lektüre der Konferenzprotokolle macht jedoch klar, daß die marktradikale Aufbruchsrhetorik, die es zweifelsohne gab, lediglich eine tiefgehende Unsicherheit und Zwiespältigkeit über die Leitlinien der zukünftigen Wirtschaftspolitik übertünchte; siehe CPA/CRD 3/9/92 und CPA/CRD 3/9/93; in diesem Sinne argumentiert auch RAMSDEN, Appetite, S. 398–9. „We want people to achieve the security and independence of personal ownership, greater freedom of opportunity, greater freedom of choice, greater freedom from government regulation and interference“, hieß es dort etwa; Conservative Party Manifesto „A Better Tomorrow“, 1970, zit. nach: CRAIG, Manifestos, S. 113.

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derholt werden. Zudem werde man unverzüglich ein umfassendes Gesetz zur Reform der Gewerkschaften auf den Weg bringen, nicht zuletzt um den Gewerkschaften die Macht zu nehmen, inflationstreibende Lohnabschlüsse zu erzwingen.33 Nach dem Wahlsieg vom Juni 1970 rief Heath auf einem Parteitag in Blackpool zu einer radikalen Reformpolitik auf, die nichts geringeres zum Ziel hatte als eine Änderung der Einstellungen und Werte der Briten. Die größte Aufgabe seiner Regierung, so Heath, bestehe darin, den Bürgern mehr Freiheit zurückzugeben, eine leistungs- und verantwortungsbewußte Gesellschaft zu schaffen: Change will give us freedom and with freedom must go responsibility. The free society which we aim to create must also be the responsible society – free from intervention, free from interference, but responsible; free to make your own decisions, but responsible also for your own mistakes. [. . .] we will have to embark on a change so radical, a revolution so quiet and yet so total, that it will go far beyond the programme for a Parliament to which we are committed.34

Die Fundamente der Politik, die Heath dem Parteitagspublikum anpries, hielten freilich nicht so lange wie versprochen. Sie bröckelten schon nach wenigen Monaten. Im Laufe der Jahre 1971 bis 1973 vollzog die Regierung nicht weniger als drei Kehrtwendungen in zentralen Politikbereichen: in ihrer Haltung gegenüber staatlichen Subventionen für kränkelnde Industriezweige und der Frage, wieweit der Staat in die Wirtschaft eingreifen solle; in der Gewerkschaftsreform und dem damit zusammenhängenden Problem der Lohnpolitik; und schließlich in der Haushaltspolitik und dem Kampf gegen die Inflation. Die erste jener Kehrtwendungen begann damit, daß die Firma Rolls Royce, die außer Autos auch Flugzeugmotoren herstellte, in der zweiten Hälfte des Jahres 1970 in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Das konfrontierte die Regierung mit einem Dilemma. Auf der einen Seite hatte sie sich gegen Finanzhilfen für marode Betriebe ausgesprochen.35 Auf der anderen Seite standen 80 000 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Die Luxuswagen des Unternehmens symbolisierten den Glanz der großen Tradition des Königreichs, auch wenn sie inzwischen nur noch einen geringen Teil des Umsatzes

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Conservative Party Manifesto „A Better Tomorrow“, 1970, ebd., S. 119. Edward Heath auf dem Tory-Parteitag in Blackpool am 10. Oktober 1970; The National Union of Conservative and Unionist Associations: (88.) Annual Conference Blackpool, Oktober 1970 (Verbatim Report), S. 132. Vgl. die Äußerungen von Schatzkanzler Barber am 27. Oktober 1970 im Unterhaus; Hansard Vol. 805, Col. 38. Siehe auch die Stellungnahme von Handels- und Industrieminister John Davies in: The Times, 9. Oktober 1970.

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ausmachten. Die Firma war außerdem ein potentieller Marktführer in einem jener High-Technology-Bereiche, in denen die Heath-Regierung Großbritannien wieder an die Weltspitze heranführen wollte. Um die Angelegenheit noch komplizierter zu gestalten, spielten auch Verteidigungs- und Bündnisüberlegungen eine Rolle. Rolls Royce belieferte nicht nur die Royal Air Force, sondern auch einige Nato-Verbündete. Zudem war die Firma vertraglich an den amerikanischen Flugzeughersteller Lockheed gebunden, dessen Maschinen mit Motoren von Rolls Royce ausgestattet wurden. All dies zusammengenommen, bewegte das Kabinett schließlich dazu, sich gegen seine Prinzipien und für eine Verstaatlichung des Konzerns zu entscheiden.36 Konnte die Regierung ihren Richtungswechsel im Fall von Rolls Royce mit internationalen Verpflichtungen und Verteidigungsüberlegungen rechtfertigen, so lagen die Dinge wenige Monate später bei den Glasgower Upper Clyde Shipbuilders anders. Das riesige Schiffbaukonglomerat, das der damalige Labour-Industrieminister, knapp drei Jahre zuvor aus fünf Einzelunternehmen zusammengeschmiedet hatte, gehörte zu jener Sorte lebensunfähiger Großbetriebe, die Heath und sein Kabinett entschlossen waren, nicht zu retten. Die Regierung hatte deswegen verkündet, die unrentablen Teile des Unternehmens müßten schließen.37 Dennoch änderte sie im Februar 1972 ihre Meinung und verkündete ein Soforthilfe-Programm in Höhe von 35 Millionen Pfund. Was war geschehen? Die Werftarbeiter hatten unter der Führung des kommunistischen Gewerkschaftsführers Jimmy Reid mit einigem Effekt work ins organisiert. Die Proteste trugen dazu bei, die Stimmung in Glasgow derart gegen die Regierung aufzupeitschen, daß sich der Polizeichef der Stadt ernsthaft um die innere Sicherheit zu sorgen begann und 5000 zusätzliche Polizisten anforderte. Außerdem gab es in der Region besonders viele Arbeitslose. 12 000 weitere, die nach einer Schließung der Werften hinzugekommen wären, glaubte sich die Regierung nicht mehr leisten zu können.38 Die steigenden Arbeitslosenzahlen, die man von der Labour-Regierung geerbt hatte, bereiteten dem Kabinett ohnehin

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Freilich wurde die profitabel arbeitende Automobil-Herstellung des Unternehmens wenig später wieder privatisiert. Der Rest von Rolls-Royce blieb jedoch bis Ende der achtziger Jahre in staatlicher Hand. Zu den Gründen für die Rettungsaktion der Regierung siehe: HEATH, Course, S. 340. Der Premierminister selbst hatte mit Blick auf die Glasgower Werften im Juni 1971 gesagt, man könne keine gesunde, prosperierende Volkswirtschaft schaffen, wenn Steuergelder in Fässer ohne Boden geschüttet würden; vgl. Daily Telegraph, 19. Juni 1971. „Unemployment was the vital issue in the UCS rescue“, gab ein Minister später zu Protokoll, zit. nach HOLMES, Failure, S. 45; vgl. auch CAMPBELL, Heath, S. 442–3.

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immer größere Kopfschmerzen. Im Januar 1972 wurde erstmals in der Nachkriegszeit die Marke von einer Million überschritten.39 Heath war enttäuscht, daß die britische Industrie die Steuersenkungen seiner Regierung nicht unverzüglich für neue Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen genutzt hatte. Er fühlte sich verraten und zog daraus die Konsequenz, nun müsse die Regierung selbst investieren.40 Er bezweifelte jedoch, daß einzelne, begrenzte Rettungsaktionen wie im Falle von Rolls Royce oder UCS in Zukunft ausreichten. Das Land brauche ein innenpolitisches Pendant zum Marshall-Plan, erklärte er auf einem Strategietreffen mit seinen wichtigsten Ministern am 3. November 1971 in Downing Street Nr. 10.41 Aus dieser Bemerkung entwickelte sich die Industry Bill, die er in der Folgezeit im kleinen Kreise und ohne die zuständigen Ministerien zu beteiligen, ausarbeiten ließ. Als das Gesetz im Mai 1972 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, verkündete der zuständige Minister, die Regierung dürfe nicht beiseite stehen, wenn Situationen entstünden, die Industrie und Finanzinstitutionen nicht allein meistern könnten.42 Das neue Gesetz versetzte das Kabinett in die Lage, planmäßig und großflächig strukturschwache Gegenden mit öffentlichen Geldern zu fördern. Eine neue Behörde wurde errichtet, die gezielt in bestimmte Unternehmen investieren sollte, um dort industrielles Wachstum zu fördern, wo es besonders viele Arbeitslose gab. Auch wenn der Premierminister darauf verwies, daß sich seine Partei in ihrem Wahlkampfprogramm ausdrücklich für eine effektive Regionalpolitik stark gemacht habe, paßte das Gesetz schlecht zu seinen Reden über Freiheit, Selbstverantwortung und Begrenzung der Staatsmacht.43 39

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Zwar handelte es sich dabei lediglich um eine nicht saisonal bereinigte Zahl, die Schulabgänger und Studenten einschloß. Doch nahm dies der Meldung nichts von ihrer bedrohlichen politischen Wirkung. Oppositionsführer Wilson schlug denn auch Kapital aus dieser Entwicklung und warf Heath vor, seine größte politische Leistung bestehe darin, die höchste Arbeitslosigkeit seit den dreißiger Jahren geschaffen zu haben; vgl. The Times, 26. September 1971. Der Vorwurf war umso verheerender als er sich mit Heaths eigener Einschätzung deckte. Der Premierminister war überzeugt, daß Arbeitslosigkeit in den siebziger Jahren ein ebenso großes Problem darstellte wie in den dreißigern; vgl. etwa PRIOR, S. 73–4. JOCK BRUCE-GARDYNE, Whatever Happened to the Quiet Revolution? The Story of a Brave Experiment in Government, London 1974, S. 80. HEATH, Course, S. 341. Ebd., S. 400; CAMPBELL, Heath, S. 446–8. Zumal die neu gebildete „Industrial Development Executive“ im Kern jener „Industrial Reconstruction Corporation“ ähnelte, die von der Labour-Regierung eingeführt und von der Heath-Administration zu Beginn ihrer Amtszeit mit großem Getöse wieder abgeschafft worden war, weil sie angeblich bürokratisch, ineffektiv und wirtschaftsfeindlich sei; siehe STUART BALL, The Conservative Party and the Heath Government, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 328–9.

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Der zweite Kurswechsel betraf die Politik gegenüber den Gewerkschaften. Die Regierung war angetreten, deren Macht einzuschränken, und hatte dabei große Hoffnungen auf den Industrial Relations Act gesetzt, der zum 1. März 1972 in Kraft trat. Ziel des Gesetzes war es, die Probleme, die Großbritannien mit seinen militanten Gewerkschaften und deren ausgeprägter Neigung zu Streiks hatte, mit Hilfe einer umfassenden Gesetzgebung zu lösen.44 Den Gewerkschaften sollten striktere rechtliche Rahmenbedingungen gesetzt werden, innerhalb derer sie zu agieren hatten. Das Gesetz beschnitt daher nicht nur die weitgehende Immunität der Gewerkschaften und deren Möglichkeit, closed shops durchzusetzen. Es rief auch einen neuen Gerichtshof, den National Industrial Relations Court, ins Leben, der auf Anraten des Arbeitsministers verpflichtende „Abkühlungsperioden“ ausrufen konnte, ehe Arbeiter streiken durften.45 Aber die Regierung hatte ihre Rechnung ohne die Gewerkschaften gemacht, die sich von Beginn an gegen das Gesetz wehrten und es boykottierten, wo sie konnten.46 Hinzu kam, daß im Verlaufe des parlamentarischen Verfahrens aus einem von Anfang an umfassenden, ehrgeizigen Projekt ein über alle Maße kompliziertes und detailliertes Gesetz wurde, das schließlich selbst seine Initiatoren nicht mehr durchblickten.47 Als Folge dieser beiden Entwicklungen tat sich der neue Gerichtshof schwer, das Gesetz umzusetzen, zumal eines seiner ersten Urteile vom Revisionsgerichtshof, dem Appeal Court, sogleich wieder aufgehoben worden war. Nach dieser Entscheidung trauten auch die Arbeitgeber der neuen Regelung nicht mehr und

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1969 gingen fast sieben Millionen Arbeitstage durch Streiks und Lohnkämpfe verloren; 1970 waren es beinahe elf Millionen; siehe PELLING, S. 321. Das Gericht hatte das Recht, Gewerkschaftsführer zu zwingen, geheime Abstimmungen durchzuführen, bevor sie einen Arbeitskampf begannen, und Strafgelder über Gewerkschaften zu verhängen, die sich unfaire Streikpraktiken hatten zuschulden kommen lassen. Das neue Gesetz forderte die Gewerkschaften außerdem dazu auf, sich von einem landesweiten „Registrar of Trade Unions and Employees’ Association“ registrieren zu lassen, um in den Genuß finanzieller Vergünstigungen zu kommen. Gleichzeitig erlaubte die Registrierung dem Staat, in die Satzungen der Gewerkschaften einzugreifen und bestimmte Rechte für die einzelnen Mitglieder festzuschreiben; siehe hierzu PELLING, S. 283–4. Allgemein zur Gewerkschaftspolitik der Heath-Regierung vgl. TAYLOR, S. 177–221; 290–1; DENIS BARNES und EILEEN REID, Governments and Trade Unions. The British Experience 1964–79, London 1980, S. 131–88. Näheres in: Symposium: The Trade Unions and the Fall of the Heath Government, in: Contemporary Record 2, 1988 (1), S. 38–9. Vgl. auch PELLING, S. 284–8. Siehe Symposium: Trade Unions, S. 40; vgl. auch die Schilderung bei HOWE, S. 60–5, der als „Solicitor General“ der zuständige juristische Fachmann innerhalb der Regierung war. Einen Überblick über die Gewerkschaftspolitik der Heath-Regierung gibt ROBERT TAYLOR, The Heath Government and Industrial Relations: Myth and Reality, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 161–90.

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boten den Gewerkschaften an, Einigungen außerhalb des gesetzlichen Rahmens zu erzielen.48 Für die Regierung wurde das Gesetz, das eigentlich das „Juwel in der Krone ihrer Reformen“49 hatte werden sollen, immer mehr zu einer Belastung. Es erwies sich in der Praxis als undurchführbar und schuf mehr Probleme als es löste. Einen weiteren, entscheidenden Schlag erlitt das Selbstbewußtsein der Regierung durch den Bergarbeiterstreik vom Winter 1972. Bei diesem Streik ging es nicht direkt um das neue Gesetz, sondern um einen klassischen Lohnkonflikt, der wegen einer doppelten Fehleinschätzung der Regierung eskalierte: Sie unterschätzte auf der einen Seite die Entschlossenheit der Bergleute, die seit 1926 nicht mehr landesweit gestreikt hatten, und die Effektivität, mit der mobile Streikkommandos Kohlelieferungen an Kraftwerke zu verhindern wußten. Auf der anderen Seite überschätzte das Kabinett die Stärke der eigenen Verhandlungsposition, vor allem die Größe der angehäuften Kohlevorräte und damit die Chancen, einen längeren Streik ohne Versorgungsengpässe durchstehen zu können. Aufgrund dieser beiden Irrtümer sah sich die Regierung gezwungen, den Staatsnotstand auszurufen und sogar über eine Rationierung des Elektrizitätsverbrauchs nachzudenken. Doch die Streikenden saßen am längeren Hebel. Der Konflikt endete mit einem Sieg der Bergleute, deren Lohnforderungen die Regierung weitgehend erfüllen mußte.50 Die Lage sah folglich im Sommer 1972 für Heath alles andere als rosig aus. Der Industrial Relations Act war zwar theoretisch weiterhin in Kraft, praktisch konnte man mit ihm jedoch größere Arbeitskonflikte weder vermeiden noch beilegen, wie sich gezeigt hatte. Im Gegenteil: Er vergrößerte die Spannungen.51 Auch als Mittel, übermäßige Lohnforderungen der Gewerkschaften zu begrenzen, hatte das Gesetz versagt. Vielmehr fürchtete das Kabinett, die überhöhten Abschlüsse der Bergleute hätten den Startschuß für weitergehende Forderungen anderer Berufssparten gegeben, mit all den negativen Konsequenzen, die das für die Preisentwicklung haben würde.52 Vor diesem Hintergrund begann der Premierminister, seine wirtschaftspolitische Strategie zu überdenken. Ursprünglich hatte er geglaubt, eine um-

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Siehe The Times, 3. August 1972. So CAMPBELL, Heath, S. 457. Ebd., S. 412–3; PELLING, S. 288; TAYLOR, S. 196–9. Zwischen 1964 und 1970 hatte die britische Volkswirtschaft im Jahresdurchschnitt weniger als vier Millionen Arbeitstage durch Streiks verloren; allein 1972 waren es rund 24 Millionen; siehe PELLING, S. 287–8. Der durchschnittliche Anstieg des Wochenlohnes, der 1971 noch elf Prozent betragen hatte, belief sich 1972 und 1973 auf jeweils über 15 Prozent; vgl. TAYLOR, S. 385 (Appendix 5).

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fassende Gewerkschaftsgesetzgebung und Appelle an die Arbeitnehmer, nur maßvolle Lohnerhöhungen anzustreben, würden ausreichen, um die steigende Inflation in den Griff zu bekommen. Nun mußte er einsehen, daß er sich geirrt hatte. Eine staatliche Festlegung von Löhnen und Gehältern, das klassische Mittel zur Inflationsbekämpfung im Großbritannien der Nachkriegszeit, kam jedoch nicht in Betracht, weil sich die Tories in ihrem Wahlkampfprogramm ausdrücklich gegen eine derartige Einkommenspolitik ausgesprochen hatten. Was blieb, waren Verhandlungen über freiwillige Lohnbeschränkungen zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Regierung, wie sie etwa in der Bundesrepublik regelmäßig stattfanden. Seit Mitte 1971 bemühten sich Heath und sein Schatzkanzler Barber darum, Gewerkschaftsvertreter mit Abgesandten des britischen Arbeitgeberverbandes CBI zu Verhandlungen an einen Tisch zu bringen. Am 18. Juli 1972 war es soweit: Unterhändler von TUC, Regierung und CBI trafen sich, um gemeinsam über den künftigen Kurs in der Wirtschaftspolitik zu beraten. Drei Monate intensiver Verhandlungen – zehn Treffen von insgesamt 52 Stunden Dauer – folgten.53 Damit war die Kehrtwendung in der Gewerkschaftspolitik komplett: Der Premierminister, der angetreten war, um die Macht der Gewerkschaften zu beschränken, setzte sich mit ihren Führern an einen Tisch und gestattete ihnen, als gleichberechtigte Partner über den künftigen wirtschaftspolitischen Kurs des Landes mitzubestimmen. Daß die Gespräche zwei Monate später scheiterten, lag nicht an der Hartleibigkeit des Regierungschefs, dem selbst der Gewerkschaftsfunktionär Jack Jones bescheinigte, er habe sich wie kein Premier vor oder nach ihm bemüht, die Gespräche in einem partnerschaftlichen Geist zu führen.54 Man einigte sich, daß ein rasches Wirtschaftswachstum angestrebt, die Realeinkommen erhöht und die Stellung von Rentnern sowie Menschen mit niedrigen Löhnen verbessert werden sollten. Dennoch blieben die Positionen in einem Punkt unvereinbar: Die Gewerkschaften forderten als Gegenleistung für moderate Lohnabschlüsse staatliche Preiskontrollen. Das wollte die Regierung nicht zugestehen.55 Nach dem Scheitern der Gesprächsrunde sah die Regierung keinen anderen Ausweg, als ihr Heil doch in einer staatlich verordneten Lösung zu suchen. Am 6. November 1972 verkündete der Premier, daß während der nächsten 90 Tage alle Löhne, Preise, Renten und

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HEATH, Course, S. 413. Vgl. JACK JONES, Union Man, London 1986, S. 259. HEATH, Course, S. 413–5; Jones behauptet, überdies habe die Regierung der von den Gewerkschaften geforderten Rücknahme des „Industrial Relations Act“ nicht zustimmen wollen, in: Symposium, Trade Unions, S. 41.

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Gewinnausschüttungen eingefroren würden. In einem zweiten Schritt sollten im Februar sodann einige beschränkte Lohnerhöhungen – unter Beibehaltung strikter Preiskontrollen – möglich sein. Phase Drei, die im Herbst 1973 in Kraft trat, sah eine größere Flexibilität vor, hielt aber grundsätzlich an dem Prinzip fest, daß der Staat die Höhe von Gehältern und Preisen bestimmte.56 Wieder wurde Heath beschuldigt, seine Politik um 180 Grad gewendet, diesmal sogar ein explizites Wahlversprechen gebrochen zu haben. Schlimmer noch: Der Opposition bot sich die Gelegenheit, ihm mangelnde Prinzipientreue vorzuwerfen und ihn gleichzeitig anzuklagen, eine unsoziale Politik gegen den Willen der Arbeitnehmer und Gewerkschaften zu betreiben.57 Die dritte Kehrtwendung betraf die Haushaltspolitik der Regierung, die sich einer bis dahin unbekannten Mischung von wachsender Arbeitslosigkeit und steigender Inflation gegenübersah. Diese Kombination widersprach der volkswirtschaftlichen Orthodoxie der Nachkriegszeit, die davon ausgegangen war, daß man steigende Arbeitslosigkeit jederzeit durch eine Erhöhung der Inflation kurieren könne und umgekehrt.58 Großbritannien hatte jedoch Anfang der siebziger Jahre ein Stadium erreicht, in dem altbekannte Heilmittel nicht mehr anschlugen. Die Regierung mußte sich entscheiden, ob sie dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit oder der Inflationsbekämpfung Priorität einräumen wollte. Zu Beginn fiel ihre Antwort auf diese Frage eindeutig aus. Schatzkanzler Macleod, der nach nur fünf Wochen im Amt gestorben war, hatte in einer seiner letzten Reden im Unterhaus verkündet: „There is no doubt that by far the most serious problem that we face, not just as a Government but as a country, is inflation.“59 Auch sein Nachfolger Barber kündigte in seiner ersten Haushaltsrede an, der Kampf gegen die Inflation genieße Priorität. Freilich ließ er den Worten keine Taten folgen. Sein Budget war eher darauf ausgerichtet, die Nachfrage zu regulie-

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Eine solche Politik sei fair, argumentierte Heath, weil sie über die ganze Bandbreite von Einkommen, Preisen und Dividenden reiche, somit Arbeitnehmer wie Arbeitgeber, Rentner wie Berufstätige, Arme wie Reiche gleichermaßen treffe. Dennoch, räumte er ein, sei die neue Regelung weniger zufriedenstellend als es ein freiwilliges Übereinkommen mit den Gewerkschaften gewesen wäre. Man schließe daher zukünftige dreiseitige Gespräche nicht aus; vgl. The Times, 7. November 1972. Siehe auch HEATH, Course, S. 415. Vgl. etwa die Unterhausrede von Wilson am 6. November 1972: Hansard, Vol. 845, Cols. 628–9. Diesen Zusammenhang beschrieb die sogenannte Phillips-Kurve, die nach dem britischen Volkswirtschaftler Alban William Phillips benannt worden war. Dieser hatte die Relation zwischen der Zuwachsrate der Nominallöhne und der Arbeitslosenquote behauptet und empirisch untermauert. Später wurde der Zusammenhang auch auf die Inflationsrate bezogen. Am 7. Juli 1970; Hansard Vol. 803, Col. 504.

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ren, in der Hoffnung, auf diese Weise werde die britische Volkswirtschaft ihr „produktives Potential“ voll entfalten können und die ersehnten Arbeitsplätze schaffen.60 Im November bekannte er sich schließlich offen zu der veränderten Zielvorgabe, als er vor dem Hintergrund stetig steigender Arbeitslosenzahlen proklamierte: „Government’s first care will be to increase employment.“61 Nachdem die Arbeitslosenzahl im Januar 1972 die Millionengrenze überschritten hatte, entschieden Heath und er, daß kleinere Nachfrageanreize nicht länger ausreichten. Der nächste Haushalt sollte unverhohlen expansiv sein, damit die britische Industrie sich modernisieren und reorganisieren könne, um den Herausforderungen des internationalen Wettbewerbs gewachsen zu sein, wie Barber sagte.62 Diesmal ließ der Schatzkanzler den Worten Taten folgen und verkündete in seiner Haushaltsrede Steuersenkungen im Wert von insgesamt 1,2 Milliarden Pfund, zusätzlich erhöhte er die Verschuldung der öffentlichen Hand um fast 3,4 Milliarden Pfund. Die Regierung konnte einen derartigen Kaufkraftschub in Zeiten steigender Inflation und Arbeitslosigkeit nur deshalb wagen, weil sie nicht länger durch eine strikte internationale Finanzordnung zu haushaltspolitischer Disziplin gezwungen wurde. Das System von Bretton Woods, das nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als 25 Jahre lang die finanziellen Beziehungen der Staaten untereinander bestimmt und ihren Handlungsspielraum in der Wechselkurspolitik begrenzt hatte, löste sich in den Jahren 1971 bis 1973 in mehreren dicht aufeinanderfolgenden Krisen auf.63 An die Stelle fester Wechselkurse und der damit zusammenhängenden Budgetverpflichtungen der Staaten trat die Möglichkeit, die Währungen frei gegeneinander floaten zu lassen. Das eröffnete den Regierungen zwar größere Freiräume, nahm ihnen gleichzeitig aber auch einen wichtigen Orientierungspunkt ihrer Haushalts- und Wirtschaftspolitik. Die britische Regierung begrüßte in

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Am 30. März 1971; Hansard Vol. 814, Col. 1370. Eine kritische Analyse der Haushaltspolitik von Heath und Barber findet sich bei EDMUND DELL, The Chancellors. A History of the Chancellors of the Exchequer, 1945–90, London 1996, S. 373–99. Am 2. November 1971 im Unterhaus; Hansard Vol. 825, Col. 5. Siehe hierzu auch BRUCEGARDYNE, Quiet Revolution, S. 76, der allerdings die Trendwende schon auf Juli 1971 datiert. Er glaube nicht, daß sein Budget dem Kampf gegen die Inflation schade, fügte er hinzu. „On the contrary, the business community has repeatedly said that the increase in productivity and profitability resulting from faster growth of output is one of the most effective means of restraining price increases“; am 21. März 1972 im Unterhaus; Hansard Vol. 833, Cols. 1343, 1353. Siehe hierzu HAROLD JAMES, Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, München 1997, S. 131–60.

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ihrer Not und Ratlosigkeit die Entwicklung aus ganzem Herzen. Barber verkündete, es sei weder notwendig noch wünschenswert, die heimische Wirtschaft unter Druck zu setzen, um unrealistische Wechselkursraten aufrechtzuerhalten.64 Die Möglichkeit, den Kurs des Pfundes fallen zu lassen, erschien dem Kabinett als Wink des Himmels. Auf diese Weise konnte sie ihre expansive Wirtschaftspolitik fortsetzen und gleichzeitig den Lohnforderungen der Gewerkschaften entgegenkommen.65 Die inflationären Konsequenzen dieser Politik glaubte man in den Griff bekommen zu können. Doch die Hoffnung trog: Der sogenannte „Barber-Boom“ erwies sich als Seifenblase, die nach kurzer Zeit zerplatzte. Zurück blieben eine negative Zahlungsbilanz, drastisch gestiegene Regierungsausgaben, eine stagnierende Wirtschaft, Stundenlohnzuwächse von über 15 Prozent und eine Preissteigerung, die von 8,7 Prozent im Jahr 1973 auf 15,4 Prozent im Jahr darauf anstieg.66 Wie konnte es zu einer derartig verheerenden Bilanz, zu drei so grundlegenden Richtungswechseln innerhalb von nicht einmal zwei Jahren kommen? Zunächst besaß die Heath-Regierung ein gerüttelt Maß an Pech und wurde von widrigen Umständen gebeutelt, die außerhalb ihrer Kontrolle lagen. Der erste Schicksalsschlag war der plötzliche Tod Iain Macleods nach nicht einmal fünf Wochen im Amt. Mit ihm verlor das Kabinett einen Schatzkanzler, der über genügend politisches Gewicht verfügt hätte, um seine Ansichten in der Ministerrunde erfolgreich durchzusetzen.67 Sein Nachfolger Anthony Barber hatte sich, anders als Macleod, nicht auf sein Amt vorbereiten können.68 Darüber hinaus besaß er keine eigene Machtbasis in der Partei, war politisch in hohem Maße vom Premierminister abhängig, der seinerseits das Schatzamt mit äußerstem Argwohn betrachtete. Daher fand die sprichwörtliche Vorsicht der Treasury unverhältnismäßig wenig Gehör und Stimme in den Kabinettsrunden.69 Die innenpolitische

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Am 21. März 1972 im Unterhaus; Hansard Vol. 833, Col. 1354. „Oh well, if the unions will insist on excessive wage claims, it won’t affect expansion“, soll ein zuversichtlicher Beamter damals behauptet haben. „We’ll just let the exchange rate go“; zit. nach WILLIAM KEEGAN und RUPERT PENNANT-REA, Who Runs the Economy? Control and Influence in British Economic Policy, London 1979, S. 27. Die Preissteigerung in der Bundesrepublik erhöhte sich in dieser Zeit lediglich um 0,3 Prozentpunkte auf 7,3 Prozent. Siehe hierzu ALEC CAIRNCROSS, The Heath Government and the British Economy, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 107–38 (S. 115). NIGEL FISHER, Iain Macleod, London 1973; ROBERT SHEPHERD, Iain Macleod, London 1994. Interview mit Peter Cropper vom 20. Januar 1999. Vgl. hierzu DELL, Chancellors, S. 373–99, der seinem Kapitel über Barber den Titel „Chancellor in Office but not in Power“ gegeben hat.

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Lage war ebenfalls nicht günstig für die Regierung. Die Gewerkschaften befanden sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht und hatten eine Möglichkeit entdeckt, wie sie auf gerichtlichem Wege die zentrale Reformmaßnahme der Regierung, den Industrial Relations Act, aushöhlen konnten. Auf der anderen Seite erwiesen sich die Arbeitgeber nicht als die erhoffte Stütze und versagten der Regierung mehrfach in kritischer Situation ihre Unterstützung. Die wachsende Inflation hatte die Heath-Regierung von ihrer LabourVorgängerin ebenso geerbt wie die steigende Arbeitslosigkeit, die Zukunftsangst, Mutlosigkeit und soziale Unruhen schürte.70 Kopfzerbrechen bereiteten der britischen Regierung schließlich auch die Turbulenzen in der Weltwirtschaft. Der Kollaps des Dollars, der rapide Anstieg der Rohstoffpreise, der Zusammenbruch der Vereinbarungen von Bretton Woods zwang auch stärkere Volkswirtschaften als die britische zu schmerzhaften Anpassungen, die nicht ohne innenpolitische Auswirkungen blieben.71 All dies kann jedoch die Kurswechsel nur unzureichend erklären. Entscheidend war daneben, daß die Heath-Mannschaft in der Oppositionszeit detaillierte Programme entworfen hatte, ohne darauf zu achten, ob die Wunschliste der Einzelmaßnahmen in sich stimmig war.72 Der neue Premierminister scherte sich wenig um Prinzipien und Grundsätze. „It wasn’t about fundamental values with him“, erinnerte sich ein Mitarbeiter. „It was about how we can run our affairs better.“73 Ideologien und Dogmen waren nach Heaths Ansicht etwas, woran die Labour-Partei krankte. Seiner Überzeugung nach reichten Pragmatismus, politischer Wille und Einfallsreichtum aus, um das Land wieder blühen und gedeihen zu lassen. Der politischen Philosophie, die dem Programm der Konservativen zugrunde lag, war kaum Beachtung geschenkt worden. Die Fragen etwa, ob die Tories für oder gegen Staatsinterventionen in die Wirtschaft, für oder gegen eine korporatistische Form der Zusammenarbeit mit Arbeitgebern und Gewerkschaften waren, wurden nicht grundsätzlich diskutiert und entschieden, sondern taktischen Erwägungen überlassen. Auch in der Frage der Einkommenspolitik wollte Heath sich nicht festlegen. Als Oppositionsführer hatte er 1968 in einer Rede verkündet: „[C]ompulsory controls are wrong in

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Vgl. ANTHONY SELDON, The Heath Government in History, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 11–2. Für Deutschland siehe JENS HOHENSEE, Der erste Ölpreisschock 1973/74, Stuttgart 1996. Man müsse dem Parteichef deutlich machen, „that the public want to know where he wants to go as much as how he means to get there“, schrieb bereits 1967 ein besorgter Berater an einen Vertrauten des Parteichefs; Brendan Sewill an Michael Fraser; zit. nach RAMSDEN, Appetite, S. 394. Zit. nach RANELAGH, S. 96.

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principle“, in derselben Ansprache aber auch angekündigt: „I am quite prepared for a tough incomes policy.“74 Erst 1970 scheint sich das Schattenkabinett eingehender mit dem Problem befaßt zu haben. Aber auch jetzt entschied man die Frage im Sinne kurzfristig-taktischer Ziele, nicht mit Blick auf eine langfristige Strategie.75 Heath war Pragmatiker. Weder die Einkommenspolitik noch grundsätzliche Erwägungen über den Sinn oder Unsinn staatlicher Subventionen für Großbetriebe trieben ihn um. Ob es eine Regionalpolitik geben sollte oder nicht, war ihm egal, solange die Wirtschaft florierte. Selbst über den Einfluß, den Gewerkschaften in einer Gesellschaft besitzen sollten, konnte man reden. Wenn es nicht möglich war, die Gewerkschaften zu schwächen, dann sollte eben ein machtvoller, zentral gesteuerter Gewerkschaftsverband zusammen mit einer einflußreichen Arbeitgebervereinigung und einer starken Regierung die Wirtschaftspolitik zum Wohle des Landes bestimmen. Wenn etwas nicht funktionierte, mußte es geändert werden, lautete seine Maxime. Darin glich er eher einem französischen Technokraten wie Raymond Barre oder Edouard Balladur als dem typischen Parteipolitiker angelsächsischer Prägung.76 Wachstum, Vollbeschäftigung und europäische Integration hießen die Fixsterne am Firmament seiner politischen Überzeugungen. Der Rest war verhandelbar. Hinzu kam, daß es gegen die Politik der Heath-Regierung weder innerhalb der Tory-Partei noch in den großen überregionalen Zeitungen oder bei anderen Meinungsführern nennenswerte Widerstände gab. Die Konservative Partei, die traditionell auf ihren Pragmatismus, auf ihre Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde Umstände stolz war, trug die Drehungen und Wendungen der Regierungspolitik linientreu und ohne nennenswerten Widerspruch mit. Zudem nahm der Glaube an Autorität, Verantwortung und die segenbringenden Wirkungen der Staatsmacht eine so zentrale Stelle im konservativen Weltbild ein, daß viele Tories ohnehin überzeugt waren, der Staat könne in wirtschaftlichen Krisenzeiten nicht tatenlos beiseite stehen. Die meinungsbildenden Zeitungen und Zeitschriften, allen voran die Times und der Economist, unterstützen den Regierungskurs ebenfalls.77

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Notes on Current Politics, 8. April 1968, zit. nach JOHN RAMSDEN, The Prime Minister and the Making of Policy, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 29–30. Vgl. WALKER, Staying Power, S. 52. Vgl. KENNETH O. MORGAN, One of Us, in: New Statesman, 2. Juli 1993. „There is no reason to suppose that shipbuilding is a declining industry“, schrieb die Times im Hinblick auf die Werftensubventionen und konstatierte: „In practice, the Government had little option but to put up the necessary money for Upper Clyde“; The Times, 9. Februar 1972.

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Wenn die Zeitungen vorsichtige Kritik übten, dann weil die Regierung bei ihren Kehrtwendungen nicht kühn genug vorging. Schatzkanzler Barber etwa habe mit seinem, beispiellos expansiven, Haushalt vom März 1972 noch nicht genug getan, fand der Leitartikler der Times, „on either economic or social grounds“.78 Hier gebe es endlich einmal eine Regierung, lautete die Redaktionslinie beim Economist, die unter einem engagierten Führer entschlossen sei, die Inflation zu bekämpfen und den wirtschaftlichen Durchbruch zu erreichen.79 Auch das wirtschaftswissenschaftliche Establishment Großbritanniens verteidigte den Regierungskurs. Noch im November 1973, als Barber unter dem Druck der Ereignisse längst zu einer Sparpolitik übergegangen war, schrieb die National Institute Economic Review, die reflationäre Politik der Regierung scheine auf der ganzen Linie erfolgreich gewesen zu sein.80 Es ist eine Ironie des Schicksals, daß die Heath-Regierung nicht beim Vollzug eines ihrer politschen Richtungswechsel zu Fall kam, sondern in dem Moment, als sie sich weigerte, den drei Kehrtwendungen eine vierte folgen zu lassen. Auslöser waren die Zwillingsprobleme Inflation und Gewerkschaftsmacht. Die Lohn- und Preispolitik war gerade in ihre dritte Phase getreten, als sich die OPEC-Länder im Oktober 1973 angesichts des Jom-Kippur-Krieges entschlossen, Erdöllieferungen an die Staaten des Westens einzuschränken und damit den Preis für Erdöl in die Höhe zu treiben. In Großbritannien sanken daraufhin die Ölimporte um 15 Prozent. Viele Autofahrer gerieten in Panik, so daß die Regierung einen Augenblick lang mit dem Gedanken spielte, Coupons für den Benzinverbrauch auszugeben. Schließlich entschied man sich, auf freiwillige Sparmaßnahmen zu vertrauen. Trotz beachtlicher Erfolge der Einsparungen stiegen die britischen Zahlungen für Erdöl beinahe auf das Vierfache.81 Der Preisanstieg hatte nicht nur desaströse Folgen für die ohnehin schlechte Zahlungsbilanz des Landes, auch das akkurat austarierte System der staatlich festgesetzten Löhne und Preise geriet zusätzlich unter Druck. Denn die Bergarbeiter erblickten in der Energiekrise die einmalige Chance, ihren Lohnforderungen durch Streiks wirkungsvoll Nachdruck zu verleihen. Wenn sich der Preis für Rohöl vervierfachte, wieso sollte dann nicht auch der Kohlepreis drastisch ansteigen – und mit ihm die Löhne derjenigen, die Kohle förderten? Die National Union of Mineworkers entschied im

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The Times, 22. März 1972. Siehe hierzu zum Beispiel DELL, Chancellors, S. 394–6. NIER, November 1973, S. 3–5. Vgl. HOHENSEE; siehe auch SKED und COOK, S. 279–85.

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November 1973, Lohnzuwächse zu fordern, die weit über dem lagen, was die Regierung dem Fahrplan ihrer Lohnpolitik gemäß zugestehen konnte. Um ihren Ansprüchen Nachdruck zu verleihen, rief die Gewerkschaft dazu auf, künftig weder Überstunden zu machen noch am Wochenende zu arbeiten. Der Regierungschef weigerte sich, seine sorgfältig ausgetüftelte Einkommenspolitik ruinieren zu lassen. Ein zweites Mal sollten ihn die Bergleute nicht in die Knie zwingen. Doch die Bergarbeiter waren ebenfalls entschlossen, das Schlachtfeld als Sieger zu verlassen. Trotz eines Vermittlungsangebotes des TUC und obwohl die Regierung den Forderungen (innerhalb des von ihrer Einkommenspolitik gesteckten Rahmens) weit entgegenkam, gaben die Bergleute nicht nach. Der Druck auf den Premierminister wuchs, vorgezogene Wahlen auszurufen und mit der Frage „Wer regiert das Land – die Regierung oder die Bergarbeiter?“ in den Wahlkampf zu ziehen. Heath zögerte, glaubte lange an die Möglichkeit, doch noch einen Kompromiß mit den Bergarbeitern aushandeln und gleichzeitig an der Einkommenspolitik festhalten zu können. Erst Anfang Februar sah er keinen anderen Ausweg mehr als jene Neuwahlen, die zuerst zum Ende seiner Regierung und knapp ein Jahr später auch zu seiner Abwahl als Parteichef führten. Als Bildungsministerin rebellierte Thatcher nicht gegen die Politik ihres Parteichefs und Premierministers. Vielmehr trug sie alle Kehrtwendungen und Richtungswechsel loyal mit. Die Verstaatlichung von Rolls Royce verteidigte sie noch zwanzig Jahre später in ihren Memoiren mit dem Hinweis auf übergeordnete Sicherheitsinteressen. Hinsichtlich der Rettungsaktion für die Glasgower Werften hätten sie größere Zweifel geplagt, schrieb sie. Doch offenen Widerspruch vernahm man von ihr nicht. Allenfalls in Hintergrundgesprächen mit Journalisten gab sie zu verstehen, daß ihr manche Maßnahmen des Kabinetts, dem sie angehörte, nicht behagten.82 Die AntiInflationspolitik der Regierung gehörte nicht dazu. In dieser Hinsicht unterstützte sie Heath mit voller Überzeugung. Niemand im Kabinett habe damals eine schlüssige Theorie über den Zusammenhang von Geldentwertung und Lohnabschlüssen besessen, räumte sie später ein. In Ermangelung einer derartigen Theorie sei man dem Aberglauben erlegen, Inflation als unmittelbare Folge von Lohnsteigerungen und Gewerkschaftsmacht zu verstehen.83 Sie selbst verteidigte die Preis- und Einkommenskontrollen der Regierung als absolut notwendig. „[T]he only way inflation could be contained was by bringing in a prices and incomes policy“, erklärte sie im 82 83

Vgl. etwa The Times, 17. Mai 1972. Vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 236.

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Frühjahr 1973.84 Auch von der Gewerkschaftspolitik der Regierung distanzierte sie sich nicht. Den korporatistischen Ansatz, Lösungen im Einvernehmen mit Arbeitgebern und Gewerkschaften zu erreichen, billigte sie noch im Februar 1974 ausdrücklich. Damals erklärte sie in ihrer persönlichen Wahlkampferklärung, wenn der Wähler die Tory-Regierung im Amt bestätige, würde man den gescheiterten Industrial Relations Act reformieren – „in the light of experience after consultation with both sides of industry“.85 In ihren Erinnerungen rechtfertigte Thatcher ihren mangelnden Widerstand teils mit dem Argument, sie sei vollauf mit ihrem eigenen Ressort beschäftigt gewesen, teils mit dem Hinweis, sie hätte sich im Kabinett mit ihrer Meinung ohnehin nicht durchsetzen können. „Hätte ich zurücktreten sollen?“, fragte sie. „Vielleicht. Aber jene unter uns, denen ganz und gar nicht gefiel, was geschah, hatten eine Alternative weder bedacht noch gar vorbereitet. Zudem hätte mein Rücktritt, realistisch betrachtet, nicht viel bewirkt.“86 Das ist sicherlich richtig. Doch vermag Thatchers Rechtfertigung nicht vollends zu überzeugen, wenn man bedenkt, daß sie auch als Bildungsministerin ein starkes Interesse an ökonomischen Zusammenhängen zeigte. Außerdem wußte sie sich schon damals durchaus gegen Widerstände durchzusetzen, wenn ihr eine Angelegenheit wichtig war.87 Daß sie bei den wirtschaftspolitischen Kurswechseln der Heath-Regierung nicht einmal den Versuch unternahm, gegen den Stachel zu löcken, deutet auf andere Ursachen ihres Stillschweigens hin. Die einfachste Erklärung ist darin zu sehen, daß ihre Unzufriedenheit bis Anfang 1974 nicht mehr war als ein vages, unbestimmtes Gefühl. Heaths Politik stieß im Kabinett und in der Partei auf Zustimmung, wurde von den führenden Zeitungen des Landes verteidigt.88 Eine ehrgeizige Politikerin wie Thatcher hatte keinen Anlaß, sich als Kritikerin eines Kurses zu profilieren, der lange Zeit allgemein für erfolgversprechend und richtig gehalten wurde. Erst nach den beiden verlorenen Unterhauswahlen und dem Aufstieg an die Parteispitze änderte sich ihre Einstellung. Vor die Aufgabe gestellt, den Kurs ihrer Partei neu zu bestimmen, begann sie, die konservative Politik der Jahre 1970 bis 1974 zu überdenken und sich zu fragen, was in Zukunft anders, besser zu machen sei. Die Lehren, die sie aus dem Scheitern von Heaths „stiller Revolution“ zog, lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen:

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Finchley Press, 16. Februar 1973; zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 246. Februar 1974: Mrs Thatcher’s Election Address, Finchley. THATCHER, Erinnerungen, S. 264. Vgl. dazu CAMPBELL, Thatcher, S. 211–59. Zur Meinungslage im Kabinett siehe WALKER, Staying Power, S. 123–4.

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Erstens erkannte sie, daß Heaths technokratischer, pragmatischer Regierungsstil und die abrupten Politikwechsel, die mit ihm einhergingen, entscheidende Nachteile hatten. Er sorgte für Orientierungslosigkeit und Konfusion in der Partei, stieß konservative Aktivisten vor den Kopf, die sich voller Überzeugung für die anfangs proklamierten Ziele eingesetzt hatten. Überdies setzte er den Parteichef dem Vorwurf aus, führungsschwach und wenig weitsichtig zu sein, die Kontrolle über den Gang der Ereignisse zu verlieren, nur noch auf immer neue Krisen zu reagieren, aber nicht mehr selbstbestimmt und zielgerichtet politisch zu handeln. Thatcher war zunehmend davon überzeugt, daß es zur Überwindung der Krise ihrer Partei und ihres Landes notwendig war, eine für richtig gehaltene politische Strategie über einen längeren Zeitraum hinweg durchzuhalten, auch wenn der eingeschlagene Kurs vorübergehend unpopulär erschien. Thatchers conviction politics entsprachen somit nicht nur ihrem Temperament, sondern auch einem Gespür für Stimmungen an der Parteibasis und der Einsicht in die Notwendigkeit, eine langfristige politische Strategie zu entwickeln und anschließend umzusetzen. Der feste Vorsatz, jeden Anschein zu vermeiden, sie könne ähnliche politische U-Turns vollführen wie Heath, wurde zu einer Art Leitsatz ihrer Politik. Am unmißverständlichsten brachte sie diese Maxime auf dem ToryParteitag vom Oktober 1980 zum Ausdruck, als der Druck, den Kurs zu ändern, besonders groß war. In Anspielung auf ein berühmtes Theaterstück von Christopher Fry mit dem Titel „The Lady’s not for Burning“ rief sie den Delegierten zu: „You turn if you want to. The lady’s not for turning.“89 Zweitens begriff sie, daß Heath nicht gestürzt war, weil seine Politik unpopulär war oder mangelnde Unterstützung erfuhr. Der Grund seines Scheiterns lag in ihren Augen vielmehr darin, daß er seine Partei in ein Dilemma hineinmanövriert hatte, aus dem es keinen schmerzlosen Ausweg gab: Indem er die Kooperation mit den Gewerkschaften zum Dreh- und Angelpunkt seiner Politik gemacht hatte, hatte er sein Schicksal und dasjenige seiner Regierung einer Interessengruppe überantwortet, die den Konservativen traditionell feindlich gegenüberstand. Thatcher glaubte, daß dieses Dilemma im Kern auf die Überdehnung der Staatsaufgaben zurückzuführen war, die unter Heath ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte. Der Premierminister hatte die Kontrolle über den Gang der Ereignisse paradoxerweise gerade deshalb verloren, weil er allzu viel kontrollieren wollte. Er brachte den Staat in allen möglichen Bereichen ins Spiel, die einmal außerhalb seiner Zuständigkeit gelegen hatten, sei es bei der Festset89

Am 10. Oktober 1980 auf dem Parteitag in Brighton, abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 109–20 (S. 116).

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zung von Löhnen und Preisen, bei der Rettung maroder Großbetriebe, bei der regionalen Wirtschaftsförderung oder beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Und gerade deshalb mußte er erleben, wie die Regierung ein immer schwächerer Mitspieler wurde, der vom guten Willen anderer Teilnehmer abhing. Seine Nachfolgerin hingegen vertraute auf die Tugenden des liberalen Nachtwächterstaates, der in seinen zentralen Aufgabengebieten stark sein konnte, weil er sich aus vielem anderen heraushielt: Nur wenn sich die Regierung nicht für jedes Ansteigen der Arbeitslosigkeit, für jeden Bankrott eines britischen Unternehmens verantwortlich machen ließ, konnte sie ihre Legitimationskraft und Handlungsfähigkeit bewahren.90 Die Tory-Chefin stand vor der schwierigen Aufgabe, ihre Partei auf einen neuen Kurs zu bringen, ohne offen mit der Vergangenheit zu brechen und damit die Anhänger ihres Vorgängers vor den Kopf zu stoßen. Sie konnte deswegen an den gemäßigten Kräften innerhalb der eigenen Partei und an dem, was sie als die Fehlleistungen der Heath-Ära ansah, nicht so unverhohlen Kritik üben, wie sie es gern getan hätte.91 Doch auch in den geglätteten Formulierungen ihrer Reden aus der Oppositionszeit finden sich genügend Hinweise auf ihre neu gewonnene Distanz zur konservativen Politik der Jahre 1970 bis 1974. Schon am 5. März 1975, wenige Wochen nach ihrer Wahl zur Parteiführerin, wandte sie sich in einer Radioansprache an „all our people [. . .] who may have felt in the past that there was not all that difference between the parties, that it didn’t really matter who was in office – I say to you, come back into the fight. There’s all the difference in the world.“92 Die Zuhörer mußten diese Worte als Vorwurf an die Adresse ihres Vorgängers verstehen, er habe die Tory-Partei in sozialistisches Fahrwasser geführt – oder zumindest dem der britischen Nachkriegsgeschichte innewohnenden Trend hin zum Sozialismus keinen ausreichenden Widerstand entgegengesetzt. Jedesmal wenn die Politikerin von der „sozialistischen Nachkriegsära“ sprach, behauptete sie implizit, daß ihre Vorgänger, die konservativen Premierminister Macmillan, Home und Heath ebenfalls verkappte Sozialisten gewesen seien.93 Erst Jahre später erhob sie diesen 90 91

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Vgl. hierzu CAMPBELL, Thatcher, S. 258–9. Vgl. etwa die mehr als deutlichen Bemerkungen in ihren beiden Memoirenbänden, in denen sie die Jahre 1970 bis 1974 als „die radikalste Form des Sozialismus“ bezeichnete, „die je von einer gewählten Regierung in Großbritannien erwogen wurde“; THATCHER, Downing Street, S. 17. Vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 235. Am 5. März 1975 auf BBC Radio 4 (maschinenschriftliches Transskript im CPA). Vgl. etwa die Rede vom 8. September 1977 vor der British American Chamber of Commerce im Ballsaal des Hotel Pierre in New York: News Service 873/77, S. 1, in der sie sagte: „I believe we are entering a new phase in British politics. The post-war period has come to an end, the post-Socialist period is about to begin.“ Vgl. auch THATCHER, Downing Street, S. 17.

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Vorwurf in ihren Memoiren explizit, als sie das Scheitern der eigenen Partei in den Jahren 1970 bis 1974 auf „den Sozialismus“ zurückführte. Heaths Regierung habe den Nachweis geführt, urteilte sie nun, „daß eine von konservativen Politikern betriebene sozialistische Politik, wenn überhaupt, noch katastrophaler ist als eine von Labour-Politikern betriebene.“94 C)

DIE LABOUR-PARTEI IN DER KRISE

Dies war jedoch eine rückblickende Erkenntnis. Während ihrer Zeit als Oppositionsführerin blieb die wichtigste Zielscheibe von Thatchers Angriffen die Labour-Partei, die im Februar 1974 von den britischen Wählern unverhofft wieder zur Regierungspartei gemacht worden war. Labour zeigte der Öffentlichkeit in den folgenden Jahren drei verschiedene Gesichter: erstens das gewohnte Antlitz einer keynesianischen Sozialdemokratie, die fest im Boden der Nachkriegsordnung wurzelte; zweitens die bislang unbekannten Züge einer Reformpartei, die den Wählern Sparappelle, Haushaltskürzungen und Abstriche beim Sozialetat zumutete; und drittens schließlich einen radikalen Sozialismus, der die revolutionäre Veränderung der britischen Wirtschaft und Gesellschaft zum Ziel hatte.95 Alle drei stießen zwischen 1975 und 1979 auf die eine oder andere Weise an ihre Grenzen, ermöglichten es der Tory-Chefin, von der Krise des „Sozialismus“ zu sprechen und von den verschiedenartigen Schwierigkeiten der Labour-Partei zu profitieren. Das keynesianische Gesicht gehörte der Parteimitte, den pragmatischen Regierungspolitikern, die im Kabinett vom Frühjahr 1974 die wichtigsten Posten innehatten. Premierminister Wilson und Außenminister Callaghan zählten ebenso zu dieser Gruppe wie Umweltminister Crosland, anfangs auch Schatzkanzler Healey.96 Die Hinwendung der Labour-Partei zum

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THATCHER, Erinnerungen, S. 235. Vgl. Tagebucheintrag vom 22. Mai 1975, in: BENN, Tide, S. 379, der diese Dreiteilung ebenfalls vornimmt. Obwohl der Keynesianismus Mitte der siebziger Jahre fest in der Labour-Partei verwurzelt war, hatte er dort keine lange Tradition. Keynes’ erste Bewunderer waren der Liberale David Lloyd George und Oswald Mosley, der 1931 Labour verließ und zur Führungsfigur der britischen Faschisten wurde. Die Labour-Regierung, die 1945 den Umbau von Wirtschaft und Staat in Angriff nahm, orientierte sich konzeptionell wie programmatisch nicht an Keynes, sondern an den Vorstellungen, die man während der Zwischenkriegszeit entwickelt hatte. Darin glichen Attlee und Bevin den deutschen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern, die zunächst auch lieber an der Idee einer Sozialisierung der Schlüsselindustrien festhielten als auf Keynes’ Nachfragemanagement und die Reformierung des Kapitalismus zu vertrauen, vgl. MORGAN, Labour.

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Keynesianismus hatte Ende der fünfziger Jahre begonnen, als jüngere Revisionisten anfingen, sich von den Verstaatlichungsideen der Zwischen- und unmittelbaren Nachkriegszeit abzuwenden. Der Marxismus erschien ihnen durch den Stalinismus der Sowjetunion diskreditiert, der Kapitalismus durch den Wirtschaftsboom und steigende Lebensstandards in der westlichen Welt rehabilitiert. Zugleich hielt die Verstaatlichungspolitik der Attlee-Regierung nicht alles, was sich die Labour-Partei von ihr versprochen hatten. Marx habe heute wenig zu bieten, behauptete Anthony Crosland in seiner einflußreichen, 1956 erschienenen Schrift The Future of Socialism, weder hinsichtlich praktischer Politik noch im Hinblick auf die korrekte Analyse der Gesellschaft oder die richtigen konzeptuellen Rahmenbedingungen.97 Crosland vertrat die Ansicht, das wichtigste Ziel des Sozialismus sei die Gleichheit der Bürger, nicht die Abschaffung des Privateigentums; Verstaatlichungen seien lediglich Mittel zu diesem Zweck. Die größten Erfolge der Nachkriegszeit verdankte die Labour-Partei seiner Meinung nach nicht ihrer Verstaatlichungspolitik, sondern dem Wohlfahrtsstaat. Er plädierte für einen Abschied vom Sozialismus Marx’scher Prägung und eine Hinwendung zu den Zielen sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit mit Hilfe eines keynesianischen Wohlfahrts- und Umverteilungsstaats.98 Im Verlauf der sechziger Jahre wurde diese Außenseiteransicht zur herrschenden Lehre. Wenn Crosland auch nie ein Wirtschaftsprogramm für seine Partei formulierte, avancierte er doch zur intellektuellen Führungsgestalt der keynesianischen Sozialdemokraten. Und obwohl es ihm und seinen Anhängern im Gegensatz zu ihren westdeutschen Gesinnungsgenossen nie gelang, den Kurswechsel auch programmatisch fest in der Partei zu verankern, dominierten sie seit der ersten Hälfte der sechziger Jahre das ökonomische Denken ihrer Partei.99 Prosperität und stetes Wachstum der Volkswirtschaft setzte der wohlfahrtsstaatlich ausgebaute Keynesianismus Crosland’scher Prägung als selbstverständlich voraus.100 97 98

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SUSAN CROSLAND, Tony Crosland, London 1982, S. 20–1. „The objective is not wholly to destroy private ownership but to alter its distribution“; ANTHONY CROSLAND, The Future of Socialism, London 1956; Neuaufl. London 1994 als: Theories of the Mixed Economy. Bd. 7, hrsg. von DAVID REISMAN, S. 496. Vgl. CROSLAND, Crosland; zur Geschichte der Wilson-Regierungen 1964–70 siehe DAVID HOWELL, British Social Democracy. A Study in Development and Decay, London 1976; CLIVE PONTING, Breach of Promise. Labour in Power 1964–70, London 1993; RICHARD COOPER et al., The Wilson Governments 1964–70, London 1993. Im Schlußwort von The Future of Socialism schrieb Crosland hoffnungsfroh „I no longer regard questions of growth and efficiency as being, on a long view, of primary importance to socialism“; CROSLAND, Future, S. 515.

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Über die Bedingungen von Wachstum und Produktivität machte sich die Labour-Partei in den folgenden beiden Jahrzehnten wenig Gedanken. Umso schwerer tat sich die Regierung von Harold Wilson, die am 4. März 1974 ihre Amtsgeschäfte aufnahm, mit der ökonomischen Notlage, die sie vorfand: Im Lande herrschten immer noch die Beschränkungen der von Heath ausgerufenen Dreitagewoche; die Inflationsrate lag bei deutlich mehr als zehn Prozent; es gab rund 600 000 Arbeitslose; die Ausgaben der öffentlichen Hand waren außer Kontrolle geraten; und die Zahlungsbilanz befand sich in einem chronischen Defizit.101 Wilson und sein Kabinett reagierten auf die Krise mit einer reflationären Wirtschaftspolitik. Der neue Arbeitsminister Michael Foot gestand den Gewerkschaften die Lohnerhöhungen zu, die sie verlangten, und machte den „Industrial Relations Act“ der Konservativen rückgängig.102 Schatzkanzler Healey hob in seinem ersten Haushaltsgesetz im März 1974 die Renten, die Arbeitslosenunterstützung und andere Sozialleistungen drastisch an. Außerdem gab er 500 Millionen Pfund mehr für Lebensmittelsubventionen und 70 Millionen Pfund mehr für Wohngeldzuschüsse aus als sein konservativer Vorgänger im Haushaltsjahr zuvor. Obwohl er gleichzeitig die Grundrate der Einkommensteuer um drei Prozentpunkte auf 33 und die Unternehmenssteuer auf 52 Prozent erhöhte, gelang es ihm nicht, den Staatshaushalt unter Kontrolle zu bringen. Die Regierung mußte gewaltige Kredite im Ausland aufnehmen. Sie habe in den ersten Monaten Geld ausgegeben, das sie gar nicht besaß, schrieb rückblickend der Staatssekretär im Schatzamt, Joel Barnett.103 Ende 1974 sah Großbritanniens Zukunft düster aus: Die Inflationsrate würde seriösen Vorhersagen zufolge bald 20 bis 25 Prozent erreichen. Die Löhne waren landesweit um acht bis neun Prozent rascher gestiegen als die Preise, die ihrerseits um katastrophale zwanzig Prozent im Jahr anstiegen.104 Schon sprach man von Lohnabschlüssen, die vierzig bis 45 Prozent höher liegen sollten als im Vorjahr.105 Zur Erklärung der katastrophalen Bilanz nach dem ersten Jahr der Regierung kann man verschiedene Gründe anführen. Schatzkanzler Healey berief sich später darauf, er habe ursprünglich beabsichtigt, einen neutralen, ja

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Vgl. HOLMES, Labour, S. 1–6. Zur Gewerkschaftspolitik der Labour-Regierung siehe etwa TAYLOR, S. 222–64; PELLING, 291–300; BARNES und REID, S. 191–228. JOEL BARNETT, Inside the Treasury, London 1982, S. 23. Vgl. auch HOLMES, Labour, S. 7–9. Die Zahlen gehen zurück auf Angaben Healeys im Unterhaus am 15. April 1975, Hansard Vol. 889, Col. 281. Vgl. DELL, Chancellors, S. 413.

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sogar leicht deflationären Haushalt einzubringen.106 Die reflationäre Wirkung seines Haushalts sei die Folge einer fehlerhaften Prognose seiner Beamten gewesen. Diese hatten für das Haushaltsjahr 1974/1975 einen Kreditbedarf der öffentlichen Hand in Höhe von 2,7 Milliarden Pfund prognostiziert – beinahe fünf Milliarden Pfund zu wenig, wie sich später herausstellte. Healey als gewiefter Politiker machte aus der Not eine Tugend und verteidigte sein reflationäres Budget in den folgenden Monaten als bewußte politische Entscheidung.107 Ein zweiter Grund für die Politik der Regierung war der knappe Wahlausgang, der Labour lediglich einen hauchdünnen Vorsprung vor den Konservativen beschert hatte. Wilson sah sich gezwungen, möglichst bald Neuwahlen auszuschreiben, die ihm eine arbeitsfähige parlamentarische Mehrheit bringen sollten. Daß er und sein Schatzkanzler den Weg dorthin mit Wahlgeschenken pflasterten, überrascht nicht.108 Die Labour-Regierung mußte nicht nur auf die Wähler Rücksicht nehmen. Ebenso wichtig war ihre Haltung gegenüber den Gewerkschaften, an deren Widerstand Heath gescheitert war. Das Wilson-Kabinett setzte darauf, daß die enge Verflechtung mit der Gewerkschaftsbewegung ihm bessere Chancen eröffnete, Einvernehmen mit deren mächtigen Bossen herzustellen, Streiks zu vermeiden und maßvolle Lohnabschlüsse zu erzielen. Allerdings konnte die Labour-Partei nicht mehr blind auf die Hilfe der Gewerkschaften vertrauen, seit sie sechs Jahre zuvor mit ihrem Versuch gescheitert war, die Macht der Gewerkschaften gesetzlich einzudämmen. „We could no longer assume a relationship between the government and the unions“, erinnerte sich ein Minister später, „so we had to do a deal.“109 Dieser „Deal“, den man bereits 1973 als Oppositionspartei mit den Gewerkschaften abgeschlossen und Social Contract genannt hatte, lief darauf hinaus, daß eine Labour-Regierung Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften mit wirtschafts- und sozialpolitischen Zugeständnissen und einer kontinuierlichen Beteiligung der Gewerkschaftsführer an politischen Entscheidungen bezahlen würde. Healey löste mit der kostspieligen Ausgabenpolitik seiner ersten beiden Haushaltsgesetze seinen Teil des Abkommens ein. Weil jedoch die gewerkschaftliche Gegenleistung maßvoller Lohnabschlüsse auf einen späteren Zeitpunkt vertagt wurde, befand sich der Social 106

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Tatsächlich hatte er angekündigt: „My judgement is that this Budget should be broadly neutral on demand, with a bias, if any, on the side of caution“; am 26. März 1974 im Unterhaus, Hansard Vol. 888 Col. 294. HEALEY, S. 380–1; DELL, Chancellors, S. 408. Vgl. ebd., S. 410. Albert Booth zit. nach HOLMES, Labour, S. 6.

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Contract von Anfang an in einer beträchtlichen Schieflage: „To my mind“, klagte Barnett in seinen Erinnerungen, „the only give and take in the contract was that the government gave and the unions took.“110 Der wichtigste Grund für die Wirtschaftspolitik der Labour-Regierung in ihrem ersten Amtsjahr ist aber darin zu sehen, daß sie mit ihren Maßnahmen treu auf den ausgetretenen Pfaden keynesianischer Orthodoxie wandelte. Ihre Strategie, in Zeiten von Rezession, Weltwirtschaftskrise und steigender Arbeitslosigkeit mit deficit spending und einer Ankurbelung der Nachfrage zu reagieren, befand sich im Einklang mit der Politik der britischen Nachkriegsregierungen im allgemeinen und der konservativen Vorgängeradministration im besonderen. Donald MacDougall, ökonomischer Chefberater zuerst im Schatzamt, dann beim CBI, erklärte kurz vor Weihnachten 1973, deflationäre Maßnahmen der Industriestaaten seien die falsche Antwort auf den Anstieg der Ölpreise. Healeys konservativer Vorgänger Barber argumentierte ähnlich, dem Rat entsprechend, den ihm die keynesianischen Ökonomen im Schatzamt gegeben hatten. Es sei zwischen den beiden Parteien unstrittig, daß man Kredite aufnehmen müsse, um für die steigenden Ölpreise zu bezahlen, führte er in seiner letzten Unterhausrede als Schatzkanzler aus.111 Nicht nur britische Experten rieten, keine deflationäre Politik zu betreiben. Auch der Internationale Währungsfond appellierte angesichts der weltweiten Ölkrise an die westlichen Industrienationen, eine Kettenreaktion von Sparmaßnahmen zu vermeiden, die die Weltwirtschaft weiter in die Rezession zu treiben drohten.112 Das Problem für die britische Regierung bestand darin, daß sich der Rest der Welt nicht an die Ratschläge der Keynesianer in Whitehall und den Büros des IWF hielt. Statt dessen bemühten sich vor allem die Regierungen Japans und der Bundesrepublik, mit Abstrichen auch der Vereinigten Staa110 111

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BARNETT, Treasury, S. 49. „Inevitably we shall run some balance-of-payments deficit apart from oil; and we shall also, as [Healey] agrees, need to borrow to cover part of that [. . .] action which might increase the risk of a world recession must be avoided“; am 6. Februar 1974 im Unterhaus, Hansard Vol. 868, Col. 1230. Sein Zwanziger-Ausschuß, der sich mit der Reform des internationalen Währungssystems nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods beschäftigte, gab im Januar 1974 eine Presseerklärung heraus, in der es hieß: „In these difficult circumstances the Committee agreed that in managing their international payments, countries must not adopt policies which would merely aggravate the problems of other countries. Accordingly, they stressed the importance of avoiding competitive depreciation and the escalation of restrictions on trade and payments. They further resolved to pursue policies that would sustain appropriate levels of economic activity and employment, while minimizing inflation“; zit. nach MARGARET GARRITSEN DE VRIES, The International Monetary Fund 1972–78. Cooperation on Trial. Bd. 1, Washington 1985, S. 199. Vgl. HEALEY, S. 422; DELL, Chancellors, S. 406.

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ten und Frankreichs, ihre Zahlungsbilanz ausgeglichen zu halten. Die Sparmaßnahmen, die sie zu diesem Zweck verabschiedeten, führten dazu, daß britische Exporte auf eine verminderte Nachfrage trafen, während umgekehrt die künstlich auf Hochtouren gehaltene britische Wirtschaft Importe aus Deutschland, Japan, den USA und anderen Ländern weiterhin begierig aufsog. Healey hatte nicht unrecht, wenn er in seinen Memoiren schrieb, die USA, Deutschland und Japan „deflated their economies so as to reduce their deficits at our expense“.113 Aus dem Blickwinkel der deutschen oder japanischen Regierung nahm sich die Situation freilich anders aus: Sie sahen ihre wichtigste Aufgabe darin, die Kontrolle über Inflation und Zahlungsbilanz ihrer Länder zurückzugewinnen, selbst wenn dies nur auf Kosten erhöhter Arbeitslosigkeit möglich war. Ihre Neigung, durch eine inflationstreibende Wirtschaftspolitik die nationale Stabilität zu gefährden, um britische Arbeitsplätze zu sichern, war gering.114 Unter den keynesianischen Sozialdemokraten machten sich angesichts der mannigfachen Krisenszenarien Orientierungs- und Mutlosigkeit breit. Den Tagebüchern Barbara Castles und Tony Benns kann man entnehmen, wie hilflos sie sich fühlten. Man könne lediglich versuchen, auf alle Knöpfe zu drücken, die zu finden seien, bemerkte Crosland. „We do not know which, if any, of them will have the desired result.“ James Callaghan, der Wilson im Frühjahr 1976 als Premierminister abgelöst hatte, gab hinter verschlossenen Türen ebenfalls zu, ratlos zu sein. Er habe keine Lösung, sagte er in einer Kabinettsitzung und fügte hinzu, wenn er ein junger Mann wäre, würde er auswandern.115 Je länger er Premierminister sei, erklärte Callaghan seinen Ministern bei anderer Gelegenheit, desto weniger wisse er, was richtig und was falsch sei.116 Je deutlicher der Keynesianismus an seine Grenzen stieß, desto dringender wurde die Suche nach politischen und wirtschaftlichen Alternativen. Besonders im Schatzamt konnte man die ökonomischen Realitäten kaum länger ignorieren. Nicht zufällig waren es der Schatzkanzler und sein Stellvertreter, die von Sachzwängen getrieben nach neuen Wegen Ausschau

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HEALEY, S. 423. Vgl. etwa die Position von Bundeskanzler HELMUT SCHMIDT, Die Deutschen und ihre Nachbarn. Menschen und Mächte Bd. 2, Berlin 1990, S. 141. Der Erfolg gab der Bundesregierung recht. In Westdeutschland sank die Preissteigerungsrate von 7,3 Prozent 1974 auf 6,1 Prozent im folgenden Jahr, während sie in Großbritannien zur gleichen Zeit von 15,4 auf 22 Prozent anstieg. Beide Zitate nach dem Tagebucheintrag vom 17. November 1974 in: CASTLE, Diaries 1974–76, S. 223, 221. Tagebucheintrag vom 7. Oktober 1976, in: BENN, Tide, S. 622.

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hielten. Die Erfahrungen des Jahres 1974 hatten sie davon überzeugt, daß es nötig war, einen neuen wirtschaftspolitischen Kurs einzuschlagen, dessen Leitstern nicht länger das Ziel der Vollbeschäftigung war, sondern die Verbesserung der britischen Zahlungsbilanz und der Abbau der Staatsverschuldung. Drei Überlegungen diktierten diesen Sinneswandel. Zum einen machte Healey sich Sorgen um die Kreditwürdigkeit seines Landes. „We are living 5 to 6 per cent above our earnings“, erklärte er seine Kabinetsskollegen im Februar 1975. „It will be very much harder to borrow 3 billion pounds this year; maybe we will have to go to the IMF or the OECD and suffer supervision.“117 Die Vorstellung eines möglichen Bittgangs zum Internationalen Währungsfond, dem creditor of last resort, auf den gewöhnlich nur Entwicklungsländer angewiesen waren, peinigte ihn. Die Briten müßten die Kontrolle über ihre eigene Politik behalten, betonte er in einer Rede vor dem Unterhaus knapp zwei Monate später. Wenn man sich nur auf ausländische Kreditgeber verlasse, riskiere man, deren politische und ökonomische Bedingungen aufgezwungen zu bekommen, was einen unerträglichen Souveränitätsverlust bedeute.118 Ferner fürchtete er die wachsende Last der Staatsverschuldung. Wenn das Land seine Zahlungsbilanz für 1978 nicht ausgeglichen gestalte, sagte er in einer Kabinettssitzung im November 1975, würden die Zins- und Tilgungszahlungen sämtliche Gewinne aus den neuentdeckten Öl- und Gasvorkommen in der Nordsee auffressen.119 Drittens schließlich beunruhigte ihn die Preissteigerung, die im Frühjahr 1975 fast 25 Prozent erreicht hatte. Sie drohte nicht nur die Ersparnisse der Mittelschicht zu vernichten, sondern barg auch das Risiko, daß ausländische Anleger im großen Stil ihr Kapital aus Großbritannien abzogen, das man zur Finanzierung des Defizits und zur Stabilisierung des Pfundkurses dringend benötigte. Der Schatzkanzler sah nur einen Ausweg, die Geldentwertung in den Griff zu bekommen: Man mußte dem Kampf gegen sie Priorität vor allen anderen Zielen einräumen, indem man entweder die Steuereinnahmen erhöhte oder die Staatsausgaben senkte, die in den Jahren 1972 bis 1975 um beinahe zwanzig Prozent angestiegen waren, während zugleich der Produktivitätszuwachs nur zwei Prozent betragen hatte.120 In seinem Haushalt vom Frühjahr 1975 beschritt Healey zunächst den politisch leichteren Weg der Steuererhöhung, ehe er im Sommer den zermürbenden

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Zit. nach Tagebucheintrag vom 25. Februar 1975, ebd., S. 325. Am 15. April 1975 im Unterhaus, Hansard Vol. 889, Col. 284. Vgl. CASTLE, Diaries 1974–76, S. 682. BARNETT, Treasury, S. 81.

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Kampf um Sparmaßnahmen mit seinen Ministerkollegen aufnahm. Bei dieser Auseinandersetzung hatte er nicht nur die Parteilinke und die Minister der ausgabenintensiven Ressorts gegen sich, sondern auch Crosland, der wie Healey eigentlich dem rechten Flügel angehörte. Da Crosland aber der Ansicht war, das Wesen des Sozialismus sei Umverteilung durch Staatsausgaben, wehrte er sich bis zu seinem plötzlichen Tod 1977 heftig gegen den Sparkurs, in dem er einen Verrat an seinen Überzeugungen erblickte.121 Tatsächlich bedeutete Healeys Kurswechsel eine bewußte Abkehr von der keynesianischen Orthodoxie der Nachkriegsjahrzehnte. „I abandoned Keynesianism in 1975“, schrieb er im Rückblick und begründete seine Entscheidung mit zwei entscheidenden Schwächen von Keynes’ Theorien: Sie blendeten den ökonomischen Einfluß gesellschaftlicher Organisationen wie der Gewerkschaften aus; deswegen könne eine keynesianische Wirtschaftspolitik nicht ohne strikte Kontrolle der Löhne und Gehälter auskommen. Außerdem ignorierten sie die weltwirtschaftlichen Verflechtungen der modernen Volkswirtschaften. Ein vergleichsweise kleines exportabhängiges Land wie das Großbritannien der siebziger Jahre müsse in einer Welt flexibler Wechselkurse anderen Regeln gehorchen als die britische Weltmacht im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Keynes konnte in dieser Situation nicht weiterhelfen, schrieb er später. Dessen Konzept des Nachfragemanagements sei unzuverlässig geworden.122 Letztlich gelang es Healey, sich mit seinen Forderungen nach Einsparungen durchzusetzen. Doch stimmte das Kabinett im November 1975 nur Kürzungen in Höhe von drei Milliarden Pfund für das Haushaltsjahr 1977/1978 zu, nicht den vom Schatzamt geforderten 3,75 Milliarden. Selbst das verkleinerte Sparpaket brachte die Regierung an den Rand des Abgrunds. Als die Maßnahmen im Frühjahr 1976 im Unterhaus zur Abstimmung anstanden, konnte sie sich gegen die rebellierende Parteilinke nur durchsetzen, indem Wilson die Vertrauensfrage stellte.123 Healeys zaghafte Versuche einer Konsolidierung des Haushalts blieben auf halbem Wege stecken. Daher kam es 1976 trotz des glücklich begonnenen Kurswechsels zu der von ihm befürchteten Währungskrise, in deren Verlauf die Regierung sich gezwungen sah, den IWF um einen Kredit zu bitten und dafür strenge Auflagen in Kauf zu nehmen. So komplex und kompliziert die Geschichte 121

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Die Parteilinke sah das genauso. Einer ihren prominenten Verteter erklärte später: „Once we said we could bring down inflation by cutting public expenditure and the welfare state, it was a betrayal of socialism;“ Dennis Skinner, zit. nach HOLMES, Labour, S. 68; siehe auch DELL, Chancellors, S. 419. Vgl. HEALEY, S. 379. Siehe HOLMES, Labour, S. 67–73.

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der Krise im einzelnen war, läßt sie sich letztlich auf einen einfachen Nenner bringen: Die vielfältigen und anscheinend dauerhaften Krisensymptome der britischen Volkswirtschaft – steigende Arbeitslosgkeit, ein chronisches Zahlungsbilanzdefizit, anhaltende Inflation, ein zunehmend schwacher Pfundkurs, offenkundig außer Kontrolle geratene Staatsausgaben und stetig wachsende Haushaltsdefizite – alarmierten schließlich die Anleger. Die internationalen Kreditgeber, die erstaunlich lange und sorglos Geld in London angelegt hatten, zogen ihr Kapital ab und verweigerten weitere Kredite. Schließlich blieb nur noch der IWF als letzter zahlungswilliger Kreditgeber.124 Schon bei einem Treffen Anfang August 1975 wurden sich Healey und seine Mitarbeiter klar, daß eine Finanzierung der Haushaltslücken für das Jahr 1975 durch private Kapitalgeber unwahrscheinlich sei. Zum ersten Mal dachte man über eine Kreditanfrage beim IWF nach.125 Vier Monate später bat der Schatzkanzler offiziell um eine Kreditvereinbarung, die ihm ohne weitere Auflagen gewährt wurde.126 Der Kredit reichte jedoch nicht aus, um das Vertrauen des Marktes in die britische Kreditwürdigkeit wiederherzustellen. Anfang März lösten drei völlig voneinander unabhängige Ereignisse – Spekulationen über einen bevorstehenden Kursverlust des Pfundes, eine Ankündigung der nigerianischen Regierung, ihre Auslandsguthaben nicht mehr vorrangig in Pfund anzulegen, sowie die von Wilson im Unterhaus gestellte Vertrauensfrage – eine Kettenreaktion aus: Die internationalen Anleger begannen, Pfund zu verkaufen, der Kurs verfiel dramatisch, und alle Versuche der Bank of England, den freien Fall der Währung zu bremsen, blieben erfolglos. Bis Anfang Juni sank der Wert des Pfundes, der zu Jahresbeginn bei 2,05 Dollar gelegen hatte, auf 1,70 Dollar. Um die nun deutlich unterbewertete britische Währung zu stützen, organisierten die europäischen Zentralbanken im Juni einen stand by-Kredit über insgesamt 5,3 Milliarden Dollar, zu dem die amerikanische Federal Reserve Bank zwei Milliarden beitrug. Diese Beteiligung erlaubte es den Amerikanern, die sich besorgt über die britische Entwicklung zeigten und weltweite Auswirkungen fürchteten, Bedingungen zu stellen. Präsident Fords Bevollmächtigter in den Verhandlungen, Ed Yeo, und US-Finanzstaatssekretär William Simon, von dem Healey später meinte, er sei „far to the right of Genghis 124

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Siehe KATHLEEN BURK und ALEC CAIRNCROSS, „Goodbye, Great Britain“. The 1976 IMF Crisis, New Haven, London 1992; EDMUND DELL, A Hard Pounding. Politics and Economic Crisis 1974–76, London 1991; MIDDLEMAS, Power, S. 150–6. DELL, Pounding, S. 193. Vgl. BURK und CAIRNCROSS, S. 16–9; DELL, Pounding, S. 193–9; GARRITSEN DE VRIES, S. 343–9.

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Khan“127, beharrten darauf, daß der Kredit nur einmal verlängert werden konnte und spätestens bis zum 9. Dezember 1976 zurückzuzahlen war. Sollte dies nicht möglich sein, mußte die britische Regierung den IWF um einen längerfristigen stand by-Kredit bitten, der – soviel war inzwischen klar – nur unter strengen Auflagen gewährt werden würde.128 Der Regierung Callaghan blieb somit ein knappes halbes Jahr, um die Finanzmärkte von der Solidität ihrer Politik zu überzeugen. Konkret bedeutete dies eine neue zermürbende Runde von Kürzungsverhandlungen im Kabinett, die wieder mit einem Kompromiß endete. Statt der von Healey geforderten zwei Milliarden Pfund, wurden die Staatsausgaben um eine Milliarde gekürzt; Zugewinne in Höhe einer weiteren Milliarde erzielte man durch Steuererhöhungen sowie einen zweiprozentigen Aufschlag auf den Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung.129 Die Märkte ließen sich durch diese Maßnahmen, die man weiterhin als halbherzig einschätzte, nicht überzeugen. Schon im September kam es zu einer neuen SterlingKrise. Das Pfund stürzte von 1,77 Dollar im August auf 1,64 Dollar am 28. September. Healey, der sich am Morgen dieses Tages auf dem Weg zum Flughafen befand, um von dort zur IWF-Jahreskonferenz nach Manila zu fliegen, machte auf dem Absatz kehrt, berief eine Sondersitzung des Schatzamtes ein und entschied nach Absprache mit dem Premierminister, mit der Ankündigung eines Kreditantrags beim IWF an die Öffentlichkeit zu treten.130 Die Kreditsumme von 3,9 Milliarden Pfund, die er vorschlug, war die höchste, die bis dahin jemals beim Währungsfond beantragt worden war. Da dessen Mittel nicht ausreichten, um sie bereitzustellen, mußten die Bundesrepublik und die Vereinigten Staaten gebeten werden, Teile der Summe beizusteuern. Beide Länder erhielten dafür ein Mitspracherecht bei der Aushandlung der Vergabebedingungen. Als das IWF-Team, das die Verhandlungen über diese Bedingungen mit der britischen Regierung führen sollte, Anfang November in London eintraf, ließ es verlauten, es halte zusätzliche Ausgabenkürzungen in Höhe von drei Milliarden Dollar 1977/78 und vier Milliarden Dollar 1978/79 für notwendig.131 127 128

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HEALEY, S. 419–20. Yeo erklärte: „The trouble with Britain was that people had a higher standard of living than the country was earning. The Tories had lost control of monetary policy and after 1974 Labour lost control of budgetary policy. [. . .] Our role was to persuade the British that the game was over“; zit. nach STEPHEN FAY und HUGO YOUNG, The Day the Pound Nearly Died, London 1978, S. 12–3. Siehe LEO PLIATZKY, Getting and Spending: Public Expenditure, Employment and Inflation, Oxford 1982, S. 149; BURK und CAIRNCROSS, S. 47–50; DELL, Pounding, S. 228–30. Ebd., S. 234–9; BURK und CAIRNCROSS, S. 53–8. PLIATZKY, S. 53.

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Crosland, der wichtigste Kritiker dieser Bedingung innerhalb der Regierung, beharrte auf seinem Standpunkt, weitere Sparmaßnahmen bedeuteten einen Ausverkauf des Sozialismus: „Even if the Government survives, does it make such a difference if Labour measures can’t be implemented?“ Darüber hinaus glaubte er, Kürzungen schadeten der britischen Volkswirtschaft. Sie würden den Kreditbedarf der öffentlichen Hand nicht senken, sondern steigern, erklärte er im Kabinett. Kürzungen würden zu steigender Arbeitslosigkeit führen, die ihrerseits höhere Ausgaben im Sozialetat und geringere Steuereinnahmen zur Folge hätte. Außerdem seien die Sparmaßnahmen für die Gewerkschaften, insbesondere im öffentlichen Dienst, vollkommen inakzeptabel und würden den bereits brüchigen „Social Contract“ völlig zum Einsturz bringen. Das einzige ernstzunehmende Argument sah Crosland im Vertrauen der internationalen Märkte. „But what would happen to confidence if the Government bowed down and accepted the package, and as a result the Social Contract broke, and the smouldering resentment of the PLP meant that the Government could not deliver its cuts in the House of Commons?“, fragte er.132 Er plädierte statt dessen dafür, alle Forderungen des IWF abzulehnen, die Nerven zu bewahren und darauf zu vertrauen, daß man den Kredit auch ohne Bedingungen erhalten werde.133 Der Schatzkanzler hingegen glaubte nicht daran, daß sich der IWF, die Vereinigten Staaten oder die Bundesrepublik bluffen ließen. Er verwies in der entscheidenden Kabinettssitzung am 2. Dezember darauf, daß in wenigen Tagen der stand by-Kredit über 1,6 Milliarden Dollar zurückgezahlt werden müsse. Alles andere als die von ihm vorgeschlagenen Kürzungen würde nicht ausreichen, um das Vertrauen der Märkte zurückzugewinnen, selbst wenn der IWF einer anderen Lösung zustimmte.134 Nach langen, teilweise hitzigen Beratungen schlug sich der anfangs zögernde Premierminister auf Healeys Seite, und die Ministerrunde stimmte mehrheitlich der Forderung des Schatzamtes zu, die inzwischen modifizierten Vorschläge des IWF zu akzeptieren. Daraufhin schickte der Schatzkanzler am 15. Dezember einen vom Kabinett abgesegneten Letter of Intent an den IWF, in dem er unter anderem eine deutliche Reduzierung der Staatsausgaben sowie eine Verringerung der Neuverschuldung ankündigte. Um diese Ziele zu errei132 133

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CROSLAND, Crosland, S. 376–8. Den Amerikanern und Deutschen wollte Crosland drohen, andernfalls die britische Rheinarmee abzuziehen, aus der EG auszutreten oder sich nicht länger in Zypern zu engagieren; siehe Tagebucheintragungen vom 23. November und 1. Dezember 1976, in: BENN, Tide, S. 654, 667. Vgl. DELL, Pounding, S. 269. Vgl. auch Tagebucheintragung vom 2. Dezember 1976, in: BENN, Tide, S. 470–1.

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chen, versprach die Regierung, die Ausgaben der öffentlichen Hand 1977/78 um zusätzliche 1,5 Milliarden Pfund und 1978/79 um weitere zwei Milliarden zu kürzen.135 Im Hinblick auf den Zusammenbruch der britischen Nachkriegsordnung und die Entstehung des Thatcherismus sind drei Auswirkungen der IWFKrise wichtig. Erstens wurde sie zum Inbegriff des britischen Niedergangs und zur einprägsamen Mahnung, daß Vergleichbares nicht noch einmal geschehen dürfe.136 In einem Land, das wie kaum ein zweites die nationale Unabhängigkeit glorifizierte und Souveränitätsverluste verabscheute, wurde der Umstand, daß die Regierung ihrer Majestät eine nicht-britische Institution wie den IWF um Hilfe bitten und sich deren Politik aufzwingen lassen mußte, als tiefe Demütigung empfunden.137 Zweitens markierte die IWFKrise einen Gezeitenwechsel in der britischen Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit, wie Kathleen Burk und Alec Cairncross in ihrer Studie der Krise schrieben.138 Der Herbst 1976 erlebte den endgültigen Bankrott von Croslands Vision eines sorgenfreien, sozialdemokratischen Keynesianismus’. Immer mehr Labour-Politiker begannen, dies offen zuzugeben. Selbst Croslands enger politischer Freund Callaghan, keineswegs ein Befürworter harscher Sparpläne, sah sich auf dem Höhepunkt der Sterlingkrise Ende September gezwungen, den Delegierten des Labour-Parteitags zu verkünden: For too long, perhaps ever since the war, we postponed facing up to fundamental choices and fundamental changes in our society and in our economy. That is what I mean when I say we have been living on borrowed time [. . .] We used to think that you could spend your way out of a recession and increase employment by cutting taxes and boosting government spending. I tell you in all candour that that option no longer exists, and insofar as it ever did exist, it only worked on each occasion since the war by injecting a bigger dose of inflation into the economy, followed by a higher level of unemployment as the next step.139 135 136

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Der „Letter of Intent“ ist abgedruckt in: BURK und CAIRNCROSS, S. 229–36 (S. 231); zu den Details des Briefes siehe DELL, Pounding, S. 272–5. „No single event“, schrieb der amerikanische Historiker Charles Dellheim, „provided more dramatic proof of the extent and consequences of the eclipse of British power than the IMF loan“; CHARLES DELLHEIM, The Disenchanted Isle. Mrs. Thatcher’s Capitalist Revolution, New York 1995, S. 105. Im Jahr zuvor hatte Großbritannien im Zusammenhang mit dem Referendum über den Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft einen Wahlkampf erlebt, in dem die Frage der Souveränität eine herausragende Rolle spielte; vgl. DAVID BUTLER und UWE KITZINGER, The 1975 Referendum, London, Basingstoke 1976, neuerdings auch HUGO YOUNG, This Blessed Plot. Britain and Europe from Churchill to Blair, London, Basingstoke 1998, S. 293–6. BURK und CAIRNCROSS, S. XI. Zit. nach CALLAGHAN, S. 425–6. Bis Anfang Dezember blieb offen, ob Callaghan die tiefere Bedeutung seiner Rede, die in weiten Passagen von seinem Schwiegersohn Peter Jay verfaßt

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Drittens zeitigte die Krise endlich Erfolge bei der Konsolidierung des Haushalts, beim Kampf gegen die Inflation und den Kursverfall des Pfundes. Die entsprechenden Daten verbesserten sich in den folgenden Monaten rapide.140 Die britische Volkswirtschaft erholte sich so rasch, daß die Regierung Ende 1977 einer Anfrage des IWF zustimmen konnte, den Rest des Kredites, der ihr noch zustand, nicht in Anspruch zu nehmen.141 Die britischen Wähler honorierten dies zunächst kaum. Nach der IWFKrise sackte die Labour-Partei in Umfragen auf ein Rekordtief nach dem anderen. Außerdem verlor sie entscheidende Nachwahlen, die sie im April 1977 ihrer Mehrheit im Parlament beraubten. Callaghan gelang es nur, Premierminister zu bleiben, indem er eine informelle Koalition mit der Liberalen Partei einging, die zu diesem Zeitpunkt Neuwahlen noch mehr fürchteten als Labour.142 Auch innerhalb der Partei brachte das Ende der Krise Healey keinen Beifall. Nicht der Aufschwung der britischen Wirtschaft war für die Mehrzahl der Aktivisten wichtig, sondern die Aufgabe überkommener Positionen. Nicht die Überwindung der Krise prägte sich ein, sondern die Tatsache, daß ein Labour-Schatzkanzler seinen Nacken unter das Joch des IWF gebeugt hatte. In einem ungewöhnlichen Schulterschluß prangerten die extreme Linke der Partei und die keynesianischen Sozialdemokraten die Sparmaßnahmen als Verrat sozialistischer Ideale an. Auf diese Weise trug die Krise dazu bei, die Labour-Partei auf ihrem Weg nach links, der Jahre zuvor begonnen hatte, noch ein Stück weiter zu treiben.143 Die Linke innerhalb der Labour-Partei, die sich aus Intellektuellen der Mittelschichten, klassenbewußten Arbeitern und radikalen Gewerkschaftsfunktionären zusammensetzte, befand sich seit der Wahlniederlage vom

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worden war, wirklich begriffen hatte; der Premierminister schlug sich erst im allerletzten Moment eindeutig auf die Seite seines Schatzkanzlers; vgl. DELL, Pounding, S. 237, 277–80. Der Diskontsatz sank zwischen Oktober 1976 und Oktober 1977 von 15 auf fünf Prozent. Das Pfund gewann dramatisch an Wert: Anfang 1977 erreichte es bereits wieder die Marke von 1,70 Dollar, am Ende des Jahres war es 1.90 Dollar wert. Die Währungsreserven vermehrten sich im selben Zeitraum von 4,1 auf 20,6 Milliarden Pfund. Die Inflationsrate, die 1975 noch bei fast 25 Prozent gelegen hatte, betrug 1976 nur noch 15 Prozent und sank 1977 auf zehn Prozent. Auch andere Wirtschaftsdaten stimmten optimistisch. Die Zahl der Arbeitslosen, die 1975 um 500 000 zugenommen hatte, stieg im Jahr darauf nur noch um 170 000 und 1977 um weitere 100 000; im Jahr 1978 zeigte die Kurve der Statistik zum erstenmal wieder nach unten, während gleichzeitig die industrielle Produktion zunahm. 1978 lag die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts bei etwas über drei Prozent; vgl. DELL, Pounding, S. 281, 285–6. Im Rückblick betrachtet muß man allerdings feststellen, daß die Krise nicht den Beginn der Konsolidierung markierte, sondern lediglich deren Durchbruch. In dieser Hinsicht erwies sich Croslands Position als richtig; so auch BURK und CAIRNCROSS, S. 15–6. Vgl. ALISTAIR MICHIE und SIMON HOGGART, The Pact, London, New York 1978. Vgl. DELLHEIM, S. 106.

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Juni 1970 auf dem Vormarsch. „[W]hat is needed is a strong shift leftwards“, faßte der Labour-Politiker Michael Foot in einem Artikel für die Zeitschrift Tribune die Lehren zusammen, die seine Partei aus der Wahlniederlage ziehen müsse.144 Er und andere Vertreter des linken Flügels gewannen im Verlauf der siebziger Jahre immer mehr Einfluß auf die Programmatik der Partei und prägten zunehmend ihr Gesicht.145 Sie waren sich keineswegs in allen politischen Fragen einig, teilten jedoch die Überzeugung, daß die Labour-Regierungen der Vergangenheit versagt hatten und auch in Zukunft scheitern würden, wenn es ihnen nicht gelänge, einen grundlegenden Wandel der britischen Wirtschaft und Gesellschaft herbeizuführen. Keynes war ihrer Ansicht nach ebenso tot wie der angebliche parteiübergreifende Konsens, der seine wirtschafts- und sozialpolitischen Ideen während der vorausgegangenen zwei Jahrzehnte in die Praxis umgesetzt hatte. Daß diese Ansicht innerhalb der Partei an Boden gewann, lag nicht zuletzt an der verbreiteten Enttäuschung über die Leistungen der LabourRegierungen in den sechziger Jahren. Anstatt das Land in eine Zeit wirtschaftlicher Stabilität und Prosperität zu führen, die Klassenschranken durch Umverteilung zu überwinden und ein neues Zeitalter des Überflusses anbrechen zu lassen, mußten die Wilson-Administrationen zwischen 1964 und 1970 mit ökonomischer Stagnation, sinkenden Wachstumsraten, steigenden Arbeitslosenzahlen und häufigen Streiks kämpfen. Labour hatte als Regierungspartei eine pragmatische Politik gemacht, glaubte die Linke, die sich kaum von derjenigen ihrer konservativen Vorgänger unterschied und auch nicht spürbar erfolgreicher war. Das bewies in ihren Augen, wie begrenzt die Möglichkeiten waren, den Kapitalismus durch graduelle Reformen zu verändern.146 Begünstigt wurde der Vormarsch der Linken durch den Umstand, daß Klassenkampfideen in der britischen Arbeiterbewegung stärker verwurzelt waren als etwa in der Bundesrepublik. Auch wenn die marxistisch-revolutionäre Tradition in Großbritannien keine so große Rolle spielte wie in Deutschland, war es dem gemäßigten Flügel um Crosland dennoch nie gelungen, seine reformerisch-sozialdemokratischen Ansichten in einem Parteiprogramm festzuschreiben. Ihr „Godesberg“ sollte die Labour-Partei erst in den neunziger Jahren erleben. 144 145 146

Zit. nach MICHAEL HATFIELD, The House the Left Built. Inside Labour Policy-Making, London 1978, S. 39. Dazu zählten der Marxist Ian Mikardo, Eric Heffer aus Liverpool, der marxistische Wirtschaftstheoretiker Stuart Holland, vor allem aber der frühere Technologieminister Tony Benn. STUART HOLLAND, Keynes and the Socialists, in: ROBERT SKIDELSKY (Hrsg.), The End of the Keynesian Era. Essays on the Disintegration of the Keynesian Political Economy, New York 1977, S. 67–77 (S. 75); vgl. auch HATFIELD, S. 19.

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Überdies strömten in den sechziger Jahren in Großbritannien, ähnlich wie in anderen westeuropäischen Ländern, auch in der Bundesrepublik, junge Menschen in die Partei, die nicht aus Arbeiterfamilien stammten, häufig akademisch gebildet und an theoretischen Fragen interessiert waren. Durch diese „Neue Linke“ erhielt der linke Labour-Flügel Zulauf, während die Mitgliederzahl der Partei insgesamt seit den fünfziger Jahren abnahm.147 Die neuen Parteimitglieder brachten oft eine intellektuelle Begeisterungsfähigkeit – man kann auch sagen: ein Ideologiebedürfnis – mit, das vom Pragmatismus der keynesianischen Sozialdemokratie nicht befriedigt wurde. Eine Generation sozialistischer Intellektueller, die weder die Schrecken der Stalinzeit noch die Reformen und die Mangelverwaltung der Attlee-Regierung bewußt miterlebt hatte, entdeckte Marx’ Schriften neu.148 Auftrieb erhielt die Parteilinke auch durch die Politik der Heath-Regierung. Die Konfrontation der Tories mit den Gewerkschaften machte es ihr möglich, sich in den zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen demonstrativ auf die Seite der Arbeiter zu schlagen. Insbesondere dem ehemaligen Technologieminister Tony Benn gelang es auf diese Weise, sich als Volkstribun zu profilieren.149 Aus den Kehrtwendungen der Heath-Regierung schlug er ebenfalls politisches Kapital. Er deutete ihre Kurswechsel als Ausdruck unausweichlicher ökonomischer und politischer Trends. Der Zwang zu staatlicher Intervention und die Notwendigkeit zentraler Planung, argumentierte er im März 1973 in einem Artikel in der Sunday Times, „have been accepted as necessary despite a genuine political reluctance which Heath and his colleagues somehow have had to overcome“. In der Zukunft müßten sich Unternehmer zunehmend am Willen der Regierung orientieren und immer weniger an den Kräften des Marktes. Die Debatte über das Für und Wider des Interventionismus sei zugunsten einer Politik staatlicher Eingriffe entschieden. In dieser Entwicklung sah er einen entscheidenden Gewinn für die sozialistische Sache. „Heath has performed a very important historical role in preparing for the fundamental and irreversible transfer in the balance of power and in wealth which has to take place“, schrieb er.150

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Siehe etwa JENKINS, S. 108–9. Siehe STUART HOLLAND, Keynes and the Socialists, in: SKIDELSKY (Hrsg.), Keynesian Era, S. 67–77 (S. 75). Seine Teilnahme am „Work in“ streikender Werftarbeiter und seine Unterstützung der sogenannten „Pentonville Five“, jener fünf Dockarbeiter, die wegen ihres Widerstands gegen die Gewerkschaftsgesetzgebung der Konservativen inhaftiert wurden, waren spektakuläre Erfolge; vgl. JAD ADAMS, Tony Benn, 1992, S. 323–4. Sunday Times, 27. März 1973.

1. Die Krise der Nachkriegsordnung

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Je deutlicher gegen Mitte der siebziger Jahre die Schwäche der britischen Wirtschaft zutage trat, desto offenkundiger erschien den marxistischen Intellektuellen der Bankrott nicht nur des Kapitalismus, sondern auch des Reformkapitalismus à la Keynes. „Not until the past few months“, schrieb ein Kommentator 1975 im New Statesman, „have I come to believe that we are really living through the last days of capitalism. But I begin to be convinced of it now.“151 Etwa zu derselben Zeit stellte Stuart Holland, ein führender Kopf der „Neuen Linken“, in seiner einflußreichen Schrift The Socialist Challenge fest, zehn Jahre keynesianischer Orthodoxie unter Labour und Tories hätten die Wirtschaft nicht gerettet, sondern tiefer in die Krise gestürzt.152 Zwei Jahre später legte er unter dem Eindruck von Healeys Sparpolitik dar, wie der Druck des Weltmarktes und des internationalen Kapitals jeden weiteren Anstieg öffentlicher Ausgaben und damit eine Fortsetzung des keynesianischen Sozialdemokratismus Crosland’scher Prägung unmöglich mache. In einer bemerkenswerten Parallele zu den Forderungen Thatchers, verlangte auch Holland, die Politik müsse sich wieder stärker der Angebotsseite der Volkswirtschaft zuwenden. Freilich dachte er dabei nicht wie die Tory-Politikerin an die Förderung freier Unternehmer, sondern an den Übergang von der keynesianisch-indirekten zu einer direkten staatlichen Intervention ins Wirtschaftsleben.153 Konkret bedeutete dies, daß überwunden geglaubte Themen wie umfassende Verstaatlichungen und zentrale Planungsstrategien wieder in den Debatten der Labour-Partei, auf den Tagesordnungen ihrer Parteitage und in den Diskussionen ihrer Gremien auftauchten. Praktische Bedeutung gewannen diese Ideen, die sich zunächst eher an der Parteibasis als in der Unterhausfraktion ausbreiteten, über das National Executive Committee, das zwischen den Parteitagen als höchstes Parteiorgan fungierte, politische Stellungnahmen formulierte und Resolutionen verfaßte.154 Schon während der sechziger Jahre verschoben sich die Gewichte innerhalb der Kommission zugunsten der Linken, die im Gegensatz zu ihren innerparteilichen 151 152 153

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New Statesman, 6. Juni 1975. STUART HOLLAND, The Socialist Challenge, London 1975, S. 14. „[T]he crisis of British capitalism“, schrieb er, „needs wider-ranging economic, social and political change than ever Keynes considered necessary. It arguably demands fundamental and effectively revolutionary reforms in the balance of public and private power which only new public enterprise and social planning could ensure;“ STUART HOLLAND, Keynes and the Socialists, in: SKIDELSKY (Hrsg.), Keynesian Era, S. 67–77 (S. 77). Ihm gehörten außer dem Parteiführer und seinem Stellvertreter zwölf Gewerkschafter, sieben Repräsentanten der verschiedenen regionalen Parteigliederungen, fünf Vertreterinnen der sozialistischen Frauen, ein Mitglied der „Socialist Societies“, der Schatzmeister sowie seit 1972 ein Vertreter der Jungsozialisten an.

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Gegnern regelmäßig und aktiv an den Sitzungen teilnahmen.155 Auf diese Weise gelang es ihr während der Jahre 1970 bis 1974, die programmatische Arbeit in den verschiedenen Unterkommissionen zu dominieren. Wichtigste Ergebnisse der Bemühungen war Labour’s Programme for Britain von 1973 und das Wahlkampfmanifest vom Februar 1974, die zum Entsetzen der gemäßigten Mehrheit des Schattenkabinetts zur offiziellen politischen Linie der Partei erhoben wurden. Sie verpflichteten eine spätere LabourRegierung auf eine Politik, die außer umfassenden Verstaatlichungen auch Planungsvereinbarungen des Staates mit Großbetrieben sowie eine weitreichende neue Industriegesetzgebung umfaßte.156 Nach Labours überraschendem Wahlsieg im Februar 1974 triumphierte der linke Flügel der Partei. In seinen Augen bewies der Sieg, daß ein extremes Programm die Wahlchancen der Partei verbesserte, nicht beeinträchtigte.157 Die sogenannte harte Linke war in Wilsons Kabinett durch Tony Benn vertreten, zunächst Handels- und Industrie-, später Energieminister. Während des Jahres 1974 investierten er und seine Anhänger ihre Energie in die Umsetzung jener wirtschaftspolitischen Strategie, die sie in den Oppositionsjahren ausgearbeitet hatten. Dabei waren sie so sehr mit Planungsvereinbarungen, Arbeiterkooperativen und Verstaatlichungsplänen beschäftigt, daß sie die neue Herausforderung durch Inflation, Haushaltsdefizit und Arbeitslosigkeit zunächst gar nicht nicht bemerkten.158 Erst Anfang 1975 fingen sie an, sich Gedanken über mögliche politische Strategien zur Bekämpfung der Krise zu machen. Bei einem Treffen in Benns Ministerium im Januar 1975 diskutierten sie erstmals Gegenmodelle zum Sparkurs, den man zur gleichen Zeit im Schatzamt auszuarbeiten begann. Benn präsentierte ein Diskussionspapier, in dem er die Grundlinien eines Alternativkurses skizzierte.159 Darin räumte er die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit einer schweren weltweiten Rezession, fortbestehender Zahlungsbilanz- und Haushaltsdefizite, einer Serie von Insolvenzen und Firmenschließungen sowie steigender Arbeitslosigkeit und Inflation ein. Um dieser Krise Herr zu werden, schlug der Politiker ein Maßnahmenbündel vor, dessen Schwer-

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Vgl. HATFIELD, S. 22–3, der auch die Entwicklung der programmatischen Arbeit in den verschiedenen Unterkommissionen nachzeichnet. Vgl. HOLMES, Labour, S. 35–8. „I find my differences with the Communist Party nowadays [. . .] negligible“, schrieb etwa der Abgeordnete Syd Bidwell, der der „Tribune Group“ innerhalb der Labour-Fraktion angehörte; in: Morning Star, 28. Juni 1977. „[T]he left didn’t have a policy line on inflation“, erinnerte sich einer von ihnen später. „We had a negative reaction to it“; Ian Mikardo zit. nach HOLMES, Labour, S. 12. Tagebucheintrag vom 16. Januar 1975, in: BENN, Tide, S. 302.

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punkt auf der Rettung von Arbeitsplätzen und dem Schutz der britischen Industrie liegen sollte und das dafür bewußt eine langsamere Verbesserung der Zahlungsbilanz in Kauf nahm.160 Aus dem Diskussionspapier entwickelte sich während der folgenden Monate die sogenannte Alternative Economic Strategy, die Benn im Kabinett als radikalen Gegenentwurf zu Healeys Sparkurs verfocht, nachdem er den keynesianischen Mittelweg als illusorisch abgetan hatte. Es gebe zwei grundsätzliche Optionen, erklärte er, Healeys und seine eigene. „[T]here is a very big choice to make.“161 Der Minister verhehlte nicht, daß sein Lösungsvorschlag beträchtliche Risiken in sich barg. Er werde die Außenbeziehungen des Landes belasten, möglicherweise zu wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen führen. Wahrscheinlich würde die Mittelschicht rebellieren und das Verhältnis zur Arbeiterbewegung belastet werden.162 Dennoch sah er in seiner Linie die einzige Möglichkeit für die Labour-Partei, ihre Glaubwürdigkeit und die Chancen auf einen Sieg bei den nächsten Unterhauswahlen zu wahren. Man könne den Arbeitern nicht unbegrenzt neue Lasten aufbürden, ohne Gefahr zu laufen, irgendwann ihre Unterstützung zu verlieren – insbesondere wenn die Erfolge der Sparpolitik auf sich warten ließen. Die einzige Chance des britischen Sozialismus bestand in Benns Augen darin, das Land von den Zwängen des Weltmarktes abzuschotten, sich im Schutze hoher Zölle und Importbeschränkungen zu regenerieren und auf bessere Zeiten zu warten. „[P]rotectionism is a perfectly respectable course of action“, erklärte er. „You withdraw behind walls and reconstruct and re-emerge.“163 Benn gelang es nicht, seine Pläne innerhalb des Kabinetts durchzusetzen. Schon die weitreichenden Verstaatlichungspläne des Jahres 1974 scheiterten am hinhaltenden Widerstand des Premierministers und der pragmatischen Kabinettsmehrheit.164 Der Politiker verlor im Sommer 1975 seinen Posten als Industrie- und Handelsminister und mußte sich mit dem weniger einflußreichen Energieressort zufrieden geben.165 Seine Alternative

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Zu den wichtigsten Einzelmaßnahmen der Strategie zählten „selective assistance to industry on a larger scale [. . .], selective import restrictions through quotas and high tariffs [. . .]; rationing and allocation of some imported materials and fuel; [. . .] tax increases on the basis of real equality of sacrifice, e. g. by surcharges on net income and on capital; [. . .] controls on banks and other financial institutions“; siehe Appendix IV: The Alternative Economic Strategy in Outline, in: BENN, Tide, S. 725–7. Tagebucheintrag vom 2. Dezember 1976, ebd, S. 663. Tagebucheintrag vom 25. Februar 1975, ebd., S. 325. Tagebucheintrag vom 7. Oktober 1976, ebd.; S. 621. Vgl. HOLMES, Labour, S. 54. Zum Hintergrund von Benns Absetzung vgl. WILSON, S. 143–4; BENN, Tide, S. 393–6; CASTLE, Diaries 1974–76, S. 410–1.

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Economic Strategy lehnte das Kabinett im Dezember 1976 ab, als es sich entschied, Healeys Sparkurs und die Kreditbedingungen des IWF zu akzeptieren.166 Trotz dieser Kette von Mißerfolgen verpufften die Aktivitäten der sozialistischen Linken keineswegs ohne Wirkung. So erfolglos sie innerhalb des Kabinetts agierte, so mächtig war sie auf den Parteitagen und im NEC, wo ihr Einfluß beständig wuchs. Gerade aus ihren Niederlagen im Kabinett gewann sie Kraft. „[T]hings will have to get worse before they get better“, vertraute Benn im Juli 1977 seinem Tagebuch an. „In fact the big reforms I am interested in are mid-Eighties reforms and can’t be implemented before then because the Government doesn’t believe in them“.167 Die Stimmungsentwicklung an der Parteibasis gab ihm recht. Je unzufriedener die Parteiaktivisten mit der Sparpolitik der Regierung wurden, umso attraktiver erschienen ihnen Benns Rezepte. Nicht nur Industriepolitik und Verstaatlichungspläne wurden populärer, auch die anderen Lieblingsthemen der Linken dominierten zunehmend die Beschlüsse der Parteitage. Ob es um das Versprechen einseitiger nuklearer Abrüstung ging, die Abschaffung des Oberhauses oder den Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft – an der Parteibasis setzten sich die Positionen der extremen Linken immer stärker durch.168 Je einflußreicher die Linke wurde, desto häufiger dachten gemäßigte Labour-Politiker und prominente Anhänger der Partei darüber nach, sich von ihr zu trennen, ins liberale oder konservative Lager überzuwechseln.169 Schon im Dezember 1972 schrieb der frühere Außenminister und VizeParteichef George Brown, der seit 1970 als Lord George-Brown dem Oberhaus angehörte, in der Times: „We have been taken over. And we have been taken over by a collection of people who call themselves ‚activists‘. But they are for the most part people who do not believe in our way of life or in our social democratic outlook.“170 Christopher Mayhew, Junior-Minister in den Regierungen von Attlee und Wilson, verließ Labour im Sommer 1974 und schloß sich der Liberalen Partei an. In einem Leserbrief an die Times begründete er seinen Entschluß ebenfalls mit dem Vormarsch der Linken.171 Reg

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Vgl. dazu Tagebucheintragungen vom 1. und 2. Dezember 1976, in: BENN, Tide, S. 661–80. Tagebucheintrag vom 18. Juli 1977, in: BENN, Conflict, S. 196. Siehe etwa DAVID und MAURICE KOGAN, The Battle for the Labour Party, London 1983, S. 26–72. Siehe hierzu etwa HARRISON, Rise, S. 307. The Times, 9. Dezember 1972. „The Left has advanced sharply in the Party in recent years“, so Mayhew. „The trend is shown plainly in the Party’s changed attitudes towards nationalization, Europe, trade union

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Prentice, bis 1975 Erziehungsminister im Wilson-Kabinett, danach Entwicklungshilfeminister, folgte zwei Jahre später. Nach heftigem Streit mit der Parteigliederung seines Wahlkreises trat er im Dezember 1976 von seinem Ministeramt zurück und schloß sich neun Monate danach der konservativen Unterhausfraktion an. Kurz darauf erläuterte er in einer Presseerklärung die Gründe für seinen Übertritt: The Labour Party has been moving away from its traditional ideals. There has been a growing emphasis on class war and Marxist dogma. Some of us have tried to swim against the tide. But we have watched too many of our fellow moderates making deals and compromises with the Left. [. . .] Britain has paid a heavy price for all the surrenders by Labour Ministers to the militant elements of the so-called Labour Movement.172

Lord Chalfont, zwischen 1964 und 1970 Staatsminister im Außenministerium, danach für Labour im Oberhaus, verließ die Partei bereits im September 1974. Vier Jahre später legte auch er seine Beweggründe dar. „The balance of influence in the government has changed dramatically“, schrieb er. Gemäßigte Politiker wie Wilson, Jenkins, Crosland und George Brown seien entweder tot, nicht mehr in Großbritannien aktiv oder hätten sich von der Partei abgewandt. „The voices which are now beginning to be raised most insistently in the councils of the government are those of the collectivists, the populists and extremists of the Left.“ Die marxistische Tribune Group habe Mitglieder und Einfluß gewonnen; etwa dreißig Unterhausabgeordnete seien mehr oder weniger offen kommunistisch.173 Er malte das Schreckbild einer kommunistischen Zukunft Großbritanniens an die Wand. Am Ende des Weges, den die Labour-Partei eingeschlagen habe, liege „a political system chillingly different from the one we enjoy today, one in which there is no respect for individual freedom. Under that system, membership of the Common Market and the Western Alliance would be inconceivable; we would have less in common with France, West Germany and Italy than with Poland, Czechoslovakia and East Germany.“174 Der Publi-

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power, the supremacy of Parliament, the media, the supremacy of the law, the independence of the Parliamentary Party, membership of Communist Front organizations, Chilean Marxism, picketing, law and order and so on“; The Times, 18. Juli 1974. Presseerklärung vom 9. Dezember 1977, zit. nach RANELAGH, S. 68. LORD CHALFONT, Our Security Menaced, in: PATRICK CORMACK (Hrsg.), Right Turn, London 1978, S. 44. Ähnlich argumentiert WOODROW WYATT, What’s Left of the Labour Party?, London 1977, S. 161–5. LORD CHALFONT, Our Security Menaced, in: CORMACK (Hrsg.), S. 48. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er einen Fernsehdokumentarfilm gedreht, der den Titel trug: „Who Says It Can Never Happen Here?“. Darin vertrat er die These, das Kommunistische Manifest werde Stück für Stück in Großbritannien in die Tat umgesetzt. Der Film endete mit dem Hinweis,

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zist Woodrow Wyatt, auch er ein ehemaliger Labour-Abgeordneter, beschrieb den Zustand der Partei in ähnlich düstereren Farben. Labour’s Programme for Britain 1976 sei ein furchteinflößendes Dokument, dessen Ziel darin bestehe, dem Staat immer mehr Macht über das Leben der Bürger zu verleihen, schrieb er 1977. „[It] is a Marxist and Trotskyist plan to extend the power of the State to a detailed control of the individual’s activities. [. . .] the aim is to leave the individual with nothing besides a little pocket money which he may be allowed to spend on cigarettes, drink, motoring and going to football matches.“175 Einen anderen Akzent setzte der Ökonom John Vaizey, der seit den vierziger Jahren sowohl auf lokaler als auch nationaler Ebene für die LabourPartei aktiv gewesen war. Bald nach Thatchers Wahl zur Parteiführerin schrieb er ihr in einem privaten Brief: [T]he nation is not divided by class or by sex or by race, but it is divided between the people who want to serve the nation by earning their own living, by giving voluntary services to the Community, and those who for purely selfish interests, in the trade unions or property developers, seek to make money for themselves and let the rest go to hell. It is divided between those who prudently wish to preserve their savings which they have seen, like myself, absolutely taken away by inflation and by penal taxation, and whose careful plans for their careers are utterly wrecked by the fact that things are changed overnight.176

Vaizey zögerte lange, seinen Gesinnungswandel öffentlich zu machen. Noch 1978 erhielt er auf Wilsons Vorschlag einen Sitz im Oberhaus. Bald darauf trat er jedoch aus der Partei aus und wechselte nach Thatchers Wahlsieg im Frühjahr 1979 in die konservative Fraktion über. Erst im Dezember 1980 kurz vor einer lebensgefährlichen Herzoperation rang er sich dazu durch, die Gründe für seinen Übertritt offenzulegen. Die grundlegenden Prinzipien des sozialdemokratischen Keynesianismus seien gescheitert, schrieb er in einem Leserbrief an die Times: There is no longer a set of social democrat ideas that will work. Keynesianism is intellectually dead. With our trade unions no incomes policy can ever work. With our state industries productivity will always be abysmal. Nobody [. . .] has the faintest idea how to redistribute income: the tax and benefit system is far too complex and arbitrary to yield a simple progressive result free from major anomalies. Social democratic theory is just plain wrong.177

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von den zehn Punkten des Manifests seien schon sieben verwirklicht; vgl. MIDDLEMAS, Power, S. 39, aber auch den Tagebucheintrag vom 20. Januar 1976, in: BENN, Tide, S. 501. WYATT, Left, S. 126–7. Zit. nach RICHARD COCKETT, Thinking the Unthinkable. Think-Tanks and the Economic Counter-Revolution 1931–83, London 1994, S. 228–9. The Times, 2. Dezember 1980.

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Thatcher profitierte von den Schwierigkeiten der Labour-Regierung auf verschiedene Weise. Sie nutzte die ökonomischen Turbulenzen der Jahre 1974 bis 1979, um den Briten wieder und wieder zu erklären, wie schädlich der „Sozialismus“ sei, den sie pauschal für alle Krisenphänomene verantwortlich machte. Inflation, Arbeitslosigkeit und die dramatische Währungskrise des Jahres 1976 dienten ihr als Anschauungsmaterial für die These, der Sozialismus sei die Wurzel allen Übels. Wenn der Keynesianismus der Sozialdemokraten innerhalb der Labour-Partei an seine Grenzen stieß, so deshalb, weil er auf sozialistischen Grundannahmen beruhte, behauptete sie. Wenn Healey sich innerhalb seiner Partei nicht durchsetzen konnte, lag das ihrer Ansicht nach daran, daß sein Sparkurs nicht mit den sozialistischen Zielen und Visionen der Labour-Partei in Einklang zu bringen war. Die radikale marxistische Alternative, für die die „Neue Linke“ eintrat, habe wenigstens den Vorzug, unverblümt zu zeigen, was in den anderen Spielarten nur verbrämt und verschämt zugestanden wurde. Thatchers Kunstgriff bestand darin, die Unterschiede zwischen den disparaten Strömungen und Tendenzen zu leugnen. In ihren Reden verschwammen die Grenzen zwischen den einzelnen Richtungen. LabourPartei, Sozialismus, Sozialdemokratie, Keynesianismus, Korporatismus, Kollektivismus, Kommunismus, Bolschewismus, Marxismus, traditionelle und „Neue“ Linke wurden mehr oder weniger gleichgesetzt. Dagegen setzte die Politikerin die Wiederbelebung des Lagerdenkens aus der Zeit des Kalten Krieges: einen „Konsens“ mit den Feinden der Freiheit gab es nicht; die alles entscheidende Trennlinie verlief zwischen Sozialisten und Antisozialisten. „We are, as it were, today on a ridge“, erklärte sie, from which streams flow down to different seas. The ridge-path itself is narrow, so that the springs of the streams are close together, as close, let us say, as those whom it is customary to call the ‚social democrats‘ seem to be on some important matters to the Conservatives. But actually the streams flow down in different directions: one stream flows to a dark cold sea of further collectivization, the other to the warm and bright sea of the Open Society.178

Thatchers Ansicht nach gab es „only two political philosophies, only two ways of governing a country“, wie sie auf dem CDU-Parteitag in Hannover im Mai 1976 erklärte: auf der einen Seite „den Sozialismus“, in dem der Staat vor den Interessen des Individuums rangierte, und auf der anderen Seite die freiheitliche Auffassung von Konservativen und Christdemokraten, bei

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Am 6. Mai 1978 vor der Bow Group in der Royal Commonwealth Society in London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 71–82 (S. 81–2).

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denen die Rechte, Pflichten und Fähigkeiten des einzelnen im Mittelpunkt stünden.179 Wenn man sich dies vor Augen hält, wird klar, warum die konservative Parteiführerin den Positionen der extremen Linken der Labour-Partei größere Bedeutung beimaß als den gemäßigten Kräften. Politiker wie Benn formulierten die Zielperspektive des Sozialismus, denen sich nach und nach auch Sozialdemokraten vom Schlage eines Healey annähern würden, ob sie wollten oder nicht.180 Die radikale Programmatik der Labour-Partei war in Thatchers Augen wichtiger als ihre pragmatische Regierungspolitik. Spätestens mit dem Parteiprogramm von 1976 habe sich die Partei dem Marxismus verschrieben, meinte sie: „It advocated nationalisation of banks, insurance companies, the ports, parts of the construction industry, food manufacturing, brewing and the pharmaceutical industries – and others. Now that’s a Marxist programme if I ever saw one.“181 Diese Forderungen hätten mehr mit der Programmatik der britischen Kommmunisten gemeinsam als mit den Vorstellungen kontinentaleuropäischer Sozialdemokraten, behauptete sie.182 Ziel der Labour-Linken sei es, Großbritannien in einen totalitären sozialistischen Staat umzuwandeln.183 Die zahlreichen Überläufer aus dem Labour-Lager, die entsetzt auf die zunehmende Radikalisierung ihrer Partei reagierten, verstärkten den Eindruck, diesmal arbeite der „Genosse Trend“ für die Rechte, der Zeitgeist sei auf Seiten der Konservativen. Thatcher erkannte, welche Chance sich ihr bot. Sie nahm die Überläufer mit offenen Armen auf und versuchte, auf diese Weise den Eindruck zu untermauern, die Tories seien die wahre Partei des Volkes, die Erben der positiven Traditionen der Arbeiterbewegung. „Today we are all working people“, erklärte sie den Delegierten des ToryParteitags im Oktober 1976. „Today it is the Conservatives and not the

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Am 25. Mai 1976 auf dem CDU-Parteitag in Hannover: News Service 544/76, S. 2–3. Die einzige Möglichkeit für desillusionierte Labour-Anhänger bestand ihrer Ansicht nach darin, die Seite zu wechseln und sich der Tory-Partei anzuschließen; vgl. Thatchers Neujahrsbotschaft in: Conservative Monthly News vom Dezember 1977; Auszüge in: News Service 1350/77. Am 11. Februar 1978 im Polygon Hotel in Southampton, News Service 161/77, S. 2. „It is a programme which is quite literally more extreme than the manifesto on which the Italian Communists fought their last election“, erklärte sie am 4. Februar 1978 auf der Conservative Local Government Conference in der Caxton Hall in London: News Service 143/78, S. 9. „Britain, beware! The signpost reads: This way to the total Socialist State“, erklärte sie den Delegierten der konservativen Parteikonferenz in Blackpool am 14. Oktober 1977: The National Union of Conservative and Unionist Associations, 94th Annual Conference Blackpool, 11th–14th October 1977, London 1977, S. 131–6 (S. 133).

1. Die Krise der Nachkriegsordnung

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Socialists who represent the true interests and hopes and aspirations of the working people.184 Umgekehrt erleichterte der Umstand, daß Thatcher an der Spitze der Konservativen Partei stand, vielen ehemaligen Labour-Anhängern den Übertritt ins andere Lager – vor allem weil sie selbst ein Außenseiter, kein Mitglied des Parteiestablishments war. „She did not seem much like a Tory“, schrieb Wyatt, „but she had the Tory Party to work for her, which was a useful start.“185 Zudem trieben sie ähnliche Sorgen um wie viele der enttäuschten Labour-Anhänger. „[She] struck a chord which was waiting to be struck“, erinnerte sich Lord Chalfont später. „All those fears of bureaucracy, of too much government, of the erosion of the freedom of the individual, fears of anarchy [. . .] she just came at a time when all these fears began to coalesce.“186 Prentice erinnerte sich später daran, wie feinfühlig Thatcher seinen Seitenwechsel im Unterhaus arrangieren ließ. Die Details von seinem ersten Auftritt als konservativer Abgeordneter wurden sorgfältig im voraus geplant. „She was concerned that the Conservative whips should organise some Members to be there“, berichtete er, „and she asked me which row I would go and sit in so that there would be a number of them there and they could give a cheer as I came in.“187 Auch Vaizey wurde von ihr geduldig und einfühlsam überredet, seinen Gesinnungswandel öffentlich zu machen. „I realise that it will be difficult for you“, schrieb sie ihm im Oktober 1978, „but in a way the Labour Party has left you because it has changed so much from its former beliefs.“188 Am wichtigsten erschien vielen der sozialistischen Renegaten, daß die Tory-Chefin keinen Standesdünkel an den Tag legte, entschieden für ihre Überzeugungen eintrat und – in Hugh Thomas’ Worten – „the need for a broad and philosophical basis for democratic action“ besser begriffen hatte als die meisten ihrer Kollegen.189 Schließlich wurden während der Regierungszeit der Labour-Partei 1974 bis 1979 auch wichtige wirtschaftspolitische Weichenstellungen vorgenommen, von denen Thatcher profitierte. Weder der Abschied von der Idee einer keynesianischen Globalsteuerung der Wirtschaft noch der Übergang zu strengerer Haushaltsdisziplin, zu Kürzungen im Sozialetat und anderen Sparmaßnahmen wurden unter ihrer Regierung begonnen. Sie brauchte nur 184 185 186 187 188 189

Am 8. Oktober 1976 auf dem Tory-Parteitag in Brighton, zit. nach The Times, 9. Oktober 1976. WOODROW WYATT, Confessions of an Optimist, London 1985, S. 343. Zit. nach WHITEHEAD, S. 216. Zit. nach YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 62. Zit. nach COCKETT, S. 229. HUGH THOMAS, A Letter to a Social Democrat, in: CORMACK (Hrsg.), S. 103.

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das Instrumentarium zu übernehmen, das bereits unter Healey im Schatzamt entwickelt worden war. Im Hinblick auf die thatcheristische Umwälzung der Wirtschaftspolitik bewahrheitete sich somit de Tocquevilles Diktum, daß Revolutionen meist in dem Augenblick stattfinden, wenn das ancien régime mit Reformen beginnt. Im Grunde habe Healey mit seiner Sparpolitik ihre eigenen Reformen zum Teil vorweggenommen, gab Thatcher später zu, und damit „diejenigen meiner Schattenkabinettsmitglieder rechts [überholt], die sich noch immer an die überholten Patentrezepte der keynesianischen Nachfragesteuerung klammerten“.190 Thatchers Vorteil gegenüber dem Labour-Schatzkanzler bestand darin, daß sie nicht nur – wie er – von der Notwendigkeit dieser Schritte überzeugt war, sondern in ihnen eine Tugend erblickte. Was Healey halbherzig, mit schlechtem Gewissen, gegen den Widerstand und die Traditionen seiner Partei begann, konnte sie aus freien Stücken und mit der vollen Überzeugung fortführen, sich dabei im Einklang mit Tradition und Instinkten ihrer Partei zu befinden. „If you want a Conservative government“, erklärte sie im Januar 1976 in einem Radio-Interview, „you’d better have a Conservative government and not a half-hearted Labour government practising Conservative politics.“191 Sie ließ keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, daß Healey lediglich konservative Rezepte kopiere und allzu zaghaft in die Tat umsetze.192 Er mochte zwar in Ansätzen die richtige Politik verfolgen, versäume es jedoch, offensiv für sie einzutreten und die britischen Wähler von der Notwendigkeit schmerzhafter Schnitte zu überzeugen, erklärte sie. „[T]he Chancellor may be arguing this case clearly and cogently in private. But so far he does not seem to be doing so sufficiently in public.“193 Gleichzeitig warf sie Healey und seinen Gesinnungsgenossen vor, sie hätten sich viel zu lange schweigend in ihr Schicksal gefügt, den Linksruck ihrer Partei nicht aufzuhalten versucht. „[T]he road to Damascus is always open“, spottete sie, „but where have these newly doubting Socialists been while all the damage they now deplore has been done? [. . .] They have been 190 191 192

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THATCHER, Erinnerungen, S. 380–1. Am 31. Januar 1978 im Jimmy Young Programme auf BBC Radio 2, abgedruckt in: THATCHER, Complete Public Statements. „Labour have been carrying out the bare minimum of the things we told them to do“, erklärte sie im Februar 1978. „[T]hey should know our policies better than most. They have been starting to carry them out for the past year. [. . .] Never enough. Never in time. But the first glimmerings of Conservative policies. [. . .] So we shouldn’t be surprised that there’s been some improvement“; am 4. Februar 1978 auf der Conservative Local Government Conference in der Caxton Hall in London: News Service 143/78, S. 6–8. Am 22. Juni 1977 beim City of London and Westminster South Annual Luncheon: News Service 665/77, S. 2.

2. Das wachsende Krisenbewußtsein

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sitting in Mr Wilson’s Cabinet meekly acquiescing in the onward march of socialism.“ Anstatt Labours Kurs zu bestimmen, befänden sich die gemäßigten Kräfte auf dem Rückzug. Zu schwach, der Partei ihren Stempel aufzudrücken, dienten sie nur noch dazu, ihr ein harmloses, gemäßigtes Image zu beschaffen. „They are invaluable to the Left, these spaniels of the Socialist Party“, lautete ihr ätzendes Fazit. „They provide them with their window-dressing. They look and seem so harmless. They sound so ‚safe‘.“ Doch könnten auch die gemäßigten Kräfte nicht verbergen, daß sie ebenfalls Sozialisten seien: „There is no such thing as ‚safe‘ Socialism. If it’s safe, it’s not Socialism. And if it’s Socialism, it’s not safe.“194

2. DAS WACHSENDE KRISENBEWUSSTSEIN A)

DIE DISKUSSION ÜBER DIE BRITISCHE KRANKHEIT

Nicht nur die politische und ökonomische Krise der siebziger Jahre war in Großbritannien ausgeprägter als in jedem anderen westeuropäischen Land. Auch das Krisenbewußtsein in der Öffentlichkeit war wacher als anderswo. Die Diskussion über die Misere des Landes und den Zusammenbruch der Nachkriegsordnung blieb nicht auf die politischen Parteien beschränkt. Politikwissenschaftler schrieben Studien über die Unregierbarkeit Großbritanniens. Historiker forschten nach den Gründen für den britischen Niedergang. Schriftsteller griffen das Thema auf und verarbeiteten es literarisch.195 In den Buchgeschäften stapelten sich Publikationen mit apokalyptischen Titeln wie The Death of British Democracy, The Future That Doesn’t Work, What‚s Wrong With Britain? oder Is Britain Dying?.196 Das 194 195

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Am 20. März 1976 auf dem Central Council Meeting Norwich: News Service 317/76, S. 4–5. Zur Diskussion über „Ungovernability“ vgl. ALASTAIR BURNET, Is Britain Governable?, London 1975; MICHEL CROZIER et al., The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975; ANTHONY KING, Overload. Problems of Governing in the 1970s, in: Political Studies 23, 1975 (2, 3), ANTHONY H. BIRCH, Overload, Ungovernability and Delegitimation, The Theories and the British Case, in: British Journal of Political Science 14, 1984, S. 135–60. Historische Studien über den britischen Niedergang sind CORRELLI BARNETT, The Collapse of British Power, London 1972, MARTIN J. WIENER, English Culture and the Decline of the Industrial Spirit 1850–1980, New York 1981. Überblicke über den Forschungsstand geben PAUL WARWICK, Did Britain Change? An Inquiry into the Causes of National Decline, in: Journal of Contemporary History 20, 1985, 99–133; WOLFGANG KRIEGER, Die britische Krise in historischer Perspektive, in: HZ 247, 1988, 585–602 und BRUCE COLLINS und KEITH ROBBINS (Hrsg.), British Culture and Economic Decline, London 1990. Eine literarische Variation zum Thema ist MARGARET DRABBLE, The Ice Age, London 1977. STEPHEN HASELER, The Death of British Democracy, London 1976; R. EMMET TYRRELL

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II. Der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung

Schlagwort von der „britischen Krankheit“ tauchte in den Feuilletons der Zeitungen auf und wurde ausgiebig diskutiert. Zunächst bezog es sich lediglich auf die chronisch schlechten Beziehungen zwischen britischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, auf wilde Streiks, Bummelei und häufiges Krankfeiern.197 Seit Mitte der siebziger Jahre faßte man in einem weiteren Sinne alle Schwierigkeiten der britischen Wirtschaft unter der Bezeichnung British Disease oder English Sickness zusammen. Großbritannien verfüge über die niedrigste Wachstumsrate in der westlichen Welt, schrieb der amerikanische Journalist R. Emmett Tyrrell Jr., über eine mehr als dürftige Produktivität und heruntergekommene Produktionsanlagen. Es gebe dort eine hohe Inflation und Arbeitslosigkeit sowie ein erstaunlich großes Potential sozialer Unruhe, kurz: „The United Kingdom has become the latest version of the Sick Man of Europe“.198 Gegen Ende des Jahrzehnts weitete sich die Bedeutung des Begriffs über den ökonomischen Bereich hinaus aus und bezog auch die politischen Schwierigkeiten des Landes ein, wie der britische Publizist Patrick Hutber 1978 schrieb: „,The English Sickness‘ is a phrase that evokes instant recognition and it is no longer used exclusively in an economic context.“199 Die Wurzeln der Krisenstimmung reichten bis in die frühen sechziger Jahre zurück, als der Optimismus der fünfziger Jahre allmählich umzuschlagen begann. „In the last year the sense of malaise, as Whitehall calls it, has become suddenly much more acute“, schrieb 1962 der Publizist Anthony Sampson in seiner Studie The Anatomy of Britain. Bereits ein Jahr zuvor hatte ein anderer Journalist, Michael Shanks von der Financial Times, ein Buch mit dem Titel The Stagnant Society veröffentlicht.200 Hugh Gaitskell, der Führer der Labour-Partei, prophezeite etwa zur selben Zeit: Ausländische Besucher würden in Zukunft nicht mehr nach Großbritannien kommen, um Ideen für die Zukunft kennenzulernen, sondern nur noch um eine glorreiche Vergangenheit zu studieren.201 Das Land gleiche der russischen Romanfigur Oblomov, konstatierte vier Jahre später Sampson in der

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(Hrsg.), The Future That Doesn’t Work. Social Democracy’s Failures in Britain, Garden City/NY 1977; PATRICK HUTBER (Hrsg.), What‚s Wrong With Britain?, London 1978; ISAAC KRAMNICK (Hrsg.), Is Britain Dying? Perspectives on the Current Crisis, Ithaca/NY 1979. Vgl. PAUL EINZIG, Decline and Fall, London 1969, S. 74; SAMPSON, New Anatomy, S. 669. TYRRELL (Hrsg.), S. 1–2. HUTBER (Hrsg.), S. 11. ANTHONY SAMPSON, The Anatomy of Britain, London 1962, S. 634; MICHAEL SHANKS, The Stagnant Society, Harmondsworth 1961. „They will see that somehow the British have lost their dynamic, are sunk in complacency, are far too snobbish, and have carried on a pattern of social relationships that is disappearing elsewhere in the world“; Gaitskell zit. nach SAMPSON, Anatomy, S. 634.

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Neuauflage seines Buches, „a tired, impoverished aristocrat, lying in bed, speculating and worrying about his condition, but never actually getting out of bed.“202 Die Abwicklung des britischen Empire und de Gaulles Weigerung, Großbritannien in die Europäischen Gemeinschaften aufzunehmen, trug zu dem Stimmungsumschwung ebenso bei wie die wachsende Unzufriedenheit mit den schon mehr als zehn Jahre regierenden Konservativen.203 Vor allem aber erkannten die Briten, daß sie während der fünfziger Jahre zwar in absoluten Zahlen wirtschaftlich erfolgreicher gewesen waren als vor dem Zweiten Weltkrieg, im Vergleich mit anderen großen Industrienationen jedoch Boden verloren hatten. Zwischen 1951 und 1962 sank der britische Anteil am Welthandel von 22 auf 15 Prozent, während der westdeutsche von zehn auf zwanzig Prozent stieg. In ungefähr demselben Zeitraum wuchsen die britischen Exporte nur um dreißig Prozent, diejenigen der sechs EG-Länder um insgesamt 190 Prozent.204 Großbritannien als Mutterland der Industriellen Revolution schien den Anschluß an die Entwicklung der Weltwirtschaft zu verlieren. „[T]he youngsters have not only caught up with, but are rapidly outgrowing us“, schrieb Arthur Koestler 1963. Im Hinblick auf die Produktivitätsraten sei das Land von den USA schon in den 1880er Jahren überholt worden, von Kanada noch vor dem ersten Weltkrieg, „and in the last few disastrous years we have been left behind by Sweden, Denmark, Norway, Germany, and France.“205 Die Juli-Nummer der Zeitschrift Encounter, in der Koestlers Artikel erschien, trug den bezeichnenden Titel Suicide of a Nation?. Sie enthielt neben Koestlers Text eine Reihe weiterer Beiträge mit ähnlich pessimistischem Grundton. Großbritannien befinde sich inmitten einer Krise, schrieb zum Beispiel der Publizist Goronwy Rees, die zum endgültigen Niedergang führen werde, wenn man sie nicht bald überwinde. Der Ökonom John Vaizey gelangte zu einer ähnlichen Schlußfolgerung und verglich den britischen Niedergang mitdem Zusammenbruch anderer Weltreiche wie Spanien und ÖsterreichUngarn.206 Wenige Monate später nahm sich auch die Linke des Themas an. In der Zeitschrift New Left Review erschien im Frühjahr 1964 eine Artikelserie, 202 203 204 205 206

ANTHONY SAMPSON, The Anatomy of Britain Today, London 1965, S. 678. Vgl. etwa HUGH SETON-WATSON, Commonwealth, Common Market, Common sense, in: Encounter, Juli 1963, S. 65–73. Vgl. ARTHUR KOESTLER, The Lion and the Ostrich, in: Encounter, Juli 1963, S. 5–8 (S. 6–7). Ebd., S. 7. GORONWY REES, Amateurs and Gentlemen, ebd., S. 20–5 (S. 24); JOHN VAIZEY, The Tragedy of Being Clever, ebd., S. 107–10 (S. 110).

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die sich ebenfalls mit dem Niedergang des Landes beschäftigte – diesmal aus marxistischem Blickwinkel. Großbritanniens kapitalistisches System, so lautete die Grundthese, zahle einen hohen Preis für die Pionierrolle des Landes bei der Industriellen Revolution und für seinen Erfolg beim Aufbau eines weltumspannenden Kolonialreiches. Seine Herrschaftsinstitutionen seien immer noch von einem vormodernen Ethos geprägt. Seine industrielle Entwicklung werde durch die beherrschende Position der großen Landbesitzer, der Finanz- und Handelseliten bis in die Gegenwart hinein gebremst. Während anderswo Krieg und Revolution Wellen der Modernisierung ausgelöst hätten, habe in Großbritannien das ancien régime bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts überlebt.207 Freilich blieb die These vom britischen Niedergang nicht unwidersprochen. In dem 1964 erschienenen Agententhriller You only live twice ließ Ian Fleming seinen Helden James Bond trotzig behaupten: England may have been bled pretty thin by a couple of World Wars, our Welfare State politics may have made us expect too much for free, and the liberation of our colonies may have gone too fast, but we still climb Everest and beat plenty of the world at plenty of sports and win Nobel prizes. Our politicians may be a feather pated bunch [. . .] All politicians are. But there’s nothing wrong with the British people.208

Viele nahmen an, Großbritanniens Wachstumsrate sinke lediglich früher als diejenige anderer Länder, weil hier die Industrialisierung auch früher begonnen habe. Über kurz oder lang würden alle Industriestaaten das britische Schicksal teilen. Deutschlands, Frankreichs und Italiens Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg erklärte man damit, daß diese Länder nur wiedergutmachten, was sie durch Krieg und Depression verloren hatten.209 Der Journalist Henry Fairlie verspottete die Flut von Artikeln, Büchern und Spezialausgaben, die sich mit Niedergang und Krise Großbritanniens beschäftigten. „[W]hat ought to be matters of interest change their character when they become obsessions. Problems which are real and manageable become part of a Problem which can never be tackled but only constantly written about.“210 Auch der Historiker Marcus Cunliffe hielt die Sorgen über die Zukunft Großbritanniens für übertrieben. Das Land leide

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Vgl. u. a. TOM NAIRN, The British Political Elite, in: New Left Review 23, Januar/Februar 1964, S. 19–25; PERRY ANDERSON, Origins of the Present Crisis, ebd., S. 26–53; TOM NAIRN, The English Working Class, in: New Left Review 24, März/April 1964, S. 43–57. IAN FLEMING, You Only Live Twice, London 1964, S. 77–8. Vgl. WILLIAM B. GWYN, Jeremiahs and Pragmatists: Perceptions of British Decline, in: DERS. und RICHARD ROSE (Hrsg.), Britain: Progress and Decline, London 1980, S. 5. HENRY FAIRLIE, On the Comforts of Anger, in: Encounter, Juli 1963, S. 9–13 (S. 9).

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weniger an wirklichen Übeln als an einer allgemeinen Hypochondrie, schrieb er im Encounter.211 Erst im Verlauf der siebziger Jahre wuchsen sich die beginnenden Selbstzweifel zu einer regelrechten Depression aus. Die ständigen Turbulenzen der Weltwirtschaft, das Scheitern der konservativen Regierung unter Heath, die Dauerkrise der Labour-Administrationen von Wilson und Callaghan schärften das Krisenbewußtsein. Nicht mehr nur eine Handvoll Intellektueller machte sich Sorgen um die Zukunft des Landes, sondern eine weitaus größere Gruppe in Politik, Medien und Wirtschaft. In der auflagenstarken Sonntagszeitung Sunday Times begannen die beiden Oxforder Wirtschaftswissenschaftler Walter Eltis und Robert Bacon eine Artikelserie, in der sie den Gründen für Großbritanniens wirtschaftliche Zerrüttung nachspürten. Drei Jahre später publizierte der Sunday Telegraph eine Reihe von Beiträgen über den Niedergang des Landes. Diese Aufsätze wurden im Gegensatz zu den Essays im Encounter und in der New Left Review zehn Jahre zuvor von einem Massenpublikum wahrgenommen.212 Der Tonfall der Klagen war schriller als in den sechziger Jahren. Die Prognosen klangen apokalyptischer, die Ursachenforschung ratloser. Die Briten seien ein verwirrtes und unglückliches Volk, stellte der Publizist Peter Jay fest: „We are unhappy because the foundations of our prosperity seem to be eroding faster and faster and because we can neither find nor agree upon any sure remedy for this decay. We are confused because we do not clearly understand why all this is happening to us“.213 Sein Kollege Peter Jenkins schrieb Mitte September 1978 im Guardian, kein Staat habe bisher den Weg vom Industrie- zum Entwicklungsland beschritten. Großbritannien könnte das erste Land sein, das diese Erfahrung mache, wenn es demnächst von seinem hundert Jahre alten Prozeß des relativen Niedergangs in das Stadium eines absoluten Niedergangs überwechsele.214

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Er schrieb: „In comparison with most societies of the world we are extremely well off – economically, politically, socially. The point is that we once exaggerated our prowess, our freedom of will, we now exaggerate our incapacity, our predestined downfall“; MARCUS CUNLIFFE, The Comforts of the Sick-Bay, ebd., S. 96–9 (S. 99). „From a vantage point in the future, some Gibbon will no doubt write of the decline and fall of Great Britain and the British Empire“, konstatierte Frank MacFadzean, der Vorstandsvorsitzende von British Airways. „In the life span of some of us still alive Great Britain has, rung by rung, fallen from a pre-eminent position in both the political and industrial fields to second- or even third-rate status“; die Artikel sind abgedruckt in HUTBER (Hrsg.). Das Zitat stammt aus SIR FRANK MACFADZEAN, The British Public as Victims, ebd., S. 35–40 (S. 35). PETER JAY, Englanditis, in: TYRRELL (Hrsg.), S. 167. Zit. nach SKED und COOK (Hrsg.), S. 327.

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Im Gegensatz zur Debatte der sechziger Jahre standen nicht mehr schlechte Handelsbilanzen, geringe Wachstums- und Produktivitätsraten im Zentrum, sondern Geldentwertung und Arbeitslosigkeit.215 1965 habe man an der Universität Oxford Wirtschaftsstudenten die Examensfrage gestellt, ob Volkswirtschaften gleichzeitig Nullwachstum, galoppierende Inflation, beträchtliche Arbeitslosigkeit und ein Zahlungsbilanzdefizit aufweisen könnten, schrieben 1976 die beiden Volkswirte Bacon und Eltis. Die richtige Antwort hätte damals gelautet, dies sei nur in einem Entwicklungsland möglich. Jetzt aber gebe es auch in Großbritannien eine derartige Kombination von Übeln.216 Eine Reihe von Autoren sorgten sich neben den wirtschaftlichen Folgen der Geldentwertung vor allem um deren moralische und politische Konsequenzen. Die Hauptgefahr der Inflation bestehe nicht so sehr darin, daß sie einige reich mache und andere verarmen lasse, konstatierte Patrick Hutber vom Sunday Telegraph, sondern daß sie den Zusammenhalt der Gesellschaft in Frage stelle. Sie sei unberechenbar in ihren Auswirkungen, befördere Neid, Haß, Mißgunst und Selbstsucht und mache es auf diese Weise schwierig, Respekt für ein politisches und wirtschaftliches System zu bewahren, das ihr Entstehen begünstige. Das beste Beispiel dafür, wohin Inflation führen könne, sei das Schicksal Deutschlands in der Zwischenkriegszeit.217 Insbesondere Tory-Politiker und Intellektuelle aus dem Dunstkreis der Konservativen Partei verarbeiteten den Schock, den bei ihnen das Schlingern und schließlich das Scheitern der Heath-Regierung auslöste, zu düsteren Untergangsszenarien. Im Bergarbeiterstreik von 1972 erblickten viele ein Menetekel von Chaos und Bürgerkrieg. Brendan Sewill, ein langjähriger führender Mitarbeiter im Conservative Research Department, bemerkte: „At the time many of those in position of influence looked into the abyss and saw only a few days away the possibility of the country being plunged into a state of chaos not so very far removed from that which might prevail after a minor nuclear attack.“218 In einem Entwurf für ein konservatives Wahlkampfmanifest schrieb der junge Abgeordnete Nigel Lawson im 215

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„[T]he unemployment rate reached at the peak of the 1973 boom was the same as that reached in the trough of the 1958 recession“, schrieb 1978 Samuel Brittan von der Financial Times und bemerkte, in Zukunft müßten sich Politiker von der Idee verabschieden, es gebe einen automatischen Ausgleich zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation; SAMUEL BRITTAN, The Economic Tensions of British Democracy, in: TYRRELL (Hrsg.), S. 126–43 (S. 126–7). ROGER BACON und WALTER ELTIS, Britain’s Economic Problems: Too Few Producers, New York 1976, S. 5. HUTBER (Hrsg.), S. 11. BRENDAN SEWILL und RALPH HARRIS, British Economic Policy 1970–74, London 1975, S. 50.

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Dezember 1973, nicht weniger als das Fortbestehen der Gesellschaft stehe auf dem Spiel: Der Augenblick der Wahrheit für das britische Volk sei gekommen.219 Lord Rothschild, der Leiter des Central Policy Review Staff, einer von Heath eingerichteten Denkfabrik, warnte etwa zur selben Zeit: „From the vantage point of the Cabinet Office it seems to me that unless we take a very strong pull at ourselves and give up the idea that we are one of the wealthiest, most influential countries in the world – in other words that Queen Victoria is still reigning – we are likely to find ourselves in serious trouble.“220 Ein unzufriedener konservativer Hinterbänkler fand, seine Heimat sei zu einer unhygienischen, kopflastigen Kopie Schwedens verkommen.221 Zwei Jahre später veröffentlichte einer der großen alten Männer der Tory-Partei, Lord Hailsham, ein Buch mit dem Titel The Dilemma of Democracy, in dem er ein trostloses Bild von Großbritanniens Gegenwart malte und bedrückende Zukunftsprognosen aufscheinen ließ: For some years now, and especially since February 1974, I have been oppressed by a sinister foreboding. [. . .] We are living in the City of Destruction, a dying country in a dying civilization, and across the plain there is no wicket gate offering a way of escape [. . .] if we go on as we are, I can see nothing but disaster ahead, though I am quite unable to predict when, or exactly how, it will overtake us.222

Im Civil Service herrschte ähnliche Ratlosigkeit und Frustration. Ein Spitzenbeamter bemerkte 1973, das einzige, was man sich für Großbritanniens Zukunft erhoffen könne, sei die ordentliche Verwaltung des Niedergangs.223 Diesem Urteil stimmten die meisten seiner Kollegen zu. „From senior officials comes a chorus of fateful foreboding remarkable in its unison“, schrieb der Publizist Peter Jenkins im Sommer 1974 im Guardian. „Uncontrollable inflation and political disintegration are subjects of no longer purely academic discussion [. . .] Nobody knows what to do, few any longer pretend to know what to do.“224 Benn stellte ein Jahr später in einer Kabinettssitzung fest, das britische Establishment sei inzwischen von derselben Geisteshaltung befallen wie Frankreich im Sommer 1940: „the Vichy spirit

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Zit. nach STUART BALL, The Conservative Party and the Heath Government, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 315–50 (S. 346). Letztlich wurde Lawsons Entwurf als zu dramatisch angesehen und nicht verwandt. Vgl. LORD ROTHSCHILD, Meditations on a Broomstick, London 1977, S. 90–1. JOHN BIGGS-DAVISON, Towards the Counter-Revolution, in: Spectator, 31. Juli 1976, S. 12–3 (S. 13). LORD HAILSHAM (ehemals: QUINTIN HOGG), The Dilemma of Democracy, London 1978, S. 15. Lord Armstrong, Head of the Home Civil Service; zit. nach RANELAGH, S. 82. The Guardian, 21. Juni 1974.

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of complete capitulation and defeatism. It is that which is going finally to destroy us“.225 Besonders pessimistisch urteilten britische Diplomaten, die von Berufs wegen aufmerksam die Stellung ihres Landes in der Welt im Vergleich mit anderen Staaten beobachteten. Schon im Oktober 1966 hatte Con O’Neill, Chef der britischen Verhandlungsdelegation bei der EWG in Brüssel, in einem Memorandum konstatiert, seit zwanzig Jahren drifte Großbritannien ziellos dahin. Insgesamt gesehen, habe man es mit einer Periode des Niedergangs britischer Macht und britischen Einflusses in der Welt zu tun, die in der Nation eine Stimmung von Frustration und Unsicherheit geschürt habe. „We do not know where we are going and have begun to lose confidence in ourselves.“226 Nicholas Henderson, lange Jahre britischer Botschafter in Bonn und Paris, beschrieb mehr als zwölf Jahre später anläßlich seiner Pensionierung in einem umfangreichen Abschiedsbericht an den Außenminister, wie sehr Großbritanniens internationales Ansehen während seiner Dienstzeit verfallen sei. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, so Henderson, war Großbritannien eine von drei Weltmächten, wenn auch die schwächste. „[T]oday we are not only no longer a world power, but we are not in the first rank as a European one.“ Man müsse nur durch Westeuropa reisen, um festzustellen, wie arm und heruntergekommen das Land im Vergleich mit seinen Nachbarn sei. Man sehe es am Zustand der Städte, der Flughäfen, Krankenhäuser und lokalen Einrichtungen sowie des Eisenbahnnetzes, das noch eine Generation zuvor dem kontinentaleuropäischen deutlich überlegen gewesen sei.227 O’Neill und Henderson standen mit ihren pessimistischen Einschätzungen nicht allein.228 Bitter bemerkten die Diplomaten die Mischung aus Mitleid und Geringschätzung, mit der Groß-

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Tagebucheintrag vom 15. Juli 1975, in: BENN, Tide, S. 595. Zit. nach YOUNG, Blessed Plot, S. 190. Hendersons vertraulicher Bericht wurde der Presse zugespielt und erschien in The Economist, 2. Juni 1979. Ein Kollege schrieb: „The ‚question of Britain‘, the ‚long decline‘ was in all our minds. Sir Nicholas Henderson’s leaked despatch from Paris was only the most celebrated example. And, as the United Kingdom slipped down the league-table, as the crises and IMF missions succeeded each other, we had sometimes a sense of performing in mid-air, Indian rope-trickfashion, without any base at all“; CRADOCK, S. 28. Der damalige britische Botschafter im Iran bemerkte später, gegen Ende der siebziger Jahre sei ihm immer deutlicher bewußt geworden, „that, in the overseas countries, with which I was involved, our influence was based on the wasting asset of past glory rather than present performance, in which we were being outstripped by the majority of our European partners, not to mention Japan. [. . .] In a nutshell Britain’s standing world-wide had drifted downwards“; ANTHONY PARSONS, Britain and the World, in: DENNIS KAVANAGH und ANTHONY SELDON (Hrsg.), The Thatcher Effect. A Decade of Change, Oxford 1989, S. 154–65 (S. 155).

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britannien im Ausland betrachtet wurde. Sein Land werde gegenwärtig in Frankreich mit Verfall und Niedergang identifiziert, schrieb Henderson, „as closely as in the old days we were associated with success. In many public statements Britain is mentioned as a model not to follow if economic disaster is to be avoided“.229 Ähnliches galt für die Sicht der Vereinigten Staaten auf Großbritannien. „Goodbye Britain, it was nice knowing you“, titelte das Wall Street Journal im Mai 1975. Drei Monate später erschien an gleicher Stelle ein Bericht, in dem es hieß: „Hardly anyone needs to be told now, that Britain is the sick man of Europe.“ Wohin man blicke, liege der Beweis auf der Hand. Nicht eine Kriegsniederlage, Erdbeben, Pest, Trockenheit oder sonst eine Naturkatastrophe hätten das Land in diesen Zustand versetzt. Der Verfall sei selbstverschuldet.230 Immer wieder wurde den Amerikanern Großbritannien als abschreckendes Beispiel vor Augen geführt. Es wäre tragisch für die USA, bemerkte Präsident Ford 1976 in einem Abschiedsinterview, wenn sie die gleiche Entwicklung nähmen und die gleichen Probleme bekämen wie Großbritannien.231 Die Krise wurde als derart tiefgreifend empfunden, daß man bei der Suche nach Erklärungen nicht mehr an der Oberfläche tagespolitischer Aktualitäten oder konjunktureller Phänomene stehen blieb, sondern tiefer bohrte und Grundsätzliches in Frage stellte. Zunehmend bezweifelten Publizisten, Wissenschaftler und Politiker die Tragfähigkeit der Fundamente der Nachkriegsordnung. Besonders deutlich zeigte sich diese Entwicklung an der Diskussion über den Keynesianismus. Seit Mitte der siebziger Jahre häuften sich die Stimmen, die Keynes und seine Lehre (oder zumindest das, was mit seinem Namen allgemein verbunden wurde232) für die Malaise der bri-

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The Economist, 2. Juni 1979. Wall Street Journal, 12. Mai und 20. August 1975. Zit. nach RICHARD ROSE und GERALD PETERS, Can Governments Go Bankrupt?, London 1978, S. 16. Da Keynes bereits 1946 gestorben war, müssen alle Antworten auf die seinerzeit heiß diskutierten Fragen, wie der Ökonom selbst auf die Krise reagiert hätte, ob sein Konzept in sich fehlerhaft oder lediglich ergänzungsbedürftig war, hypothetisch bleiben; vgl. etwa TERENCE WILMOT HUTCHINSON, Keynes versus the Keynesians . . .? An Essay in the Thinking of J. M. Keynes and the Accuracy of its Interpretation by its Followers, London 1977; ALEX LEIJONHUFUND, Keynes and the Classics, London 1969. Auch die später aufgekommenen Zweifel, ob es so etwas wie eine „keynesianische Revolution“ in der Wirtschaftsgeschichte der britischen Nachkriegszeit überhaupt gegeben habe, sind im Zusammenhang mit der Frage nach den Entstehungsbedingungen des Thatcherismus zweitrangig; siehe zu diesem Themenkomplex zum Beispiel JIM TOMLINSON, Why Was There Never a Keynesian Revolution in Economic Policy?, in: Economy and Society 19, 1981, S. 72–87; NEIL ROLLINGS,

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tischen Wirtschaft verantwortlich machten. „The Keynesian Revolution was one of these revolutions of kindness“, schrieb 1975 William Rees-Mogg, der Herausgeber der Times, „he took the fine old Rolls-Royce of nineteenthcentury economics and rebuilt it with every modern sophistication, but without the brakes. He associated brakes with suffering. We have reason now to associate not having brakes with suffering.“233 Etwa zur gleichen Zeit äußerte der Historiker Max Beloff in der Zeitschrift New Society, seiner Ansicht nach habe Keynes seinem Land geschadet wie kein zweiter.234 Beloffs Kollege Robert Blake ließ sich ähnlich vernehmen. „The great high priest of deficit finance and of spending or borrowing our way out of depression is losing his posthumous ascendancy“, schrieb er 1976, „the Keynesian image is no longer being worshipped“.235 Auch in der Politik begann sich ein Meinungsumschwung bemerkbar zu machen. Keith Joseph gab einem Aufsatz, in dem er sich mit den Ursachen der britischen Krankheit beschäftigte, 1978 den Titel Proclaim the Message: Keynes is Dead.236 Die Liste der Vorwürfe, die gegen den Keynesianismus erhoben wurden, war lang. Im Spectator erschien zwischen Mai 1976 und Januar 1977 eine Serie von 13 Artikeln, die mit den unterschiedlichsten Begründungen das Ende der keynesianischen Ära prophezeiten.237 Keynes habe die Fähigkeit demokratischer Regierungen überschätzt, die Volkswirtschaft rational, losgelöst von Partikularinteressen und parteipolitischen Zielen zu lenken, behauptete der Londoner Historiker Robert Skidelsky. Politische Überlegungen hätten sich zunehmend gegen die ökonomische Vernunft durchgesetzt: „[O]nce economic life became a matter for continuous political decision, economic rationality (however defined) would be subordinated to

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British Budgetry Policy 1945–1954: A „Keynesian Revolution“?, in: Economic History Review 41 (2. Folge), 1988, S. 283–98. WILLIAM REES-MOGG, The Reigning Illusion: The Crisis of World Inflation, London 1974, S. 105. Drei Jahre später stellte der Geschäftsmann Tim Congdon, der zuvor als Wirtschaftsjournalist für die Times gearbeitet hatte, fest: „[T]he responsibility for Britain’s economic difficulties rests with Keynes himself“; siehe TIM CONGDON, Monetarism, London 1978, S. 70. MAX BELOFF, The Future of the State: Why It Should Wither Away, in: New Society, 13. Oktober 1973. ROBERT BLAKE, A Changed Climate, in: DERS. und JOHN PATTEN (Hrsg.), The Conservative Opportunity, London 1976, S. 4. KEITH JOSEPH, Proclaim the Message Keynes is Dead, in: HUTBER (Hrsg.), S. 99–106. Siehe Spectator, 1. Mai 1976, S. 14–6; 29. Mai 1976, S. 20–2; 19. Juni 1976, S. 15–7; 17. Juli 1976, S. 16–8; 7. August 1976, S. 8–9; 28. August 1976, S. 8–9; 18. September 1976, S. 20–1; 16. Oktober 1976, S. 17–8; 6. November 1976, S. 14–5; 27. November 1976, S. 15–7; 11. Dezember 1976, S. 14–6; 8. Januar 1977, S. 15–7; 29. Januar 1977, S. 17–9. Die Essays sind wenig später als Sammelband herausgegeben worden: SKIDELSKY (Hrsg.).

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political demands through the auction for votes of a competitive political system“.238 Die zweite Schwäche des keynesianischen Systems, die er diagnostizierte, bezog sich auf die Rolle, die darin dem Markt zugedacht war. Daß sich der Staat aus der mikroökonomischen Sphäre heraushalten und ganz auf das makroökonomische Management beschränken würde, habe sich als Illusion erwiesen. Ganz im Gegenteil: „[K]eynesian governments have been drawn inexorably into economic planning to compensate for the decay of the ‚disciplines of the market’ produced in part by their own policy.“239 Keynes’ politische Ökonomie sei in Auflösung begriffen, lautete Skidelskys Fazit: Seine Anweisungen, was eine Regierung zu tun und zu lassen hatte, mochten für die dreißiger und vierziger Jahre gegolten haben, für die Gegenwart seien sie wertlos.240 Weniger auf die politischen als vielmehr auf die ökonomischen Unzulänglichkeiten des Keynesianismus verwies der Soziologe J. T. Winkler in einem anderen Beitrag der Serie. Die keynesianischen Heilmittel für wirtschaftliche Schwierigkeiten seien in den vergangenen Jahren diskreditiert worden, weil sie immer weniger imstande waren, das zu erreichen, was man sich von ihnen versprach: die Kontrolle der Arbeitslosigkeit, zunehmende Investitionen und ganz allgemein einen effektiven Umgang mit der wirtschaftlichen Malaise des Landes. Weil der Keynesianismus nicht mehr funktioniere, so Winklers These, werde er nach und nach durch eine korporatistische Strategie ersetzt, die im Widerspruch zu Keynes’ Grundannahmen stehe. Die staatliche Regulierung der Volkswirtschaft geschehe immer weniger durch makroökonomische Steuerung, sondern zunehmend durch direkte Eingriffe in einzelne Betriebe – seien sie nun formell Staatsunternehmen oder lediglich von staatlichen Subventionen abhängig. Auf diese Weise würde die Privatökonomie immer stärker in die Defensive gedrängt und schließlich vollends von der Staatswirtschaft abgelöst. „[A]t some stage“, so Winkler, „the economic initiative will have transferred from private groups to the state and we shall thereby have crossed over that conceptual line between a Keynesian variant of capitalism, and its aftermath, corporatism.“241 Nicht alle Autoren der Artikelreihe teilten Winklers Prognose vom Beginn eines korporatistischen Zeitalters. Einige hofften auf die Endkrise des Kapitalismus und das Morgenrot eines sozialistischen Neuan238 239 240 241

ROBERT SKIDELSKY, The Political Meaning of the Keynesian Revolution, in: Spectator, 7. August 1976, S. 8–9 (S. 8). Ebd. Ebd. J. T. WINKLER, Keynes and the Coming Corporatism, in: Spectator, 8. Januar 1977, S. 15–7 (S. 17).

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fangs.242 Andere forderten eine Rückbesinnung auf die Kräfte des Marktes.243 Doch über eines waren sich alle Verfasser einig: Die keynesianische Periode der Weltwirtschaft sei vorüber und ein neuer Abschnitt beginne. Die Einmütigkeit war umso überraschender als die Autoren keinesfalls alle demselben politischen oder weltanschaulichen Hintergrund entstammten. Unter ihnen befand sich der Sozialist Holland, der Sozialdemokrat Skidelsky und der Konservative Peter Lilley. Die These vom Ende der keynesianischen Ära lief quer durch alle Lager.244 Der andere Begriff, um den Mitte der siebziger Jahre die politische Debatte über den Zusammenbruch der Nachkriegsordnung kreiste, war der Terminus „Konsens“, der sich seit Anfang der sechziger Jahre im politischen Sprachgebrauch durchgesetzt hatte.245 Der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Beer hatte zu den ersten gehört, die sich ausdrücklich mit dem Phänomen beschäftigten. In seiner 1965 erschienenen Studie Modern British Politics prägte er den Begriff „collectivist politics“ für jene Verbindung aus „mixed economy“ und Wohlfahrtsstaat, die in seinen Augen die britische Nachkriegszeit dominierte. Beers Ansicht nach schwanden die prinzipiellen Unterschiede zwischen den Parteien nicht zuletzt aufgrund des intensiven Wettkampfs um Wählerstimmen und die Unterstützung gesellschaftlicher Interessengruppen. Differenzen verengten sich auf Nuancen; aus der Vogelperspektive betrachtet fielen nicht die verbleibenden Unterschiede, sondern die erstaunlichen Gemeinsamkeiten auf.246 1965 bewertete er diese Kontinuität noch positiv und schloß seine Studie mit der Bemerkung: „Happy the country in which consensus and conflict are ordered in a dialectic that makes of the political arena at once a market for interests and a forum for debate of fundamental moral concerns.“247 Siebzehn Jahre später war Beers Optimismus verflogen. Großbritannien, schrieb er, „has been turned against itself

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So etwa STUART HOLLAND, Keynes and the Labour Party, in: Spectator, 16. Oktober 1976, S. 17–1; vgl. auch HOLLAND. So etwa SAMUEL BRITTAN, Keynes and the Mandarins, in: Spectator, 18. September 1976, S. 20–1; PETER LILLEY, Rebellion and Conformism, in: Spectator, 17. Juli 1976, S. 16–8; HARRY G. JOHNSON, Keynes and the Developing World, in: Spectator, 6. November 1976, S. 14–5. Die Debatte war keineswegs auf Großbritannien beschränkt; siehe etwa JAMES M. BUCHANAN und RICHARD E. WAGNER, Democracy in Deficit. The Political Legacy of Lord Keynes, New York 1977; HENRY HAZLITT (Hrsg.), The Critics of Keynesian Economics, 2. Aufl. Lanham u. a. 1977, S. VI. Siehe ALAN BULLOCK und OLIVER STALLYBRASS (Hrsg.), The Fontana Dictionary of Modern Thought, London 1977, S. 131. BEER, Politics, S. 359. Ebd., S. 390.

2. Das wachsende Krisenbewußtsein

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by the political contradictions of collectivism“.248 Er betonte nun die Auflösung der Klassenbindungen, die mangelnde Selbstdisziplin der großen Interessengruppen und das fehlende Vertrauen in die Regierung als Merkmale des britischen Konsenses, der in eine „pluralistic stagnation“ gemündet sei. In den Jahren, die zwischen der Veröffentlichung der beiden Studien lagen, fand die Konsens-These immer mehr Anhänger unter britischen Politikwissenschaftlern. Die einen analysierten die Rhetorik der konservativen und sozialistischen Parteiführer zu Beginn der siebziger Jahre und stellten fest, daß Wilson wie Heath in ihren Reden Hinweise auf Klassengrenzen oder Ideologien mieden und statt dessen verbindende Themen wie „Fairneß“, „Mitgefühl“ und „nationale Einheit“ bevorzugten.249 Andere wiesen anhand von Analysen konservativer und sozialistischer Wahlkampfprogramme nach, daß sich die Parteien bereits während der fünfziger und sechziger Jahre stetig aufeinander zubewegt hatten oder daß die Wahlkampfmanifeste der Parteien in diesen Jahren eher versöhnliche als polarisierende Titel getragen hatten: Überschriften wie Let Us Work Together, Putting Britain First, Britain Will Win oder The New Hope for Britain zielten auf Verständigung, nicht Spaltung.250 Besonders wichtig für die Verbreitung des Begriffs „Konsens“ wurde die 1975 erschienene Studie The Road to 1945. Darin argumentierte der Historiker Paul Addison, man könne die britische Politik seit 1922 in zwei Phasen einteilen, denen er die Bezeichnungen „the consensus of Baldwin“ und „the consensus of Attlee“ gab. Beide Begriffe symbolisierten einen Bestand von Ideen und Konventionen über Natur und Reichweite politischen, und insbesondere staatlichen, Handelns. Baldwins Konsens war, vereinfacht gesagt, durch weitgehende Nichteinmischung des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft geprägt, während der Name Attlees für eine stärker interventionistische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik stand. Der Zweite Weltkrieg, so lautete Addisons Hauptthese, brachte die Ablösung des einen Konsenses durch den anderen und wirkte als Katalysator für die Implementierung von Gedanken, die zum großen Teil schon in den Jahren vor 1939 entwickelt worden waren. Fünf Jahre nach Kriegsende sei der Umstellungsprozeß im großen und ganzen abgeschlossen gewesen. „[T]he convergence of the two main parties, which had begun in 1940, was largely completed in the late 1940s.“251

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SAMUEL BEER, Britain Against Itself, London 1982, S. xiv. M. PINTO-DUSCHINSKY, A Matter of Words, in: New Society, 7. März 1974. DAVID BRUCE ROBERTSON, A Theory of Party Competition, London 1976; RICHARD ROSE, Do Parties Make a Difference?, London 1982, S. 45. ADDISON, Road, S. 275.

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Addison schloß seine Studie mit der Bemerkung, daß „Mr Attlee’s consensus, the new dispensation which began after Dunkirk in 1940, [. . .] until recent years seemed to be the natural order of British politics. We were all – almost all – Butskellites then.“252 Diese Bemerkung ist interessant, weil sie impliziert, daß der Attlee-Konsens nach Addisons Ansicht 1975 nicht mehr uneingeschränkt galt – eine Ansicht, die von Keith Middlemas in seiner Studie über The Experience of the British System Since 1911 ausdrücklich geteilt wurde. Zwar sah Middlemas den Durchbruch des Konsens-Systems nicht erst mit dem Zweiten, sondern bereits in den Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erreicht. Doch auch er glaubte nicht mehr daran, daß die auf friedlichem Interessenausgleich und Kompromiß beruhende Ordnung, die für Großbritanniens außergewöhnliche Stabilität während des 20. Jahrhunderts verantwortlich gewesen sei, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Studie im Jahr 1979 noch gültig war. Seine zentrale These besagte vielmehr, „that a new form of harmony in the political system was established in the decade 1916–26 and that it lasted at least until the mid-sixties when the much-vaunted ‚consensus‘ was seriously, if not fatally, disrupted“.253 Tatsächlich hatte sich die Linke der Labour-Partei Anfang der siebziger Jahre bereits deutlich von den Grundgedanken einer Konsensherrschaft verabschiedet. „A Labour Government is not in office to engage in a steady series of bargain and compromises in search of a spurious consensus“, schrieb der Unterhausabgeordnete Robert Kilroy-Silk. Die Aufgabe jeder Regierung und insbesondere einer Labour-Regierung bestehe darin, ihre Werte der Gesellschaft aufzuzwingen, die Gesellschaft nach ihrer Vision zu formen.254 Schon zwei Jahre zuvor hatte Benn angesichts der interventionistischen Kehrtwendungen der Heath-Regierung gejubelt: „What we are witnessing is the breakdown of the wartime and postwar consensus which survived for nearly a generation. We must move forward towards a new consensus, markedly more favourable to Labour markedly more equal and markedly more democratic.“255 Früher als die meisten erkannte Benn, daß mit Heaths Eingriffen in die Privatwirtschaft die Mischung aus Marktwirtschaft und Staatsinterventionismus, die die wirtschaftspolitische Grundlage der britischen Nachkriegsordnung bildete, aus der Balance geraten war. In diesem Zusammenhang ist eine Unterhaltung Benns mit dem Herausgeber der Times William Rees-Mogg vom Herbst 1976 aufschlußreich, über die

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Ebd., S. 278. MIDDLEMAS, Politics, S. 18. The Times, 29. April 1975. Sunday Times, 27. März 1973.

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der Politiker in seinem Tagebuch berichtete. In dem Gespräch, so Benn, sei er sich mit Rees-Mogg über den Zusammenbruch des Keynesianismus völlig einig gewesen. Strittig sei ihnen lediglich die Frage erschienen, wann der Konsens endete – unter Wilson oder unter Heath. Letztlich hätten sie darin übereingestimmt, daß die politische Mitte unter Labour zusammengebrochen sei und daß das Land nun vor einer fundamentalen Richtungsentscheidung stehe.256 B)

DIAGNOSEN UND THERAPIEN

Die Diskussion über das Ende des Konsenses deutet ebenso wie die Debatte über die Schwächen des Keynesianismus darauf hin, daß sich Mitte der siebziger Jahre in Großbritannien der Eindruck verbreitete, eine Ära gehe zu Ende, etwas Neues breche an. Wie das Neue aussehen würde, war umstritten. Welche Therapien einzelne Autoren dem englischen Patienten vorschlugen, hing davon ab, welche Krankheitsdiagnose sie ihm zuvor ausgestellt hatten.257 Die Wirtschaftsjournalisten Peter Jay und Samuel Brittan etwa gingen davon aus, daß alle westlichen Demokratien letztlich von derselben Seuche befallen seien und daß sich ihr Land lediglich in einem besonders fortgeschrittenen Stadium befinde. Unter dem Einfluß Joseph Schumpeters und in kreativer Weiterentwicklung der public choice theory verwiesen beide auf strukturelle Schwächen, die jeder repräsentativen Demokratie innewohnten.258 Alle Politiker, argumentierte Brittan, wetteiferten in einem politischen Markt um Wählerstimmen. Sie verhielten sich dabei ähnlich wie Spekulanten an der Börse – je höher ihr Angebot, desto größer ihre Erfolgschancen. In der Sprache der Politik ausgedrückt bedeutete dies: je mehr ein Politiker versprach, um so größer seine Aussicht, gewählt zu werden. Auf diese Weise produzierte die Politik ständig wachsende Erwartungen der Bürger an die Regierung. Weil sich Wähler nur unvollkommen über die Realisierungschancen dieser Versprechen informierten, überschätzten sie die Möglichkeiten der Regierung und unterschätzten die volkswirtschaft256

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Tagebucheintrag vom 5. Oktober 1976, in: BENN, Tide, S. 618–9. Kritisch zum Konzept des Konsenses als Erklärungsmodell für die „britische Krise“ ALEXANDER SIEDSCHLAG, „Consensus“ und „Decline“: Systemtheoretische Konzepte und Erklärungen zu Substanz und Ursachen der „britischen Krise“ 1945–1979, in: Zeitschrift für Politik 44, 1997 (1), S. 46–71. Vgl. auch GWYN, S. 6–12. Vgl. ANTHONY DOWNS, An Economic Theory of Democracy, New York 1957. Der klassische Text der Public Choice-Schule ist JAMES M. BUCHANAN und GORDON TULLOCK, The Calculus of Consent, Ann Arbor 1962. Ähnlich wie Brittan und Jay argumentieren ROSE und PETERS; siehe auch CROZIER et al., S. 11.

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lichen Kosten der angekündigten Wohltaten. Die Folge sei eine Spirale zunehmender Inflation und Arbeitslosigkeit. Verschärft würden die Schwierigkeiten durch die in modernen Demokratien allenthalben erhobene und weitgehend akzeptierte Forderung nach größtmöglicher Gleichheit aller Bürger. Wer sein eigenes Wohlbefinden immer stärker am Standard anderer messe und nicht mehr an der Verbesserung seiner individuellen Lebensumstände, werde zunehmend neidisch auf alle Bessergestellten und fordere eine Verringerung der Unterschiede – koste es, was es wolle.259 Jay gelangte zu ähnlichen Schlußfolgerungen. Der Markt für Wählerstimmen und der Markt für Wirtschaftsgüter funktioniere nach völlig verschiedenen, häufig gegensätzlichen Regeln. Wenn die beiden sich überschnitten, was oft genug vorkomme, gerieten sie in ernsthaften Konflikt miteinander. Vor allen Dingen gebe es keinen Mechanismus, der dafür sorge, daß das Ergebnis einer demokratischen Wahl mit den volkswirtschaftlichen Ressourcen übereinstimme, die notwendig seien, um die Wahlversprechen der siegreichen Partei zu erfüllen: „[T]he essence of democratic politics is a gigantic celebration of the fact that you can get something for nothing, or at least that you – the individual voter – can get something for nothing.“ Dieser grundlegende Konstruktionsfehler repräsentativer Demokratien führe in der Praxis zu einer Kettenreaktion mit verheerendem Ausgang.260 Bei ihren Therapievorschlägen setzten Brittan und Jay unterschiedliche Akzente. Jay schaute hoffnungsvoll auf die USA. Er sah in den amerikanischen Institutionen und politischen Prioritäten ein Beispiel dafür, „that preferences through the ballot box can, at least at last resort, be brought to coincide with economic imperatives before disaster strikes“.261 Brittan dagegen plädierte (in Anlehnung an Schumpeter) für eine Begrenzung des Bereichs, in dem politische Entscheidungen maßgeblich seien, und für eine Selbstbeschränkung der Wähler. Diese müßten verstehen, daß nicht alle ihre Wünsche von der Politik erfüllt werden könnten. Er forderte einen grundsätzlichen Bewußtseinswandel der politischen Klasse. Nicht detaillierte 259

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SAMUEL BRITTAN, Economic Tensions of British Democracy, in: TYRRELL (Hrsg.), S. 126–43 (S. 143). Vgl. auch DERS., The Economic Contradictions of Democracy, in: British Journal of Political Science 5, 1975 (2), S. 129–59; DERS., The Economic Consequence of Democracy, London 1977. „[T]he operation of free democracy appears to force governments into positions (the commitment to full employment) that prevent them from taking steps (fiscal and monetary restraint) that are necessary to arrest the menace (accelerating inflation) that threatens to undermine the condition (stable prosperity) on which political stability and therefore liberal democracy depend“; PETER JAY, Englanditis, in: TYRRELL (Hrsg.), S. 167–85 (S. 171, 181). Vgl. auch DERS., A General Hypothesis of Employment, Inflation and Politics, London 1976. PETER JAY, Englanditis, in: TYRRELL (Hrsg.), S. 167–85 (S. 184).

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politische Programme, die ohnehin rasch von den Ereignissen überholt seien, könnten die liberale Demokratie retten, sondern nur ein Abschied vom egalitären Ideal, das die Intelligenzija beherrsche.262 Andere suchten die Fehler nicht in allgemeinen Trends, sondern in spezifisch britischen Fehlentwicklungen. Die überkommenen Institutionen des Landes, so lautete eine These, würden den Anforderungen einer modernen Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr gerecht; die altehrwürdigen Einrichtungen des Westminster-Modells der parlamentarischen Demokratie scheiterten an der immer komplexer werdenden Realität des 20. Jahrhunderts. Sie produzierten keine effizienten Lösungsstrategien für die anstehenden politischen und ökonomischen Schwierigkeiten, sondern einen „directionless consensus“, der selbst zum Teil des Problems geworden war.263 Insbesondere zwei Aspekte rückten dabei immer wieder ins Zentrum der Kritik: die politische und wirtschaftliche Elite Großbritanniens und die umfassenden Vollmachten, die jede britische Regierung und Mehrheitsfraktion im Unterhaus besaß. Die Kritik am Civil Service ging bis in die frühen sechziger Jahre zurück, als angesichts der Auflösung des Empire immer wieder die Verwaltungsbürokratie für den Macht- und Bedeutungsverlust des Landes verantwortlich gemacht wurde.264 Im Encounter beschäftigte sich Michael Shanks eingehender mit den Defiziten der Beamten in Whitehall und der Manager. „[T]he quality of the people who direct our economy – in industry and in Whitehall – is simply not high enough, and until we can improve it we will not get anywhere.“ Im Vergleich zum europäischen Festland sei Großbritannien eine Gerontokratie. Während dort eine soziale Revolution stattgefunden habe, die junge Menschen in einflußreiche Positionen katapultierte, sei hierzulande der Nachwuchs immer noch von der Macht ausgeschlossen. Zudem verfügten britische Beamte über weniger praktische Erfahrung als ihre Kollegen auf dem Kontinent. Das britische Erziehungssystem produziere gebildete, geistreiche Amateure, aber keine professionellen Staatsbeamten. Um diesem Mißstand abzuhelfen, forderte Shanks eine stärkere soziale Öffnung des Civil Service und eine bessere Verzahnung mit

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SAMUEL BRITTAN, Economic Tensions of British Democracy, in: TYRRELL (Hrsg.), S. 126–43 (S. 143). RICHARD ROSE, The Variability of Party Government, in: Political Studies 17, 1969 (12), S. 413–15. Anthony Sampson etwa schrieb 1962: „Britain’s malaise, I suspect, is not primarily a malaise of the ordinary people, but a malaise among the few thousand managers of our society who have failed to absorb and communicate new challenges and new ideas“; SAMPSON, Anatomy, S. 638.

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der freien Wirtschaft nach dem Vorbild Frankreichs, damit Beamte und Manager leichter zwischen Aufgaben in Wirtschaft und Verwaltung hinund herpendeln könnten.265 Die Kritik am Regierungssystem konzentrierte sich auf die Allmacht der Regierungspartei, die mit einer hauchdünnen Mehrheit im Unterhaus revolutionäre Veränderungen vornehmen und gleichzeitig immer mehr Macht in ihren Händen konzentrieren konnte.266 Am tiefschürfendsten analysierte das Problem der konservative Politiker Lord Hailsham in seiner Studie The Dilemma of Democracy, die 1978 erschien. „Our troubles derive from the fact that we are halting between two inconsistent opinions about the nature and function of government“, schrieb er. Zum einen besitze man in Großbritannien eine beinahe allmächtige Zentralregierung, die er als „elective dictatorship“ bezeichnete; zum anderen halte man an der Idee von begrenzter Regierungsmacht und Rechtsstaatlichkeit fest. Letztlich seien beide Konzepte jedoch unvereinbar. Der Politiker ließ keinen Zweifel daran, daß seine Sympathien der Theorie des „limited government“ gehörten. Die ständige Ausweitung der Regierungskompetenzen und -zuständigkeiten hielt er für schädlich, weil sie sowohl die Effektivität der Regierung als auch den Respekt vor ihr untergruben.267 Die Lösung bestand nach Hailsham in der Selbstbeschränkung des Parlaments, das sich zu einer Begrenzung seines Aufgabenbereichs durchringen müsse. Dies solle in drei Stufen geschehen: erstens indem man die Anzahl der Gesetzesentwürfe verringere und die verbleibenden Projekte intensiver berate; zweitens durch eine Verlagerung weniger wichtiger Vorhaben auf nachgeordnete Entscheidungsebenen; und drittens indem man die Zahl der Unterhausabgeordneten reduziere. Die wichtigste Aufgabe sehe er jedoch darin, die unbegrenzte Macht der Legislative zu beschränken, schloß Hailsham, „partly by establishing a new system of checks and balances, partly by devolution, and partly by restricting the power of Parliament to infringe the rights of minorities and individuals. In other words we need a new constitution, and like all new constitutions its terms must be reduced to writing and defined by law.“268

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MICHAEL SHANKS, The Comforts of Stagnation, in: Encounter, Juli 1963, S. 30–8 (S. 31, 33). Vgl. auch ANDREW SHONFIELD, The Plaintive Treble, ebd., S. 39–44; LORD HAILSHAM, Moral Betrayal, not Economic Failure, in: HUTBER (Hrsg.), S. 41–6 (S. 42). „[A]n intolerable strain is being imposed upon our Parliamentray system“, schrieb der konservative Publizist Patrick Hutber, „a virtually one-chamber Parliament without written constitution or Supreme Court has proved a powerful instrument of tyranny as a one-vote majority leads to revolutionary changes“; HUTBER (Hrsg.), S. 111. HAILSHAM, Dilemma, S. 9, 125.. Ebd., S. 132.

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Wer den Niedergang Großbritanniens nicht auf institutionelle Faktoren zurückführte, machte häufig kulturelle Eigenheiten des Landes für dessen Malaise verantwortlich. „[W]e are faced with a ‚functional‘ rather than a ‚structural‘ disorder“, argumentierte etwa Koestler 1963. Nicht objektive, materielle, ökonomische Gründe waren seiner Ansicht nach für die Schwierigkeiten verantwortlich, sondern subjektive, psychologische, kulturelle.269 Als konkrete Beispiele wurden zumeist das britische Erziehungssystem, traditionelle Vorurteile der britischen Oberschicht gegenüber wirtschaftlichem Effizienzdenken sowie das überkommene starre Klassensystem angeführt. Gemeinsam war all diesen Erklärungsversuchen, daß sie die Gründe für den britischen Niedergang nicht in der Gegenwart oder in der jüngeren Vergangenheit suchten, sondern weit in die Geschichte zurückgriffen. „[T]he English Disease is not the novelty of the past 10 or even 20 years“, schrieb der Historiker Correlli Barnett, „but a phenomenon dating back more than a century“.270 Die zentralen Argumente jener kulturellen Erklärung des britischen Niedergangs wurden bereits gegen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt. Schon Ernest Edwin Williams benannte in seiner 1896 erschienenen Streitschrift Made in Germany den nachlassenden Unternehmergeist britischer Industrieller als Hauptursache für den relativen Niedergang des Landes im Vergleich zu Deutschland und den USA.271 Mehr als sechzig Jahre später wurden diese Argumente im Encounter wieder aufgegriffen, um den neuerlichen relativen Niedergang des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären. Wiederum 15 Jahre darauf popularisierten die einflußreichen Monographien Barnetts und Martin Wieners die These von den kulturellen Ursachen des Niedergangs.272 Obwohl Großbritannien das Mutterland der Industriellen Revolution sei, so der Ausgangspunkt all die269 270 271

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ARTHUR KOESTLER, The Lion and the Ostrich, in: Encounter, Juli 1963, S. 5–8 (S. 8). CORRELLI BARNETT, Obsolescence and Dr Arnold, in: HUTBER (Hrsg.), S. 29–34 (S. 29). ERNEST EDWIN WILLIAMS, „Made in Germany“, hrsg. und eingel. von AUSTEN ALBU, Brighton 1973 (Originalausgabe: London 1896). „The once enterprising manufacturer has grown slack“, schrieb einige Jahre später Arthur Shadwell, „he has let the business take care of itself, while he is shooting grouse or yachting the Mediterranean“; ARTHUR SHADWELL, Industrial Efficiency. Bd. 2, Neuaufl. London 1999 (Originalausg.: London 1906), S. 453. Encounter, Juli 1963; BARNETT, Collapse; WIENER. Kritisch über diese Thesen urteilt ULRICH WENGENROTH, Deutsche und britische Unternehmer im 19. und 20. Jahrhundert, in: WOLFGANG J. MOMMSEN (Hrsg.), Die ungleichen Partner. Deutsch-Britische Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, S. 101–2. Vgl. auch die abwägenden Überlegungen von W. D. RUBINSTEIN, Cultural Explanations for Britain’s Economic Decline: How True?, in: COLLINS und ROBBINS (Hrsg.), S. 59–90, und neuerdings die Essaysammlung von FRANCIS M. L. THOMPSON, Gentrification and the Enterprise Culture. Britain, 1780–1980, Oxford 2001.

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ser Schriften, hätten seine kulturellen und politischen Eliten in einzigartiger Weise Traditionen, Werte und Einstellungen aus der vorindustriellen Zeit bewahrt.273 Den Grund hierfür suchten die Autoren vor allem in der mentalen Spaltung des Landes in den industriellen Norden und den überwiegend agrarischen Süden, der trotz der wirtschaftlichen Schwerpunktverschiebung weiterhin die politischen Führungsschichten stellte.274 Zusätzlich verwiesen sie darauf, daß sich in anderen Ländern der landbesitzende Adel gegen die nouveaux riches der Industriellen Revolution abgeschottet und auf diese Weise seinen Weg in den wirtschaftlichen Ruin besiegelt habe. In Großbritannien jedoch sei die Entwicklung anders verlaufen. „The British aristocracy, less rigid, embraced the rising entrepreneurs and infected them and their children with its own standard of values; and the quality of industrial management has suffered in consequence.“275 Die Industrialisierung habe die Aristokratie nicht entmachtet, sondern lediglich in eine noch reichere Oligarchie aus alteingesessener Nobilität und neureichem Bürgertum verwandelt, die an den überkommenen Werten und Verhaltensweisen des Adels festhielt. Die „gentrification of the industrialist“276 sei durch Institutionen wie die anglikanische Hochkirche, die elitären Privatschulen sowie die Universitäten Oxford und Cambridge ermöglicht worden. Insbesondere die viktorianischen Privatschulen „saw its purpose not as turning out well-informed and ambitious future leaders of industry, but Christian gentlemen with a mission of governing the Empire“.277 Man habe das Studium griechischer und römischer Klassiker den Natur- oder Ingenieurwissenschaften vorgezogen, verächtlich auf praktische Berufe herabgeblickt. Dementsprechend habe es auch in Oxford und Cambridge, wohin die Söhne aufstrebender Industrieller zum Studium geschickt wurden, bis ins späte 19. Jahrhundert hinein kaum Gelegenheit gegeben, angewandte Naturwissenschaften oder Ingenieurswissenschaften zu studieren, schrieb der Labour-Abgeordnete Austen Albu. Sie hätten gelernt „to become gentlemen, but nothing so vulgar as how to practice any trade or profession.“278 Seitdem hätten die 273 274 275 276 277 278

Siehe MICHAEL SHANKS, The Comforts of Stagnation, in: Encounter, Juli 1963, S. 30–8 (S. 35). Siehe vor allem WIENER, S. 41–2; aber auch DELLHEIM. MICHAEL SHANKS, The Comforts of Stagnation, in: Encounter, Juli 1963, S. 30–8 (S. 35). Vgl. auch WIENER, S. 127–54. Ebd., S. 127. CORRELLI BARNETT, Obsolescence and Dr Arnold, in: HUTBER (Hrsg.), S. 29–34 (S. 32). AUSTEN ALBU, Taboo on Expertise, in: Encounter, Juli 1963, S. 45–50 (S. 46) [Hervorhebungen im Original]. Es ist gewiß kein Zufall, daß ausgerechnet Albu im Jahr 1973 Williams’ „Made in Germany“ neu herausgab und selbst mit einem Vorwort versah; WILLIAMS.

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britischen Ober- und Mittelschichten ein unüberwindliches Mißtrauen gegenüber der Industrie und industriellem Fortschritt bewahrt, meinte auch Barnett, der hinzufügte, dies sei „a major influence in our decay“.279 In der viktorianischen Ära sei die Verehrung für gebildete Amateure und Dilettanten zum Allgemeingut der britischen Führungsschichten geworden. Viele Anhänger der kulturellen Niedergangsthese zogen von dort eine direkte Linie in die Gegenwart – zu den Fehlern des britischen Erziehungssystems im allgemeinen und zur mangelhaften Ausbildung britischer Manager im besonderen.280 Henderson etwa beklagte in seiner Abschiedsdepesche den mangelnden Professionalismus des britischen Führungspersonals in der Privatwirtschaft. In Deutschland binde die Industrie seit den Tagen Bismarcks die besten Nachwuchskräfte an sich, „whereas in the United Kingdom those leaving school and university seem less prepared to make a career in industry than to join a merchant bank in the City of London or one of the public services“.281 Peregrine Worsthorne vom Sunday Telegraph glaubte, noch eine andere schädliche Folge der Feudalisierung des britischen Bürgertums erkannt zu haben: Es sei ganz einfach zu nett – viel umgänglicher als sein Gegenstück auf dem Kontinent oder in den USA. Weil man den britischen Bürgern im 19. Jahrhundert beigebracht hätte, sich wie „country gentlemen“ zu benehmen, seien sie nun schlecht gewappnet für den harten Klassenkampf, der ihnen von einer militanten Arbeiterklasse aufgezwungen werde.282 Andere drehten den Spieß um und machten die britische Oberund Mittelschicht dafür verantwortlich, daß in Großbritannien ein anachronistisches Klassensystem überdauert hatte, das talentierte junge Leute aus unteren Schichten am Aufstieg hindere.283 Vor allem aber sahen die Vertreter der kulturellen Niedergangserklärung das Problem als Frage des nationalen Willens, der kollektiven Psyche, die es zu verändern galt. „What ails Britain is not the loss of Empire but the loss of incentive“, erklärte Koestler. Der Brite ähnelte seiner Ansicht nach einem jener Fabelwesen, die aus zwei unterschiedlichen Tierkörpern zusammengesetzt sind: im britischen Fall einem Löwe und einem Strauß. „In times of

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CORRELLI BARNETT, Obsolescence and Dr Arnold, in: HUTBER (Hrsg.), S. 29–34 (S. 32). So etwa JOHN VAIZEY, The Tragedy of Being Clever, in: Encounter, Juli 1963, S. 107–10 (S. 109); GORONWY REES, Amateurs and Gentlemen or the Cult of Incompetence, ebd., S. 20–5 (S. 22). The Economist, 2. Juni 1979. PEREGRINE WORSTHORNE, The Trade Unions: New Lads on Top, in: TYRRELL (Hrsg.), S. 5–21 (S. 19). So etwa JOHN VAIZEY, The Tragedy of Being Clever, in: Encounter, Juli 1963, S. 107–10 (S. 108); ARTHUR KOESTLER, The Lion and the Ostrich, ebd., S. 5–8 (S. 8).

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emergency he rises magnificently to the occasion. In between emergencies he buries his head in the sand with the tranquil conviction that Reality is a nasty word invented by foreigners.“284 Die These von der Existenz eines britischen Volkscharakters, der zwischen Löwenmut und Realitätsverweigerung schwankte, fand in der Folgezeit zahlreiche Anhänger. Kein Heilmittel gegen die britische Krankheit werde anschlagen, stellte etwa der Hudson-Report von 1974 fest, „if there is not a shift, a deep shift, in psychology, in will – in short, in style“. Lord Hailsham beharrte ebenfalls darauf, die Ursache der britischen Schwierigkeiten hätte nichts mit der Wirtschaft, der Lage in der Welt oder dem Verlust des Empires zu tun. „It is a disease of the spirit for which there is no one to blame but ourselves.“285 Henderson blickte hoffnungsvoll auf den deutschen und französischen Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg, der zeige, was ein Volk erreichen könne, wenn es die nötige Willenskraft und eine entschiedene Führung besitze. Nichts im Schicksal einer Nation sei unausweichlich, alles hänge vom nationalen Willen ab. Die Briten seien sicherlich imstande, ihr Schicksal zu meistern, wenn sich ihr Nationalcharakter in den Jahrzehnten seit dem Krieg nicht vollkommen verändert habe. Es sei lediglich notwendig, ihnen den Ernst der Lage deutlich zu machen und sie von der Notwendigkeit einer gemeinsamen nationalen Willensanstrengung zu überzeugen – ähnlich wie dies in Frankreich und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen sei. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte befinde sich sein Land in einer Notlage, schloß der Diplomat, „and we can recover if the facts are known and faced and if the British people can be fired with a sense of national will“.286 C)

THATCHERS IDEOLOGISCHES ERKLÄRUNGSMODELL

Thatcher wurde von der Debatte über die britische Krankheit in verschiedener Weise beeinflußt. Aufmerksam verfolgte sie die pessimistische Berichterstattung in den Medien, sammelte die düstersten Artikel und zitierte sie in ihren Reden.287 Im Kreis ihrer Berater und engsten Vertrauten zirkulierte Barnetts Studie, später wurde auch Wieners Untersuchung herumgereicht. Von Hendersons Abschiedsdepesche war die Politikerin derart 284 285 286 287

Ebd., S. 5, 8. Hudson-Report zit. nach GWYN, S. 9; LORD HAILSHAM: Moral Betrayal, not Economic Failure, in: HUTBER (Hrsg.), S 41–6 (S. 41). The Economist, 2. Juni 1979. Vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 422, Fn. 2; ähnlich auch am 17. Mai 1975 auf dem Parteitag der schottischen Konservativen in Dundee: News Service 473/75, S. 1–2.

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beeindruckt, daß sie den pensionierten Diplomaten nach ihrem Wahlsieg im Mai 1979 reaktivierte und als Botschafter nach Washington entsandte.288 Vielfach griff sie Argumente und Gedanken aus der Debatte auf: Wie Brittan prangerte sie das Gleichheitsideal an. Mit Jay blickte sie hoffnungsvoll auf die Vereinigten Staaten. Ihre instinktive Abneigung gegen den Civil Service deckte sich mit den Analysen von Shanks. Ihrem Parteifreund Hailsham folgte sie bei seiner Forderung nach einem „limited government“. Und ihr Loblied auf Unternehmer und Manager klang wie ein Echo auf die Thesen eines Albu, Rees oder Barnett. Insofern wurden Thatchers Ansichten über Staat und Gesellschaft entscheidend von der Diskussion über den britischen Niedergang geprägt. Ihr eigener Beitrag war doppelter Natur. Erstens betonte sie mehr als jeder andere Spitzenpolitiker, wie tief das Land während der vergangenen Jahrzehnte gesunken sei. Die Rolle als Oppositionsführerin erlaubte es ihr, die Krisensymptome deutlicher beim Namen zu nennen als die Labour Party, die als Regierungspartei größere Rücksichten nehmen mußte. Dabei war für Thatcher die Klage über den britischen Niedergang kein bloßer Propagandatrick. Sie glaubte felsenfest daran, daß ihr Land nur noch eine einzige Chance habe, ehe es vollends dem Sozialismus anheimfalle. 1977 vertraute sie dem Schriftsteller Kingsley Amis an, falls ihre Partei die nächste Wahl verliere, plane sie, ihre beiden Kinder nach Kanada zu schicken, damit diese dort – fern von den sozialistischen Übeln der Heimat – in ihr Berufsleben starteten.289 Zweitens begriff Thatcher den Niedergang aber auch als Herausforderung, die es anzunehmen und zu meistern galt. In diesen beiden Spielarten zog sich das Thema des britischen Niedergangs wie ein roter Faden durch ihre Reden. Immer wieder dienten Vergleiche mit der eigenen glorreichen Vergangenheit und der gegenwärtigen Prosperität der westeuropäischen Nachbarn dazu, das Ausmaß des Verfalls deutlich zu machen. Schon in ihrer Antrittsrede als Parteiführerin stellte sie fest: „I believe our people [. . .] are aware that all is not well. They do not like living beyond their means as a nation. They don’t like, when they travel abroad, being treated as a poor nation whose only greatness lies in her past.“290 Drei Monate später bezog sie sich explizit auf die Niedergangsdiskussion in den Medien. Heerscharen von Journalisten kämen nun nach Großbritannien, erklärte sie vor schottischen Konservativen, angelockt vom Geruch ökonomischen und

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Vgl. RANELAGH, S. 186–7. Zur Rezeption von Barnetts und Wieners Studien in Thatchers Beraterkreis siehe auch LAWSON, S. 607; HALCROW, S. 178–9. KINGSLEY AMIS, Memoirs, London 1991, S. 315–6. Am 20. Februar 1975 in ihrer Antrittsrede: News Service 143/5, S. 2.

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II. Der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung

politischen Verfalls. „Where other countries have succeeded, we have failed. [. . .] The picture is grim.“291 Ihr Land stecke gegenwärtig in großen Schwierigkeiten, gab sie vor einem amerikanischen Publikum im September 1975 zu; es wäre töricht, dies zu leugnen. „We have, to a more intense degree than many other countries, a combination of rising prices, falling output and unemployment. And, we have a sense of losing our way.“292 Schuld an den Mißständen waren Thatchers Meinung nach die Fehlentwicklungen der Nachkriegszeit, die sich auf die Kurzformeln „Keynes“ und „Konsens“ bringen ließen. Darin deckte sich ihre Diagnose mit den Ansichten vieler anderer Kritiker der Nachkriegsordnung. Zugleich gab sie dem Argument eine besondere Wendung: Die kompromißorientierte, auf den Staat fixierte Politik beider Parteien seit 1945 habe dazu geführt, daß traditionelle britische Tugenden verdorrten, Trägheit, Antriebsarmut und Besitzstandsdenken um sich griffen. „For fifty years or more now we have lived in an intellectual climate“, erklärte sie im Mai 1976, „in which we have been led to believe that decisions made by the State on behalf of the people are in some way both more moral and more efficient than decisions taken by the individual himself.“293 Dieses Meinungsklima begann sich nach ihrer Einschätzung allmählich zu verändern. Allzu offenkundig stießen die politischen und wirtschaftlichen Instrumentarien der zurückliegenden 25 Jahre an ihre Grenzen. „Keynesian conventional wisdom – monetary expansion, indifference to inflation, the irrelevance of deficits – is dead“, konstatierte sie auf dem Höhepunkt der IWF-Krise im Herbst 1976 hoffnungsfroh.294 Eineinhalb Jahre später wiederholte sie: „The 1970’s have witnessed the passing of what might be called the comfortable Keynesian certainties of the post-war world: the conviction that Governments can always simply spend their way out of recession.“295 Der Keynesianismus war Thatchers Ansicht 291 292 293 294

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Am 17. Mai 1975 auf der Jahreskonferenz der schottischen Konservativen in der Caird Hall in Dundee: News Service 473/75, S. 2. Am 19. September 1975 vor dem National Press Club in Washington: News Service 788/75, S. 1. Am 25. Mai 1976 auf dem CDU-Parteitag in Hannover: News Service 544/76, S. 4. Am 20. Oktober 1976 vor der American Chamber of Commerce im Grosvenor House in London: News Service 10111/76, S. 5. Thatcher gehörte zu denjenigen, die den Ökonomen selbst von dem Vorwurf freisprachen, für die Fehlentwicklung des „Keynesianismus“ verantwortlich zu sein. Sie fügte daher hinzu: „Keynes himself had an insight, almost an obsession, that money was important. Some of his followers did not. This has led to distressing economic mismanagement in this country.“ Ähnlich auch am 8. September 1977 vor der British American Chamber of Commerce im Ballsaal des Hotel Pierre in New York: News Service 873/77, S. 1. Am 7. Februar 1978 vor Overseas Bankers bei einem Luncheon in Plaister’s Hall in London: News Service 161/78, S. 1.

2. Das wachsende Krisenbewußtsein

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nach bei Politikern aller Parteien deshalb so beliebt, weil er sie der Notwendigkeit unpopulärer Entscheidungen enthob. Seiner Theorie zufolge konnte der Staat über die Regulierung der Nachfrage gleichzeitig hohe Profite, Vollbeschäftigung und steigende Löhne garantieren. Darin bestand in den Augen der Tory-Chefin die Grundlage jenes Konsenses, auf den sich die politische Klasse des Landes nach 1945 geeinigt hatte. Das Problem war, daß man mit dem Ende des Wirtschaftswachstums auch die Grenzen des Keynesianismus erlebte.296 Wie oft in Krisenzeiten, führte auch im Großbritannien der 1970er Jahre die politische und ökonomische Notlage zur Polarisierung. Die gemäßigte Mitte, wo die überkommenen Sichtweisen des Establishments zu finden waren, wurde geschwächt, die Extreme gestärkt. Befürworter eines radikalen Neuanfangs auf der Rechten wie auf der Linken waren sich einig, daß die Konsenspolitik der Nachkriegsära auf die neuen Herausforderungen keine Antwort wußte. Thatcher zog aus dieser Überzeugung die Schlußfolgerung, ähnlich wie kurz zuvor Tony Benn auf der Linken, ihr politisches Profil zu schärfen, indem sie nicht wie den demokratischen Tugenden des Kompromisses und der Konsenssuche huldigte, sondern sie denunzierte. Schon 1968 hatte sie erklärt, die Suche nach einem Konsens sei nichts weiter als „an attempt to satisfy people holding no particular view about anything“.297 Wenig später wiederholte sie im Daily Telegraph in einem Artikel mit der Überschrift „Consensus – or choice?“, ihr Plädoyer gegen Kompromiß und Ausgleich: „Clash of opinions is the stuff of which democracy is composed.“298 Nach ihrer Wahl zur Parteiführerin konnte sie noch deutlicher werden. Im Herbst 1981 definierte sie „Konsens“ polemisch als einen „Vorgang, bei dem man alles aufgibt, woran man glaubt, all seine Prinzipien, Werte und politischen Ansichten, und etwas anstrebt, woran niemand glaubt, aber wogegen auch niemand etwas einzuwenden hat. Der Vorgang, bei dem man genau die Probleme, die gelöst werden müßten, umgeht, nur weil man sich in einem bestimmten Punkt nicht einigen kann. Aber für welche große Sache kann man unter dem Banner des Spruches ‚Ich stehe für den Konsens‘

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Eine Ära der britischen Geschichte gehe zu Ende, sagte Thatcher im Herbst 1977, eine neue beginne. Diese sei nicht mehr vom Wachstumsdenken geprägt, sondern durch strikte Haushaltsdisziplin, „[which] is a much better interpretation of modern economic problems than that which is urged on us in Keynes’s name“; am 8. September 1977: Speaking to the British American Chamber of Commerce, in the Ball Room of the Hotel Pierre, New York, News Service 873/77, S. 1. Am 10. Oktober 1968: „What’s Wrong with Politics“. Address to the Conservative Political Centre Meeting in Blackpool, abgedruckt in: GARDINER, S. 207–16 (S. 215). Daily Telegraph, 17. März 1969.

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siegreich streiten?“299 Schon als Oppositionsführerin stilisierte sie sich bewußt zum exakten Gegenteil eines Konsenspolitikers. Sie sah sich selbst als Überzeugungstäterin und wollte auch von anderen so wahrgenommen werden. „I am not a consensus or a pragmatic politician“, erklärte sie in einem Zeitungsinterview im Februar 1979. „I am a conviction politician.“300 Inhaltlich identifizierte sie „Konsens“ mit „Sozialismus“. Beide Begriffe verschmolzen in ihrer Vorstellung zu einem einzigen Feindbild, das ihrem Feldzug einen Sinn und ein Ziel gab. Als „conviction politician“ war sie auf einen derartigen Gegenpol angewiesen, der ihren Überzeugungen diametral entgegenstand. Eine ihrer wichtigsten Leistungen als Oppositionsführerin bestand darin, der Diskussion um den britischen Niedergang eine politische Stoßrichtung und Durchschlagskraft gegeben zu haben, indem sie sie auf dieses Feindbild hin ausrichtete. Vereinfacht gesprochen lautete ihre Argumentation: Schuld an der Krise Großbritanniens ist der Sozialismus, der in seinen verschiedenen Schattierungen radikal zu bekämpfen ist – nach außen gegen den totalitären Bolschewismus der Sowjetunion, im Innern gegen die extreme Linke der Labour-Partei, die aus Großbritannien einen diktatorischen Staat nach osteuropäischem Vorbild machen will, aber auch gegen die gemäßigten, konsensorientierten Strömungen in allen Parteien, die den zerstörerischen Kräften keinen entschiedenen Widerstand entgegensetzen. So einfach, ja schlicht diese Argumentation war, enthielt sie doch ein umfassendes Erklärungsangebot für die Misere des Landes. Die vielfältigen Krisenphänomene in Wirtschaft, Gesellschaft und den politischen Parteien ließen sich ihrer Ansicht nach allesamt auf das Grundübel des Sozialismus zurückführen. Ein wichtiges Kennzeichen von Thatchers Auseinandersetzung mit dem Sozialismus war die Militanz ihrer Sprache. Oft benutzte sie Metaphern und Bilder, die aus dem Wortschatz des Militärischen stammten. Sie sprach von Kriegen, Schlachten und Kreuzzügen, von Kampf und Vernichtung. Der Kampf gegen den Sozialismus begann für sie bereits auf der Ebene der Alltagssprache. „One way to destroy capitalism“, zitierte sie Lenin, „was to devalue its currency. Another way is to debase its language.“301 In einem „Krieg der Worte“ wollte sie die Deutungsmacht über das politische Vokabular zurückgewinnen, die ihrer Ansicht nach die Konservativen vor Jahrzehnten an die Linke verloren hatten: „The war is a true war of words“, erklärte sie. Der Gegner habe die ursprüngliche Bedeutung vieler Worte 299 300 301

Zit. nach THATCHER, Downing Street, S. 251. The Observer, 25. Februar 1979 [Hervorhebungen im Original]. Am 20. März 1976 beim Central Council Meeting, Norwich, News Service 317/76, S. 4.

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aufgeweicht, aufgelöst. Er habe die Wahrheit gedreht und verbogen, bis seine Propaganda die Sprache vollkommen durchdrungen, den eigentlichen Sinn vieler Begriffe auf den Kopf gestellt habe. Wie die Umdeutung vonstatten gehe, demonstrierte sie am Beispiel des Wortes public: Only when followed by the words ‚house‘ or ‚bar‘ do we instantly recognise its purpose. But when it is followed by the word ‚ownership‘ – ‚Public ownership‘ – it has come to mean something totally different. We own the mines. We own the railways. We own the Post Office. But when it comes down to it, we don’t really own anything. ‚Public ownership‘ should mean that you and I own something, that we have some say in how it is run, that it is accountable to us. But the fact is that the words ‚public ownership‘ have come to mean the very, very private world of decisions taken behind closed doors, and of accountability to no-one.302

Sozialisten sagten „publicly owned“, wenn sie eigentlich sagen müßten: „State-controlled“. Ihre Propaganda ziele darauf, durch sprachliche Irreführung und gedankliche Verwirrung der Bürger politische Ziele durchzusetzen, die unverblümt ausgedrückt niemals eine Mehrheit finden würden. „Socialists say ‚Government aid‘ when what they mean is ‚taxpayers’ aid‘. Socialists say ‚social justice‘ when what they mean is ‚selective justice‘. Socialists say ‚equality‘ when what they mean is ‚levelling down‘.“303 Für Thatcher begann mit dem Krieg der Worte ein umfassender Kampf der Ideen.304 Sie erblickte in der politischen Auseinandersetzung nicht nur einen Wettstreit um Macht und effizientere Lösungsvorschläge, sondern einen Kampf gegensätzlicher Weltanschauungen. Geprägt von den religiösen Vorstellungen ihres methodistischen Elternhauses, sah sie im Gegeneinander von Tory- und Labour-Partei einen Kampf der Kräfte des Lichts gegen die Mächte der Finsternis. „This clash of philosophies“, erklärte sie, „has become to be embodied more closely in the party line-up than any of us foresaw or wished. But battle is joined and we must win.“305 Es genügte nicht, die nächsten Wahlen zu gewinnen, wenn man nicht zugleich die geistige Auseinandersetzung für sich entschied. „[W]inning not just power but the battle of ideas“, lautete ihr Ziel.306 Sie wollte nicht nur Labour als

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Am 31. Januar 1976 in ihrem Wahlkreis in Finchley: News Service 94/76, S. 2–3. Am 20. März 1976 beim Central Council Meeting, Norwich: News Service 317/76, S. 4. „Whenever we can, let us, like Luther, nail the truth to the door – and let us do it in unambiguous English. These are the opening rounds in the battle of ideas. It is a battle that we are winning“; am 20. März 1976 beim Central Council Meeting, Norwich: News Service 317/76, S. 4. Am 6. Mai 1978 vor der Bow Group in der Royal Commonwealth Society in London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 71–82 (S. 81). Am 4. Mai 1976 vor dem Junior Carlton Club Political Council, abgedruckt in: THATCHER, Children, S. 51–9 (S. 51).

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II. Der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung

Regierungspartei für möglichst lange Zeit ablösen, sondern „den Sozialismus“ in Großbritannien vernichten. „Our aim is not just to remove from office this uniquely incompetent Government, it is to destroy the socialist fallacies – indeed the whole fallacy of socialism that the Labour Party exists to spread.“307 Auf dem Höhepunkt der IWF-Krise im Oktober 1976 rief sie während der konservativen Parteikonferenz in Brighton alle Briten zu einem Kreuzzug gegen den Sozialismus auf, der das Schicksal ihres Landes entscheiden sollte: „I appeal to all those men and women of good will who do not want a Marxist future for themselves or their children. For this is not just a fight about national solvency. It is a fight about the very foundations of the social order. It is a crusade not merely to put a temporary break on Socialism but to stop its onward march once and for all.“308 Thatcher war überzeugt, daß sie im Kampf der Ideen siegen werde. Denn sie hielt den Sozialismus für wirtschaftlich hoffnungslos ineffektiv. Die ökonomischen Schwierigkeiten, mit denen die Regierungen Wilson und Callaghan zu kämpfen hatten, führte sie nicht auf Turbulenzen der Weltwirtschaft, sondern auf sozialistisches Mißmanagement zurück. Wo andere von einer Krise des Kapitalismus sprachen, redete sie von einer Krise des Sozialismus.309 Die Probleme der Labour-Regierung wendete sie ins Grundsätzliche. Nicht die Wirtschaftspolitik der Regierung war gescheitert, sondern der Sozialismus als System. Allzu lange habe man den Sozialisten erlaubt, die vielen kleinen Fehler und Unzulänglichkeiten des Kapitalismus mit der heilen Welt der sozialistischen Utopie zu vergleichen. Statt dessen müsse man endlich damit beginnen „to compare Socialism as it really is with Socialism as it is painted up to be [. . .] Socialism is a system that is inherently inefficient, inherently wasteful, and inherently unjust.“ Zwar rechnete sie Schatzkanzler Healey und seinen Ministerkollegen wieder und wieder ihre Mißerfolge vor: der Kursverfall des Pfundes, die galoppierende Inflation, steigende Staatsverschuldung, zunehmende Arbeitslosigkeit, zurückgehende Produktivität und immer höhere Steuern. Es reichte ihr jedoch nicht festzustellen, daß dieser oder jener Minister besonders schlecht, diese oder jene Einzelmaßnahme schädlich gewesen sei. Vielmehr lautete ihre wirkliche Botschaft, „that Socialism itself has failed. [. . .] Socialism does not work. 307 308 309

Ebd., S. 51–2. Am 8. Oktober 1976 auf dem Tory-Parteitag in Brighton, zit. nach The Times, 9. Oktober 1976. „The crisis of 1976“, so Thatcher, „wasn’t a crisis of capitalism. It was a crisis of Socialism. It was the price we had to pay for the policies of Labour’s first two years“; am 4. Februar 1978 auf der Conservative Local Government Conference in der Caxton Hall in London: News Service 143/78, S. 6.

2. Das wachsende Krisenbewußtsein

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It has not solved our economic problems, but has made them a good deal worse. Socialism is only about distribution: first the distribution of wealth created by free enterprise, then of the poverty created by Socialism“.310 Thatcher blieb nicht bei der Kritik an der Ineffizienz des Sozialismus als Wirtschaftsordnung stehen. Ebenso wichtig erschien ihr die moralische Dimension der Auseinandersetzung. Ihrer Ansicht nach besaßen die Sozialisten einen moralischen Startvorsprung, der ihnen nicht zustand. Während dem Sozialismus weithin zugute gehalten wurde, er sei in der Theorie gut, nur in der Praxis schwer durchführbar, galt der Kapitalismus als moralisch minderwertig. Den Sozialisten sei es gelungen, sich und andere davon zu überzeugen, daß eine auf Profit ausgerichtete freie Marktwirtschaft Egoismus und Selbstsucht nicht nur voraussetze, sondern auch hervorbringe – „whereas they claim Socialism is based on, and nurtures, altruism and selflessness“.311 Thatchers Ansicht nach war das Gegenteil richtig: Im Kapitalismus trug das wohlverstandene Eigeninteresse zum Allgemeinwohl bei, während der Sozialismus zur Herrschaft einer kleinen Gruppe von Politbürokraten und zur Unterdrückung der Mehrheit führte. In the end, the real case against Socialism is not its economic inefficiency, though on all sides there is evidence of that. Much more fundamental is its basic immorality. There is nothing pure about the motives of people who want to boss your lives. Socialism is a system designed to enlarge the power of those people to the point where they control everyone and everything.312

Als ultimatives Schreckbild eines sozialistischen Staates in den Händen einer kleinen Clique allmächtiger Politiker und Bürokraten diente der Tory-Chefin die Sowjetunion. Dort könne man erleben, welche Folgen ein alles kontrollierender, überall eingreifender Staatsapparat zeitige. Es sei eine Illusion zu glauben, was dort geschehen sei, könne sich im Westen nicht wiederholen. Vielmehr müsse das sowjetische Beispiel als Warnung dienen, den Anfängen zu wehren. Der westliche Sozialismus unterscheide sich nicht wesentlich vom östlichen. „Fundamentally, the collective mystique which inspires the Socialist parties of much of Europe, including Britain, differs from that in the Soviet system more in degree than in kind.“313

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Am 4. März 1977 in Grantham: News Service 270A/77, S. 10–1. Am 4. Juli 1977 in ihrer Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 53); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 62). Am 4. März 1977 in Grantham: News Service 270A/77, S. 12. Am 20. September 1976 vor dem Federal Council der Liberal Party of Australia in Melbourne, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 10–7 (S. 15).

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II. Der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung

Die Gleichsetzung von westlichem Sozialismus und Sowjetkommunismus ermöglichte es der Politikerin, ihre innen- und außenpolitischen Vorstellungen zur Deckung zu bringen. In beiden Fällen ging es darum, gegen den Sozialismus zu kämpfen – sei es gegen den Bolschewismus, sei es gegen die Labour-Linke als fünfte Kolonne Moskaus oder die gemäßigten Politiker in allen Parteien, die vor der drohenden Gefahr die Augen verschlossen. Der innenpolitischen Konsenssuche, die eine Lösung der Probleme verhinderte, entsprach in der Außenpolitik das Konzept der Détente, das über die unüberbrückbaren Systemgegensätze zwischen Ost und West nur hinwegtäuschte, die freie Welt einlullte, so daß ihre Wachsamkeit nachließ.314 In ihren Erinnerungen deutete sie später an, auch dieser Begriff gehöre ins Arsenal sozialistischer Propagandawaffen in jenem „Krieg der Worte“, den sie gewinnen wollte. „Mein schierer Instinkt sagte mir, dieses beschönigende Fremdwort verberge eine häßliche Wirklichkeit, die in geradlinigem Englisch unverhüllt zutage träte.“ Mit „Entspannung“ sei letztlich nichts anderes als „Appeasement“ gemeint.315 Welche Assoziation sich hinter der Gleichsetzung von innenpolitischem „Konsens“ und außenpolitischem „Appeasement“ verbarg, lag auf der Hand: So wie die Beschwichtigungspolitik der dreißiger Jahre in die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mündete, so drohte die Konsenspolitik der Nachkriegszeit ins politische und ökonomische Desaster zu führen. Das Land benötigte einen neuen Churchill, wollte es zu neuer Größe finden. Thatcher hatte recht genaue Vorstellungen davon, wer diese Rolle einnehmen sollte. „[W]e in the Conservative Party believe that Britain is still great“, behauptete sie: The decline of Britain’s relative power in the world was partly inevitable – with the rise of the nuclear superpowers, with their vast reserves of manpower and economic resources. But it was partly avoidable – the result of our economic decay, resulting from processes that the Labour Government has assisted. We will reverse those processes when we are returned to government.316

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„Détente sounds a fine word“, erklärte sie in ihrer ersten großen außenpolitischen Rede im Sommer 1975. „And, to the extent that there really has been a relaxation in international tension, it is a fine thing. But the fact remains that throughout this decade of détente, the armed forces of the Soviet union have increased, are increasing, and show no signs of diminishing“; am 26. Juli 1975 bei einer Kundgebung der Chelsea Constituency Association, abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 23–8 (S. 25). Vgl. zum selben Thema auch die Rede vom 25. Mai 1976 auf dem CDU-Parteitag in Hannover: News Service 544/76, S. 5–6. THATCHER, Erinnerungen, S. 412. Am 19. Januar 1976 in der Kensington Town Hall, abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 39–47 (S. 47).

1. Die „Neue Rechte“ in Großbritannien vor 1975

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III. DER AUFSCHWUNG DER „NEUEN RECHTEN“ 1. DIE „NEUE RECHTE“ IN GROSSBRITANNIEN VOR 1975 A)

GEISTIGE GRÜNDERVÄTER

Niedergangsszenarien und Krisenstimmung dominierten das politische Klima Großbritanniens während der siebziger Jahre, aber sie bestimmten es nicht überall. Auf der Rechten des politischen Spektrums gab es durchaus Optimismus, Zukunftszuversicht und die Überzeugung, man wisse, was dem Land fehle, wie es den Weg aus der gegenwärtigen Malaise finden könne. Von hier aus blies ein frischer Wind durch die politische Klasse Großbritanniens und gab Thatchers Reformprojekt Auftrieb. Wenn der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung und die Krise des Sozialismus die negative resources waren, die ihren Erfolg begünstigten, so waren die intellektuellen Strömungen, die optimistische, angriffslustige Stimmung auf der politischen Rechten ihre positive resources, die für die Entstehung des Thatcherismus eine nicht minder große Bedeutung hatten.1 Es fällt schwer, die Grüppchen, Zirkel und Gesprächskreise, in denen diese Stimmung vorherrschte, auf einen einzigen Begriff zu reduzieren. Viele der Journalisten, Hochschullehrer und Politiker, die sich trafen, diskutierten und ihre Ansichten öffentlich machten, lehnten die Zugehörigkeit zu politischen Parteien und entzogen sich auch einer klaren Einordnung. Eine organisierte Bewegung mit gemeinsamen Institutionen und fixierten Regeln bildeten sie nie. Auch wenn Themen wie „Reduzierung der Staatsaufgaben“, „Exzesse des Wohlfahrtsstaates“, „Befreiung des Marktes“ und „Rückkehr zu traditionellen moralischen Werten“ in ihren Publikationen immer wieder auftauchten, war die Bandbreite der Meinungen, die sie vertraten, sehr groß. Marktradikale fanden sich ebenso in ihren Reihen wie Wertkonservative, Freigeister ebenso wie Verfechter einer autoritären Gesellschaftspolitik, Kalte Krieger und Gegner des Wettrüstens, begeisterte

1

Die Begriffe „intellektuelle Strömung“ bzw. „Intellektueller“ werden hier in dem Sinn verwendet, in dem sie in der deutschen Sprache gebraucht werden, auch wenn sie im Englischen unüblich sind. „Wir haben zwar das Wort nicht, doch die Sache haben wir reichlich“, bemerkte Timothy Garton Ash in diesem Zusammenhang, auf Lord Byrons Diktum über den Begriff longueurs anspielend; TIMOTHY GARTON ASH, Zeit der Freiheit. Aus den Zentren von Mitteleuropa, München, Wien 1999, S. 174.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

Anhänger und vehemente Gegner der europäischen Integration, Befürworter einer special relationship mit Amerika und Verächter der USA, Freunde und Feinde Israels. Wegen der Heterogenität jener Meinungsströmung erwies es sich als schwierig, einen treffenden Namen für sie zu finden. Es handele sich, schrieb der Historiker Peter Clarke, um „a group in search of a label“.2 Weil die Anhänger marktwirtschaftlicher Reformen das Erscheinungsbild bestimmten, bürgerten sich zunächst Bezeichnungen wie economic liberals, neo-liberals oder auch monetarists ein, die jedoch den Nachteil hatten, nicht das ganze Bedeutungsspektrum abzudecken und die konservative moralische Fundierung vieler Forderungen außer acht zu lassen. Etiketten wie neo-conservatives oder real conservatives bargen das umgekehrte Problem: Sie verdeckten die liberalen, marktradikalen Dimensionen, betonten einseitig die konservativen Aspekte. Die weiteste Verbreitung fand schließlich der Begriff „Neue Rechte“ oder New Right, der für Großbritannien im Jahr 1968 von David Collard in einer Broschüre der Fabian Society geprägt wurde.3 Auch wenn sich Collard in seiner Schrift ausschließlich auf die wirtschaftsliberale Spielart der Strömung bezog, setzte sich seine Wortschöpfung als brauchbarer analytischer Begriff durch. Sie verortete die Gruppe innerhalb des politischen Spektrums auf der Rechten und traf damit sowohl deren Selbsteinschätzung als auch die Ansicht ihrer Gegner. Die mit Vehemenz, Leidenschaft, ja Aggressivität vorgetragene Gegnerschaft zum Sozialismus war etwas, das die New Right über alle Gräben hinweg einte. Zudem deutete die Kombination der Worte „neu“ und „rechts“ ein charakteristisches Spannungsverhältnis an, das allen Spielarten dieser Richtung eignete. Sie bekämpften den Status quo der als sozialistisch interpretierten Nachkriegsordnung und wollten gleichzeitig – in einem Rückgriff auf die Zeit vor 1940/1945 – an alte Traditionen anknüpfen, diese erhalten oder wieder aufrichten: sei es der Liberalismus des 19. Jahrhunderts, sei es die alt-ehrwürdige britische Verfassungsordnung oder überkommene hierarchische Sozialstrukturen.4 Nicht die Gegenwart sollte bewahrt, sondern eine – idealisierte – Vergangenheit wiederhergestellt werden. In diesem Sinne war die 2 3 4

CLARKE, Rise, S. 309. DAVID COLLARD, The New Right. A Critique (= Fabian Tract 387), London 1968. Auch Kenneth Minogue hat in diesem Rückgriff ein wichtiges Charakteristikum der britischen „Neuen Rechten“ gesehen: „The New Right is [. . .] a return to an older realism which has been obscured in recent generations by an entire culture of guilt“; KENNETH MINOGUE, The Emergence of the New Right, in: ROBERT SKIDELSKY (Hrsg.), Thatcherism, London 1988, S. 125–42 (S. 136).

1. Die „Neue Rechte“ in Großbritannien vor 1975

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„Neue Rechte“ revolutionär und reaktionär, konservativ und liberal, „neu“ und „rechts“ zugleich.5 Schließlich baute der Begriff auch eine Brücke über den Atlantik in die Vereinigten Staaten, wo zeitgleich eine politische und geistige Strömung anschwoll, die man ebenfalls als New Right bezeichnete. Auch wenn die amerikanische „Neue Rechte“ sich stärker mit moralischen und religiösen, die britische mehr mit wirtschaftlichen Fragen auseinandersetzte, ist es gerechtfertigt, sie als zwei Ausprägungen desselben Phänomens innerhalb der angelsächsischen Welt anzusehen. Dafür sprechen die vielfältigen institutionellen Verbindungen und persönlichen Netzwerke über den Atlantik, die gemeinsamen Schlagworte wie „Freiheit“ oder „Individualismus“, unter denen man zu Felde zog, und überhaupt der Kreuzzugscharakter, der sich gegen das „Establishment“ richtete und die „wahren“ britischen bzw. amerikanischen Tugenden wiederbeleben wollte. Auffällig ist auch die parallele historische Entwicklung. In beiden Fällen folgte auf eine Inkubationszeit in diversen Forschungsinstituten, versprengten Zeitschriftenredaktionen und obskuren Diskussionszirkeln während der sechziger Jahre im nächsten Jahrzehnt der Vormarsch in den Gliederungen der Tory bzw. Republikanischen Partei, der während der achtziger Jahre in die Phase der politischen Vorherrschaft unter einer charismatischen, populistischen Führungsgestalt mündete.6 Die „Neue Rechte“ in Großbritannien hatte drei Ahnherren – einen akademischen, einen publizistischen und einen politischen. Der älteste von ihnen, Friedrich August von Hayek, 1899 in Wien geboren, stammte aus einer wohlhabenden Familie von Staatsbeamten und Akademikern, die Anfang des 18. Jahrhunderts von Kaiser Franz Josef I. geadelt worden war. Er hatte an der Wiener Universität in Rechtswissenschaft und Nationalökonomie promoviert und gehörte zusammen mit Ludwig von Mises zu den 5

6

Vor diesem Hintergrund läßt sich auch die eigentümliche, zum Teil widersprüchliche Mischung von liberalem und konservativem Gedankengut innerhalb der „Neuen Rechten“ erklären, auf die zahlreiche politikwissenschaftliche Studien hingewiesen haben; vgl. etwa RUTH LEVITAS (Hrsg.), The Ideology of the New Right, Cambridge 1986, S. 80–106; DESMOND S. KING, The New Right. Politics, Markets and Citizenship, Houndmills/Basingstoke 1988, S. 8–27. Zur amerikanischen „Neuen Rechten“ in den sechziger Jahren siehe JOHN A. ANDREW, The Other Side of the Sixties. Young Americans for Freedom and the Rise of American Politics, New Brunswick/NJ 1997. Größere Überblicke geben; PETER STEINFELS, The Neo-Conservatives, Chicago 1979; SIDNEY BLUMENTHAL, The Rise of the Counter-Establishment. From Conservative Ideology to Political Power, New York, Toronto 1986; vgl. auch die Bemerkungen bei DAVID EDGAR, The Free or the Good, in: LEVITAS (Hrsg.), S. 55–79 (S. 63–9). Bemerkungen zu den außenpolitischen Konzeptionen der amerikanischen „New Right“ finden sich bei, HENRY A. KISSINGER, Between the Old Left and the New Right, in: Foreign Affairs 78, 1999 (3), S. 99–116.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

bekanntesten Vertretern der Österreichischen Schule der Volkswirtschaftslehre, die am klassischen Liberalismus festhielt, als sich Liberale anderswo verstärkt sozialen Fragen und wohlfahrtsstaatlichen Ideen zuwandten.7 Unter von Mises arbeitete von Hayek einige Zeit an der Wiener Handelskammer, ehe er von 1927 bis 1931 die Leitung des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung übernahm und sich 1929 mit einer Arbeit über Geld- und Konjunkturtheorie habilitierte. 1931 wechselte er an den wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereich der London School of Economics, wo er sich einer Gruppe von Ökonomen anschloß, die sich der keynesianischen Wende der Wirtschaftspolitik in den dreißiger und vierziger Jahren verweigerten.8 Von Hayeks Wirken in den Jahren nach 1931 wurde für die „Neue Rechte“ aus vier Gründen wichtig. Erstens lieferte er ihr mit seinem 1944 erschienen Buch Der Weg zur Knechtschaft eine immens populäre, verständlich geschriebene und doch zugleich wissenschaftliche Reputation ausstrahlende Streitschrift, die in den intellektuellen Biographien vieler Anhänger der New Right – egal welcher Generation sie angehörten – so etwas wie ein weltanschauliches Erweckungserlebnis auslöste. In der nur 184 Seiten starken Schrift faßte der Ökonom in publikumswirksamer Form die Argumente zusammen, die liberale Gegner des Keynesianismus an der LSE und anderswo gegen die geplante Neuordnung von Staat und Gesellschaft in Großbritannien nach dem Kriege erhoben hatten. Es gebe keinen Mittelweg zwischen sozialistischem Totalitarismus und freier Marktwirtschaft; kapitalistischer Wettbewerb und sozialistische Planung seien unvereinbar, lautete seine zentrale These. Sowohl das Wettbewerbsprinzip wie das der zentralen Steuerung würden zu stumpfen Werkzeugen, wenn sie unvollständig seien. „Sie sind einander ausschließende Prinzipien zur Lösung desselben Problems, und eine Mischung aus beiden bedeutet, daß keines von beiden wirklich funktionieren und das Ergebnis schlechter sein wird, als wenn man sich konsequent auf eines von beiden verlassen hätte.“9 Der von Keynes eingeschlagene Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus führe in die Knechtschaft. Besondere Schärfe gewann von Hayeks Polemik dadurch, daß er behauptete, der in Großbritannien konzipierte „Sozialismus“ Keynes’scher Prägung werde ebenso in eine Form des „National7 8 9

Vgl. FREEDEN; zu von Hayeks intellektueller Biographie siehe HANS JÖRG HENNECKE, Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit, Düsseldorf 2000. Sie machten die LSE auf diese Weise zum „most important centre of the revival of interest in economic liberal thinking from the early 1930s onwards“; COCKETT, S. 29. FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK, Der Weg zur Knechtschaft, München 1991 (englische Originalausg.: The Road to Serfdom, London 1944), S. 65–6.

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sozialismus“ münden, wie das im Deutschland der Zwischenkriegszeit geschehen war.10 Nach dem unerwartet großen Erfolg der Kampfschrift in Großbritannien und Amerika versuchte von Hayek, der Kritik am Sozialismus und dem Plädoyer für eine liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung eine internationale Plattform zu verschaffen. Er plante den Aufbau eines Netzwerkes, das britische Wirtschaftsliberale mit Gesinnungsgenossen aus den USA, Westdeutschland und Frankreich verknüpfen sollte. Zwei Jahre nach Kriegsende konnte er die Idee eines Forums liberaler Wissenschaftler, das erstmals vom 1. bis 10. April 1947 in einem Hotel am Genfer See zusammentrat, mit tatkräftiger Hilfe schweizerischer Geschäftsleute und Bankiers in die Realität umsetzen. Zur britischen Delegation gehörten zum Beispiel Lionel Robbins und John Jewkes, die von Hayek von der LSE her kannte, aber auch Michael Polanyi aus Manchester und Karl Popper; aus den USA reisten vor allem Wirtschaftswissenschaftler von der Universität Chicago an, etwa Frank Knight, Aaron Director, George Stigler und Milton Friedman; die Deutschen kamen aus dem Umkreis der Freiburger Schule der Volkswirtschaftslehre und waren zumeist ordoliberale Vertreter der „Sozialen Marktwirtschaft“: Walter Eucken, Wilhelm Röpke, an späteren Treffen nahm auch Ludwig Erhard teil.11 Die Treffen dieser Weltgemeinschaft wirtschaftsliberaler Wissenschaftler, die sich später nach dem Namen des Tagungshotels Mont Pèlerin Society nannte und ein wichtiger Ort des Gedankenaustausches sowie der persönlichen Kontakte wurde, sind von Hayeks zweiter wichtiger Beitrag zur Geschichte der britischen New Right.12 Sein dritter Beitrag bestand in der Entwicklung des Konzepts jenes „Kampfes der Ideen“, der später nicht nur zum Repertoire vieler Thatcher-

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Wörtlich schrieb er: „[W]er sich mit den Gedankenströmungen beschäftigt, dem kann es kaum entgehen, daß zwischen der geistigen Entwicklung in Deutschland während des Ersten Weltkrieges und nach seiner Beendigung und den gegenwärtigen geistigen Strömungen in England mehr als nur eine oberflächliche Ähnlichkeit besteht. Es existiert jetzt bei uns sicherlich dieselbe Entschlossenheit, die für die Zwecke der Verteidigung durchgeführte Organisierung der Nation für den friedlichen Aufbau beizubehalten. Wir erleben dieselbe Geringschätzung des Liberalismus des 19. Jahrhunderts, denselben hohlen Realismus, ja sogar Zynismus, dasselbe fatalistische Sichabfinden mit einer ‚zwangsläufigen Entwicklung‘“; ebd., S. 19–20. Zu Ziel und Zweck des Unternehmens siehe von Hayeks Eröffnungsrede vom 1. April 1947, in: MPSA, Box 14. Vgl. auch COCKETT, S. 109–10. Eine zeitgenössische Einschätzung der Unterschiede zwischen deutschen Ordoliberalen und von Hayek findet man bei CARL J. FRIEDRICH, The Political Theory of Neo-Liberalism, in: American Political Science Review 49, 1955 (2), S. 509–25. Zur Geschichte der Mont Pèlerin Society siehe RONALD MAX HARTWELL, A History of the Mont Pèlerin Society, Indianapolis/Indiana 1995.

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Reden gehörte, sondern zentraler Bestandteil der Gedankenwelt der gesamten „Neuen Rechten“ war. Von Hayeks Ansicht nach hatten die sozialistischen und linksliberalen Intellektuellen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Schlüsselposition geistiger Eliten besser begriffen als die politische Rechte. Diese sollte von jenen lernen, daß man zunächst einen „Kampf der Ideen“ gewinnen müsse, ehe man politisch erfolgreich handeln könne.13 Zustimmend pflegte er Keynes’ berühmtes Diktum zu zitieren, daß letztlich Ideen und wissenschaftliche Theorien den Lauf der Geschichte bestimmten, auch wenn zwischen ihrer Entstehung und politischen Umsetzung Jahrzehnte liegen mochten. „It is from this long run point of view“, so von Hayek, „that we must look at our task. It is the beliefs which must spread, if a free society is preserved, or restored, not what is practicable at the moment which must be our concern.“14 Dieser Maxime folgend, baute er, der 1950 von der LSE an die Universität von Chicago wechselte, seinen Liberalismus in den folgenden Jahren zu einer umfassenden Sozialphilosophie aus. Man kann in dem auf der Entfaltung weniger, einfacher Prinzipien beruhenden philosophischen System seinen vierten entscheidenden Anteil an der Geschichte der britischen – und amerikanischen – „Neuen Rechten“ erblicken. Denn er entwickelte in seinen breit angelegten philosophischen Studien der fünfziger und sechziger Jahre bereits eine konsistente Kritik der Planwirtschaft, des Wohlfahrtsstaates und des Einflusses gesellschaftlicher Interessengruppen auf staatliches Handeln. Auf diese Weise stellte er eine kohärente, in sich geschlossene Argumentation zu all jenen Themenbereichen zur Verfügung, die mehr als zehn Jahre später die Vertreter der „Neuen Rechten“ beschäftigen sollten. Von Hayeks Ausgangspunkt war der Begriff der Freiheit sowie die These, daß gesellschaftliche Entwicklung zwar Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Planens und somit weder vorhersehbar noch lenkbar sei. In seiner 1960 erschienen Studie Die Verfassung der Freiheit definierte er „Freiheit“ rein negativ als Abwesenheit von Zwang und Gegenteil von Sklaverei.15 Seiner Ansicht nach sagte die soziale Lage eines Individuums oder einer Gruppe nichts über den Grad der Freiheit aus, den die

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„What to the contemporary observer appears as the battle of conflicting interests“, erklärte er 1949 in einem Vortrag über Intellektuelle und den Sozialismus, „has indeed often been decided long before in a clash of ideas confined to narrow circles“; abgedruckt in: FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK, Studies in Philosophy, Politics and Economics, London 1967, S. 178–94 (S. 179). Vgl. COCKETT, S. 112. Zit. nach ebd., S. 112. FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971 (englische Erstausgabe: The Constitution of Liberty, London 1960), S. 14–23.

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Betroffenen besaßen.16 Er räumte ein, daß eine derartige Freiheit niemals vollständig zu erreichen sei, weil „die einzige Methode [Zwang] zu verhindern, die Androhung von Zwang ist“. Liberale Gesellschaften lösten dieses Dilemma, indem sie dem Staat das Monopol der Zwangausübung übertrugen und versuchten, „diese Gewalt des Staates auf jene Fälle zu beschränken, in denen sie zur Vermeidung von Zwang durch private Personen notwendig ist“.17 Nachdem er im zweiten Teil seines Werkes konkrete Institutionen und Verfassungen untersucht hatte, die in der „westlichen Welt“ entwickelt worden waren, um die persönliche Freiheit zu sichern, wandte er sich im dritten Teil den Bedrohungen der persönlichen Freiheit zu, die im modernen Wohlfahrtsstaat lauerten: von den auswuchernden Sozialversicherungssystemen, die sich von einem Apparat zur Milderung der Armut in Werkzeuge zur Umverteilung verwandelt hätten; über den allenthalben zunehmenden Druck progressiver Besteuerung bis hin zu einer verfehlten Bildungspolitik und steigenden Inflationsraten als Grundübel des modernen Wohlfahrtsstaates.18 Als von Hayek 1962 nach Europa zurückkehrte und einen Ruf an die Universität Freiburg annahm, verschob sich der Schwerpunkt seines Interesses: Hatte er 1944 in der Planwirtschaft und 1960 im Wohlfahrtsstaat die größten Feinde der Freiheit erblickt, richtete sich sein Augenmerk im Verlauf der sechziger und siebziger Jahre verstärkt auf gesellschaftliche Interessengruppen. Diese standen seiner Ansicht nach der evolutionären Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften im Wege, weil es ihnen gelang, ihre Besitzstände gegen die Regeln des Marktes zu verteidigen. Sie beriefen sich dabei erfolgreich auf die Vorstellung einer „sozialen Gerechtigkeit“, derzufolge „Menschen gegen ein unverdientes Absteigen aus der materiellen Position, an die sie sich gewöhnt haben, geschützt werden müßten“. Von Hayek kritisierte diese Haltung in seinem dreibändigen Alterswerk „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“ mit dem Argument, solche unverdienten Schicksalschläge seien ein „untrennbarer Bestandteil des Steuerungsmechanismus des Marktes“.19 Was diesen Mechanismus am stärksten beeinträchtigte und der Gesamtgesellschaft am meisten schadete, war seiner Ansicht nach nicht der Eigennutz einzelner Firmen, sondern „die Selbstsucht orga-

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Ebd., S. 23. Ebd., S. 28. Ebd., S. 323–480. FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, München 1981 (englische Erstausgabe: Law, Legislation and Liberty. Bd. 2: The Mirage of Social Justice, London 1976), S. 130.

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nisierter Gruppen“.20 Demokratische Regierungen, die dem Druck organisierter Interessen nur allzu leicht nachgaben, dienten nicht dem Wohl der Gesamtgesellschaft, sondern wurden zum Handlanger der durchsetzungsfähigsten Interessenverbände.21 In dieser Philosophie tauchten somit bereits in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren jene Themen auf, die später die Grundmelodie des Thatcherismus bilden sollten: die Verdammung des Sozialismus in all seinen Ausprägungen, die Kritik an Planwirtschaft und Wohlfahrtsstaat sowie die Auseinandersetzung mit der destruktiven Macht gesellschaftlicher Interessenverbände wie der Gewerkschaften. Thatcher fand in den Gedanken des weltweit geachteten Wissenschaftlers, der 1974 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, das passende theoretische Rüstzeug, um ihrer Kampfansage an die britische Nachkriegsordnung akademische Respektabilität zu verleihen. Der wichtigste publizistische Wegbereiter der „Neuen Rechten“ war das Institute of Economic Affairs in London, das in einer Zeit, als der Wirtschaftsliberalismus in Großbritannien eine belächelte Außenseiteransicht darstellte, einem größeren Publikum marktradikale Alternativen zum Keynesianismus bekannt machte – durch die Organisation von Tagungen und Podiumsdiskussionen, vor allem aber durch eine beharrliche Publikationstätigkeit. Das IEA war nicht die einzige und auch nicht die erste Organisation, die in Großbritannien marktwirtschaftliche Prinzipien aus der Vorkriegszeit gegen die neue keynesianische Orthodoxie in beiden großen Parteien zu verteidigen suchte. Schon während des Krieges hatten sich Gruppen wie der Progress Trust, die National League of Freedom, Aims of Industry (später umbenannt in Aims for Freedom and Enterprise), British United Industrialists und die Society of Individualists gebildet. Das IEA jedoch erwarb im Gegensatz zu vielen anderen dieser zum Teil obskuren Diskussionszirkel und Lobby-Grüppchen einen Ruf als ernsthaftes, auf wissenschaftliche Seriosität achtendes Institut, das sich auf die Publikation ökonomischer Detailstudien konzentrierte.22 Der Anstoß zur Gründung des Instituts ging von niemand anderem als Friedrich August von Hayek aus, den 1947 Antony Fisher, ein junger Pilot

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FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Bd. 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, München 1981 (englische Erstausgabe: Law, Legislation and Liberty. Bd. 3: The Political Order of a Free People, London 1979), S. 124. Ebd., S. 141. Siehe dazu NEILL NUGENT, The National Association for Freedom, in: DERS. und ROGER KING (Hrsg.): Respectable Rebels, Sevenoaks/Kent 1979, S. 77–83; COCKETT, S. 67–77.

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der Royal Air Force, aufsuchte.23 Fisher hatte zwei Jahre zuvor im Reader’s Digest eine Zusammenfassung des Weges zur Knechtschaft gelesen, die ihn so sehr bewegte, daß er sich entschloß, den Autor aufzusuchen und ihn zu fragen, wie man sich am wirkungsvollsten engagieren könne. „My central question was what, if anything, could he advise me to do to help get discussion and policy on the right lines“, erinnerte sich Fisher später. Von Hayek riet davon ab, eine politische Karriere anzustreben, die er angesichts des vorherrschenden Meinungsklimas für Zeitverschwendung hielt. Statt dessen erläuterte er seine These vom Kampf der Ideen, den man gewinnen müsse. „If I shared the view that better ideas were not getting a fair hearing“, berichtete Fisher im Rückblick, „his counsel was that I should join with others in forming a scholarly research organisation to supply intellectuals in universities, schools, journalism and broadcasting with authoritative studies of the economic theory of markets and its application to practical affairs.“24 Fisher verfügte nicht über die finanziellen Mittel, um die Idee augenblicklich in die Tat umzusetzen. Erst acht Jahre später, nachdem er mit einer Hühnerfarm ein Vermögen verdient hatte, begann er mit der Realisierung der Idee. Inzwischen hatte er eine Reihe Gleichgesinnter kennengelernt, die ihm halfen, das Unternehmen zum Erfolg zu führen. In der Society of Individualists war er auf Oliver Smedley getroffen, einen Major, der von einem winzigen Büro in London aus verschiedene Werbekampagnen für Liberalismus und Freihandel leitete. Smedley stellte Fisher nicht nur seine Geschäftsräume zur Verfügung, er schlug auch den Namen für das neue Institut vor, das am 9. November 1955 gegründet wurde.25 Als Direktor gewannen die beiden ein halbes Jahr später Ralph Harris, einen Journalisten, der zuvor an der St. Andrews-Universität in Schottland Wirtschaftswissenschaften gelehrt und für den Glasgow Herald Leitartikel geschrieben hatte. Harris’ nakademische und journalistische Kontakte machten ihn zum idealen „intellectual salesman“, der für das IEA wertvolle finanzielle wie intellektuelle Unterstützung gewann.26

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Zur Geschichte des Institutes siehe ebd., S. 122–99; CHRISTOPHER MULLER, The Institute of Economic Affairs: Undermining the Post-War Consensus, in: Contemporary British History 10, 1996 (1), S. 88–110; ANDREW DENHAM und MARK GARNETT, British Think-Tanks and the Climate of Opinion, London 1998, S. 83–115. Vgl. auch den Artikel eines der Gründerväter des Instituts: ARTHUR SELDON, Stuck in the unthink-tank, in The Times, 2. September 1988. ANTONY FISHER, Must History Repeat Itself?, London 1974, S. 103. Siehe COCKETT, S. 125–30; MULLER, S. 91. Ebd., S. 93.

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Als Vize-Direktor wurde ihm Arthur Seldon zur Seite gestellt, der an der LSE bei von Hayek studiert hatte und für die Publikationstätigkeit des Instituts zuständig wurde.27 Die Schriften, die er herausgab, zeichneten sich durch einen hohen wissenschaftlichen Standard aus, der Fachjargon erfolgreich vermied.28 Mit dieser Mischung wollte das IEA vor allem Schüler und Studenten, aber auch Journalisten und Politiker als Leser gewinnen. Bewußt versuchte man, potentielle Multiplikatoren und zukünftige Meinungsführer von den Vorzügen des Wirtschaftsliberalismus zu überzeugen.29 Drei Jahre später stellten Harris und Seldon auf einer Tagung der Mont Pèlerin Society in Oxford ein Strategiepapier vor, in dem sie ihre Ziele deutlich formulierten: „Education at varying levels must be directed first at the influencers of opinion: i. e. at intellectuals, politicians, businessmen, and all (not least journalists) who help to form public opinion.“ Zuerst müsse man die Vorzüge einer freien Wirtschaft deutlich machen. Sodann sei zu zeigen, daß die Regeln des freien Marktes traditionellen moralischen und politischen Grundsätzen nicht widersprächen. Schließlich müsse man verbreitete Mißverständnisse über die Marktwirtschaft aus dem Weg räumen.30 Gegen die von Anhängern der keynesianischen Orthodoxie bevorzugte makro-ökonomische Analyse setzte das IEA in den von ihm verfaßten oder in Auftrag gegebenen Studien einen dezidiert mikro-ökonomischen Blickwinkel, mit dessen Hilfe es wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen der Regierung auf ihre Effizienz überprüfte.31 Den langfristig größten Er27

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Ebd., S. 94; kritische Bemerkungen zur redaktionellen Tätigkeit des IEA finden sich bei RADHIKA DESAI, Second-Hand Dealers in Ideas: Think-Tanks and Thatcherite Hegemony, in: New Left Review 203, 1994, S. 46. So übereinstimmend CHRISTOPHER MULLER, The Institute of Economic Affairs: Undermining the Post-War Consensus, in: Contemporary British History 10, 1996 (1), S. 94 und DENHAM und GARNETT, Think-Tanks, S. 89. „Once young College and University students have got the right idea into economically [sic] they will never lose it and will spread these ideas as they grow up“, schrieb Fisher 1956 an Smedley. „In particular, those carrying on intellectual work must have a considerable impact through newspapers, television, radio and so on, on the thinking of the average individual. Socialism was spread in this way and it is time we started to reverse the process“; Schreiben von Fisher an Smedley vom 22. Mai 1956; zit. nach COCKETT, S. 130–1. RALPH HARRIS und ARTHUR SELDON, „The Tactics and Strategy of the Advance to a Free Economy“ (Tagung der Mont Pèlerin Society 1959 im Christ Church College, Oxford), in: MPSA, Box 21, S. 12. „‚Keynesian‘ (not necessarily Keynes’) macro-economic analysis had dominated economics long enough“, schrieben Harris und Seldon im Rückblick, „it was time to correct the imbalance because macro-economics could not offer solutions to problems that required microeconomic analysis and micro-economic treatment“; RALPH HARRIS und ARTHUR SELDON, „Not from Benevolence . . .“ Twenty Years of Economic Dissent, London 1977, S. ix. Beispiele für die Publikationsstrategie des IEA sind ARTHUR SELDON, Pensions in a Free Society, London 1957; BASIL YAMEY, Resale Price Maintenance and Shoppers’ Choice,

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folg erzielte das Institut dadurch, daß es die aus Chicago stammende Theorie des Monetarismus in Großbritannien bekannt machte.32 Ihr wichtigster Vertreter, Milton Friedman, schrieb in der ersten Hälfte der siebziger Jahre regelmäßig für das IEA.33 So kompliziert und umstritten einzelne Aspekte seines Konzepts sind, die Grundthese war an Klarheit kaum zu überbieten: Friedman glaubte anhand empirischer Untersuchungen herausgefunden zu haben, daß es einen direkten Zusammenhang zwischen Veränderungen der sich im Umlauf befindenden Geldmenge und der Inflation eines Landes gab.34 Sein praktischer Rat an alle Regierungen lautete, sie dürften die Geldmenge nur im Einklang mit dem Produktivitätszuwachs ihrer Volkswirtschaft vergrößern. Wer bereits aufgetretene inflationäre Tendenzen bekämpfen wollte, mußte für eine Übergangsphase langsameres Wirtschaftswachstum und höhere Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen.35 Diese einfache Grundregel brachte weitreichende Konsequenzen mit sich. Sie implizierte, daß die traditionellen Ziele keynesianischer Wirtschaftspolitik – Vollbeschäftigung, ausgeglichene Zahlungsbilanz, Wirtschaftswachstum und Preisstabilität – zu ehrgeizig waren und zu Interessenkonflikten und Konfusion führen würden. Statt dessen, riet Friedman, sollten sich die Regierungen lieber an einem einzigen Ziel, der Preisstabilität, orientieren und alles weitere den Kräften des Marktes überlassen. Nicht nur durch die Popularisierung der Schriften Friedmans und durch die beharrlichen Angriffe auf die keynesianische Orthodoxie erlangte das

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London 1963; RALPH HARRIS und ARTHUR SELDON, Choice in Welfare, London 1963; MICHAEL CANE, Telephones – Public or Private?, London 1966. Einen kurzen Überblick über die Geschichte des Monetarismus gibt CONGDON, S. 8–11. MILTON FRIEDMAN, The Counter-Revolution in Monetary Theory, London 1970; DERS., Monetary Correction, London 1974; DERS., Unemployment versus Inflation, London 1975; DERS., Inflation and Unemployment. The New Dimension of Politics (= The 1976 Alfred Nobel Memorial Lecture), London 1977. Vgl. auch die anderen monetaristische Schriften des IEA, etwa E. VICTOR MORGAN, Monetary Policy for Stable Growth, London 1964; ALAN WALTERS, Money in Boom and Slump, London 1969; DERS., Economists and the British Economy, London 1978; DERS., Crisis ’75, London 1975. Grundlegend hierzu MILTON FRIEDMAN und ANNA J. SCHWARTZ, A Monetary History of the United States 1867–1960, Princeton 1963. Insbesondere bestritten Friedman und Schwartz die vom Keynesianismus behauptete Wahlmöglichkeit zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation mit dem Argument, die Phillips-Kurve beschreibe nur eine kurzfristige Beziehung. Langfristig ergebe sich eine durch andere, strukturelle Faktoren bestimmte Arbeitslosenquote. Jeder Versuch, diese Quote auf Dauer unter ein bestimmtes, „natürliches“ Niveau zu drücken, führe nur zu beschleunigter Inflation. Der Ökonom riet in diesem Falle, „daß man eine Inflationsrate stufenweise, aber gleichmäßig abbaut und daß man diese Politik vorher ankündigt und sich auch daran hält, so daß diese Politik glaubwürdig erscheint“; MILTON und ROSE FRIEDMAN, Chancen, die ich meine, Berlin u. a. 1980 (engl. Original: Free to Choose, New York, London 1980), S. 294.

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IEA große Bedeutung für die Herausbildung der „Neuen Rechten“ und später des Thatcherismus. Auch hinsichtlich ihres sozialen und weltanschaulichen Hintergrunds bildeten die vier Gründerväter des Instituts eine Mischung, die zwei Jahrzehnte später für den Thatcherismus typisch sein sollte. Smedley war wie von Hayek in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie aufgewachsen; Fisher war in Eton zur Schule und zum Studium nach Cambridge gegangen. Harris und Seldon dagegen stammten aus Londoner Arbeitervierteln und beanspruchten für sich, aus eigener Erfahrung zu sprechen, wenn sie wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen ablehnten und den Gedanken der Selbsthilfe begrüßten.36 Typisch für Seldons Einstellung war ein Brief, den er 1967 an einen Tory-Politiker schrieb, dessen Rede über konservative Sozialpolitik ihn verärgert hatte. „You have never been poor“, schrieb er. „I have. The poor do not thank those who bring them gifts in kind which question their capacity and affront their dignity. Cash gives the power of choice; care service in kind, denies choice. But much more than that; the poor who are given care or kind will never learn choice, judgement, discrimination, responsibility.“37 Die Verbindung von Selbsthilfe, menschlicher Würde und Wahlfreiheit, die in Seldons Brief anklang, fand man zehn Jahre später in zahllosen Reden Thatchers wieder. Die unterschiedliche parteipolitische Herkunft von Fisher, Smedley, Harris und Seldon verwies ebenfalls bereits auf ein Charakteristikum des Thatcherismus, nämlich auf die eigentümliche Verbindung konservativer und liberaler Elemente. So trug sich Fisher vor seinem Besuch bei von Hayek kurzfristig mit dem Gedanken, eine politische Karriere in der ToryPartei anzustreben. Harris, der zwischen 1948 und 1949 einige Zeit für die konservative Parteizentrale und deren Forschungsabteilung gearbeitet hatte, kandidierte 1951 und 1955 in zwei Unterhauswahlen erfolglos für die Konservativen. Smedley und Seldon dagegen hatten ihre Wurzeln in der Liberalen Partei.38 Alle vier einte die Frustration über die Entwicklung ihrer Parteien: weg von den wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepten der

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„The roots of my beliefs lie in my early childhood“, berichtete Seldon später. „I grew up amongst the working classes in the East End of London between the wars and learned something of their efforts at self-help: the sacrifices parents made for their families“; ARTHUR SELDON, The Influence of Classical Liberalism and Monetarist Economics. Christoph Muller interviews Arthur Seldon, in: Contemporary British History 10, 1996 (1), S. 199. Vgl. auch die autobiographischen Passagen in DERS., Capitalism, Oxford 1990. Schreiben von Arthur Seldon an Lord Balniel vom 16. November 1967; zit. nach COCKETT, S. 138. Siehe ARTHUR SELDON, Capitalism, Oxford 1990, S. 203. Vgl. auch COCKETT, S. 135–6.

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Vergangenheit, hin zu dem, was das IEA als „Kollektivismus“ und „Sozialismus“ kritisierte.39 Wenn von Hayek der akademische und die Gründer des Institute of Economic Affairs die publizistischen Ahnherren der „Neuen Rechten“ waren, muß man in J. Enoch Powell ihren politischen Stammvater erblicken. Powell gehörte zu den schillerndsten, widersprüchlichsten und provozierendsten Figuren der britischen Nachkriegszeit.40 Er gefiel sich in der Rolle des Volkstribunen, der mit populistischen Reden Massen begeistern konnte und war doch zugleich das seltene Beispiel eines Intellektuellen in der Politik: ein Mann mit breiten Interessen und schier unendlichem Wissen, ein kenntnisreicher Ökonom, ausgewiesener Historiker und Altphilologe, der mit 25 Jahren als jüngster Professor des Commonwealth einen Lehrstuhl für Gräzistik an der Universität von Sidney innegehabt hatte. Während des Zweiten Weltkriegs stieg er als einziger Brite vom einfachen Soldaten zum Brigadegeneral auf, diente als überzeugter Verfechter des Empire in Nordafrika und Indien und plädierte dennoch zwanzig Jahre später als Schattenverteidigungsminister für einen Rückzug seines Landes von allen Verpflichtungen East of Suez. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kritikern einer zunehmend illusionär werdenden britischen Weltmachtpolitik entwickelte er sich weder zum überzeugten Europäer noch zum Anhänger einer special relationship mit den USA, sondern propagierte für sein Land eine selbstbewußte, selbstgenügsame Rolle als Inselmacht vor der Küste Europas. Obwohl er – wie Thatcher und Heath – aus der unteren Mittelschicht stammte, wehrte er sich als Parlamentarier gegen jede Reform des britischen Oberhauses und scheute zu diesem Zweck nicht das Bündnis mit einem politi-

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Als Folge dieser Enttäuschung vermied es das Institut, sich an irgendeine Partei zu binden und sich finanziell von einer bestimmten Interessengruppe abhängig zu machen. Es pflegte eine konsequente Totalopposition gegenüber dem als keynesianisch verachteten Zeitgeist, auch wenn dies in den Anfangsjahren beträchtliche finanzielle Schwierigkeiten mit sich brachte; siehe hierzu MULLER, S. 92–3. Die Faszination, die von Powells Persönlichkeit ausging, spiegelt sich in der Fülle von Biographien und anderen Studien wider, die im Verlauf von drei Jahrzehnten über ihn erschienen sind, darunter unverhohlen bewundernde wie SIMON HEFFER, Like the Roman. The Life of Enoch Powell, London 1998; PATRICK COSGRAVE, The Lives of Enoch Powell, London 1989; THOMAS EDWIN UTLEY, Enoch Powell. The Man and his Thinking, London 1968, DOOJEN NAPAL, Enoch Powell. A Study in Personality and Politics, Wolverhampton 1975; aber auch kritische wie ROBERT SHEPHERD, Enoch Powell, London 1996; PAUL FOOT, The Rise of Enoch Powell. An Examination of Enoch Powell’s Attitude to Immigration and Race, London 1969. Vgl. auch ROY LEWIS, Enoch Powell. Principle in Politics, London 1979; DOUGLAS E. SCHOEN, Powell and the Powellites, London 1977; ANDREW ROTH, Enoch Powell. Tory Tribune, London 1970.

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schen Gegner wie dem Labour-Linken Michael Foot, der aus diametral entgegengesetzten Gründen die Neuregelung ablehnte. Die politische Karriere dieses ebenso emotionalen wie auf logische Stringenz bedachten Mannes begann 1945, nachdem er sich entschlossen hatte, weder seine akademische noch seine militärische Karriere weiter zu verfolgen. Er machte sich statt dessen bald in der Forschungsabteilung der Konservativen Partei als Experte für Sozialpolitik einen Namen, gewann 1950 ein Unterhausmandat und sammelte als Unterstaatssekretär im Wohnungsbauministerium unter Premierminister Eden von 1955 bis 1957 Regierungserfahrung. Seit Januar 1957 gehörte er als Staatssekretär im Schatzamt der Regierung Macmillan an, die er jedoch schon nach einem Jahr, zusammen mit Schatzkanzler Peter Thorneycroft und einem weiteren Staatssekretär, Nigel Birch, aus Protest gegen die seiner Ansicht nach unverantwortliche, inflationstreibende Haushaltspolitik seiner Kollegen wieder verließ.41 Ohne genauere Kenntnis von Friedmans Theorie, die damals noch in ihren Anfängen steckte, plädierten die drei Tory-Politiker für einen monetaristischen Kurs, um die von ihnen erkannte Inflationsgefahr zu bannen.42 Powell avancierte in den folgenden Jahren nicht sogleich zum Kritiker des Regierungskurses. Vielmehr verhielt er sich zunächst loyal gegenüber Macmillan, trat dessen Kabinett sogar bereits 1960 als Gesundheitsminister wieder bei und konzentrierte sich in der Folgezeit weitgehend auf sein Ressort. Erst Macmillans Rücktritt 1963 veränderte alles. Powell weigerte sich, unter dessen Nachfolger Home Minister zu bleiben, nahm statt dessen einen Platz auf den Hinterbänken ein und nutzte diesen, um im Alleingang für eine Neuausrichtung konservativer Politik zu werben.43 Im Zentrum dessen, was man seit damals „Powellismus“ nannte, stand die Vision einer post-imperialen, national gesinnten, sozial bewußten und zugleich wirtschaftsliberalen Tory-Partei.44 In Powells Reden und Artikeln wie in der öffentlichen Wahrnehmung derselben dominierte Mitte der sechziger Jahre der marktradikale Aspekt dieser Vision, der mit einer heftigen Kritik an der keynesianischen, interven41

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Die drei Politiker stießen mit ihrem Schritt auf wenig Verständnis im Kabinett, in ihrer Partei und der Öffentlichkeit – zumal sie letztlich nur die vergleichsweise geringe Summe von 50 Millionen Pfund vom Rest des Kabinetts trennte. Dem Premierminister gelang es, den Verlust seiner gesamten Schatzamtsmannschaft als „little local difficulty“ abzutun; vgl. COSGRAVE, Powell, S. 151–60; SHEPHERD, Powell, S. 172–9. Vgl. RANELAGH, S. 183. Zu Powells Beweggründen siehe COSGRAVE, Powell, S. 185–8; SHEPHERD, Powell, S. 256–5. Der Begriff „Powellismus“ wurde 1965 von Iain Macleod geprägt in einem Artikel im Spectator, 16. Juli 1965. Vgl. KEN PHILLIPS, The Nature of Powellism, in: NEILL NUGENT und ROGER KING (Hrsg.), The British Right, Farnborough 1977.

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tionistischen Politik einher ging, die sich seiner Ansicht nach unter Macmillan in der konservativen Partei durchgesetzt hatte.45 Powell sah das demokratische Prinzip auf ideale Weise in der Marktwirtschaft verwirklicht. Die freie Marktwirtschaft sei das einzig wahre Gegenstück zur Demokratie, erklärte er. Sie sei das einzige System, das jedem ein Mitspracherecht gewähre. In Wendungen, die man fast wörtlich zehn Jahre später in Thatchers Reden wiederfinden konnte, pries er die Wahlmöglichkeiten, die der Markt dem Individuum bot: „In this great and continuous general election of the free economy, nobody, not even the poorest, is disenfranchised: we are all voting all the time.“46 Ähnlich wie die Ordoliberalen in der Bundesrepublik verwies er auf die Verbindung zwischen Marktwirtschaft und Sozialstaat, die er darin erblickte, daß nur eine freie Wirtschaft effizient genug sei, wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen ausreichend zu finanzieren.47 Anders als viele seiner konservativen Kollegen verteidigte er die Marktwirtschaft, die er gern unverblümt „Kapitalismus“ nannte, nicht als geringstes Übel, sondern als hohes Gut. „Often when I am kneeling down in church, I think to myself how much we should thank God, the Holy Ghost, for the gift of capitalism.“48 Hand in Hand mit der Wertschätzung des Liberalismus in der Wirtschaft ging bei ihm die Verteidigung des Individualismus, die er in späteren Jahren bis zum Äußersten trieb. 1974 etwa stimmte er im Unterhaus gegen die Helmpflicht für Motorradfahrer, und zwar mit dem Hinweis, die Aufrechterhaltung individueller Verantwortung sei wichtiger als der mögliche Tod eines Menschen, der seine freie Entscheidung getroffen habe.49 Die Betonung von Individualismus und Marktwirtschaft waren nicht Powells einziger Beitrag zur Entwicklung der „Neuen Rechten“ und des Thatcherismus. Mindestens ebenso wichtig waren der Appell an Patriotismus und Nationalgefühl, ja die Ausrichtung aller anderen politischen Ziele auf „die Nation“. Wie später für Thatcher waren auch für Powell Wirt45

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Siehe etwa ENOCH POWELL, The Limits of Laissez-Faire, in: Crossbow, November 1960, S. 25–8; vgl. auch seine Rede am 28. Januar 1964 in Westminster, in Auszügen zit. bei SHEPHERD, Powell, S. 270. POWELL, Nation, S. 27. Um seiner Kampagne Nachdruck zu verleihen, trat Powell der Mont Pèlerin Society bei; vgl. COCKETT, S. 118; SHEPHERD, Powell, S. 315. Er intensivierte seine Verbindung zum IEA, mit dem er seit Ende der fünfziger Jahre in Kontakt stand. John Wood, der mehrere Bände von Powells Reden herausgab, war ein Mitarbeiter des IEA; vgl. POWELL, Nation; POWELL, Freedom; POWELL, Decide. „[A] capitalist state can also be a welfare state; indeed, other things being equal, a state which is capitalist can provide more welfare than one that is not“; ARTHUR SELDON (Hrsg.), Rebirth of a Nation. A Symposium of Essays by Eighteen Writers, London 1964, S. 266. Zit. nach UTLEY, Powell, S. 114. The Guardian, 6. April 1974.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

schaftsliberalismus und Nationalismus keine einander ausschließenden Konzepte. 1965 erklärte er: It is not for the sake of a dry-as-dust theory, or because of the academic beauty and precision of a market economy, or from materialistic calculations [. . .] that we are called upon to commend the test of competition to the nation and to submit our own policies and actions to that test first. The demand comes passionate and direct from the heart of national pride itself.50

Die Politik seiner Zeit kranke daran, daß sie die Nation als Wert an sich vernachlässigte und es versäume, die patriotischen Empfindungen der Bürger anzusprechen.51 Seine Tory-Partei mußte wieder zur Fackelträgerin des nationalen Gedankens werden, glaubte Powell, schließlich war sie „the nationalist party par excellence“.52 Als nationalistische Partei hätten die Tories die Aufgabe, über die nationale Identität der Briten zu wachen. Darunter verstand der Politiker ihr Bewußtsein, zusammenzugehören und sich vom Rest der Welt zu unterscheiden. Dieses Bewußtsein wurzele im Falle Englands tief in der Geschichte.53 Die bruchlose Geschichte der englischen Nation über tausend Jahre sei ein einzigartiges Phänomen in der Geschichte, erklärte er. Dieser Einzigartigkeit verdanke das Land seine besonderen Qualitäten.54 Powells Biograph Robert Shepherd hat diese Verklärung der Kontinuität englischer Geschichte und die Betonung der Homogenität des britischen Volkes als „English exceptionalism“ bezeichnet55, eine Einstellung, die zehn Jahre später auch zu Thatchers Grundüberzeugungen gehörte. Das Sinnieren über den Zusammenhang von Mythos und Realität der britischen Nation blieb nicht ohne Folgen für Powells Haltung zu praktischen Problemen der Innen- und Außenpolitik. Die Bewahrung der nationalen Identität gegen Einflüsse von außen – sei es gegen die als Bedrohung emp-

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25. Februar 1965 in Aylesbury; zit. nach POWELL, Freedom, S. 16. „I believe that, in order to live a full and satisfying life, a man needs to have a picture not only of the community to which he belongs and of his place in it, but also of the place and destiny of that community in the outside world“, behauptete er. „This is, as it were, the frame of reference within which life is lived, which gives it – humanly speaking – a meaning and a purpose beyond the narrow confines of place and date“; POWELL, Nation, S. 7. Am 27. September 1968 vor dem North Wales Conservative Advisory Council in Prestatyn; zit. nach POWELL, Decide, S. 168, 164. Powell sah in England den Kern Großbritanniens. Vgl. hierzu J. ENOCH POWELL und ANGUS MAUDE, Biography of a Nation, Oxford 1955, S. 7–8. „[T]his continuing life of a united people in its island home spring [is the source of] all that is peculiar in the gifts and achievements of the English nation, its laws, its literature, its freedom and its self-discipline“; 22. April 1964 vor der Royal Society of St George; zit. nach POWELL, Freedom, S. 256–7. Vgl. auch seine Rede am 12. Februar 1971 vor der Association des Chefs d’Entreprises Libres in Lyons; zit. nach POWELL, Decide, S. 216. SHEP HERD, Powell, S. 276.

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fundene Einwanderung aus den Ländern des Commonwealth, sei es gegen die Verbindung mit den anderen Nationen Westeuropas in den Europäischen Gemeinschaften – rückte immer stärker in den Mittelpunkt seines Interesses: Er sprach sich gegen einen EG-Beitritt Großbritanniens aus und für eine radikale Kehrtwendung in der Einwanderungspolitik, für die er zunächst innerhalb des Schattenkabinetts (dem er unter dem neuen Parteichef Heath als Schattenverteidigungsminister wieder angehörte), später auch in der Öffentlichkeit warb. In einer Rede am 20. April 1968 in Birmingham prophezeite er düster, wenn die Einwanderung nicht unverzüglich gestoppt werde, sehe er „like the Roman . . . ‚the River Tiber foaming with much blood‘“. Die Nation müsse verrückt sein, wenn sie eine derartige Entwicklung zulasse.56 Die Rede löste heftige Reaktionen aus. Powell wurde als Rassist bezeichnet und von seiner Aufgabe im Schattenkabinett entbunden.57 Gleichzeitig erhielt die konservative Parteizentrale Säcke voller zustimmender und zugleich haßerfüllter Briefe, die verdeutlichten, daß die Masse der Tory-Wähler und -Aktivisten Powell unterstützte. Protestmärsche der Londoner Dockarbeiter zeigten, wie weit die Sympathien für ihn auch ins Lager der Labour-Wähler hineinreichten. Der Politiker hatte aufgrund seiner Rede zwar seine Ämter in der Tory-Partei verloren, aber zugleich einen Status als Volkstribun mit Massenanhang gewonnen.58 In den folgenden sechs Jahren spitzte sich die politische Gegnerschaft und die persönliche Antipathie zwischen ihm und Heath zu. Powell attackierte nicht nur dessen Haltung in der Einwanderungsfrage, sondern auch die Wirtschafts- und vor allem die Europapolitik seines Widersachers, über die es im Februar 1974 zum endgültigen Bruch kam. Nachdem Heath Neuwahlen ausgerufen hatte, erklärte Powell, er kandidiere nicht mehr für die ToryPartei, und rief dazu auf, Labour zu wählen, weil die Sozialisten wenigstens eine Neuverhandlung des britischen EG-Beitritts und eine Volksbefragung versprachen.59 Damit war seine Karriere in der Konservativen Partei ebenso abrupt beendet wie Jahrzehnte zuvor seine Laufbahnen als Hochschullehrer und Offizier. Als Erbe hinterließ er den Konservativen eine marktradikale, populistische und nationalistische Alternative zum Heath-Kurs. Es wartete auf einen Politiker, der mutig genug war, es anzutreten. 56 57 58 59

Zit. nach POWELL, Freedom, S. 219. Parteichef Heath, der froh war, einen unbequemen Kritiker loszuwerden, machte deutlich, „that he would never hold any office while I remained leader“; HEATH, Course, S. 293–4. Siehe etwa RAMSDEN, Appetite, S. 405. Powells politische Karriere war mit seinem Parteiaustritt freilich nicht beendet. Schon im Oktober 1974 zog er wieder ins britische Unterhaus ein – als Abgeordneter der Ulster Unionist Party, für die er bis 1987 im Parlament saß.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“ B)

TRANSMISSIONSRIEMEN

Von Hayek, die Gründer des Institute of Economic Affairs, Enoch Powell und die wenigen anderen, die im Großbritannien der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre den Keynesianismus kritisierten und sich für eine freiere Marktwirtschaft aussprachen, blieben bis Anfang der siebziger Jahre einsame Rufer in der Wüste.60 Trotz des publizistischen Erfolges des Weges zur Knechtschaft standen die Ansichten, die von Hayek darin vertrat, quer zum Zeitgeist.61 Der Optimismus und das Wirtschaftswachstum der fünfziger Jahre schienen die düsteren Prohezeiungen der Schrift Lügen zu strafen.62 Zu einer Zeit, als die Ordoliberalen um Ludwig Erhard in der Bundesrepublik die Fundamente der Sozialen Marktwirtschaft legten, fühlten sich Wirtschaftsliberale in Großbritannien wie Mitglieder einer Sekte, die inmitten einer feindlich gesinnten Umwelt am wahren Glauben festhielt. Akademisch und politisch marginalisiert, in der Öffentlichkeit milde belächelt oder verspottet, überwinterten sie „in conditions of near exile in a kind of intellectual Siberia“.63 Organisationen wie die Mont Pèlerin Society dienten dazu, in regelmäßigen Abständen Gleichgesinnte zu treffen und sich gegenseitig von der fortbestehenden Richtigkeit der eigenen Ansichten zu überzeugen.64 In der Tory-Partei, die in der Zwischenkriegszeit die Partei einer Wirtschaftspolitik nach den Grundsätzen des klassischen Liberalismus gewesen 60

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Der Ökonom Lionel Robbins von der LSE hatte schon 1937 Keynes’ Ideen scharf angegriffen; sein Kollege John Jewkes aus Oxford verarbeitete die Erfahrungen, die er während des Krieges in der britischen Verwaltungsbürokratie gemacht hatte, 1948 zu einer vehementen Kritik der Planwirtschaft; die Abrechnung des amerikanischen Journalisten Henry Hazlitt mit dem Keynesianismus fand auch in Großbritannien ihre Leser. Siehe LIONEL ROBBINS, Economic Planning and International Order, Houndmills/Basingstoke 1937; vgl. auch DERS., Autobiography of an Economist, Houndmills/Basingstoke 1971; JOHN JEWKES, Ordeal by Planning, Houndmills/Basingstoke 1948; vgl. auch DERS., Public and Private Enterprise, London 1965; DERS., New Ordeal by Planning, Houndmills/Basingstoke 1968; siehe auch HAZLITT. Vgl. etwa RAMSDEN, Appetite, S. 310. Der Economist etwa schrieb 1960 in seiner Besprechung der „Verfassung der Freiheit“ spöttisch: „Professor von Hayek’s certainty remains astonishingly unshaken by the failure, over fifteen years of so many mixed economies and welfare states to progress even a single step down the predicted road to serfdom“; The Economist, 25. Juni 1960. HUGH STEPHENSON, Mrs Thatcher’s First Year, London 1980, S. 27. Vgl. von Hayeks Bemerkungen in der Eröffnungsrede beim ersten Treffen der Mont Pèlerin Society 1947, in: MPSA, Box 14. Milton Friedman, ein Gründungsmitglied der Gesellschaft, erklärte später: „For people who, in their home bases, were isolated, who were in a minority, who were always having to look behind to see if they were going to be stabbed in the back, there was a week in which they might have all sorts of disagreements, where they could be open and above the board“; zit. nach DAVID GRAHAM und PETER CLARKE, The New Enlightenment, London 1986, S. 16.

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war, fanden die Wirtschaftsliberalen nach dem Krieg keine politische Heimat. Zwar hatte Churchill als Premierminister im Wahlkampf von 1945 zahlreiche Aspekte der Sozialismuskritik von Hayeks aufgegriffen. Nach seiner Niederlage stand er dessen Ansichten jedoch skeptischer gegenüber. Die Alptraumvision eines sozialistischen Totalitarismus sei für Großbritannien irrelevant, erklärte er ihm bei einem Treffen im November 1948: „[I]t would never happen in England“.65 In den folgenden Jahren zog die Konservative Partei stillschweigend einen Schlußstrich unter ihre Vergangenheit, betonte statt der Kontinuität lieber den Wandel ihrer Politik und bewegte sich wirtschafts- und sozialpolitisch zielstrebig in die Richtung, wo sie die politische Mitte vermutete. Im Kontext der fünfziger und sechziger Jahre bedeutete dies vor allem, der Vollbeschäftigung Priorität einzuräumen, eine keynesianische Wirtschaftspolitik zu betreiben und den Gewerkschaften gedeihliche Zusammenarbeit anzubieten – alles Todsünden in den Augen überzeugter Wirtschaftsliberaler.66 Offene Kritiker dieses Kurses bildeten lange Zeit eine verschwindend kleine Minderheit innerhalb der Partei. Das wurde deutlich, als 1965 ein Nachfolger für den zurückgetretenen Parteichef Home gewählt werden mußte: Reginald Maudling, Exponent einer keynesianischen, expansiven Wirtschaftspolitik, erhielt 133 Stimmen, Powell nur 15; zum Parteichef wurde Heath gewählt, der 150 Stimmen erhielt und sich zunächst eher durch seinen zupackenden, resoluten Stil als durch seine inhaltlichen Präferenzen von Maudling unterschied.67 Erst Ende der sechziger Jahre gewann der Wirtschaftsliberalismus in der Partei wieder langsam an Boden. Eine Vorreiterrolle spielte dabei das Swinton College in Yorkshire, wo die Tories Tagungen und politische Bildungsveranstaltungen für die Parteijugend abhielten. Seit Mitte der sechziger Jahre versammelte sich dort eine Gruppe junger Referenten, die während ihrer Studienjahre stark von den Ideen des IEA beeinflußt worden waren und jede neue Broschüre des Instituts begrüßten „as though it were a fresh Chapter of the Bible“.68 Zwei von ihnen, David Alexander und John O’Sullivan, gaben die Vierteljahresschrift Swinton Journal heraus, die von den intellektuell interessierteren Mitgliedern der Tory-Partei gelesen wurde. Unter ihrer Redaktion öffnete die Zeitschrift ihre Spalten wirtschaftsliberalen Standpunkten. Powell, Harris und Seldon schrieben wiederholt als Gastautoren; von Hayeks Studien wurden ein ums andere Mal

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Siehe PAUL ADDISON, Churchill on the Home Front. 1900–55, London 1992, S. 383. Vgl. RAMSDEN, Appetite, S. 327, 342–4. Vgl. ebd., S. 383; SHEPHERD, Powell, S. 293. Nachruf auf Stephen Eyres in: Daily Telegraph, 28. Februar 1991.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

positiv besprochen.69 In einem Artikel mit der Überschrift „Intellectuals and Conservatism“ versuchte der gebürtige Ungar Tibor Szamuely, von Hayeks These vom Kampf der Ideen für die Tory-Partei fruchtbar zu machen. Die konservativen Wahlniederlagen von 1964 und 1966 hätten bewiesen, schrieb er, „that the traditional image of the Tory Party as the ‚antiintellectual‘ or even the ‚stupid‘ party, the party of the landed interest, of Clubland and the deferential ‚Tory workingman‘ was no longer good enough“. Szamuely plädierte dafür, die Partei für jene Intellektuellen zu öffnen, die von der Linken immer stärker enttäuscht würden. Wenn die Konservativen diese Intellektuellen an sich binden wollten, müßten sie aufhören, lediglich eine pragmatischere, abgeschwächte Variante sozialistischer Politik anzubieten. „The real intellectual admires clear cut, incisive thinking“, so Szamuely. „If the Conservative Party is opposed to Socialism, should it not say openly with Mr. Enoch Powell: ‚We are a capitalist Party. We believe in capitalism. We uphold the free economy‘?“70 Die Zeitschrift nahm Szamuelys Artikel zum Anlaß, in der folgenden Nummer ein Symposium zum Thema „Intellektuelle und Konservatismus“ abzudrucken, in dem neben konservativen Unterhausabgeordneten, Parteimitarbeitern und Journalisten auch Seldon vom IEA zu Wort kam. Ein Leitmotiv verbinde beinahe alle Beiträge, faßte John O’Sullivan, das Ergebnis des Symposiums zusammen, nämlich der Glaube an eine freiheitliche Gesellschaft, in der jeder wieder größere Verfügungsmöglichkeiten über sein eigenes Leben erhalte. Die meisten Autoren, so O’Sullivan, unterstützten die Grundrichtung, die Seldon vorgeschlagen habe: „personal liberty [. . .] individual and corporate initiative, decentralised authority, and government limited to services that cannot be organised by spontaneous contract in the market“. Der Redakteur nannte als praktische Konsequenzen dieses Kurses erstens eine gründliche Skepsis gegenüber jeder staatlichen Intervention in die Wirtschaft und zweitens eine Dezentralisierung von Regierungsmacht, einen Abbau der Verwaltungsbürokratie. Im Wirtschaftsliberalismus sah O’Sullivan den einzigen Ausweg aus den vielfältigen Übeln, die sich zu der gegenwärtigen, schweren Krise des Landes addierten.

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Siehe etwa ARTHUR SELDON, Intellectuals and Conservatism. A Symposium, in: Swinton Journal 14, 1968 (2), S. 21–8; MADSEN PIRIE, Review of von Hayek’s „Studies in Philosophy, Politics and Economics“, in: Swinton Journal 15, 1969 (2); RALPH HARRIS, On Hayek, in: Swinton Journal 16, 1970 (1), S. 37–42; DERS., Let Battle Continue, in: Swinton Journal 21, 1975 (1), S. 9–14; ENOCH POWELL, On Hayek „A Tiger by the Tail“, in: Swinton Journal 18, 1972 (3), S. 57–8. TIBOR SZAMUELY, Intellectuals and Conservatism, in: Swinton Journal 14, 1968 (1), S. 5–15 (S. 8, 11, 13).

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[I]t is the mark of a dynamic philosophy that it provides clear, consistent and above all, simple solutions to the problems thrown up by society and the economy. Conservatives should find the intellectual audience attentive and receptive when they present a view of society derived from the tradition of liberal conservatism. [.. .] Now is the time for the Conservative Party to commit itself to this liberal tradition in clear and unequivocal terms.71

Wenig später gründete der konservative Politiker Anthony Meyer, der 1964 seinen Sitz im Unterhaus verloren hatte und seitdem für die Forschungsabteilung der Partei arbeitete, eine Vierteljahresschrift mit dem Namen Solon und dem Untertitel A Right Wing Journal, die sich explizit der Verbreitung wirtschaftsliberaler Ideen innerhalb der Partei widmete.72 „Public opinion is moving to the right“, stellte Meyer in seinem ersten Leitartikel fest. „So too is the Conservative Party. This is largely the result of the conspicuous failure in action of the ideas – economic planning, universal state welfare – which during most of this century have activated not only the Labour Party but much of the Conservative Party too.“ Meyer zielte mit seiner Zeitschrift auf Intellektuelle, die er für die konservative Sache gewinnen wollte. Wie Szamuely konstatierte er „a political bewilderment of many intellectuals in the universities and elsewhere, who have written off the Labour Party, but who suppose that the Conservative Party has nothing to offer them.“ Ihnen wolle er mit Solon ein Forum bieten.73 Wo er die attraktivsten und innovativsten Ideen vermutete, machte Meyer deutlich, indem er in seinem Artikel ausdrücklich das IEA und seinen Kampf gegen „the Omniferous State“ lobte. Er betonte, eine der gefährlichsten Entwicklungen sei „the weakening of the individual in his relations with the state [. . .] One way to help the individual to fight back is to help him to recover his sense of responsibility.“74 Meyers ausdrückliche Kritik des Gleichheitsideals und sein Plädoyer für Elitenbildung entsprachen den Ideen von Hayeks, des IEA und Powells, der als Gastautor für das Magazin schrieb.75 Zwar erwies sich Solon als kurzlebiges Projekt, das bereits nach einem Jahr, im Oktober 1970, aus Geldmangel eingestellt werden mußte, doch machte das Unternehmen deutlich, welchen Aufschwung wirtschaftsliberale Ideen damals sogar unter

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JOHN O’SULLIVAN, Editorial, in: Swinton Journal 14, 1968 (2), S. 3–7. Vgl. auch ENOCH POWELL, Conservatism and Social Problems, in: ebd., S. 8–16. Vgl. MEYER, S. 55. ANTHONY MEYER, Editorial, in: Solon 1, 1969 (1), S. 4–5 (S. 4). Vgl. auch DERS., Editorial, in Solon 1, 1970 (4), S. 4, wo Meyer das Ziel seines Unterfangens explizit benennt: „building bridges between the political and the intellectual right“. DERS., Editorial, in: Solon 1, 1969 (1), S. 4–5 (S. 4). DERS., Editorial, in: Solon 1, 1970 (3), S. 5–6 (S. 5).

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

Konservativen erfuhren, die sich wie Meyer eher dem linken Parteiflügel zurechneten.76 Ein noch besserer Indikator intellektueller Meinungsströmungen innerhalb der Tory-Partei war die sogenannte Bow Group, eine 1951 gegründete Gruppe konservativer Nachwuchspolitiker, die im Laufe der Zeit zu einem der wichtigsten Karrierevehikel junger ehrgeiziger Konservativer aus der Mittelschicht wurde.77 Die Gruppe verstand sich als „forum for intelligent younger Conservatives who wish to contribute to the formation of policy and ideas“ und legte ihre Mitglieder auf keine bestimmte Weltanschauung fest.78 Während der fünfziger Jahre galt sie als links, als typische Ausprägung jenes fortschrittlichen Konservatismus, der seinen Frieden mit Keynesianismus und Wohlfahrtsstaat gemacht hatte – „the rising hope of the mild and moderate Conservatives“, wie das Oxforder Studentenmagazin Isis 1957 spottete.79 Zu Beginn der sechziger Jahre jedoch gewann Powells Marktradikalismus an Einfluß unter jungen, aufstrebenden Mitgliedern der Bow Group wie John Biffen und Geoffrey Howe, die 1961 bzw. 1964 ins Unterhaus gewählt wurden; auch Russell Lewis, der von 1965 bis 1974 das Conservative Political Centre leitete, zählte zu ihnen. „[Powell’s] speeches and writings have begun to have a potent influence on youngish, technocratic Tories“, notierte die Times im Juli 1965.80 In der Zeitschrift Crossbow, die von der Gruppe herausgegeben wurde, fanden derartige Ideen erst zehn Jahre später ihren Niederschlag – zunächst vereinzelt, seit 1974 massiv. Im Sommer 1972 warb dort etwa Seldon für einen Umbau des Sozialstaates durch die Tory-Regierung. „If the Conservatives are to remedy the errors of the post-war years and build a society in which men stand on their own feet instead of on one another’s corns“, schrieb er, „they must allow the citizen to spend more of his own money.“ Es gehe nicht an, daß die britische Regie76 77 78

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Vgl. MEYER, S. 55–6. Siehe RAMSDEN, Winds of Change, S. 401. „[T]he Group has no corporate view“, hieß es in der kurzen Selbstbeschreibung, die vielen ihrer Publikationen vorangestellt war, „but publishes in its papers, pamphlets and magazine Crossbow the policy research and proposals of any member, so long as the ideas are original, well argued, soundly researched and worthy of attention in the Party and country at large“; siehe etwa Bow Group: The Right Angle. Three Studies in Conservatism, London 1978, S. I. Zit. nach RAMSDEN, Winds of Change, S. 418. Eine ähnliche Einschätzung findet sich noch bei SAMPSON, New Anatomy, S. 113. Zur Geschichte der Bow Group siehe RICHARD ROSE, The Bow Group’s Role in British Politics, in: Western Political Quarterly 14, 1961 (4), S. 865–78; MIKE WILSON und KEN PHILLIPS, The Conservative Party from Macmillan to Thatcher, in: NUGENT und KING (Hrsg.), S. 43. The Times, 26. Juli 1965. Die drei Nachwuchspolitiker gehörten neben Powell zu den ersten Konservativen, die mit dem IEA in Kontakt traten; vgl. RANELAGH, S. 105; HOWE, S. 24–31; COCKETT, S. 163, 169; SHEPHERD, Powell, S. 188.

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rung ein Viertel des Bruttosozialprodukts für staatliche Sozialmaßnahmen ausgebe, von denen auch Menschen profitierten, die gut für sich selbst sorgen könnten.81 Ein Jahr später machte sich der damalige Vorsitzende der Bow Group, Peter Lilley, die Ansichten des IEA auch in der Frage staatlicher Subventionen für die Industrie zu eigen. „We believe in allowing people freedom to work, invest and generate wealth to their private benefit and the gain of the country“, hieß es im Alternative Manifesto, das Lilley zusammen mit zwei anderen Mitgliedern als Strategiepapier der Bow Group für die folgenden Unterhauswahlen veröffentlichte. Der Industry Act der Heath-Regierung müsse ergänzt, Subventionen eingeschränkt, stärkere Elemente des Wettbewerbs auch im staatlichen Sektor eingeführt werden.82 Nach der Wahlniederlage vom Februar 1974 wurde die Kritik an den Kehrtwendungen der Heath-Regierung deutlicher, insbesondere an der Bedeutung, die der Premierminister seit 1972 dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zugemessen hatte. Rückblickend betrachtet, sei der Kurswechsel eine Übereaktion gewesen, hieß es in einer Broschüre der Gruppe vom Juni 1974. Schätzungen zufolge habe nur ein Bruchteil der arbeitslos Gemeldeten wirklich über lange Zeit keine Stelle. „The reality is that there is a shortage of labour in Britain, not a shortage of jobs.“ Ebenso scharf gingen die Autoren mit der Subventionspolitik der Heath-Regierung für marode Staatsbetriebe ins Gericht: Massive subsidies culled from the pockets of prudent savers and employed persons are being spent to pay for feather bedding, and to maintain prices far below these high costs. Government pays the piper and so the politicians call the tune; thus many able men spend their time in bringing influence and pressure to bear on politicians and civil servants rather than in promoting efficient production of the goods and services that people want.83

Die Kritik hatte um so größeres Gewicht als der Marsch durch die Institutionen der Partei, den die Bow Grouper in den fünfziger Jahren begonnen

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ARTHUR SELDON, Conservatives and the Welfare State, in: Crossbow, August-September 1972, S. 8–11 (S. 8). Ähnliche Ansichten vertraten unter anderem ANGUS MAUDE, Principles in Practice – The Land of Smiles?, in: Crossbow, April-June 1971, S. 8–10; JOHN BIFFEN, Rolls-Royce: The Lessons, in: Crossbow, April-June 1971, S. 15–6; PETER LLOYD, Incomes Policy – Is It Really the Answer?, in: Crossbow, June 1974, S. 18–20; RUSSELL LEWIS, Inflation. The Embarrassing Chronicle, in: Crossbow, April 1975, S. 9–11; PHILIP VANDER ELST, Real Reaction Revealed, in: Crossbow, February 1976, S. 7–8; PATRICK HUTBER, How to Cut Taxation, in: Crossbow, Autumn 1976, S. 7–8; KEITH JOSEPH, Interventionism in Britain, in: Crossbow, Summer 1978, S. 6–7. PETER LILLEY et al., Alternative Manifesto, London 1973, S. 9. TONY DURANT et al., No More Tick, London 1974, S. 6. Vgl. zum Kurswechsel der Bow Group auch The Economist, 12. Mai 1975, S. 17–18.

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hatten, Mitte der siebziger Jahre recht weit fortgeschritten war: Zwei der vier Autoren der eben zitierten Broschüre saßen im Unterhaus, ein dritter war in den Wahlen vom Februar gescheitert. Im Oktober 1974 gehörten fünfzig Unterhausabgeordnete der Tory-Partei und ein Sechstel ihrer Wahlkreiskandidaten der Bow Group an. Von Hayek, das IEA und Powell konnten Mitte der siebziger Jahre in ihrem Kampf der Ideen erste Erfolge verzeichnen. „The storm-troopers of Tory progressivism“, schrieb der Historiker John Ramsden, „had become the keenest advocates of the new economics, and as a predominantly youthful group they could also be seen as having time on their side.“84 Daß sich wirtschaftsliberale Ansichten in der Unterhausfraktion und in der Führungsschicht der Partei während der Jahre 1970 bis 1974 dennoch lediglich schleppend durchsetzten, hing nicht nur mit der Parteidisziplin zusammen, die eine Regierungspartei aufbringen muß, sondern auch mit der Person Powells, der noch bis zum Februar 1974 für die Tories im Unterhaus saß. Der Parteispitze um Heath gelang es, ihn, der sich als einziger Spitzenpolitiker konsistent im Sinne wirtschaftsliberaler Ideen äußerte, als fanatischen, frustrierten Einzelgänger abzustempeln.85 Junge Abgeordnete, die in der Partei etwas werden wollten, hüteten sich, allzu große Nähe zu einem Politiker zu demonstrieren, dessen Zerwürfnis mit dem Parteichef derart offenkundig war. Entsprechend einsam war es um Powell. „He was on the old honest-money kick“, kommentierte der Economist seinen Auftritt auf dem Tory-Parteitag im Oktober 1973 süffisant, „and no one takes that very seriously“.86 Powell selbst trug einiges dazu bei, daß er immer tiefer in die Isolation geriet. Er weigerte sich hochmütig, innerhalb der Fraktion um Unterstützung zu werben, und griff die Parteilinie an vielen Fronten gleichzeitig an. Zahlreiche Abgeordnete, die seine wirtschaftspolitischen Ansichten durchaus teilten, lehnten seine Haltung zur Einwanderung oder seinen Kampf gegen einen EG-Beitritt Großbritanniens ab. Eine wirkungsvolle Opposition innerhalb der Unterhausfraktion kam daher stets nur in Einzelfragen zustande.87

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RAMSDEN, Winds of Change, S. 419. Powell sei „a bitter and backward looking man“, erklärte Schatzkanzler Barber auf dem Parteitag von 1973. Er zeige „all the moral conceit and intellectual arrogance that are the hallmarks of the fanatic“, am 11. Oktober 1973 auf dem Tory-Parteitag in Blackpool; zit. nach SHEPHERD, Powell, S. 440. The Economist, 13. Oktober 1973. So begrüßte etwa Nicholas Ridley aus ganzem Herzen Powells Wirtschaftspolitik, war aber zugleich ein begeisterter Anhänger eines EG-Beitritts; Neil Marten war sich mit Powell in der Europapolitik einig, mißbilligte jedoch sowohl Powells Haltung zur Einwanderungs-

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Je offenkundiger die Kehrtwendungen wurden, je stärker die Regierung ins Schlingern geriet, desto häufiger wurden die Gelegenheiten, bei denen sich unzufriedene Hinterbänkler um Powell scharten – sei es anläßlich der Verstaatlichung von Rolls Royce oder den Glasgower Schiffswerften, sei es bei der Haltung der Regierung zu den Gewerkschaften oder in der Frage einer Lohn- und Preispolitik.88 Trotz gelegentlicher Eruptionen blieb die Opposition innerhalb der Unterhausfraktion jedoch weitgehend folgenlos, solange Heath Regierungschef war. Zwar zeigt der Umstand, daß erklärte Kritiker des Premierministers wie Biffen, Nicholas Ridley und Bruce-Gardyne zu Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden wichtiger Hinterbänkler-Ausschüsse gewählt wurden, wie sehr der Unmut innerhalb der Fraktion wuchs. Die Aufzeichnungen des Advisory Committee on Policy machen deutlich, daß sich auch die Kluft zwischen Parteispitze und Basis gefährlich verbreiterte.89 Aber nur wenige Abgeordnete verweigerten ihrer Partei in den entscheidenden Abstimmungen die Loyalität. Selbst scharfe Kritiker stimmten letztlich meist mit der Regierung. Powell war der einzige, der konsequent an seinem Kurs festhielt.90 Langfristig gesehen hatte der beginnende Widerstand in der Fraktion jedoch größere Auswirkungen. Zum einen zwang er die Kritiker dazu, überzeugende Gegenentwürfe zu formulieren, die meist von wirtschaftsliberalem Gedankengut inspiriert waren. Nicht zufällig pflegten viele von ihnen Kontakte zum IEA.91 Zum anderen bauten die Heath-Kritiker in jener Zeit Diskussionszirkel und Gesprächskreise auf, die unter Thatcher an Bedeutung gewinnen sollten. Seit 1972 kamen zum Beispiel zwölf wirtschaftsliberale Tory-Abgeordnete einmal monatlich zum sogenannten Economic Dining Club zusammen, dem mit Powell, Ridley, Biffen und Bruce-Gardyne die wichtigsten Heath-Gegner angehörten.92 Man traf sich abwech-

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frage wie dessen Polemik gegen das Commonwealth; vgl. COSGRAVE, Powell, S. 299. Siehe auch SHEPHERD, Powell, S. 406. JOHN BIFFEN, Rolls-Royce: The Lessons, in: Crossbow, April-June 1971, S. 15; JOCK BRUCE-GARDYNE, An Open Letter to John Davies, in: Swinton Journal, Vol. 18, No. 3, S. 52–6; NICHOLAS RIDLEY, Adam Smith, 1723 – 1973, in: Swinton Journal, Vol. 19, No 1, S. 22–7 (S. 24); Economic Radicals: Memorial to the Prime Minister, London 1972. Allgemein zum Widerstand gegen den Heath-Kurs innerhalb der konservativen Unterhausfraktion siehe NORTON. Vgl. CPA/ACP 2, passim; siehe auch RAMSDEN, Appetite, S. 408–9. Vgl. NORTON; STUART BALL, The Conservative Party and the Heath government, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 315–50 (S. 330); CAMPBELL, Heath, S. 509–21. Neben Powell und Biffen standen auch Richard Body und Jock Bruce-Gardyne mit dem IEA in Verbindung; siehe COCKETT, S. 176. Zu den Mitgliedern zählten außerdem John Nott, Kenneth Baker, Peter Rees, John Patten, Ian Gow, Michael Alison, Cecil Parkinson, John Stanley, Peter Hordern, und später auch

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selnd bei den verschiedenen Mitgliedern zu Hause, wo man nach gemeinsamem Abendessen einen wirtschaftspolitischen Vortrag hörte und anschließend diskutierte. Gewöhnlich endete der Abend damit, daß Powell die Ergebnisse der Diskussion zusammenfaßte. Nur konservative Unterhausabgeordnete durften an diesen Treffen teilnehmen; wer aus dem Parlament ausschied, mußte auch den Economic Dining Club verlassen. Da sich der Club als ein „informelles Zusammentreffen Gleichgesinnter“ verstand, sind weder Sitzungsprotokolle noch die Texte der verschiedenen Vorträge überliefert. Man kann die politische Ausrichtung des Clubs daher nur über die Erinnerungen der Beteiligten erschließen. „We were essentially monetarists“, so Gründungsmitglied Cecil Parkinson im Rückblick, „we believed in floating exchange rates, the markets and open trading and the malign influence of the State. We were enthusiastic privatisers“.93 Initiator der Gesprächsrunde war Nicholas Ridley, der seit 1959 im Unterhaus saß, schon während der sechziger Jahre zu Powells Anhängern gehört und 1965 für ihn als Parteichef gestimmt hatte.94 Als er 1972 im Streit über den Industry Act aus der Regierung ausschied, wurde er zum Vorsitzenden des Conservative Backbench Finance Committee gewählt und nutzte seine neue Position, um Powell in seiner Kritik an der Regierungspolitik zu unterstützen. Er fürchtete, daß die Kluft, die Powell von der Parteiführung in zentralen Politikbereichen trennte, über kurz oder lang zum vollständigen Bruch und zum Parteiaustritt des Politikers führen könnte. Ein wichtiges Ziel, das Ridley mit der Gründung des Economic Dining Club verfolgte, bestand darin, Powell wieder stärker in der Partei zu verankern.95 Auch wenn dieses Vorhaben im Februar 1974 mit Powells Parteiaustritt und seinem Aufruf, Labour zu wählen, scheiterte, konnte der Club bei seiner Auflösung in den frühen achtziger Jahren auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken: Seine Mitglieder standen bereit, als Thatcher in den achtziger Jahren überzeugte Wirtschaftsliberale in ihr Kabinett berief. Sieben der Teilnehmer, darunter Ridley und Biffen, wurden Minister, drei weitere dienten

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Thatcher. Vgl. hierzu und zum folgenden Schreiben von Lord Parkinson an den Verfasser vom 27. November 1998; RIDLEY, S. 20. Ridleys und Parkinsons Berichte sind weitgehend deckungsgleich, differieren aber im Hinblick auf das Gründungsjahr, das Ridley mit 1972, Parkinson mit 1971 angibt. Da Ridley erst 1972 aus der Regierung ausschied, ist seine Angabe die plausiblere. Schreiben von Lord Parkinson an den Verfasser vom 27. November 1998. „All through the 1960s“, schrieb er 1991 in seinen Memoiren, „I had pressed for the Tory Party to be firmer in its resolve to restore the market economy and to roll back the frontiers of socialism“; RIDLEY, S. 3. Ebd., S. 20.

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der Premierministerin als Parlamentarische Privatsekretäre, und BruceGardyne beendete seine Karriere als Staatssekretär im Schatzamt.96 Eine andere Gesprächsrunde, die sich drei Jahre später formierte, beschränkte sich nicht auf konservative Parlamentarier. Bei ihrer Gründung war ebenfalls die Ablehnung der Politik von Parteichef Heath ein wichtiges Motiv. Der Tory-Abgeordnete Hugh Fraser, der im Januar 1975 wie Thatcher bei der Wahl zum Parteiführer kandidierte, initiierte gemeinsam mit seinem Parlamentarischen Privatsekretär Jonathan Aitken und den Philosophieprofessoren John Casey und Roger Scruton die Gründung eines Diskussionszirkels von etwa fünfzig Unterhausabgeordneten, Journalisten und Hochschullehrern. In Ermangelung besserer Ideen nannte sich die Runde eine Zeitlang Hugh Fraser Group, ehe sich später die Bezeichnung Conservative Philosophy Group durchsetzte.97 Das Procedere erinnerte an die Treffen des Economic Dining Club: Man traf sich in unregelmäßigen Abständen zunächst in Frasers, später in Aitkens Haus, dinnierte gemeinsam, hörte in vertraulicher, informeller Atmosphäre einen Vortrag und diskutierte darüber. Doch war die Runde der geladenen Gäste größer, die Themen, die um grundlegende philosophische oder politische Fragen kreisten, weiter gefaßt: der Philosoph Michael Oakeshott sprach über Autorität im modernen Staat, der Rechtsprofessor William Wade beschäftigte sich mit der Frage „Should the Tory Party be the Guardian of the Constitution?“ und der Theologe Edward Norman referierte zum Thema „Christianity and the Bomb“.98 Ziel der Gesprächsrunde war es, „[t]o provide a forum for intellectually serious discussion [. . .] in an attempt to reformulate a characteristically Tory philosophy“, wie es in einem Strategiepapier der Gruppe vom Dezember 1975 hieß. Es ging den Organisatoren darum, die Konservativen nach dem Scheitern der Heath-Regierung aus ihrer ideologischen 96 97

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Siehe Schreiben von Lord Parkinson an den Verfasser vom 27. November 1998. Interview mit Jonathan Aitken am 3. November 1998. Daß sich der Name „Conservative Philosophy Group“ frühestens 1976 durchsetzte, kann man der Korrespondenz Aitkens’ entnehmen, der sich als eine Art Geschäftsführer um die Organisation der Zusammenkünfte kümmerte; vgl. etwa Schreiben von Alastair Goodlad an Jonathan Aitken vom 4. Februar 1976, in: Aitken Papers. In dem Brief plädierte Goodlad dafür, der Name der Gruppe „should be arcane without being sinister“ und machte selbst fünf Vorschläge (The Confluence, The Maelstrom, The Senior Common Room, The Polis, The Concourse), von denen sich keiner durchsetzte. Vgl. zur Geschichte der Gruppe den Bericht in The Times, 31. Januar 1983. Aitken Papers, passim. Norman veröffentlichte 1976 eine Studie mit dem Titel „Church and Society in Modern England“, in der er den Gedanken eines natürlichen Zusammenhangs zwischen Christentum und Konservatismus auf der Grundlage von Marktwirtschaft, Wahlfreiheit und Individualismus entwickelte; siehe EDWARD NORMAN, Church and Society in Modern England, London 1976.

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Konfusion zu befreien und wieder mit einer schlüssigen, attraktiven Philosophie zu versehen. „We would hope to provide the Conservative Party with a language in which it could oppose the central claims of socialism and formulate distinctively Conservative policies. We would aim to discuss not particular policies but a general approach to the formulation of policy.“ Anders als der Economic Dining Club war die Conservative Philosophy Group daran interessiert, über den engeren Kreis der Diskussionsteilnehmer nach außen zu wirken und Verbindungen zwischen Politik, Medien und Universitäten aufzubauen.99 Insbesondere Casey und Scruton wolltenkonservative Akademiker und aktive Tory-Politiker zusammenbringen. Unter ihren Kollegen an den Universitäten suchten sie nach „lively, hardhitting speakers who would be interested in making contact with party politics“. Sie beabsichtigten mit ihrem Projekt, „to form the intellectual Right into a practical corpus“, wie Scruton im Februar 1976 schrieb.100 Die inhaltliche Stoßrichtung der Gruppe war schon wegen der Breite des Themenspektrums und der Vielfalt der Teilnehmer weniger eindeutig marktradikal als diejenige des Economic Dining Club. Dennoch dominierte auch in der Conservative Philosophy Group damals wirtschaftsliberales Gedankengut.101 Typisch für die in der Gruppe vorherrschende Mischung aus marktwirtschaftlichen Reformideen und dem Wunsch, zu den traditionellen Wurzeln des Toryismus zurückzukehren, war ein Vortrag des Oxforder Historiker Robert Blake Ende 1975. Blake wehrte sich darin gegen die Vorstellung, die Tories bräuchten eine „Parteiphilosophie“; so etwas solle man den Sozialisten überlassen. Gleichzeitig plädierte er jedoch dafür, in der Parteitradition verwurzelte Prinzipien, die in den vergangenen Jahren in den Hintergrund gedrängt worden seien, wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken. „[T]he landmarks and guiding posts by which we have steered our course in the past, the affirmation of certain traditional beliefs is not only right but, if asserted in the right language, could very easily bring us great electoral dividends.“ Blake dachte in diesem Zusammenhang vor allem an die marktwirtschaftlichen Traditionen der Partei, die er mit klassischen konservativen Tugenden, zum Beispiel der entschiedenen Vertretung natio-

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Vgl. das Protokoll des Treffens des Steering Committtee vom 15. Dezember 1975, in: Aitken Papers. Schreiben von Roger Scruton an Jonathan Aitken vom 4. Februar 1976, in: Aitken Papers. Das bereits zitierte Strategiepapier vom Dezember 1975 schlug neben „tradition“ und „equality of opportunity“ ausdrücklich „the role of economics“ als Themen für die nächsten Treffen vor. Früh dachte man darüber nach, von Hayek als Gastredner zu gewinnen; Protokoll des Treffens des Steering Committtee vom 15. Dezember 1975; Schreiben von Roger Scruton an Jonathan Aitken vom 4. Mai 1976, beides in: Aitken Papers.

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naler Interessen, verbinden wollte. Die Konservative Partei müsse die Partei geringstmöglicher Intervention des Staates und größtmöglichen Respektes vor dem Privateigentum sein, erklärte er. „Let us campaign [. . .] on the slogan of getting government off our backs, setting the people free, diminishing bureaucracy (and hence taxes), shifting resources into production of marketable goods and encouraging profits. I believe that this would not only be right, but also very popular.“102 Anders als der Economic Dining Club bildete die Philosophy Group kein Reservoir marktradikaler Nachwuchspolitiker, aus deren Reihen Thatcher später die Minister ihrer Kabinette rekrutieren konnte. Weder Casey noch Scruton strebten eine politische Laufbahn an, und Aitkens Karriere, die ihn in den neunziger Jahren auf Staatssekretärsposten im Verteidigungsministerium und im Schatzamt führte, begann erst nach Thatchers Sturz.103 Die Intellektuellen aus dem Dunstkreis der Gruppe hätten niemals auch nur „the slightest influence on Mrs Thatcher’s policies“ gehabt, behauptete einer von ihnen später.104 Dennoch ist die Philosophy Group ein weiterer Indikator für die von wirtschaftsliberalem Gedankengut bestimmte Aufbruchsstimmung der intellektuellen Rechten, der der Thatcherismus in den Anfangsjahren seinen geistigen Schwung verdankte. Neben den elitären, innerparteilichen Diskussionszirkeln, die exklusiven Clubs ähnelten und allenfalls auf Umwegen nach außen wirkten, entstanden in der ersten Hälfte der siebziger Jahre am Rande der Konservativen Partei Aktionsgruppen, die eher an die Zentralen eines permanenten Wahlkampfes erinnerten. Sie wurden von Männern und Frauen vorangetrieben, die direkt auf die öffentliche Meinung des Landes einzuwirken versuchten und sich vollständig dem Kampf für ihre konservative Vision einer besseren Zukunft verschrieben hatten. Mit ihnen tauchte der Typus des idealistischen, zum Teil eifernden Aktivisten im Dunstkreis der Tory-Partei auf, der bis dahin vor allem auf der politischen Linken beheimatet war. Die Churchill Press und der von ihr betriebene Constitutional Book Club, die Harris vom IEA zusammen mit den beiden konservativen Nachwuchspolitikern Ross McWhirter und Rhodes Boyson 1970 aus der Taufe hob, waren typische Beispiele für derartige Projekte. Der Buchclub zielte nach der bewährten Formel des IEA „particularly at teachers, students and other intellectuals who were prepared to question the ‚progressive‘ consensus which had

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ROBERT BLAKE, Conservatism in an Age of Revolution, London 1976, S. 12, 23. Seine Karriere endete Jahre später unrühmlich, als Aitken wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und erwiesenen Meineids zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wurde. MAURICE COWLING, in: The Times, 4. Februar 1984.

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dominated politics economics and morals ever since 1945“. In einer Erklärung mit dem Titel Time to Fight Back wiesen die Initiatoren auf die Gefahr hin, die von mächtigen sozialistischen Minderheiten in den Gewerkschaften, aber auch an den Universitäten und in den Medien ausgehe. Diese würden bewußt jede Form von Autorität unterminieren und auf diese Weise zum Siechtum der britischen Gesellschaft beitragen. Symptome der Krankheit seien „the spread of violence, the undermining of moral values, the belittling of freedom, the decline of family and individual responsibility, the threat of inflation to our future and the erosion of such traditional values as hard work, honesty and the quest for honourable success in life“.105 Diesem Verfall wollte der Constitutional Book Club mit seinen Publikationen erzieherisch entgegenwirken. Nicht zufällig war Boyson, der zur treibenden Kraft des Projektes wurde, Direktor einer Gesamtschule im Norden Londons, ehe er sich hauptberuflich der Politik verschrieb. Boyson, der nicht nur wegen seines gewaltigen viktorianischen Backenbartes, sondern auch wegen seiner populistischen Sprache auffiel, entstammte einer Arbeiterfamilie aus Nordengland und war wie Thatcher in einer methodistischen Umgebung aufgewachsen.106 Im Gegensatz zu Thatcher sammelte er seine ersten politischen Erfahrungen als Kommunalpolitiker in der Labour-Partei, der er sich jedoch im Verlauf der sechziger Jahre zunehmend entfremdete. Als Christ widerstrebten ihm die liberalen Gesellschaftsreformen unter Premierminister Wilson, vor allem die Änderung der Abtreibungsgesetzgebung und die Reform des Homosexualitätsparagraphen. Hinzu kam, daß er zu derselben Zeit, parallel zu seiner Tätigkeit in der Schule, über den Textilfabrikanten Henry Ashworth promovierte und auf diese Weise den laisser faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts schätzen lernte.107 Als Schuldirektor schließlich war er direkt von der sozialistischen Bildungspolitik betroffen; vor allem die geplante Ersetzung der staatlichen grammar schools durch Gesamtschulen lehnte er vehement ab.108

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Werbung für Eintritt in den Constitutional Book Club, abgedruckt zum Beispiel in: KEITH JACKA et al., Rape of Reason. The Corruption of the Polytechnic of North London, London 1975, S. 149. „[S]elf-help and thrift were taught in church and sunday schools“, erinnerte er sich, „and Father and Mother lived it“; BOYSON, Speaking, S. 78. „My study of the nineteenth-century Liberal free marketeers had changed my economic views“, schrieb er in seinen Erinnerungen. „I had always been in favour of strong defence and firm law and order. With my changed economic views I was now akin to an American conservative Republican“; ebd., S. 77; vgl. RHODES BOYSON, The Ashworth Cotton Enterprise. The Rise and Fall of a Family Firm, PhD Oxford 1970. BOYSON, Speaking, S. 27. Gemeinsam mit Dr. A. E. Dyson und Professor C. B. Cox von der Englischfakultät der Universität Manchester gab er zwischen 1969 und 1977 vier sogenannte

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Die Publikationen des Buchclubs spiegelten die verschiedenen Facetten von Boysons Persönlichkeit und Interessen wider. Der viktorianische Selbsthilfegedanke verband sich in ihnen mit von Hayeks Wirtschaftsliberalismus und einem volkstümlichen Nationalismus. Die Autoren, die in ihrer Mehrheit mit dem IEA verbunden waren, variierten in den Broschüren und Sammelbänden des Constitutional Book Club während der Jahre 1970 bis 1975 Modethemen der „Neuen Rechten“ wie Inflationsbekämpfung, Kritik an Staatsbetrieben, die Forderung nach radikalen Steuersenkungen und Angriffe auf die Macht der Gewerkschaften.109 Boyson und der Book Club hatten Heaths Wahl zum Premierminister zunächst enthusiastisch begrüßt – als Chance, den Vormarsch des Sozialismus aufzuhalten und zu den Tugenden der freien Marktwirtschaft zurückzukehren.110 Nach den politischen Kehrtwendungen der Heath-Regierung und den beiden Wahlniederlagen von 1974 stellte Boyson jedoch enttäuscht fest, „[that] the Right has had little conviction, faith or charisma. There is nothing wrong with the men and women in the street, the failure has been in the minds and wills of our politicians.“ Die Partei müsse endlich zu ihrer instinktiven Verbindung mit der großen britischen Vergangenheit und dem gesunden Menschenverstand des einfachen Mannes zurückfinden. Offen liebäugelte er mit dem radikalen, populistischen Kurs Enoch Powells. Auch in der Wirtschaftspolitik identifizierte er sich mit dessen Ansichten, forderte die Rückkehr zu „a genuine belief in the virtues of independent enterprise, self-help and personal responsibility“.111 Boyson und sein Buchclub waren nicht die einzigen Kreuzritter, die unter dem Banner des Kapitalismus gegen den Erzfeind Sozialismus in die Schlacht zogen. Ein Feldzug für den Wirtschaftsliberalismus stand auch im Mittelpunkt der Bestrebungen der sogenannten Selsdon Group. Die im Sommer 1973 entstandene Gruppe leitete ihren Namen von jenem Hotel her, wo im Winter 1970 das konservative Wahlkampfmanifest beschlossen worden war, dessen mangelhafte Umsetzung, ja Verkehrung ins Gegenteil

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„Black Papers“ zur Bildungspolitik heraus, die mit der Studentenrevolution wie mit der Gesamtschulidee hart ins Gericht gingen und eine Rückkehr zu traditionelleren Lehr- und Lernformen forderten. Das erste „Black Paper“ hatten Dyson und Cox ohne Boyson bereits im März 1969 herausgegeben; vgl. ebd., S. 88–91. Vgl. etwa FISHER, History; JACKA et al.; JOHN O’SULLIVAN, Goodbye to Nationalization, London 1971; RHODES BOYSON (Hrsg.), Right Turn. A Symposium on the Need to End the „Progressive“ Consensus in British Thinking and Policy, London 1970. Siehe ebd., S. VII. RHODES BOYSON (Hrsg.), Down With the Poor. An Analysis of the Failure of the „Welfare State“ and a Plan to End Poverty, London 1970, S. V.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

die Kritiker des Parteichefs beklagten.112 Im September 1973 trafen sich die Gründungsmitglieder der Gruppe demonstrativ in eben diesem Hotel und verabschiedeten ein Manifest, in dem es unter anderem hieß: „We believe that individual enterprise is the source of all progress in economics, the sciences and the arts, and that the task of politics is to create a framework within which the individual can flourish.“113 Die Mitglieder der Selsdon Group sahen ihre Aufgabe nicht nur im informellen Gespräch und in der unverbindlichen Diskussion, sondern ausdrücklich in der Wirkung nach außen, in der Werbung für den Wirtschaftsliberalismus innerhalb der ToryPartei.114 In einem zweiten Manifest, das vier Jahre später verabschiedet wurde, stellte die Gruppe die Begrenzung der Staatsausgaben in den Mittelpunkt ihrer Vision konservativer Politik: „The basic principle upon which Conservative policies should rest is that what the public wants should be provided by the market and paid for by the people as consumers rather than taxpayers. The function of government should not be to provide services but to maintain the framework within which the markets operate.“ Nur drei Aufgabenbereiche des Staates erkannte die Gruppe an: die Stabilität der Währung zu gewährleisten, die Herrschaft von Recht und Gesetz im Innern aufrechtzuerhalten, und das Land gegenüber äußeren Feinden zu verteidigen.115 An der Spitze der Gruppe standen als Vize-Präsidenten Heath-kritische, wirtschaftsliberale Unterhausabgeordnete wie Ridley und Richard Body.116 Schirmherr war Lord Coleraine (ehemals Richard Law), der Sohn von Andrew Bonar Law, der zwischen 1911 und 1921 die Tory-Partei geführt hatte. Coleraine hatte von 1931 bis 1945 dem Unterhaus angehört und wäh112

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Vgl. hierzu und zum folgenden PATRICK SEYD, Factionalism in the 1970s, in: ZIG LAYTONHENRY (Hrsg.), Conservative Party Politics, London 1980, S. 235–7; NORTON und AUGHEY, S. 235–6. Die Selsdon Group versuchte den Eindruck zu vermeiden, sie sei eine Gruppierung am rechten, reaktionären Rand der Partei, indem sie schrieb, sie glaube, daß jeder Mensch nach seinen Taten, nicht aufgrund seiner Rasse, Religion oder Hautfarbe beurteilt werden sollte. Wirtschaftliche und politische Freiheit seien untrennbar miteinander verbunden. Nicht der Staat, sondern das Individuum stehe im Mittelpunkt ihres Interesses. „We oppose the view that the State should have a monopoly in health, housing, education and welfare. We uphold the right of the individual to cater for his own preferences in the market, believing that State provision should supplement rather than replace private provision“; Selsdon Group: Selsdon Manifesto, London 1974, S. 5. Wörtlich hieß es in dem Manifest: „We see the primary role as to influence the Conservative Party that it embraces economic and social policies which extend the boundaries of personal choice“; ebd., S. 3. Selsdon Group: A Second Selsdon Group Manifesto, London 1977. Weitere Vize-Präsidenten waren die Unterhausabgeordneten William Clark, Ronald Bell und Sir Frederick Corfield; vgl. COCKETT, S. 213.

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rend des Krieges in verschiedenen Positionen im Kriegs- und Außenministerium gearbeitet. Seit 1954 saß er als Lord im Oberhaus, wo er zu den ersten zählte, die mit den Ansichten von Hayeks, Powells und des IEA sympathisierten.117 Einfluß auf die jüngeren Generationen von Konservativen übte Coleraine vor allem durch zwei Bücher aus, in denen er Konservatismus und Wirtschaftsliberalismus zu verbinden suchte. Schon in seinem Return from Utopia aus dem Jahr 1950 warnte er die Tory-Partei vor den seiner Ansicht nach utopischen Ideen von Keynes und Beveridge.118 Einflußreicher war die Streitschrift For Conservatives Only, die 1970 erschien und bereits viele der Themen anschnitt, um die herum sich die „Neue Rechte“ innerhalb der Tory-Partei formieren sollte.119 Anders als der Economic Dining Club und die Conservative Philosophy Group beschränkte sich die Mitgliedschaft der Selsdon Group nicht auf arrivierte Politiker, Journalisten und Hochschullehrer. Die Gruppe verdankte ganz im Gegenteil ihren Schwung, ihre Dynamik und Militanz einer Garde junger, begeisterungsfähiger Mitglieder, deren Studienzeit noch nicht lange zurücklag. Zu ihnen zählten der erste Vorsitzende David Alexander und sein Stellvertreter Stephen Eyres, die schon fünf Jahre zuvor im Swinton College zusammengearbeitet hatten.120 Diese enthusiastischen Aktivisten gaben seit Februar 1974 ein eigenes Mitteilungsblatt, den Selsdon Newsletter, heraus. Sie veranstalteten Tagungen, zu denen sie wichtige Vertreter des britischen Wirtschaftsliberalismus wie Fisher, Bruce-Gardyne, Biffen und Lewis einluden.121 In zwei eigenen Publikationsreihen, den Selsdon Group Briefs und Selsdon Group Policy Series veröffentlichten sie eigene Studien, die von den Publikationen des IEA inspiriert waren, jedoch deren 117 118

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Vgl. ebd., S. 165–6. Coleraine ermutigte sie, „to hold out once again the prospect of a society in which man is free to be good because he is free to choose“; RICHARD LAW (später: LORD COLERAINE), Return from Utopia, London 1950, S. 9. „Personal freedom is as necessary for the society as for the individuals who comprise it“, schrieb Coleraine darin etwa. „It is necessary because it allows for the development of a spontaneous order in economic and social life which, without it, would require deliberate organization of a kind and on a scale of which the human mind has thus far shown itself to be quite incapable. The true antithesis is not between individual freedom and the needs of society, but between an order which is spontaneous and self-regulating, and one which is imposed“; LORD COLERAINE (früher: Richard Law), For Conservatives Only, London 1970, S. 37–8. Auch der Schatzmeister, Richard Henderson, der Geschäftsführer, Anthony Vander Elst, und Philip Vander Elst, der für die Publikationstätigkeit der Gruppe zuständig war, gehörten zur selben Generation; vgl. COCKETT, S. 213. Zur Biographie von Stephen Eyres siehe seinen Nachruf, in: The Times, 26. Februar 1991. Letzterer hatte als Leiter des Conservative Political Centre Alexander und Eyres schon während ihrer Zeit am Swinton College nach Kräften unterstützt.

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parteipolitische Neutralität aufgaben und direkt darauf zielten, die Konservative Partei zu beeinflussen.122 Darüber hinaus bemühten sie sich, ihre Botschaft in andere Organe vor allem, aber nicht nur der Tory-Partei hineinzutragen. So schrieb Alexander im Juni 1974 einen Artikel in Crossbow, in dem er die aktuelle Malaise des Landes auf die Überdehnung der Staatsausgaben zurückführte.123 Seiner Partei warf er vor, ihre marktwirtschaftlichen Überzeugungen entweder vergessen oder aus Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen über Bord geworfen zu haben.124 Er empfahl der Parteiführung, den staatsinterventionistischen Kurs der vergangenen Jahre zu korrigieren und ein politisches Erziehungsprogramm zu starten, mit dessen Hilfe man die Bevölkerung von der Notwendigkeit marktwirtschaftlicher Reformen überzeugen könne. Je ernster die Lage des Landes werde, desto empfänglicher würden die Wähler für die Botschaft derjenigen, die ihnen die unverblümte Wahrheit sagten. „[T]he agenda for Conservative opposition must be to acknowledge the seriousness of the situation, identify the dirigiste thinking responsible for it, make the electorate realise that there is no easy way out, and finally present the idea of a society in which all share the benefits of capitalism. What is called for is in fact a great exercise in political education.“125 Einen ähnlichen Ton schlug der für die Publikationstätigkeit der Gruppe zuständige Philip Vander Elst an. In einem Artikel mit der Überschrift „Radical Toryism – The Libertarian Alternative“, der ein Jahr später in der politikwissenschaftlichen Fachzeitschrift Political Quarterly erschien, warnte er seine Partei vor dem Versuch, den politischen Gegner beim Bestechen des Wahlvolkes mit Versprechungen größerer Sozialleistungen und höherer Wachstumsraten übertreffen zu wollen. Die Tories dürften sich nicht länger als eine pragmatische Variante des Sozialismus profilieren, 122

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Siehe etwa die Broschüre „A Smaller Public Sector – The Priority for a Free Society“ vom Oktober 1976, die aus einer Tagung vom Juni 1976 im Londoner St Ermin’s Hotel hervorging, die sich mit dem Thema „Reducing the Public Sector“ beschäftigte (Kopie in der BLPES). Andere Publikationen trugen Titel wie „An End to Whitehall Dole“ (von BruceGardyne), „Killing the Goose: Taxes on Capital are Taxes on Capitalism“ (von Barry Bracewell-Milnes) oder „They Voted No Aid to British Leyland“ (von Richard Henderson) und lagen im parteieigenen Buchladen des „Conservative Political Centre“ aus; vgl. COCKETT, S. 215. DAVID ALEXANDER, Sentimental Journey or Selsdon Revisited, in: Crossbow, June 1974, S. 37. Wörtlich schrieb er: „Unfortunately too few people, either within the Conservative Party or without, appear to understand how a free economy works, nor how political freedom depends upon economic freedom. Certainly Conservative politicians have believed that to act on this understanding would be politically unacceptable“; ebd., S. 37. Ebd., S. 37–9.

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sondern müßten endlich wieder „an alternative vision of society“ anbieten. Die Zeichen für einen Frontalangriff stünden günstig, behauptete er und verwies auf gesellschaftliche Veränderungen, die langfristig gesehen die Vorherrschaft des Sozialismus unterminierten. Das Wachstum des Dienstleistungssektors eröffne ein weites Feld für kleine, dezentralisierte, wettbewerbsorientierte Unternehmen. Zudem zögen viele junge Leute inzwischen selbstbestimmte Arbeit auf eigenes Risiko festgesetzten Stunden in öden Büros vor. Schließlich habe sich auch die Einkommensverteilung in Großbritannien in den vergangenen dreißig Jahren grundlegend verändert. An die Stelle der ehemals pyramidenförmigen Struktur sei ein Muster getreten, das eher einem Diamanten gleiche: Es dominiere eine breite Mittelschicht, die über zunehmende Steuerlasten, staatliche Umverteilungsmaßnahmen und bürokratische Eingriffe klage und nicht länger gewillt sei, dies klaglos hinzunehmen. Vander Elst deutete diese Entwicklung hoffnungsvoll als Vorboten einer „white collar revolution“.126 Die Hoffnung war nicht aus der Luft gegriffen. Die Frustration einer breiten Mittelschicht bildete das Bindeglied einer Reihe weiterer Gruppen, die dem Kampf für wirtschaftsliberale Ideen Mitte der siebziger Jahre eine Massenbasis verschafften. Die ungewohnte Kampfeslust der bürgerlichen Gesellschaftsmitte war kein auf Großbritannien beschränktes Phänomen und mehr als eine Abwehrreaktion gegen den als egalitär und permissiv empfundenen Zeitgeist der sechziger Jahre. In Belgien streikten im Juni 1975 Ärzte, Rechtsanwälte, Friseure, Taxifahrer, Elektriker und andere Selbständige, um gegen wachsende Steuern und Sozialversicherungbeiträge zu protestieren. In Frankreich wurde eine Vereinigung von mittelständischen Unternehmern und Managern gegründet, die sich gegen die Macht der Gewerkschaften zur Wehr setzen wollten. In Kalifornien entstand 1978 eine breite Bewegung, der es mit Hilfe eines Referendums gelang, die Vermögenssteuer um durchschnittlich 57 Prozent zu senken; und in Dänemark avancierte die Fortschrittspartei, die in populistischem Ton radikale Steuersenkungen forderte, zur zweitstärksten Fraktion im Parlament.127 In Großbritannien fiel der Protest wegen der besonders schweren wirtschaftlichen und politischen Krise heftiger aus als anderswo. Angestellte und kleine Selbständige litten unter der Inflation, die ihnen ihre Ersparnisse wegfraß. Manager und leitende Angestellte ärgerten sich über die wachsende Macht der Gewerkschaften, die in ihren Augen eine Nivellierung der Ein126 127

PHILIP VANDER ELST, Radical Toryism – The Libertarian Alernative, in: Political Quarterly 46, 1975, S. 69–71. Vgl. ROGER KING, The Middle Class in Revolt?, in: KING und NUGENT (Hrsg.), S. 2–3.

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kommensunterschiede zwischen Hand- und Kopfarbeit bedeutete. Hausbesitzer stöhnten über gewaltige Erhöhungen der an Grundbesitz gekoppelten Gemeindesteuer (der sogenannten rates), mit denen die Kommunen auf ihre wachsenden Ausgaben reagierten.128 Bis 1975 fand die Verbitterung des Mittelstandes keinen Widerhall in der Parteienlandschaft. Die Verdrossenheit über die Kehrtwendungen der konservativen Heath-Regierung war ebenso groß wie der Ärger über die Kooperation der Labour-Premiers Wilson und Callaghan mit den Gewerkschaften. Protestgruppen wie die im November 1974 gegründete Middle Class Association, die in ihrer Blütezeit rund 5000 Mitglieder zählte, griffen nicht nur die Labour-Partei an, sondern hielten auch Distanz zu den Tories.129 Während die Middle Class Association ein kurzlebiges Projekt blieb, das bald in kleine, sich befehdende Fraktionen zerfiel und 1976 völlig zerbröselte, hatte die im Dezember 1975 gegründete National Association for Freedom dauerhafteren Erfolg.130 Ihre Entstehung war untrennbar mit Ross McWhirter verknüpft.131 Der gelernte Jurist – im August 1970 erfolgloser Bewerber um einen Platz als konservativer Unterhauskandidat – hatte gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Norris als Herausgeber des Guinness Book of Records ein Vermögen verdient. Mit diesem Geld bestritt er eine Reihe von Prozessen mit explizit politischer Stoßrichtung, etwa gegen die Neueinteilung der britischen Wahlkreise, gegen Großbritanniens Beitritt zur EG, gegen die Einführung von Gesamtschulen in England oder gegen pornographische Fernsehspots. Ermutigt durch die Proteststimmung in Teilen des Mittelstandes, sah er 1975 die Gelegenheit gekommen, eine breitere Basis für seine Kampagnen zu schaffen. Er gründete die Current

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Vgl. MIDDELMAS, Power, S. 4, 9; NEILL NUGENT, The Ratepayers, in: NUGENT und KING (Hrsg.), S. 22–45; ROGER KING, The Middle Class in Revolt?, in: KING und NUGENT (Hrsg.), S. 4. Insbesondere der Unmut gegen die Gemeindesteuer beunruhigte die Politiker aller Parteien. Die „Ratepayers Revolt“ sei ein neuartiges gesellschaftliches Phänomen, konstatierte Umweltminister Crosland, „certainly in my lifetime I have never known such universal anger and resentment at the levels of rates“; The Times, 9. Mai 1974. Sowohl Labour als auch die Konservativen trugen ihrer Ansicht nach Mitschuld am Entstehen der „collectivised society in which the individual counts for nothing and the state for everything“; Middle Class Association Bulletin, Mai 1975; zit. nach ROGER KING, The Middle Class in Revolt?, in: KING und NUGENT (Hrsg.), S. 3. Zur Geschichte der NAFF siehe NORRIS MCWHIRTER, Lord de L’Isle and the Founding of TFA, in: Freedom Today, August 1991, S. 4; NEILL NUGENT, The National Association for Freedom, in: NUGENT und KING (Hrsg.), S. 76–100; COCKETT, S. 220–6. Eine kritischere Sicht findet sich bei FERDINAND MOUNT, Freedom and the „Free Nation“, in: Spectator, 19. Februar 1977. Zu Ross McWhirters Biographie siehe NORRIS MCWHIRTER, Ross, London 1977. Siehe auch McWhirters Beitrag in: BOYSON, Right Turn, S. 84–96.

1. Die „Neue Rechte“ in Großbritannien vor 1975

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Affairs Press (im November 1975 in Self Help umgetauft), mit deren Hilfe er im Falle eines landesweiten Druckerstreiks täglich drei Millionen Zeitungen drucken lassen wollte. Die Idee bürgerlicher Selbsthilfe gegen die Streikmacht von Gewerkschaften durchzog auch seine anderen Projekte, zum Beispiel in Brighton, wo er private Postdienste, Lebensmitteltransporte und Autosammelstellen organisierte, um im Falle eines Streiks der Bahnangestellten und Busfahrer gewappnet zu sein. Mit diesen und ähnlichen Aktionen versuchte er, die schweigende Mehrheit der Briten zu veranlassen, sich gegen die Herrschaft radikaler Minderheiten und übermächtiger Bürokraten zur Wehr setzen.132 Die alle zwei Wochen erscheinende Zeitschrift seiner Organisation trug den programmatischen Titel Majority. The Organ of the Radical Right – Journal of Free Enterprise and Self-Help. Die Tonlage des Blattes ähnelte mit ihrer Mischung aus Wirtschaftsliberalismus und Nationalismus derjenigen des Constititutional Book Club, nur war sie schriller, utopischer und weniger intellektuell.133 Das Blatt verdammte jeglichen Eingriff des Staates ins Wirtschaftsleben und distanzierte sich nicht nur von der Labour-Partei, sondern auch von den Tories und Liberalen. Individuelle Freiheit und Marktwirtschaft galten als die wichtigsten Tugenden, die Gewerkschaften und ihr angebliches Ziel, einen Staat im Staate zu bilden, als größte Feinde. Majority machte sich für Chancengleichheit stark, kritisierte exzessive Bürokratie und hohe Steuern und plädierte dafür, sozialstaatliche Zuwendungen auf wirklich Bedürftige zu beschränken. „Unabhängigkeit“ war das Schlüsselwort hinter all diesen Bekenntnissen, Selbsthilfe das Mittel, sie zu erreichen.134 Gleichzeitig arbeitete McWhirter zusammen mit seinem Bruder Norris und dem ehemaligen Generalgouverneur von Australien Lord De L’Isle an der Gründung eines größeren Verbandes, der die Rechte und Freiheiten des Individuums gegen den Staat verteidigen sollte.135 Am 13. Juni 1975 traf

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Siehe Majority Nr. 1, 10. bis 23. November 1975, S. 3. Vgl. auch den Gedenkartikel zum ersten Todestag McWhirters in The Free Nation, 26. November 1976, S. 5. „The policy of Majority is simple and straight forward“, hieß es in der ersten Ausgabe vom November 1975. „It is loyal to the crown, asserts independence of the United Kingdom and the Commonwealth and holds firmly to the belief that Britain’s right to a share in world leadership has not yet been superseded. In all things it upholds the rule of law. It advocates a return by the nation to Christian principles, upholds integrity in public and private life and condemns expediency“; Majority Nr. 1, 10. bis 23. November 1975, S. 3. Ebd. Die Anregung zu diesem Unternehmen war von Colonel Juan Hobbs, Geschäftsführer von „British United Industrialists“, und dem Direktor von Aims of Industry, Michael Ivens, aus-

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

man sich auf De L’Isles Landsitz in Kent und beschloß die Gründung einer National Association for Freedom (NAFF), mit deren Hilfe man kollektivistische Maßnahmen von Parlament und Regierung zu bekämpfen gedachte. Der Verband sollte über einen Beirat von fünfzig Honoratioren aus beiden Kammern des Parlaments, aus Wirtschaft, Verwaltung und Kirche verfügen und sich auf einer Gründungsveranstaltung im Londoner Savoy Hotel am 2. Dezember der Öffentlichkeit vorstellen. Fünf Tage vor diesem Termin wurde Ross McWhirter, der kurz zuvor ein Flugblatt mit dem Titel „How to Stop the Bombers“ veröffentlicht hatte, von einem Terrorkommando der Irisch Republikanischen Armee in seinem Haus erschossen. Weil sich sein Bruder und De L’Isle entschlossen, die Gründung der NAFF nicht zu verschieben, fand ihre erste Pressekonferenz landesweit große Aufmerksamkeit: Innerhalb weniger Tage traten etwa 10 000 Briten der Organsation bei.136 Nach McWhirters Tod avancierten John Gouriet, ein ehemaliger Offizier, und der junge australische Journalist Robert Moss, hauptberuflich außenpolitischer Redakteur des Economist, zu den führenden Persönlichkeiten des Verbandes. Das Erbe, das Moss und Gouriet verwalteten, war in einer 15 Punkte umfassenden, noch von Ross McWhirter formulierten „Charter of Rights and Liberties“ festgeschrieben. Die Liste reichte vom Recht, gegen äußere Feinde verteidigt zu werden, über Religions- und Versammlungsfreiheit bis hin zu dem Recht, gegen Angriffe auf die Privatsphäre geschützt zu werden.137 Die 15 Programmpunkte, die von allen Mitgliedern der NAFF als verbindlich anerkannt werden mußten, kreisten um die beiden Kernbegriffe „Freiheit“ und „Privatsphäre“ und erschienen kaum kontrovers. Deutlicher formulierte Moss in der alle zwei Wochen erscheinenden Verbandszeitschrift The Free Nation die Ziele der NAFF. Er identifizierte vier grundlegende Gefahren für die „Freiheit“ in Großbritannien: erstens die allzu große Machtfülle der Gewerkschaften; zweitens das Auswuchern des Staatsapparates und der Bürokratie; drittens das Verschwinden der Werte und Traditionen „on which Britain’s past greatness was built“; viertens schließlich die zunehmende äußere Bedrohung der nationalen Sicherheit durch die Sowjetunion.138 Der äußere und innere Feind verschmolzen in dieser Weltsicht zu einem einzigen Gegner: dem Kommunis-

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gegangen, die De L’Isle davon überzeugt hatten, „that there was a void and that something should be done, rather than continuously talked about“; MCWHIRTER, Lord de L’Isle. Ebd. Bis zum Februar 1977 waren mehr als 15 000 Briten der NAFF beigetreten; siehe FERDINAND MOUNT, Freedom and the „Free Nation“, in: Spectator, 19. Februar 1977, S. 11. The Free Nation, Pilot Edition, Februar 1976, S. 8. Ebd., S. 4.

1. Die „Neue Rechte“ in Großbritannien vor 1975

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mus. Die Verteidigung bürgerlicher Freiheitsrechte ging mit einem leidenschaftlichen Antikommunismus einher, der sich nicht nur gegen die äußere Bedrohung durch die Sowjetunion richtete, sondern auch unermüdlich auf die Gefahren subversiver kommunistischer Tätigkeit im Innern des Landes hinwies. „[W]e are not being properly protected against the menace of Soviet military expansion or, for that matter, against terrorists inside our own frontiers. The number of British soldiers deployed on NATO’s central front is less than the number of civilian employees in many county councils“, so Moss, der die Spalten seiner Zeitschrift für Dissidenten aus der Sowjetunion öffnete und selbst immer wieder Artikel über die geopolitische Bedrohung durch die sowjetische Aufrüstung verfaßte.139 Besondere Aufmerksamkeit schenkte NAFF dem Linksruck von Gewerkschaften und Labour-Partei, die der Verband als Erfolge kommunistischer Unterwanderung interpretierte.140 Die Botschaft sei ganz einfach, hieß es in einem Flugblatt vom Dezember 1977: „[T]he major threat to our way of life comes from communist subversion throughout the world backed by the armed forces of the Soviet Union. It comes also from a naive tolerance of Marxism by Western intellectuals, politicians and industrialists who have lacked the determination to oppose it with the philosophy of freedom.“141 Um ihre Vision von Freiheit zu verteidigen bzw. dort, wo sie verloren schien, wiederzubeleben, wurde die NAFF an mehreren Fronten aktiv: Erstens appellierte sie direkt an die Öffentlichkeit und versuchte, möglichst viele Bürger für ihre Ziele zu mobilisieren.142 Zu diesem Zweck organi-

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Ebd.; vgl. als drei Beispiele unter vielen ROBERT MOSS, The KGB’s Secret War, in: ebd., S. 2; BRIAN CROZIER, Meet the Subverters, in: The Free Nation Bd. 1, Nr. 1, 19. März 1976, S. 4–5; VLADIMIR T, Solshenitsyn, the Dethroner of Detente, in: The Free Nation Bd. 1, Nr. 12, 20. August 1976, S. 7. Zehn Prozent aller einflußreichen Posten in der Gewerkschaftsbewegung würden bereits von Kommunisten kontrolliert, hieß es. „If the Communists dominate the unions, they can also dominate the Labour Party as the block votes of the TGWU and the AUEW play a decisive role at the Labour Party Conference. The British Communist Party has said for some years that all it has to do is ‚float an idea early in the year and it can become official Labour policy by the autumn‘“; The Free Nation Bd. 2, Nr. 26, 21. Dezember 1977, S. 5. „The Communist Threat and the Lessons of Eastern Europe“, NAFF-Flugblatt vom Dezember 1977, zit. nach NUGENT, National Association for Freedom, in: NUGENT und KING (Hrsg.), S. 85. Moss schrieb: „We believe that one of the main reasons why Britain is in danger of becoming an unfree, and down-at-heel, society is that the great majority of the British people has not been organised to make its voice heard“. Die NAFF sei gegründet worden, um diese Lücke zu füllen. THE FREE NATION diene dazu, dem Protest der Bürger eine Stimme zu verleihen. „We do need active dedicated people who are prepared to stand up and be counted. Much of the territory that has been lost to freedom in Britain was lost because it was never really defended. We will ensure that some of it is recovered“; The Free Nation, Pilot Edition, Februar 1976, S. 4.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

sierten NAFF-Aktivisten ein Netz von Ortsgruppen im ganzen Land, luden zu Werbeveranstaltungen, verteilten Flugblätter, inserierten sogenannte „Freedom Proclamations“ in lokalen und überregionalen Zeitungen, sammelten in Fußgängerzonen und Supermärkten Unterschriften für ihre Protestaktionen. Zweitens versuchte der Verband, die politischen Parteien für seine Ziele zu gewinnen, obwohl man zugleich ausdrücklich Wert darauf legte, nicht parteipolitisch gebunden zu sein. Die NAFF achtete sorgfältig darauf, Reizthemen wie die Wiedereinführung der Todesstrafe oder die Einwanderungsfrage zu meiden und auch gewerkschaftskritische, an marktwirtschaftlichen Reformen interessierte Mitglieder der Labour-Partei in ihren Publikationen zu Wort kommen zu lassen.143 Dennoch stand außer Frage, daß man die größten Hoffnungen auf den wirtschaftsliberalen Flügel der Tory-Partei richtete. Sechs konservative Unterhausabgeordnete, darunter Boyson und Ridley, gehörten zum Beirat der NAFF. Auf den Parteitagen der Konservativen war der Verband mit eigenen Ständen, Veranstaltungen, Flugblättern und Transparenten präsent.144 Drittens schlug sich der Verband in spektakulären Aktionen direkt auf die Seite einzelner Bürger, deren Freiheitsrechte er gefährdet sah. Die NAFF sei nicht nur dazu da, die Lage zu analysieren, sondern auch praktische Maßnahmen zu ergreifen, damit Mißstände behoben würden, lautete das Credo. Man sei bereit, wenn nötig, rechtliche Schritte einzuleiten, um individuelle Freiheitsrechte zu verteidigen.145 Konkret bedeutete dies, daß man an Ross McWhirters juristischen Feldzug gegen die „Feinde der Freiheit“ anknüpfte und spektakuläre Prozesse anstrengte, um auf die Gefährdung bürgerlicher Freiheitsrechte hinzuweisen.146

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Siehe zum Beispiel DOUGLAS EDEN, Democracy and the Closed Shop, in: The Free Nation Bd. 1, Nr. 1 vom 19. März 1976, S. 5; STEPHEN HASELER, A Forward Strategy for Freedom, in: The Free Nation Bd. 1, Nr. 15, S. 3. Vgl. etwa die Berichterstattung vom Parteitag in Blackpool, in: The Free Nation Bd. 2, Nr. 22, 28. Oktober 1977, passim. Die Verbandszeitschrift entwickelte sich zu einem der beliebtesten Organe der „Neuen Rechten“ innerhalb wie außerhalb der Tory-Partei: Stephen Eyres von der Selsdon Group, seit 1976 Redakteur von The Free Nation, ließ nicht nur Harris und Seldon vom IEA regelmäßig für die Zeitschrift schreiben, sondern auch wirtschaftsliberale Tories wie Lewis oder Lord Blake, Vander Elst von der „Selsdon Group“ und Patricia Hodgson von der Bow Group. Vgl. The Free Nation, Pilot Edition, Februar 1976, S. 4. Zum Beispiel trug die NAFF den Fall dreier Angestellter der britischen Bahn erfolgreich vor den Europäischen Gerichtshof in Straßburg, die wegen ihrer Weigerung, einer Gewerkschaft beizutreten, entlassen worden waren. Eine Gruppe von Eltern, die gegen die Einführung einer flächendeckenden Gesamtschulerziehung in ihrer Region klagten, unterstützte der Verband finanziell. Einen dritten – freilich erfolglosen – Prozeß führte die NAFF schließlich gegen die britischen Postgewerkschaften, die sich wegen des Apartheid-Regimes weigerten,

1. Die „Neue Rechte“ in Großbritannien vor 1975

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Diskussionszirkel wie der Economic Dining Club und Aktionsgruppen wie die NAFF waren für die Verbreitung der Ideen der „Neuen Rechten“ zwar wichtig, ohne den Umschwung der veröffentlichten Meinung in den Medien wären sie jedoch weitgehend wirkungslos verpufft. Vielbeschäftigte Politiker oder Geschäftsleute hatten meist nicht die Zeit, die zahllosen wissenschaftlichen Studien, gelehrten Abhandlungen, Berichte, Broschüren und Kampfschriften zu lesen, die Woche für Woche produziert wurden. Vielen wäre es wohl unangenehm gewesen, persönlich an Veranstaltungen unbekannter oder obskurer Gruppen wie der Selsdon Group teilzunehmen. Man bezog seine Informationen eher aus den großen, überregionalen Tageszeitungen und Wochenzeitschriften, wo die wissenschaftlichen und intellektuellen Trends und Debatten in komprimierter Form konsumiert werden konnten. Tageszeitungen wie die Times, die Financial Times und der Daily Telegraph und Wochenzeitschriften wie der Observer oder Spectator blieben die wichtigsten Foren ernsthafter politischer Debatten. Um so wichtiger war der Meinungsumschwung, der sich seit Ende der sechziger Jahre in den seriösen Printmedien bemerkbar machte. „[T]here has been a revival of the intellectual right, which had been so markedly absent in the late fifties and early sixties“, notierte der Publizist Anthony Sampson schon 1971. „By the late sixties there was much more intellectual activity from the right, whether in the old organs like the Daily and Sunday Telegraph, [. . .] or in the revived Spectator, now bristling with Powellite views.“147 Am frühesten schwenkte der traditionell den Torys zugeneigte Daily Telegraph, die auflagenstärkste unter den seriösen, überregionalen Tageszeitungen, auf die Linie der „Neuen Rechten“ ein. Chefredakteur Maurice Green räumte gemeinsam mit seinem Stellvertreter Colin Welch schon seit 1964 wirtschaftsliberalen Ansichten viel Raum ein.148 Bei ihrem Versuch, das Blatt intellektuell anspruchsvoller zu gestalten, stützten sich Green und Welch auf das Renommee des IEA, dessen Vize-Direktor Seldon bis zum Ende des Jahrzehnts rund sechzig Leitartikel für sie verfaßte.149 Gleichzeitig öffneten sie die Spalten ihrer Zeitung für Beiträge wirtschaftsliberaler Tory-Politiker wie Geoffrey Howe, der dort in den sechziger Jahren

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Postsendungen nach Südafrika weiterzuleiten; siehe dazu The Free Nation Bd. 2, Nr. 16, 5. August 1977, S. 1. SAMPSON, New Anatomy, S. 121. Maurice Green, ein studierter Wirtschaftswissenschaftler, der den Daily Telegraph bis 1974 leitete, wurde von einem seiner Mitarbeiter als „very firm economic liberal“ beschrieben; sein Stellvertreter Colin Welch schrieb Beiträge für diverse Sammelbände der „Neuen Rechten“; vgl. etwa COLIN WELCH, Intellectuals have Consequences, in: TYRRELL (Hrsg.), S. 12–9. So jedenfalls COCKETT, S. 184.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

wiederholt mit sozialpolitischen Reformvorschlägen an die Öffentlichkeit trat. Später druckten sie auch mehrere schulpolitische Artikel Boysons.150 Vor allem aber sammelten Green und Welch in ihrer Redaktion eine Gruppe von Reportern und Leitartiklern, die allesamt der „Neuen Rechten“ zuzurechnen waren – darunter O’Sullivan vom Swinton Journal, T. E. Utley, der Meyer als Redakteur bei Solon aushalf, und Bruce-Gardyne.151 Die häufig jungen, angriffslustigen und polemischen Journalisten beim Daily Telegraph einte das Mißvergnügen am pragmatischen, kompromißbereiten Charakter der Tory-Partei. Neben ihrer regulären Arbeit fanden sie genug Zeit, in konservativen Parteizeitschriften für eine neue, radikale Spielart des Konservatismus zu werben. Einer von ihnen, Michael Harrington, konstatierte im Swinton Journal: Conservatives lost their faith, many of them, in the morality of capitalism [.. .] there are today people in the Cabinet and at all levels of the Conservative Party who, when confronted with the idea of capitalism think first, not of the joys and advantages of capitalism, but of the qualifications one has to impose on it, the limits that one has to set to the free market.

Der doktrinäre Sozialismus, so Harrington, sei auf dem Vormarsch, und die Konservativen hätten ihm nichts entgegenzusetzen, wenn sie nicht endlich eine eigene Ideologie entwickelten. Die einzige moralisch und politisch akzeptable Alternative zum Sozialismus sei der Kapitalismus.152 Frühzeitig witterte der Daily Telegraph, daß die Heath-Regierung das marktwirtschaftliche Reformprogramm, mit dem sie angetreten war, nicht durchhalten werde.153 Anthony Lejeune etwa konstatierte bereits im Sommer 1971, der Regierung fehle der gewisse „Tory style“. Eine Kälte umgebe sie, die ihre Anhänger frösteln lasse. Heath besitze vielleicht den Intellekt eines

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Vgl. etwa GEOFFREY HOWE, Paying your Money and Taking Your Choice, in: Daily Telegraph, 31. Januar 1964; DERS., A New Approach to Welfare, in: Daily Telegraph, 23. Februar 1966; DERS., Key to a Healthier Service, in: Daily Telegraph, 12. August 1969; RHODES BOYSON, Bring Out Our Illiterates, in: Daily Telegraph, 12. April 1972. Vgl. COCKETT, S. 183–4; zu Utley siehe auch CHARLES MOORE und SIMON HEFFER (Hrsg.), A Tory Seer. The Collected Journalism of T. E. Utley, London 1989. Wörtlich schrieb er: „Although many Conservatives may not like it, if they don’t want to become socialists they will have to rediscover capitalism, and embrace all the consequences“; MICHAEL HARRINGTON, A Conservative Ideology?, in: Swinton Journal Bd. 19, Nr. 2, Sommer 1973, S. 27–33 (S. 32–3). Im Juni 1971 fragte Utley: „If the policy continues to fail, will not Mr Heath and his colleagues be exposed to an irresistible temptation to use the vast administrative apparatus which they have created for the purpose of trying to achieve quicker results? Might not even they drift, via a wages policy, into something like the kind of economic regime from which they have set out to deliver us?“; Daily Telegraph, 18. Juni 1971.

1. Die „Neue Rechte“ in Großbritannien vor 1975

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Torys, aber nicht dessen Instinkte.154 Derart erbarmungslos geißelte der Daily Telegraph jede Kehrtwendung der Regierung als Verrat konservativer Prinzipien, daß Heath und seine politischen Freunde später klagten, das Blatt habe sie im Stich gelassen, ja maßgeblich zum Sturz des Parteichefs im Februar 1975 beigetragen.155 Gleiches hätten sie auch über das konservative Wochenblatt Spectator sagen können, wo Patrick Cosgrave in seinen Leitartikeln bis zu seinem Ausscheiden 1976 kein gutes Haar an der Regierungspolitik ließ und für entschiedenere marktwirtschaftliche Reformen eintrat. Auch er war über das IEA mit wirtschaftsliberalen Ideen in Berührung gekommen. Im Rückblick beschrieb er seinen ersten Kontakt mit Harris und Seldon Ende 1969 als eine Art Bekehrungserlebnis.156 Mit dem Eifer des Konvertiten begeisterte sich der Journalist für die „Stille Revolution“ der Tories und kritisierte in den folgenden Jahren ihren Abfall vom reinen Glauben. Heath, der sich durch eine prinzipientreue und an langfristigen Zielen ausgerichtete Politik von seinem Vorgänger Wilson unterscheiden wollte, sei gescheitert, konstatierte er im Herbst 1972.157 Je stärker die Regierung ins Schlingern geriet, desto ätzender wurde Cosgraves Kritik, die über persönliche Vorwürfe hinausging und den Kurs der Partei grundsätzlich in Frage stellte. 1973 schrieb er: When Heath came to power, a number of his policies were likely to give rise to serious contradictions. Heath never understood nor paid much attention to the fundamental philosophical and logical problems presented both by the country’s plight and the choice of policies available for providing an answer to it. [. . .] he has never managed to see the point of those who insist that individual liberty is ultimately dependent on an individualistic economy.158

Weder er noch seine Gesinnungsgenossen im Spectator oder beim Daily Telegraph hätten mit ihrer Kritik an Heath bösartig, illoyal oder destruktiv sein wollen, so Cosgrave später. „[Our criticism] arose, rather, from a furious sense of betrayal, not of ourselves merely, but of hope.“159 154 155 156

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ANTHONY LEJEUNE, The Reversal of the Drift, in: Crossbow, Juli-September 1971, S. 8–10 (S. 10). Siehe etwa das Schreiben von Whitelaw an Thorneycroft vom 13. 2. 1975, in: Thorneycroft – Private Papers; MS 278 A 962/3/10; vgl. auch HART-DAVIS, S. 248–9. Wörtlich schrieb er: „Their enthusiasm was infectious, their charm very evident – but could they possibly be taken seriously, with their scorn for public expenditure, their adoration of pure market forces, their preoccupation with some strange thing, sounding rather like a disease, called micro-economics, and their genial contempt for the whole economic record of the Conservative Party under Mr Macmillan? [. . .] It was, for me, the exact equivalent of St Paul’s famous stop on the road to Damascus“; Spectator, 22. Januar 1977, S. 11. Spectator, 11. November 1972. PATRICK COSGRAVE, Heath as Prime Minister, in: Political Quarterly 44, 1973, S. 445. Spectator, 22. Januar 1977, S. 11.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

Die Times kritisierte die konservative Regierung weniger heftig. Ihre politischen Leitartikler verteidigten den Pragmatismus der Heath-Mannschaft lange Zeit als die einzig richtige Antwort auf die politische und ökonomische Krise. Der Wirtschaftsteil der Zeitung begann jedoch seit etwa 1970, der keynesianischen Orthodoxie den Rücken zu kehren, für beherzte Sparmaßnahmen und eine Begrenzung der Staatsausgaben zu plädieren.160 Die treibende Kraft hinter dem Gesinnungswandel war der wirtschaftspolitische Redakteur Peter Jay, der zwischen 1961 und 1967 im Schatzamt gearbeitet und die dort vorherrschende keynesianische Sichtweise geteilt hatte. Gegen Ende der sechziger Jahre begann er, nicht zuletzt aufgrund von Kontakten mit amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern, an der Wirksamkeit der traditionellen, wirtschaftspolitischen Methoden zu zweifeln und als erster namhafter Journalist in Großbritannien über den Monetarismus zu berichten.161 Auf der Grundlage seiner frisch gewonnenen Überzeugungen gehörte er zu den profiliertesten Kritikern der konservativen Wirtschaftspolitik nach 1972. Insbesondere die expansive Politik von Schatzkanzler Barber im Jahr 1973 hielt er für inflationstreibend und verheerend.162 Etwa zur selben Zeit schwenkte der Herausgeber der Times, William Rees-Mogg, auf Jays Linie ein, so daß nun auch in die politischen Leitartikel der Zeitung mehr und mehr wirtschaftsliberales Gedankengut einfloß, zumal auch die beiden Leitartikler Ronald Butt und Bernard Levin Sympathien für die „Neue Rechte“ zu erkennen gaben.163 In der Sonntagsausgabe, der Sunday Times, spiegelte sich die neue Ausrichtung des Blattes ebenfalls wider, am auffälligsten in drei langen Artikeln der Oxforder Ökonomen Eltis und Bacon, die im Herbst 1975 die chronische Produktivitätsschwäche in der britischen Indstrie aus wirtschaftsliberaler Sicht kritisierten.164

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Vgl. WILLIAM KEEGAN, Mrs. Thatcher’s Economic Experiment, London 1984, S. 41–3. Siehe auch GRIGG. Siehe etwa seinen Artikel „Understanding the Role of the Money Supply“, in: The Times, 15. Oktober 1968; vgl. auch CONGDON, S. 5, 11–2; COCKETT, S. 185–7. Siehe Jays Artikel „The Boom that Must Go Bust“, in: The Times, 7. Mai 1973. Einen guten Überblick über Jays wirtschaftspolitische Überzeugungen im Zusammenhang findet man bei JAY. Butt etwa schrieb in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre Beiträge für The Free Nation; siehe etwa RONALD BUTT, The „Centre Ground“ Mirage, in: The Free Nation Bd. 4, No. 10, 11. Mai 1979. Zur Entwicklung von Rees-Moggs Ansichten siehe zum Beispiel seine Leitartikel vom 6. September 1974 („The Sharp Shock of Truth“) und 28. September 1977 („One Dutch Man-Hour = Two British Man-Hours“); Rees-Moggs wirtschaftspolitische Ansichten aus jener Zeit sind dokumentiert in REES-MOGG. Die Artikel erschienen unter dem Titel „Britain’s Economic Problems: Too Few Producers“ kurz darauf in Buchform, siehe BACON und ELTIS.

1. Die „Neue Rechte“ in Großbritannien vor 1975

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Eine ähnliche Entwicklung nahm die Berichterstattung der Financial Times.165 Dort schwor Samuel Brittan, der Doyen der britischen Wirtschaftsjournalisten, unter von Hayeks und Friedmans Einfluß seit Ende der sechziger Jahre ebenfalls der keynesianischen Orthodoxie ab. Ähnlich wie Jay war Brittan in seinem Wirtschaftsstudium in Cambridge zum klassischen Keynesianer ausgebildet worden, hatte in den fünfziger und sechziger Jahren in diesem Sinne für die Wirtschaftsteile der Financial Times und des Observer geschrieben, ehe er von 1964 bis 1966 zwei Jahre im Wirtschaftsministerium arbeitete und anschließend als Kommentator zur Financial Times zurückkehrte. Sein Bekehrungserlebnis verdankte er nach eigenem Bekunden der Lektüre eines Vortrages von Friedman aus dem Jahr 1967.166 Fortan nutzte er seine Leitartikel, um auf die Schwächen des keynesianischen Ansatzes hinzuweisen und für den Übergang zu einer monetaristischen Wirtschafts- und Finanzpolitik zu werben.167 Seine Studie Government and the Market Economy, die er 1971 im Auftrag des IEA verfaßte, war die erste öffentliche Kritik am wirtschaftspolitischen Kurs der HeathRegierung aus der Feder eines Wirtschaftsliberalen.168 Trotz ihrer wirtschaftsliberalen Ansichten gehörten Jay und Brittan anders als die Redakteure des Daily Telegraph nicht zur „Neuen Rechten“. Vielmehr wurzelte Jay als Sohn des Labour-Politikers Douglas Jay und Schwiegersohn James Callaghans familiär wie politisch fest in der LabourPartei. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre übte er einen beträchtlichen Einfluß auf Healeys anti-keynesianische Wende im Schatzamt aus und schrieb als Ghostwriter seines Schwiegervaters die Passage in der Parteitagsrede vom September 1976, in der Callaghan sich die Grundprinzipien des Monetarismus zu eigen machte. Brittans politische Grundhaltung läßt sich am besten als radikal freiheitlich beschreiben. Es sei paradox, schrieb er einmal, „that the non-Muscovite Left favours freedom in everything but econ-

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Vgl. KYNASTON, S. 368–9. Rückblickend bemerkte er: „I had always been sufficiently hard-headed to accept the Phillips curve, which showed that the lower the level of unemployment, the faster the wages would rise and the worse inflation would be. It took Friedman, however, to demonstrate that the Phillips curve could never be stable. Eventually workers would take into account the higher inflation, and in a sufficiently tight labour market would insist on still larger wage increases to catch up“; SAMUEL BRITTAN, Capitalism With a Human Face, Aldershot 1995, S. 14. Siehe als ein Beispiel unter vielen seinen Leitartikel „Why Unemployment is Still an Enigma“ in: Financial Times, 24. Februar 1972. SAMUEL BRITTAN, Government and the Market Economy, London 1971. Nicht zufällig wurde Brittans Studie sowohl im Daily Telegraph als auch in der Sunday Times positiv besprochen; vgl. Daily Telegraph, 19. Juli 1971 und Sunday Times, 18. Juli 1971.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

omics, while the Right is sympathetic to freedom only in the economic sphere“.169 Er selbst, so muß man ergänzen, löste diesen Widerspruch auf, indem er Capitalism and the Permissive Society gleichermaßen befürwortete.170 Dennoch ebneten Jay und Brittan der „Neuen Rechten“ den Weg zum Erfolg, indem sie die einflußreiche Leserschaft ihrer Zeitungen mit deren wirtschaftspolitischem Gedankengut bekannt machten.171 C)

KEITH JOSEPH UND DAS CENTRE FOR POLICY STUDIES

Das Problem der „Neuen Rechten“ bestand darin, daß sich lange Zeit kein führender Politiker auf ihre Seite schlug. Während sich Journalisten, Intellektuelle und eine jüngere Garde konservativer Politiker in Diskussionszirkeln, Gesprächsrunden und Aktionsgruppen zusammenfanden, nahm die Parteispitze kaum Notiz von der intellektuellen Revolution, die sich in ihrem Dunstkreis anbahnte.172 Bis zum Sturz der Heath-Regierung im Februar 1974 machte sich kein konservativer Spitzenpolitiker die Ideen der verschiedenen Grüppchen und Organisationen zu eigen, um den sich anbahnenden Meinungsumschwung in der Presse auszunutzen und im Führungsteam der Tory-Partei für einen neuen Kurs zu werben. Powell eignete sich als Außenseiter und notorischer Einzelgänger für diese Aufgabe denkbar schlecht, zumal er seit Februar 1974 nicht mehr Mitglied der Partei war. Sein Bruch mit den Tories bot anderen Politikern die Möglichkeit, Powells Erbe anzutreten. „Some other political figure might profit by Enoch’s success and climb on his shoulders“, hatte Whitelaw schon 1969 vermutet, „but who?“173 Es war ausgerechnet Sozialminister Keith Joseph, der sich als erster zum wirtschaftspolitischen Erbe Powells und zu den Ideen der „Neuen Rechten“ bekannte. Bis Februar 1974 hatte er dem ausgabenintensivsten Ressort vorgestanden und als treuer Parteisoldat die offizielle Linie verfochten. Unter Macmillan war er ein fleißiger Juniorminister in verschiedenen Mini-

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Encounter, Januar 1980, S. 31–46 (S. 32). „Capitalism and the Permissive Society“ lautete auch der programmatische Titel einer Studie Brittans aus dem Jahr 1973, in der er sich zu den Werten der 68er Revolution bekannte, zugleich aber kritisierte, die Revolutionäre hätten übersehen, daß der Kapitalismus ihr Verbündeter, nicht ihr Gegner sei; siehe SAMUEL BRITTAN, Capitalism and the Permissive Society, London 1973. Vgl. COCKETT, S. 188. Vgl. ebd., S. 230–1. Im privaten Gespräch mit dem Verleger CECIL KING, The Cecil King Diaries, 1965–1970, London 1972, S. 242.

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sterien gewesen – kreativ, ideenreich und ein bißchen ineffizient.174 Anfang der sechziger Jahre hatte er neben Powell, Howe und Biffen zu den ersten konservativen Politikern gehört, die beim IEA Rat und Anregung suchten. Unter dem Einfluß dieser Kontakte forderte er in der Oppositionszeit zwischen 1964 und 1970 in radikal klingenden Reden mehr Unternehmergeist, mehr Wettbewerb und weniger staatlichen Dirigismus.175 In den folgenden Regierungsjahren verlor er jedoch unter dem Druck aktueller Probleme die Ziele der Oppositionszeit aus den Augen. Erst die bitteren Vorwürfe einiger alter Freunde hätten ihn nach der Wahlniederlage vom Februar 1974 wieder auf den rechten Weg gebracht, bekannte Joseph später.176 Entscheidenden Einfluß übte dabei Alfred Sherman aus, ein Mann, der in vielem das genaue Gegenstück zu Joseph war.177 Der biographische Hintergrund der beiden Männer hätte unterschiedlicher kaum sein können: Joseph hatte als Sohn eines reichen jüdischen Unternehmers in Oxford studiert, in der Baufirma seiner Familie viel Geld verdient und anschließend in der Konservativen Partei Karriere gemacht. Sherman hingegen stammte aus dem armen Londoner East End, hatte eine Staatsschule besucht, an der LSE Ökonomie studiert, sich in den dreißiger Jahren den britischen Kommunisten angeschlossen und am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen. Joseph war ein pragmatischer Politiker, der sich zwar, als Fellow des Oxforder All Souls College, auch für die geistig-moralischen Grundlagen seiner Profession interessierte, aber zugleich sagte, Politiker seien praktische Leute „who judge ideas and policies by results“.178 Sherman repräsentierte dagegen den Typus des Intellektuellen in der Politik, der sich mehr für Ideen und Ideologien interessierte als für deren praktische Umsetzung.179 Nach dem Krieg wandte sich Sherman unter dem Eindruck der stalinistischen Tyrannei in Osteuropa vom Kommunismus ab und mit dem Eifer des frisch Bekehrten einem neuen Glauben zu: Er verwandelte sich in einen ra174 175

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Siehe HALCROW. „Private enterprise has not failed“, verkündete er, „it has not been properly tried“; am 26. April 1967 in Reading; zit. nach: MICHAEL HARRINGTON, Sir Keith Joseph, in: TOM STACEY und ROWLAND ST. OSWALD (Hrsg.), Here Come the Tories, London 1970, S. 75. Vgl. KEITH JOSEPH, Escaping the Chrysalis of Statism, in: Contemporary Record, Spring 1987, S. 26–31 (S. 28). „Abgesehen davon, daß beide Juden waren, hatten Alfred und Keith nur sehr wenig gemein“, urteilte Thatcher, die mit beiden später eng zusammenarbeitete; THATCHER, Erinnerungen, S. 299. Leserbrief von Keith Joseph in: The Economist, 28. September 1974. „[M]en are so hungry for certainties“, beschrieb er später, Hegel zitierend, seine Lebenserfahrung, „that they will readily subordinate consciousness and conscience to it; men need great ideals to move them, and the passions created outlast the struggles they served“; The Guardian, 12. September 1988.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

dikalen Verfechter der Marktwirtschaft – und blieb sich doch auf eine Weise treu. Denn er nahm nun in der Macmillan-Ära eine ähnliche Position am Rand des politischen Spektrums ein wie als Kommunist in den dreißiger Jahren.180 Eine Zeitlang arbeitete er in Israel, ehe er in den frühen sechziger Jahren als Redakteur des Daily Telegraph nach Großbritannien zurückkehrte, wo er für Kommunalfragen zuständig war. In dieser Rolle traf er erstmals mit dem damaligen Wohnungsbauminister Joseph zusammen, der ihn sogleich interessant fand und später wiederholt um Anregungen für seine Reden bat.181 Trotz – oder gerade wegen – der Temperamentsunterschiede zwischen dem harmoniebedürftigen, liebenswürdigen Politiker und dem scharfzüngigen, streitlustigen Intellektuellen funktionierte die Zusammenarbeit bis zum konservativen Wahlsieg 1970 hervorragend. Danach jedoch war Sherman, der große Hoffnungen in Josephs marktwirtschaftlichen Reformeifer gesetzt hatte, zutiefst enttäuscht über dessen Tätigkeit als Sozialminister. Der Kontakt brach ab. Erst nach der Wahlniederlage vom Februar 1974 versuchte Joseph, die alte Verbindung wiederzubeleben, und ließ sich von Shermans enthusiatischem Glauben an die Kräfte des Marktes überzeugen. Shermans fruchtbarer Verstand sei das „Prisma“ gewesen, erklärte er später seinem Biographen, durch das hindurch er nun glasklar die politischen Realitäten erkannte, die er zuvor zwanzig Jahre lang mißdeutet habe.182 Unter dem Einfluß Shermans gelangte Joseph zu der Ansicht, seine Partei müsse nach der Niederlage ihre Strategie grundsätzlich überdenken. Man sei vom rechten Weg abgekommen und müsse sich tiefgreifend ändern, um wieder Erfolg zu haben. Wirtschaftspolitisch stürze ein Festhalten am bisherigen Kurs Partei und Land immer tiefer in die Krise. Dem geistig beweglichen, allzeit sprungbereiten Joseph, der dazu neigte, eigene Fehler reumütig einzugestehen, fiel diese Erkenntnis nicht schwer. Auch persönlicher Ehrgeiz mag bei seinem Entschluß, mit Heath zu brechen, eine Rolle gespielt haben.183 Schon 1970 hatte es Gerüchte gegeben, er habe das Zeug dazu, eines Tages Schatzkanzler zu werden.184 Doch auch nach der Nieder-

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Vgl. COCKETT, S. 232. Gespräch mit Alfred Sherman am 14. Dezember 1998; vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 299–300; COCKETT, S. 231–2. Zit. nach HALCROW, S. 62; vgl. auch YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 29. Diesen Aspekt betonte Lord Howe im Gespräch mit dem Autor (Interview vom 9. Dezember 1998). Die Schwierigkeiten, in die Großbritanniens Wirtschaftskrise das Familienunternehmen stürzte, könnten ebenfalls zu Josephs Kurskorrektur beigetragen haben; so jedenfalls RAMSDEN, Winds of Change, S. 424. Vgl. MICHAEL HARRINGTON, Sir Keith Joseph, in: STACEY und ST. OSWALD (Hrsg.), S. 82.

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lage vom Februar 1974 wurde ihm der erwartete Posten im Schattenkabinett nicht angeboten. Dem 56jährigen mußten seine politischen Zukunftsaussichten düster erscheinen. Er verzichtete zunächst auf ein anderes Schattenportefeuille und sagte, er widme sich lieber der Suche nach neuen Zielsetzungen.185 Zunächst begann Joseph, innerhalb der Führungsgremien der Partei für einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik zu werben. Am 8. April äußerte er im Lenkungskomitee Zweifel an der Preis- und Einkommenspolitik und stellte die These auf, Arbeitslosigkeit sei – in Maßen – durchaus nützlich, weil sie die Gewerkschaften daran erinnere, welche Folgen unmäßige Lohnforderungen haben könnten.186 Einen Monat später konfrontierte er führende Schattenminister mit einem Thesenpapier zur Inflationsbekämpfung, in dem es hieß: „Inflation at the present rate let alone worse spells disaster for us as a country, as a society and as a party. It is cruel beyond words for the poor and the thrifty, and it destroys the middle class.“ Der Kampf gegen die Inflation und die Rückkehr zu einer sparsamen Haushaltspolitik müsse absolute Priorität genießen, auch wenn damit steigende Arbeitslosenzahlen, Firmenzusammenbrüche und Ausgabenbegrenzung verbunden seien.187 Selbst in den geglätteten Formulierungen des Sitzungsprotokolls klingt noch an, wie unvereinbar die Positionen aufeinander stießen und wie wenig sich die Parteiführung von Josephs Ansichten umstimmen ließ.188 Das einzige Zugeständnis, zu dem Heath sich widerstrebend bereit erklärte, war eine Sondersitzung des Schattenkabinetts zur Wirtschaftspolitik, bei der man Experten um ihre Meinung bat.189 Während der Sitzung prallten erneut zwei gegensätzliche volkswirtschaftliche Denkweisen aufeinander. Donald MacDougall, von 1969 bis 1973 oberster Wirtschaftsberater im Schatzamt, vertrat die ökonomische Orthodoxie der Nachkriegszeit und rechtfertigte den bisherigen Kurs mit traditionellen keynesianischen Begründungen. Alan Walters, seit 1972 einer der lautstärksten Kritiker des Heath-Kurses, setzte dem die Argumente der monetaristischen Schule entgegen: Die Kontrolle der Geldmenge sei der Schlüssel zu allem, nur die 185

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Nach einigen Wochen erklärte sich Joseph auf intensiven Druck der Parteiführung schließlich doch noch bereit als Innenminister in das Schattenkabinett einzutreten. Vgl. hierzu HEATH, Course, S. 520–1; THATCHER, Erinnerungen, S. 289. Steering Commitee, 4. Sitzung vom 8. April 1974; in: CPA/LSC/74/5. „[I]f the country is to return to sound money by gradual steps then consistent policies – involving some unemployment, some bankruptcies and very tight control on public spending – will be needed for at least five years“; Inflation. Arbeitspaper von Keith Joseph vom 1. Mai 1974; in: CPA/LCC/74/11. Leader’s Consultative Committee, 10. Sitzung vom 3. Mai 1974, in: CPA/LLC/74/10. Vgl. BAKER, S. 41.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

Selbstheilungskräfte des Marktes könnten die britische Wirtschaft retten. Der dritte Ökonom, James Ball von der London Business School, in den Regierungsjahren ein wichtiger Berater von Heath, schloß sich – zur allgemeinen Überraschung – Walters Ratschlag an. Heath weigerte sich jedoch, dem Ratschlag zu folgen, und hielt an seinem Kurs fest.190 Als sich abzeichnete, daß sein Plädoyer für eine Kurskorrektur innerhalb des Schattenkabinetts auf taube Ohren stieß, entschied sich Joseph, auch außerhalb des Parteiapparates für marktwirtschaftliche Reformen zu werben. Die Idee, zu diesem Zweck eine eigene, von der Parteiführung unabhängige Institution zu gründen, hatten er und Sherman bereits im März diskutiert. Das geplante Centre for Policy Studies sollte, dem Vorbild des Institute of Economic Affairs folgend, seriöse Forschungsarbeit mit propagandistischer Tätigkeit für marktwirtschaftliche Reformen verbinden.191 Anders als das IEA würde das neue Zentrum keine parteipolitische Neutralität wahren, sondern direkt auf die Konservative Partei einzuwirken versuchen. Joseph scheint es gelungen zu sein, das prinzipielle Einverständnis des Parteichefs für dieses Unternehmen zu sichern, indem er – seine wahren Absichten verschweigend und Heaths Enthusiasmus für kontinentaleuropäische Vorbilder geschickt nutzend – erklärte, er wolle das Vorbild der westdeutschen sozialen Marktwirtschaft studieren.192 Dennoch blieb der Parteichef naturgemäß mißtrauisch gegenüber einer Neugründung, die nicht nur von einem innerparteilichen Gegner geleitet wurde, sondern mit der Partei in Wahlkampfzeiten auch um wertvolle Spenden konkurrieren würde.193 Eines der Hauptziele des CPS bestehe darin, für eine Soziale Marktwirtschaft auf philosophischer und moralischer Grundlage zu werben, hieß es im

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Eine anschauliche Schilderung des Treffens findet sich bei RANELAGH, S. 126–7; RAMSDEN, Winds of Change, S. 416, hält Ranelaghs Bericht für wenig glaubwürdig. HEATH, Course, S. 521, bestätigt jedoch in groben Zügen die wichtigsten Aussagen Ranelaghs. Zur Geschichte des CPS siehe DENHAM und GARNETT, Think-Tanks, S. 117–50; MICHAEL HARRIS, The Centre for Policy Studies: The Paradoxes of Power, in: Contemporary British History 10, 1996 (2), S. 51–64; DESAI; COCKETT, S. 236–86; BURGESS und ALDERMAN. Vgl. M. J. TODD, The Centre for Policy Studies: Its Birth and Early Days (= Essex Papers in Politics and Government 81), University of Essex 1991, S. 10; JOSEPH, Escaping, S. 28; siehe auch YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 28, 30; RANELAGH, S. 106–7. Alfred Sherman betonte im Gespräch mit dem Verfasser ebenfalls, er habe Joseph auf den Gedanken gebracht, eine Denkfabrik zu gründen. Angesichts dieser übereinstimmenden Aussagen erscheint die These, die Anregung zur Gründung sei von Heath selbst gekommen, wenig plausibel. So jedoch COCKETT, S. 236, der schreibt: „Heath’s intention must have been to give Joseph a chemistry set with which he would hopefully blow himself up.“ Heath bestand darauf, daß Adam Ridley, einer seiner wirtschaftspolitischen Berater, Mitglied des Vorstandes wurde; vgl. COCKETT, S. 237.

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Protokoll der ersten förmlichen Sitzung der Institutsgründer Ende Juni.194 Ein Strategiepapier vom 3. Juli definierte genauer, was man unter „Sozialer Marktwirtschaft“ verstand: The basic principle on which the Centre operates is that to meet the needs and expectation of Society, wealth must be created by the efficient use of scarce resources. This can only be achieved by a vigorous, efficient and well motivated private sector, producing a surplus (profit), a proportion of which goes to sustain and develop ‚welfare‘ services in their widest sense [. . .] or in other words – compassionate Capitalism.195

Mit der Betonung der sozialen Seite der Marktwirtschaft wollten Joseph, Sherman und ihre Mitstreiter nicht nur Parteichef Heath besänftigen. Sie versuchten außerdem dem Vorwurf entgegenzuarbeiten, die von ihnen geplanten Reformen seien unsozial, ließen keinen Raum für Gerechtigkeit und Idealismus.196 Dennoch war von Beginn an klar, daß beim Werben des CPS für eine Soziale Marktwirtschaft die Betonung auf dem zweiten, nicht dem ersten Teil des Begriffes lag. Die Erfahrung habe gelehrt, daß die einzige Alternative zur Marktwirtschaft eine Planwirtschaft sei, „in which short term expedients reflecting conflicting party-political considerations dominate government economic behaviour“, hieß es in einer Broschüre, die den Titel Why Britain Needs a Social Market Economy trug. Eine Planwirtschaft führe automatisch zu einer Plangesellschaft, in welcher der Staat im Interesse einer zentralen Wirtschaftssteuerung immer größere Kontrolle über das Alltagsleben der Bürger ausübe und ihre Wahlfreiheit immer weiter einschränke, sei es in der Erziehung, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, bei der Karriereplanung oder beim freien Zugang zu Informationen.197 Die konkreten Methoden, mit denen das CPS seine Ziele zu erreichen hoffte, waren vielfältig. Man wollte zunächst in kleinen Gesprächsrunden Fragen formulieren, auf die jede Regierung, die sich am Ideal der Sozialen Marktwirtschaft orientierte, konkrete Antworten finden mußte. Sodann sollten die Antworten, die andere Länder, insbesondere in Westeuropa, auf vergleichbare Fragen gefunden hatten, analysiert und Lösungsmodelle für Großbritannien entwickelt werden. Diese wollte man dem Schattenkabinett und gegebenenfalls auch einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen. Zu der inhaltlichen Arbeit kam die propagandistische Tätigkeit. Das Zentrum 194 195 196 197

Centre for Policy Studies Limited: Minutes of a Meeting in Interview Room G, House of Commons at 11.45 on 25 June 1974, in: Sherman Papers AR CPS/A&O/1/4, Box 7. „A Draft Statement of Goals for the Centre“ von Simon Webley vom 3. Juli 1974, in: Sherman Papers AR CPS/A&O/1/2, Box 7. Siehe HALCROW, S. 67. CPS (1975), S. 3–4.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

wollte selbst über Vortragsveranstaltungen, Zeitungsartikel und Fernsehauftritte direkt in die Öffentlichkeit wirken.198 Hinzu kamen zwei Arbeitsessen pro Woche, bei denen sich Politiker, Journalisten und Geschäftsleute zum Meinungsaustausch trafen und, bald kursierenden Gerüchten zu Folge, die besten preiswerten Mahlzeiten Londons genossen.199 Die bewußt breit gestreuten Aufgabenbereiche konnten einen fundamentalen Streit über Sinn und Zweck des Unternehmens nicht lange verhindern. Ein Teil der Mitarbeiter sah das CPS als ein Instrument der Politikberatung für das konservative Schattenkabinett. Es sollte ihrer Ansicht nach eine Reihe von umfassenden, anwendungsorientierten Detailstudien für einzelne Politikbereiche erarbeiten und den Schattenministern vorlegen.200 Sherman dagegen hatte ein anderes Ziel vor Augen: Seiner Meinung nach sollte das Zentrum dazu dienen, das Meinungsklima im Lande zu verändern, auf die „opinion-forming circles“, insbesondere im Umkreis der Konservativen Partei, einzuwirken und sie zu ermutigen, das bisher Undenkbare zu denken. Bevor man konkrete Lösungsvorschläge formulieren könne, so Sherman, müsse man zunächst die Öffentlichkeit davon überzeugen, daß die alten Modelle unbrauchbar geworden seien.201 Shermans Strategie setzte sich durch. Zwar begannen die Mitarbeiter an eigenen Spezialstudien zu arbeiten und Beiträge von außerhalb, etwa von Samuel Brittan, einzuwerben.202 Doch die im Oktober bevorstehenden Unterhauswahlen und später der Führungsstreit innerhalb der Tory-Partei erschwerten die langfristige Grundlagenarbeit. Hinzu kam, daß sich die wirtschaftliche Krise im Land dramatisch zuspitzte, wodurch die Argumente des Zentrums an Überzeugungskraft gewannen. „The rapidly deteriorating state of the UK economy“, hieß es in einem Memorandum vom Dezember 1974, „has encouraged us to modify the timescale in which we hope to influence opinion, i.e. we have begun to place less emphasis on our

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Centre for Policy Studies (ohne Datum), in: Sherman Papers AR CPS/A&O/1/1, Box 7. Interview mit Peter Cropper am 20. Januar 1999; vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 301. So etwa der erste Geschäftsführer Martin Wassell in einem Memorandum an Keith Joseph vom 18. Dezember 1974, in: Sherman Papers Folder 1, Box 7. „The main thrust of our work to modify the climate of opinion“, schrieb er in einem Memorandum an Joseph, „will be through the use of studies, as well as current comment, to show the failures of socialism and dirigism of various kinds, here and abroad, and the relative success gained by working with the market as rationale for doing it“; Alfred Sherman: Credo. Memorandum an Keith Joseph vom 18. November 1974, in: Sherman Papers AR CPS/A&O/1/16, Box 7. Vgl. etwa die vom CPS herausgegebene Studie von SAMUEL BRITTAN, Second Thoughts on Full Employment Policy, London 1976.

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research activities and more on our information work.“203 Es sprach sich herum, daß die Seminare und Arbeitsessen des Zentrums diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf originelle Weise thematisierten, und einige konservative Abgeordnete begannen sich für die Arbeit des Zentrums zu interessieren.204 Der Schwerpunkt der Tätigkeit des CPS lag zunächst darauf, eine Reihe von Grundsatzreden zu erarbeiten, mit denen Joseph im Sommer und Herbst 1974 seine Kritik an Heaths politischer Strategie öffentlich machte. Joseph ließ diese Reden im Zentrum sorgfältig vorbereiten und immer wieder überarbeiten; zahlreiche Entwürfe mit der Bitte um Stellungnahme kursierten unter Journalisten und politischen Freunden, ehe Sherman die endgültige Fassung formulierte.205 Die erste dieser bewußt provozierenden Reden hielt er am 22. Juni in Upminster. „Since the end of the Second World War we have altogether had too much Socialism“, begann er scheinbar harmlos. Der Sprengstoff steckte darin, daß Joseph sich selbst und seine Partei in die Kritik einbezog. Er sprach als erster hochrangiger Politiker öffentlich aus, daß beide Parteien am Niedergang des Landes in der Nachkriegszeit Schuld seien und machte keinen Unterschied zwischen konservativen und Labour-Regierungen, wenn er dreißig Jahre Mißwirtschaft kritisierte. Sozialisten wie Tories hätten eine falsche Politik betrieben.206 Seit dem Krieg hätten alle Parteien bei dem Versuch, den Lebensstandard zu heben, die Wirtschaft überfordert, fuhr er fort. „We have overestimated the power of government to do more and more for more and more people, to reshape the economy and indeed human society according to blueprints.“ Dreißig Jahre lang habe der Staat mehr ausgegeben als die Wirtschaft verkraften konnte. Dreißig Jahre lang sei das sozialistische Establishment gegenüber denjenigen, die Reichtum produzierten, feindlich eingestellt gewesen und habe die Industrie schikaniert, die doch einen derart hohen Prozentsatz der Arbeitsplätze, Exportgewinne und Steuereinnahmen bei-

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Memorandum von Martin Wassell an Keith Joseph vom 18. Dezember 1974, in: Sherman Papers Folder 1, Box 7. „[I]n a new and perilous economic situation“, erklärte David Howell, damals ein Anhänger Heaths, im Dezember seinen Parteifreunden im ACP, „there was probably very little scope for very detailed policies, but we ought to be trying to establish our attitudes to the main broad problems. . . . The seminars organised by the Centre for Policy Studies, for example, he had found extremely stimulating and opened up areas which were not often raised [sic!]“; CPA/ACP (74) 135th Meeting (4. Dezember 1974). Interview mit Alfred Sherman am 14. Dezember 1998; vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 302. Die Anleihe bei von Hayek, der seinen „Weg zur Knechtschaft“ 1944 den „Sozialisten in allen Parteien“ gewidmet hatte, war offenkundig.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

steuere.207 Sechs Wochen später in Leith wurde Joseph noch deutlicher. „Three decades of almost continuous inflation and erratic government have so debilitated British industry that large sections of it could soon come near to collapse unless something is done to remedy the harm“, erklärte er. Am Ende seiner Rede wiederholte er noch einmal die These von der gemeinsamen Verantwortung der gesamten politischen Klasse für die aktuelle Malaise. Alle Nachkriegsregierungen, Tory wie Labour, hätten mit Hilfe der Gewerkschaften und ermutigt von den Medien daran mitgewirkt, die britische Industrie zu unterminieren. Es gebe keine leichten Auswege mehr, dringende Maßnahmen seien nötig, um die Rentabilität der Unternehmen zu erhöhen und der Öffentlichkeit endlich die Wahrheit zu sagen.208 Die Reden in Upminster und Leith hatten das Partei-Establishment zwar in Rage versetzt.209 Dennoch waren sie von der Öffentlichkeit in der Trägheit der Sommermonate weitgehend unbemerkt geblieben. Erst Josephs dritte Rede löste heftige Reaktionen aus – zum einen, weil der Wahltag im Oktober näher rückte und die Worte der führenden Parteipolitiker jetzt aufmerksamer zur Kenntnis genommen wurden, zum anderen weil er mit der Rede an die heiklen Themen Einkommenspolitik und Inflationsbekämpfung rührte, die den Konservativen in den vergangenen Monaten und Jahren so viel Ärger bereitet hatten.210 „Incomes policy alone as a way to abate inflation caused by excessive money supply“, erklärte Joseph, „is like trying to stop water coming out of a leaky hose without turning off the tap; if you stop one hole, it will find two others.“ Statt dessen müsse man zu einer sparsamen Haushaltsführung und einer Politik des gesunden Geldes zurückkehren. Die expansive Politik der Heath-Regierung nach 1972 sei verfehlt gewesen. „To us, as to all post-war governments, sound money may

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Am 22. Juni 1974 in Upminster; die Rede ist unter dem Titel „This is not the Time to be Mealy-Mouthed: Intervention is Destroying us“ abgedruckt in: KEITH JOSEPH, Reversing the Trend, London 1975, S. 5–10. Am 8. August 1974 in Leith; die Rede ist unter dem Titel „Inflation is De-capitalizing British Industry“ abgedruckt ebd., S. 11–7. So jedenfalls THATCHER, Erinnerungen, S. 302. Die Parteiführung, durch vorab kursierende Entwürfe informiert, versuchte, Joseph um jeden Preis von seiner Rede abzubringen, die endgültig die Spaltung des Schattenkabinett öffentlich gemacht hätte. Joseph nahestehende Politiker wie Thatcher und Howe wurden gebeten, Joseph umzustimmen – vergeblich. Thatcher behauptete später, Josephs Redeentwurf „war eine der kraftvollsten und überzeugendsten Analysen, die ich je las. Änderungen schlug ich nicht vor“; siehe THATCHER, Erinnerungen, S. 304. Howe dagegen berichtete, „[that] Margaret and I were both genuinely anxious to secure some changes in Keith’s text, for neither of us was as electorally innocent as he was. But the structure of the speech was all of a piece. . . . Keith did in fact agree to some changes, but they could not affect the central message“; siehe HOWE, S. 87.

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have seemed out-of-date; we were dominated by the fear of unemployment. It was this which made us turn back against our own better judgement and try to spend our way out of unemployment, while relying on incomes policy to damp down the inflationary effects.“211 Ein halbes Jahr später machte Joseph seine Kritik konservativer Nachkriegspolitik komplett, indem er feststellte, bis zum Frühjahr 1974 sei er eigentlich gar kein Konservativer, sondern lediglich ein verkappter Sozialist gewesen. „[I]t was only in April 1974 that I was converted to Conservatism“, schrieb er im Vorwort zu einer Sammlung seiner Reden, die das CPS 1975 herausgab. „I had thought that I was a Conservative, but I now see I was not really one at all.“212 Diese öffentliche Bekehrung widersprach allen Grundregeln politischer Taktik und verärgerte das Establishment der Tory-Partei zutiefst. Es gehe nicht an, daß Leute, die für eine bestimmte Politik votiert hätten, sich plötzlich umwendeten, wie Propheten des Alten Testamentes ihre Kleidung zerrissen, Asche auf ihr Haupt streuten und ausriefen: „Ich habe gesündigt, ich habe gesündigt!“, schrieb Michael Wolff, ein enger Vertrauter von Heath. „This is incredible, not only in a political sense, but in a purely human sense.“213 Auch Powell, dessen wirtschaftspolitischen Ansichten sich Joseph mit seinen Reden annäherte, brachte nur Hohn für die neuen Einsichten des Politikers auf: Er habe schon von Reue auf dem Totenbett gehört, kommentierte er, im Falle Josephs müsse man aber wohl eher von einer post-mortem Bekehrung sprechen.214 Die Reaktion der Öffentlichkeit wie der Parteibasis strafte die Spötter jedoch Lügen. Allgemein sah man in Josephs Vorstoß das ernsthafte Bemühen, eine als falsch erkannte Politik zu korrigieren. Die meisten großen Zeitungen berichteten ausführlich über die Preston-Rede und kommentierten sie weitgehend positiv. Die Times widmete ihre gesamte erste Seite der Rede, die in voller Länge abgedruckt wurde. Sie sei sicherlich eine der wichtigsten politischen Stellungnahmen der vergangenen Jahre, urteilte Rees-Mogg in seinem Leitartikel.215 Mit der öffentlichen Bekehrung eines konservativen Spitzenpolitikers und dem Segen der Times hatten die Ideen der „Neuen Rechten“ schließlich auch die obersten Etagen der politischen Klasse Großbritanniens erreicht.

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Am 5. September 1974 in Preston; die Rede ist unter dem Titel „Inflation is Caused by Governments“ - abgedruckt in: JOSEPH, Reversing, S. 19–33. Ebd., S. 1. Zit. nach RANELAGH, S. 154. Zit. nach The Observer, 8. September 1974. The Times, 6. September 1974.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

2. MARGARET THATCHER UND DIE „NEUE RECHTE“ A)

THATCHERS HINWENDUNG ZUR „NEUEN RECHTEN“

Wenn man auch die Protagonisten der „Neuen Rechten“ mit ihren verschiedenartigen Biographien und Prägungen nicht über einen Kamm scheren darf, lassen sich aus der Vogelperspektive doch zwei Generationen unterscheiden. Die Älteren, meist zwischen 1910 und 1930 geboren, waren in ihrer Jugend unter dem Eindruck der grassierenden Arbeitslosigkeit häufig überzeugte Sozialisten oder sogar Kommunisten, ehe sie in den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren auf die rechte Seite des politischen Spektrums überwechselten. Der kommunistische Spanienkämpfer Sherman, Seldon vom IEA und der ehemalige Labour-Kommunalpolitiker Boyson sind nur drei Beispiele unter vielen. Die Reihe läßt sich fortsetzen: Brian Crozier, einer der Aktivisten der NAFF, war als Student im Australien der Zwischenkriegszeit ein überzeugter Marxist und wählte 1945 bei den britischen Unterhauswahlen wie selbstverständlich Labour.216 Der Ökonom und Politikwissenschaftler Kenneth William Watkins, ein anderes Gründungs- und Vorstandsmitglied der NAFF, sorgte in den dreißiger Jahren als kommunistischer Kader an der LSE dafür, daß der junge Sherman wegen trotzkistischer Abweichungen aus der Partei ausgeschlossen wurde.217 Paul Johnson, Hugh Thomas, Woodrow Wyatt und John Vaizey, die sich im Verlauf der sechziger Jahre der Labour-Partei enfremdet hatten, gehörten im folgenden Jahrzehnt allesamt zu den Wortführern oder zumindest Sympathisanten der New Right.218 Die ältere Generation der „Neuen Rechten“ entwickelte ihre Kritik am Sozialismus innerhalb des linken Lagers. Ihre Angehörigen legten, wie viele Konvertiten, einen besonders großen Eifer beim Engagement für ihre neue Konfession an den Tag. Zugleich behielten sie aber, obwohl sie die Fronten im politischen Kampf wechselten, eine Reihe ihrer alten Eigenschaften: Viele waren von ihrem Temperament her weiterhin Dogmatiker und Ideologen mit einer Vorliebe für revolutionäre Umwälzungen und verschwörerische Methoden. Egal, ob sie für oder gegen den Sozialismus ins Feld zogen, sie blieben wahre Gläubige, die das Licht einer besseren Zukunft gesehen hatten und dafür kämpften, ein Paradies auf Erden zu verwirklichen. Ihrem Sozialismus wie ihrem Liberalismus lag derselbe Fortschrittsglaube zugrunde; dieselbe Zuversicht beherrschte sie. 216 217 218

BRIAN CROZIER, Free Agent. The Unseen War 1941–91, London 1993, S. 34. Interview mit Gerald Hartup von der NAFF am 8. Februar 1999. Vgl. MAURICE COWLING, The Sources of the New Right in: Encounter, November 1989, S. 11; COCKETT, S. 226–8.

2. Margaret Thatcher und die „Neue Rechte“

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Schien die Massenarbeitslosigkeit und Depression der dreißiger Jahre das Ende des liberalen Fortschrittsprojekts zu bedeuten, so markierte in ihren Augen die Inflation und die Stagflation der siebziger das Scheitern des sozialistischen Zukunftsentwurfs.219 Die Angehörigen der jüngeren Generation, häufig während des Zweiten Weltkriegs oder danach geboren, waren ebenfalls enthusiatisch, idealistisch und kampfeslustig. Aktivisten wie Stephen Eyres, John O’Sullivan oder David Alexander widmeten ihre ganze Kraft dem Kampf gegen das, was sie als sozialistische Verirrungen ansahen. Aber nur wenige von ihnen hatten selbst jemals mit dem Sozialismus geliebäugelt.220 Diese jungen Konservativen hatten die Ideen des Wirtschaftsliberalismus, häufig durch Vermittlung des IEA, zumeist schon in der Schul- und Studienzeit begierig aufgenommen. Nicht Massenarbeitslosigkeit, sondern Inflation war das prägende wirtschaftspolitische Problem, mit dem sie aufwuchsen.221 Die etablierte, weithin akzeptierte Mehrheitsmeinung in Politik, Wissenschaft und Medien, gegen die sie mit der Wut der Jugend rebellierten, war der sozialdemokratisch-keynesianische Konsens der fünfziger und sechziger Jahre. Ihn identifizierten sie mit Geldentwertung, wirtschaftlichem Niedergang und politischer Stagnation.222 Der Wirtschaftsliberalismus zog sie an, weil er ra-

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Für die dreißiger Jahre erläutert diesen Zusammenhang CLARKE, Hope, S. 172. In einem Sammelband „Neuer Rechter“ der jüngeren Generation schrieb Stephen Davies, Jahrgang 1955: „Wilson’s example and the events of the 1960s and early 1970s, such as the Russian invasion of Czechoslovakia, all pushed me away from any commitment to socialism“. Der drei Jahre ältere Nigel Ashford erklärte in demselben Band: „I have been a member of the Conservative Party since the age of 15 partly because my image of capitalism was created by my hard-working parents who ran their shop for long hours, burdened by heavy taxation and numerous regulations, and partly because communism represented the worst oppression of the individual. I have always been a conservative and have never been tempted towards another political party“; ARTHUR SELDON (Hrsg.), The „New Right“ Enlightenment. The Spectre that Haunts the Left. Essays by Young Writers, Lancing 1985, S. 26, 33. Vgl. JOHN RAMSDEN im Gespräch mit ANTHONY SELDON, The Influence of Ideas on the Modern Conservative Party, in: Contemporary British History 10, 1996 (1), S. 168–85, S. 177–8. Philip Vander Elst von der Selsdon Group schrieb: „Everywhere we can observe the unmistakable signs of economic and social decay, in Britain we have been witnessing during the last fifteen years a long-term and relatively uniform decline in the health of our economic institutions and in the quality of our social life. . . . there has been an overriding factor at work which has disproportinately influenced the rake’s progress of the past decade. The enlargement of the role of Government has surely been that factor“; VANDER ELST, S. 65. Ähnlich argumentierte Davies: Vier Themen durchzögen die Entwicklung seiner politischen Philosophie, erklärte er, „disillusionment with socialism in practice and with the failure of the mixed economy in modern Britain; impatience with the arbitrary and unnatural division of ‚Right‘ and ‚Left‘; and a growing feeling that the dominant intellectual traditions had run out of steam and no longer had any credible solutions“; SELDON, New Right, S. 26.

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dikal mit der Vergangenheit brach und streng mit den lange Zeit unanfechtbar scheinenden Wahrheiten der Väter ins Gericht ging. Er war eine ideale Waffe im Kampf der Generationen, mit der man gegen den „blutleeren“ Pragmatismus und die „verlogene“ Kompromißsuche der Älteren ins Feld ziehen konnte. Thatcher gehörte weder zur Gruppe der Konvertiten noch zu den jugendlichen Bilderstürmern. Von der älteren Generation unterschied sie sich, weil sie keine Bekehrung erlebt, keine Umwertung aller Werte und den damit verbundenen Wechsel der politischen Loyalitäten erfahren hatte. Von den Jüngeren trennte sie ein Altersunterschied von fast zwanzig Jahren. Bis 1974 verband sie überhaupt wenig mit der „Neuen Rechten“. Ihr Name tauchte bis 1975 in keinem der einschlägigen Zeitschriften auf. Weder im Swinton Journal noch in Solon spielte sie eine Rolle. In Crossbow wurde sie sogar ausdrücklich kritisiert, zuerst wegen ihres „politischen Dogmatismus’“ als Erziehungsministerin223, später aufgrund des von ihr im Herbstwahlkampf 1974 vertretenen Versprechens, den Hypothekenzins zu senken.224 Eine Hoffnungsträgerin der aufstrebenden Wirtschaftsliberalen in der Partei war sie Anfang der siebziger Jahre gewiß nicht. Thatcher gehörte zu jener Generation konservativer Studenten, die 1944 mit Begeisterung von Hayeks Weg zur Knechtschaft gelesen hatte. Im Rückblick behauptete sie sogar, diese Lektüre habe sie nicht nur „mit guten und analytisch klaren Argumenten gegen den Sozialismus“ versorgt, sondern sie auch „zu einer unbeirrbaren Optimistin im Hinblick auf die Sache der Freiheit und des freien Unternehmertums gemacht“; allein dieses Vertrauen in die Zukunft habe sie „während der düsteren Periode sozialistischer Vorherrschaft in den sechziger und siebziger Jahren aufrechtgehalten“.225 Ein Kommilitone aus Oxforder Zeiten erinnerte sich jedoch später nicht daran, daß Thatcher durch entschiedene marktwirtschaftliche Ansichten aufgefallen sei. „Man verband ihren Namen nicht mit Ideen“, berichtete er. „Das Bild von der ideenreichen und überzeugungsfesten großen Frau ist ziemlicher Blödsinn. Sie war sehr nett, aber eine absolut hartgesottene Funktionärin [. . .], die überhaupt nicht durch eigene Ideen hervortrat. Sie nahm den Konservativismus wie er gang und gäbe war. Sie war fest entschlossen, politisch Karriere zu machen.“ Ein anderer Studienfreund bestä-

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Crossbow, Oktober/Dezember 1970, S. 26–27. Auch im Schattenkabinett waren einige besorgt, „that Mrs Thatcher’s policy leans towards socialism“, wie die Times am 24. Juni 1974 berichtete. Crossbow, Dezember 1974, S. 4. THATCHER, Downing Street, S. 25–6.

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tigte diese Einschätzung: „Wir waren alle von Grund auf Konservative der Mitte und des liberalen Typs. So gehörte sich das damals.“226 Thatcher selbst gab im Rückblick immerhin zu, sie habe damals „die ganze Tragweite von Hayeks kleinem Meisterwerk [nicht] vollkommen begriffen“.227 Es gibt eine einfache Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch: Ideen um ihrer selbst willen interessierten Thatcher nicht. Sie besaß eine praktische Intelligenz, aber keine ausgeprägten intellektuellen, kulturellen oder literarischen Neigungen. Anders als Harold Macmillan, der wissen ließ, er lese in seiner Freizeit Jane Austen, Anthony Trollope und Livius, entspannte sie sich mit Kriminalromanen und Thrillern von Frederick Forsyth, Arthur Hailey oder Alistair MacLean, allenfalls ergänzt durch die anti-marxistischen Romane Alexander Solschenizyns oder Arthur Koestlers. Ihr Lieblingslyriker war Rudyard Kipling, ebenfalls keine besonders extravagante Wahl für eine konservative Dame ihrer Generation.228 Wer sich, wie Thatcher, an Wochenenden entspannte, indem er Handtücher nach Farben sortierte, dem lagen abstrakte, wolkige Diskussionen ohne konkreten Bezug zur Wirklichkeit wenig. Sie war eine Politikerin, keine Philosophin. Von ihrer Ausbildung her zunächst Chemikerin, später Juristin, hatte sie gelernt, auf die praktischen Dinge des Lebens zu achten. „[As a scientist] you look at the facts and you deduce your conclusions“, erklärte sie in einem Interview und fügte hinzu, „[as a lawyer] you learn your law, so you learn the structures [. . .] You judge the evidence, and then, when the laws are inadequate for present-day society, you create new laws.“229 Die Anfänge ihrer Karriere als Politikerin bestätigten sie in ihren Erfahrungen. Im Unterhaus, im Schattenkabinett oder in der Regierung erwartete man weniger, daß sie eigene Ideen entwickelte, als vielmehr, daß sie sich rasch und gründlich in immer neue Aufgabengebiete einarbeitete, parlamentarische Mehrheiten für konkrete Gesetzesvorhaben beschaffte, ein Gespür für politische Stimmungen und günstige Gelegenheiten ausbildete. Originalität und Kreativität gehörten nicht zu den Tugenden, die sie benötigte, um Erfolg zu haben.230 Politik sei, definierte sie im April 1969 in einem Artikel im Daily Te-

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Zit. nach WAPSHOTT und BROCK, S. 65. Vgl. auch CAMPBELL, Thatcher, S. 57–60. THATCHER, Erinnerungen, S. 68. Enge Vertraute gewannen den Eindruck, sie habe bis Anfang der siebziger Jahre kein einziges Buch von Hayeks gelesen; siehe YOUNG, One of Us, S. 22. Vgl. hierzu und zum folgenden WAPSHOTT und BROCK, S. 211; siehe auch YOUNG, One of Us, S. 408–9. The New Yorker, 16. Februar 1986. Vgl. BRIAN HARRISON, Mrs Thatcher and the Intellectuals, in: Twentieth Century British History 5, 1994, S. 244–5.

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legraph, „the act of finding solutions to problems. Acceptable solutions.“231 Die Kunst des politischen Überlebens bestehe darin, mit Fakten umzugehen, nicht Träume zu träumen, erklärte sie kurz nach ihrer Wahl als Parteiführerin in einer Rede in Dorset, um freilich sogleich in einer charakteristischen Wendung hinzuzufügen, dabei dürfe man nie seine politischen Ziele und Überzeugungen aus den Augen verlieren.232 Glaubt man ihren Memoiren, so lagen diese Überzeugungen schon lange auf derselben Linie wie diejenigen Enoch Powells. Dieser, so schrieb sie, sei „unser bester Kopf“ gewesen, dessen wirtschaftspolitische Ansichten sie ebenso sympathisch fand wie seine Haltung in der Einwanderungsfrage.233 Powell selbst bestätigte Thatchers Behauptung. „I used to have talks with her in the 1960s, in which she showed how strongly sympathetic she was to me over the consequences of immigration“, erzählte er rückblickend.234 Nach seiner Rede zur Einwanderungspolitik gehörte Thatcher zu den wenigen konservativen Spitzenpolitikern, die sich noch dann und wann mit ihm in der Öffentlichkeit zeigten. Auch seine wirtschaftspolitische Philosophie färbte erkennbar auf ihre eigenen Stellungnahmen ab, etwa wenn sie im Herbst 1968 erklärte: „We now put so much emphasis on the control of incomes that we have too little regard for the essential role of government which is the control of the money supply“. Die Bedeutung, die sie damals dem Kampf gegen Inflation und steigende Staatsausgaben zuzumessen begann, zeigt ebenfalls den Einfluß Powells. So forderte sie in derselben Rede, „that the government ha[s] to exercise itself some of the disciplines on expenditure it is so anxious to impose on others. [. . .] For a number of years some expenditure has been financed by what amounts to printing money.“235 Freilich war sie zu vorsichtig, den in Ungnade gefallenen Powell in diesem Zusammenhang direkt zu erwähnen oder gar zu zitieren. Im Gegensatz zu ihm behielt sie ihre Meinung zumeist für sich, fügte sich in die Parteidisziplin und konzentrierte sich auf ihr jeweiliges Aufgabengebiet. Wenn es darauf ankam, schwamm sie mit dem Strom. Bei der Neuwahl des Parteiführers 1965 etwa unterstützte sie zunächst Maudling, dem „die besseren Chancen gegeben“ wurden, ehe sie auf Anraten Josephs ins Lager von

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Daily Telegraph, 26. April 1969. Am 28. Februar 1975 vor Parteiaktivisten in der Beaminster School in Dorset: News Service 166/75. THATCHER, Erinnerungen, S. 172–9 (S. 176); vgl. auch RAMSDEN im Gespräch mit SELDON, S. 182. Zit. nach RANELAGH, S. 186. Am 10. Oktober 1968: „What’s Wrong with Politics“.Address to the Conservative Political Centre Meeting, Blackpool, abgedruckt in: GARDINER, S. 207–16 (S. 211–2).

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Heath überwechselte. Für Powell zu stimmen, der „damals keine große Gefolgschaft“ hatte, kam ihr nicht in den Sinn.236 Powell bemerkte später süffisant: The consonance between thoughts and words is something in which she is basically not interested. This – as well as being a woman – enables her year after year to live with something, with a cross on a paper at the back of her mind saying „I don’t like it; it’s rotten awful; but I can’t do anything about it at the moment.“ It’s not exactly the mood of a person who says, „I’m trapped“; it’s more the mood of a person who says, „I don’t like that. When I can settle accounts with that, I will settle accounts with it.“237

Bis Mitte der siebziger Jahre blieb unklar, wo Thatcher politisch stand. Sie war bemüht, nirgendwo anzuecken und dadurch womöglich ihre erfolgversprechende Karriere zu gefährden. Sie galt als „a middle-of-the-roader on most things“, wie es in einer Broschüre über das Schattenkabinett der Tories aus dem Jahr 1970 hieß.238 Noch im Februar 1975 konnte ein Abgeordneter seinem skeptischen Ortsverein besten Gewissens versichern, Thatcher sei „by no means a right-winger and would seek to unify the party“.239 Ihre Kontakte mit der „Neuen Rechten“ waren dementsprechend zaghaft und vorsichtig. Ende der sechziger Jahre gehörte sie zwar zu der Handvoll Tory-Politiker, die Kontakte zum IEA pflegten. Seldon stellte sie 1968 in einem Artikel im Swinton Journal sogar in eine Reihe mit Powell, Joseph, Howe, Biffen und anderen, „who offer a distinctive philosophy and distinctive principles“.240 Sie selbst behauptete damals von sich, sie sei eine der wenigen in ihrer Partei, die den Wert des Marktes in Wirtschaftsfragen zu würdigen wüßten.241 Ihr Parteifreund Howe jedoch, der ungleich engere Verbindungen zum IEA hatte und anders als Thatcher auch regelmäßig an den Treffen der Mont Pèlerin Society teilnahm, dämpfte die Hoffnungen, die Seldon daraufhin in die aufstrebende Politikerin setzte. „I am not at all sure about Margaret“, schrieb er an Seldon. „Many of her economic prejudices are certainly sound. But she is inclined to be rather too dogmatic for my liking on sensitive issues like education and might actually retard the

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THATCHER, Erinnerungen, S. 164. Zit. nach RANELAGH (1992), S. 28. STACEY und OSWALD (Hrsg.), S. 94. Es handelte sich dabei um Michael Alison und die Barkston Ash Conservatives; siehe RAMSDEN, Winds of Change, S. 449. ARTHUR SELDON, Intellectuals and Conservatism. A Symposium, in: Swinton Journal 14, 1968 (2), S. 21–8. Schreiben Arthur Seldons an Geoffrey Howe, 24. Oktober 1969, zit. nach COCKETT, S. 171.

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cause by over-simplification. [. . .] There is much scope for her to be influenced between triumph and disaster.“242 Der Einfluß, unter den Thatcher nach der Wahlniederlage vom Februar 1974 geriet, war derjenige Keith Josephs. Die beiden Politiker kannten sich seit langem. Der ältere war für die jüngere am Anfang ihrer Karriere eine Art politischer Mentor gewesen: Er unterstützte 1958 ihre Kandidatur für den Wahlkreis Finchley; und auch bei ihrer ersten Rede im Unterhaus zwei Jahre später stand er ihr zur Seite. Mitte der sechziger Jahre war er „nicht mehr nur ein gern gesehener und erfahrener Kollege, sondern ein wirklicher Freund geworden“.243 Nach der Wahlniederlage vom Februar 1974 nahm Joseph in veränderter Form seine Rolle als Thatchers Mentor wieder auf. Nun führte er sie freilich nicht mehr ins politische Handwerk ein (in dem sie inzwischen geschickter war als er), sondern in die Welt der Ideen. Er lud sie zu den Diskussionen mit Sherman in sein Haus in Chelsea ein, wo sie sich von dessen Analyse ebenfalls beeindruckt zeigte.244 Auf Josephs Empfehlung hin knüpfte sie wieder an die alte Verbindung zum IEA an, die sie während ihrer Zeit als Erziehungsministerin 1970 bis 1974 abgebrochen hatte.245 In die Planung des Centre for Policy Studies war sie ab Mai 1974 ebenfalls eingebunden. An der Gründungssitzung im Juni nahm sie neben Joseph als einziger konservativer Spitzenpolitiker teil.246 „Ob Keith überhaupt andere Mitglieder des Schattenkabinetts um Mitarbeit gebeten hat, weiß ich nicht; wenn er es getan hat, hatten sie jedenfalls abgelehnt“, schrieb sie später. „Ich aber ergriff sofort die Chance, unter Keith den stellvertretenden Vorsitz zu übernehmen. Ich wußte, daß es für die Konservative Partei keine Hoffnung gab, wenn wir nicht bereit waren, unsere Politik von Grund auf neu zu überdenken, und ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß Keith genau der richtige Mann dafür war.“247 Mit der ihr eigenen Energie arbeitete sie sich systematisch durch die Bücher hindurch, die Joseph ihr empfahl – vor allem durch die Schriften von Hayeks, die ganz oben auf der Leseliste standen. Der Eindruck, den die Lektüre diesmal hinterließ, war nachhaltig: „Erst jetzt betrachtete ich [von Hayeks] Argumente aus dem Blickwinkel des Staates, wie ihn Konservative sich wünschen – eine begrenzte, rechtsstaatliche Regierung –, und weniger 242 243 244 245 246 247

Schreiben Geoffrey Howes an Arthur Seldon, 28. Oktober 1969, zit. nach HOWE, S. 30–1. THATCHER, Erinnerungen, S. 165. Vgl. auch YOUNG, One of Us, S. 43, 45. Vgl. COCKETT, S. 233. Vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 304. Centre for Policy Studies Limited: Minutes of a Meeting in Interview Room G, House of Commons at 11.45 on 25 June 1974, in: Sherman Papers AR CPS/A&O/1/4, Box 7. THATCHER, Erinnerungen, S. 301.

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aus der Sicht der Staatsform, die es zu vermeiden galt – ein sozialistischer Staat, in dem Bürokraten nach Belieben herrschen.“248 Von Hayek sei eines der drei größten Genies des 20. Jahrhunderts, erklärte sie wenig später überschwenglich in einem Interview.249 Bei einem Besuch Thatchers in der Forschungsabteilung der Tory-Partei im Sommer 1975 wurde deutlich, welchen Platz von Hayek von nun ab in ihrem Weltbild einnahm: Einem Mitarbeiter, der für eine vorsichtige, pragmatische Politik plädierte, schnitt sie das Wort ab, indem sie von Hayeks Verfassung der Freiheit aus ihrer Handtasche fischte und für alle sichtbar in die Höhe hielt. „This is what we believe“, sagte sie und ließ das Buch mit Schwung auf den Tisch krachen.250 Joseph hat später die Bedeutung seines Einflusses auf Thatcher gering veranschlagt. „I wasn’t an influence over Margaret Thatcher“, erklärte er, „We were along parallel lines.“ Es sei nicht notwendig gewesen, sie zu überzeugen; „[she] had seen the light herself“.251 Thatcher hingegen hat immer wieder bezeugt, wieviel sie Joseph verdanke. 1979 behauptete sie in einem Interview: „We have accomplished the revival of the philosophy and principles of a free society, and the acceptance of it. And that is absolutely the thing I live for. History will accord a very great place to Keith Joseph for that accomplishment. A tremendous place.“252 Sie widmete ihm den zweiten Band ihrer Erinnerungen und stellte fest, diese Widmung belege „eine erkannte, aber niemals zu tilgende Dankesschuld“. Ohne Keith, schrieb sie, „wäre ich weder Oppositionsführerin geworden, noch hätte ich auch nur entfernt das erreichen können, was ich als Premierministerin geleistet habe“.253 Sowohl Joseph als auch Thatcher liegen mit ihrer Einschätzung richtig. Joseph hatte recht, wenn er abstritt, Thatcher zum „rechten“ Glauben geführt zu haben. Ihre Überzeugungen wurzelten tief in ihrer Biographie und Persönlichkeit, nicht bloß in den Gesprächen mit Joseph und Sherman, der

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Ebd., S. 68. Vgl. RANELAGH, S. 189. So jedenfalls der Bericht eines Augenzeugen, nämlich RANELAGH, S. IX. „It has given me great pleasure and I am very proud to have learnt so much from you over the past few years“, schrieb sie an von Hayek vier Jahre später, kurz nach ihrem Wahlsieg im Mai 1979. „I hope that some of those ideas will be put into practice by my Government in the next few months. As one of your keenest supporters, I am determined that we should succeed. If we do so, your contribution to our ultimate victory will have been immense“; Schreiben Margaret Thatchers an Friedrich von Hayek vom 18. Mai 1979, in: Von Hayek Papers, 102-T. JOSEPH, Escaping S. 28, 29. The Observer, 25. Februar 1979. THATCHER, Erinnerungen, S. 13, 299.

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Hayek-Lektüre und den Diskussionsrunden im IEA und CPS. „Margaret Thatcher and Keith Joseph were close“, stellte Sherman rückblickend fest, „but I never regarded her being a disciple of his. She admired him, yes, but she wasn’t his disciple. Her ideas came from elsewhere, above all from her instincts.“254 Ein anderer Berater verwies in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Thatchers Elternhaus, insbesondere ihres Vaters: „It’s her instinct. It comes from Councillor Roberts. That’s what she is driven by.“255 Thatcher sah in ihrer Hinwendung zu von Hayek und den Ideen der „Neuen Rechten“ nie einen radikalen Wandel ihrer politischen Ansichten. Vielmehr betonte sie stets die Kontinuität und Unwandelbarkeit ihrer Überzeugungen. „[A]us Neigung und Erziehung war ich seit jeher eine ‚echte blaue‘ Konservative“, schrieb sie in ihren Memoiren. „Egal, wie viele linkslastige Bücher ich las oder linke Kommentare ich hörte: Nie befiel mich ein Zweifel, wo meine politische Loyalität lag.“ Im Gegensatz zu Joseph sprach sie niemals davon, durch das Scheitern des Heath-Kurses zum „wahren Konservatismus“ bekehrt worden zu sein. Statt dessen spielte sie das Ausmaß ihrer Verstrickung als Ministerin der Heath-Regierung herunter und versuchte den Eindruck zu vermitteln, sie habe schon immer gewußt, welchen Sternen sie folgen mußte. In ihren Erinnerungen schrieb sie: „Während ich große Freunde in der Politik hatte, die manchmal nicht recht wußten, wo sie genau standen und warum, wußte ich immer, wo es langging, auch wenn es natürlich viele Jahre dauerte, bis ich den philosophischen Hintergrund meiner Überzeugungen begriff.“256 Ein Beispiel für Thatchers Versuch, die Überzeugungen, für die sie als Parteichefin eintrat, bis in ihre Jugend zurückzuverfolgen, findet sich bereits in einem der ersten Fernsehauftritte nach ihrer Wahl zur Parteichefin. „[T]he ordinary person wants really to be independent“, erklärte sie, „doesn’t like being dependent on the State; doesn’t admire a person who always goes along to say the State must look after me whether I work or not. This is an attitude which goes all throughout society; all my ideas about it were formed before I was 17 or 18, I learned it from my surroundings.“257 In Liverpool betonte Thatcher im folgenden Jahr erneut, daß ihre Überzeugungen im Kern auf dem beruhten, was sie als Kind gelernt habe „and which has remained with me ever since“.258 Wegen dieser bewußt zur Schau gestellten Selbstgewißheit gaben 254 255 256 257 258

Zit. nach auch YOUNG und SLOMAN (Hrsg.) (1986), S. 30. Zit. nach RANELAGH, S. 33. THATCHER, Erinnerungen, S. 43. Am 5. März 1975 auf BBC 1 [Hervorhebungen vom Verf.]. Am 2. Dezember 1976 beim Social Services Conference Dinner im Adelphi Hotel in Liverpool: News Service 1121/76.

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Spötter ihr bald den Spitznamen „the Blessed One“.259 Sie ertrug den Hohn, weil sie überzeugt war, die Partei wolle von jemandem geführt werden, der schon immer gewußt hatte, was richtig und falsch war, und nicht von einer kürzlich Bekehrten. Vor allem aber deckten sich die Gedanken der New Right, mit denen sie über Joseph und das CPS in Berührung kam, tatsächlich weitgehend mit ihren instinktiven Vorurteilen und Überzeugungen. In den Broschüren und Studien, die sie auf Anraten Josephs las, fand sie bestätigt, was sie schon immer geglaubt hatte – nur war es hier mit theoretischen Weihen und akademischer Respektabilität versehen. Daß Kopf und Herz bei ihr dieselbe Sprache sprachen, verlieh ihrem Engagement besondere Glaubwürdigkeit und Dynamik.260 Nichtsdestoweniger kann man jedoch die Bedeutung Josephs für Thatchers Aufstieg zur Parteiführerin, für die Entstehung des Thatcherismus allgemein gar nicht hoch genug einschätzen. Zum einen brach er als erster konservativer Spitzenpolitiker offen mit der politischen Strategie von Parteichef Heath. Gleichsam in seinem Windschatten konnte auch Thatcher ins Lager der Heath-Gegner überwechseln. Ob die vorsichtige Politikerin ohne Joseph als Wegbereiter jemals den Schritt in die innerparteiliche Opposition gewagt hätte, erscheint zweifelhaft. Zum anderen stellten er und sein CPS das Vokabular und das theoretische Rüstzeug bereit, mit deren Hilfe Thatcher ihre persönlichen Überzeugungen wissenschaftlich untermauern und für ein intellektuell anspruchsvolles Publikum akzeptabel machen konnte.261 Thatcher selbst gab dies später unumwunden zu. „[A]t that time we just had beliefs, faith in what could be done“, sagte sie. Keith made that faith into something that intelligent people were willing to share. And their acceptance spread the message through the press and other media to everybody. If Keith hadn’t been doing all that work with the intellectuals, all the rest of our work would probably never have resulted in success. [. . .] It was Keith who really began to turn the intellectual tide back against socialism. He got our fundamental intellectual message across, to students, professors, journalists, the intelligentsia generally.262

Thatcher selbst hätte diese Aufgabe niemals allein bewältigen können, einmal weil ihr schlicht die Verbindungen ins akademische Milieu fehlten, zum anderen aber auch weil sie im Gegensatz zu Joseph nie wirklich Zugang zur

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Zit. nach KEEGAN, S. 81. Vgl. Nigel Vinson im Interview mit John Ranelagh, zit. nach RANELAGH, S. 32. „Keith Joseph’s role in the phenomenon of Thatcherism should not be underestimated“, schrieb Ridley. „He articulated the intellectual case for what she believed in her gut feelings;“ RIDLEY, S. 265. Zit. nach HALCROW, S. 97.

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Welt der Intellektuellen fand. Thatcher sei bestimmt kein Intellektuelle, meinte Sherman später ein wenig abschätzig, sondern einfach eine professionelle Politikerin, die den Wert von Intellektuellen in der Politik richtig einzuschätzen verstand.263 „[She] never ‚thunk‘ any thoughts“, konstatierte er. „She took other people’s ideas. She embodied them.“ Im Gegensatz zu Joseph seien für sie Ideen um ihrer selbst willen nie wichtig gewesen. „[She] does not think. She thinks to do.“264 Obwohl Thatcher keine originelle Denkerin war, ja nicht einmal besonderes Talent für abstrakte politische Diskussionen besaß, spielten intellektuelle Debatten während ihrer Zeit als Parteiführerin eine größere Rolle als jemals zuvor in der Geschichte der Tory-Partei, die seit alten Zeiten auf ihren Ruf als stupid party stolz war, sich auf ihren Pragmatismus, ihre Flexibilität und Ideologieferne einiges zugute hielt. „The Tory Party doesn’t like brains“, bemerkte ihr Stellvertreter Whitelaw einmal und fügte selbstironisch hinzu: „Thank God, I don’t have any!“265 Die neue Parteiführerin jedoch begriff, wie wichtig Ideen und Ideologien als Waffen im politischen Streit sein konnten. Sie war fest davon überzeugt, daß sie zunächst die intellektuelle Auseinandersetzung, den „Kampf der Ideen“ gewinnen müsse, ehe sie an die Regierung gelangen und ihr Reformprogramm durchsetzen konnte. Um in the battle of ideas zu bestehen, benötigte sie die Hilfe von Intellektuellen.266 Dafür war sie bereit, sich auf bisher unbekanntes geistiges Terrain vorzuwagen – und zu lernen. Viele ihrer Weggefährten aus der Oppositionszeit erinnerten sich später an Gelegenheiten, bei denen die Parteichefin wie eine gelehrige Schülerin an den Lippen Friedmans oder von Hayeks hing, sorgfältig mitschrieb und anschließend Fragen stellte.267 Sie selbst beschrieb in ihren Erinnerungen ein Treffen mit Ludwig Erhard 1975, nach dem sie sich fühlte, als habe sie „ein wichtiges Seminar bestanden“.268 Rees-Mogg, ein Studienfreund aus Oxforder Tagen, fand es bemerkenswert, „[that] she spent as much energy as leader of the Opposition on thinking as on doing“.269 Sie arbeitete sich während der Oppositionsjahre nicht nur 263 264

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Im Gespräch mit dem Verfasser am 14. Dezember 1998. Alfred Sherman im Interview mit John Ranelagh, zit. nach RANELAGH, S. 35. Ihr Verstand sei im akademischen Sinne keinesfalls brillant gewesen, behauptete ein anderer Berater. „I have known many cleverer people; and the ideas were largely supplied by others. In fact she relied to a marked degree on emotion and instinct. But she was remarkable for the strength and tenacity of her views“; CRADOCK, S. 20. Zit. nach RANELAGH, S. 72. Vgl. zu diesem Thema ausführlich HARRISON, Thatcher. So etwa Rees-Mogg in The Times, 13. April 1995; vgl. auch CAMPBELL, Thatcher, S. 372. THATCHER, Erinnerungen, S. 407. The Independent, 23. November 1990.

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systematisch durch philosophische und wirtschaftswissenschaftliche Abhandlungen, sie knüpfte auch Kontakte zu Instituten und Akademien, baute ein Netzwerk von Bekanntschaften mit Ökonomen, Philosophen und anderen Akademikern auf, nahm an informellen Diskussionsrunden und Gesprächszirkeln teil, aus denen sie Ideen, Anregungen und Inspiration bezog. Ganz bewußt setzte sie sich seit Herbst 1974 an die Spitze der verschiedenen Grüppchen der „Neuen Rechten“, die sich im Umfeld der Partei gebildet hatten. Sie trat dem Economic Dining Club bei, die Lücke füllend, die Powells Ausscheiden im Frühjahr 1974 gerissen hatte. Von den Diskussionen mit gestandenen Monetaristen wie Ridley, Bruce-Gardyne und John Nott erhoffte sie sich eine theoretische Unterfütterung ihrer instinktiven Überzeugung vom Wert ausgeglichener Staatshaushalte und strenger Ausgabendisziplin.270 Wenig später schloß sich die Politikerin auch der Conservative Philosophy Group an. Weil ihre Berater fürchteten, hier könne sich der Kern einer innerparteilichen Opposition bilden, meldeten sie sich bei Aitken und fragten, ob die neue Parteichefin an den Treffen der Gruppe teilnehmen dürfe, was sie in unregelmäßigen Abständen denn auch tat.271 Thatchers Engagement diente nicht nur dazu, möglichen Widerstand im Keim zu ersticken. Sie sympathisierte auch mit Scrutons und Caseys Idee, intellektuelle Rechte aus Politik, Wissenschaft und Medien zusammenzubringen. „We must have an ideology“, erklärte sie bei einer der ersten Diskussionen. „The other side have got an ideology they can test their policies against. We must have one as well.“272 Die informellen, lebhaften Diskussionen der Gruppe schienen ihr ein geeigneter Rahmen, diesem Ziel näher zu kommen. Auch wenn ihre Gastgeber mitunter den Eindruck gewannen, „[that] she was more concerned to talk than to listen“, genoß sie es doch, im kleinen Kreis Gedanken auszutauschen, Thesen auszuprobieren und kontrovers zu debattieren.273 Dabei blieb sie als professionelle, pragmatische Politikerin immer auf der Suche nach verwertbaren Ideen, eingängigen Losungen und Schlagworten.274 Sie blieb im Kreise der Intellektuellen eine 270

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„I like to think that we influenced her and ourselves in plotting out the directions in which policy was to go“, so RIDLEY, S. 20. Er schreibt irrtümlich, Thatcher sei erst 1977 der Gruppe beigetreten; vgl. dagegen THATCHER, Erinnerungen, S. 316. Thatchers Angaben werden bestätigt im Schreiben von Lord Parkinson an den Verfasser vom 27. November 1998. Interview mit Jonathan Aitken vom 3. November 1998; vgl. The Times, 31. Januar 1983. Zit. nach YOUNG, Thatcher, S. 406. CAMPBELL, Thatcher, S. 373. „I enjoy those evenings and they are extremely valuable“, schrieb sie im Januar 1976 an Aitken; Schreiben von Margaret Thatcher an Jonathan Aitken vom 20. Januar 1976, in: Aitken Papers. Wenn die Gespräche in abgehobene, allzu abstrakte Gedankenspiele mündeten, gefiel ihr das weniger. „Enoch, please be serious“, lautete ihre häufig vorgebrachte Ermahnung an Powell,

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pragmatische, bodenständige Politikerin, mißtrauisch gegenüber Abstraktionen und eher geneigt, an den gesunden Menschenverstand zu appellieren als sich auf komplizierte Theorien zu berufen. Dies mochte zwar den Umgang mit Intellektuellen nicht immer erleichtern, den Zugang zu den Protestorganisationen des Mittelstandes erleichterte es. Dort war Thatcher nicht nur wegen ihres Images als typische Vertreterin der südenglischen middle class und ihrer Tugenden beliebt. Im Herbst-Wahlkampf 1974 hatte sie als Schattenministerin für Umweltfragen überdies Forderungen verfochten, die Wählern der Mittelschicht besonders attraktiv erscheinen mußten. Später im Jahr sammelte sie mit ihrer vehementen Kritik an den Plänen der Labour-Regierung, eine Steuer auf Kapitaltransfers einzuführen, vor allem bei mittelständischen Unternehmern weitere Pluspunkte.275 Es verwundert daher nicht, daß John Gorst von der Middle Class Alliance ebenso zu ihren frühesten Anhängern zählte wie McWhirter und die NAFF. Diese Organisationen halfen ihr, anders als der Economic Dining Club oder die Conservative Philosophy Group nicht, neue Ideen kennenzulernen oder zu entwickeln. Vielmehr dienten sie dazu, in breiten Bevölkerungsschichten für die Tory-Chefin zu werben und ihr Profil als Kämpferin für traditionelle konservative Werte zu schärfen. McWhirter etwa verteilte am Tag ihrer Wahl zur Parteiführerin Briefe an über zweihundert konservative Unterhausabgeordnete, in denen er dazu aufrief, für sie zu stimmen.276 The Free Nation, die gegenüber der Tory-Partei keineswegs unkritische Zeitschrift der NAFF, führte nach McWhirters Tod dessen Propaganda für die Politikerin fort und hatte nicht unerheblichen Anteil daran, Thatchers Image als überzeugungsfeste Kämpferin für Freiheitsrechte und moralische Erneuerung im Lande zu verbreiten. „Mrs Thatcher along with her many other qualities is a supremely earnest, serious person“, hieß es in einem Beitrag vom Oktober 1976, „a setter of severe standards for herself and other people, an attitude which [. . .] is highly moral, and based upon a strong sense of what is right and what is wrong.“277 Das Blatt, konnte man im

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der ebenfalls an den Diskussionen teilnahm und dazu neigte, seine Argumente logisch stringent, aber nicht immer praktikabel bis ins Äußerste zu treiben; The Times, 31. Januar 1983. Vgl. ROGER KING, The Middle Class in Revolt?, in: KING und NUGENT (Hrsg.), S. 157. Siehe Majority Nr. 1, 10. November 1975, S. 1; vgl. auch RAMSDEN, Winds of Change, S. 446. „Mrs Margaret Thatcher deserves and must be given the whole hearted support not only of the Conservative Party but of anti-Socialists everywhere“, hieß es in einer VorabNummer der Zeitschrift Majority, die McWhirter acht Monate später auf dem Parteitag der Konservativen in Blackpool verteilen ließ; Majority, 8. Oktober 1975, S. 1. The Free Nation Bd. 1, No. 16, 15. Oktober 1976, S. 7.

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Januar 1977 lesen, unterstütze Thatchers Bemühungen, „to rebuild the Conservative Party as a fighting and thinking movement that will fight for individual freedom and defend our shores against Soviet imperialism from without and from the Fifth Column that is working within. We do not praise her because she is a Conservative but because she seemed to us to be doing what is right.“278 Moss unterschied in seinen Artikeln sorgfältig zwischen Thatcher und ihrer Partei: Für sie fand er hymnisches Lob, für die gemäßigteren Mitglieder ihres Schattenkabinetts dagegen Tadel und Spott. Margaret Thatcher habe sowohl eine nationale als auch eine internationale Mission, schrieb er im Oktober 1977 auf der Titelseite seiner Zeitschrift, die ein großes Foto der Parteichefin zierte. „Her instinct tells her what it is; it would be a sad thing if the dead wood of her party prevents her from fulfilling it. Beyond any specific reforms, her mission is to restore the greatness of Britain, to rebuild a society in which people can be proud of their country and spurred on to work.“279 Thatcher wußte diese Art der Werbung zu würdigen. Im Januar 1977 nahm sie als Ehrengast an einer Festveranstaltung der NAFF teil, wo sie von den 500 Gästen enthusiastisch begrüßt wurde.280 Thatchers wichtigste Stütze außerhalb der Konservativen Partei aber war das Centre for Policy Studies. Seiner Strategie, die Konservative Partei, ja die öffentliche Meinung insgesamt zu den Zielen der „Neuen Rechten“ zu bekehren, blieb es auch nach Thatchers Aufstieg an die Parteispitze treu, nur diente jetzt nicht mehr allein Joseph als Aushängeschild, immer mehr stand auch die neue Tory-Chefin im Mittelpunkt. Für Sherman und seine Mitarbeiter stellte sich ihre selbstgewählte Mission als zweigleisige Aufgabe dar: Erstens versorgten sie die Tory-Chefin mit originellen Ideen und brachten sie mit kongenialen Beratern in Kontakt, die ansonsten kaum den Weg zur Konservativen Partei gefunden hätten. Sherman vermittelte Thatcher zahlreiche wichtige Helfer, etwa John Hoskyns, der später in 10 Downing Street ihr Grundsatzreferat leiten sollte.281 Als kommunistischer Renegat verfügte Sherman über ein Gespür für die Mentalitäten und Denkweisen anderer enttäuschter Linker wie Brian Crozier, John Vaizey oder Hugh Thomas, die er zur Zusammenarbeit mit der Tory-Politikerin zu 278 279 280

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The Free Nation Bd. 2, No.1, 7. Januar 1977, S. 6. The Free Nation Vol. 2, No. 21, 14. Oktober 1977, S. 1. „Ich selbst unterstützte die NAFF so sehr ich konnte“, schrieb sie in ihren Erinnerungen, „während einige meiner Kollegen sie mit tiefem Unbehagen betrachteten und ihre Aktivitäten öffentlich kritisierten“; THATCHER, Erinnerungen, S. 468. Siehe JOHN HOSKYNS, Just in Time. Inside the Thatcher Revolution, London 2000, S. 16–29.

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überreden verstand.282 Sherman überflutete Thatcher – häufig ungefragt – mit Memoranden, Redeentwürfen und Strategiepapieren zu den verschiedensten Themen, die von wirtschaftstheoretischen Fragen über „Britain’s Ethnic Problems“ bis hin zu den Schwierigkeiten der walisischen LabourPartei reichten.283 Sie erwies sich als aufmerksame Leserin, die begierig aufsog, was ihr politisch nützlich und gewinnbringend erschien.284 Den zweiten Teil seiner Aufgabe sah das CPS darin, die Politikerin nach vorn zu treiben und ihren Reformeifer anzufachen. Nach Ansicht des CPS verhielt Thatcher sich oft zu vorsichtig, passiv und auf Ausgleich bedacht. Sie sei ihrer selbst damals keineswegs sicher gewesen, formulierte ein Anhänger rückblickend seine Sorgen. „Indeed, she was cautious to the point of diffidence.“285 Die verschiedenartigen Sichtweisen resultierten zum Teil aus den unterschiedlichen Funktionen, die Thatcher auf der einen und ihre Berater auf der anderen Seite ausübten. Anders als die Intellektuellen der „Neuen Rechten“ war die Politikerin nicht nur an der reinen Schönheit der Theorie interessiert, sondern dachte vor allem daran, welche der Vorschläge sich verwirklichen, innerhalb der Partei durchsetzen ließen. Als Friedman ihr etwa riet, nach einem Wahlsieg müsse sie als erstes die Devisenkontrollen abschaffen, stimmte die Politikerin zu, fragte aber sogleich: „But how can I carry my party?“286 Im CPS deutete man derartige Äußerungen als Anzeichen mangelnden Durchhaltevermögens und fürchtete, Thatcher werde den Schwung der Anfangszeit verlieren und sich dem Einheitsgrau ihrer Partei über kurz oder lang wieder anpassen. Norman Strauss, hauptberuflich Marketing-Experte bei Unilever vertrat in einem Memorandum vom August 1976 daher die These, Thatcher müsse als Parteiführerin stärker den Eindruck vermitteln,

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Siehe hierzu COCKETT, S. 259–3. Die Memoranden – drei unter vielen – finden sich in: Sherman Papers, Box 6, Folder 3. „Where she knew she had to learn, she was a very good pupil“, sagte ein CPS-Mitarbeiter später. „[S]he was a very good listener“, erinnerte sich Sherman, und Hoskyns vermerkte im November 1977 in seinem Tagebuch befriedigt Thatchers „complete lack of the self-importance and pomposity which would make it so hard for many politicians to take advice“; Die beiden ersten Zitate stammen aus COCKET (1994), S. 265, das dritte aus HOSKYNS, S. 47. Thatcher sei „a magnificent manager of information, a user of information“ gewesen, hatte schon ihr Staatssekretär im Erziehungsministerium, Sir William Pile, herausgefunden; vgl. auch YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 32. CROZIER, S. 131. Ein anderer Mitarbeiter des Zentrums, der das ähnlich sah, berichtete später, Thatcher habe von sich gesagt: „I am a great believer in taking things by steps. Once you show you can achieve one step you set a new target. I don’t believe in being airy-fairy. I believe in what’s practicable and achievable“; Norman Strauss, in: Daily Telegraph, 3. August 1988. Zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 366.

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die in der Oppositionszeit vorgeschlagene Politik später auch in der Regierung durchsetzen zu wollen. Sein Text, der um die Begriffe conviction und will kreiste, macht deutlich, daß Thatchers Image als willens- und überzeugungsstarke Parteiführerin nicht allein der Kraft ihrer Persönlichkeit entsprang, sondern von ihren Beratern im CPS gefördert, ermutigt und bewußt eingesetzt wurde.287 Auch wenn Thatcher nicht alle Ideen aufgriff, mit denen das CPS sie bombardierte, wußte sie dessen Hilfe gleichwohl zu schätzen. „There is no way in which I can thank you adequately“, schrieb sie im Herbst 1977 an Sherman, „but I hope you know how much your work is appreciated by myself and everyone in my office.“ Nach dem Wahlsieg im Mai 1979 nannte sie ihn in ihrem Dankesbrief eine stete Inspiration in schwierigen Zeiten und fügte hinzu: „Your creative mind has been responsible for many skirmishing victories in the great battle of ideas, which I am convinced we are on the way to winning.“ Als Premierministerin veranlaßte sie 1983 Shermans Erhebung in den Ritterstand.288 Das Beispiel zeigt, daß die Beziehung zwischen Thatcher und der „Neuen Rechten“ keine Einbahnstraße, sondern eine Verbindung zum gegenseitigen Nutzen war, von der auch die Intellektuellen profitierten. Einige von ihnen gelangten als Redenschreiber oder Berater der konservativen Parteichefin in Positionen, in denen sie Einfluß ausüben und politisch gestalten konnten. Alan Walters, Professor an der LSE, beriet Thatcher in Wirtschaftsfragen, ehe er 1976 zur Weltbank nach Washington ging.289 John O’Sullivan und T.E. Utley vom Daily Telegraph arbeiteten als ihre Redenschreiber, ebenso Patrick Cosgrave vom Spectator und die beiden abtrünnigen Labour-Anhänger Paul Johnson und Hugh Thomas. Robert Moss von The Free Nation und der Sowjetexperte Robert Conquest halfen der Politikerin bei Reden zu außenpolitischen Themen.290 Thatcher sammelte die versprengten Individuen und Grüppchen der „Neuen Rechten“ um sich und eröffnete ihnen damit ein Perspektive, die politische Macht im Lande zu gewinnen. Die bislang nur lose vernetzten Zirkel erhielten auf diese Weise ein Kraftzentrum, eine politische Dynamik und Durchschlagskraft, die für den Erfolg entscheidend waren. Thatcher 287

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Siehe Memorandum „The need for new data“ vom 3. August 1976; zit. nach: COCKETT, S. 261–2; vgl. hierzu auch Schreiben von Keith Joseph an Margaret Thatcher vom 6. August 1976, in: Sherman Papers, Box 19, Folder 1. Zit. nach COCKETT, S. 265–6. 1981 kehrte er zurück und diente der inzwischen zur Premierministerin Gewählten erneut als Wirtschaftsberater; siehe THATCHER, Erinnerungen, S. 361. Vgl. ebd., S. 326, 410, 426, 519, 529.

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wurde, aus eigenem Entschluß und durch die Projektion der Erwartungen ihrer Anhänger, zur Personifizierung all dessen, was sich die „Neue Rechte“ von der Politik erhoffte: Mut, Entschlossenheit, Führungsstärke, Überzeugungskraft gepaart mit dem Willen, den Niedergang des Landes nicht nur aufzuhalten, sondern umzukehren. Die Intellektuellen fanden in ihr jemanden, der imstande war, abstrakte Ideen nicht nur in praktikable Politikvorschläge umzumünzen, sondern vor allem in eine jedermann verständliche Sprache zu übersetzen und gleichsam zu verkörpern. „You have to operate on several levels to be a successful party“, beschrieb die Tory-Chefin in einem Interview ihre Aufgabe. „You must have a clear, understandable philosophy which you can use to persuade people of the rightness of your own cause, and you must be able to translate it into practical politics.“291 B)

DER INHALTLICHE EINFLUSS DER „NEUEN RECHTEN“

Inhaltlich wurde die Handschrift der „Neuen Rechten“ in Thatchers öffentlichen Äußerungen sowohl in programmatischen als auch in parteistrategischen und im weitesten Sinne moralischen Fragen sichtbar. Die für die Programmatik wichtigste Dimension war die wirtschafts- und finanzpolitische Debatte um den Monetarismus als Strategie im Kampf gegen die Inflation.292 Die ökonomischen Krisen der vergangenen Jahre, vor allem die Folgen des „Barber Booms“ von 1972/73, hatten die Lehren der sogenannten Chicago School in Großbritannien über den akademischen Bereich hinaus bekannt gemacht und ihr nicht nur in den Universitäten, sondern auch in Wirtschaftskreisen, Politik und Medien zahlreiche Anhänger verschafft. In der Konservativen Partei befürworteten gerade jüngere Politiker eine striktere Begrenzung der Geldmenge, wie Friedman sie proklamierte.293 Nachdem sich Joseph im September 1974 als erster konservativer Spitzenpolitiker öffentlich für eine monetaristische Strategie beim Kampf gegen die Inflation ausgesprochen hatte, wurde Friedmans Lehre gleichsam politisch salonfähig. Nun setzten sich auch die Parteigremien mit ihr auseinander. Im April 1975 konnte ein Anhänger der Doktrin in einem wirtschaftspolitischen Diskussionspapier für das Advisory Committee on Policy zufrieden feststellen: 291 292 293

Crossbow, Oktober 1975. Vgl. GAMBLE, S. 27–60. Im „Alternative Manifesto“ der Bow Group von 1973 hieß es zum Beispiel: „[W]e shall from now on endeavour to keep monetary expansion from outstripping the the growth of the economy“; LILLEY et al., Manifesto, S. 6. Ein Jahr später forderte die Gruppe in ihrer Broschüre Lessons for Power erneut „a counter inflation strategy based primarily on control of the money supply“; Bow Group: Lessons, S. 1–2.

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[T]here would now appear to be less need to debate whether inflation can be cured without strict monetary policies, given the growing acceptance that governments can create inflation by an increase in the money supply faster than the rate of growth of real output in the economy. Inflation is causing political instability and failure to tackle its root cause will make it impossible to pursue effective policies in most areas of social concern.294

Freilich brachte die Prominenz, die Friedmans Konzept auf diese Weise gewann, auch Nachteile mit sich. Josephs spektakuläre Rede in Preston hatte es nicht nur in den Mittelpunkt der politischen Diskussion gerückt, sondern aus ihm auch einen Kampfbegriff gemacht. „Monetarismus“ galt in Großbritannien nicht länger als unpolitischer Terminus Technicus aus der Wirtschaftswissenschaft, sondern – je nach Standpunkt – als Schimpfwort oder Ehrenbezeichnung, die rasch ihre klaren begrifflichen Konturen verlor und zur Allzweckwaffe wurde. Joseph, der dieses Problem erkannte, wehrte sich gegen eine allzu große Nähe zur Chicago School.295 Je heftiger er in der Folgezeit als „Monetarist“ angefeindet wurde, desto mehr bemühte er sich zu erklären, er halte die Begrenzung der Geldmenge lediglich für eine notwendige, jedoch nicht für eine hinreichende Bedingung erfolgversprechender marktwirtschaftlicher Reformen.296 1976 führte er den Gedanken in einem Vortrag mit dem Titel „Monetarism is not Enough“ weiter aus: Monetäre Stabilität stelle lediglich den Rahmen dar, innerhalb dessen jeder einzelne seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen nachgehen und auf diese Weise zugleich den nationalen Interessen dienen solle. Weil Wachstum und geringe Arbeitslosigkeit nur innerhalb dieser Rahmenbedingungen möglich seien, müsse man sich von dem Gedanken verabschieden, durch NachfrageManagement und eine Ausweitung der Geldmenge könnten schnelleres Wachstum und Vollbeschäftigung erreicht werden. Monetarismus allein reiche jedoch nicht aus, bemerkte er und fügte mit einem Seitenhieb auf die Callaghan-Regierung, die auf Healeys Drängen gerade zu einer monetaristischen Politik übergegangen war, hinzu: „Government’s intention to contract the money supply is welcome and potentially beneficial to all. But it is not enough unless there is also the essential reduction of the state sector and 294 295 296

CPA/ACP (75) 1: Paper by Mr Ian Taylor, 9th April 1975: Discussion Paper on Economic Policy. Vgl. Josephs Leserbrief an den Economist, 28. September 1974. Schon in seiner Preston-Rede erklärte er: „The monetarist thesis has been caricatured as implying that if we get the flow of money spending right, everything will be right . . . This is not – repeat, not – my belief. What I believe is that if we get the money supply wrong – too high or too low – nothing will come right. Monetary control is a pre-essential for everything else we need and want to do; an opportunity to tackle the real problems“; JOSEPH, Reversing, S. 19–33 (S. 31).

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the essential encouragement of enterprise. We are over-governed, overspent, over-taxed, over-borrowed and over-manned.“297 Andere Tory-Politiker argumentierten ähnlich. Nigel Lawson, seit 1974 Unterhausabgeordneter und später Thatchers langjähriger Schatzkanzler, schrieb im September 1978 in der Times, es sei Zeit für einen neuen Ansatz in der britischen Wirtschaftspolitik. Man brauche ein langfristiges Stabilisierungsprogramm, um die Inflation zu bändigen, das Vertrauen der Wirtschaft wiederzugewinnen und ein gesundes Wachstumsklima zu schaffen. „At the head of such a programme“, so Lawson, „must lie a firm commitment to a steady and gradual reduction in the rate of growth of the money supply [. . .] Only this way can inflation be wrung out of the system.“ Wie Joseph erklärte er, die Begrenzung der Geldmenge allein reiche nicht aus; ebenso wichtig sei die Verringerung des Haushaltsdefizits.298 Boyson bekannte sich ebenfalls ausdrücklich zu der neuen wirtschaftspolitischen Lehre aus Chicago: „A future Conservative Government must really tackle inflation, unemployment and government expenditure in an entirely different way from the Heath Government. The rate of increase of money supply must be steadily decreased until it matches the increase in production.“ Kaum jemand behaupte, der Monetarismus löse alle Probleme, räumte auch er ein. Er sei jedoch eine Vorbedingung für jegliche Problemlösung.299 Thatcher selbst hielt sich zu Beginn ihrer Zeit als Parteichefin mit Aussagen zum Monetarismus zurück.300 Klugheit und Vorsicht geboten ihr, sich nicht allzu weit in dieser Richtung aus dem Fenster zu lehnen. Anfangs schien sie durchaus unsicher gewesen zu sein, was sie von der ganzen Theorie halten sollte. Auf einem Treffen der Bilderberg-Gesellschaft in der Türkei sagte sie Ende April 1975 zu dem irischen Premierminister Garret Fitzgerald, in den Diskussionen der vergangenen Stunden habe sie viel gelernt, „for example the inadequacy of the money supply approach, because so much had to be done by way of supportive action to make the money

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Weiter sagte er: „That is why, by itself, the strict control of money supply, though essential, is not enough. We must also have substantial cuts in tax and public spending and bold incentives and encouragements to the wealth creators, without whose renewed efforts we shall all grow poorer“; KEITH JOSEPH, Monetarism is not Enough, London 1975, S. 19. „Indeed, something akin [. . .] to the old balanced Budget discipline needs to be restored: the secret of practical economic success, as overseas experience confirms, is the acceptance of known rules. Rules rule: OK?“; The Times, 14. September 1978. RHODES BOYSON, Centre Forward. A Radical Conservative Programme, London 1978, S. 58–9. Vgl. HARRIS, Thatcher, S. 66; SAMUEL BRITTAN, The Thatcher Government’s Economic Policy, in: KAVANAGH und SELDON (Hrsg.), S. 6.

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supply work“.301 Entsprechend vorsichtig und unentschieden klangen ihre ersten öffentlichen Stellungnahmen zu diesem Thema. In ihrer ersten Unterhausrede zum Thema machte sie zwar die steigenden Staatsausgaben der Labour-Regierung für die Inflation verantwortlich, fügte aber hinzu, die wahren Ursachen der Geldentwertung seien nicht wirtschaftlicher, sondern sozialer und politischer Natur.302 „Even the most dedicated interventionist admits that control of inflation has something to do with the money supply“, konstatierte sie im September 1975, um sogleich hinzuzufügen: „although a lot of other things have to be done as well as getting the money supply broadly right.“303 Ein dreiviertel Jahr später äußerte sie sich vor dem Hintergrund der heraufziehenden IWF-Krise entschiedener. „[F]inancial prudence and control of the money supply are the essential foundations of a country’s economic policies“, erklärte sie. „You won’t necessarily get everything else right, just by getting the amount of money in the economy right. But if you get the money supply wrong a lot of other things will go wrong too.“304 Wiederum ein Jahr später, nach der „monetaristischen Wende“ der Callaghan-Regierung im Herbst 1976, bezeichnete sie Zielvorgaben für das Geldmengenwachstum, wie sie Friedmans Konzept vorsah und Schatzkanzler Healey sie in Großbritannien mittlerweile umsetzte, als „a new, valuable and, indeed, essential set of guide posts in the fight against inflation“.305 Im Frühjahr 1979 machte sie sich schließlich ganz bewußt die Bezeichnung „Monetarismus“ zu eigen. Premierminister Callaghan und seine Regierung hätten der Öffentlichkeit weis machen wollen, Monetarismus sei ein unflätiges Wort, schimpfte sie. „Yet they knew all the time that a monetarist policy was vital, that sound money – and that is what ‚monetarism means‘ – is essential to our economic recovery. The country is suffering because Labour has been pursuing not a comprehensive monetarist policy, but a half-baked one.“306

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Das behauptet jedenfalls der irische Premier in seinen Erinnerungen; vgl. GARRET FITZGERALD, All in a Life, Houndmills/Basingstoke 1991, S. 161–2. Vgl. auch LAWSON, S. 47. Zu Thatchers Besuch der Bilderberg-Konferenz vgl. auch The Times, 26. April 1976. Am 22. Mai 1975; Hansard Vol. 892, Cols. 1637–54. Am 22. September 1975 in ihrer Vorlesung an der Roosevelt University in Chicago: News Service 789/75, S. 7. Am 12. Juni 1976 auf dem walisischen Tory-Parteitag in Aberystwyth, News Service 613/76, S. 10–11. Am 22. Juni 1977 beim City of London and Westminster South Annual Luncheon: News Service 665/77, S. 1. Am 3. März 1979 auf der Local Conference in der Caxton Hall: News Service 312/79, S. 7. Vierzehn Jahre später, bei der Niederschrift des ersten Bandes ihrer Memoiren, ließ sie keine Zweifel mehr erkennen. „Preisanstiege waren ein Symptom der Inflation, nicht aber ihre

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Wie ist Thatchers Hinwendung zum Monetarismus, ja ihre sukzessive Identifizierung mit der Theorie zu erklären? Zunächst einmal wurde deutlich, daß Friedman, dem man 1976 den Nobelpreis verlieh, Mitte der siebziger Jahre zweifellos en vogue war. Die Zeiten, in denen man monetaristische Ökonomen für verrückte Exoten hielt, waren vorüber. Thatcher bekannte sich nicht zur Ansicht eines obskuren Außenseiters, sondern ließ sich von einer Modewelle tragen. Darüber hinaus bot die Hinwendung zum Monetarismus die Möglichkeit, auch in wirtschaftstheoretischer Hinsicht einen dicken Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen: „Friedman statt Keynes“ und „Thatcher statt Heath“ waren unmißverständliche, einprägsame Formeln, die ihren Willen zum Neuanfang unterstrichen. Manche Beobachter vermuteten, die Juristin in ihr habe sich von der Gesetzmäßigkeit des Friedman’schen Konzepts angezogen gefühlt, „which [. . .] appeared capable of injecting the force of law into economic management“.307 Tatsächlich fiel ja der Aufschwung des Monetarismus in Großbritannien in die Zeit nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods, als die eindeutige Orientierung an der Geldmenge, die Friedman empfahl, in einer Welt frei flottierender Währungen eine wichtige Orientierungshilfe bot. Kritiker Thatchers vertraten die These, der Monetarismus habe als eine Art ideologische Tarnkappe gedient, unter deren Schutz es möglich wurde, still und heimlich die wirtschaftspolitischen Prioritäten zu vertauschen: Nicht mehr der Kampf gegen Arbeitslosigkeit, sondern gegen Inflation habe nun im Mittelpunkt des Regierungshandelns gestanden; Massenarbeitslosigkeit sei in Kauf genommen worden, weil sie half, die Geldentwertung zu stoppen. „[M]onetarism was important as a cover for what had to be done“, schrieb etwa der Publizist Peter Jenkins, „[it] gave a scientific air to a policy which was wanting in simple humanity towards its victims, enabling ministers to attribute what were, in reality, political decisions to the sovereignty of the market“.308 Es ist nicht auszuschließen, daß derartige Überlegungen insgeheim eine Rolle gespielt haben, auch wenn sich verständlicherweise weder in Thatchers öffentlichen Stellungnahmen noch in den bislang zugänglichen internen Dokumenten der Tory-Partei Belege dafür finden lassen. Es wäre jedoch verwunderlich, wenn die Anhänger des Monetarismus nicht damit gerechnet hätten, daß ihre Politik unangenehme

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Ursache“, schrieb sie. „Die Inflation wiederum war ein monetäres Phänomen, das man nur mit finanzieller Disziplin eindämmen konnte“; THATCHER, Downing Street, S. 61. DELL, Chancellors, S. 449. JENKINS, S. 154. Ähnlich CLARKE, Rise, S. 314.

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Nebenwirkungen mit sich bringen würde, zumal einige Tories dies in Privatgesprächen durchaus einräumten.309 Mindestens ebenso wichtig erscheint jedoch der Umstand, daß sich die Grundprinzipien des Monetarismus mit tiefverwurzelten Überzeugungen der Parteichefin deckten. „Mein großer Vorteil gegenüber meinen politischen Zeitgenossen lag darin“, schrieb sie in ihren Memoiren, „daß sie erst einmal von den Vorteilen des Monetarismus [. . .] überzeugt werden mußten, die ganzen Fachargumente und -einsichten aber mit meinen fundamentalen Erkenntnissen und früheren Erfahrungen so vollkommen harmonierten, daß ich viel leichter zu überzeugen war“.310 Sich Ziele zu setzen, seien es auch nur Geldmengenziele, und gegen alle Widerstände an ihnen festzuhalten, entsprach in der Tat Thatchers Vorstellung von conviction politics. Mit einem knapp bemessenen Budget auszukommen, sein Konto nicht zu überziehen, stand nicht nur jeder Hausfrau gut an, sondern auch einer Regierung, davon war sie überzeugt. „Perhaps it takes a housewife“, verkündete sie im Juni 1975, „to see that Britain’s national housekeeping is appalling. Britain is producing every week the same as she was in February last year. Yet she is spending half as much again. No family could survive like that.“311 Hinzu kam, daß dem Monetarismus auf einer wissenschaftlichen Ebene dasselbe Mißtrauen gegen „die Politiker“ zugrunde lag, das auch Thatcher verspürte. Sie und Friedman waren sich einig, daß Politiker nicht notwendigerweise dem Allgemeinwohl dienten, sondern womöglich Gruppeninteressen oder ihre eigenen Ziele als wichtiger ansahen. Ein konsequent angewandter Monetarismus würde ihnen im Interesse des Gemeinwohls die Verfügungsgewalt über das Management der Volkswirtschaft entziehen. Statt fehlbarer und verführbarer Menschen sollten festgelegte Regeln – Geldmengenziele, ausgeglichene Haushalte – die Wirtschaftspolitik bestimmen.312 Auch die Werturteile, die dem Monetarismus zugrunde lagen, stimmten mit Thatchers eigenen überein. Geld, um dessen Wert und Bedeutung

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So sagte etwa der Herausgeber der Times, Rees-Mogg, zu Tony Benn: „[Thatcher] believes really, and so do I, in monetary stabilisation. That is to say you would have a sudden attack on money supply and it would be like Schacht in Germany or Poincaré in France after the First World War or de Gaulle and Erhardt after the Second World War; this would lead to a temporary substantial increase in unemployment but then it would settle down, confidence would return, people would wake up and find they had a hard currency instead of a soft currency in their hands, though less of it of course. That, I think, is the right policy“; Tagebucheintrag vom 5. Oktober 1976, in: BENN, Tide, S. 618/619. THATCHER, Erinnerungen, S. 658. Am 28. Juni 1975 auf der Shipley Conservative Association Garden Party in Bingley in Yorkshire: News Service 643/75, S. 2. Vgl. CONGDON, S. 85–7.

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Friedmans Theorie kreiste, war in ihren Augen ein Medium, das den Tausch von Gütern erleichterte und somit die Wahlmöglichkeiten des einzelnen vergrößerte. Es stellte eine der grundlegenden Formen jenes Privateigentums dar, das sie schützen und fördern wollte. Gleichzeitig hatten Veränderungen der Geldmenge und des Geldwertes durchschlagende Auswirkungen auf die Privatwirtschaft, die ihr so sehr am Herzen lag. Sie betrachtete das Eintreten des Monetarismus für eine stabile Währung als integralen Bestandteil der Verteidigung von Wahlmöglichkeiten, Privateigentum und freier Wirtschaft.313 Weil eine demokratische Gesellschaft ihrer Ansicht nach auf diesen drei Grundpfeilern ruhte, sah sie im Kampf des Monetarismus gegen die Inflation letztlich ein Ringen um den Bestand von Freiheit und Demokratie. Die charakteristische Verbindung von Wirtschaft, Politik und Moral taucht in fast allen Redepassagen auf, in denen sie sich mit dem Problem der Geldentwertung beschäftigte. „The cost of failing to fight inflation is the extinction of private enterprise and, ultimately, the end of democracy“, erklärte sie vor schottischen Konservativen im Mai 1975.314 Wenn man dem Kampf gegen die Inflation nicht Priorität einräume, warnte sie ein halbes Jahr später, seien moralische Werte, soziale und politische Institutionen, ja der Zusammenhalt der ganzen Gesellschaft gefährdet. Keine Demokratie habe bislang über einen längeren Zeitraum eine Inflationsrate von zwanzig Prozent oder mehr überlebt. „When money can no longer be counted on to act as a store of value, savings and investment are undermined, the basis of contracts is distorted and the professional and middle class citizen, the backbone of all societies is disaffected.“315 In einer mit Shermans Hilfe formulierten Rede vor Bankiers in Zürich malte sie im März 1977 das Bedrohungszenario einer Hyperinflation an die Wand, die nicht nur die Wirtschaft gefährde: „When money can no longer be trusted, it is not only the economic basis of society that is undermined, but its moral basis too.“316 Anders als die Diskussion um den Monetarismus bewegte sich die Debatte um den Common Ground nicht auf der Ebene der Programmatik und Wirtschaftspolitik, sondern der Wahlkampfstrategie. Es ging um die Frage,

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Siehe ebd., S. 75–83. Am 17. Mai 1975 auf der Jahreskonferenz der schottischen Konservativen in der Caird Hall in Dundee: News Sevice 473/75, S. 9. Am 22. September 1975 in ihrer Vorlesung in der Roosevelt University in Chicago: News Service 789/75, S. 5, 6. Am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Defence, S. 21–30 (S. 24); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 51). Zu Shermans Beteiligung vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 378.

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welche Zielgruppe in der Bevölkerung die Konservative Partei am intensivsten umwerben sollte. Die traditionelle Antwort, die man in westlichen Demokratien während der Nachkriegszeit auf diese Frage gab, lautete: Wahlen werden in der politischen Mitte gewonnen; entscheidend ist die vergleichsweise kleine Gruppe der Wechselwähler. In der Bundesrepublik beherzigten sowohl Helmut Kohl als auch sein Nachfolger Gerhard Schröder diese These – mit Erfolg: Der eine nannte sein Bündnis mit der FDP, das 1982 die sozialliberale Regierung ablöste, die „Koalition der Mitte“, der andere warb 16 Jahre später für eine „Neue Mitte“ aus Rot und Grün. Auch in Großbritannien waren bis in die siebziger Jahre hinein die meisten Politiker der Ansicht, der middle ground zwischen Labour- und Tory-Partei sei für den Wahlsieg ausschlaggebend. Dort vermuteten sie überdurchschnittlich gebildete Wähler der Mittelschicht, die sich vor allem für „weiche“ Themen wie Bildung, Familie, Bürgerrechte und Chancengleichheit interessierten. Als erster zweifelte Lord Coleraine, der spätere Schirmherr der Seldson Group die These von der wahlentscheidenden Bedeutung des middle ground an. In seinem Buch For Conservatives Only behauptete er 1970, sie beinhalte eine Reihe von zweifelhaften Prämissen – „some of them quite amoral and some only absurd“. Ihre Anhänger gingen unbesehen davon aus, daß politische Entscheidungen in einer demokratischen Gesellschaft einer Minderheit überlassen werden dürften oder daß diese Minderheit zumindest die Wünsche einer Mehrheit widerspiegele, die aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage sei, ihren Willen selbst zum Ausdruck zu bringen. Darüber hinaus müsse man die Annahme bezweifeln, diese geheimnisvolle kleine Gruppe der Wechselwähler – „at once all powerful and all wise, and without party allegiance of any kind“ – sei eindeutig fortschrittlich und links der Mitte angesiedelt.317 Statt dessen plädierte er dafür, den Glauben an die eigenen Prinzipien und an die Überzeugungskraft dieser Prinzipien wiederzugewinnen. Wahlkampf sei ebensosehr eine moralische wie eine politische Angelegenheit. „[S]uccess depends much more on the power of the leadership to inspire the party worker so that he, in his turn, convinces the waverer, than on its capacity to persuade the waverer by argument. When all is said, the floating vote lines up to its name. It floats with the tide; and whoever would influence it must first influence the tide.“318 Die beiden Wahlniederlagen vom Februar und Oktober 1974 sah Coleraine als Beleg für die Richtigkeit seiner Annahme. Die Tatsache, daß die Partei unter Heath im Herbst weniger Stimmen gewonnen hätte als in jeder 317 318

COLERAINE, Conservatives, S. 67. Ebd., S. 77.

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anderen Wahl seit 1945 sei die verdiente Strafe „for twenty five years of error“, schrieb er im November 1974 im Spectator. Ever since its victory in 1951 the Conservative Party, without a philosophy of its own, has moulded itself upon the pattern of its opponents. [. . .] The leadership always supposed that by reflecting the current fashion, whatever it might be, it was expanding its electoral base. Of course it was doing nothing of the kind. It was only dismaying its friends without placating its enemies.319

In einem Leserbrief an den Daily Telegraph wiederholte er seine These Anfang Februar 1975, kurz vor Thatchers Wahl zur Parteiführerin. Natürlich müsse man versuchen, Wechselwähler für sich zu gewinnen, aber das gelinge nicht durch reine Propaganda und Werbetricks, wie sie manchem Anhänger von Heath vorschwebten. „The only way to influence the floating vote is to inspire your own supporters with your own sense of conviction so that they are able in their turn to inspire others.“ Coleraine verband sein Plädoyer mit einem Bekenntnis für Thatcher als neue Tory-Chefin. Von allen Kandidaten besitze nur sie die Fähigkeit, durch ihre Überzeugungskraft andere mitzureißen.320 Coleraines Thesen waren ganz nach dem Geschmack einer frustrierten Parteibasis, die bereits seit geraumer Zeit murrte, ihre Führung lasse konservative Prinzipientreue vermissen.321 Im Verlauf der krisenhaften siebziger Jahre gewann diese Position immer mehr Anhänger. Die Wählerschaft spüre, hieß es in einer Broschüre der Bow Group von 1973, daß die Konservative Partei nicht vollkommen an die Politik glaube, die sie verkünde.322 Edward du Cann erklärte seinem Parteichef im Mai 1974, die Basis verlange „a more positive statement of our beliefs and attitudes“.323 In der Sunday Times schrieb der Kolumnist Ronald Butt im Oktober 1974, seit einem Jahrzehnt schon dominiere die Linke die gesamte politische und soziale Diskussion. „Where the Conservative Party has answered back, it has done so by conceding half the case that it should have been rebutting and has usually sought to appease the trend.“324 Der konservative Abgeordnete 319 320 321

322

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Spectator, 2. November 1974. Daily Telegraph, 7. Februar 1975. Utley etwa hatte schon 1963 im Spectator festgestellt, viele Tories glaubten, ihre Partei „has occasionally checked, but has never fundamentally reversed the trends towards national bankruptcy and imperial and social dislocation which were going on when it came to power“; zit. nach MOORE und HEFFER (Hrsg.), S. 5. „And if such an impression does gain ground the electorate will surely prefer to entrust its future to those who believe most firmly in, and can offer the most convincing rationale for, the policies they are presenting“; LILLEY et al., S. 3. Party Chairman’s Wednesday morning consultations: CPA/CCO/20/61/5. Sunday Times, 13. Oktober 1974.

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Angus Maude sah das ähnlich; im Juni 1974 schrieb er in der Zeitschrift Crossbow: What has done most to widen the gap between the Conservative leadership and our supporters (and potential supporters) in the country is the realisation that no action is ever taken to reverse the steady drift to the left. If Labour Governments are always prepared to reverse the actions of Tory Governments, while Conservatives will never reverse what Labour has done in office, it follows that the Left always wins. The secular trend is clear.

Welchen Sinn habe es noch, die Konservativen zu wählen, fragte er, wenn das Wahlergebnis ohnehin keinen Unterschied mache?325 Seit 1945 sei Großbritannien von sozialistischen Regierungen geführt worden, hieß es in McWhirters Majority vom November – manche hätten das Etikett „Labour“, andere die Aufschrift „Tory“ getragen. Politisch jedoch hätten sie sich kaum voneinander unterschieden. Unter diesen Umständen sei die Glaubwürdigkeit einer konservativen Opposition gleich null, solange man nicht den Versuch unternehme, den Sozialismus entschieden zurückzuschlagen. „The time has come for the Conservative Party to do the job for which the rank-and-file have kept it in being with their votes, their work and their money. Direction must be altered now.“326 Etwa zur selben Zeit griff Joseph das Thema auf und versuchte, daraus eine umfassende politische Strategie abzuleiten.327 In einer mit Hilfe von Sherman formulierten Rede vor Oxforder Studenten im Dezember definierte er den middle ground als einen faulen Kompromiß zwischen Politikern, der nichts mit den wirklichen Wünschen der Bürger zu tun habe. Er sei einfach der kleinste gemeinsame Nenner, „obtained from a calculus of assumed electoral expediency, defined not by reference to popular feeling but by splitting the difference between Labour’s position and the Conservatives!“ Dieser Kompromiß, der Josephs Ansicht nach die gesamte Spannbreite der britischen Nachkriegsordnung – von der Verstaatlichungspolitik über die keynesianische Globalsteuerung bis hin zur Wachstumspolitik und dem Ziel der Vollbeschäftigung – umfaßte, habe aus Sicht der Konservativen nur Nachteile. Seine Partei täusche sich, wenn sie glaube, in der Politik der Mitte einen Zaubertrank gefunden zu haben, der ihr ewige Regierungsmacht verleihe oder zumindest die Mäßigung einer potentiellen LabourRegierung garantiere. Das Gegenteil sei der Fall: „[T]he middle ground, at 325 326 327

ANGUS MAUDE, What the Tories Must Do Now, in: Crossbow, Juni 1974, S. 8–10 (S. 10). Majority No. 1, 10. November 1975, S. 13–4. Erstmals am 7. Oktober 1975 in seiner Parteitagsrede in Blackpool, in: The National Union of Conservative and Unionist Associations: (93.) Annual Conference Blackpool, Oktober 1975 (Verbatim Report), S. 31–3.

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any given time, was fixed in relation to the Labour left and the Conservative centre. [. . .] since the left-wing always takes the status quo as its point of departure, it follows that the more the middle ground moved to the left, the further the left pitched their own demands, so the middle ground shifted yet once more.“ Der Kompromiß mit Labour könne keine sichere Grundlage für eine maßvolle Politik sein, vielmehr gleiche der middle ground einer schiefen Ebene, auf der man unweigerlich immer rascher in Richtung Sozialismus abwärts rutsche. Weil sozialistische Politik noch nie funktioniert habe, dürfe man sich über die Krise, in die Großbritannien mit seiner Kompromißpolitik geraten sei, nicht wundern. „It created not prosperity but crisis. Far from saving the private sector, it has gone a long way towards destroying it. Far from achieving social harmony and strengthening the centre, it has created resentments and conflict“.328 Joseph bezeichnete die Wirkung der Kompromißpolitik als „ratchet effect“, in Analogie zur Ratsche, jenem Sperrad, das nur in eine Richtung gedreht werden kann und sich nach jeder Bewegung ein Stückchen weiter festhakt. Es gab in seinen Augen nur eine Möglichkeit für die Konservativen, dem Ratschen-Effekt zu entkommen. Sie mußten die Politik der Mitte aufgeben und sich auf die Suche nach einem neuen „common ground“ begeben. „[M]iddle ground and common ground are not only different“, erklärte er, „but in some senses diametrically opposite in these days of leftwing orientation.“ Es gehe dabei nicht um leere Kompromisse zwischen Politikern, sondern um das, was britische Politiker und ihre Wähler verband: gemeinsame Erkenntnisse, Werte, Wünsche und Hoffnungen, nicht die Überzeugung von der Richtigkeit einzelner politischer Maßnahmen. „[T]he common ground is what can be shared with the people“, behauptete er. „We share more values and aspirations with the people, however they vote, than we share understanding and policies.“329 Darüber hinaus hoffe er ganz konkret, weitgehende Übereinstimmung in einer Reihe grundsätzlicher Fragen zur Überwindung der Krise zu erzielen.330 Auf die Ebene der parteipolitischen Strategie und Wahlkampftaktik übertragen, bedeutete das: Es ging nicht darum, den klassischen Wechselwähler in der politischen Mitte durch detaillierte Reformprojekte zu gewinnen, sondern, militärisch 328

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Am 6. Dezember 1975 vor der Oxford Union; die Rede ist unter dem Titel „The Quest for Common Ground“ abgedruckt in: KEITH JOSEPH, Stranded on the Middle Ground?, London 1976, S. 19–34 (S. 20–21, 25). Insbesondere dachte er dabei an „our realization that the country has gone astray, our resolve to find the way forward and our confidence that it can be done. This is the bedrock of the common ground we seek“; JOSEPH, Stranded, S. 19–34 (S. 19, 28, 34). Ebd., S. 31.

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gesprochen, hinter den Linien des Feindes im Reservoir traditioneller Labour-Wähler zu operieren. Man müsse aufhören, in den Kategorien von „links“ und „rechts“, „radikal“ und „gemäßigt“ zu denken, so Joseph. Vielmehr sei es an der Zeit, Labour-Anhänger zu überzeugen und ins eigene Lager hinüberzuziehen.331 Es fällt nicht schwer, die Übereinstimmung von Josephs Analyse mit Thatchers populistischem Politikverständnis zu erkennen, auch wenn ihre Sprache schlichter, unprätentiöser klang als seine. Was er als „common ground“ bezeichnete, nannte sie „common sense“. Was er „middle ground“ getauft hatte, waren für sie „consensus politics“ - Symbole eines gescheiterten Politikansatzes, von dem man sich so schnell wie möglich lösen mußte. Zu Prior, einem Exponenten jener Politik der Mitte, die Thatcher verabscheute, soll sie einmal gesagt haben: „Standing in the middle of the road is very dangerous, you get knocked down by the traffic from both sides.“332 Den „Ratchet Effect“ hielt sie nicht bloß für eine geistreiche These, sondern für eine unumstößliche Tatsache. Als man sie Anfang 1979 in einem Interview fragte, was sie vier Jahre zuvor zur Kandidatur gegen Heath bewogen habe, erklärte sie: „I felt [. . .] that the next leader of the Party must clearly stand up against the direction in which the country had been moving under both previous Governments. We had moved too much to a society controlled by Government.“ Auch Coleraines und Josephs Idee, den Prinzipien und Überzeugungen der eigenen Anhänger wieder größere Bedeutung zuzumessen, deckte sich mit Thatchers politischen Instinkten. „People were beginning to feel guilty about their political beliefs“, sagte sie. „They were coming to believe that politicians had caused democracy to come to mean a kind of competition in materialistic promises. At election times, each party seemed to be competing with the other in promising ‚What we can do for you‘. I’m not participating in that kind of competition.“333 Josephs Einfluß läßt sich bis in Thatchers Wortwahl hinein erkennen. Den Abgeordneten des Parteitags der Jungkonservativen in Harrogate rief sie 1978 zu: „The time has arrived to move on to a new common ground: where people matter, where efforts pay, where responsibility is freely exercised, and the power of the state firmly contained.“334 Im Wahlkampf des Frühjahrs 1979 wurden die Anklänge noch deutlicher. In Birmingham wandte sie sich am 19. April direkt an diejenigen, die in der Vergangenheit 331 332 333 334

Ebd., S. 29. Zit. nach PRIOR, S. 106. The Observer, 25. Februar 1979. Am 12. Februar 1978 auf dem Parteitag der Jungkonservativen in Harrogate: News Service 194/78, S. 6.

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stets für Labour gestimmt hätten, und forderte sie auf, sich zu fragen, wo „the true centre, the commonsense heart of British politics“ heutzutage zu finden sei.335 Zehn Tage später erklärte sie konservativen Gewerkschaftern, sie appelliere nicht an bestimmte Klassen oder organisierte Interessen, sondern an „those instincts and principles which are common to decent men and women, whatever their income or age or status, irrespective of their creed or colour or race – irrespective indeed of whether they have voted for us or against us in the past“.336 Das Werben um enttäuschte Labour-Anhänger ging nicht zuletzt auf Shermans Initiative zurück, der seine Parteichefin immer wieder ermahnte, aus der Unzufriedenheit vieler Labour-Wähler Kapital zu schlagen. Es müsse jemanden in der Partei geben, schrieb er in einem Memorandum, der für die Beziehungen zu diesen Leuten verantwortlich sei. Nicht alle Tories eigneten sich dazu, diesen Dialog zu führen. Politiker wie Joseph, Boyson und nicht zuletzt Thatcher selbst jedoch „could speak to Labour ‚defectors‘ and ‚freedom fighters‘“. Er könne nicht genug betonen, fuhr Sherman fort, „that it is precisely the former Labour men whom we need to carry forward the fight for change. They are political animals, they have the fire, the ideals, the knowledge of what they are fighting against. They carry conviction.“337 Kurz vor dem Beginn des Wahlkampfes kam er im März 1979 noch einmal auf die Frage einer Öffnung nach links zurück. „Our appeal to disillusioned Labour people contains no element of appeasement or compromise“, behauptete er, wohl wissend, wie sehr Thatcher beides haßte. Almost invariably, those who are ready for dialogue with us are if anything, already more militant and radical in our sense than many Tories . . . We have a task of educating our own members to understand [. . .] that we need masses of transmigrants from Labour to give us the political strength to reverse the socialist ratchet. Only then, can we be certain of winning the intellectual battle on which victories depend for their stability.338

Die dritte Ebene, auf der die „Neue Rechte“ Thatcher beeinflußte, hatte mit dem Zusammenhang zwischen Politik und Moral zu tun. Jede konservative 335 336

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Am 19. April 1979 in der Stadthalle von Birmingham: News Service GE 601/79, S. 2. Zu den Gemeinsamkeiten, die sie in diesem Zusammenhang nannte, gehörten „the sense of personal responsibility“, „the sense of fairness“, „the legitimate ambition, which drives us to do the best for our family“, „the sense of justice“, „the spirit of independence which rebels when the state tries to take over our lives“ und schließlich „old-fashioned love of country“; am 29. April 1979 auf einer Kundgebung konservativer Gewerkschafter im Wembley Conference Centre: News Service GE 764/79, S. 5–6. Memorandum: The Labour Party – Opportinity, Mutual Lack of Knowledge, Lack of Channels (ohne Datum), in: Sherman Papers AR MT/5/1/5, Box 6. Memorandum vom 7. März 1979 „FOR MT“, in: Sherman Papers, AR MT/5/2/4, Box 6.

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Partei, die ihren Namen zu Recht trägt, fordert die Bewahrung traditioneller Werte und die Absage an modische Strömungen des Zeitgeistes. Das Besondere an der Diskussion über „Viktorianische Werte“ im Großbritannien der siebziger Jahre bestand darin, daß die „Neue Rechte“ in der Rückkehr zu überkommenen britischen Tugenden eine Kraft der Veränderung erblickte: Sie wollte die triste Gegenwart überwinden, indem sie an die glorreiche Vergangenheit anknüpfte.339 Das Muster dieser Argumentation tauchte erstmals in einem Aufsatz von Boyson in dem Sammelband Down with the Poor von 1970 auf. Der moderne britische Wohlfahrtsstaat, schrieb er dort, sei nicht nur ineffektiv, sondern untergrabe auch die Moral und die Überlebensfähigkeit der Nation, indem er von den Dynamischen, Erfolgreichen, Sparsamen nehme und den Faulen, Tagedieben und Nutzlosen gebe. Aufgabe des Staates müsse es sein, Wettbewerbssinn, Leistungsbereitschaft und Selbstvertrauen zu stärken, so wie in den großen Tagen des viktorianischen Zeitalters. „Some people look with amusement or even horror at the self-help of the Victorian age“, so Boyson, „but its virtues of duty, order and efficiency have been replaced in the muddled thinking of our age by a belief in individual irresponsibility.“340 Ein ähnlicher Gedankengang tauchte fünf Jahre später in McWhirters Zeitschrift Majority auf. Die Nation sei im Kern verrottet, hieß es dort, weil sie dem Versprechen linker Sozialreformer geglaubt habe, „[that] getting rid of Victorian values would make family life happier [. . .] But the whole package has turned to ashes in the mouth of the nation.“ Die einzige Hoffnung liege in „simplicity and Self-Help“, so McWhirter. „Let the eternal christian virtues of faith, hope and charity be the guiding light.“341 Im selben Jahr griff Joseph das Thema auf, indem er viktorianische Werte bezeichnenderweise mit bürgerlichen Tugenden gleichsetzte. „An important element in bourgeois, or what we call middle class values“, so Joseph, „is a further time horizon, a willingness to defer gratification, to work hard for years, study, save, look after the family future.“ Britische Arbeiter dagegen neigten dazu, für den Augenblick zu leben, nicht an die Zukunft zu denken, ihr Gehalt unverzüglich auszugeben. Josephs Sorge galt dem Überleben bürgerlicher Werte, wie er sie verstand, in einem politischen, wirtschaft339 340

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Zum historischen Hintergrund siehe BERND WEISBROD (Hrsg.), „Victorian Values“. Arm und Reich im viktorianischen England, Bochum 1988. Weiter sagte er: „The predictable outcome is seen in disorder, crime and lack of civic duty, and in the palsied inefficiency, so often visible throughout the public service, nationalised boards and even private industry. We have been heading for economic and moral bankruptcy“; BOYSON (Hrsg.), Poor, S. 7. Majority, 10. November 1975.

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lichen und sozialen Umfeld, das ihrer weiteren Existenz eher schadete als nutzte. „[W]ill these values survive almost universal ‚proletarianization‘ [. . .]?“, fragte er. „Will it survive as the self-employed are driven out of their modest castles and forced to seek paid employment, increasingly in the public sector [. . .]? Will it survive the loss of independence based on property ownership [. . .]?“ Angesichts galoppierender Geldentwertung und einer Pop-Kultur, die Selbstverwirklichung mehr schätzte als Verzicht und harte Arbeit, sei er skeptisch. Aufgabe einer zukünftigen konservativen Regierung müsse es sein, Bedingungen zu schaffen, unter denen bürgerliche Werte wieder das Bindemittel der Gesellschaft bildeten. „Our job is to recreate the conditions which will again permit the forward march of embourgeoisement, which went so far in Victorian times“.342 Joseph war nicht der einzige Vertraute der Tory-Chefin, der während dieser Jahre einer düsteren Gegenwart das viktorianische Zeitalter als leuchtendes Vorbild empfahl. Der Historiker Hugh Thomas, der 1979 Direktor des CPS wurde, verteidigte im Oktober 1978 in einem Vortrag am Rande des Konservativen Parteitags das 19. Jahrhundert gegen den Vorwurf, eine Zeit des Massenelends und der Ausbeutung gewesen zu sein. Die viktorianische Ära figurierte in Thomas’ Darstellung nicht als von Kinderarbeit und Hungerlöhnen geprägte Epoche, sondern als Blütezeit der freien Marktwirtschaft, des Entdeckergeistes und Erfindungsreichtums, die man im Augenblick so schmerzlich vermisse. Noch in einem anderen Punkt unterschied sie sich seiner Ansicht nach positiv von der Gegenwart: We used ourselves once to have strong and powerful visions of the past which inspired the nation as it went about its daily life. In the nineteenth century, Britain’s past was of great importance to it. The Victorians realised and were proud, that our institutions derived from a uniquely slow evolution, linking us with the customs of the ancient Germans, of whom Tacitus wrote, with a vague feeling of envy, since their ways seemed to be freer than those of Rome. Do we still have, as a nation, that pride?343

Boysons, Josephs und Thomas’ Lob für das viktorianische Zeitalter fiel bei Thatcher auf fruchtbaren Boden. Die Tugenden dieser Ära fügten sich nahtlos in ihr Weltbild. Daß Selbstdisziplin, harte Arbeit und Fleiß wichtige Tugenden waren, leuchtete der Tochter von Alfred Roberts unmittelbar ein. Sie und ihre Schwester seien von einer viktorianischen Großmutter erzogen worden, erklärte sie 1983 in einem Radio-Interview.

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Am 15. Januar 1975 im St Ermin’s Hotel in London; die Rede ist unter dem Titel The Politics of Political Economy abgedruckt in: JOSEPH, Reversing, S. 56–7. HUGH THOMAS, History, Capitalism and Freedom, London 1978, S. 4, 6.

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We were taught to work jolly hard. We were taught to prove yourself; we were taught self-reliance; we were taught to live within our income. You were taught that cleanliness is next to godliness. You were taught self-respect. You were taught always to give a hand to your neighbour; you were taught tremendous pride in your country. All of these are Victorian values.344

Die Politikerin entdeckte den Wert der viktorianischen Ära nicht erst als Regierungschefin. Schon im Juli 1977 tauchte das Motiv in einer ihrer Reden auf, bezeichnenderweise im Zusammenhang mit dem Plädoyer für private Mildtätigkeit gegenüber Alten, Kranken und der Jugend, die staatliche Zuständigkeiten in diesen Bereichen ergänzen, wenn nicht ersetzen sollte. Das Viktorianische Zeitalter sei nicht nur die Hochphase des freien Unternehmertums gewesen, sondern auch die Blütezeit privater Wohltätigkeit, erklärte sie. „The Victorian age has been very badly treated in Socialist propaganda. It was an age of constant and constructive endeavour in which the desire to improve the lot of the ordinary person was a powerful factor. We who are largely living off the Victorians’ moral and physical capital can hardly afford to denigrate them.“345 Über die Vorzüge des viktorianischen Zeitalters zu sprechen, entsprach nicht nur Thatchers Überzeugung, es erschien ihr auch politisch notwendig. Für sie waren viktorianische Tugenden „the values when our country became great“.346 Implizit bedeutete dies: die Abkehr von den viktorianischen Tugenden hatte etwas mit dem britischen Niedergang zu tun, den sie aufhalten, rückgängig machen wollte. Die Zeit aber, die man allgemein mit diesem Bruch identifizierte, waren die sechziger Jahre, „the permissive sixties“ unter dem sozialistischen Premier Wilson, die der Sozialhistoriker Arthur Marwick als „the End of Victorianism“ beschrieben hat.347 Schon früh hatte Thatcher gegen die permissive society und deren libertären Freiheitsbegriff polemisiert. „I question whether a person who gives in to his every instinct and whim is free“, schrieb sie 1970. „It seems more likely that he is a slave to his own appetites. Surely an educated society should consist of people capable of self-discipline; capable also of appreciating the necessity for law and order.“348

344 345

346 347 348

Zit. nach IVOR CREWE, Values: The Crusade that Failed, in: KAVANAGH, und SELDON (Hrsg.), S. 239. Am 4. Juli 1977 in ihrer Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 57–8); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 66). Zit. nach JENKINS, S. 67. ARTHUR MARWICK, British Society Since 1945, London u. a. 1982, S. 145–57. Finchley Press, 2. Januar 1970; zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 191.

314

III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

Im Rückblick behauptete sie, in den sechziger Jahren sei es einflußreichen Persönlichkeiten in der Regierung, in den Medien und an den Universitäten gelungen, einer moralisch noch weitgehend konservativen Gesellschaft ihre freisinnigen Großstadt-Vorstellungen aufzuzwingen. In den sechziger Jahren habe England den Anfang einer schließlich fast völligen Abtrennung der staatlichen Autorität von den traditionellen christlichen Wertvorstellungen erlebt. Die Liste fehlgeleiteter Reformen, die damals ihren Anfang genommen hätten, sei lang: Sie reichte von der Liberalisierung des Scheidungsrechts über die Abschaffung der Todesstrafe bis zur Erleichterung der Abtreibung. All diese Veränderungen hätten einer gleichgültigeren, selbstsüchtigeren und verantwortungsloseren Welt den Weg geebnet, schrieb sie.349 Die Studentenunruhen von 1968 erschienen ihr nicht als Ausdruck eines neuen, freiheitlichen Lebensgefühl, sondern als Beleg dafür, daß der Westen im intellektuellen Kampf gegen den Kommunismus nachlässig geworden sei. „It is not many years since in Germany, France, Britain and elsewhere universities were brought to a halt by the agitations of Marxist students“, sagte sie in einer Rede auf dem CDU-Parteitag in Hannover 1976. „It is not many years since in some universities the ideas and traditions of free intellectual expression were openly derided in the very institutions which gave them birth.“350 In ihren Augen stellten sich die sechziger Jahre nicht als Epoche des Aufbruchs und der Befreiung dar, sondern als „Zeit des zwanghaften, geradezu naiven Jugendkults“, in der eine Kultur „aus fehlverstandenem östlichem Mystizismus, bizarrer Kleidung und freizügigem Konsum von Rauschgift“ entstanden sei. Hinter dem Swinging Britain der Beatles, der Carnaby Street und des Minirocks verbargen sich ihrer Meinung nach lediglich die existentiellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, „die auch die talentierteste Mode-Industrie und die unternehmerischsten Plattenfirmen nicht aufwiegen konnten“.351 Der Appell an die „Victorian values“ diente ihr dazu, die Misere der siebziger auf die „sozialistischen“ Verfehlungen der sechziger Jahre zurückzuführen und zugleich einen Ausweg aufzuzeigen: nämlich den Rückgriff auf die Tugenden von Großbritanniens ruhmreichem 19. Jahrhundert. Kennzeichnend für all die Themen, Ideen und Vorschläge der „Neuen Rechten“ war der Optimismus und die Siegesgewißheit, mit der sie vorgetragen wurden. Thatchers Anhänger hatten das sichere Gefühl, die Zeichen der Zeit erkannt zu haben, von einer Strömung getragen zu werden, die alle 349 350 351

THATCHER, Erinnerungen, S. 183–184. Am 25. Mai 1976 auf dem CDU-Parteitag in Hannover: News Service 544/76, S. 7. THATCHER, Erinnerungen, S. 186.

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Widerstände hinwegspülen würde. Hatte es in den sechziger Jahren noch als anstößig gegolten „to be known as a Conservative in the worlds of academe and the media“, so bewiesen die Nobelpreise für von Hayek und Friedman 1974 bzw. 1976 sowie die Würdigung, die ihre Gedanken in der seriösen Presse erfuhren, wie sehr sich der intellektuelle Trend verändert hatte.352 Die Konservative Partei galt nicht mehr als stupid party, sondern erschien plötzlich vielen Intellektuellen interessanter, zukunftsfähiger als Labour. Der Oxforder Historiker Robert Blake, der mit den Gedanken der New Right sympathisierte, glaubte damals, Zeuge eines weltgeschichtlichen Umbruchs zu werden. There are signs of one of those rare and profound changes in the intellectual climate, which occur only once or twice in a hundred years, like the triumph of the entrepreneurial ethos in nineteenth-century England, or the rise of Voltairean scepticism in eighteenth-century France, or the disappearance of Puritanism after 1660. There is a wind of change in Britain and much of the rest of the democratic world – and it comes from the right, not the left.

Als Symptome des Epochenwechsels interpretierte er nicht nur den angeblich überall in der westlichen Welt zu beobachtenden Aufschwung konservativer Parteien, sondern vor allem auch tektonische Verschiebungen in der britischen Innenpolitik: Der alte keynesianische Konsens sei zerbrochen und diskreditiert; die Bedrohung durch den Terrorismus gewinne einer Law and Order-Politik täglich neue Anhänger; und in der Bildungswie in der Sozialpolitik verspüre man die zunehmende Bereitschaft breiter Teile der Bevölkerung, nach dem Scheitern zentralistisch-egalitärer Konzepte neue Wege zu gehen. „If this assessment of a changing intellectual climate is anywhere near to reality, then the Conservatives have an excellent chance of recovering power, and of doing so on the basis of a new orthodoxy replacing the old one created in the war years, a new concept of the relationship between government and people.“353 Blakes Kollege Maurice Cowling aus Cambridge erklärte zwei Jahre später die Ära eines wohlfahrtsstaatlichen, interventionistischen Konservatismus für endgültig beendet. In den vergangenen zehn Jahren, so schrieb er, habe sich das intellektuelle Klima verändert. „The change is here to stay. There can be no going back on the intuition that what Conservatism should mean in the seventies and eighties is an attempt [. . .] to give political form to the idea of ‚rolling back the frontiers of the state‘.“354

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GILLIAN PEELE, Revival and Reaction, Oxford 1984, S. 21. BLAKE, Climate, S. 4, 7. MAURICE COWLING (Hrsg.), Conservative Essays, London 1978, S. 14.

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

Thatcher selbst verband den Optimismus der „Neuen Rechten“ mit dem ihr eigenen Kampfeswillen und dem unerschütterlichen Glauben an die Tugenden des britischen Volkes. In ihren Reden deutete sie die Krise des Landes als Kriegserklärung des Schicksals, als Herausforderung an Entschlußkraft und Siegeswillen. Sie glaube nicht, daß der britische Niedergang unaufhaltsam sei, erklärte sie auf ihrer ersten Parteikonferenz als ToryChefin. „I believe that if we confront reality – yes, confront is the word I use – if we confront reality, if we pin our trust on the skill, the resource, and the courage of our people, then this country can work out its salvation and regain its prosperity, regain the respect of others and its own selfrespect.“355 Solange noch kein Ruck durch das Land ging, sah Thatcher ihre Aufgabe darin, ihn herbeizureden. Alle Berichte über Großbritannien betonten völlig zu Recht, wie ernst die Lage immer noch sei, sagte sie in einer Rede in Washington. „But a change is coming over us. In every generation there comes a moment to choose. For too long we have chosen the soft option. And it has brought us pretty low. I see some signs that our people are ready to make the tough choice; to follow the harder road.“356 Mut schöpfte sie dabei aus ihrer Interpretation der europäischen Geschichte. In einer Ansprache vor der Templeton Foundation bezeichnete sie die Willenskraft, nach einer Niederlage wieder aufzustehen, als wichtigstes Wesensmerkmal dieser Geschichte. In ihrer Deutung erschien der Phönix aus der Asche als passendes Wappentier der europäischen Nationen. Historically, we know that great European civilizations have arisen and then declined. Each has been dominated by people of great vigour and confidence. And then somehow, those qualities which gave that culture its vitality and inspiration seemed gradually to wither. But it would be wrong to look at the history of Europe as a history of repeated decline. For each time, a new civilisation arose. Rather it is a testimonial to the strength and inspiration of the human spirit.357

Spätestens seit Anfang 1977 schien Thatcher an den Beginn einer neuen Ära, an einen tiefgehenden Wandel des Meinungsklimas zu glauben. Der Zürcher Wirtschaftsgesellschaft erklärte sie im März des Jahres: „Had I spoken to you last year, I should have expressed faith in our nation and civilization, and its capacity for survival. But today, I can offer more than faith, I bring you optimism rooted in present-day experience. I have reason to believe that the tide is beginning to turn against socialism, statism, dirigism, whatever you 355 356 357

Am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag in Blackpool; abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–27 (S. 22); auch abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 33). Am 19. September 1975 vor dem National Press Club in Washington: News Service 788/75, S. 7. Am 13. April 1976 vor der Templeton Foundation: News Service 400/76, S. 4.

2. Margaret Thatcher und die „Neue Rechte“

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call it.“ Der Gezeitenwechsel sei die Folge angestauter Enttäuschungen über die Fehlschläge des Sozialismus. Immer mehr Intellektuelle würden erkennen, daß es dem Sozialismus weder in der extremen Form des Bolschewismus noch in seinen gemäßigteren Ausprägungen gelungen sei, die Erwartungen, die er weckte, einzulösen. „The tide flows away from failure“, konstatierte sie, fügte aber in einer charakteristischen Wendung hinzu, das bedeute nicht, daß sich automatisch alles zum Guten wende. Schon manche Chance sei im Verlauf der Geschichte verpaßt worden, es komme darauf an, die Gelegenheit zu nutzen. It is up to us to give intellectual content and political direction to these new dissatisfactions with socialism in practice, with its material and moral failures; to convert disillusion into understanding. If we fail, the tide will be lost. But if it is taken, the last quarter of our century can initiate a new renaissance matching anything in our island’s long and outstanding history.358

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Am 14. März 1977 vor der Wirtschaftsgesellschaft der Universität Zürich, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 21–30 (S. 22); auch abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 48–57 (S. 49).

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III. Der Aufschwung der „Neuen Rechten“

1. Der Konflikt mit den innerparteilichen Gegnern

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IV. WIDERSTÄNDE GEGEN DEN THATCHER-KURS UND IHRE ÜBERWINDUNG 1. DER KONFLIKT MIT DEN INNERPARTEILICHEN GEGNERN A)

THATCHERS SCHWÄCHEN

Wenn man Thatchers Zeit als Oppositionsführerin betrachtet, darf man nicht den Fehler begehen, in Kenntnis der weiteren Entwicklung allzu sehr den Auftrieb zu betonen, den die Tory-Chefin durch die Erosion der Nachkriegsordnung und das Aufkommen der „Neuen Rechten“ erhielt. Vielmehr muß man sich auch vor Augen führen, in welch schwieriger Lage sie sich nach ihrem Überraschungserfolg im innerparteilichen Machtkampf befand. Das begann bereits damit, daß sich die weithin unbekannte, unerfahrene Parteiführerin in der Auseinandersetzung mit der Labour-Partei im Unterhaus als ernstzunehmender politischer Gegner zu erweisen hatte. Gegen Premierminister Wilson, einen rhetorisch versierten und taktisch geschickten Debattenredner, wäre diese Aufgabe niemandem leicht gefallen, zumal die Spielregeln der parlamentarischen Question Time, des jeden Dienstag und Donnerstag stattfindenden Rededuells zwischen Regierungschef und Oppositionsführer, den Premierminister begünstigten.1 Thatcher tat sich im Umgang mit ihrem Kontrahenten, der sie mit einer galanten Herablassung zu behandeln pflegte, besonders schwer.2 Von Thatchers späterer Dominanz und Selbstsicherheit im Umgang mit dem Parlament war zu dieser Zeit wenig zu spüren. Vielmehr wirkte sie nervös und angespannt, sorgfältig darauf bedacht, keinen Fehler zu begehen. Sie riskiere nie etwas, notierte die Labour-Politikerin Barbara Castle im August 1975 zufrieden in ihrem Tagebuch, [she] just sits there listening to Harold with a carefully modulated look of disapproval on her face, then produces one regulation intervention per Question Time. When she is ready for this great act she starts to lean forward slightly and an atmosphere of „wait for it“ builds up behind her. When finally she rises our chaps cheer ironically. She ignores them and fires her shaft. It never completely misses but is

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Vgl. BRUCE-GARDYNE, Thatcher, S. 4. „Experienced, wily, quick thinking, armed with an excellent memory, Harold Wilson was a difficult man to beat at the despatch box“, erinnerte sich ein Anhänger Thatchers später. „Margaret, although intellectually several classes ahead of him lacked his wide experience and ability to turn a difficult question with a joke. Her strength was in the strength of her case, not in her parliamentary style“; TEBBIT, S. 144.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

never (or very, very rarely) deadly. The lads behind her cheer lustily. Once again their tame bird has laid her egg.3

Thatcher fehlten zu dieser Zeit beinahe alle Eigenschaften, die einen guten Unterhausredner ausmachen: Spontaneität, Improvisationsgabe und Humor gehörten nicht zu ihren Stärken. Gegenüber dem entspannten, geistreich-ironischen Auftreten Harold Wilsons nahm sie sich oft genug wie eine Musterschülerin aus, die sich gründlich auf eine Prüfung vorbereitet hat, jedoch nicht die erhoffte gute Note erhält. Als Wilson im März 1976 zurücktrat und von Callaghan abgelöst wurde, verbesserte sich die Lage für die Tory-Chefin nur wenig. Auch der neue Premier behandelte sie von oben herab, wenn auch mit der für ihn typischen onkelhaft-freundlichen Art.4 Selten gelang es Thatcher, schlagfertig zu reagieren. Sie sprach ungern im Parlament und beschränkte sich auf die protokollarisch unumgänglichen Anlässe wie die Queen’s Speech bei der jährlichen Eröffnung des Parlamentsjahres im November, die Erwiderung auf die Budgetrede des Schatzkanzlers und Entgegnungen auf Stellungnahmen des Premierministers nach internationalen Gipfeltreffen. Ansonsten überließ sie es ihren Schattenministern, für die Opposition im Parlament zu sprechen.5 Hinzu kam, daß es Thatcher vielfach schlicht an Kenntnissen und Routine mangelte. Ihre Kontrahenten Wilson und Callaghan blickten auf jahrzehntelange Erfahrungen in höchsten Partei- und Regierungsämtern zurück. Callaghan hatte sogar alle drei großen Ressorts, das Schatzamt, das Innenund das Außenministerium, geleitet, bevor er Premierminister wurde. Thatcher hingegen hatte vor ihrer Wahl zur Tory-Chefin lediglich dreieinhalb Jahre an der Spitze des Bildungsministeriums gestanden, das noch dazu eher am Rande des allgemeinen politischen Interesses lag und wenig Berührungspunkte mit anderen Ressorts besaß. Obwohl sie hart arbeitete und sich gründlich auf ihre Parlamentsauftritte vorbereitete, ließ sich der Wissensvorsprung ihrer Kontrahenten nicht ohne weiteres aufholen. Thatchers Unerfahrenheit und Unsicherheit im Unterhaus fand ihren Niederschlag in den Ergebnissen der Meinungsumfragen, in denen regelmäßig die Beliebtheit der Spitzenpolitiker eingeschätzt wurde. Nach einem

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Tagebucheintrag vom 5. August 1975, in: CASTLE, Diaries 1974–76, S. 487. Vgl. auch die Eintragungen vom 12. Februar, 11. und 22. Juli 1975, 16. März 1976, ebd., S. 310, 448, 473, 692. Sie werde besser verstehen, was unter Freiheit zu verstehen sei, versicherte er ihr zum Beispiel bei einem ihrer ersten Aufeinandertreffen im Parlament, „[w]hen the right hon. Lady has been Leader of the Opposition longer [. . .] and she will be that for a very long time“; am 8. April 1976 im Unterhaus; Hansard Vol. 909, Col. 631. Vgl. hierzu CAMPBELL, Thatcher, S. 344. Siehe auch THATCHER, Erinnerungen, S. 339; BRUCE-GARDYNE, Thatcher, S. 4.

1. Der Konflikt mit den innerparteilichen Gegnern

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kurzen Höhenflug unmittelbar im Anschluß an ihre Wahl zur Tory-Chefin flaute die Begeisterung der Briten für Thatcher rasch ab. Danach dümpelten Konservative und Labour mit ähnlich geringen Zustimmungsraten dahin, wie groß die Schwierigkeiten auch sein mochten, denen sich die Regierung in den folgenden Monaten und Jahren gegenübersah. Nur im Gefolge der IWF-Krise konnten Thatcher und die Tories für einige Monate wieder eine deutliche Führung von bis zu zwanzig Prozent in den Umfragen verzeichnen, die freilich schon im folgenden Frühjahr wieder schrumpfte. In den folgenden Monaten erzielte Callaghan stets höhere Zustimmungsraten als seine Kontrahentin, und im Herbst 1978 überholte auch seine Partei die Konservativen. Aller Imagepflege zum Trotz galt die Tory-Chefin vielen Befragten nicht nur als unerfahren und wenig souverän, sondern auch als allzu schrill, hartherzig und abgehoben von den Alltagsproblemen einfacher Leute.6 Die Auseinandersetzungen mit der Labour-Partei und die schwachen Ergebnisse in den Meinungsumfragen stellten keineswegs Thatchers einzige Probleme dar. Als mindestens ebenso kompliziert und konfliktträchtig erwies sich die Beziehung zu ihrer eigenen Partei, genauer gesagt: zu deren Establishment. In mancher Hinsicht war die Schwierigkeit, vor der sie stand, das Gegenstück zu den Problemen, über die ihr Vorgänger gestürzt war: Heath hatte sich zwar auf sein Schattenkabinett und die Führungsebene der Partei verlassen können, nicht jedoch auf deren Basis. Thatcher ihrerseits genoß beträchtliche Sympathien bei einfachen Mitgliedern, sah sich aber mit einer Führungsschicht konfrontiert, die ihr versteckt ablehnend bis offen feindlich gegenüberstand. „My God! The bitch has won!“, rief einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Parteiorganisation aus, als er von ihrem Sieg über Heath erfuhr.7 Er drückte damit aus, was weite Teile des Establishments empfanden. Die Partei habe den Verstand verloren, meinte Reginald Maudling am Wahltag. „This is a black day.“8 Er fand die neue Parteichefin unmöglich im Umgang, unerträglich anmaßend und engstirnig. „God help us“, seufzte er hinter vorgehaltener Hand.9 Die meisten anderen Mitglieder des Schattenkabinetts sahen das ähnlich. Er erinnere sich noch genau an dessen erste Zusammenkunft nach Thatchers Wahlsieg, erklärte ein Beteiligter, „an die langen Gesichter und wie die Leute in den Raum gestolpert

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Siehe DAVID BUTLER und DENNIS KAVANAGH, The General Election of 1979, London 1979; CAMPBELL, Thatcher, S. 318. Zit. nach RANELAGH, S. IX. Zit. nach BAKER, S. 44. So etwa gegenüber Julian Critchley; vgl. CRITCHLEY, Bag, S. 148.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

kamen [. . .] Es herrschte das niederschmetternde Gefühl vor, die Konservative Partei sei geradewegs in eine Katastrophe geschlittert.“10 Die neue Parteichefin war sich der Ablehnung, die ihr viele Angehörige der Führungsriege entgegenbrachten, vollauf bewußt. Sie habe kein Mitleid mit ihnen verspürt, erinnerte sie sich später an ihre Gefühle nach dem Sieg im ersten Wahlgang. Als sie wenige Tage später, nach dem zweiten Wahlgang, der Parteizentrale einen Antrittsbesuch abstattete, sei ihr durch den Kopf geschossen, „wie sehr einige Leute dort alles daran gesetzt hatten zu verhindern, daß ich die Führung übernahm“.11 Dennoch fühlte sie sich zu schwach, besaß zu wenig Gefolgsleute von ausreichendem politischen Format, um die Führungsebene nach ihren eigenen Vorstellungen vollständig umzugestalten. Außerdem war sie der Ansicht, nach „dem erbitterten Ringen mit Ted“ brauche man „Kontinuität, um die Partei zusammenzuhalten“.12 Sie veränderte das Schattenkabinett nur auf wenigen Positionen. Lediglich einige der exponiertesten Anhänger ihres Vorgängers wie Peter Walker, Robert Carr und Nicholas Scott verloren ihre Posten; zwei weitere, Peter Thomas und Geoffrey Rippon, erklärten von sich aus, sie stünden unter den veränderten Umständen nicht mehr zur Verfügung. Heaths übrige Gefolgsleute blieben in einflußreichen Stellungen: Gilmour als Schattensprecher für Inneres, Prior für Arbeit und Whitelaw als stellvertretender Parteiführer. Selbst einige Politiker, die Thatcher neu berief, gehörten, wie der neue Schattenaußenminister Maudling, eher in das Lager ihrer innerparteilichen Gegner – und zu jener gesellschaftlichen Oberschicht, die sie stets mit einer Mischung aus Neid, Bewunderung und Verachtung betrachtete. Ironischerweise zählten mehr Absolventen elitärer Privatschulen zu Thatchers Schattenkabinett als zu denjenigem ihres Vorgängers.13 Umgekehrt nahm sie anfangs keinen der Kritiker des Heath-Kurses in ihr Team auf, weder Ridley noch Nott oder Biffen erhielten einen Posten im Schattenkabinett.14 Auch das Verhältnis der Tories zu Powell, dessen wirtschaftspolitische Ansichten sie doch zur Leitlinie konservativer Politik erheben wollte, verbesserte sich unter ihrer Führung zunächst nicht. Sie selbst stellte sich auf den Standpunkt, Powell habe seine Partei verraten und könne daher nicht damit rechnen, wieder eine prominente Rolle bei den Konser-

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Zit. nach WAPSHOTT und BROCK, S. 201. THATCHER, Erinnerungen, S. 331, 334. Ebd., S. 337. Vgl. RAMSDEN, Winds of Change, S. 455. John Biffen berief sie erst ein Jahr später als Schattenenergieminister in ihre Mannschaft.

1. Der Konflikt mit den innerparteilichen Gegnern

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vativen spielen zu dürfen.15 Thatchers Auswahl ihres Schattenkabinetts war keine Kampfansage, sondern ein Friedensangebot. Sie wollte signalisieren, daß sie sich bemühte, ihre Partei zu einen und Gräben zu überwinden.16 Ein geschlossenes, schlagkräftiges Team schuf sie auf diese Weise nicht. Sie sei sich bewußt gewesen, schrieb sie später, „daß ich von Einigkeit nicht ausgehen konnte – auch nicht in Grundprinzipien“.17 Besonders kompliziert blieb die Beziehung zu ihrem Vorgänger, den seine überraschende Abwahl hart getroffen hatte. „They are absolutely mad to get rid of me, absolutely mad“, tobte Heath, als er von seiner Niederlage erfuhr.18 In seinen Augen war die Kür Thatchers zur Parteichefin eine unverständliche Verirrung, die nur auf eine vorübergehende geistige Umnachtung seiner Fraktionskollegen zurückzuführen sein konnte. Den Worten seines damaligen Parlamentarischen Privatsekretärs Kenneth Baker zufolge sah der abgelöste Tory-Chef in seiner Nachfolgerin nichts anderes als „a temporary bird of passage“.19 Thatcher ihrerseits verspürte wenig Neigung, Heath in ihr Schattenkabinett aufzunehmen. Gleichzeitig fürchtete sie jedoch, den Grollenden zusätzlich vor den Kopf zu stoßen, und entschloß sich daher, ihn persönlich aufzusuchen. Später schrieb sie über das Treffen: Ted saß am Schreibtisch. Er stand nicht auf; ich setzte mich unaufgefordert. Es war sinnlos, sich lange bei Vorreden aufzuhalten. Was er von den jüngsten Ereignissen und von mir hielt, war unschwer zu erraten. Ohne ihm einen bestimmten Posten anzubieten, fragte ich ihn, ob er dem Schattenkabinett beitreten würde. Er sagte nein, er bleibe auf den Hinterbänken. Damit war im Grunde alles gesagt. Ich hatte kein Verlangen, das Beisammensein zu verlängern.20

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Powell seinerseits erwiderte, er habe gar kein Interesse an einer Zusammenarbeit. Denn erstens sei er kein Mitglied der Partei mehr, „and, secondly, until the Conservative party has worked back a very long way it will not be rejoining me“; zit. nach HEFFER, S. 747. Thatchers Sieg über Heath kommentierte er mit der boshaften Bemerkung, wenn man jemanden suche, der in den Schmutz getretene Grundsätze wieder aufrichte, suche man ihn doch nicht unter denjenigen, die mitgetrampelt hätten; vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 235. Zum gespannten Verhältnis zwischen Thatcher und Powell vgl. auch The Times, 14. Januar 1976. Einige von Thatchers Beratern hielten die Zurückhaltung für einen Fehler, der in ihren Augen zeigte, daß die Parteiführerin zu diesem Zeitpunkt selbst glaubte, sie sei nur durch Zufall an die Parteispitze gelangt und daher nicht berechtigt, frei zu schalten und zu walten; so etwa COSGRAVE, First Term, S. 34. THATCHER, Erinnerungen, S. 347. So jedenfalls der Labour-Fraktionschef Cledwyn Hughes gegenüber seinem Parteifreund Tony Benn; siehe Tagebucheintrag vom 18. Februar 1975, in: BENN, Tide, S. 319. BAKER, S. 45. THATCHER, Erinnerungen, S. 338.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

In Heaths Erinnerung nimmt sich der Ablauf des Treffens ein wenig anders aus. Er habe, schreibt er in seinen Memoiren, am Morgen nach dem Wahlsieg eine Nachricht an seine Nachfolgerin geschickt, in der es hieß, „that I had decided that I did not wish to join the Shadow Cabinet for the time being“. Es habe ihn daher sehr überrascht, daß Thatcher wenig später plötzlich in seiner Wohnung aufgetaucht sei. In dem anschließenden Gespräch habe er ihr gratuliert, und sie habe ihn um Rat gebeten, wie sie sich der Presse gegenüber verhalten, wie sie insbesondere die wöchentliche Pressekonferenz im Unterhaus gestalten solle. Zu keiner Zeit aber, so Heath, „did she invite me to become a member of the Shadow Cabinet or to play any part on her front bench.“21 Da außer den beiden Beteiligten und Heaths Privatsekretär Tim Kitson niemand an dem Gespräch teilnahm, wird sich sein Ablauf nie genau rekonstruieren lassen. Allen Widersprüchen zum Trotz sind die wichtigsten Tatsachen jedoch unbestritten: Das Klima zwischen den beiden Politikern war inzwischen so eisig geworden, daß keiner mehr als nötig mit dem anderen zu tun haben mochte. Thatcher gab später offen zu, sie habe insgeheim gehofft, „daß er mein Angebot ausschlagen würde“.22 Heath wiederum verhehlte nicht, daß für ihn ein Eintritt ins Schattenkabinett nicht in Betracht kam. „I felt both disillusioned towards the party and apprehensive about the future of our country“, schrieb er später. „All of my hard work and achievements were threatened, and I had to work out in my own mind what role I could establish for myself in the years ahead.“23 Die Rolle, die er schließlich wählte, ähnelte derjenigen Charles de Gaulles in Colombey-les-deux-Églises – mit dem Unterschied, daß sich Heaths Exil nicht in der Provinz befand, sondern im Herzen der Hauptstadt. „I’m in reserve“ 24, ließ er wissen und verfolgte das politische Geschehen von seinem neuen Sitzplatz auf den konservativen Hinterbänken aus zunächst mit grimmigem Schweigen, schon bald aber auch mit spitzen Bemerkungen in Richtung seiner Nachfolgerin. Im April 1975 warnte er auf einer Konferenz der konservativen Jugend vor einem Rechtsruck seiner Partei.25 Auf vielen Politikfeldern, so gab er mehrfach zu verstehen, vertrat er Ansichten, die sich von Thatchers Position grundlegend unterschieden: Er begrüßte größere Autonomierechte für Wales und Schottland, sie war dagegen; er be21 22 23 24 25

HEATH, Course, S. 536–7. THATCHER, Erinnerungen, S. 337. HEATH, Course, S. 537–8. Das Zitat wird überliefert von Tony Benn, der sich auf Cledwyn Hughes beruft; siehe Tagebucheintrag vom 18. Februar 1975, in: BENN, Tide, S. 319. Vgl. The Times, 6. April 1975.

1. Der Konflikt mit den innerparteilichen Gegnern

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tonte die Notwendigkeit einer Lohnpolitik, sie deren Gefahren; er war ein enthusiastischer Befürworter der europäischen Integration, sie zu diesem Zeitpunkt allenfalls eine lustlose Mitläuferin.26 Mit sichtlichem Behagen beobachtete Heath, wie seine öffentlichen Stellungnahmen in Reden und Interviews seine Nachfolgerin in eine Verlegenheit nach der anderen stürzten. „I think“, schrieb ihm 1976 sein ehemaliger Parlamentarischer Privatsekretär Douglas Hurd, „you have quite enjoyed being a volcano on the edge of the plain, watching the tribesmen scurry about when you erupt“.27 Tatsächlich stellten Heaths Ausbrüche für die Tory-Chefin eine große Gefahr dar. Es gelang ihm, sich auf diese Weise als eigenständige politische Größe und als potentielle Alternative im Gespräch zu halten.28 Viele fragten sich, ob Thatcher ihr erstes Jahr als Oppositionsführerin überstehen würde. „The lady will not do“, prophezeite der Führer der Liberalen Partei Jeremy Thorpe im Sommer 1975.29 Wenig später sammelten sich prominente Thatcher-Gegner, unter ihnen Peter Walker und Robert Carr, in der sogenannten Tory Reform Group, deren Ziel es war, die Partei wieder auf den Pfad einer gemäßigten, pragmatischen Politik der Mitte zurückzuführen. Thatcher betrachtete man als „an unfortunate although possibly necessary interlude“, wie ein Mitglied der Gruppe es formulierte, „which allows the party to get the bile out of its system before – regrettably after another election defeat first – it can settle back into a normal orthodox pattern once more.“30 Etwa zur gleichen Zeit konnte man in diversen Zei-

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Vgl. hierzu THATCHER, Erinnerungen, S. 386, 396–8, 487; HEATH, Course, S. 546, 564–7, 570. Vgl. auch The Times, 18. November 1976 (über Devolution) und vom 20. Oktober 1978 (über Lohnpolitik). Zit. bei HEATH, Course, S. 552. In seinen gelegentlichen Debattenbeiträgen im Unterhaus grenzte er sich gewöhnlich von der Linie seiner eigenen Partei ebenso ab wie von der Labour-Regierung. Nach einem dieser Auftritte, bei dem sich Heath gegen die Wirtschaftspolitik Wilsons ausgesprochen, aber auch die Rezepte der Oppositionsführerin abgelehnt hatte, vermerkte Barbara Castle in ihrem Tagebuch: „Margaret sat with her air of knowing primness, immaculately groomed as usual, in a new dress. The general view was that she flopped yesterday. [. . .] Later the House was buzzing with excitement about Ted Heath’s speech – by common agreement the best he ever made. Apparently it made Margaret look like a tinny amateur and speculation began to circulate as to whether she could survive“; Tagebucheintrag vom 22. Juli 1975, in: CASTLE, Diaries 1974–76, S. 473. Zit. nach Tagebucheintrag vom 11 Juli 1975, ebd., S. 458. Die Tory Reform Group war ein Zusammenschluß verschiedener Gruppen des linken Flügels der konservativen Partei – darunter „PEST“ (Pressure for Economic and Social Toryism), die Iain Macleod Group und „STAG“ (Social Tory Action Group); vgl. NORTON und AUGHEY, S. 236–7; PATRICK SEYD, Factionalism in the 1970s, in: LAYTON-HENRY (Hrsg.), S. 239. Die Äußerung des anonymen Mitglieds der Gruppe ist zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 317.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

tungen lesen, die Tory-Partei werde die neue Parteiführerin nicht lange an ihrer Spitze dulden. Sie sei eine Übergangsfigur, eine Zwischenlösung bis zu den nächsten Wahlen.31 Auf die eine oder andere Weise werde man sich ihrer entledigen und dann zum normalen Gang der Dinge zurückkehren, glaubten viele Konservative. „In the better class of political dining-room she rapidly became an object of derision“, schrieb einer ihrer Anhänger später, „and the speculation turned around the identity of her successor when she had lost the next election. Members of her Shadow Cabinet indulged in analyses of her character as the port was circulating.“32 Manche Angehörige des Parteiestablishments bezweifelten sogar, daß man bis zu den nächsten Wahlen warten müsse. „She’ll be gone by Christmas“, lautete eine oft geäußerte Vermutung, „and after Christmas sanity will return and we’ll have Willie Whitelaw, and all will be well“.33 Auch als Weihnachten verstrich und Thatcher weiterhin an der Spitze der Partei stand, erschien vielen Beobachtern ihre Aussichten, jemals Premierministerin zu werden, fragwürdig. Die Labour-Politikerin Shirley Williams glaubte im Sommer 1976 immer noch, „[that] Mrs Thatcher would be out by the end of the year, that the Tories would simply not accept her“.34 Wenn Labour-Abgeordnete ihre konservativen Kollegen fragten, ob Thatcher nach einer Wahlniederlage gestürzt werden würde, antworteten diese gutgelaunt: Oh ja, wir sind viel weniger großzügig als ihr.35 Selbst im Spectator konnte man lesen, Thatcher habe bislang als Parteiführerin keine nennenswerten Spuren hinterlassen, „and such impact as she has made has been, on the whole, rather unfortunate“.36

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„Even if she wins an Election“, erklärten Freunde von Heath in privaten Gesprächen, „there will be a coup d’état between the Election and the formation of the government and someone else will be Prime Minister“; so Sandy Much, ehemaliger Präsident der schottischen Konservativen zu Tony Benn: Tagebucheintrag vom 16. Juli 1975, in: BENN, Tide, S. 420. BRUCE-GARDYNE, Thatcher, S. 4. Zit. nach RANELAGH, S. 157; vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 397. So jedenfalls Tony Benn: Tagebucheintrag vom 11. Juni 1976, in: BENN, Tide, S. 579. So der Tory-Abgeordnete William van Straubenzee zu Tony Benn: Tagebucheintrag vom 20. Juli 1977, in: BENN, Conflict, S. 196–7. Die Tory-Chefin selbst sah das genauso. Sie war überzeugt, ihre Partei werde ihr höchstens eine Gelegenheit geben, eine Unterhauswahl zu gewinnen. „I’ll only be given the chance to win or lose one“, sagte sie in einem Interview im Februar 1979. „If we win, I’ll have a chance of another“; siehe The Observer, 18. Februar 1979. Spectator, 19. Juni 1976, S. 4.

1. Der Konflikt mit den innerparteilichen Gegnern B)

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DIE WELTSICHT DER GEMÄSSIGTEN KONSERVATIVEN

Die Auseinandersetzung zwischen Thatcher und weiten Teilen des ToryEstablishments hing nur zum Teil mit persönlichen Animositäten, enttäuschten Hoffnungen und unvereinbaren Temperamenten der Protagonisten zusammen. Vor allem wurzelte der Konflikt in grundverschiedenen Auffassungen vom Wesen, den Aufgaben und der Tradition der Konservativen Partei. Thatcher und ihre Anhänger sahen die Bestimmung der Partei darin, mit Überzeugungskraft und Willensstärke einen anti-sozialistischen Feldzug für Individualismus, Freiheit und Marktwirtschaft zu führen. Ihre innerparteilichen Opponenten dagegen hielten Mäßigung, Flexibilität und Pragmatismus für die Wesensmerkmale des britischen Konservatismus. Sie selbst bezeichneten sich als moderates, von Thatchers Parteigängern wurden sie bald als wets verunglimpft.37 Wie immer man sie auch nennen mochte, die meisten Gegner Thatchers fühlten sich nicht nur als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe, sie verfügten auch über eine gemeinsame Weltsicht, die sich fundamental von derjenigen ihrer neuen Parteichefin unterschied. Sie sahen sich als Vertreter der ganzen Nation, nicht einzelner Klassen und hielten den harmonischen Ausgleich divergierender Interessen für die wichtigste Aufgabe der Politik. Das Wohlergehen der Nation und die Kontinuität des Staates erklärten sie zur Leitlinie konservativer Politik. Ideologien und politische Weltanschauungen traten demgegenüber in den Hintergrund. Sie konnten, ja sie mußten je nach Bedarf gewechselt, der Realität angepaßt werden.38 Die moderates warfen ihrer neuen Parteiführerin vor, die traditionellen Grundwerte der Partei aufzugeben und eine Ideologie, nämlich den Wirtschaftsliberalismus, an ihre Stelle zu setzen. Damit unterscheide sie sich letztlich kaum von den Sozialisten, die ebenfalls ihrem Glauben an ökonomische Gesetzmäßigkeiten alles andere unterordneten. „Political ideology, be it laissez-faire capitalism or state Socialism, is at best irrelevant to our needs, and at worst positively dangerous to our wellbeing as a nation“, konstatierte der Unterhausabgeordnete David Knox, ein aus der Organisation 37

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Der Ausdruck läßt sich im Deutschen mit „Waschlappen“ oder „Weichei“ nur sehr unzureichend wiedergeben. Er stammt aus dem Wortschatz von Schuljungen und bezeichnet einen jämmerlichen Feigling, der es nicht wagt, etwas Unartiges zu tun. „The zenith of wetness“, so Nicholas Ridley in seinen Erinnerungen, „is when somebody is described as ‚so wet you could shoot snipe off him‘“; RIDLEY, S. 173. Vgl. LAWSON, S. 27. „Conservatism is not so much a philosophy as an attitude“, hatte Hailsham schon in den fünfziger Jahren in seinem einflußreichen Buch „The Conservative Case“ geschrieben; LORD HAILSHAM (ehemals: QUINTIN HOGG), The Conservative Case, überarb. Aufl. London 1959), S. 15–6.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

der Jungkonservativen hervorgegangener Wortführer der moderates, in einer Rede vor der Tory-Reform Group. „Indeed, throughout history, more evil has been perpetrated in the name of political ideology than almost any other reason.“39 Douglas Hurd, ehemals einer der engsten Mitarbeiter von Heath, stellte in deutlicher Anspielung auf Thatcher fest, Großbritannien könne nicht dogmatisch oder allein mit Willensstärke regiert werden. Wie wohlbegründet das Dogma, wie stark der Wille auch sein möge, das Land könne man nur lenken, indem man auf ganz unterschiedliche Ansichten und Einstellungen Rücksicht nehme, sie gelten lasse und einbinde.40 Peter Walker, ein anderer Vertrauter des alten Parteichefs, betonte, daß die Tories niemals eine extreme Partei gewesen seien, sondern sich stets bemüht hätten, den Mittelweg zu finden, der allein die Einheit der Nation gewährleiste.41 Wenn die „Neue Rechte“ Friedman und von Hayek für sich entdecke, schrieb William Waldegrave, ein anderer Vertrauter Heaths, finde sie nicht den wahren Konservatismus wieder, sondern den wahren Liberalismus. [T]o maintain that the Conservative tradition [. . .] is nothing without a belief in a primary role for the community and a decisive role for the state [. . .] and above all to remind Conservatives that no single intellectual system, learned from books, can match the subtlety of a society made up of relationships of millions of people grouped in myriads of communities“42

Knox’, Hurds, Walkers und Waldegraves Kritik kam von den Hinterbänken der Tory-Fraktion im Unterhaus und war für Thatcher zwar unangenehm, aber nicht gefährlich. Bedrohlich wurde sie erst durch den Umstand, daß die Unzufriedenen über wichtige Gesinnungsgenossen innerhalb des Schattenkabinetts verfügten, die nicht zögerten, ihre Ansichten ebenfalls öffentlich vorzutragen. Ian Gilmour etwa, im Schattenkabinett zunächst Sprecher für Inneres, später für Verteidigung, publizierte 1977 unter dem Titel Inside Right sein politisches Glaubensbekenntnis, in dem er, ohne die Parteichefin ausdrücklich beim Namen zu nennen, hart mit dem Thatcher-Kurs ins Gericht ging. Anders als für Sozialisten, schrieb Gilmour, gebe es für Konservative weder ein zukünftiges Utopia noch ein untergegangenes Goldenes Zeitalter, auf das sie ihre Politik ausrichteten. „Similarly, there is no discer-

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Am 14. Mai 1977 vor der Tory Reform Group, zit. nach TREVOR RUSSEL, The Tory Party. Its Policies, Divisions and Future, Harmondsworth 1978, S. 163. DOUGLAS HURD, An End to Promises. Sketch of a Government, London 1979, S. 140. „The tradition of the Tory Party is not that of a doctrine of left or right, but it is an essentially pragmatic approach to the problems facing the nation“; am 20. September 1975 vor der Tory Reform Group; zit. nach RUSSEL, S. 163. WILLIAM WALDEGRAVE, The Binding of Leviathan: Conservatism and the Future, London 1978, S. 46.

1. Der Konflikt mit den innerparteilichen Gegnern

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nible fixed or ‚golden‘ policy to which the Conservative Party could or should return“, fügte er mit einem Seitenhieb auf Thatchers Vorliebe für das viktorianische Zeitalter hinzu. Daher dürfe man von konservativer Politik auch keine ideologische oder programmatische Konsistenz erwarten. Harmonie, nicht Gleichklang sei das Ziel der Tories. Die Konservative Partei sei in ihrer Geschichte immer stärker an der Kontinuität des Staates interessiert gewesen als an der Kontinuität ihrer eigenen Politik. Kein britischer Konservativer habe jemals ein geschlossenes Gesellschaftsbild, geschweige denn eine Ideologie hervorgebracht. Diese Ablehnung gegenüber einem Denken in Systemen beruhe darauf, daß praktische Erfahrung gelehrt habe, welchen Schaden politische Systeme schon angerichtet hätten. Für jeden Versuch, ein derartiges System zu verwirklichen, müsse man letztlich auf Gewalt und Diktatur zurückgreifen. Statt dessen komme es darauf an, flexibel auf die ständige Veränderung der Gesellschaft zu reagieren. „[T]hroughout the economic and political field, conservatives see that the facts change, and they believe that theories and policies should change with them.“ Aus diesem Grunde lehnten sie den Wirtschaftliberalismus à la Hayek ab: „Liberalism is Conservatism dogmatized, and therefore distorted.“43 Für Gilmour waren die Begriffe „Ideologie“ und „Klasse“ untrennbar miteinander verbunden. Daher konnten die Tories seiner Ansicht nach nur dann eine wahrhaft nationale Partei bleiben, wenn sie „free from ideological infection“ blieben. Das hieß, sie mußten Skepsis, Flexibilität und Anpassungsbereitschaft über sture Prinzipientreue stellen.44 Thatcher und ihre Gefolgsleute bestritten die Bedeutung der konservativen Traditionen für ihre Partei nicht. Sie hatten freilich ganz andere Vorstellungen von ihr als die moderates. Ihrem Geschichtsverständnis nach war das keynesianisch-wohlfahrtsstaatliche Denken der Nachkriegszeit eine verhängnisvolle Abkehr von konservativen Prinzipien, den Wirtschaftsliberalismus hingegen sahen sie als wesentlichen, wenn nicht sogar wichtigsten Bestandteil der Parteihistorie.45 Für gemäßigte Tories stellte sich die Geschichte des britischen Konservatismus genau umgekehrt dar. Im wirt-

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GILMOUR, Right, S. 37, 39, 111–7. Der Konservatismus britischer Prägung ließ sich für Gilmour nur negativ definieren: „British Conservatism [. . .] is not an ‚-ism‘. It is not an idea. Still less is it a system of ideas. It cannot be formulated in a series of propositions, which can be aggregated into a creed. It is not an ideology or a doctrine. It is too much bound up with British history and with the Conservative Party“; GILMOUR, Right, S. 121. Siehe etwa COLERAINE, Conservatives; BLAKE, Conservatism. In diesem Sinne auch WILLIAM HAROLD GREENLEAF, The British Political Tradition, Bd. 2: The Ideological Inheritance, London 1983, S. 193–4.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

schaftsliberalen Erbe des 19. Jahrhunderts erblickten sie lediglich einen Teil – und nicht einmal den wichtigsten – der Parteigeschichte.46 Thatcher und ihre Anhänger, die an diesen Traditionsstrang anknüpfen wollten, repräsentierten die dunkle Seite der Parteigeschichte. Sie verkörperten jene Reaktionäre, „whose grip on the levers of power has usually been short-lived, and whose control over the Tory Party’s thinking has been steadily and inevitably diminishing since the war.“47 Die pragmatische Reformpolitik der Nachkriegszeit unter Macmillan, Home und später auch Heath setze hingegen die ideologiefeindliche, skeptisch-maßvolle Traditionslinie des wahren Toryismus fort, die 1846 mit der Abschaffung der Corn Laws durch Peel begonnen habe, über Disraelis Wahlrechtsreform von 1867, Baldwins und Chamberlains sozialreformerische Ansätze der dreißiger Jahre bis hin zu Churchills Kooperation mit der Labour-Partei in der Kriegskoalition reiche.48 Als wichtigster historischer Bezugspunkt galt den gemäßigten Konservativen Benjamin Disraeli. Er symbolisierte für sie die Transformation der Tories zur national party, zur einzigen wahrhaft patriotischen Partei, die – über den Einzelinteressen der verschiedenen Gruppen und Klassen stehend – das Wohl der gesamten Nation im Auge hatte. Eng damit verbunden war die Idee einer Politik der nationalen Einheit, die Klassengegensätze dadurch überwand, daß sie das Los der Ärmsten zu verbessern half.49 Disraelis Wirken verdeutliche, so Walker, daß Verantwortung das zentrale Konzept des Konservatismus sei und daß Interventionen des Staates notwendig seien, um das Leid zu mildern, das von ungeplanter Industrialisierung verursacht werde. Disraeli sei „the antidote to the other two dominant philosophies of our time: the naive optimism of the Liberals and the hatefilled pessimism of Marx“.50 Der zweite wichtige Gewährsmann der moderates in der konservativen Parteigeschichte war Harold Macmillan, in dem seine Anhänger den Disraeli des 20. Jahrhunderts erblickten. Der Mittelweg zwischen laissez-faireKapitalismus und Sozialismus, den jener 1938 in seinem Buch The Middle

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Ian Gilmour am 30. Januar 1975 in Amersham, zit. in: RUSSEL, S. 164. Ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 11. Disraeli sei der erste gewesen, erklärte Knox 1977, „who enunciated one of the principles of the Party as being to elevate the condition of the people and so to create One Nation. And this principle has been the basis of Conservative politics and has motivated Conservative Statesmen ever since“; David Knox am 14. Mai 1977 vor der Tory Reform Group; zit. nach ebd., S. 163. PETER WALKER, The Ascent of Britain, London 1977, S. 35–6.

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Way skizziert hatte, erschien ihnen als hellsichtige Vorwegnahme der mixed economy und des Keynesianismus, die nach 1945 verwirklicht wurden. Er galt ihnen zusammen mit Keynes als Begründer der reformierten marktwirtschaftlichen Gesellschaft der Gegenwart, die Disraelis Traum der one nation in die Realität umgesetzt habe. Zitate aus The Middle Way standen bei Thatchers Gegnern entsprechend hoch im Kurs. „[I]f capitalism had been conducted all along“, konnte man dort etwa lesen, „as if the theory of private enterprise were a matter of principle (and all intervention by the state had been resisted) we should have had civil war long ago.“51 Diese Analyse hatte in den Augen der wets in vierzig Jahren nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt. Auch Macmillans Verhalten als Regierungschef zwischen 1957 und 1963 erschien ihnen immer noch als Vorbild für aktuelle Entscheidungen. „When faced with a choice between laissez-faire and a policy of growth“, schrieb Walker 1977, „[Macmillan] came down unhesitatingly on the side of full employment and growth. [. . .] His policies really did represent a middle way in that they secured the benefits of individualism without the burden of mass unemployment.“52 Heath und seine Anhänger versuchten nach Thatchers innerparteilichem Wahlsieg, die konservative Regierung der Jahre 1970 bis 1974 in diese Traditionslinie einzufügen, indem sie sich von den marktwirtschaftlichen Reformversuchen der beiden ersten Regierungsjahre distanzierten. Diese seien der schlechteste Teil der Regierungszeit gewesen, erklärten sie im Rückblick.53 In Wahrheit habe man sich immer dem wirtschafts- und sozialpolitischen Konsens der Nachkriegszeit verpflichtet gefühlt, „in which the basic goal of economic policy was full employment“.54 Der abgewählte Parteichef selbst machte unmißverständlich deutlich, in welcher Tradition er sich sah. Die Briten seien ein gemäßigtes und gerechtigkeitsliebendes Volk, erklärte er auf einer Wahlkampfveranstaltung im Juli 1978. After the last four and a half years they want to see a government that reflects this attitude and cares about the future. This is the tradition of the Conservative governments in which I have served under Churchill, Eden, Macmillan and Home. It was the purpose of the government over which I presided and in which Mrs Thatcher

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HAROLD MACMILLAN, The Middle Way. A Study of the Problem of Economic and Social Progress in a Free and Democratic Society, London 1938, S. 110. Zit. etwa bei GILMOUR, Right, S. 168. WALKER, Ascent, S. 25, 28. Vgl. auch Walkers „Iain Macleod Memorial Lecture“ vom 14. September 1978, der er den bezeichnenden Titel „The Middle Way Forty Years On“ gegeben hatte; abgedruckt in: DERS., Trust, S. 35–46. David Knox zit. nach HOLMES, Failure, S. 49. PRIOR, S. 71.

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and many of those now on the opposition front bench were ministers. I want to see the British people again represented in this way.55

Die deutliche Distanzierung von dieser Tradition, die Thatcher und Joseph erkennen ließen, hielten die gemäßigten Konservativen für moralisch verwerflich und politisch verheerend. „They want to destroy the past“, fürchtete Michael Wolff, ein wichtiger Berater von Heath.56 Gilmour warnte davor, die Parteigeschichte der zurückliegenden dreißig Jahre als Abkehr vom Pfad der Tugend zu verteufeln. Zum einen behaupte man damit implizit, daß Churchill, Eden, Macmillan, Butler, Douglas-Home, Heath und Macleod allesamt entweder töricht oder zumindest keine echten Tories gewesen seien. Außerdem müsse man sich aus wahltaktischen Gründen davor hüten, angebliche Irrtümer der Vergangenheit allzu sehr hervorzuheben. „If [a party] has been so wrong in the past, why should people flock to support it in the future?“ Drittens schließlich sei es für eine ideologie-feindliche, pragmatische, vor allem auf ihre Regierungserfolge stolze Partei wie die britischen Konservativen besonders gefährlich zuzugeben, daß man sich seit 1945 permanent geirrt habe.57 Die moderates waren überzeugt, die Tradition des wahren Toryismus zu verteidigen, wenn sie am wirtschafts- und sozialpolitischen Status quo der Nachkriegszeit festhielten. Marktwirtschaft und staatliche Interventionen in die Wirtschaft schlossen sich für sie nicht aus.58 Das Erbe des Manchesterkapitalismus, den die Nachkriegskonservativen weniger mit dem viktorianischen Zeitalter als mit der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre identifizierten, wollten sie jedenfalls nicht antreten. „We are not the party of unbridled, brutal capitalism“, erklärte Eden Mitte der fünfziger Jahre, „we are not the political children of the laissez-faire school. We opposed them decade after decade.“59 Statt dessen glaubten die gemäßigten Konservativen, ähnlich wie die britischen Sozialdemokraten, im keynesianischen Wohlfahrtsstaat die Lösung der meisten ökonomischen und politischen Schwierigkeiten der Vergangenheit gefunden zu haben. Macmillans Popularität rührte nicht zuletzt daher, daß er für viele die – im Rückblick häufig verklärte – Überflußgesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre verkörperte, die auch Arbei-

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Am 5. Juli 1978 in Penistone; zit. nach HEATH, Course, S. 568. Zit. nach COSGRAVE, First Term, S. 9. Siehe GILMOUR, Right, S. 12. „Modern Conservatism“, schrieb Quintin Hogg 1947, „inherits the traditions of Toryism which are favourable to the activity and authority of the state“; QUINTIN HOGG (später: LORD HAILSHAM), The Case for Conservatism, London 1947, S. 294. ANTHONY EDEN, The New Conservatism, London 1955, S. 11–2.

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tern Waschmaschinen, Fernsehgeräte und Ferienreisen nach Spanien beschert und auf diese Weise geholfen habe, Klassengegensätze aufzulösen. Der keynesianische Konsens der fünfziger und sechziger Jahre fügte sich, so betrachtet, bruchlos in die Tradition des one nation-Konservatismus ein. „[T]he consensus“, schrieb Gilmour, „was founded upon making capitalism work, not upon destroying it. Seemingly, therefore, it was rather more of a Tory than a socialist consensus.“ Der reine Kapitalismus hingegen sei im Lande nicht sehr viel beliebter als der pure Sozialismus.60 Heath formulierte seine Vorbehalte gegenüber einem ungebändigten Kapitalismus in einer Rede in Rom im November 1975 ganz ähnlich: „[P]rivate enterprise can hardly be said to enjoy the positive and enthusiastic backing of the majority of the British people. Instead they seem to view it with a profound indifference.“ Ein Grund hierfür liege darin, erklärte er mit einem Seitenhieb auf Thatcher, „[that] the case of private enterprise is put so stridently that it comes across as a defence of the rather crude values of early capitalism“. Der Frühkapitalismus aber habe sich durch die Rücksichtslosigkeit des Gewinnstrebens ausgezeichnet, mit der man bei der Jagd nach möglichst raschen und großen Profiten alle anderen Werte mit Füßen getreten habe. Das Fundament des Frühkapitalismus sei soziale Ungleichheit gewesen, so Heath. „The prosperity of the few depended on the poverty of the many. This concept of capitalism is hardly likely to have a wide popular appeal with a mass and mature electorate.“ Heutzutage seien die Menschen nicht mehr bereit, Arbeitslosigkeit als gottgewolltes Übel einfach hinzunehmen; sie würden politischen Erfolg nicht mehr nur anhand von Wirtschaftsdaten messen. Die Werte des Frühkapitalismus seien inzwischen durch die Forderung nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit für alle ersetzt worden.61 Für Heath und andere gemäßigte Konservative waren Marktwirtschaft und Gewinnstreben „tools to be used for the good of all individuals in society“, wie es in einer Broschüre der Young Conservatives aus dem Jahr 1973 hieß. Weil das freie Spiel der Marktkräfte nicht automatisch zu größerem Wohlstand für alle führe, hieß es dort weiter, müsse die Macht der Wirtschaft gebändigt, vom Staat eingegrenzt und zielgerichtet gesteuert werden.62 Das bedeutete, daß es Aufgabe des Staates war, bei der Steuerung der Volkswirtschaft eine aktive Rolle zu spielen, sei es direkt durch die Leitung

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GILMOUR, Right, S. 20, 131. Am 21. November 1975 bei der Konferenz über die „Zukunft des Kapitalismus“ in Rom, News Service 971/75, S. 2. „Something Old, Something New, Something Borrowed, Mostly Blue“, Greater London Young Conservatives Pamphlet, October 1973, zit. nach RUSSEL, S. 22.

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von Staatsbetrieben oder durch gesetzliche Vorgaben – etwa in Form einer Lohnpolitik –, sei es indirekt durch Vermittlung im Fall von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.63 Planung sei durchaus mit marktwirtschaftlichen Prinzipien vereinbar, schrieb Walker 1977. Staatliche Lenkung sei notwendig, um Vollbeschäftigung zu gewährleisten, die Inflation zu begrenzen und weiterreichende soziale Ziele zu verfolgen. „In a modern society, the government must elaborate national goals, let industry know its targets for the rate of growth and make clear how productive capacity may be increased to make the objective feasible.“64 Das oberste Ziel bei alldem blieb für die gemäßigten Konservativen die Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Das Massenelend der dreißiger Jahre hatte sich ihnen unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Noch vierzig Jahre später fühlten sich die Nachfolger Baldwins und Chamberlains zumindest teilweise für die Schlangen hohlwangiger und schmallippiger Gestalten verantwortlich, die sich damals vor den Suppenküchen der großen Städte gebildet hatten. Die düsteren Farben, in denen Thatcher die Folgen der Geldentwertung auszumalen pflegte, benutzten ihre innerparteilichen Gegner, wenn sie die Konsequenzen der Arbeitslosigkeit beschrieben. Diese bringe nicht nur ein beträchtliches Absinken des Lebensstandards mit sich, sondern auch ein tiefes Gefühl der Demütigung, so Knox. „It is still a dreadful thing for a man to have to go home to his wife and children and say that he has lost his job, or to tell his mates in his club or pub. It is still a dreadful thing for a man to feel he is no longer wanted, or needed.“65 Die Priorität, die Männer wie Knox dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit einräumten, war ein wichtiger Grund, warum sie zugleich den Monetarismus ablehnten. Der Staat durfte sich ihrer Ansicht nach in keinem Fall allein auf die Eindämmung der Geldentwertung konzentrieren, sondern mußte immer auch die Auswirkungen im Auge behalten, die seine Anti-Inflationspolitik auf den Arbeitsmarkt hatte.66

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„Our proposals in the economic and social sphere can hardly be interpreted as a desire to return to the referee state“, hieß es in der Flugschrift einer Vorläufer-Organisation der Tory Reform Group. „On the contrary, our ideas will involve the full and judicious use of public power.“; PEST Pamphlet „Call an End to Feeble Opposition“; zit. nach ebd., S. 19. WALKER, Ascent, S. 75. Am 7. April 1976 im Unterhaus, Hansard Vol. 909, Cols. 526–7. „A Tory would examine the political and economic consequences of a monetarist policy“, erklärte Gilmour 1975. „He might, for instance, come to the conclusion that such a policy would produce an unacceptable level of unemployment, or he might think that the pursuit of such a policy would be likely to lead to civil disturbance“; am 30. Januar 1975 in Amersham; zit. nach RUSSEL, S. 44. Derartige Einwände hörte man nicht nur von erklärten Gegnern des Thatcher-Kurses wie Gilmour, auch Politiker, die ihr durchaus Sympathien

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Ein wirkungsvoller Kampf gegen die Inflation erforderte nach Ansicht der wets ein pragmatisches und flexibles Vorgehen, das geld- und fiskalpolitische Elemente miteinander kombinierte und im Bedarfsfall auch vor einer staatlichen Lohnpolitik nicht zurückschreckte. Wer dagegen den Monetarismus als Allheilmittel pries, den hielten sie für einen gefährlichen Scharlatan.67 Allenfalls in der Opposition mochte Friedmans Konzept einen gewissen Nutzen bringen, räumte Waldegrave ein, „since it enables you to support all the pressure groups who are resisting the government of the day, and to say that they are fine Liberal fellows downtrodden by the arrogance of bureaucratic government“.68 Sobald man jedoch an die Regierung gelange, werde man sich unweigerlich derart komplexen Problemen gegenübersehen, daß die simplen Rezepturen des Monetarismus kläglich versagen müßten.69 In Thatchers und Josephs Konfrontationsstrategie gegenüber Labour erblickten die moderates kein geeignetes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Die Suche nach einem neuen common ground der Politik, die Thatcher betrieb, hielten sie für einen bloßen Vorwand, um die Konservative Partei weiter nach rechts zu rücken, womit sie sich ihrer Ansicht nach isolieren und zu pragmatischer Politik unfähig machen mußte. Den Metaphern vom common und middle ground sowie vom ratchet effect liege überdies ein schwerwiegender Denkfehler zugrunde, wie Gilmour feststellte. Politiker kämpften nicht wirklich um Geländegewinne, wie diese Bilder nahelegten, sondern um Wählerstimmen. „When they talk about occupying or appealing to the middle ground, they mean they are appealing for the support of voters who are not irremediably committed to either party. This has nothing whatever to do with literal ground.“ Wechselwähler rückten, anders als der metaphorische middle ground, gerade nicht weiter nach links, wenn der extreme Flügel der Labour-Partei stärker werde. Im Gegenteil: Sie waren dann eher geneigt, für die Tories als un-ideologische, pragmatische Partei zu stimmen.70 Aus diesem Grund müsse man unbedingt an der bewährten Strategie der Mitte festhalten. Alle Versuche, dies zu ändern,

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entgegenbrachten, warnten vor einer strikt monetaristischen Politik: „[T]he price we should pay for that would be very high. The price in terms of the level of unemployment and the level of bankruptcies in industry, the City and agriculture would be an intolerable price“; so Peter Tapsell am 6. Juli 1976 im Unterhaus: Hansard Vol. 914, Col. 1238. So Knox am 6. Juli 1976 im Unterhaus, Hansard Vol. 914, Col. 1288–93. WALDEGRAVE, S. 71. Vgl. auch Heath am 7. Juli 1976 im Unterhaus, Hansard Vol. 914, Cols. 1408–28. GILMOUR, Right, S. 130.

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schadeten den Erfolgsaussichten der Partei.71 Gilmour glaubte zudem, daß konservative Zurückhaltung auch mäßigend auf den politischen Gegner wirke. Im britischen Zwei-Parteien-System erleichtere es die Mäßigung der einen Partei auch der anderen, eine moderate Politik zu betreiben; Extremismus auf der einen Seite des politischen Spektrums werde hingegen gewöhnlich mit Extremismus auf der anderen beantwortet. „The true Conservative course therefore is to stick as closely as possible to the centre with a slight Right incline.“72 Diese Strategie der Mäßigung hatte nach Ansicht der moderates den besonderen Vorteil, einen konkreten Ausweg aus Krisensituationen aufzuzeigen: nämlich den Zusammenschluß der Gemäßigten und Vernünftigen aus beiden Parteien in einer Regierung der nationalen Einheit. Heath hatte im Oktober 1974 erstmals eine derartige Lösung vorgeschlagen, als er erklärte: „The crisis of authority in our democratic system represents a problem for any government. To tackle it, we need a broadly based government to call on the support of the whole community and protect the public interest.“73 Daher lud er „all men and women of good will“ ein, Parteigezänk und Fraktionshader hintanzustellen und in „a government of national unity“ einzutreten.74 Die Idee einer Koalitionsregierung erschien Heaths Anhängern auch in den folgenden Jahren als vielversprechende Antwort auf die aktuelle Malaise. Der Appell sei im Herbst 1974 lediglich deswegen gescheitert, weil er nicht glaubwürdig genug vorgebracht wurde, erklärte Nicholas Scott. „Throughout the history of the modern Tory Party, ‚One Nation‘ has been our most successful approach.“75 Die Koalitionsregierung der nationalen Einheit, an die sich die Hoffnungen Heaths und anderer knüpften, blieb keine bloße Gedankenspielerei. Sie schien vielmehr tatsächlich im Verlauf der Jahre 1975 bis 1979 wenigstens zweimal konkrete Gestalt anzunehmen. Die erste Gelegenheit zu Spekulationen in dieser Richtung bot sich bereits kurz nach Thatchers Wahl zur Parteiführerin im Vorfeld des Europa-Referendums vom Sommer 1975, zu dem sich die Wilson-Regierung verpflichtet hatte, um die britischen Wähler über den Verbleib des Landes in der EWG entscheiden zu lassen. Die Fron-

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„We must always defend the middle ground against attacks whether from outside or inside our party“, hatte Lord Hailsham deswegen schon 1973 festgestellt; LORD HAILSHAM (ehemals: QUINTIN HOGG), The Acceptable Face of Western Civilisation, London 1973, S. 7. GILMOUR, Right, S. 130. EDWARD HEATH, Message to Conservative Party Candidates during the election campaign (ohne Datum), in: Election Manifestos. The Conservative Party vom Oktober 1974. Conservative Election Manifesto vom Oktober 1974, zit. nach CRAIG, Manifestos, S. 215. Cambridge Reformer, Oktober 1977, zit. nach RUSSEL, S. 162.

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ten verliefen in dieser Frage quer zu den üblichen Gräben des parteipolitischen Meinungsstreits: Zu den Gegnern der EWG gehörten so gegensätzliche Politiker und Gruppierungen wie Benn und Powell, die britischen Kommunisten, Trotzkisten und Maoisten sowie die rechtsextreme National Front. Die Führung der Tories hingegen trat ebenso für einen Verbleib Großbritanniens in der EWG ein wie der sozialdemokratische Flügel der Labour-Partei. In der parteiübergreifenden Organisation der Britain in Europe-Kampagne schien die Koalition der Vernunft, auf die Heath und seine Freunde hofften, bereits Wirklichkeit geworden zu sein: das konsensbereite, kompromißgeneigte Establishment der beiden großen Parteien schloß sich in einer existentiellen Frage des nationalen Interesses gegen gefährliche Extremisten von links und rechts zusammen.76 Bezeichnenderweise überließ es Thatcher ihrem Vorgänger, den zentralen Part auf der konservativen Seite zu spielen. Heath zog als unermüdlicher Wahlkämpfer durch das Land und warb in zahlreichen Fernsehsendungen für Großbritanniens europäische Zukunft. Wer nur die Medienberichterstattung über den Referendumswahlkampf zur Kenntnis nahm, mußte den Eindruck gewinnen, Edward Heath sei immer noch die Führungsfigur der Konservativen Partei. Lob und Ruhm für den aus Sicht der Tory-Führung überraschend positiven Ausgang des Volksentscheids galten denn auch nicht der neuen Parteichefin, sondern ihrem Vorgänger.77 Entsprechend skeptisch reagierte Thatcher auf dessen wiedergewonnene Popularität. Sie fürchtete, er plane, „die aufgrund der Referendumskampagne gewonnene Position für eine Rückkehr an die Macht zu nutzen – vermutlich zu meinen Lasten“.78 Ein gutes Jahr später, auf dem Höhepunkt der IWF-Krise im Herbst 1976 lebten die Gerüchte über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit erneut auf. Thatchers aggressive anti-sozialistische Rhetorik erschien vor dem Hintergrund der sich zur Staatskrise ausweitenden Währungsturbulenzen unpassend, ja unsolidarisch, zumal sich die Labour-Regierung unter Callaghan und Healey erkennbar bemühte, schmerzhafte Sparmaßnahmen durchzusetzen. Die Öffentlichkeit erwartete von der konservativen Opposition in dieser Lage, daß sie die Regierung nicht attackierte, sondern unterstützte, sich maßvoll und verantwortungsbewußt zeigte. „Mag das

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Vgl. hierzu BUTLER und KITZINGER; STEPHEN GEORGE, An Awkward Partner. Britain and the European Community, 2. Aufl. Oxford 1994, S. 91–5. 67 Prozent der Briten sprachen sich für, 33 Prozent gegen einen Verbleib in der EWG aus; vgl. BUTLER und KITZINGER, S. 263–78. THATCHER, Erinnerungen, S. 397.

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auch löblich gewesen sein“, schrieb Thatcher später, „mein Angriffsstil litt unvermeidlich darunter.“79 Auf dem Tory-Parteitag, der Anfang Oktober 1976 in Brighton stattfand, rang sie sich zu einer eher moderaten Rede durch, die ihr selbst nicht gefiel und von den Delegierten ohne Enthusiasmus aufgenommen wurde.80 Heath dagegen, der am 6. Oktober erstmals nach seiner Abwahl wieder auf einem Parteitag das Wort ergriff, dominierte die Konferenz mit einer staatsmännisch-mahnenden Ansprache, die viel Beifall fand. Großbritannien könne sich nur dann aus seiner Malaise befreien, wenn die Nation zusammenhalte, wenn sie wieder lerne, miteinander und nicht gegeneinander zu arbeiten, erklärte er. The British used at one time to be immensely proud of the fact that they did always work together. We have lost some of that and it is that which has to be restored by leadership in this country. [. . .] It is all crying out for the opportunity of working together and re-establishing the standards which once we used to have and to show the rest of the world that we can re-establish our position and re-establish their confidence in us.81

Diese Bemerkungen wurden gemeinhin als Versöhnungsangebot an die neue Parteichefin interpretiert.82 Wer wollte, konnte sie jedoch umgekehrt auch als versteckten Aufruf zur Bildung einer nationalen Koalition unter Heaths Führung verstehen; Freunde des ehemaligen Tory-Chefs bestätigten später, er habe an der Hoffnung, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, noch lange Zeit nach seinem Sturz festgehalten.83 Heath war nicht der einzige prominente Tory-Politiker, dessen Hoffnung sich im Herbst 1976 auf eine nationale Koalition richtete. Harold Macmillan forderte Mitte Oktober in einem Fernsehinterview explizit dazu auf, ein derartiges Bündnis einzugehen. Sein 13 Jahre dauerndes beharrliches Schweigen zur aktuellen Politik brechend, erklärte der Greis, er fühle sich verpflichtet, seinen Beitrag zur Lösung der aktuellen Probleme zu leisten und zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit aufzurufen. „If this thing fails“, so Macmillan, „democracy may collapse [. . .] It will go either to the fascists or to the communists.“84 Glaubt man Thatchers Memoiren, 79 80 81 82 83 84

Ebd., S. 375. Bezeichnenderweise ist die Parteitagsrede vom Oktober 1976 in keinem der zahlreichen RedeBände Thatchers veröffentlicht. Zur Reaktion auf die Rede siehe The Times, 9. Oktober 1976. The National Union of Conservative and Unionist Associations: (94.) Annual Conference Blackpool, Oktober 1976 (Verbatim Report), S. 64. So etwa The Times, 7. Oktober 1976. Zit. nach BEHRENS, S. 107. BBC1 vom 20. Oktober 1976; zit. nach The Times, 21. Oktober 1976. Vgl. auch die positive Presseresonanz auf Macmillans Vorschlag, zum Beispiel im Spectator, 23. Oktober 1976, oder in der Sunday Times, 24. Oktober 1976.

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dann sah sich der inzwischen 82jährige bereits selbst als Führer eines derartigen Zusammenschlusses. „Ist der Ruf gekommen?“ soll er gefragt haben, als die Tory-Chefin ihn kurz nach dem Interview in seinem Londoner Domizil aufsuchte.85 Selbst wenn die Anekdote nicht der Wahheit entspricht, zeigt sie doch, wie hellhörig Thatcher damals auf alle Anzeichen möglicher Koalitionspläne reagierte. Sie hielt die Idee einer Koalition der Mitte, die ihrem eigenen Politikansatz diametral entgegenstand, für kein bloßes Hirngespinst, sondern für eine ernstzunehmende, potentiell bedrohliche Alternative zu ihrem Kurs. Diese Sorgen wurden noch dadurch vergrößert, daß es in ihrer Partei immer mehr Stimmen gab, die es nicht bei einer Koalitionsregierung in Krisenzeiten belassen wollten. Vielmehr verlangten sie, man solle das britische Mehrheitswahlrecht durch ein Verhältniswahlrecht, etwa nach bundesdeutschem Vorbild, ersetzen.86 Dies war eine traditionelle Forderung der Liberalen Partei, die seit Jahrzehnten klagte, das britische first past the post system sei unfair, bevorzuge die beiden großen Parteien und führe dazu, daß bei jeder Wahl Millionen Stimmen unberücksichtigt blieben. Gewöhnlich hatte die Tory-Führung diese Beschwerden mit dem Hinweis abgetan, das Mehrheitswahlrecht gebe, wenn nicht die exakten, so doch zumindest die ungefähren Proportionen der abgegebenen Wählerstimmen wieder; es begünstige zudem im Gegensatz zu anderen Wahlsystemen klare Mehrheiten und damit eine stabile Regierung. Beide Argumente konnten nach der Wahl vom Februar 1974 nur noch begrenzt aufrecht erhalten werden. Damals hatte die Labour-Partei trotz eines etwas schlechteren Stimmergebnisses mehr Parlamentssitze gewonnen als die Tories, während die Liberaldemokraten, auf die 19 Prozent der Stimmen entfallen waren, nur zwei Prozent der Unterhaussitze erhielten.87 Von klaren Mehrheitsverhältnissen und stabilen Regierungsbedingungen konnte im Großbritannien der siebziger Jahre ebenfalls keine Rede mehr sein. Das tat der Radikalität der Regierungspolitik jedoch keinen Abruch, wie das Vorgehen der Regierungen Wilson und Callaghan nach Meinung vieler Konservativer zeigte. Ange-

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THATCHER, Erinnerungen, S. 399. Macmillans offizieller Biograph Alastair Horne bekräftigt ebenfalls, „[that] doubtless in one corner of his mind he saw himself heading [the coalition government]“; siehe HORNE, Bd. 2, S. 613. Im Mai 1978 ermittelte eine Umfrage des Economist eine breite Unterstützung (68 Prozent) innerhalb der britischen Bevölkerung für eine Wahlrechtsreform. Unter Tory-Wählern sei die Mehrheit sogar größer als unter Labour-Anhängern; siehe The Economist, 13. Mai 1978. Vgl. VERNON BOGDANOR, The Fall of the Heath Government and the End of the Postwar Settlement, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 371–89 (S. 384). Siehe auch RAMSDEN, Appetite, S. 428–9.

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sichts einer Labour-Regierung, die mit 37 bzw. seit Oktober 1974 mit 39 Prozent der Wählerstimmen tiefgreifende Umgestaltungen in Staat und Gesellschaft vornahm, begannen sie sich zu fragen, wie man einer derartigen „elective dictatorship“ dauerhaft Fesseln anlegen könne.88 Die Idee einer grundlegenden Reform des Wahlrechts gewann unter gemäßigten Konservativen immer mehr Anhänger. Schon im WahlkampfManifest vom Oktober 1974 verpflichtete sich die Partei darauf, nach einem Wahlsieg eine Kommission einzusetzen, die sich mit dem Thema beschäftigen sollte.89 Zum Argument größerer Fairneß trat jetzt die Überlegung hinzu, das Verhältniswahlrecht werde besseres Regieren ermöglichen, indem es mehr Wähler einbinde, den Zwang zu Kompromiß und Konsens vergrößere und so die extremistischen Minderheiten in beiden Lagern schwäche.90 Die Einführung eines Verhältniswahlrechts nach Bonner Vorbild „would substitute the brake of a coalition government for the accelerator of immoderation“, hoffte Julian Critchley.91 Hinzu kam ein eher parteitaktischer Grund. Nur wenn sich die Tories für die Einführung des Verhältniswahlrechts einsetzten, könne eine zentristische, gemäßigte, sozialdemokratische Labour-Partei überleben, argumentierten konservative Anhänger der Wahlrechtsreform. „PR [. . .] will be the salvation of the Labour centre.“92 Andere gingen noch einen Schritt weiter und gaben offen zu, auch den Extremisten der eigenen Partei würde der aus einem Verhältniswahlrecht resultierende Zwang zu Koalition und Kompromiß Fesseln anlegen. „[E]ither operating as a minority government or as part of a coalition with the Liberals, a Tory administration would be prevented from trying to carry through the right-wing policies which Mrs Thatcher and other leading members now support.“93 Nicht alle innerparteilichen Gegner Thatchers waren Anhänger einer Wahlrechtsreform. Heath und Walker etwa hielten sich in dieser Frage

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Den Ausdruck „elective dictatorship“ prägte Lord Hailsham, selbst kein ausdrücklicher Verfechter einer Wahlrechtsreform, in seiner Dimbleby Lecture von 1976; genauere Ausführungen zu Hailshams Analyse und seinen Reformvorschlägen finden sich in: HAILSHAM, Dilemma. Siehe Conservative Manifesto 1974 in: CRAIG, Manifestos, S. 213–39 (S. 237). „[A] more proportional system would gain greater consent for Parliament and government“, argumentierte Gilmour, „because under it the majority in Parliament and government would normally have the backing of a higher percentage of the electorate“; 30. Januar 1975 in Amersham; zit. nach: RUSSEL, S. 136. Zit. nach The Times, 4. September 1975, S. 2. Schreiben von Joseph Foster an Keith Joseph vom 30. April 1975, in: CPA/NL Joseph (unverzeichnet). RUSSEL, S. 137.

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bedeckt. Umgekehrt aber gehörten fast alle Verfechter einer Reform zu den Opponenten der Parteichefin. In dem Zusammenschluß Conservative Action for Electoral Reform schufen sie sich eine eigene Organisation, die an der Parteibasis für ihre Sache warb und zugleich, beispielsweise über die parteiübergreifende Hansard Society, Fühler zu anderen Parteien und Interessengruppen ausstreckte. Ein Bericht der Hansard Society mit dem Titel Politics and Industry: The Great Mismatch konstatierte, das scharfe Gegeneinander von Regierung und Opposition bringe für die Industrie „increasingly pernicious effects“ hervor.94 In der Tat klagten immer mehr führende britische Industrielle, die mit dem gegenwärtigen Mehrheitswahlrecht einher gehende politische Instabilität mache langfristige Investitionspläne unmöglich, und setzten sich für dessen Abschaffung ein. Im ACP war man sich bereits im April 1975 sicher, daß die Wahlrechtsfrage „a major political issue“ werden würde. „[T]he subject needed to be considered seriously as a lot of industrialists now favoured proportional representation as a way of getting greater continuity into Government.“95 Der Gedanke einer grundlegenden Reform des Wahlrechts habe im Verlauf der krisengeschüttelten siebziger Jahre den Makel des politisch Abseitigen verloren, der ihm jahzehntelang anhaftete, und sich zu einer neuen Orthodoxie entwickelt, stellte der Politikwissenschaftler Vernon Bogdanor rückblickend fest. „Proportional representation was becoming an establishment cause“.96 Grund genug für Margaret Thatcher, den Reformplänen zutiefst skeptisch gegenüberzustehen. C)

THATCHERS STRATEGIEN IM KONFLIKT MIT DEN MODERATES

Da Thatcher als Oppositionsführerin von einer schwachen innerparteilichen Position aus agierte, bestand ihre Strategie im Umgang mit den Gegnern innerhalb ihrer Partei zu einem guten Teil darin, direkte Konfrontationen zu vermeiden. Sie schloß zahlreiche Kompromisse, machte Abstriche und hielt sich in brisanten Fragen zunächst bewußt zurück. Außerdem bemühte sie sich, ihren gefährlichsten Kontrahenten zu schmeicheln und nach dem Munde zu reden. Heath zum Beispiel nannte sie bei der Eröffnungs94 95 96

Hansard Society: Politics and Industry: The Great Mismatch, London 1979, S. 56. CPA/ACP (75) 137th Meeting vom 16. April 1975, S. 4. VERNON BOGDANOR, The Fall of the Heath Government and the End of the Postwar Settlement, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 371–89 (S. 385). Die einflußreichste Studie, die für eine Wahlrechtsreform warb, stammte aus der Feder von Samuel E. Finer, Gladstone Professor of Government and Public Administration in Oxford; SAMUEL E. FINER, Adversary Politics and Electoral Reform, London 1975.

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veranstaltung der konservativen Wahlkampfkampagne für das EuropaReferendum, bei der sie gemeinsam mit ihm auf dem Podium erschien, ihren „Lehrmeister“.97 Bei anderer Gelegenheit bezeichnete sie Ian Gilmour sogar als eines drei größten Genies des 20. Jahrhunderts – in einer Reihe mit von Hayek und Einstein.98 Gleichzeitig unterstrich die Parteichefin immer wieder, daß sie sich durchaus in der Tradition eines moderaten Torytums sah. Bei ihrer ersten Parteitagsrede im Oktober 1975 in Blackpool betonte sie, wie klein sie sich in der Reihe der konservativen Parteiführer der Nachkriegszeit fühle, namentlich erwähnte sie bei dieser Gelegenheit außer Churchill, Eden und Home gerade auch „Harold Macmillan, whose leadership brought so many ambitions within the grasp of every citizen“ und „Edward Heath, who succesfully led the party to victory in 1970 and brilliantly led the nation into Europe in 1973“.99 Um ihre innerparteilichen Kritiker zu beruhigen, berief sie sich in jenen Anfangsjahren gern auf Disraeli. Die Gesellschaft sei zwar nicht mehr derart in Arme und Reiche gespalten wie zu dessen Zeiten, konstatierte sie im September 1976, aber immer noch gebe es Interessenkonflikte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die man lösen müsse. „My purpose in politics is to reach towards the reconciliation of these interests, and the creation of one nation. Unlike the Marxists, I believe in the virtues – and indeed, the necessity – of peaceful change, in the gradual advance of the Civilised Society. The great features of our way of life – tolerance, kindness, compassion, good neighbourliness, and the rule of law – survive.“100 Die britischen Konservativen könnten stolz sein auf ihre Leistungen bei dem Versuch, die Lebensqualität der Bevölkerung zu verbessern, erklärte sie im Mai 1978. „From the days of our early leaders, like Robert Peel and Disraeli, the aim has been to improve the condition of the people. [. . .] Conservative Governments since have followed their lead: in improving education, housing, public health, conditions at work.“101 Ihre eigene politische Philosophie wollte sie als Anpassung von Disraelis Ideen an die gewandelten Zeitläufte verstanden wissen. Das Geheimnis der einzigartigen Kontinuität der 97

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Am 16. April 1975 bei der Eröffnung der Conservative Group for Europe’s Campaign im St. Ermin’s Hotel: News Service 314/75, S. 2. Vgl. HEATH, Course, S. 546; THATCHER, Erinnerungen, S. 396–7. Vgl. RANELAGH, S. 189. Am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag in Blackpool, in: THATCHER, Revival, S. 18–27 (S. 19), ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 30). Am 10. September 1976 bei einem Parliamentary Luncheon in Wellington, Neuseeland: News Service 832/76, S. 3–4. Ähnlich auch am 2. Dezember 1976 beim Social Services Conference Dinner im Adelphi Hotel in Liverpool: News Service 1121/76, S. 2. Am 19. Mai 1978 in der Guildhall in Worcester: News Service 687/78.

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britischen Geschichte liege in der Flexibilität begründet, mit der die Briten die immergleichen Grundsätze auf stets neue Herausforderungen anwandten, sagte sie im selben Jahr bei einem Besuch in Spanien. „As Disraeli said in 1867, at the height of a period of technical invention, ‚The question is not whether you should resist change which is inevitable, but whether that change should be carried out in deference to the manners, customs, laws and traditions of a people‘.“102 Lippenbekenntnisse wie diese verfehlten ihre Wirkung nicht. Einer ihrer Anhänger vom linken Parteiflügel schrieb im Oktober 1977 in der Times: „The shift to the right in the party in 1970 under Heath was largely rhetorical and it is the same under his successor [. . .] today.“103 Im Mai 1978 konstatierte der Economist, es sei keineswegs ausgemacht, daß Thatcher als Regierungschefin mit der Tory-Tradition einer gemäßigten Reformpolitik brechen werde. Absehbar sei aber auch das nicht. Sie bleibe ein Rätsel.104 Thatcher versuchte bewußt, den Eindruck sphinxhafter Undurchschaubarkeit zu verstärken. Trotz des absoluten Vorrangs, den Wirtschaftsfragen für sie unzweifelhaft genossen, streute sie in ihre Reden immer wieder Bemerkungen ein, in denen sie das Gegenteil behauptete. Wer das Bekenntnis zur Marktwirtschaft für das Hauptmerkmal der britischen Konservativen halte, der verwechsele das Ganze mit einem seiner vielen Teile, versicherte sie im Juli 1977. „Conservatism will, I believe, continue to be a living, growing creed long after economic controvery gives way to other issues“. In dieser Rede griff sie auch die besondere Verbindung von Tory-Partei und Gesamtnation auf, die bei ihren innerparteilichen Kritikern so beliebt war. „The Conservative Party is an integral part of the British tradition, not to be explained in abstract terms, but as part of the living flesh of the British over the generations. [. . .] We are essentially a British party.“105 Der Patriotismus, der in Sätzen wie diesen zum Ausdruck kam, bildete den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die Parteichefin mit ihren innerparteilichen Gegenspielern einigen konnte.106 Weil die Nation das einzige Kollektiv war, für das die überzeugte Individualistin Einbußen bei der Freiheit des Einzel-

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Am 21. Oktober 1978 beim ersten Nationalkongreß der Union de Centro Democratico in Madrid: News Service 1339/78, S. 4. The Times, 10. Oktober 1977. The Economist, 25. März 1978, S. 108. Am 4. Juli 1977 in ihrer Iain Macleod Memorial Lecture, abgedruckt in: in: THATCHER, Revival, S. 48–61 (S. 50, Hervorhebung im Original), ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 58–69 (S. 59–60). Siehe etwa ihre Rede am 13. Mai 1978 auf der Scottish Conservative Party Conference Rally in Perth: News Service 660/78, S. 18–19.

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nen hinnahm, appellierte sie immer dann an den Patriotismus, wenn es galt, die Kluft zwischen ihrer Freiheitsrhetorik und den kollektivistischen Prinzipien der moderates zu überbrücken. Die zweite wichtige Gemeinsamkeit fanden Thatcher und ihre Widersacher in der Innen- und Rechtspolitik. Denn eine law and order-Politik fügte sich ebensogut ins paternalistische Weltbild der gemäßigten Konservativen wie in Thatchers radikalen Populismus. Beide Seiten beriefen sich auf Edmund Burke, den Gründervater des modernen britischen Konservatismus, der gesagt hatte: „The only liberty I mean is a liberty connected with order; that not only exists along with order and virtue, but which cannot exist at all without them.“107 Vor diesem Hintergrund ist es gewiß kein Zufall, daß die Parteichefin Ian Gilmour, einen ihrer gefährlichsten Kritiker im Schattenkabinett, zunächst mit dem Innen-, später mit dem Verteidigungsressort betraute. In beiden Ämtern überwogen die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, während die Bereiche fundamentaler Meinungsverschiedenheit, etwa in der Wirtschafts- oder Arbeitsmarktpolitik, auf diese Weise außerhalb von Gilmours Zuständigkeitsbereich fielen. Eine weitere Möglichkeit, die direkte Konfrontation mit Gilmour und seinen politischen Freunden zu vermeiden, bestand für Thatcher darin, sich nicht auf detaillierte Reformvorschläge festzulegen, sondern lediglich die Grundprinzipien ihrer politischen Philosophie unermüdlich zu wiederholen. Dem ACP erklärte sie im April 1976, „that in her view it was wrong to publish in too much detail ones policies before the election“. Damit erreiche man nur, daß man sich als Oppositionspartei gezwungen sehe, seine eigene Politik zu verteidigen anstatt die Politik der Regierung zu attackieren. Thatchers Ansicht nach achteten die Wähler ohnehin nicht auf programmatische Einzelheiten, „but looked for a difference of general approach between Parties“. Als konkretes Beispiel für die Gefahren, die allzu ausführliche Politikvorschläge für Oppositionspartei mit sich bringen konnten, erwähnte sie ausdrücklich die Gesetzgebung zur Gewerkschaftsreform, die ihre Partei Ende der sechziger Jahre unter der Leitung von Heath ausgearbeitet hatte. „Few policies had been worked out in as much detail as our industrial relations policy. The details of the policy had been published months before the General Election [. . .] and yet the Act which followed the proposals extremely closely was one of the biggest failures of that period of office.“108 107 108

So etwa am 10. September 1976 bei einem Parliamentary Luncheon in Wellington, Neuseeland: News Service 832/76, S. 9. CPA/ACP (76) 144th Meeting vom 7. April 1976.

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Die von Heath – nicht nur bei der Gewerkschaftsreform – praktizierte Methode detaillierter, praxisorientierter Programmarbeit während der Jahre 1965 bis 1970 erschien der neuen Parteichefin als abschreckendes Beispiel. Heath hatte sein Schattenkabinett als Regierung im Exil begriffen, die unter seiner Führung ausführliche, nach einem Wahlsieg sofort umsetzbare Reformprogramme für alle möglichen Politikfelder erarbeiten sollte. Zu diesem Zweck waren bis zu 29 Arbeitsgruppen eingesetzt worden, in denen konservative Politiker gemeinsam mit auswärtigen Experten umfangreiche Reformvorschläge konzipierten. Gleichzeitig bemühte sich der Parteichef erfolgreich darum, grundsätzliche Diskussionen über konservative Grundprinzipien, die er für fruchtlos hielt, zu unterbinden.109 In der Partei hatte sich nach den beiden Wahlniederlagen des Jahres 1974 die Erkenntnis durchgesetzt, daß dieses Vorgehen kontraproduktiv gewesen sei. Man zitierte jetzt gern Lord Derbys Warnung, bloß keine detaillierten Vorschläge zu machen, solange man in der Opposition sei, und nahm sich vor, in Zukunft zurückhaltender zu verfahren.110 „[U]nder Heath the years 1965–70 were too busily spent by conservative leaders impaling themselves on policy hooks that, in the event, would have been better avoided“, beschrieb die Times die Stimmung bei den Tories vor dem Parteitag 1975 in Blackpool, „simply because they made immediately impossible the flexibility of tactical manoeuvre that had to be resorted to in 1971 and following years as unemployment and inflation created a double threat.“111 Thatcher wußte einen Großteil der Partei hinter sich, wenn sie Heaths Vorgehensweise auf den Kopf stellte. Sie engagierte sich viel weniger bei der Ausgestaltung der Programmarbeit, die sie weitgehend anderen überließ. Die Hauptaufgabe des Schattenkabinetts erblickte sie nicht darin, der späteren Regierungsarbeit vorzugreifen, sondern den politischen Gegner zu kritisieren, selbst möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten und im übrigen dafür zu sorgen, daß die wesentlichen Koordinaten der eigenen Politik stimmten. In der Regierungsverantwortung galt es, diese Grundgedanken auf die aktuellen politischen Probleme anzuwenden. Prinzipiendiskussionen und Grundsatzbekenntnisse hatten für Thatcher und ihre Gesinnungsgenossen darum Vorrang vor programmatischer Detailarbeit. Der Tory-Abgeordnete David Howell, der damals zu den Anhängern der Parteichefin 109

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Siehe MARTIN BURCH, Approaches to Leadership in Opposition: Edward Heath and Margaret Thatcher, in: LAYTON-HENRY (Hrsg.), S. 166–8; CHRISTOPHER PATTEN, Policy Making in Opposition, ebd., S. 15–7. Schreiben von Derby an Disraeli vom 22. September 1849, zit. nach BLAKE, Conservative Party, S. 117; vgl. auch RAMSDEN, Appetite, S. 427. The Times, 13. Oktober 1975, S. 13.

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zählte, erklärte im ACP, „that it was undesirable to publish too much detail as one was then forced to spend a lot of time defending and explaining ones own policies often in conditions different to those in which they had been first formulated but this was not at all the same as saying that there should be no clear themes“. Howell plädierte ganz im Gegenteil entschieden dafür, „that the Party should develop clear themes for example those developed in Mrs Thatcher’s recent speeches and make them stick in people’s mind“.112 Nur an den Arbeitsgruppen, den sogenannten policy groups, die Heath eingerichtet hatte, hielt Thatcher fest; ja, sie vervielfachte deren Anzahl sogar auf über neunzig.113 Freilich dienten die Gruppen unter ihrer Führung einem völlig anderen Zweck. Nicht mehr die Vorbereitung der Regierungsarbeit stand im Mittelpunkt, sondern die Einbindung und Ruhigstellung möglichst großer Teile der Partei, sowohl in der Fraktion als auch an der Basis.114 Der Wille, auch die Parteibasis in die Programmgestaltung einzubeziehen, kam in einem Rundschreiben an die Vorsitzenden der verschiedenen policy groups zum Ausdruck, das Anfang August 1975 verschickt wurde. „[O]n previous occasions the ‚party in the country‘ did feel rather left out“, hieß es darin. Zwar finde man in der National Union nicht unbedingt die größten Experten zu den jeweiligen Sachfragen; doch sei deren Beteiligung an der Tätigkeit der Arbeitsgruppen wünschenswert, weil auf diese Weise „the view of the ordinary grass roots Conservative workers“ eingebracht werde.115 Thatcher habe in der Programmarbeit tausend Blumen blühen lassen, bemerkte ein Mitarbeiter in Anspielung auf die maoistische Kulturrevolution.116 Vieles blieb dabei allerdings bewußt Wildwuchs. Selbst die Vorsitzenden der einzelnen Arbeitsgruppen wußten oft nicht, welchen Status ihre Berichte hatten und ob sie am Ende mit dem Segen der Parteiführerin

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CPA/ACP (76) 144th Meeting vom 7. April 1976. Tatsächlich war zu dem Zeitpunkt von Howells Forderung schon seit längerem eine Liste von Themen zusammengestellt worden, an denen sich die Rhetorik der Tories orientieren sollte; siehe CPA/ACP (75) 4 vom 10. Juli 1975. Vgl. „Review of the Work of the Policy Study Groups“ vom 15. April 1976, in: Sherman Papers, B3-1-1, Box 5, Folder 1, wo über sechzig verschiedene Gruppen aufgelistet sind – von der „Economic Reconstruction Group“ unter Geoffrey Howe bis zur „Aviation Group“ mit Kenneth Warren als Vorsitzendem. „[S]he saw all this more as an exercise to keep the young turks happy than as a serious contribution to what she would do on becoming Prime Minister“, bemerkte einer ihrer Anhänger später. „Nothing is more cheering to a young aspirant than being asked to chair a study group into some area of policy. It is the invitation which flatters – what happens to the conclusions is of secondary importance“; RIDLEY, S. 14. Schreiben von Sir Keith Joseph an die Vorsitzenden der „policy groups“ vom 1. August 1975, in: CPA/NL Joseph (unverzeichnet). CHRISTOPHER PATTEN, Policy Making in Opposition, in: LAYTON-HENRY (Hrsg.), S. 19.

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rechnen durften. Das wichtigste Beispiel für diese Taktik war der Abschlußbericht der Economic Reconstruction Group unter dem Vorsitz Geoffrey Howes. Die Autoren, neben Howe Schattenarbeitsminister Prior, Joseph, David Howell und Angus Maude, hatten geplant, ihren Text als offizielle Stellungnahme des Schattenkabinetts zur Wirtschaftspolitik zu veröffentlichen. Da ihre Parteichefin sich jedoch diesem Vorhaben verweigerte, erschien das Papier im Oktober 1977 mit dem vorsichtigen Zusatz „Outline of an Economic Strategy for the Next Conservative Government“, was Thatcher nach der weithin positiven Aufnahme durch die Presse nicht daran hinderte, fortan von „unserer“ Broschüre zu sprechen.117 Indem sie den genauen Status des Textes offen ließ, legte sich die Tory-Chefin im Hinblick auf die Ausgestaltung späterer Regierungspolitik nicht fest und vermied auf diese Weise den Konflikt mit ihren innerparteilichen Opponenten.118 Auch die Broschüre The Right Approach vom Oktober 1976, das einzige Parteidokument, das Thatchers offizielle Zustimmung erhielt, war in einer vorsichtigen, abwägenden Sprache formuliert und betonte die Unwägbarkeiten zukünftiger Reformpolitik. Es wurde dementsprechend im Kreise der Parteiführung „as a strategy rather than a policy document“ verstanden und trug den bezeichnenden Untertitel „A Statement of Conservative Aims“.119 In der Einleitung hieß es, man werde gar nicht erst versuchen, alle wichtigen politischen Themen anzusprechen, das bleibe einem künftigen Wahlkampfmanifest vorbehalten.120 Die Leitlinien, die auf den folgenden sechzig Seiten skizziert wurden, waren ein geschickt zusammengestellter Kompromiß zwischen Thatchers radikalem Populismus und dem paternalistischen Staatsinterventionismus ihrer Gegner. Das Grundmuster, nach dem die beiden Autoren Patten und Maude verfuhren, bestand darin, die konträren Positionen sprachlich zu glätten und dann wie selbstverständlich nebeneinander zu stellen, als widersprächen sie sich nicht im geringsten. Als Heilmittel für Großbritanniens Wirtschaftsmisere empfahl die Broschüre zum Beispiel: „The priorities of any government should be the reduction of our debt burden and the mastering of inflation, leading to a fall in unemployment and the resumption of soundly based economic expansion.“ Dieser Satz enthielt die monetaristische Forderung nach einer Begrenzung der Staatsschulden und der Priorität der Inflationsbekämpfung, ohne offen mit

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Right Approach to the Economy; vgl. HOWE, S. 101. Vgl. RAMSDEN, Appetite, S. 427. Right Approach to the Economy, S. 20 [Hervorhebungen im Original]. „We do not pretend to know today the answers to every problem that may confront us when we are called upon to govern“; The Right Approach, S. 8.

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den – diametral entgegengesetzten – Zielen von Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum zu brechen. Auf die gleiche Weise versuchten Patten und Maude auch andere Streitfragen der Partei zu entschärfen. „[T]here is nothing ‚extreme‘ about the philosophy of balance and moderation which is the ethos of modern Conservatism“, beruhigten sie besorgte moderates, nur um im nächsten Satz fortzufahren: „There is no future in trying to find a middle road between folly and common sense.“ Der Text enthielt alle Stichworte, die Verfechter des Monetarismus sich nur wünschen konnten – von der Kontrolle der Geldmenge über die Begrenzung der Staatsausgaben bis hin zur Bedeutung des Profits für das Überleben der Marktwirtschaft. Zugleich jedoch konnte man auch lesen, die Tories seien nicht die Partei des laissez faire-Kapitalismus: „We have always conceded that the State should have a role as the trustee of the whole community in any economic system, holding the balance between different interests.“121 So ungeeignet eine derartige Zusammenstellung als Regierungsprogramm war, in der Situation des Jahres 1976 erfüllte sie ihren Zweck: Sie wurde von den Medien – nicht zuletzt dank der Formulierungskunst der beiden Autoren – wohlwollend aufgenommen und half, die Risse in der Partei zu übertünchen, den offenen Bruch zu vermeiden. Jeder konnte aus dem Papier herauslesen, was ihm behagte. Heath sah darin „a continuation of the mainstream policies of the Conservative Party over many years“, während Thatcher das Dokument mit gleicher Berechtigung als „eine überzeugende Darstellung des neuen Konservatismus“ bezeichnen konnte.122 Noch wichtiger für die Parteichefin war der Umstand, daß ihre offenkundige Zurückhaltung bei der Kodifizierung der Programmatik ihren Gegnern das Gefühl vermittelte, sie zähmen und einbinden zu können. „[S]he was so cautious and sympathetic to the tolerant left-wing approach“, behauptete Patten 1978, „that there was a possible problem of party management keeping the right-wing happy at so moderate a position.“123 Zeitgenössische politikwissenschaftliche Studien gelangten zu dem Ergebnis, daß die neue Parteichefin zwar eine radikale Rhetorik liebte, aber programmatisch auf Kontinuität setzte. Robert Behrens etwa vertrat in seiner 1979 erschienen Abhandlung The Conservative Party from Heath to Thatcher die These, daß in der Auseinandersetzung zwischen dem radikalen Reformflügel und den Gemäßigten letztere triumphiert hätten.124

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Ebd., S. 10, 16, 18. HEATH, Course, S. 552–3; THATCHER, Erinnerungen, S. 376. Zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 385. Vgl. BEHRENS, S. 118.

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Behrens und Pattens Irrtum bestand darin, daß sie die offizielle Programmatik der Partei und nicht den Tenor von Thatchers Reden für ausschlaggebend hielten. In Wirklichkeit verhielt es sich genau umgekehrt: Nach Thatchers Willen sollte man ihren Reden die Umrisse künftiger Regierungspolitik entnehmen können, während die Programmdokumente lediglich der Integration innerparteilicher Gegner und der Beruhigung der bangen Wählerschaft dienten. Sie vertraute darauf, daß in der Konservativen Partei traditionell politische Programme weniger wogen als der Wille des Parteiführers. „In the end, policy is what the leaders says it is.“125 Einige Mitarbeiter der Tory-Chefin sprachen diese Überlegung ganz offen aus. Die Partei müsse sich hüten, schrieb Cosgrave im Herbst 1976 in Crossbow, unzählige Positionspapiere und Parteidokumente zu veröffentlichen, detaillierte Wahlkampfmanifeste zu planen und „Kommissionsprosa“ von sich zu geben. „[T]he apex of all the necessary work there must lie on one central and dominating idea: in our system of politics – and in our party – that idea can only be expressed by a single person; and that person must be the Leader of the Party.“126 Ein wichtiges Machtinstrument in den Händen jedes Parteiführers ist seine Entscheidungsbefugnis in Personalfragen. Wegen Thatchers innerparteilicher Schwäche war ihr Handlungsspielraum in diesem Punkt zwar begrenzt; die verbleibenden Möglichkeiten nutzte sie jedoch mit Raffinesse, Weitblick und einem Sinn für Überraschungseffekte. Die meisten Beobachter hatten erwartet, daß sie ihren einzigen prominenten Verbündeten, Joseph, zum Schattenschatzkanzler ernennen würde. Zur allgemeinen Verblüffung entschied sie sich jedoch für Geoffrey Howe, der aus verschiedenen Gründen als ungewöhnliche Wahl erschien: Bei der innerparteilichen Abstimmung hatte er nicht für sie votiert, sondern sich im zweiten Wahlgang sogar als Gegenkandidat aufstellen lassen. In den Jahren zuvor hatte er alle Drehungen und Wendungen der Politik Heaths loyal mitvollzogen, ja er war als Minister for Trade and Consumer Affairs ein ausgesprochener Exponent der interventionistischen Wende gewesen, dem es oblegen hatte, die Lohn- und Preispolitik der Regierung umzusetzen. Von der Ausbildung her Jurist, der bereits in jungen Jahren auf eine glänzende Anwaltskarriere zurückblicken konnte, war Howe auch fachlich für den Posten des Schattenschatzkanzlers nicht prädestiniert. Hinzu kam, daß er als schwacher Parlamentsredner galt, dem bald die spöttische Bemerkung Denis

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BUTLER und KAVANAGH, Election 1979, S. 76. PATRICK COSGRAVE, Words, Not Action, in: Crossbow, Herbst 1976, S. 16–7 (S. 17).

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Healeys anhing, mit ihm zu diskutieren sei „like being savaged by a dead sheep“.127 Entsprechend überrascht reagierte Howe, als Thatcher ihn fragte, ob er Schattenschatzkanzler werden wollte. Bei dem Angebot spielten taktische wie prinzipielle Erwägungen eine Rolle. Die neue Parteichefin band einen ehrgeizigen, potentiell gefährlichen Rivalen ihrer eigenen Generation in die Disziplin des Schattenkabinetts ein und präsentierte zugleich einen Schattenschatzkanzler, dessen ausgleichendes Temperament weniger polarisierend wirkte als Joseph. Darüber hinaus wußte sie um Howes wirtschaftsliberale Überzeugungen, kannte seine bis in die frühen sechziger Jahre zurückreichenden Verbindungen zum IEA und schätzte die Entschlossenheit und Hartnäckigkeit richtig ein, die sich hinter seinem ruhigen Äußeren verbarg.128 „[W]e’re the ones who have the same idea of where we need to go“, begründete sie ihm gegenüber ihren Entschluß, eine Einschätzung, die sich als richtig erwies. Howe war neben Joseph zunächst das einzige Mitglied des konservativen Führungszirkels, das die wirtschaftspolitischen Ansichten der Politikerin vorbehaltlos teilte.129 Auf den Hinterbänken der Tory-Fraktion fanden sich eine Reihe weiterer monetaristischer Gesinnungsgenossen. Die wichtigsten von ihnen versammelten sich zwischen 1975 und 1979 im Finance Bill Committee. Weil diese Budgetkommission, im Unterschied zu allen anderen Parlamentskommissionen, jedes Jahr zusammenkam, um vier Monate lang über das Haushaltsgesetz der Regierung zu beraten, konnten die Mitglieder sich über mehrere Jahre zu Experten ihrer Materie entwickeln. Es ist daher nicht unwichtig, daß es Thatcher gelang, Vertreter ihres wirtschaftspolitischen Kurses gerade in der Budgetkommission zu plazieren und dort finanz- und wirtschaftspolitische Erfahrung sammeln zu lassen.130 Viele junge Abgeordnete, die sich dort ihre ersten Sporen verdienten, machten in den konservativen Regierungen des folgenden Jahrzehnts Karriere: Howell, Ridley, Tony Newton und Patrick Jenkin als Minister, Ian Gow als Thatchers Parliamen127 128

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HOWE, S. 101. Vgl. hierzu THATCHER, Erinnerungen, S. 343–4. Ein Beispiel dafür, daß Howes monetaristische Überzeugungen bereits vor seiner Zeit als Schattenschatzkanzler ausgeprägt waren, ist seine Rede vom 10. Januar 1975 beim Huddersfield & Spen Valley Incorporate Chamber of Commerce Centenary Dinner in Ainley Top: News Service 20/75, S. 4. HOWE, S. 94. „[T]he finance bill debates of the 1970s was the forum where the major tax reforms of the 1980s were conceived and tested in debate“, meinte Ridley, einer der konservativen Vertreter in den Budgetkommissionen. „Most of the stars of future Tory Governments were to be found on these committees“; RIDLEY, S. 12. Ähnlich auch Peter Cropper im Gespräch mit dem Verfasser am 20. Januar 1999.

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tary Private Secretary, Biffen als Fraktionsführer und Lordsiegelbewahrer, Parkinson als Parteivorsitzender, Peter Rees und John MacGregor als Staatssekretäre im Schatzamt, Lawson und Norman Lamont als Schatzkanzler. Standen die Mitglieder der Budgetkommission für die Zukunft des neuen Konservatismus, so repräsentierte Thatchers Überraschungskandidat für den Posten des Parteivorsitzenden die Vergangenheit. Zum Nachfolger Whitelaws an der Spitze der Parteiorganisation ernannte sie den 64 Jahre alten Peter Thorneycroft, der 1966 aus der aktiven Politik ausgeschieden war. Seine Ernennung brachte aus der Sicht der neuen Parteichefin eine Reihe von Vorzügen mit sich: Der geschickte Organisator war an der Parteibasis äußerst beliebt und kompensierte Thatchers Schwächen auf diesem Gebiet. Außerdem verfügte er über exzellente Kontakte zur Geschäftswelt, unterstützte den wirtschaftpolitischen Kurs der Oppositionsführerin und konnte sogar, infolge seines Rücktritts als Schatzkanzler im Jahr 1958, als früher Verfechter einer monetaristischen Politik gelten. Der Politiker selbst wies gern auf die Parallele hin: „[T]he dangers of which we warned, the perilous path which we saw opening out ahead have been tragically fulfilled“, schrieb er im Spectator. „As a nation we could have stood then at a trivial sacrifice. The price we have now to pay is a much more bitter one.“131 An wessen Seite ihn derartige Einsichten im innerparteilichen Flügelkampf stellten, machte der neue Vorsitzende schon wenige Tage nach seiner Ernennung deutlich, indem er Michael Wolff, einen engen Vertrauten von Heath, als Generaldirektor des Conservative Central Office entließ.132 Thorneycrofts Vorgänger Whitelaw ernannte Thatcher zu ihrem Stellvertreter, obwohl auch er zuvor dem innersten Zirkel um Heath angehört hatte. Die Tory-Chefin konnte jedoch bei ihrem Versuch, die Partei zu einen, auf sein politisches Geschick und sein ausgleichendes Temperament nicht verzichten, zumal sich Whitelaw als Parteisoldat verstand, der auch unter der neuen Führung loyal mitarbeitete. Noch in der Wahlnacht entschied er sich, „that in the interests of the Party I would serve Margaret Thatcher in any capacity she wanted“. Zu Heath hatte er einmal gesagt, er werde auf jedem Posten dienen, auf den der Parteiführer ihn stelle – sogar als Botschafter in Reykjavik. Zur allgemeinen Überraschung, hielt sich der Politiker auch unter Heaths Nachfolgerin an diese Devise, was ihm aufgrund der Temperamentsunterschiede wie der inhaltlichen Differenzen

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Spectator, 4. Dezember 1976. Siehe auch RAMSDEN, Appetite, S. 424–5. Zu Thorneycrofts Prioritäten als Parteivorsitzender siehe LORD THORNEYCROFT, My Priorities at Central Office, in: Conservative Monthly News, April 1975, S. 2. Vgl. The Times, 6. und 7. März 1975.

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zwischen ihm und Thatcher nicht immer leicht fiel.133 Eine ebenso wichtige Rolle spielte Joseph, dem die Parteichefin die Zuständigkeit für Strategieund Grundsatzfragen übertrug. Befreit von den Pflichten eines speziellen Ressorts, trieb er in einer wahren Flut von Zeitungsartikeln und Reden Grundsatzdiskussionen voran, koordinierte die Tätigkeit der verschiedenen Arbeitsgruppen des Schattenkabinetts und leitete das ACP.134 „In gewissem Sinne waren Willie und Keith die beiden Schlüsselfiguren“, behauptete Thatcher, „der eine wegen seiner politischen Muskelkraft, der andere als politisches Gehirn der Mannschaft.“135 Eine wichtige Neubesetzung nahm Thatcher auch an der Spitze des Conservative Research Department vor, das bei der Programm- und Strategieplanung eng mit Joseph zusammenarbeiten sollte. Dort ersetzte sie Gilmour durch Maude, der wie Joseph seit längerer Zeit offen den Heath-Kurs kritisiert und die Idee einer radikalen Kurskorrektur der konservativen Politik verfochten hatte.136 Mit Thorneycroft an der Spitze der Parteiorganisation, Joseph als Kopf der politischen Strategieplanung und Maude im CRD, ergänzt um Neave als Chef ihres Stabes und wichtigen Berater, waren die entscheidenden Ämter des Parteiapparates in der Hand von Männern, die unter Heath im Abseits gestanden hatten, während Howe als Schattenschatzkanzler den Willen zu einer gewissen Kontinuität symbolisierte, zugleich jedoch Thatchers Ansicht über die Notwendigkeit eines wirtschaftspolitischen Neuanfangs teilte.137 Die Besetzung strategischer Schlüsselpositionen gerade auf dem Felde der Wirtschaftspolitik war umso entscheidender, als Thatcher politische Diskussionen im Schattenkabinett, bei denen sie und ihre Gesinnungsgenossen häufig überstimmt worden wären, meist erfolgreich unterband. Statt dessen setzte sie durch, daß das Plenum des Schattenkabinetts lediglich die Strategiepapiere der einzelnen Schattensprecher und ihrer „Policy Groups“ verabschiedete.138 Wie schwierig sich der Neuanfang trotzdem gestaltete, zeigte das Beispiel der Forschungsabteilung. Zwar arbeitete Maude bei der Politikplanung einvernehmlich mit Joseph zusammen. Chris Patten 133

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In seinen Memoiren schrieb er hintersinnig: „Fortunately I understood something about the problems of such a relationship, for I had been second-in-command of a battalion towards the end of the war and had got on well with a Commanding Officer with a different personality and outlook from my own“; WHITELAW, S. 143. Vgl. Conservative Monthly News, Mai 1975, S. 4–5; THATCHER, Erinnerungen, S. 341. Vgl. etwa ANGUS MAUDE, The Path that Leads to Freedom, in: Conservative Monthly News, September 1975, S. 4–5; DERS., Faces of Freedom, in: Conservative Monthly News, Juli 1977, S. 4. So auch RAMSDEN, Appetite, S. 425. Vgl. hierzu THATCHER, Erinnerungen, S. 355–6.

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jedoch, dem als Direktor die eigentliche Leitung des CRD oblag, sowie sein Stellvertreter Adam Ridley, die beide zum engeren Beraterkreis von Heath gehört hatten, hielten wenig von der Umorientierung der konservativen Politik. Unter ihrer Führung versuchte das CRD, nach Möglichkeit am Kurs der Heath-Jahre festzuhalten. Auf diese Weise geriet es in Konflikt mit den auf radikale Veränderung drängenden Kräften in Thatchers Umfeld. Insbesondere Patten, der in Oxford studiert und in der Partei trotz seiner Jugend bereits eine steile Karriere gemacht hatte, war den „Neuen Rechten“ ein Dorn im Auge. Er galt ihnen als unverbesserlicher moderate, eine Einschätzung, der er nicht widersprach.139 Auch seine nonchalante Art schuf ihm Feinde. Einer seiner Mitarbeiter erinnerte sich später, Patten habe gern die Geschichte erzählt, wie er Mitte der sechziger Jahre zur Tory-Partei gestoßen sei: Damals habe er, auf der Suche nach einer Stelle, gleichzeitig Briefe an Transport House, die Zentrale der Labour-Partei, und an das Conservative Central Office geschrieben. Weil die Tories zuerst antworteten, sei er konservativer Parteifunktionär geworden. „The message was clear. ‚It’s all a game: be flexible and detached‘.“140 Ein stärkerer Gegensatz zu den Ideologen der „Neuen Rechten“, etwa im Centre for Policy Studies, war kaum denkbar. Entsprechend vehement attackierte vor allem Sherman den jungen Direktor des CRD. „He is a limited man, promoted far beyond his ability“, schrieb er in einem Memorandum. Er sei „wholly heathite and believes that the sum of political wisdom is to bribe the public with its own money.“ Nicht nur Patten, sondern der gesamten Forschungsabteilung bescheinigte er Überheblichkeit und politische Ignoranz. In seinen Augen bestand die Abteilung aus elitären Karrieristen ohne Rückgrat, die konservative Prinzipien dem Zeitgeist opferten, um ihren persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen: The CRD has taken young men whose adolescence had already been extended by the transition direct from public school to Oxbridge, given them too great a sense of their own wisdom and importance, allowed them to draw their views at second hand from the Guardian, Times and Observer and pass them on as wisdom. Hence the two dozen in the House, almost all precious and arrogant.141 139

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„I always thought it was both impossible and wrong to change what had been conceived of as the middle ground intellectually and politically in our political argument“, erklärte er später. „If you look at the way we’ve managed the economy previously – demand management, incomes policy and so on, I’d always thought that you couldn’t shift public opinion on those sort of issues“; zit. nach YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 76. RANELAGH, S. VIII. Memorandum „The CRD-CPS Myth“ von Alfred Sherman an Hugh Thomas vom 11. Juni 1979, in: Sherman Papers, AR CPS/LMPC/6 Box 5, Folder 2. Zum Verhältnis von CRD und CPS vgl. auch Memorandum von Alfred Sherman an Keith Joseph vom 20. Oktober 1975,

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

Umgekehrt hielt man im CRD die Konkurrenten im Centre for Policy Studies für politisch naive Ideologen, deren Ideen an der rauhen Wirklichkeit scheitern mußten. „[T]hey half-suspect the CPS of being a bunch of potentially dangerous radicals more versed in theory than experienced in the hard grind of practical politics which means winning votes“, schrieb der erste Direktor des CPS, Martin Wassall, im Oktober 1975 in einem Memorandum an Joseph. „CRD clearly believes it can do its job more effectively without the added distraction of a group of radicals who are more likely to make CRD’s life difficult than make useful contributions.“142 Zu inhaltlichen Gegensätzen, persönlichen Antipathien und Temperamentsunterschieden ihrer Direktoren trat der Kampf um politischen Einfluß. CRD und CPS konkurrierten nicht nur um finanzielle Zuwendungen derselben Sponsoren, sie nahmen auch beide für sich in Anspruch, die zukünftige politische Strategie der Tory-Partei zu konzipieren. Dabei wurde mit scharfer Klinge gefochten. Schon 1974 habe Patten einen Feldzug gegen das CPS begonnen, behauptete Sherman. „He coined the term ‚mad monk‘, for [Joseph], and began to tell his familiars in press and party that we were a dangerous band of right-wing fanatics out to overthrow Heath, undermine the CRD, and turn the party into a small southern minority.“143 Sherman war überzeugt, Patten und die Forschungsabteilung spielten der Presse vertrauliche Informationen zu, um radikale Reformvorschläge zu hintertreiben und das CPS in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Der Direktor des CRD argwöhnte seinerseits zurecht, daß Sherman und seine Mitstreiter ihren direkten Draht zur Parteiführerin ausnutzten, um seine Abteilung auszuspielen. Ob er bei dem Versuch, dies zu hintertreiben, tatsächlich geheime Informationen der Presse zuspielte, läßt sich nicht beweisen. Es fällt jedoch auf, daß gerade im Economist, der Pattens Spielart des Konservatismus nahestand, immer wieder Artikel erschienen, die auf vertraulichem Material aus dem Umkreis der konservativen Parteizentrale beruhten.144

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in: Sherman Papers, AC 2.4/BI-1–4, Box 3, Folder 1. Peter Cropper, von 1982 bis 1984 Direktor des CRD, bestätigte im Gespräch mit dem Verfasser am 20. Januar 1999 das negative Bild des CRD, das man im CPS hatte. Memorandum von Martin Wassall an Keith Joseph vom 23. Oktober 1975; zit. nach COKKETT, S. 255. Memorandum „The CRD-CPS Myth“ von Alfred Sherman an Hugh Thomas vom 11. Juni 1979, in: Sherman Papers, AR CPS/LMPC/6 Box 5, Folder 2. Die wichtigste Indiskretion betraf den Endbericht der Policy Group unter der Leitung von Nicholas Ridley, die sich mit der Zukunft der Staatsbetriebe beschäftigte. Darin wurde unter anderem gefordert, daß jeder Staatsbetrieb einen im voraus bestimmten Gewinn erwirtschaften mußte und, um dieses Ziel zu erreichen, auch vor Entlassungen, Betriebsstillegungen und Konfrontationen mit den Gewerkschaften nicht zurückschrecken durfte. Das Do-

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Für die Parteichefin waren derartige Berichte unangenehm und bedrohlich. Sie enthüllten die tiefen Risse in der Tory-Partei und erlaubten es dem politischen Gegner, sie auszunutzen.145 Gleichzeitig eröffnete die Rivalität zwischen CRD und CPS der Politikerin allerdings auch Gestaltungsspielräume. Sie fühlte sich zwar nicht stark genug, die Forschungsabteilung aufzulösen oder ihren Vorstellungen entsprechend personell umzugestalten.146 Dank der Existenz des Centre for Policy Studies gelang es ihr jedoch, den politischen Einfluß des CRD zurückzustutzen. Es verlor seine Monopolstellung bei der Programm- und Strategieplanung und sah sich zunehmend auf bürokratische und administrative Aufgaben beschränkt. Wichtige Teil der politischen und strategischen Planung hingegen wurden aus dem Parteiapparat ausgelagert und dem CPS übertragen. Zugespitzt könnte man sagen, das erste, was Thatcher privatisierte, war die programmatische Arbeit ihrer Partei. Dieser Schachzug hatte außer der Entmachtung des CRD zwei weitere Vorzüge. Anders als die konsensorientierte, parteigebundene Forschungsabteilung konnte eine kleine, unabhängige Einrichtung wie das CPS dem Meinungsbildungsprozeß der Partei vorauseilen, anstatt ihm zu hinterherzulaufen. Die Hauptaufgabe des Zentrums sei es, schrieb Wassall im Oktober 1975 an Joseph, die Vorzüge der freien Marktwirtschaft auf allen möglichen Wegen zu erläutern. „In this role we must feel free to air for debate a range of radical ideas with which the CRD would not wish to be associated. Not being of the Party, CPS can play a very useful role in ‚shocking‘ public opinion by forcing increasing attention on policy changes which are as yet outside the spectrum of accepted policy options.“147 Sherman benutzte später das Bild eines Wellenbrechers, um die Rolle des Centre zu beschreiben: Es sollte die Wogen der Empörung über bislang undenkbare Vorschläge brechen und es Politikern wie Thatcher ermöglichen, anschließend in ruhigerem Fahrwasser zur Verwirklichung der Ideen aufzubrechen.148 Mit die-

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kument sei von einem gemäßigten Konservativen absichtsvoll an die Presse weitergereicht worden, schrieb die Times, „in order to cause a political storm so that the party would be forced to retreat to safer and more representative ground“; The Economist, 27. Mai 1978, S. 21–22; The Times, 29. Mai 1978. Thatcher sah sich genötigt, Patten, den man bereits mit der Indiskretion in Verbindung brachte, demonstrativ zu verteidigen. Er sei ein hochegschätzter, wertvoller Mitarbeiter, dem sie vollkomen vertraue, schrieb sie in einem Leserbrief; siehe The Times, 31. Mai 1978. Zumal sie Patten persönlich schätzte, ihn für einen begabten Redenschreiber und talentierten Politiker hielt; vgl. CAMPBELL, Thatcher, S. 328. Memorandum von Martin Wassall an Keith Joseph vom 23. Oktober 1975, zit. nach COKKETT, S. 254–5. ALFRED SHERMAN, „Why We Asked the Unasked Questions“, in: The Times, 1. September 1984.

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ser Aufgabenverteilung wies Sherman auf den zweiten Vorzug seiner Institution aus Sicht der Tory-Chefin hin: Das CPS verpflichtete die Politikerin zu nichts. Als formal unabhängiges Forschungsinstitut konnte es umstrittene Thesen verbreiten, ohne die Parteiführerin zu gefährden. „[F]rontbenchers and others who wish to attack Margaret without feeling disloyal, can attack me“, schrieb Sherman in einem Memorandum, „and ascribe all her faults to my influence“.149 Er und seine Mitarbeiter konnten Versuchsballons steigen lassen und testen, woher der Wind der öffentlichen Meinung wehte. Fiel die Reaktion auf einen Vorschlag positiv aus, konnte Thatcher ihn aufgreifen; war die Wirkung negativ, ließ sie ihn fallen. Trotz ihrer Vorsicht und Zurückhaltung suchte Thatcher jedoch in einigen strategisch bedeutsamen Streitfällen bewußt die Konfrontation mit ihren Gegnern. Nicht zufällig lagen die Konfliktfelder, die sie wählte, meist in Randgebieten der politischen Diskussion, was es ihr erleichterte, symbolisch bedeutsame Siege über ihre innerparteilichen Gegner zu erringen und die eigene Position zu festigen, ohne eine Auseinandersetzung in zentralen Politikbereichen zu riskieren. Das erste Beispiel für diese begrenzte Konfrontation war die Diskussion um die Wahlrechtsreform, der sich die Parteichefin bereits in den ersten Monaten ihrer Amtszeit stellen mußte. Die kontinuierlich hohe Zustimmung für eine derartige Reform in Meinungsumfragen, der Zulauf, den konservative Lobbyisten wie Anthony Wigrams Conservative Action for Electoral Reform erhielten, und die reichlich fließenden Spenden aus der britischen Geschäftswelt für diese Gruppen machten es schwierig, dem Thema auszuweichen. Hinzu kam, daß sich die Labour-Regierung mit dem Gedanken trug, eine Untersuchungskommission zu der Frage einzusetzen, was die Dringlichkeit für die Tories erhöhte, zu einer Einigung zu kommen. An der Basis wuchs derweil die Begeisterung für eine Änderung des Wahlmodus’. Die Times berichtete Ende Juni 1975, die Tory-Führung erwarte für den Parteitag im Oktober bis zu fünfzig Leitanträge für eine Wahlrechtsreform.150 Fünf Wochen später wandte sich eine Gruppe von zwanzig konservativen Unterhausabgeordneten mit einem Schreiben an Thatcher, in dem sie wachsendes Interesse für einen Übergang zum Verhältniswahlrecht innerhalb von Fraktion und Partei konstatierte.151 Tatsächlich gingen bis Mitte September 22 Leitanträge zu

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Memorandum „The CRD-CPS Myth“ von Alfred Sherman an Hugh Thomas vom 11. Juni 1979, in: Sherman Papers, AR CPS/LMPC/6 Box 5, Folder 2. The Times, 30. Juni 1975. The Times, 1. August 1975. Zu den Unterzeichnern gehörten Carr, Hurd und Scott, aber auch ein wirtschaftsliberaler Thatcher-Anhänger wie Biffen.

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diesem Thema beim Parteivorstand ein, 17 davon zugunsten einer Reform.152 Damit stand fest, daß Thatcher der Frage auf ihrem ersten Parteitag als Tory-Führerin nicht ausweichen konnte. Thatchers ablehnende Haltung gegenüber Verhältniswahlrecht und Koalitionsregierungen stand seit langem fest. Schon im Oktober 1968 hatte sie festgestellt, die Stärke des politischen Systems in Großbritannien bestehe darin, „that there is an alternative policy and a whole alternative government ready to take office“.153 Ihre Einstellung hatte sich im Verlauf der folgenden Jahre nicht verändert. Man könnte im Gegenteil die These vertreten, daß Thatchers politischer Bruch mit Heath im Frühjahr 1974 wesentlich durch dessen Bereitschaft verursacht worden war, Gedankenspiele über Wahlrechtsänderungen und Koalitionsregierungen anzustellen.154 Jedenfalls gehörte die Politikerin im Frühjahr wie im Herbst 1974 zu den entschiedensten Gegnern derartiger Überlegungen in den konservativen Reihen. Als Gegnerin jeder Form von Konsenspolitik bevorzugte sie handlungsfähige und durchsetzungsstarke Regierungen. 1975 traten zu den prinzipiellen Erwägungen strategische Überlegungen hinzu: Denn nur das Mehrheitswahlrecht und ein Zwei-Parteien-System würden es ihr nach einem Wahlsieg erlauben, ein radikales Reformprogramm ohne Verwässerung durch mögliche Koalitionspartner zu realisieren. Thatcher war bereit, sich bis dahin mit der electoral dictatorship einer Labour-Regierung abzufinden, die weniger als vierzig Prozent der Stimmen erhalten hatte, wenn ihr dies die Möglichkeit eröffnete, später genauso einschneidend durchzugreifen. Um diese Chance zu bewahren, mußte sie jeden Anlauf zu einer Reform des Wahlrechts vereiteln. Die Chancen hierfür standen nicht schlecht. Denn so hoch die Zustimmungsraten für eine Wahlrechtsreform auch waren, nur wenige Briten hatten sich bislang mit dem Thema eingehender beschäftigt oder räumten ihm einen hohen Stellenwert auf der politischen Agenda ein.155 „At the moment there would appear to be few electoral dividends to be got from electoral reform“, schrieb Patten im August 1975 nach der Aus152 153

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The Times, 19. September 1975. Insbesondere wies sie auf den stabilisierenden Effekt des Systems hin: „[W]e have always had an Opposition to act as a focus of criticism against the government. We have therefore not suffered the fate of countries which have had a ‚consensus‘ or central government, without an official opposition. This was one of the causes of trouble in Germany“; am 10. Oktober 1968: ‚What’s Wrong with Politics‘. Address to the Conservative Political Centre Meeting, Blackpool, abgedruckt in: GARDINER, S. 207–16 (S. 215). Vgl. VERNON BOGDANOR, The Fall of the Heath Government and the End of the Postwar Settlement, in: BALL und SELDON (Hrsg.), S. 371–89 (S. 373). Vgl. die Berichte über entsprechende Umfragen in The Times, 7. Oktober 1975; The Economist, 13. Mai 1978.

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wertung einschlägiger Meinungsumfragen, „this is not an issue that has so far penetrated very deeply.“156 Hinzu kam, daß Thatchers innerparteiliche Gegner sich in dieser Frage nicht einig waren. Ihre gefährlichsten Opponenten außerhalb des Schattenkabinetts, Heath und Walker, zählten nicht zu den Befürwortern einer Reform. Umgekehrt stimmten fast alle Schattenminister, mit Ausnahme von Gilmour, darin überein, daß ein Plädoyer für Veränderungen auf diesem Gebiet mehr schaden als nutzen würde. Selbst CRD und CPS standen, allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten zum Trotz, bei dieser Frage auf derselben Seite. In der Forschungsabteilung war man zu dem Ergebnis gelangt, „that electoral reform would in practice mean that governments were not chosen (as now) by the electorate but by negotiation amongst the politicians after they had been elected“.157 Sherman verband seine Ablehnung einer Wahlrechtsänderung mit der Wiederholung seiner umfassenden Reformforderungen. „Talk of coalitions and PR“, schrieb er im Juli 1975 an Joseph, „is an attempt to find instant solutions for our problems without digging into the causes. [. . .] The Conservatives could get all the votes they need for majority government under the present system, leaving the Labour party to split, under the effect of defeat, with one half looking towards the Liberals.“158 Das taktische Vorgehen auf dem Parteitag selbst war bis ins Detail geplant. Am ersten Tag der Konferenz stimmte Thorneycroft, der als Parteivorsitzender die Eröffnungsrede hielt, die Delegierten auf die Linie der Führung ein. „I do not see a coalition as a solution to our immediate problems“, erklärte er. Wenn den Tories nicht aus eigener Kraft ein Wahlsieg gelänge, gebe es kaum Hoffnung auf eine Eindämmung des sozialistischen Vormarsches.159 Die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Thema blieb Thorneycrofts Stellvertreter Maude vorbehalten, der am folgenden Tag als letzter Redner einer von den Reformbefürwortern dominierten Debatte sprach. Die Parteitagsregie hatte den entsprechenden Tagesordnungspunkt listig nicht „electoral reform“, sondern „electoral change“ genannt, was es dem Politiker erlaubte, die Fürsprecher einer Reform der Verantwortungslosigkeit zu zeihen, da sie eine seit Jahrhunderten bewährte Praxis zugun-

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CHRISTOPHER PATTEN, „Electoral Reform – O.R.C. Report“ vom 1. August 1975, in: CPA/LSC (75) 37. Ebd. Wie intensiv man sich im CRD mit der Frage beschäftigte, kann man aus dem Umfang der entsprechenden Ordner im Nachlaß von Keith Joseph ablesen; vgl. Joseph Papers, CPA/KJ 12/1 (= Changing the British Electoral System). Memorandum von Alfred Sherman an Keith Joseph vom 9. Juli 1975, in: Sherman Papers, AC 2/B1-1-3a, Box 3, Folder 1. The Times, 8. Oktober 1975.

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sten einer unspezifischen, noch nicht erprobten Alternative abschaffen wollten. Jede Form des Verhältniswahlrechts, so Maude, führe unweigerlich zum Koalitionszwang und liefere damit die anderen Parteien den Liberalen aus, die als Zünglein an der Waage zur alles entscheidenden Kraft würden. Geschickt appellierte Maude an die tiefsitzende Abneigung vieler Delegierter gegen Parteiabsprachen und Hinterzimmerverhandlungen: Die mit dem Verhältniswahlrecht einhergehenden Koalitionen verlagerten die Entscheidung über die Regierungsbildung von der Wahlurne „to wheeling and dealing in smoke-filled rooms between parties manoeuvring for jobs in a coalition cabinet. In that case political pacts determine the government, not the choice of voters.“ Zum Schluß seiner Rede griff er das von Sherman vorgebrachte Argument auf, eine Wahlrechtsreform stelle lediglich eine Scheinlösung dar, die nicht an die Wurzel des Übels reiche. Wirkliche Besserung könne nur eine Tory-Regierung mit umfassenden Vollmachten erreichen.160 Thatcher, die sich selbst nicht an der Debatte beteiligt hatte, erhob sich nach Maudes Rede demonstrativ als erste von ihrem Sitz und eröffnete die begeisterten Ovationen, mit denen die Delegierten diese sieges- und machtbewußte Fanfare feierten. In der sich unmittelbar anschließenden Abstimmung lehnte der Parteitag jede Änderung des Wahlrechts ab – „by a very substantial majority“, wie es im Protokoll hieß.161 Die Presse reagierte weniger enthusiastisch. Die von der Tory-Führung vorgebrachten Argumente seien fadenscheinig und unredlich, schrieb die Times. „[T]he Conservative Party wants to keep our unfair electoral system in order to have an unfair share of power.“162 Thatcher konnte das negative Presse-Echo jedoch gleichgültig sein. Sie hatte erreicht, was sie wollte: Das Thema „Wahlrechtsreform“ stand nicht länger auf der Tagesordnung ihrer Partei, auch wenn es noch eine Zeitlang durch die Kommentarspalten einiger Zeitungen geisterte. Nicht immer hielt sich die Parteichefin derart im Hintergrund wie in der Frage der Wahlrechtsreform. Typischer für ihren politischen Stil waren persönliche Initiativen, die sie ohne vorherige Abstimmung mit ihrem Schattenkabinett in Reden oder Fernsehinterviews startete. „Never underestimate the effectiveness of simply announcing something“, riet sie Jahre später einem ihrer Minister.163 Diese Ankündigungspolitik entsprach so-

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The National Union of Conservative and Unionist Associations: (93.) Annual Conference Blackpool, Oktober 1975 (Verbatim Report), S. 69–72 (S. 70). Ebd., S. 72. The Times, 9. Oktober 1975. BAKER, S. 192.

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wohl Thatchers Vorstellung von Führerschaft als auch ihrer populistischen Ader. Zudem boten ihr Alleingänge die Chance, zögerliche oder widerstrebende Kollegen vor vollendete Tatsachen zu stellen und die Partei auf Standpunkte festzulegen, die sich in einer offenen Diskussion im Führungszirkel kaum durchgesetzt hätten.164 Ein gutes Beispiel für diese Taktik war Thatchers Vorpreschen in der Einwanderungsfrage, einem heiklen, emotionsgeladenen Thema, bei dem die Parteien stillschweigend übereingekommen waren, es lieber nicht in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung zu rücken. „[A]ny attempt to use immigration as a high-profile, partisan political issue is likely to be counterproductive“, hieß es in einem Strategiepapier des CRD vom Dezember 1975. „While immigration under the present Labour Government has risen substantially, it cannot be expected in light of past Conservative obligations that a Conservative Government would be able to alter the picture substantially.“165 An der konservativen Basis jedoch schwelte der Unmut über die Zuwanderung vor allem aus den Commonwealth-Staaten. Eine empörte Wählerin schrieb im September 1975 an Joseph: The indigenous white population [. . .] has never wanted a multiracial society but has never been allowed access to the Ballot Box to state its view. Therefore no British Government has ever had a mandate to set up a multiracial society in Britain, and by no standards can the British people be expected to take kindly to the present situation which is due solely to the doctrinaire stupidity (or malice? or worse?) of post war socialist politicians and the rank irresponsibility and cowardice of the Tories.166

Bemerkungen wie diese ließen fürchten, das Thema biete der rechtsextremen National Front, die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre bei Nachwahlen einige spektakuläre Erfolge erzielte, eine Chance, enttäuschte ToryWähler abzuwerben, zumal unter der Labour-Regierung die Zahl der Zuwanderer von 32 000 im Jahr 1973 auf über 55 000 im Jahr 1976 gestiegen war. Es verwundert daher nicht, daß man auch von den Hinterbänken der Tory-Fraktion im Unterhaus Unmutsbekundungen hören konnte.167 Vor

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„At first some of us thought this tendency of Margaret’s to make new policy on television was simply a matter of inexperience“, erinnerte sich Prior. „But it was her way of making certain she got her way. We did not fully appreciate at first that she was the strong, determined leader which she subsequently turned out to be“; PRIOR, S. 107. Vgl. hierzu auch KAVANAGH, Thatcherism, S. 272; RAMSDEN, Appetite, S. 426. CRD-Paper „Immigration Into Britain: Some Options for Restriction“ vom 16. Dezember 1975, in: Joseph Papers, CPA/KJ 16/5 (= Folder: Repatriation). Schreiben von Daphne Vigne-Smith an Keith Joseph vom 4. September 1975, ebd. „A deep disquiet about immigration troubles this nation as never before“, schrieb der Abgeordnete Ronald Bell. „People want to do something about it. They feel helpless“; Schreiben von Ronald Bell an Keith Joseph (ohne Datum), ebd.

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diesem Hintergrund mußte Whitelaw, seit 1976 im Schattenkabinett für Innenpolitik zuständig, die Einwanderungspolitik der Konservativen formulieren. Er tat es vorsichtig und um Ausgewogenheit bemüht. Auf dem Tory-Parteitag 1976 erklärte er, das Land benötige „[a] clear prospect of an end to immigration“.168 Gleichzeitig setzte er sich jedoch dafür ein, daß Angehörige von Immigranten, die vor 1973 nach Großbritannien gekommen waren, im Zuge einer Familienzusammenführung eingelassen wurden.169 Nicht zufällig vermerkte das Protokoll seines Auftritts vor dem ACP im Januar 1977 mehrfach die Formulierung „on the one hand [. . .] on the other hand“.170 Whitelaws Politik des „einerseits-andererseits“ reichte seiner Parteiführerin nicht aus. Sie sah jedoch keine Chance, sich mit ihrer härteren Linie innerhalb des Schattenkabinetts durchzusetzen und entschloß sich deswegen zu einer spektakulären Einzelaktion. In einem Fernsehinterview am 30. Januar 1978 nahm sie selbst zur Einwanderungsfrage Stellung. Der Zeitpunkt war geschickt gewählt. Die Callaghan-Regierung hatte im November 1977 eine Amnestie für all diejenigen verfügt, die illegal nach Großbritannien eingereist oder trotz Ablauf ihres Visums im Lande geblieben waren, was den Unmut an der Tory-Basis noch vergrößerte. Zudem stand Anfang März eine Nachwahl in North Ilford ins Haus, wo acht Prozent der Bevölkerung Asiaten und Schwarze waren und wo das Thema Einwanderung daher ganz oben auf der Liste der Wahlkampfthemen stand. Außerdem hatten sich zwei Tage vor dem Interview schwarze Jugendliche in Wolverhampton, einer Stadt in den Midlands mit einem besonders hohen Prozentsatz von Immigranten, eine Straßenschlacht mit der Polizei geliefert, Steine geworfen und Schaufenster eingeschlagen. Als Thatcher daraufhin in der Fernsehsendung World in Action nach ihrer Haltung zur Einwanderungsproblematik gefragt wurde, antwortete sie, offizielle Statistiken prognostizierten, daß die Zahl der Farbigen in Großbritannien bis zum Ende des Jahrhunderts auf vier Millionen anwachsen werde. Now, that is an awful lot and I think it means that people are really afraid that this country might be rather swamped by people with a different culture. And you know the British character has done so much for democracy, for law and done so much throughout the world, that if there is any fear it might be swamped, people are going to react and be rather hostile to those coming in.

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National Union 1976, S. 105. Siehe The Economist, 21. Januar 1976. CPA/ACP (77) 148th Meeting vom 12. Januar 1977. Vgl. auch CPA/ACP (76) 5, 15. Dezember 1976.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

Jährlich kämen etwa 45 000 bis 50 000 neue Einwanderer ins Land; sie selbst, die in einer kleinen Stadt von 25 000 Einwohnern aufgewachsen sei, wisse, was das bedeute: zwei neue Kleinstädte pro Jahr. Viermal wiederholte sie im Laufe des Gesprächs ihren Lösungsvorschlag: „[Y]ou have to hold out the prospect of a clear end to immigration.“ Die Parteien beschuldigte sie, aus Angst vor Rassismusvorwürfen nicht genügend über das Thema gesprochen und damit den Rechtsextremen in die Hände gespielt zu haben.171 Das Interview löste einen Auschrei der Empörung aus: Innenminister Merlyn Rees warf Thatcher vor, sie glaube, „race is a good thing to win a general election“, und mache daher den Rassenhaß gesellschaftsfähig.172 Schatzkanzler Healey ergänzte einen Monat später: „[S]he is seeking to appeal to some of the baser elements in the human constitution and to arouse emotions of hate and fear which she feels, cleverly exploited, might bring her party gains“.173 Der Führer der Liberalen Partei David Steel konstatierte, Thatcher zeige sich völlig verantwortungslos gegenüber der farbigen Bevölkerung des Landes, die unter ihren Bemerkungen zu leiden hätte.174 Als auch die Kirchen, große Teile der Presse und sogar einzelne konservative Politiker das Interview kritisierten, sah sich Thatcher gezwungen, darauf hinzuweisen, nicht sie, sondern ihr Gesprächspartner habe das Thema aufgebracht.175 Gleichzeitig verbreiteten Pressesprecher der ToryPartei, Thatcher habe nicht wirklich gemeint, was sie in dem Interview gesagt habe. Ihre ungeschickte Art, „aus der Hüfte zu schießen“, politisch zu improvisieren, sei auf ihre Unerfahrenheit zurückzuführen. Die Politikerin selbst bemühte sich, in den folgenden Wochen und Monaten den Vorwurf, sie sei eine Rassistin, zu entkräften. „Under our Conservative philosophy“, sagte sie etwa im Juli vor der Anglo-Asian Conservative Society, „all men are equal under the Law; whatever their colour, whatever their religion. And all are equally important; and they must have the opportunity to fulfil their own destinies, be free to live their own lives.“176 Dennoch hielt die Parteichefin an ihren Aussagen im Kern fest: „Racial harmony in Great Britain will benefit most“, erklärte sie am 12. Februar 1978, „if some of the doubts about the future are removed: doubts on numbers and doubts on commit-

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Zit. nach The Times, 31. Januar 1978. Zit. nach ebd. Zit. nach The Times, 1. März 1978. Zit. nach The Times, 6. Februar 1978. Vgl. The Times, 1. Februar 1978. Siehe COCKERELL, S. 239; WAPSHOTT und BROCK, S. 223. Vgl. The Economist, 4. Februar 1978; The Times, 7. Februar 1978. Am 14. Juli 1978 vor der Barnet Branch of the Anglo-Asian Conservative Society in London: News Service 943/78, S. 1.

1. Der Konflikt mit den innerparteilichen Gegnern

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ments. I believe that we will only succeed in maintaining and securing our traditional tolerance and fairness in this country, if we cut the number of immigrants coming in now.“ Ihren Kritikern warf sie vor, sie produzierten Nebelschwaden und riefen „Rassist“, wenn jemand versuche, in einer vernünftigen Art und Weise Ängste zu diskutieren, die viele ernsthaft beschäftigten.177 Thatchers Aussagen zur Einwanderung waren keineswegs so spontan und unbedacht gefallen, wie die Tory-Partei glauben machen wollte. Vielmehr hatte die Parteiführerin das Thema zuvor mit ihren engsten Beratern intensiv diskutiert; selbst der Gebrauch des Wortes „swamped“ scheint abgesprochen gewesen zu sein.178 Der Erfolg gab ihr recht: Ihre Ansichten wurden zwar von Journalisten, Politikern und Kirchenleuten verurteilt, bei vielen Bürgern aber kamen sie gut an.179 Wie Powell zehn Jahre zuvor erhielt auch Thatcher tausende zustimmender Briefe, viele von Labour-Wählern. Hatten die Konservativen vor dem Interview in Umfragen mit Labour etwa gleichauf gelegen, so erreichten sie danach einen Vorsprung von elf Prozent. Der Aufschwung kam gerade recht für die Nachwahlen in Ilford North in Essex, die die Tories mit einem Vorsprung von zwölf Prozent gewannen. Gleichzeitig gelang es Thatcher, die Partei auf ihre härtere Linie in der Einwanderungspolitik festzulegen. Whitelaw, den sie über ihr Fernsehinterview nicht im voraus informiert hatte, blieb nur die Wahl zwischen Rücktritt und dem Einschwenken auf den neuen Kurs. Er entschied sich für letzteres und stampfte gemeinsam mit dem CRD in den folgenden sechs Wochen eine Politik aus dem Boden, die sich im Einklang mit den Äußerungen der Partchefin befand und die er dem Conservative Central Council Mitte März als seine eigene Politik präsentierte. Seit diesem Erfolg gehörte die gezielte Provokation der Meinungseliten durch das Aufbringen von Tabuthemen und der bewußte Schulterschluß mit der Volksmeinung ins Arsenal von Thatchers politischen Waffen, mit denen sie widerstrebende Parteigremien übertölpelte und ihren Status als populistische Volkstribunin untermauerte.180 177 178

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Am 12. Februar 1978 auf der Young Conservative National Conference in Harrogate: News Service 194/78, S. 2. Vgl. auch Conservative Monthly News, März 1978, S. 3. Sherman hatte schon eineinhalb Jahre zuvor für eine andere Politik plädiert; vgl. seine beiden Artikel im Daily Telegraph, 8. und 9. September 1976. Siehe hierzu und zum folgenden auch COCKERELL, S. 239–40; WAPSHOTT und BROCK, S. 223. Powell pries mit typischer Emphase „[the] great surge of hope and relief which a single word [. . .] by the Conservative leader evoked from one end of the country to the other“; zit. nach COSGRAVE, Powell, S. 444. Vgl. RAMSDEN, Appetite, S. 427. Vgl. Whitelaws Version der Ereignisse in WHITELAW, S. 153–4.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

2. DER STREIT UM DIE KONSERVATIVE GEWERKSCHAFTSPOLITIK A)

DIE AUSGANGSLAGE, 1975–1977

Im Mittelpunkt der politischen Themen, mit denen sich die Tory-Partei in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre auseinandersetzen mußte, standen die eng miteinander verzahnten Probleme von Inflation und dem Einfluß der Gewerkschaften. Vor allem die Frage nach dem Verhältnis zu den Gewerkschaften, die zwischen 1974 und 1979 den Zenit ihrer Macht erklommen, wurde für die Tories immer wichtiger. Zum einen stiegen deren Mitgliederzahlen von elfeinhalb auf mehr als 13 Millionen, den höchsten Stand in der Geschichte des Landes.181 Zum anderen übten sie in diesen Jahren größeren politischen Einfluß aus als jemals zuvor. Unter Wilson gestalteten sie in den Jahren 1974/75 die Regierungspolitik maßgeblich mit. Sein Nachfolger Callaghan, der erste ehemalige Gewerkschaftsfunktionär, der in 10 Downing Street einzog, räumte ihnen kaum geringere Gestaltungsmöglichkeiten ein. Er, der wie kein zweiter die gewerkschaftliche Verwurzelung der Partei verkörperte, verdankte seine gesamte Karriere der Unterstützung durch die Gewerkschaftsbewegung. „[W]ait till the trade unions decide their line and follow them“, lautete sein politisches Erfolgsrezept, wie er bereits in den vierziger Jahren einem Gesprächspartner verriet.182 Die Labour-Regierung machte die Gewerkschaftsgesetzgebung ihrer konservativen Vorgängerin rückgängig, stellte im Trade Unions and Labour Relations Act von 1974 die gewerkschaftliche Zwangsmitgliedschaft in den Closed Shop-Betrieben auf eine gesetzliche Grundlage und erweiterte 1976 in einem Amendment Act den bereits seit 1906 zugestandenen Schutz der Gewerkschaften vor Haftungs- und Schadensersatzansprüchen. Im Employment Protection Act vom selben Jahr gewährte sie zudem einen weitgehenden gesetzlichen Kündigungsschutz. Der Einsatz von Streikposten (pickets) wurde als „nicht ungesetzlich“ bezeichnet und der Einsatz „fliegender Streikkommandos“ an fremden Arbeitsstätten unter bestimmten Umständen zugelassen (secondary picketing). Außerdem sollte eine unabhängige Schlichtungsinstanz, der Advisory Counciliation and Arbitration 181

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Da gleichzeitig die Zahl der Einzelgewerkschaften leicht zurückging, wuchs die Mitgliederschaft der durchschnittlichen Gewerkschaft von 19 000 im Jahr 1969 auf 30 000 zehn Jahre später, was ihre Position weiter stärkte. Der Anstieg ist zum Teil auf den Zustrom von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zurückzuführen, die zuvor vergleichsweise selten einer Gewerkschaft beigetreten waren, aber in Zeiten rapider Geldentwertung ihren Lebensstandard verteidigen wollten; vgl. PELLING, S. 299, 321, KENNETH O. MORGAN, Callaghan. A Life, Oxford 1997, S. 654. GEORGE WIGG, George Wigg, London 1972, S. 254.

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Service, den von der konservativen Vorgänger-Regierung vorgesehenen Rekurs auf Gerichte ausschließen. Als Folge dieser arbeitnehmerfreundlichen Gesetzgebung stieg die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften weiter, der Einfluß der Gewerkschaftsführer wuchs.183 Vor diesem Hintergrund verwundert das Ergebnis einer Gallup-Umfrage vom Januar 1977 kaum, die ermittelte, daß 54 Prozent der Briten Jack Jones, den Vorsitzenden der größten Einzelgewerkschaft TGWU, für den mächtigsten Mann im Lande hielten – nur 25 Prozent dachten an den Regierungschef.184 Schon deshalb mußte jede Oppositionspartei über ein klares Konzept für den Umgang mit den Gewerkschaften verfügen. Untrennbar mit der Gewerkschaftspolitik verbunden war aber auch die Frage der Inflationsbekämpfung. Denn die von den Gewerkschaften maßgeblich bestimmte Lohnentwicklung hatte direkte Auswirkungen auf die Preisstabilität.185 Die traditionelle Antwort, die britische Politiker in der Nachkriegszeit auf die doppelte Herausforderung durch Inflation und Gewerkschaftsmacht gaben, war der Ruf nach einer staatlichen Lohnpolitik, sei sie gesetzlich verankert oder auf der Grundlage freiwilliger Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und dem Staat.186 Schon die Attlee-Regierung hatte 1948 bis 1950 im Einvernehmen mit dem TUC eine Periode freiwilliger Lohnzurückhaltung durchgesetzt, um auf die ökonomischen Krisensymptome der späten vierziger Jahre zu reagieren. Obwohl es im Verlauf des folgenden Jahrzehnts keine neuen Anläufe gab, verschob sich der wirtschaftspolitische Konsens allmählich in Richtung staatlicher Intervention, so daß Macmillan 1962 konstatieren konnte, eine Lohnpolitik sei inzwischen „necessary as a permanent feature of our economic life“.187 Auch in der Labour-Partei breitete sich die Überzeugung aus, eine Lohnpolitik in der einen oder anderen Form sei „a permanent element of our national life“, 183 184

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Siehe etwa MICHAEL MORAN, The Conservative Party and the Trade Unions Since 1974, in: Political Studies 27, 1979, S. 45. The Times, 4. Januar 1977; vgl. auch TAYLOR, S. 231; BRIAN HARRISON, Incomes Policies in Britain since 1940: A Study in Political Economy, in: CHRISTINE BRULAND und PATRICK O’BRIEN (Hrsg.), From Family Firms to Corporate Capitalism: Essays in Business and Industrial History in Honour of Peter Mathias, Oxford 1998, S. 274. Der Einzelhandelspreisindex als Indikator inflationärer Tendenzen zeigt, wie ernst die Lage in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre geworden war: Er stieg von 9.2 Prozent 1973 auf 16 Prozent 1974 und 24.2 Prozent 1975, ehe er 1976 auf 16.5 Prozent, 1977 auf 8.3 Prozent und 1978 auf 8.3 Prozent sank, nur um 1979 wieder auf 13.4 Prozent emporzuschnellen; siehe TAYLOR, S. 385 (Appendix 5). Siehe hierzu und zum Folgenden BRIAN HARRISON, Incomes Policies in Britain since 1940: A Study in Political Economy, in: BRULAND und O’BRIEN (Hrsg.); SAMUEL BRITTAN und PETER LILLEY, The Delusion of Incomes Policy, London 1977. Am 26. Juli 1962 im Unterhaus; Hansard Vol. 624, Col. 1757.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

wie Wirtschaftsminister Michael Stewart 1967 unwidersprochen feststellte.188 Seine Partei vertraute in den Jahren 1964 bis 1966 zunächst auf eine freiwillige Regelung, ehe sie zwischen 1966 und 1970 zu einer gesetzlichen Festschreibung überging. Dieser parteiübergreifende Konsens blieb in den folgenden Jahren bestehen, auch wenn die Heath-Regierung 1970 mit dem Versprechen antrat, keine staatlichen Einkommenskontrollen zu verhängen, und Wilson 1974 den Gewerkschaften zunächst weitgehend freie Hand bei der Aushandlung der Lohnabschlüsse ließ. Beide Politiker mußten jedoch ihre Entscheidung bitter büßen. Heath kehrte 1972 reumütig zur Lohnpolitik zurück. Und auch Wilsons Kurs, auf freiwillige Selbstbeschränkung der Arbeitnehmer und Wiedereinführung des free collective bargaining zu setzen, erwies sich in der Regierungsverantwortung als nicht tragfähig. Angesichts horrender Lohnforderungen, schwindenden Vertrauens der internationalen Anleger in die britische Wirtschaft und einer drohenden Hyperinflation sah der Premier im Frühsommer 1975 nur einen Ausweg: die Rückkehr zu jener staatlichen Einkommenspolitik, für die man die konservative Regierung zuvor heftig kritisiert hatte. Wilson stand nun vor der Aufgabe, die Gewerkschaften zur Einwilligung zu bewegen, ohne die einvernehmliche Zusammenarbeit mit ihnen zu gefährden. Zur Schlüsselfigur bei diesem Unterfangen wurde Jack Jones, der fürchtete, eine Inflationsrate von 30 Prozent würde den Sturz der sozialistischen Regierung bedeuten und eine gewerkschaftsfeindliche Tory-Regierung ans Ruder bringen, zumindest aber eine Koalitionsregierung, die weniger bereitwillig mit den Gewerkschaften kooperieren würde. Er schlug daher eine einheitliche und verbindliche Erhöhung des Wochenlohnes aller Arbeitnehmer um acht Pfund vor. Dieser Kompromißvorschlag, der in den folgenden Diskussionen auf eine Erhöhung um sechs Pfund abgesenkt wurde, hatte den Vorzug, daß er nominell als freiwillige Übereinkunft gelten konnte. Ein offener Bruch sozialistischer Wahlkampfversprechen wurde somit vermieden, auch wenn sich die neue Regelung in der Sache von einer förmlichen Einkommenspolitik kaum unterschied.189

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Zit. nach BRIAN HARRISON, Incomes Policies in Britain since 1940: A Study in Political Economy, in: BRULAND und O’BRIEN (Hrsg.), S. 272. Außerdem kam die Festlegung auf eine einheitliche Lohnerhöhung für alle Einkommensklassen den sozialistischen Kräften in den Gewerkschaften entgegen, weil Arbeiter mit geringem Einkommen proportional stärker von ihr profitierten. Aus der Sicht des Schatzkanzlers schließlich gelang es, von einer Phase ungehemmter Lohnexplosion zu einer geregelten Politik überzugehen, die den Kampf gegen die Inflation nicht hindern, sondern fördern würde. Vgl. HOLMES, Labour Government, S. 26–34; MIDDLEMAS, Power, S. 90–9; DELL, Chancellors, S. 416–8.

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Die Strategie erwies sich zunächst als Erfolg. Im folgenden Jahr lagen die Lohnzuwächse, die durchschnittlich etwa 4,5 Prozent betrugen, deutlich unter dem Anstieg der Lebenshaltungskosten. Auch für 1977/78 konnte eine einheitliche Regelung von zehn Prozent durchgesetzt werden. Die Lohnpolitik war sogar zunächst erstaunlich populär. Im April 1976 sprachen sich 82 Prozent der Gewerkschafter für deren erste Phase aus und immerhin 63 Prozent befürworteten auch Phase Zwei.190 Dennoch barg das Instrument der Lohnpolitik für jeden Politiker, der es anwandte, ein nicht zu unterschätzendes Risiko: die Konfrontation mit Gewerkschaften, die es als ihre zentrale Aufgabe ansahen, möglichst hohe Lohnabschlüsse für ihre Mitglieder zu erzielen. Schon 1948 bis 1950 hatten nicht alle Gewerkschaften die Politik freiwilliger Lohnzurückhaltung mitgetragen. Frank Cousins, Jones’ Vorgänger als Vorsitzender der TGWU, trat 1966 aus Protest gegen die Lohnpolitik der Wilson-Regierung von seinem Posten als Technologieminister zurück. In den siebziger Jahren endeten sowohl der konservative Versuch einer gesetzlich verankerten Lösung als auch Labours formal freiwillige Regelung mit Streiks der Gewerkschaften. „A Labour Government can get away with an incomes policy for three years“, erklärte 1978 ein Gewerkschaftsführer Schattenarbeitsminister Prior, „and a Conservative can get away with one for two years. So the difference is twelve months.“191 Den zuständigen Ministern wurden die mit einer Lohnpolitik verbundenen Gefahren zunehmend bewußt, ohne daß sie Alternativen zu ihr erkennen konnten. Healey hielt die Einführung einer derartigen Politik für genauso verrückt wie einen Sprung aus dem zweiten Stockwerk: „No one in his senses would do it unless the stairs were on fire. But in postwar Britain, the stairs have always been on fire.“192 Für die Tory-Partei stellten sich im Zusammenhang mit den Themenkomplexen Inflation und Gewerkschaften vor allem zwei Fragen. Die erste bezog sich auf die mittel- und langfristigen ökonomischen Erfolgsaussichten ihrer Politik: Wie erreichte man am besten eine dauerhaft stabile Lohnund Preisentwicklung und friedliche Beziehungen zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und der Regierung? Die zweite Frage hatte mit der strategischen Positionierung der Partei gegenüber den Gewerkschaften zu tun: Wie konnte eine Wiederholung der traumatischen und demütigenden Niederlagen verhindert werden, die die Gewerkschaften der Heath-Regierung

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Sunday Times, 11. April 1976. PRIOR, S. 111. HEALEY, S. 399–400.

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1972 und 1974 beigebracht hatten?193 Auf diese beiden Fragen wurden innerhalb der Tory-Partei zwischen 1975 und 1979 ganz unterschiedliche Antworten gegeben. Der für die Gewerkschaftspolitik zuständige Schattenminister Prior sah im Zusammenstoß mit den Gewerkschaften den wichtigsten Grund für das Scheitern der Heath-Regierung. Nur eine Fortsetzung des im Oktoberwahlkampf 1974 begonnenen Versöhnungskurses konnte seiner Meinung nach eine neuerliche Konfrontation und eine weitere Niederlage seiner Partei verhindern. Hatte der konservative Premierminister Stanley Baldwin nicht schon in der Zwischenkriegszeit gescherzt, ein weiser Mann werde sich niemals mit dem Papst oder der National Union of Mineworkers anlegen? Prior hielt es für seine wichtigste Aufgabe, ein Vertrauensverhältnis zu den Führern des TUC aufzubauen und um Verständnis für die Leitlinien der Gewerkschaftspolitik einer künftigen konservativen Regierung zu werben. „We must counter the gross distortion that Labour is co-operative and understanding, whilst the Conservatives were interfering and ignorant“, schrieb er in einem Strategiepapier vom Januar 1976, in dem er sich für „a cautious, considered approach“ aussprach.194 Ein wichtiger Bestandteil seiner Politik, die von den meisten moderates unterstützt und von einflußreichen Blättern wie der Times, dem Economist und dem Spectator positiv kommentiert wurde, war der Verzicht auf weitreichende Gesetze zur Eindämmung gewerkschaftlicher Macht.195 Die Parteibasis bat er, nicht in eine antigewerkschaftliche Haltung zurückzufallen.196 Auf dem Parteitag vom Oktober 1976 warb er für „conciliation and understanding“ gegenüber den Gewerkschaften und verwahrte sich gegen den „Mythos“, eine Rückkehr der Tories an die Macht bedeute Konfrontation.197 Ein Verbot des closed shop, der bei der konservativen 193 194 195

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Ähnlich auch MICHAEL MORAN, The Conservative Party and the Trade Unions Since 1974, in: Political Studies 27, 1979, S. 44. JIM PRIOR, Industrial Relations and the Trade Unions vom 12. Januar 1976, in: CPA/ ACP/76/1. Der konservative Unterhausabgeordnete Norman St. John-Stevas schrieb: „No government in Britain can hope to succeed today without the good will of the unions“; NORMAN ST. JOHN-STEVAS, The Disappearing Consensus, in: ANTHONY KING (Hrsg,), Why is Britain Becoming Harder to Govern?, London 1976, S. 58–9. Als Beispiele positiver Kommentare in der Presse vgl. The Times, 28. Februar 1976; Spectator, 19. Juni 1976 und 9. Oktober 1976. „It would be all too easy – and popular with some sections of the Party – to indulge in union bashing“, erklärte er dem ACP. Es sei absolut notwendig „to restore confidence between ourselves and the trade unions, even if at the end of the day we were likely to convince only a small percentage. It [has] to be a quiet, long-term exercise“; CPA/ACP (76) 142nd Meeting vom 14. Januar 1976. Vgl. The Times, 20. März 1976 und vom 16. März 1977. National Union 1976, S. 55. Siehe auch The Times, 7. Oktober 1976; Spectator, 9. Oktober

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Basis nach wie vor als Symbol gewerkschaftlichen Machtmißbrauchs galt, schloß er aus.198 In der Frage der Lohnpolitik taktierte Prior vorsichtig. Das Schicksal Heaths, der sich als Oppositionsführer strikt gegen jede Form der Lohnpolitik ausgesprochen hatte, nur um sie dann als Regierungschef doch einzuführen, lehrte ihn, Festlegungen zu vermeiden. Er gab seine Vorliebe für Vereinbarungen über freiwillige Lohnzurückhaltung zu erkennen und erklärte, eine Tory-Regierung „[would] make every effort to avoid any return to a statutory incomes policy“.199 Gleichzeitig machte er deutlich, daß seine Bedenken gegen eine gesetzliche Regelung nicht grundsätzlicher Natur waren, sondern den mit ihr verbundenen praktischen Schwierigkeiten galten. Eine Rückkehr zum Prinzip des free collective bargaining schloß er hingegen aus.200 Radikalere Akzente setzten Heath und Walker, die sich als Hinterbänkler nicht der Disziplin des Schattenkabinetts unterwerfen mußten. Sie vertraten den Standpunkt, daß man angesichts kompromißloser Gewerkschaften nicht auf eine Lohnpolitik verzichten konnte, mochte diese noch so unbefriedigend sein.201 In einer Broschüre der von Walker geleiteten Tory Reform Group hieß es im Dezember 1976: „[T]he damage of the disadvantages of an incomes policy is nothing compared with the damage of having no incomes policy at a time when union power is likely to be exercised not on the basis of what one individual firm or industry can afford but on a competitive basis between one union and another.“202 Eine gesetzliche Festschreibung der Lohnhöhe schlossen Walker und seine Anhänger nicht aus. Sie waren jedoch bereit, den Gewerkschaften im Ausgleich dafür auf anderen Gebieten weit entgegen zu kommen.203 Insgesamt liefen diese Ideen auf

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1976. Vgl. auch JAMES PRIOR, An Open Crusade for Common Sense, in: Conservative Monthly News, Mai 1977, S. 5. Vgl. etwa Sunday Times, 22. Mai 1977. Zit. nach The Times, 14. Mai 1977. Vgl. auch PRIOR, S. 109. Siehe etwa The Times, 4. April 1977. Vgl. WALKER, Staying Power, S. 141. „[A]n incomes policy is part of economic management“, erklärte Heath im Juli 1976 im Unterhaus, „the better one can make that aspect of policy, the more suitably and flexibly the economy will be managed“; am 7. Juli 1976 im Unterhaus, Hansard Vol. 914, Col. 1427. Vgl. auch Heaths Rede vom 22. Juli 1975 im Unterhaus, Hansard Vol. 896, Cols. 339–49. Zit. nach The Times, 20. Dezember 1976. Etwa bei der Frage betrieblicher Mitbestimmung oder der Beteiligung von Arbeitnehmern an den Gewinnen der Unternehmen, in denen sie beschäftigt waren, bis hin zur Gründung eines paritätisch besetzten Wirtschaftsparlaments, das für die einvernehmliche Schlichtung von Tarifkonflikten zuständig sein sollte.

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einen Ausbau der korporatistischen Ansätze hinaus, die die Heath-Regierung 1972 bis 1974 entwickelt hatte.204 Heaths und Walkers Ansichten wurden von einigen Mitgliedern des Schattenkabinetts geteilt. Politiker wie Gilmour und Maudling konnten sich zwar mit Rücksicht auf die Kabinettsdisziplin nicht öffentlich zu ihrem Standpunkt bekennen. Hinter verschlossenen Türen setzten sie sich jedoch für eine Neuauflage konservativer Lohnpolitik ein. Im Mai 1976 verteilte Maudling ein Memorandum an seine Kollegen im Schattenkabinett, in dem er seine Argumente für eine gesetzliche Festschreibung der Lohnhöhe und gegen die Praxis des free collective bargaining darlegte. „The sole and overwhelming reason why an incomes policy is needed“, schrieb er, „is to deal with the monopoly power which the unions now possess and, even more important, are now fully conscious that they do possess.“ Solange die Gewerkschaften über die Macht verfügten, einzelne Firmen oder ganze Industriezweige in den Ruin zu treiben und das Wirtschaftsleben des Landes zum Stillstand zu bringen, verbiete sich jeder Gedanke an freie Aushandlung der Löhne von selbst. Das einzige, was die Regierung tun könne, sei, Druck auf die Gewerkschaften auszuüben, „to exercise moderation in their demands; which is what succeeding Conservative administrations have meant by an incomes policy“.205 Einen diametral entgegengesetzten Standpunkt vertrat Joseph, der seit seiner Rede in Preston vom September 1974 als entschiedener Gegner einer Lohnpolitik ausgewiesen war. In einem Leserbrief an die Times bekräftigte er im Februar 1977 seinen Standpunkt: Er bekenne sich zum Wert des free collective bargaining und glaube nicht, „that incomes policy and the social contract are economically beneficial. I argue that these arrangements, far from helping the economy, are a root cause of the inflation, unemployment, stagnation and balance of payments crises which have plagued us over the past two years. If these measures are continued, the ills will be intensified.“206 Zu dem von Joseph vertretenen monetaristischen Credo gehörte die These, daß übermäßige Lohnforderungen der Gewerkschaften die Inflation nicht in die Höhe treiben konnten, solange die Regierung der Versuchung widerstand, die Geldmenge allzu rasch zu vergrößern. Dennoch hielt der Politiker eine Begrenzung der Macht der Gewerkschaften lang-

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Vgl. Walkers Vorschläge vom Mai 1976, abgedruckt in: The Times, 20. Mai 1976. Siehe auch MORAN, S. 49–53. REGINALD MAUDLING, Incomes Policy. Memorandum circulated to the Shadow Cabinet vom 21. Mai 1976, abgedruckt in: MAUDLING, S. 265–7 (S. 266). The Times, 24. Februar 1977.

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fristig für unumgänglich. Wenn diese auch nicht direkt für die Geldentwertung verantwortlich waren, verfügten sie doch über ein beträchtliches Zerstörungspotential.207 Josephs Position unterschied sich völlig von der traditionellen Haltung der Nachkriegskonservativen gegenüber den Gewerkschaften. Bislang hatten sie entweder versucht wie Prior (und vor ihm zum Beispiel Churchills Arbeitsminister Walter Monckton), einem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Oder sie hatten ihn wie Heath und Walker auf dem Felde der Lohnpolitik gesucht, während sie zugleich ihre Bereitschaft signalisierten, dem TUC weitgehende politische Mitspracherechte einzuräumen. Josephs Bekenntnis zum free collective bargaining hingegen deckte sich mit dem klassischen lohnpolitischen Standpunkt der Gewerkschaften. Allerdings wollte er deren Rolle allein auf die freie Aushandlung von Tarifverträgen beschränkt wissen; weitergehende Mitbestimmungsrechte sollten ihnen in einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft nicht zukommen. Josephs Strategie hatte den Nachteil, daß sie selbst denjenigen zu radikal erschien, in deren Interesse er zu handeln glaubte: den britischen Arbeitgebern. Als sich Thatcher, Howe, Prior und Joseph im Januar 1976 mit der CBI-Führung trafen, erklärte man ihnen, der Verband habe sich bereiterklärt, die Lohnpolitik der Regierung ein zweites und notfalls auch noch ein drittes Jahr mitzutragen, und bitte die Tories, dies ebenfalls zu tun.208 Andererseits sprach Joseph großen Teilen der Parteibasis und vor allem den Anhängern der „Neuen Rechten“ aus der Seele. Schon 1972 hatten manche von ihnen instinktiv gegen das rebelliert, was sie als „syndikalistische Wende“ der Heath-Regierung empfanden.209 Im Frühjahr 1976 warf Ridley seinen Parteifreunden, die sich für eine Lohnpolitik einsetzten, gar vor, sie seien „subconscious believers in the Corporate State – advocates of a sort of sublimated fascism“.210 Auch die Versöhnungsstrategie Priors erschien vielen wenig aussichtsreich, ja kontraproduktiv. Ihr Risiko bestehe darin, daß sie den Tories nicht die Kooperation, sondern die Verachtung der Gewerkschaften einbringe, schrieb Boyson. „The unions, like all outcrops of a free

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„[T]hey can, by excessive pay increases, cause unemployment. They can bankrupt firms, deprive other workers, rob the Government of the scope to improve social services and force Government to raise taxes“; Hansard Vol. 890; col. 1009. Siehe hierzu THATCHER, Erinnerungen, S. 370. Ähnlich auch MIDDLEMAS, Power, S. 212. Im Spectator konnte man damals etwa lesen: „Over the last few years we have begun to see British parliamentary democracy give way slowly to a syndicalist system [. . .] the country will be governed by a slightly shifting group of politicians, some union leaders, and some employers, not in the interests of the nation as a whole, but in an attempt to preserve some kind of balance of power between elements in the group“; Spectator, 4. November 1972. NICHOLAS RIDLEY, Against an Incomes Policy, in: Spectator, 27. März 1976.

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society, should be accepted as spontaneous voluntary organisations. They should not have special privileges nor suffer special disadvantages.“211 Zustimmung fand Josephs Linie auch bei der Selsdon Group und der NAFF, in deren individualistisches Weltbild sich das Plädoyer für ungehemmtes free collective bargaining ebenso gut einfügte wie die Forderung, alle anderen Tätigkeitsfelder der Gewerkschaften sollten radikal beschnitten werden. Der Versuch, Einvernehmen mit den Gewerkschaftsführern herzustellen, wurde mit der Aussichtslosigkeit entspannungspolitischer Fühlungnahme mit der Sowjetunion verglichen. Beides sei zum Scheitern verurteilt, weil der Gegner nur auf die Sprache einer Politik der Stärke, nicht aber der Verständigung höre.212 Bevorzugte Zielscheibe der Angriffe von Aktivisten der NAFF und der Selsdon Group war Prior, „[who] has been running up the white flag to see whether anyone, especially among the voters, will salute it“, wie es im März 1976 in The Free Nation hieß.213 Prior und Seinesgleichen wurden als ideenlose, defätistische Opportunisten verspottet, denen es nur darum zu tun war, ihre eigenen Privilegien zu verteidigen.214 Hinter den Schimpftiraden verbarg sich eine schwer zu widerlegende strategische Erkenntnis: Beim Werben um die Gunst der Gewerkschaften hatten die Tories notwendigerweise schlechtere Karten als Labour. Jede Politik, die wie die Lohnpolitik auf eine Zusammenarbeit der Regierung mit dem TUC angewiesen war, würde die Konservativen daher nach Ansicht der NAFF ins Abseits führen. Russell Lewis schrieb im Mai 1976: Nothing that Jim Prior is in a position to offer [the trade unions], e.g. in guaranteeing the closed shop, compares with what they can receive in both power and preferment under a Labour Government [. . .] once the Conservatives accept that incomes policy is the lynch-pin of their economic policy generally they are likely to be in perpetual opposition. Because the unions can keep them out of power by simply refusing their co-operation.215

Die Tories müßten aufhören, ihr Heil in irgendeiner Form der Lohnpolitik zu suchen, und sich statt dessen auf einen Zusammenstoß mit den Gewerkschaften vorbereiten. „It is not confrontation, after all, which would be the ultimate tragedy: the ultimate tragedy would be to have a confrontation and

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BOYSON, Centre Forward, S. 50. Vgl. etwa RUSSELL LEWIS, Mrs Thatcher, Please Don’t Sell Out to the Union Left, in: The Free Nation, 19. März 1976, Bd. 1, Nr. 1, S. 1–2. Ebd., S. 1. Siehe etwa CALCRAFT, Jimlet, or the Art of giving Tories a Bad Name, in: The Free Nation, 9. Juli 1976, Bd. 1, Nr. 9, S. 1–2 (S. 2). RUSSELL LEWIS, Incomes Whitewash, in: The Free Nation, 28. Mai 1976, Bd. 1, Nr. 6, S. 9.

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lose.“216 Der Direktor des NAFF, Robert Moss, legte in seinem 1975 erschienenen Buch The Collapse of Democracy ausführlich dar, wie er sich eine Planung für den Notfall vorstellte: Kohle- und Ölvorräte müßten angelegt, private Transportmöglichkeiten organisiert, Notfallpläne für den Einsatz des Heeres und ziviler Freiwilliger aufgestellt und eine intelligente Propagandastrategie vorbereitet werden.217 Unterstützung erhielt Joseph auch von Friedrich von Hayek. Dieser hatte schon 1947 in einem Vortrag vor der Mont Pèlerin Society konstatiert: „[I]f there is to be any hope of a return to a free economy the question how the powers of trade unions can be appropriately delimited in law as well as in fact is one of the most important of all the questions to which we must give our attention.“218 1960 führte er diesen Gedanken im Gewerkschaftskapitel seiner Verfassung der Freiheit aus. Das Grundübel bestehe darin, daß die Gewerkschaften „einzigartig privilegierte Institutionen geworden sind, für die die allgemeinen Regeln des Rechts vielfach nicht gelten“.219 Es sei ihnen gelungen, dem Staat das Gewaltmonopol zu entreißen, ein eigenes Zwangssystem zu etablieren, die Wirkung der Marktkräfte zu blockieren und eine Elendspirale von Inflation, Arbeitslosigkeit und immer hilfloseren Staatsinterventionen in Gang zu setzen. Die einzige Möglichkeit, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, erblickte er darin, daß die Immunität der Gewerkschaften aufgehoben werde und diese sich wieder „denselben allgemeinen Rechtsgrundsätzen unterordnen müssen, die auch sonst für jedermann gelten“.220 Schon 1960 hatte von Hayek Großbritannien als Paradebeispiel für seine These vom destruktiven Einfluß übermächtiger Gewerkschaften gesehen. Durch die Entwicklung der folgenden zwanzig Jahre fühlte er sich in dieser Einschätzung bestätigt. Als die britische Krise in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ihrem Höhepunkt zustrebte, schaltete er sich direkt in die politische Debatte ein. Seiner Ansicht nach mußte man das Übel bei der Wurzel packen – der gesetzlichen Privilegierung der Gewerkschaften. „[T]here is no salvation for Britain until the special privileges granted to the unions by the Trade Disputes Act of 1906 are revoked“, schrieb er im Juli 1977 in einem Leserbrief an die Times. Die Privilegien, die man den Gewerkschaften eingeräumt habe, seien die wichtigste Ursache des wirtschaftlichen Niedergangs des Landes. Daran könne weder eine Labour216 217 218 219 220

RUSSELL LEWIS, Mrs Thatcher, Please Don’t Sell Out to the Union Left, in: : The Free Nation, 19. März 1976, Bd. 1, Nr. 1, S. 1–2 (S. 2). Siehe ROBERT MOSS , The Collapse of Democracy, London 1975, S. 117. Zit. nach COCKETT, S. 114. VON HAYEK, Verfassung, S. 339. Ebd., S. 354.

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noch eine Tory-Regierung etwas ändern, solange es ihr an dem Wille mangele, die Fehlentwicklung rückgängig zu machen.221 Eine vermittelnde Position im Streit um die Gewerkschaftspolitik nahm der Schattenschatzkanzler ein. Auf der einen Seite maß er als überzeugter Monetarist der Begrenzung des Geldmengenwachstums überragende Bedeutung im Kampf gegen die Inflation bei. In der Überzeugung, daß man die Macht der Gewerkschaften gesetzlich beschneiden müsse, wußte sich Howe, der unter Heath maßgeblich an der Ausarbeitung des Industrial Relations Act beteiligt gewesen war, ebenfalls mit Joseph einig, auch wenn beide sich zunächst mit öffentlichen Äußerungen zu dieser Frage zurückhielten.222 Auf der anderen Seite hielt er jedoch staatliche Absprachen mit den Gewerkschaften für unumgänglich, wenn man eine Lohnexplosion und die damit verbundene Massenarbeitslosigkeit verhindern wollte. Nur wenn die Regierung sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer für ihre Politik der Inflationsbekämpfung gewinnen konnte, habe sie Aussicht auf Erfolg, hatte er bereits vor Thatchers Wahl zur Parteichefin im Januar 1975 erklärt.223 In seiner Economic Reconstruction Group, in der alle mit Wirtschaftsfragen betrauten Mitglieder des Schattenkabinetts versammelt waren, arbeitete er konsequent auf einen programmatischen Mittelweg hin, mit dem alle Beteiligten leben konnten, Prior und Gilmour ebenso wie Joseph und Ridley. Die Leitlinien eines denkbaren Kompromisses skizzierte Howe im Sommer 1976 in einer Rede vor der Bow Group, in der er feststellte, er glaube nicht, „that this problem will most easily be solved by those of us who are tempted to see the answer in theological absolutes“. Auch wenn man keine gesetzliche Lohnpolitik anstrebe, müsse man sich über die Frage der Lohnentwicklung Gedanken machen, schon allein deshalb, weil der Staat im öffentlichen Dienst direkt und in den Staatsbetrieben indirekt als Arbeitgeber fungiere. „If not an ,incomes policy‘, then at least ,a policy for incomes‘“, lautete Howes Konsensformel.224 Dieser Linie entsprachen die vorsichtigen Formulierungen im entsprechenden Kapitel des Parteidokuments The Right Approach vom Oktober 1976. „Restraint in pay bargaining“ hieß es dort, „serves to curb the alternative of unemployment, to secure the growth of profits as the basis for future jobs, to control the size of the pay and salary 221 222 223 224

Siehe The Times, 21. Juli 1977. Vgl. auch einen zweiten Leserbrief von Hayeks knapp zwei Wochen später: The Times, 2. August 1977. Vgl. HOWE, S. 100. Am 10. Januar 1975 beim Huddersfield & Spen Valley Incorporate Chamber of Commerce Centenary Dinner in Ainley Top: News Service 20/75, S. 8. Zit. nach HOWE, S. 100.

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element in public spending and to diminish inflationary expectations.“ Ein derartiges Plädoyer für Lohnzurückhaltung bedeute jedoch nicht, daß sich die Partei für eine voll ausgebildete Lohn- und Preispolitik einsetze. „Experience does not suggest that this is the best way of finding a long-term solution to the problem. That same experience demonstrates the unwisdom of flatly and permanently rejecting the idea.“225 Ein Jahr später präsentierte Howes Arbeitsgruppe das Ergebnis ihrer Bemühungen, das sie unter dem Titel The Right Approach to the Economy publizierte. Darin wurde nicht nur eine disziplinierte Geld- und Fiskalpolitik befürwortet, strikte Geldmengenziele anvisiert und eine drastische Reduzierung der öffentlichen Ausgaben versprochen, sondern auch die Notwendigkeit maßvoller Lohnabschlüsse betont: nicht „free collective bargaining“, sondern „responsible collective bargaining“, wie es hieß. Die Klammer, die das Maßnahmenbündel zusammenhielt, bildete die schon in The Right Approach anklingende Idee einer „Konzertierten Aktion“, in deren Rahmen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammenkommen sollten, um über wirtschaftspolitische Fragen zu beraten.226 Die Idee eines Wirtschaftsforums, das unverkennbar dem Vorbild der bundesdeutschen Tarifgespräche nachempfunden war, stieß jedoch bei der Parteichefin auf heftige Ablehnung und führte dazu, daß die Broschüre nicht als offizielles Dokument des Schattenkabinetts erscheinen durfte. „Das Papier erschreckt mich [. . .] zu Tode“, hatte Thatcher schon während der Vorbereitungsphase des Textes an Howe geschrieben. „Wir müssen einiges von diesem fürcherlichen Jargon wirklich vermeiden.“227 Die Politikerin hatte andere Vorstellungen davon, wie eine Lösung in den delikaten Fragen der Gewerkschafts- und Lohnpolitik aussehen sollte. Zwar unterstützte sie Howes Bemühungen um Formelkompromisse, „mit denen sich die Risse verkleistern ließen“, und legte die Fraktion bis auf weiteres darauf 225 226

227

Right Approach, S. 37 [Hervorhebungen im Original]. Im entscheidenenden Absatz hieß es: „[I]n framing its monetary and other policies the Government must come to some conclusions about the likely scope for pay increases if excess public expenditure or large-scale unemployment is to be avoided; and this estimate cannot be concealed from the representatives of employers and unions whom it is consulting. This is one of the reasons why some kind of forum is desirable, where the major participants in the economy can sit down calmly together to consider the implications – for prosperity as well as for unemployment and pay-bargaining – of the Government’s fiscal and monetary policies“; Right Approach to the Economy, S. 16. Vgl. auch schon Right Approach, S. 38. Zit. nach THATCHER, Erinnerungen, S. 474. Vgl. auch HOWE, S. 101. Über den Vorbildcharakter des bundesrepublikanischen Modells herrschte keine Einigkeit im thatcheristischen Lager. Nigel Lawson zum Beispiel war wie Howe ein Anhänger des deutschen Mitbestimmungsmodells während John Hoskyns diesem skeptisch gegenüberstand; vgl. HOSKYNS, S. 67–8.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

fest, sich bei den anstehenden Abstimmungen über die Lohnpolitik der Labour-Regierung zu enthalten.228 Gleichzeitig scheute sie jedoch vor Festlegungen in Einzelfragen zurück, besonders wenn sie wie die „Konzertierte Aktion“ in den Planungen des Schattenschatzkanzlers ihrer Ansicht nach „ein gutes Stück Korporatismus und zentrale Entscheidung“ beinhalteten.229 Statt dessen hielt sie sich an das, was ihr der Präsident der Conservative Trades Unionist Conference, der Unterhausabgeordnete Norman Tebbit, kurz nach ihrer Wahl zur Parteichefin geraten hatte. Auf Thatchers Frage, was sie in ihrer ersten Rede vor den konservativen Gewerkschaftsvertretern sagen solle, hatte er geantwortet: „As little as possible until you have decided on your policy.“230 Diesem Ratschlag folgend, beschränkte sich die Politikerin darauf, allgemeine konservative Prinzipien zu bekräftigen und jede Aussage zu Details ihrer künftigen Politik zu vermeiden, auch wenn sie im privaten Kreis keinen Zweifel daran ließ, daß sie die Gewerkschaften viel lieber direkt attackiert hätte. „I HATE the closed shop“, schrieb sie einmal fein säuberlich mit blauem Filzstift quer über einen Briefentwurf, in dem Priors Referent in gewundenen, vorsichtig abwägenden Worten die Parteilinie darlegte. Das Wort „hate“ unterstrich die Parteichefin dreimal.231 In der Öffentlichkeit ließ sie sich jedoch anders vernehmen. Seit Disraelis Tagen, erklärte sie Anfang März 1975, glaube die Tory-Partei daran, „that the law should not only permit, but that it should assist, the trades unions to carry out their legitimate function of protecting their members.“ Auf der anderen Seite sei es ebenfalls Aufgabe der Konservativen, für die Rechte des Einzelnen und der Gesamtgesellschaft einzustehen.232 Mit derartigen Allgemeinplätzen ging Thatcher nicht nur einer Konfrontation mit den Gewerkschaften aus dem Weg, sondern vermied auch eine Auseinandersetzung mit Prior, dessen innerparteiliche Machtstellung zu jener Zeit besonders stark war.233 In der Frage einer umfassenden Gewerkschaftsgesetzgebung nach

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233

THATCHER, Erinnerungen, S. 360 (Zitat), 362. Ebd., S. 359. TEBBIT, S. 142. So jedenfalls Matthew Parris, damals Mitarbeiter im Conservative Research Department, in: The Times, 22. November 2000. Am 1. März 1975 bei der Jahreskonferenz des Trade Unionist Advisory Committee: News Service 176/75, S. 1. Ähnlich auch am 28. Februar 1976 bei der UNAC Annual Conference in Manchester: News Service 213/76, S. 1. Vgl. auch MARGARET THATCHER, We shall Work With the Unions – And They Will Work With Us, in: Conservative Monthly News, April 1976, S. 3; MARGARET THATCHER, Confrontation? You Must Be Joking . . ., in: Conservative Monthly News, April 1977, S. 8. So jedenfalls HOWE, S. 99–100.

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dem Vorbild der Heath-Regierung schlug sie sich sogar ausdrücklich auf Priors Seite, indem sie wie er jedes größere Gesetzgebungsvorhaben auf diesem Felde kategorisch ausschloß. „[W]e do not intend any major legislation, like the Industrial Relations Act, to regulate the affairs of Unions“, versicherte sie. „The Labour Government of 1966/70 and ours of 1970/74 learned that such major changes can lead to more disharmony than they are worth.“234 Hinsichtlich der Lohnpolitik ließ sie zwar dann und wann durch gezielte Seitenbemerkungen erkennen, daß sie keine Anhängerin wie auch immer gearteter staatlicher Einflußnahme war.235 Im allgemeinen hielt sie sich aber an die gemeinsam erarbeiteten Sprachregelungen und konzentrierte sich darauf, die Politik der Labour-Administration zu kritisieren, der sie vorwarf, ihre Regierungsverantwortung an den TUC abgetreten zu haben.236 Wie sie selbst den gordischen Knoten von Gewerkschaftsmacht und Inflationsgefahr zu lösen gedachte, blieb vorerst offen.237 Deutlicher äußerte sich die Parteichefin lediglich zu den Machtverhältnissen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Sie schien sich mit Prior einig, daß letztlich nur die Stärkung gemäßigter Kräfte in den einzelnen Gewerkschaften die Aussichten auf konstruktive Zusammenarbeit einer künftigen Tory-Regierung mit dem TUC verbessern konnte. Das Problem bestand darin, daß zwar rund ein Drittel aller Gewerkschaftsmitglieder bei Unterhauswahlen für die Tories zu stimmen pflegten, die konservativen Gewerkschafter aber in ihren Verbänden völlig isoliert, häufig auch frustriert, jedenfalls kaum in Führungsämtern vertreten waren. Thatcher forderte sie deswegen in ihrer ersten Parteitagsrede als Tory-Chefin auf: „[G]o out and join in the work of your unions; go to their meetings and stay to the end, and learn the union rules as well as the far left knows them. Remember that if parliamentary democracy dies, free trade unions die with it.“238 Um die Chancen konservativer Beteiligung an gewerkschaftsinternen Wahlen und 234 235

236

237 238

Am 28. Februar 1976 auf der UNAC Jahreskonferenz in Manchester: News Service 213/76, S. 6. Vgl etwa ihre Rede am 14. Juni 1975 auf dem Parteitag der walisischen Konservativen in Aberystwyth: News Service 586/75. Siehe auch den Kommentar in The Times, 27. Februar 1976. So etwa am 19. Juni 1976 auf dem Marktplatz von Carlisle: News Service 630/76, S. 1. Ähnlich auch am 28. Februar 1976 bei der UNAC Jahreskonferenz in Manchester: News Service 213/76, S. 9. Der Economist taufte Thatchers Linie die „say-as-little-as-you can“ strategy: The Economist, 7. Januar 1978. Am 10. Oktober 1975 auf dem Tory-Parteitag in Blackpool; abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 18–27 (S. 27); auch abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 29–38 (S. 37). Ähnlich auch am 28. Februar 1976 auf der UNAC Jahreskonferenz in Manchester, News Service 213/76, S. 2–5; vgl. hierzu auch den bericht in The Times, 1. März 1976.

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Abstimmungen zu erhöhen, setzten sich Thatcher und Prior dafür ein, daß künftig bei derartigen Gelegenheiten auch Briefwahlen möglich sein und unter Umständen sogar vom Staat finanziert werden sollten.239 Außerdem bemühten sich beide, die einflußreichsten Gewerkschaftsführer in persönlichen Gesprächen von ihrem guten Willen und ihrer Verständigungsbereitschaft zu überzeugen.240 Selten war ihr Werben von Erfolg gekrönt. Nach einem Treffen mit dem TUC-Vorsitzenden Cyril Plant im Sommer 1976, das in frostiger Atmosphäre verlief, fragte Thatcher: „You don’t like me, do you?“ Woraufhin er kurz angebunden antwortete: „No, I don’t.“241 Ähnlich erfolglos verliefen zwei weitere Treffen mit anderen Gewerkschaftsführern im Oktober 1976 und im Januar 1977, bei denen beide Seiten kaum Gemeinsamkeiten entdecken konnten. Die Konservativen beharrten darauf, die öffentlichen Ausgaben müßten gekürzt werden, während ihre Gesprächspartner wachsende Staatsausgaben für das beste Mittel hielten, die Wirtschaft anzukurbeln und neue Arbeitsplätze zu schaffen.242 Trotz ihres Scheiterns erfüllten die Gespräche für Thatcher einen wichtigen Zweck: Sie stellte innerhalb der eigenen Partei und in den Augen der Öffentlichkeit Verständigungsbereitschaft unter Beweis und zeigte, daß die Tories unter ihrer Führung die Gewerkschaften nicht blindwütig attackieren würden. Die Rechnung schien aufzugehen. Kurz nach dem letzten Gespräch setzte der Journalist David Wood von der Times dem LabourPolitiker Benn auseinander, daß von Thatcher keine radikale Politik in der Gewerkschaftsfrage zu erwarten sei. „Margaret Thatcher’s a very cautious woman, you know, very cautious“, sagte er, „she may be bold in thought but in action she will be very cautious. She wants to get on with the trade unions very much and thinks she can: she sees no reason why she shouldn’t. She knows they are powerful and she has got to learn to live with them.“243 Gleichzeitig hatte die Politikerin vom Scheitern der Gespräche wenig zu befürchten. Priors Strategie stand auf dem Prüfstand, nicht ihre eigene. Sie selbst profilierte sich im Gegenteil in ihren Grundsatzreden als überzeugte

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Am 28. Februar 1976 auf der UNAC Jahreskonferenz in Manchester, News Service 213/76, S. 4–5. Zu den Anfängen der Bemühungen siehe die Artikel in The Times, 27. und 28. Februar 1976. So jedenfalls Tony Benn, dem Plant von dem Treffen berichtete, in seinem Tagebucheintrag vom 7 Juli 1976, in: BENN, Tide, S. 592–3. Auf Gewerkschaftsseite nahmen an den Treffen Murray, Jones, Basnett und Scanlon teil; für die Tories Thatcher, Howe, Joseph, Biffen, Whitelaw, Prior und Peyton; vgl. MIDDLEMAS, Power, S. 210–1. Zit. nach Tagebucheintrag vom 3 Februar 1977, in: BENN, Conflict, S. 25.

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Verfechterin bürgerlicher Freiheitsrechte, sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber den Gewerkschaften. Solange die Partei sich programmatisch nicht festlegte, hielt sie sich zurück, wartete ab und vermied Konflikte, die sie nach Lage der Dinge momentan nicht gewinnen konnte. B)

ZAGHAFTE POSITIONSVERSCHIEBUNGEN, 1977–1978

Als Katalysator der weiteren Entwicklung wirkte die sogenannte „Grunwick-Affäre“, in deren Verlauf die unvereinbaren Positionen innerhalb der Tory-Partei erstmals in der Öffentlichkeit aufeinander prallten. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand der anglo-indische Unternehmer George Ward, der im Norden Londons ein Fotolabor mit Namen Grunwick betrieb, das sich auf die billige Entwicklung von privaten Ferienfotos spezialisiert hatte. Ein Großteil der knapp 500 Beschäftigten der Firma bestand aus indisch-stämmigen Einwanderern, vor allem Frauen und studentischen Teilzeitbeschäftigten, die zumeist Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre aus Ostafrika vertrieben worden waren und als Bürger des Commonwealth in Großbritannien Aufnahme gefunden hatten. Im August 1976 trat eine Handvoll dieser Arbeiter in Streik und wurde daraufhin von der Unternehmensleitung entlassen. Die Konfrontation wäre politisch gesehen eine folgenlose Episode geblieben, hätten beide Seiten sie nicht zur Prinzipienfrage erklärt. Ward wollte über die Beschwerden der Entlassenen nicht mit sich diskutieren lassen, während diese der Gewerkschaft APEX (Association of Professional, Executive, Clerical and Computer Staff) beitraten und sich in den folgenden Auseinandersetzungen vom Brent Trades Council, einer lokalen Interessengemeinschaft verschiedener Einzelgewerkschaften, beraten ließen.244 Die sechs entlassenen Arbeiter und etwa 130 weitere, die sich mit ihnen solidarisch erklärten, versuchten, eine Wiedereinstellung durchzusetzen. Dabei wollten sie sich von APEX vertreten lassen und verlangten zu diesem Zweck deren nachträgliche „Anerkennung“ durch den Betrieb, in dem es bis dahin keine Gewerkschaftspräsenz gab.245 APEX – eine von mehreren großen Gewerkschaften im expandierenden, aber hart umkämpften Dienstleistungssektor – betrachtete die Angelegenheit zunächst vor allem unter dem Gesichtspunkt rassischer Diskriminierung und der Ausbeutung unter-

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Eine ausgewogene Analyse der Auseinandersetzung liefert JOE ROGALY, Grunwick, Harmondsworth 1977; eine notwendigerweise subjektivere Interpretation findet man bei GEORGE WARD, Fort Grunwick, London 1977. Siehe ROGALY, S. 1–28.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

privilegierter Einwanderer. Ihre Führer witterten aber auch die Gelegenheit, sich mit den ostafrikanischen Indern eine neue Klientel zu erschließen, die bislang kaum gewerkschaftliche Bindungen eingegangen war.246 Das Brent Trades Council verfolgte radikalere Ziele. Die in ihm vertretenen lokalen Gewerkschaftsfunktionäre, die im Gegensatz zu den eher gemäßigten APEX-Vertretern in ihrer Mehrzahl der marxistischen Linken zuzurechnen waren, sahen im Konflikt um Grunwick die Gelegenheit, sich über die Grenzen der Region hinaus einen Namen zu machen, wenn sie den Disput aus den Verhandlungszimmern hinaus auf die Straße trugen.247 Ward seinerseits beharrte darauf, was er getan habe, sei rechtmäßig gewesen, eine nachträgliche Anwerbung der entlassenen Arbeiter durch APEX tangiere ihn nicht. Er müsse keinerlei Einmischung von außen in die Angelegenheiten seines Unternehmens dulden.248 In dieser Ansicht wurde er von der National Association of Freedom unterstützt, die seine Sache zu ihrer eigenen erklärte und ihn nicht nur mit juristischem Rat, sondern auch mit propagandistischer Rückendeckung tatkräftig unterstützte.249 Nachdem die Schützengräben des vermeintlichen Klassenkampfes hüben wie drüben besetzt worden waren, begann zunächst ein Zermürbungskrieg: Die verbliebenen Arbeiter sollten durch Streikposten, zu denen sich im Mai 1977 auch drei APEX angehörende Minister der Labour-Regierung gesellten, eingeschüchtert werden. Es gab kleinere Demonstrationszüge im Stadtviertel, Gewerkschaftsredner verdammten Ward als Ausbeuter und Leuteschinder. Mehrfach wurde die Zulieferung von Chemikalien und anderen Materialien, auf die Grunwick angewiesen war, verhindert, um die Produktion lahmzulegen. Die Postarbeitergewerkschaft solidarisierte sich mit den Entlassenen und weigerte sich, Briefe und Pakete von der Firma abzuholen, was ein Unternehmen, das die entwickelten Fotos auf dem Postweg zurücksandte, hart treffen mußte.250 Ward und die NAFF konterten, indem sie die Zulieferungsblockade auf alle mögliche Weise umgingen. Gleichzeitig verklagten sie die Postgewerkschaft, die daraufhin ihren Boykott schon nach wenigen Tagen einstellte. Im übrigen lehnten sie weiterhin alle Schlichtungsversuche kategorisch ab.251

246 247 248 249 250 251

Siehe ebd., S. 47–57. Siehe ebd., S. 58–69. Vgl. seine Ausführungen in WARD, S. 1–8; siehe auch ROGALY, S. 29–46. Siehe die Berichterstattung in The Free Nation zwischen November 1976 und August 1977. Vgl. ROGALY, S. 20. Zum komplizierten Ablauf des Schlichtungsverfahrens siehe The Economist, 18. Juni 1977; vgl. ebd., S. 90–110.

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Bis zum Frühsommer 1977 schien es, als hätten sie mit ihrer Strategie Erfolg. Die Moral der kleinen Schar der Streikenden ließ allmählich nach, ihr Engagement erlahmte – zumal die ausgezahlten Streikgelder niedrig waren, der Dienst als Streikposten in Wind und Wetter an den Nerven zehrte und kein Ende des Konflikts abzusehen war. Im Juni 1977 glaubten das Brent Trades Council und APEX, daß nur noch eine dramatische Aktion sie vor der drohenden Niederlage bewahren konnte. Sie baten daher andere Gewerkschaften um Hilfe, begannen erneut eine Postblockade gegen Grunwick und riefen zu Massendemonstrationen vor den Fabriktoren auf. Ihr Appell fand unerwartet großen Widerhall. Schon zwischen dem 13. und 16. Juni 1977, während der ersten vier Tage der Massendemonstrationen, fanden sich jeweils rund 700 „fliegende Streikposten“ vor der Fabrik ein. Die Zahl erhöhte sich in den folgenden vier Wochen zeitweise auf mehr als 2000, darunter auch Bergarbeiter aus dem fernen Yorkshire unter der Führung des militanten Marxisten Arthur Scargill.252 Die Eskalation des Konflikts hatte verschiedene Gründe. Ward war inzwischen zum Haßobjekt vieler britischer Arbeiter avanciert, weil er immer noch jede Kompromißlösung verweigerte und statt dessen den arbeitswilligen Teil seiner Belegschaft in firmeneigenen Bussen an den schreienden und schimpfenden Streikposten vorbei auf das Fabrikgelände bringen ließ. Auch die NAFF trug ihren Teil zur Verschärfung der Lage bei, indem sie in einer „Operation Pony Express“ bei Nacht und Nebel 100 000 Päckchen, die von der Post nicht abgeholt worden waren, aus der Fabrikanlage „befreite“ und in Briefkästen im ganzen Land verteilte.253 Massenverhaftungen der Polizei, die zeitweise mit 1500 Mann den Streikenden gegenüberstand, heizten die Atmosphäre weiter auf: Demonstranten wurden handgreiflich, Flaschen flogen, ein Polizist wurde schwer verletzt.254 Hinzu kam, daß Grunwick von der Londoner Innenstadt aus mit der U-Bahn leicht erreichbar war, so daß viele Arbeiter auf dem Weg zum eigenen Job morgens kurz vor der Fabrik Halt machen und mitdemonstrieren konnten, ehe sie pünktlich an der eigenen Arbeitsstelle erschienen. Nicht zuletzt aufgrund der Berichterstattung der Medien entwickelte der Konflikt, dessen schlimmste Exzesse

252 253 254

Vgl. etwa The Times, 23. und 24. Juni 1977. Siehe hierzu die triumphierenden Berichte in The Free Nation, 22. Juli 1977, S. 2–3, und von WARD, S. 82–90. Kritisch ROGALY, S. 77–8. „A BLOT ON BRITAIN“ titelte die Daily Mail, 24. Juni 1977 und widmete beinahe ihre gesamte Titelseite Bildern des verletzten Polizisten Trevor Wilson. Vgl. auch die Berichte in The Times, 24. Juni 1977, und The Economist, 25. Juni 1977.

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inzwischen allabendlich in den Fernsehnachrichten zu sehen waren, eine eigene Sogwirkung.255 Die Eigendynamik der Medienberichterstattung trug maßgeblich dazu bei, schließlich die Regierung auf den Plan zu rufen, die bis dahin die Auseinandersetzung für bedeutungslos gehalten hatte. Als jedoch das ganze Land jeden Abend Zeuge gewalttätiger Szenen zwischen Polizei und Gewerkschaften wurde, glaubten Callaghan und seine Minister nicht länger tatenlos zusehen zu können. Nachdem Ward auch einen letzten Vermittlungsversuch des zuständigen Ministers unter Verweis auf seine gesetzlich verbrieften Rechte zurückgewiesen hatte, setzte die Regierung eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von Lordrichter Scarman ein, die einen Bericht über die Vorgänge erarbeiten und Lösungsvorschläge formulieren sollte.256 Die Rechnung der Regierung ging zunächst auf. Die Existenz einer Kommission, deren personelle Zusammensetzung erkennbar den Standpunkt der Gewerkschaften begünstigte, besänftigte die Gemüter und ließ die Massendemonstrationen abebben. Als die Scarman-Kommission am 25. August 1977 ihren Bericht veröffentlichte, der erwartungsgemäß die Wiedereinstellung der entlassenen Grunwick-Arbeiter empfahl und die Schuld an dem Konflikt gleichmäßig auf beide Seiten verteilte, gehörten die Streiks bereits der Vergangenheit an.257 Denoch ging der Streit auch nach der Publikation des Scarman-Berichts weiter. Das lag zum einen daran, daß die Empfehlungen der Kommission in zentralen Punkten vage blieben. Weder äußerte sie sich zu möglichen Verfahren, nach denen Gewerkschaften in Zukunft in Betrieben „anerkannt“ werden sollten, noch fand sie klärende Worte in Bezug auf die Praxis der „fliegenden Streikposten“. Nicht einmal die konkrete Frage, ob Ward in seinem Unternehmen APEX zulassen müsse und welche Folgen dies für die anderen Arbeiter mit sich bringe, wurde eindeutig beantwortet. Hierzu hieß es nur, die Anerkennung „could in the future help the company as well as its employees“.258 Hinzu kam, daß der Kommissionsbericht lediglich empfehlenden, keinen rechtlich bindenden Charakter hatte. Alles weitere hing vom Verhalten Wards ab, der weiterhin auf seinem Rechtsstandpunkt beharrte: Er sei nicht prinzipiell gewerkschaftsfeindlich eingestellt. Wenn einzelne seiner Angestellten einer Gewerkschaft beitreten wollten, sei da255 256 257

258

Vgl. ROGALY, S. 79–89. Vgl. die Berichte in The Economist, 2., 9. und 16. Juli 1977. Die wichtigsten Abschnitte sowie die Schlußfolgerungen des Berichts sind gemeinsam mit Wards Erwiderung abgedruckt bei ROGALY, S. 185–99. Eine um Ausgleich bemühte Bewertung findet sich in The Economist, 27. August 1977. § 73 (3) des Scarman-Berichts; dokumentiert bei ROGALY, S. 185–7 (S. 187).

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gegen nichts einzuwenden. Er werde allerdings unter keinen Umständen auch nur einen einzigen Arbeiter wieder einstellen, den er rechtmäßig entlassen habe. Am 31. August schrieb er in einer Erklärung an die Presse: [I]f, by illegal action, the company is forced out of business, it will accept its fate, in the hope that such a fate will arouse public opinion to demand better protection from the authorities for those who legally go about their business [. . .] the company believes it will survive and prosper. If it does not, it will bear that, rather than submit and give another hostage to an inquitous tyranny.259

Joseph, seit Februar 1977 im Schattenkabinett auch für Industriepolitik zuständig, unterstützte den Unternehmer öffentlich. In einer Rede Anfang September bezeichnete er den Scarman-Bericht als „either naive or slipshod“. Er beschäftige sich nur mit den 130 streikenden Grunwick-Arbeitern, nicht aber mit ihren über 200 arbeitswilligen Kollegen, die einer Gallup-Umfrage vom 20. Juli zufolge mit überwältigender Mehrheit keiner Gewerkschaft beitreten wollten.260 Außerdem kritisierte Joseph das Rechtsverständnis, das in dem Bericht zum Ausdruck kam. Wenn die Kommission erklärte, Ward bewege sich zwar „within the letter but outside the spirit of the law“ und habe auf diese Weise „to the prolonging, deepening, and widening of the conflict“ beigetragen, offenbarte dies nach Josephs Ansicht eine erschreckende Mißachtung von Recht und Gesetz. Keine Regierung dürfe sich in einem Arbeitskonflikt auf eine bestimmte Seite schlagen, schrieb er in einem Leserbrief an die Times. „The law is there and within the law participants must work out their own salvation.“261 Josephs Kritik löste einen Aufschrei der Empörung in der Gewerkschaftsbewegung aus. Der Generalsekretär des TUC, Len Murray, fand sie hochgradig provozierend, völlig verantwortungslos „and calculated to do the maximum possible damage to industrial relations“. Sein Kollege Lawrence Daly von der Bergarbeitergewerkschaft fand, Josephs Äußerungen bewiesen, daß die angebliche Versöhnungspolitik der Konservativen in den vergangenen beiden Jahren nichts weiter als ein Propagandatrick gewesen sei. „The leopard has not changed its spots. We are now seeing the Tories in their true colours again.“262 Genau diesen Eindruck wollte Prior, der zufälligerweise selbst Mitglied von APEX war, vermeiden. Er distanzierte sich 259 260

261 262

Abgedruckt ebd., S. 189–99 (S. 199). Ähnlich Wards Artikel in The Times, 1. September 1977. Vgl. auch den Bericht in The Economist, 3. September 1977. Am 1. September 1977 vor Conservative Association Members in der Stadthalle von Hove: News Service 864/77 (Kopie in Sherman Papers). Vgl. auch The Economist, 17. September 1977. The Times, 15. September 1977. Beide Zitate stammen aus The Times, 3. September 1977.

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öffentlich von seinem Parteifreund und gab in einem Radiointerview zu Protokoll, zwischen ihnen beiden existierten „differences of emphasis“. Anders als Joseph betrachtete Prior den Grunwick-Konflikt nicht als Grundsatzfrage. Auch den Bericht der Scarman-Kommission wollte er nicht im Lichte prinzipieller, sondern pragmatischer Erwägungen geprüft wissen. Er war seiner Meinung nach notwendig geworden, um die Eskalation der Gewalt auf den Straßen zu beenden und allen Beteiligten eine Einigung ohne Gesichtsverlust zu erlauben.263 Ward habe den Arbeitsbeziehungen im Lande keinen so großen Dienst erwiesen, wie er selbst offenbar glaube. Die NAFF kritisierte der Schattenarbeitsminister für ihre Neigung zum „union bashing“.264 Priors Äußerungen stießen an der Parteibasis und bei konservativen Hinterbänklern auf wenig Gegenliebe. „[T]he overwhelming majority of Tory activists, from constituency chairman downwards, seem to support not only Sir Keith on Grunwick but a much less pragmatic attitude than Mr Prior to the closed shop“, schrieb die Times.265 Tebbit verglich die Gefahr, die von anti-demokratischen, marxistischen Kräften in den Gewerkschaften ausging, sogar mit der außenpolitischen Bedrohung durch die Sowjetunion. Wer auf den Ernst der Lage hinweise, werde des „union-bashing“ bezichtigt, fuhr Tebbit mit einem deutlichen Seitenhieb auf Prior fort, „often by people who know it to be true. Such people are to be found in the Conservative, Liberal and Labour Parties. Their politics may be different but such people share the morality of Laval and Pétain [. . .] they are willing not only to tolerate evil, but to excuse it [. . .] and to profit by so doing“.266 Moss von der NAFF warf Prior vor, eine Appeasementpolitik gegenüber den Gewerkschaften zu betreiben und für die „Heldentaten“ Wards und seiner Belegschaft nur Mißachtung übrig zu haben. Der Politiker sei ein ungeeigneter Sprecher für eine Partei, die von sich behaupte, die Freiheit des Einzelnen zu verteidigen und die Ansicht der Bevölkerungsmehrheit zu vertreten.267 Thatcher, die auf einer Amerikareise von dem innerparteilichen Streit überrascht wurde, versuchte zunächst, die Differenzen zu leugnen. Die Presse habe Meinungsunterschiede entdeckt, die nicht existierten, sagte sie

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Zit. nach The Times, 12. September 1977. Die gegensätzlichen Standpunkte von Prior und Joseph werden erörtert in The Times, 15. September 1977; vgl. auch The Economist, 17. September 1977 und vom 8. Oktober 1977. The Times, 15. September 1977. Am 12. September in Chingford; zit. nach TEBBIT, S. 155–6. Siehe auch The Times, 13. September 1977. Siehe The Times, 12. September 1977.

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auf einer Pressekonferenz in Washington und beharrte auf der Position, auf die man sich vor dem Grunwick-Konflikt innerhalb des konservativen Führungszirkels verständigt hatte: Sie schätze den closed shop nicht und halte ihn im Grundsatz für falsch, plane in diesem Punkt aber keine Gesetzesänderungen.268 Freilich entsprang diese defensive Reaktion, die zu Recht als Unterstützung für Prior interpretiert wurde, nicht den Überzeugungen der Parteichefin, sondern politischer Vorsicht. „Entweder mußte ich Jim vor die Tür setzen“, schrieb sie später, „oder ihm ein anderes Ressort geben (was ich mir beides nicht leisten konnte), oder mich zu seinem Kurs bequemen. Letzteres tat ich.“ Die Zeit sei noch nicht reif gewesen für ein radikaleres Vorgehen gegen die Gewerkschaften.269 In der öffentlichen Wahrnehmung nützte Thatcher ihre Zurückhaltung wenig. Im Gegenteil: Sie schadete nur. Der ganze Disput sei auf dreifache Weise schlecht für die Parteichefin, hieß es im Economist. Erstens verstärke sich der Eindruck, daß die Tories über keine kohärente Gewerkschaftspolitik verfügten. Zweitens verbiege sich die sonst so überzeugungsstarke Politikerin, von der man wisse, daß sie eigentlich eher Josephs Position zuneige, aus parteitaktischen Gründen. Und drittens lasse sie jegliche politische Führung vermissen.270 Wollte Thatcher diesen verheerenden Eindruck korrigieren, mußte sie versuchen, die politische Initiative zurückzugewinnen. Sie entschloß sich daher, sogleich nach ihrer Rückkehr aus den USA in einem Fernsehinterview mit einem spektakulären Vorschlag aufzuwarten. Als ihr der Moderator, der ehemalige Labour-Abgeordnete Brian Walden, erwartungsgemäß die Frage stellte, wie eine künftige konservative Regierung auf eine Konfrontation mit den Gewerkschaften reagieren würde, die sich zu einer Staatskrise auswachse, antwortete sie: „I think I would have to say let the people speak, because they will be the sufferers.“ Das könne auf zwei verschiedene Weisen geschehen: entweder durch eine Unterhauswahl oder in Form einer Volksabstimmung. Das Referendum biete dabei im Gegensatz zur Wahl die Chance, einen bestimmten Streitpunkt zu isolieren und zweifelsfrei vom Souverän entscheiden zu lassen.271 Obwohl der Vorstoß nur auf geringe Begeisterung bei der Presse stieß und zahlreiche praktische Probleme ungelöst ließ, war er doch ein gutes Beispiel für jene populistische Ankündigungspolitik, die für Thatchers Führungsstil typisch werden

268 269 270 271

Vgl. The Times, 14. und 15. September 1977. THATCHER, Erinnerungen, S. 471–2. The Economist, 17. September 1977. Weekend World vom 18. September 1977; zit. nach The Times, 19. September 1977.

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sollte.272 Nicht mit dem Schattenkabinett abgestimmt, verblüffte der Vorschlag Freund wie Feind gleichermaßen und bezog diesen Überraschungseffekt bewußt in die Kalkulation mit ein, um die Widersacher in den eigenen Reihen zu übertülpeln und die Öffentlichkeit vom vorausgegangenen innerparteilichen Streit abzulenken.273 Mit dem Referendumsvorschlag gelang es Thatcher zwar, den entstandenen Schaden zu begrenzen. Politisches Kapital hatte ihre Partei aus der Grunwick-Affäre aber nicht schlagen können, obwohl die Labour-Regierung durch die Militanz der streikenden Gewerkschafter erheblich in Bedrängnis geraten war. Diese Erkenntnis veranlaßte die Tory-Chefin, sich einem Plan zuzuwenden, der auf eine völlige Neuorientierung der konservativen Gewerkschaftspolitik hinauslief. Die Wurzeln dieses Vorhabens reichten bis ins Jahr 1975 zurück, als Sherman einen politisch interessierten Geschäftsmann namens John Hoskyns kennengelernt und zur Mitarbeit im Centre for Policy Studies überredet hatte. Hoskyns, ein ehemaliger Offizier, der eines der ersten britischen Software-Unternehmen gegründet, aufgebaut und gewinnbringend verkauft hatte, war kein Anhänger der ToryPartei. Er sympathisierte aber mit den Ideen des CPS, wenn er auch der praktischen Umsetzung der wirtschaftspolitischen Reformvisionen des Zentrums skeptisch gegenüberstand.274 Statt des seiner Meinung nach kurzsichtigen, von parteitaktischen Zwängen diktierten Vorgehens des Schattenkabinetts plädierte er für einen strategischen – oder, wie er sagte, „systematischen“ – Ansatz, der nicht nur von Tag zu Tag dachte, sondern langfristig angelegt war. Zusammen mit Norman Strauss, einem Marketingexperten von Unilever, erarbeitete er auf Josephs Bitte ein Arbeitspapier, das die bislang unverbunden nebeneinander stehenden Ziele des CPS zu einer einzigen Strategie zusammenfügen und die Reihenfolge der einzelnen Schritte festlegen sollte. Als Thatcher bei einem gemeinsamen Sonntagsessen mit Sherman, Hoskyns und Strauss von dem Projekt erfuhr, zeigte sie sich zunächst wenig beeindruckt. Am Ende der Besprechung stellte sie fest, nun hätten ihre Gäste „einen ganzen Rinderbraten aufgegessen, aber was ich davon habe, [ist] mir nicht klar“.275 Nach den deprimierenden Erfahrungen der Grunwick-Affäre sah sie Hoskyns’ und Strauss’ Analyse jedoch plötzlich in

272 273 274 275

Zahlreiche kritische Stimmen werden zitiert in The Times, 19. September 1977. Siehe die Bemerkungen in THATCHER, Erinnerungen, S. 472. Vgl. die beiden Schreiben von John Hoskyns an Alfred Sherman vom 3. Oktober 1975 und vom 24. Februar 1976, in: Sherman Papers, Box 19, Folder 1. THATCHER, Erinnerungen, S. 493; siehe auch HOSKYNS, S. 21–5.

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günstigerem Licht. Deren zentrale These, die Reform der Gewerkschaften müsse den Dreh- und Angelpunkt konservativer Politikplanung bilden, hatte Thatchers Ansicht nach durch die Ereignisse des Sommers an Plausibilität gewonnen. Weil die Gewerkschaften durch ihre starke Position alle anderen Reformansätze vereiteln könnten, so argumentierten Hoskyns und Strauss, müsse man zunächst ihre Macht brechen, ehe Großbritannien wirtschaftlich gesunden könne. „The union roadblock cannot be peacefully bypassed by the Tories“, schrieb Hoskyns am 3. Oktober 1977 an Thatcher. „The rising tide of public feeling could transform the unions from Labour’s secret weapon into its biggest electoral liability. This is the Tory Party’s opportunity.“276 In der Endfassung ihres Strategiepapiers vom November 1977, das den Titel „Stepping Stones“ trug, faßten Hoskyns und Strauss ihre Argumentation und die Rolle, die darin die Gewerkschaftsreform spielte, zusammen: 1. The Size of the Job 1.1 The task of the next Tory Government – national recovery – will be of a different order from that facing any other post-war government. Recovery requires a sea-change in Britain’s political economy. 1.2 A Tory landslide is not enough, if it only reflects the electorate’s material dissatisfaction since 1974. A landslide is needed, but it must represent an explicit rejection of socialism and the Labour-trades union axis; and the demand for something morally and economically better. 1.3 The Tory Party’s pre-election strategy must ensure that the preparation of policy includes plans for the removal of political obstacles to its implementation. 1.4 There is one major obstacle – the negative role of the trades unions. Unless a satisfying and creative role can be developed, national recovery will be virtually impossible. 1.5 To compete with Labour in seeking peaceful co-existence with an unchanged union movement will ensure economic decline, masked initially by North Sea oil. It may also make failure to win Office more, rather than less likely, for the Tories. There is nothing to gain (except just possibly, Office without authority), and everything to lose by such a „low risk“ approach. 1.6 Skilfully handled, however, the rising tide of public feeling could transform the unions from Labour’s secret weapon into its major electoral liability, and the fear of union-Tory conflict could be laid to rest.277

Es gebe keine Alternative zu einer Konfrontationspolitik, argumentierten Hoskyns und Strauss. Eine evolutionäre Veränderung der Gewerkschaften aus sich selbst heraus – etwa durch spontanes Aufbegehren oder verstärktes 276 277

Zit. nach HOSKYNS, S. 43. JOHN HOSKYNS und NORMAN STRAUSS, „Stepping Stones“ vom 14. November 1977, S. 1 [Hervorhebungen im Original]; der Verfasser bedankt sich bei Sir John Hoskyns, der ihm eine Kopie des Papiers zugänglich gemacht hat.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

Engagement konservativer Mitglieder, wie Prior hoffte – sei unwahrscheinlich. Auch Ölquellen in der Nordsee, auf die Premierminister Callaghan offenbar setzte, könnten den wirtschaftlichen Niedergang lediglich verzögern. Die größte Gefahr sahen die beiden Autoren darin, daß sich eine künftige Tory-Regierung um des lieben Friedens willen mit einer eher schlecht als recht funktionierenden Beziehung zu den Gewerkschaften abfinde. „Even with a radical new union role, to find a way out of our problems will be like finding a needle in a haystack“, schrieben sie. „But if the unions’ role and political objectives remain unchanged, then all parties would in effect be agreeing to restrict their search to those haystacks which they know do not contain the needle.“ Jede politische Strategie, die sich nicht von Anfang an mit dem Problem der Gewerkschaftsmacht auseinandersetze, verdamme die Partei dazu, in der Regierungsverantwortung zu scheitern, „even though it might, at first sight, appear to make electoral success more likely“. Die Annahme, eine Versöhnungspolitik verbessere die konservativen Wahlaussichten, sei ein Trugschluß. Die öffentliche Meinung schlage allmählich zuungunsten der Gewerkschaften um und begünstige mittelfristig diejenige Partei, die sich dem Problem offen stelle.278 Als Thatcher den Bericht im November 1977 las, reagierte sie enthusiastisch.279 Ende November traf sie erneut mit Hoskyns und Strauss zusammen. Man vereinbarte, einen „Stepping Stones“-Planungsstab einzurichten, der im Januar 1978 zusammentreten und den Bericht weiterentwickeln sollte.280 Bis dahin bestand die schwierigste Aufgabe darin, Prior davon zu überzeugen, daß ein Kurswechsel in der konservativen Gewerkschaftspolitik sinnvoll und aussichtsreich sei. Zu diesem Zweck trafen sich Hoskyns und Howe im Dezember mit dem Schattenarbeitsminister. Prior fürchtete, die neue Strategie könnte dazu führen, daß sich die Front der verschiedenen Einzelgewerkschaften, die bereits Risse zeige, wieder schließe und seine Bemühungen der vergangenen drei Jahre zunichte mache. Hoskyns erwiderte darauf, dieses Risiko müsse man eingehen, sonst drohe die viel größere Gefahr „of complete failure in office“.281 Einigung über einen Kurswechsel

278 279

280

281

Ebd., S. 13. Siehe HOWE, S. 105. Vgl. auch die Einschätzung von Strauss, der später erklärte: „I didn’t know it, but the values I was putting into the paper were overlapping her convictions about individual responsibility and sound finance. So the paper hit her value system“; zit. bei RANELAGH, S. 219. Daneben bildete sich eine Policy Search-Gruppe, die aus Hoskyns, Strauss, Lawson, Joseph, Howell und Lamont bestand und weitere Ideen entlang der in „Stepping Stones“ skizzierten Grundlinien entwickeln sollte; siehe THATCHER, Erinnerungen, S. 494. Zit. nach HOWE, S. 105; vgl. auch HOSKYNS, S. 48–9.

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war nicht in Sicht, zumal das CRD unter Leitung von Patten ebenfalls an einem Strategiepapier arbeitete, das eher auf Priors Linie lag, und auch Thorneycroft dem Hoskyns-Strauss-Papier äußerst ablehnend gegenüberstand. Weder Patten noch Thorneycroft sahen in der Gewerkschaftsfrage das Schlüsselproblem konservativer Politikplanung; für sie war der Umgang mit den Gewerkschaften lediglich eines unter mehreren wichtigen Wahlkampfthemen. Ihre Priorität bestand darin, die nächsten Wahlen zu gewinnen, während Hoskyns und Strauss vor allem an die Zeit nach den Wahlen dachten.282 In dieser Situation entschied sich die Parteichefin, selbst die Initiative zu ergreifen und die Diskussion weiter voranzutreiben. In einer Rede vor schottischen Industriellen gab sie Mitte Januar ihre Zurückhaltung in der Frage der Lohnpolitik auf und erklärte: „The counterpart of the withdrawal of government from interference in prices and profits in the private sector which both we and you want to see, is inevitably the withdrawal of government from interference in wage bargaining. There can be no selective return to personal responsibility.“ Wie heikel diese Initiative war, zeigt sich darin, daß diese Passage im vorab verteilten Redemanuskript noch nicht enthalten war, sondern erst im allerletzten Augenblick eingefügt wurde.283 Die Mehrheit der konservativen Schattenminister gab denn auch zu verstehen, daß sie Thatchers Ansicht nicht teilten: Warum sollte sich die Partei eindeutig gegen eine Lohnpolitik festlegen, wenn seit 1961 noch jede britische Regierung gezwungen gewesen war, in der einen oder anderen Form dazu Zuflucht zu nehmen? Auch die Presse reagierte kritisch. „Mrs Thatcher Takes the Tories into Dangerous Waters“ titelte der Economist und riet den Konservativen, sich nicht auf ein Spiel einzulassen, bei dem Labour die besseren Karten besitze. „The more Mrs Thatcher says about pay policy . . . the more Mr Callaghan will be pleased.“284 Thatchers Sinn für Vorsicht sagte ihr, daß sie sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte und hinauszufallen drohte. Ihrem Schattenschatzkanzler, der im Januar mit einer gewerkschaftskritischen Rede ebenfalls für Schlagzeilen gesorgt hatte und bereits eine zweite Stellungnahme plante, schrieb sie: „Geoffrey, das ist nicht Dein Thema. Warum solltest Du weitermachen? Die Presse wird Dich in der Luft zerreißen.“285

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Siehe HOWE, S. 105; THATCHER, Erinnerungen, S. 495; HOSKYNS, S. 52–3, 58. Siehe das Manuskript der Rede vom 9. Januar 1978 auf der Konferenz für Management in Industry im Albany Hotel in Glasgow: News Service 10/78. The Economist, 14. Januar 1978. THATCHER, Erinnerungen, S. 475. Howes Gewerkschaftsrede in Swindon ist – mit einem

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Als am 30. Januar der Lenkungsausschuß des Schattenkabinetts zusammentrat, um über „Stepping Stones“ zu beraten, siegten Thatchers Bedenken über ihre Angriffslust. Die Mehrheit der Anwesenden lobte zwar das Strategiepapier für seine analytische Schärfe, warnte aber vor radikalen Schlußfolgerungen: Man dürfe in der Öffentlichkeit nicht hartherzig oder streitsüchtig erscheinen; vielmehr müsse man einen dritten Weg zwischen Appeasement und Konfrontation finden. Nicht nur die moderates unter den Schattenministern wie Prior und Gilmour äußerten sich skeptisch, sondern auch Thorneycroft. Wenn man in der Gewerkschaftsfrage die Wahrheit sage, konstatierte John Davies, der im November 1976 Maudling als Schattenaußenminister abgelöst hatte, dann werde man mit Sicherheit die nächsten Wahlen verlieren.286 Die Besorgnis der Schattenkabinettsmehrheit spiegelte sich in einem geheimen Strategiepapier wider, das wenig später von der Times veröffentlicht wurde und das zu der Schlußfolgerung gelangte, keine Regierung könne ohne Einsatz der Armee eine Konfrontation mit den Gewerkschaften überstehen.287 Thatcher und Howe gelang es nicht, sich gegen die massiven Einwände durchzusetzen. Damit das „Stepping Stones“-Projekt nicht völlig einschlief, einigte man sich auf einen Kompromiß. Eine Kommission unter dem Vorsitz von Whitelaw sollte die Analyse von Hoskyns und Strauss mit den Ideen des CRD-Papieres von Patten verbinden. Das lief zwar auf den Versuch hinaus, Feuer und Wasser zu vereinigen, versprach aber immerhin, die Diskussion in Gang zu halten. Im übrigen bekräftigte das Schattenkabinett seine Zustimmung zur Prior-Linie. Die Partei solle sich weiterhin bemühen, die Unterstützung möglichst vieler Gewerkschafter zu gewinnen. Kritik dürfe in angemessener Form geübt werden, aber nicht zum Herzstück der konservativen Gewerkschaftspolitik avancieren. An Howes Adresse richtete sich der Beschluß, nur der Schattenarbeitsminister solle in Zukunft Reden zum Thema halten.288 Das Ergebnis der Sitzung war eine Niederlage für Thatcher und ihren Schattenschatzkanzler.289 Die weiteren Arbeiten schleppten sich mühselig dahin. „Developing a strategy is rather like jogging“, gab Hoyskyns in einem Zwischenbericht vom Mai als Durchhalteparole aus. „We have to stick at it for quite a time before we begin to feel any

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enthusiastischen Kommentar versehen – abgedruckt in: The Free Nation, 20. Januar 1978, Bd. 3 Nr. 2, S. 12. Siehe THATCHER, Erinnerungen, S. 494–95. The Times, 18. April 1978. Über die Beschlüsse berichtet HOWE, S. 105. Vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 494–5. So auch HOWE, S. 106; THATCHER, Erinnerungen, S. 495.

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benefits.“290 Fortschritte scheiterten vor allem daran, daß Prior keine Anstalten machte, entscheidend von seinem Kurs abzuweichen, und weder Thatcher noch Howe nach der Niederlage vom Januar Lust verspürten, einen neuen Anlauf zu unternehmen.291 Im Sommer 1978 schien das ganze Projekt zum Stillstand gekommen zu sein. Auf die Arbeiten am konservativen Wahlkampfmanifest, die in Erwartung einer Herbstwahl allmählich begannen, wirkte sich „Stepping Stones“ nicht aus. „[H]ätten wir im Oktober einen Unterhauswahlkampf führen müssen“, schrieb Thatcher in ihren Memoiren, „so hätte das Manifest nichts Bemerkenswertes über die Gewerkschaftsreform enthalten.“292 C)

DIE GEWERKSCHAFTSPOLITISCHE WENDE, 1978–1979

Zur allgemeinen Verblüffung fanden im Herbst 1978 jedoch keine Unterhauswahlen statt. Obwohl die ökonomischen Grunddaten wie Inflationsrate, Wechselkurs, Zahlungs- und Handelsbilanz so günstig waren wie lange nicht mehr, entschied sich Premierminister Callaghan, der allein das Wahldatum bestimmte, gegen einen Termin im Herbst. Zwar hatte seine LabourPartei den Vorsprung der Konservativen in den Meinungsumfragen im Spätsommer fast aufgeholt. Dennoch glaubte der Regierungschef nicht an einen Wahlsieg und wollte lieber abwarten, damit die positiven Folgen der wirtschaftlichen Erholung bis zum nächsten Frühjahr für die Bürger spürbarer würden und sich die Erinnerung an die IWF-Krise weiter verflüchtigte. In seinen Memoiren begründete der Hobby-Farmer Callaghan seine Entscheidung mit einer Metapher aus der Landwirtschaft: „You must be ready to wait for results and always remain optimistic that next year’s harvest will be better than the present.“293 Callaghan vernachlässigte allerdings eine andere Bauernregel, die besagt, man solle die Ernte einfahren, bevor es sie verhagelt. Insbesondere an der Gewerkschaftsfront zogen im Sommer bedrohliche Sturmwolken auf. Schließlich hatte sich die wirtschaftliche Lage des Landes 1978 gegenüber

290 291

292 293

„Stepping Stones – Progress Report“ vom 6. Mai 1978, in: Sherman Papers, Box 19, Folder 1. Zu Priors Haltung siehe etwa JAMES PRIOR, What a mess they’re making over pay, in: Conservative Monthly News, Januar 1978, S. 3; DERS, We’ll get on with them, but not be ruled by them, in Conservative Monthly News, Juli 1978, S. 4–5; DERS, Who says we can’t get on with unions?, in: Conservative Monthly News, September 1978, S. 6–7. THATCHER, Erinnerungen, S. 495. Siehe HOSKYNS, S. 59–69; vgl. auch CLARKE, Rise, S. 316. CALLAGHAN S. 511. Eine detaillierte Analyse von Callaghans Motiven, die Wahl hinauszuschieben, findet man bei MORGAN, Callaghan, S. 633–50.

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den Vorjahren deutlich verbessert. Die Preissteigerung war auf acht Prozent gesunken, so tief wie seit 1972 nicht mehr. Gewerkschaftsführer wie einfache Mitglieder sahen nicht mehr ein, wieso eine sozialistische Regierung ihnen immer noch Löhne zumutete, die auf eine Verringerung ihres Lebensstandards hinausliefen.294 Die Bergarbeitergewerkschaft verlangten Ende Juli 40 Prozent mehr Lohn; im August folgten die Arbeiter der britischen Ford-Niederlassung mit einer Forderung in Höhe von 25 Prozent.295 Nur die Aussicht auf eine unmittelbar bevorstehende Wahl veranlaßte die anderen Gewerkschaften, sich zurückzuhalten und nicht offen gegen die FünfProzent-Grenze für Lohnerhöhungen zu rebellieren, die die Regierung am 21. Juli in ihrem Weißbuch zur Lohnpolitik öffentlich gemacht hatte. Erst müsse man mit vereinten Kräften eine Regierungsübernahme der Tories verhindern, lautete die Überlegung der Gewerkschaftsführer, ehe man im Anschluß an einen Labour-Wahlsieg neu über Löhne und Gehälter verhandeln könne.296 Aus diesem Grund gehörten die Gewerkschaftsführer zu den entschiedensten Befürwortern eines Herbsttermins und reagierten besonders enttäuscht und verärgert, als der Regierungschef am 9. September in einer Fernsehansprache verkündete, daß es vorerst keine Wahlen geben werde. Ihr Zorn wurde durch den Umstand gesteigert, daß sie den Eindruck gewannen, der Premierminister habe sie absichtlich hinters Licht geführt: Bei einem vertraulichen Treffen mit den Führern der sechs wichtigsten Einzelgewerkschaften am 1. September hatte sich Callaghan, dessen Entscheidung zu diesem Zeitpunkt bereits feststand, bewußt bedeckt gehalten, und auch in einer Ansprache vor dem TUC-Kongreß fünf Tage später hatte er sich mit mißverständlichen Andeutungen begnügt.297 Mit Callaghans Entscheidung gegen Wahlen im Herbst brach der Damm, der letzte Grund für gewerkschaftliche Zurückhaltung entfiel. Nach dem 9. September setzte sich in fast allen Gewerkschaften die radikalere Basis gegen die gemäßigten Führer durch und verlangte eine Rückkehr zur Praxis des free collective bargaining. Gründe gab es genug: Die Wirtschaft schien allmählich zu gesunden. Die Profite vieler Unternehmen wuchsen, während die Realeinkommen, vor allem im staatlichen Sektor des Arbeitsmarktes, seit 1975 ständig gesunken waren. Nur die Spitzenverdiener im öffentlichen Dienst hatten im Juni 1978 einen Gehaltszuschlag von 30 Prozent zugesprochen bekommen, was den Forderungen, Bezieher niedriger Einkünfte

294 295 296 297

Vgl. CLARKE, Hope, S. 355–6; HOLMES, Labour, S. 124–9. Vgl. MORGAN, Callaghan, S. 632–3. Vgl. TAYLOR, S. 251–2. Zu den Hintergründen siehe MORGAN, Callaghan, S. 641–3.

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nicht zu benachteiligen, zusätzliche Dringlichkeit verlieh. Der Gewerkschaftskongreß stimmte daher schon am 1. September mit großer Mehrheit gegen die Fünf-Prozent-Regel der Regierung; die Delegierten des LabourParteitages folgten einen Monat später. Auch die ersten Streiks ließen nicht lange auf sich warten. Mitte September legte die Belegschaft von Ford die Arbeit nieder, nachdem das Management des Betriebes Lohnerhöhungen im Rahmen der Regierungsrichtlinien, also unter fünf Prozent, angeboten hatte. Anfang November traten die Bäcker in den Ausstand. Wenige Wochen später kündigten die Fahrer von Öltransportern an, sie würden ebenfalls ab dem 2. Januar streiken, wenn sie nicht 40 Prozent mehr Lohn erhielten. „I’m in terrible trouble“, gestand Callaghan Mitte Oktober Bundeskanzler Schmidt am Telefon. „We’ve got a difficult winter“.298 Den Konservativen eröffnete die Malaise der Labour-Regierung eine unerwartete neue Chance, aus dem Thema „Gewerkschaftsmacht“ Kapital zu schlagen. Dazu mußten sie jedoch zunächst den innerparteilichen Meinungsstreit überwinden und zu einer einheitlichen, stringenten und öffentlich vermittelbaren Linie finden. Nach der für die Regierung katastrophal verlaufenen TUC-Konferenz griff Howe die Gewerkschaften erstmals wieder öffentlich an. In einer Rede vor der Handelskammer von Kirklees verwahrte er sich gegen den Vorwurf des „union-bashing“, behauptete jedoch, daß die Allianz von Gewerkschaftsführung und Labour-Regierung weder im Interesse der einfachen Mitglieder noch des Landes liege, weil sie notwendige Reformen verhindere und der veränderungsbereiten Mehrheit den Willen einer auf ihren Privilegien beharrenden Minderheit aufzwinge. A trade union „movement“, whose most contentious policies are not supported by a majority of its membership and whose leaders are wedded to a political and economic system which has failed in practice and which most of the electorate do not want – such a movement remains a major obstacle to the economic recovery that could be within our power.299

Deutlicher konnte man den Grundgedanken von „Stepping Stones“ kaum formulieren. Auch von Hayek meldete sich kurz darauf mit einem längeren Artikel in der Times noch einmal zu Wort, in dem er seine Argumente für eine radikale Beschneidung gewerkschaftlicher Rechte wiederholte. Solange es die öffentliche Meinung politisch unmöglich mache, die notwendigen Reformen durchzusetzen, werde die wirtschaftliche Gesundung des Landes

298 299

Zit. nach MORGAN, Callaghan, S. 646. Siehe auch TAYLOR, S. 253–5; Symposium. The Winter of Discontent, in: Contemporary Record vom Herbst 1987, S. 34–43. Am 15. September 1978 vor der Kirklees Chamber of Commerce im Swallow Hotel in Westgate, Wakefield: News Service 1192/78, S. 5.

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ebenfalls unmöglich sein, schrieb er. „A drastic change may still provide an outlet, but after another decade during which nobody dares to touch the sacred cow, it will certainly be too late.“300 Doch der Widerstand der Beharrungskräfte innerhalb der Tory-Partei hielt an. Prior wehrte sich mit Thorneycrofts Hilfe weiterhin erfolgreich gegen alle Versuche, „Stepping Stones“ entscheidend voranzubringen. In der Frage der Lohnpolitik gingen die Meinungen ebenfalls weit auseinander. Prior deutete Ende September in einem Fernsehinterview an, er halte die Fünf-Prozent-Politik der Regierung nicht prinzipiell für falsch. Auf keinen Fall werde sich die Tory-Partei derart unverantwortlich zeigen wie Labour fünf Jahre zuvor und die Lohnpolitik der Regierung absichtlich unterminieren. Er wisse sehr gut, daß auch eine künftige konservative Regierung es sich kaum erlauben könne, die Löhne ungebremst in die Höhe schießen zu lassen. Selbst die Einführung einer gesetzlichen Lohnpolitik schloß Prior nicht aus.301 Damit geriet er nicht nur in erkennbaren Widerspruch zu seinem Schattenkabinettskollegen Joseph, der weiterhin jeden Gedanken an eine Lohnpolitik kategorisch zurückwies. Er widersprach auch seiner Parteichefin, die in ihren eigenen Stellungnahmen jeden positiven Verweis auf eine Lohnpolitik sorgfältig vermied.302 Auf dem Parteitag in Brighton Mitte Oktober prallten die Gegensätze aufeinander. Thatcher versuchte am Vorabend der Konferenz, in einigen Fernsehinterviews die Leitlinien der konservativen Politik zu skizzieren: Die Lohnpolitik der Regierung sei gescheitert, konstatierte sie. An ihre Stelle müsse ein Verfahren treten, das mehr Raum für Gehaltsunterschiede und Anreize biete. Zugleich dürften Gewerkschaften, die ohne staatliche Einmischung Löhne aushandeln wollten, für unerwünschte Folgen der Lohnabschlüsse auch keine Hilfe von der Regierung erwarten. „[Governments] must not then say ‚if you bargain yourself out of the market we will come with someone else’s money and rescue you‘ [. . .] You cannot constantly protect people from the consequences of their own action.“303 In der Wirtschaftsdebatte am folgenden Tag griff Heath Thatchers Bemerkung über den Zusammenbruch der Lohnpolitik auf und erklärte, sollte dies stimmen, gebe es keinen Grund zu Selbstgefälligkeit oder Schadenfreude. Ausdrücklich lobte er Priors verantwortungsvolle Haltung.304 300 301 302 303 304

The Times, 10. Oktober 1978. Vgl. The Times, 27. September 1978. Zu Josephs Haltung siehe The Times, 10. Oktober 1978; für die Parteichefin siehe THATCHER, Erinnerungen, S. 487. Zit. nach The Times, 11. Oktober 1978. Am 11. Oktober 1978 in der Wirtschaftsdebatte des Tory-Parteitages; News Service, S. 6.

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Howe, der als Schattenschatzkanzler die Abschlußrede der Wirtschaftsdebatte hielt, versuchte die Wogen zu glätten, indem er Heath goldene Brücken baute, zugleich aber an den Grundgedanken des Thatcher-Kurses festhielt.305 Der Drahtseilakt war zum Scheitern verdammt. Heath verstand die Rede des Schattenschatzkanzlers nicht als Kompromißangebot, sondern als Kampfansage, auf die er noch am selben Abend in zwei Fernsehinterviews antwortete.306 Er bestätigte, daß er mit Thatchers Kurs nicht übereinstimme, ihn für einen Weg in den Abgrund halte. „Free collective bargaining produces massive inflation“, erklärte er im BBC-Fernsehen. Bei aller Gegnerschaft zur Labour-Partei, halte er Callaghans Position in der Lohnpolitik für richtig. „[I]f the Prime Minister says ‚I am going to the country because I believe we cannot have another roaring inflation, or another free for all‘, I would say ‚I agree with that‘. We cannot have another free for all.“307 Zwar befanden sich Heaths Aussagen nicht im Widerspruch zu dem, was die zerstrittene Parteiführung ein Jahr zuvor in The Right Approach to the Economy als Kompromiß formuliert hatte. Doch Thatcher hatte es unter dem Eindruck von Labours Schwierigkeiten für ratsam gehalten, einen Schritt nach vorn zu tun. Heaths Äußerungen erschienen ihr nicht nur illoyal, sondern auch unklug. In ihren Augen war es sinnlos, eine irreparabel gewordene Politik zu unterstützen, nur weil sich damit kurzfristig Erfolge im Kampf gegen die Inflation erzielen ließen. Mittel- und langfristig konnte nur ein Rückzug des Staates aus den Tarifverhandlungen verbunden mit einer strikten Begrenzung des Geldmengenwachstums Besserung bringen, davon war sie überzeugt. Hinzu kam, daß die Kritik an Labours Lohnpolitik nach Ansicht der Parteichefin einen wichtigen strategischen Vorteil bot: Sie konnte auf diese Weise klassische Labour-Anhänger, etwa unter den Facharbeitern, ansprechen, die sich durch eine staatliche Lohnpolitik um die Früchte ihrer Arbeit geprellt sahen.308 Ein großer Teil von Thatchers Parteitagsrede wandte sich denn auch direkt an unzufriedene Gewerkschaftsmitglieder: „You want higher wages, better pensions, shorter hours, more government spending, more investment, more – more – more. But

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„We accept, as Ted Heath pointed out, the Government’s responsibility for [an orderly and responsible pattern in pay bargaining] in the public sector. We have learned one other lesson [. . .] namely that a formal and regulated incomes policy turns out in the end to be the wrong way of going about it“; am 11. Oktober 1978 in der Wirtschaftsdebatte des Tory-Parteitages; News Service, S. 5. Siehe HOWE, S. 103; HEATH, Course, S. 569. Zit. nach The Times, 12. Oktober 1978. Vgl. auch HEATH, Course, S. 569–70. Siehe hierzu THATCHER, Erinnerungen, S. 488.

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where is the ‚more‘ to come from? There is no more. There can be, but there won’t be unless we all produce it. You can no more separate pay from output than you can separate two blades of a pair of scissors and still have a sharp cutting edge.“ Nur wenn die Produktivität wachse, könne es auch den Arbeitnehmern wieder besser gehen. Es sei falsch zu glauben, Produktivitätswachstum bedeute Rationalisierungen und führe zu Massenentlassungen. Der richtige Weg zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit liege darin, mehr Waren billiger zu produzieren, so daß mehr Menschen sie kaufen wollten. Zur Lohnpolitik erklärte sie, ihre Partei glaube an „realistic, responsible collective bargaining, free from Government interference [. . .] It’s up to you, the trade union leaders, to act realistically in the light of all the facts, as the Government must do. If you demand too much, you will bargain your firm into bankruptcy and your members onto the dole.“309 Die Nachlese des Parteitags war eine herbe Enttäuschung für Thatcher. Trotz Labours Malaise war es der Konservativen Partei nach Ansicht der meisten Kommentatoren nicht gelungen, die Gunst der Stunde zu nutzen. Im Gegenteil: Die innerparteilichen Querelen ließen die Stimmung umschlagen. Vor der Konferenz hätten sich die Tories wie eine Fußballmannschaft gefühlt, die auswärts deutlich gewonnen hat und im abschließenden Heimspiel alles ganz leicht für sich entscheiden kann, hieß es im Economist.310 Statt eines Sieges folgte jedoch eine bittere Niederlage. „[T]heir intended triumph slipped through their fingers“, schrieb selbst Fred Emery, der Tory-freundliche Kommentator der Times.311 Eine Meinungsumfrage der Daily Mail ergab, daß 42 Prozent der Briten Heaths Standpunkt in der Lohnpolitik guthießen, nur 36 Prozent Thatchers Einstellung. Beide wurden von Premierminister Callaghan überboten, der eine Zustimmungsrate von 44 Prozent erzielte.312 Hatten die Tories vor dem Parteitag in den Meinungsumfragen mit sieben Prozentpunkten Vorsprung vor Labour geführt, so kehrte sich das Verhältnis bis Ende Oktober zu ihren Ungunsten um: Jetzt lag die Regierungspartei mit über fünf Prozentpunkten vorn.313 Thatcher konnte nun nur noch darauf setzen, daß die Regierung von den Gewerkschaften weiter in die Enge getrieben würde. Die Hoffnung trog nicht. Am 14. November kündigte das eher gemäßigte Präsidium des TUC die Zusammenarbeit mit dem Labour-Kabinett auf, indem eine von Regie309 310 311 312 313

Am 13. Oktober 1978 auf dem Tory-Parteitag in Brighton, abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 78–90 (S. 84). Vgl. The Times, 14. Oktober 1978. The Economist, 14. Oktober 1978. The Times, 14. Oktober 1978. Ähnlich auch der Leitartikel vom selben Tag. Zit. nach The Economist, 21. Oktober 1978. Vgl. The Economist, 18. November 1978. Siehe auch BUTLER und KAVANAGH, S. 263.

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rungsvertretern und Gewerkschaftern gemeinsam erarbeitete Erklärung zur Wirtschaftspolitik bei der entscheidenden Abstimmung keine Mehrheit fand. Damit war die letzte Chance verspielt, wenigstens den Schein des Einvernehmens zwischen Labour und Gewerkschaften zu wahren. Es ist bezeichnend für den Grad der Uneinigkeit innerhalb der Labour-Partei, wie unterschiedlich die Parteiflügel auf die Nachricht vom Ende der Kooperation reagierten. „It’s a real kick in the teeth for the corporate state“, jubelte Benn.314 Healey hingegen betrachtete die Entscheidung als Todesstoß für die Regierung. „This shambles was of course a triumph for Mrs Thatcher“, schrieb er in seinen Erinnerungen. „The cowardice and irresponsibility of some union leaders in abdicating responsibility at this time guaranteed her election.“315 Der Premierminister teilte die Einschätzung seines Schatzkanzlers. „[T]he political impact of the TUC’s rejection was serious“, urteilte er später, „the Government’s moral authority on pay issues was undermined.“316 In der Tat gab die Unternehmensleitung von Ford drei Tage später nach neun Streikwochen in der Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften nach und stimmte einer Lohnerhöhung von 17 Prozent zu.317 Die Regierung mußte auf diesen offenen Verstoß gegen ihre Lohnpolitik mit Strafmaßnahmen reagieren, wollte sie sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben. In einer Kampfabstimmung im Unterhaus am 15. Dezember scheiterten ihre Vorschläge für Wirtschaftssanktionen jedoch an einer buntscheckigen Koalition, der neben den Tories auch die Liberalen, schottischen Nationalisten und nordirischen Unionisten angehörten. Entscheidend war, daß auch eine Handvoll Abgeordneter vom linken Flügel der Labour-Partei gegen die Regierung stimmte, weil sie in der Bestrafung für Ford gleichzeitig eine Rüge an die Gewerkschaften erblickten.318 Was nun begann, ging als Winter of Discontent in das kollektive Gedächtnis der Briten ein.319 In einer Kettenreaktion trat eine Berufsgruppe nach der anderen in den Ausstand und forderte zum Teil erhebliche Lohnerhö314 315 316 317 318 319

Tagebucheintrag vom 14. November 1978, in: BENN, Conflict, S. 391. HEALEY, S. 464. CALLAGHAN, S. 533. Siehe: Symposium. The Winter of Discontent, in: Contemporary Record vom Herbst 1987, S. 34–43 (S. 39). Siehe MORGAN, Callaghan, S. 659. Der Begriff, den die britische Presse im Winter 1978/1979 zu einem geflügelten Wort machte, ist einem Monolog aus Shakespeares Richard III. entnommen. Interessanterweise hatten sich die Propagandisten der Tory-Partei schon mehr als drei Jahre zuvor erfolglos darum bemüht, die Wendung als Kampfbegriff zu etablieren; vgl. etwa in Thatchers Rede am 30. Juli 1975 bei der Alnwick Castle Fete in Northumberland: News Service 698/75, S. 3.

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hungen, um die Verzichte der vergangenen Jahre auszugleichen und nicht gegenüber anderen Berufssparten benachteiligt zu werden. Die Techniker der BBC drohten damit, das Fernsehprogramm über die Weihnachtstage zu sabottieren, wenn sie nicht 15 Prozent mehr Lohn erhielten. Wegen eines Druckerstreiks mußte die Times erstmals seit zweihundert Jahren ihr Erscheinen einstellen. Am 1. Januar begann in Schottland ein Streik der Speditionsarbeiter, der sich rasch über das ganze Land ausbreitete, die Angst vor Versorgungsengpässen bei Lebensmitteln und Medikamenten nährte, an einigen Orten Hamsterkäufe auslöste und in Nordirland sogar dazu führte, daß der Notstand ausgerufen wurde. Besonders hart traf die Bevölkerung Ende Januar der Streik von eineinhalb Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in den Kommunen.320 In der Folgezeit mußte in manchen Gemeinden der Schulunterricht ausfallen, weil Hausmeister die Schulgebäude nicht heizten; die Abwasserentsorgung setzte vielerorts aus, weil die Arbeiter in den Wasserwerken in den Ausstand traten; in einigen Krankenhäusern wurden Patienten abgewiesen, weil Pförtner und Krankenschwestern streikten; in Liverpool weigerten sich sogar die Totengräber, Bestattungen vorzunehmen.321 Ökonomisch war der Streikwinter 1978/79 weniger gefährlich als die Auseinandersetzung der Bergleute mit der Heath-Regierung fünf Jahre zuvor. Zu keinem Zeitpunkt drohte die Volkswirtschaft zusammenzubrechen, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern war gewährleistet.322 Psychologisch wirkten die Ereignisse jedoch verheerend. Fast jeder spürte die Folgen des Streiks am eigenen Leib, was umso verdrießlicher stimmte, als der Winter für britische Verhältnisse extrem kalt war. Darüberhinaus sorgte die Fernseh- und Presseberichterstattung dafür, daß allen Briten die schlimmsten Streikfolgen tagtäglich vor Augen geführt wurden. Der Daily Express druckte ein Foto von einer Ratte, die aus einem riesigen Berg nicht abgeräumten Mülls krabbelte. Bilder von Kindern, die vergeblich auf eine Notoperation warteten, und Krebspatienten, die man aus ungeheizten Krankenzimmern zum Sterben nach Hause schickte, erreichten alle Wohnzimmer. Weil derartige Exzesse wieder und wieder gesendet wurden, erschienen sie nicht als Ausnahme (was sie waren), sondern als Regelfall.323 Vor allem aber wurde der Klassen320 321 322 323

Diese verlangten vergleichbare Lohnzuwächse wie in der Privatwirtschaft und wollten einen Mindestlohn von 60 Pfund in der Woche durchsetzen. Vgl. dazu den resignierenden Kommentar von CALLAGHAN, S. 537. Vgl. WILLIAM RODGERS, Government under Stress. Britain’s Winter of Discontent 1979, in: Political Quarterly 55, 1984, S. 171–9. Siehe hierzu JENKINS, S. 27, aber auch COCKERELL, S. 243.

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kampfmythos, von dem Labour jahrelang profitiert hatte, schwer erschüttert. Anders als fünf Jahre zuvor standen die streikenden Arbeiter nicht mehr einer konservativen Regierung gegenüber. Der Bruch ging vielmehr quer durch das Lager der Arbeiterbewegung. Die Regierung Callaghan erwies sich angesichts der Unnachgiebigkeit der Gewerkschaften als ebenso hilflos wie ihre konservative Vorgängerin. Der Premierminister wirkte nach dem Zusammenbruch seiner Lohnpolitik vollständig konsterniert, nahezu depressiv.324 Schlimmer noch: Er erschien vielen Briten in der Notsituation nicht nur tatenarm und unschlüssig, sondern auch hartherzig, abgehoben und ohne Verständnis für die täglichen Probleme der Bürger. Anfang Januar war er zu einem Gipfeltreffen mit den Staats- und Regierungschefs aus den USA, Frankreich und der Bundesrepublik auf die Karibikinsel Guadeloupe geflogen, um über die Modernisierung des westlichen Atomwaffenarsenals und die Möglichkeit von Rüstungskontrollverhandlungen mit der Sowjetunion zu diskutieren. Callaghan mochte gehofft haben, es sei vorteilhaft, sich in einem Wahljahr als weltgewandter Staatsmann zu präsentieren. Die Wirkung des Gipfels in Großbritannien war jedoch eine andere. In den Abendnachrichten der BBC standen die Aufnahmen eines sonnengebräunten Premiers – in Badehose am Palmenstrand flanierend – im krassen Gegensatz zu den chaotischen Bildern militanter Streikposten, überquellender Mülleimer, ungeheizter Schulen und unbestatteter Leichen. Als Callaghan bei seiner Rückkehr noch am Flughafen eine improvisierte Pressekonferenz abhielt, verschlimmerte er seine Lage weiter. Nach mehreren Tagen Abwesenheit fehlte ihm das Gespür für die Stimmung im Lande; seine Bemerkungen fielen allzu abgeklärt, ja ironisch-distanziert aus. Auf die Frage eines Reporters, was er gegen das „Chaos“ auf den Straßen zu tun gedenke, erklärte er herablassend: „I don’t think that other people in the world share the view there is mounting chaos.“325 Die Boulevardzeitung Sun spitzte diese Antwort auf ihrer Titelseite am folgenden Tag auf boshafte, aber nicht unzutreffende Weise zu: „Crisis – What Crisis?“. Die Schlagzeile wurde zum geflügelten Wort und fügte dem Ruf des Premiers weiteren Schaden zu.326 „Oppositions don’t win elections“, konnte man Mitte Januar im Guardian lesen, „Governments lose them and the Callaghan Government was busy losing the next election with the powerful assistance of the trade union movement.“327 324 325 326 327

Siehe MORGAN, Callaghan, S. 658. Zit. nach COCKERELL, S. 242–3. The Sun, 11. Januar 1979. Siehe auch Schlagzeile und Kommentar des Daily Telegraph, 11. Januar 1979. Vgl. zu der Episode auch MORGAN, Callaghan, S. 661–2. The Guardian, 17. Januar 1979.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

Je größer die Schwierigkeiten der Regierung wurden, umso hoffnungsfroher blickten die Strategen des Thatcher-Lagers in die Zukunft. Ein Umschwenken der öffentlichen Meinung gegenüber den Gewerkschaften zeichnete sich als Silberstreif am Horizont ab. Schon in den Jahren zuvor hatten sie mit Spannung verfolgt, wie eine Reihe prominenter Labour-Anhänger ihrer Partei wegen der Gewerkschaftspolitik den Rücken kehrte. Der Historiker und Publizist Hugh Thomas zum Beispiel, seit Mitte der fünfziger Jahre für die Linke engagiert, hatte sich 1976 zu den Tories bekannt und seinen Sinneswandel unter anderem mit Labours Willfährigkeit gegenüber den Gewerkschaften begründet. „[T]he unions have become established outside the law“, schrieb er, „in a way that no other institution has been since the collapse of the medieval nobility and the church. The power workers could, if they desired, hold to ransom any government.“328 Auch Lord George-Brown hatte seine Partei im März 1976 aus Protest gegen die Gewerkschaftspolitik der Regierung verlassen. Anlaß war ein Gesetz, das seiner Ansicht nach die Pressefreiheit zugunsten der Gewerkschaftsmacht einschränkte und Redakteure wie Herausgeber der Willkür der Druckergewerkschaften auslieferte. Nach seinem Austritt erklärte er: I have been a member of the Labour Party since 1931. I am breaking a lifetime’s devotion to the party. But for me it has always been the party standing for individual freedom and that means the freedom to speak, to write and to argue. The passage of this Bill tonight denies a man that right. [. . .] The Labour Party has become the establishment. It refuses freedom to individuals.329

Der Publizist Paul Johnson, von 1965 bis 1970 Herausgeber der sozialistischen Monatsschrift New Statesman, sah ebenfalls die individualistischen und freiheitlichen Traditionen des Sozialismus durch die Gewerkschaftspolitik der Partei gefährdet. In einem Artikel, der den Titel „Farewell to the Labour Party“ trug, prangerte er insbesondere die closed shop-Gesetzgebung an. Ein Grund, warum er der Labour-Partei beigetreten sei, so Johnson, „was that I believed it stood by the helpless and persecuted, and by the angular non-conformist who – wrong headedly perhaps – reserved the right to think for himself. Labour’s closed shop legislation represented a historic shift in its doctrinal loyalties to the grinning triumph of the field-grey regiment.“ Seine Beweggründe seien weniger politisch als moralisch, fuhr er fort. Seit die Labour-Partei in den Kollektivismus abdrifte, habe er zum erstenmal in seinem Leben erkannt, wie wichtig für ihn Freiheit und Individualismus seien. 328 329

HUGH THOMAS, A Letter to a Social Democrat, in: CORMACK (Hrsg.), S. 94. Vgl. auch Thomas’ Artikel in der Daily Mail, 23. November 1976. Zit. nach The Times, 3. März 1976.

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[T]he individual conscience is the most precious gift humanity possesses. A political creed which respects it – whatever evil it may otherwise do or stand for – is inherently healthy, for it contains within it a self-correcting mechanism. But in a system of belief where conscience is collectivised, there is no dependable barrier along the highway which ultimately may lead to Auschwitz and the Gulag.330

Im Herbst und Winter 1978 gewannen Einstellungen wie diese an Gewicht. Hatten im Februar 1974 noch sechzig Prozent der Briten in Meinungsumfragen geäußert, Gewerkschaften seien eine positiv zu beurteilende Einrichtung, glaubten dies an der Jahreswende 1978/1979 nur noch 44 Prozent. Im gleichen Zeitraum hatte sich die Zahl derer, die glaubten Gewerkschaften seien schädlich, von 25 auf 44 Prozent nahezu verdoppelt.331 Mit Spannung registrierte Howe im November, daß selbst Peter Jenkins, der einflußreiche Kommentator des linksliberalen Guardian, in einem Leitartikel schrieb, die Gewerkschaftsfrage sei nun „at the heart of British politics“.332 In der „Stepping Stones“-Arbeitsgruppe konstatierte Hoskyns am 2. November sichtlich zufrieden, das Presse-Echo auf die konservativen Reformvorschläge klinge viel freundlicher als noch wenige Monate zuvor. „Media treatment of Geoffrey Howe’s recent speeches has been very different from their familiar response, at the beginning of this year, of ‚union-bashing‘.“333 Mitte Dezember stellte Sherman in einem für Thatcher bestimmten Memorandum zur Gewerkschaftsfrage fest: „[T]he public mood vis à vis the Unions has changed. The Unions’ moral ascendancy has been eroded, they are no longer seen as valiant fighters for the underdog but as selfish and often ruthless operators.“ Endlich sei es wieder möglich, öffentlich darüber nachzudenken, wie man dem Gewerkschaftsproblem beikommen könne.334 Wie die öffentliche Argumentation der Tories aussehen solle, führte Sherman in einem anderen Strategiepapier aus: Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder habe sich seit dem Zweiten Weltkrieg vervierfacht, erklärte er. Selbst der Öffentliche Dienst, mit dem fast alle Bürger direkt zu tun hätten, werde inzwischen von den Gewerkschaften dominiert. Durch den closed shop wachse der Einfluß militanter Aktivisten, während gleichzeitig die Inflation dafür sorge, daß auch gemäßigte Gewerkschaftsmitglieder sich radikalisierten. „In a period of stable prices, many unions and their members will

330 331 332 333 334

New Statesman vom September 1977 (Kurzfassung in: Sunday Telegraph, 11. September 1977). Siehe TAYLOR, S. 371. HOWE, S. 107. Zit. nach ebd., S. 107. Alfred Sherman: Our exposed flank – free collective bargaining, in: Sherman Papers AR MT/5/2/3, S. 11 (Box 6, Folder 2).

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accept the status quo. In a period of inflation, no one can afford to be left behind; once they have tasted blood, even artificial blood, their appetite grows.“ Hinzu komme, daß sich die Verhandlungslage zugunsten der Gewerkschaften verschoben habe, zum einen weil alle Parteien miteinander wetteiferten, wer mit den Gewerkschaften am besten auskomme, zum anderen weil sozialstaatliche Absicherung das Risiko der Streikenden verringere. Das Meinungsklima begünstige außerdem seit langem die Arbeitnehmer und demoralisiere die Unternehmer und das Management, zumal der Staat allzu selten sein Gewaltmonopol nutze, um seinen Gesetzen bei Übergriffen der Gewerkschaften Geltung zu verleihen. „[W]e have reached a stage where trade union activity makes almost everybody, including most TradeUnionists, worse off than they would otherwise be“, lautete Shermans Fazit. „Therefore, almost everyone has the incentive to accept reform.“335 Unter dem Eindruck ständig neuer Hiobsbotschaften von der Streikfront entschloß sich Thatcher in den Weihnachtsferien, Shermans Drängen nachzugeben und einen Schritt nach vorn zu wagen. Anfang Januar kehrte sie mit dem festen Willen nach London zurück, die konservative Gewerkschaftspolitik zu verschärfen.336 Ohne ihr Schattenkabinett zu informieren, arbeitete sie mit Hilfe von Sherman und Reece neue Vorschläge aus, wie eine künftige Tory-Regierung den Einfluß der Gewerkschaften begrenzen könnte. Streikende Arbeiter und ihre Familien sollten nur dann in den Genuß von staatlichen Ausgleichszahlungen gelangen, wenn ihre Gewerkschaft vor dem Ausstand eine geheime Abstimmung durchgeführt hätte. Außerdem sollten diese Ausgleichszahlungen fortan steuerpflichtig sein. Einige Berufssparten in besonders sensiblen Bereichen wie Gas- und Stromversorgung sollten schließlich gegen angemessene Kompensationen vom Streikrecht ausgenommen werden.337 Die Politikerin nutzte ein Fernsehinterview in der Sendung Weekend World am 7. Januar, um die neuen Ideen zu lancieren und zugleich scharfe Kritik an den Gewerkschaften zu üben.338 Nicht nur die Presse reagierte überwiegend positiv auf diesen Vorstoß, auch breite Bevölkerungsschichten gaben zu erkennen, daß die Politikerin ihnen aus dem Herzen sprach.339 „Unterstützungsangebote, Informationen und neue Ideen überschwemm335 336 337 338 339

Alfred Sherman: Notes on Policy for the Unions and its Presentation, in: Sherman Papers AR MT/5/2/3, S. 1, 3 (Box 8, Folder 2). Vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 497. Vgl. The Economist, 13. Januar 1979; Daily Telegraph, 8. Januar 1979. Vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 498. Siehe auch Daily Telegraph, 8. Januar 1979. Der prominenteste Sympathisant war Lord George-Brown, der inzwischen als Unabhängiger im Oberhaus saß. Siehe den Kommentar im Daily Telegraph, 8. Januar 1979.

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ten jetzt mein Büro“, berichtete sie später340 Zwar hütete sie sich, ihre Partei eindeutig auf bestimmte Einzelmaßnahmen festzulegen. Doch die Stoßrichtung ihrer Aussagen war deutlich: Die Tory-Chefin verband ihren Namen öffentlich mit dem Anliegen eines Kurswechsels in der Gewerkschaftspolitik. Allein dadurch, daß sie verschiedene Möglichkeiten öffentlich erörterte, bekamen „diese Themen natürlich mehr Gewicht [. . .], als einige meiner Kollegen wollten“, wie sie später hintersinnig schrieb.341 Es verwundert nicht, daß Prior am folgenden Tag seinerseits in einem Fernsehinterview erklärte, er sei gegen obligatorische Geheimabstimmungen. In der Frage der Ausgleichszahlungen für Streikende sei mit ihm nichts vereinbart worden, sie bedürfe in jedem Falle einer gründlichen Prüfung, bevor man zu einem Entschluß kommen könne.342 Seine Parteichefin ließ sich jedoch nicht mehr aufhalten. Am 10. Januar schrieb sie einen Brief an den Premierminister und beantragte eine außerplanmäßige Unterhausdebatte über die Folgen des Streiks für den 15. und 16. Januar. „Because of the hardship and suffering which has already been experienced, and the deep concern about the future, I believe that this is the least the country expects of Parliament.“343 Erst jetzt band sie die Parteigremien in die Entscheidungsprozesse ein. Die zentrale Frage vor der Parlamentsdebatte lautete: Sollte die Oppositionsführerin einen ihrer üblichen Frontalangriffe auf die Regierung starten, oder war es ratsamer, Labour unter gewissen Bedingungen konservative Unterstützung anzubieten? Die Parteichefin selbst neigte instinktiv zur ersten Alternative. Diese befand sich im Einklang mit ihrer Einschätzung von den Aufgaben einer Oppositionspartei und den unüberbrückbaren inhaltlichen Differenzen zwischen Labour und Tories. „You don’t join hands with a government you’re trying to overthrow except in wartime. Ceasing to be an Opposition and becoming the Government oneself is the solution to what happening to this country“, erklärte sie einem Freund, der zur Mäßigung riet.344 Zudem enthielt ein Kooperationsangebot eine Reihe von Unwägbarkeiten: Stellte man unannehmbare Bedingungen, würde die Regierung das Angebot als reine Propaganda abtun. Kam man Labour zu weit entgegen, bestand die Gefahr, daß Callaghan das Angebot annahm und die Konservativen seine unpopuläre Politik mitzuverantworten hatten, ohne von möglichen Erfolgen zu profitieren.

340 341 342 343 344

THATCHER, Erinnerungen, S. 498. Ebd. Siehe Daily Telegraph, 9. Januar 1979. Brief von Thatcher an Callaghan vom 10. Januar 1979: News Service 29/79. Zit. nach MILLAR, S. 247.

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Auf der anderen Seite war der Druck aus den eigenen Reihen, der Regierung in einer nationalen Krisensituation begrenzte Zusammenarbeit anzubieten, beträchtlich.345 Thatcher beugte sich schließlich dem Mehrheitswillen, nicht zuletzt weil sie darauf spekulierte, im innerparteilichen Richtungsstreit aus ihrem Einlenken Nutzen zu ziehen. Stimmten Prior und seine Anhänger einem Kooperationsangebot an die Regierung und den damit verbundenen Konditionen zu, so hoffte die Parteichefin, dann konnten sie sich nicht mehr dagegen wenden, wenn eine konservative Regierung diese Maßnahmen später in Kraft setzen würde.346 Die Rede, mit der Thatcher am nächsten Tag vor das Unterhaus trat, war eine raffinierte Mischung aus Konfrontation und Kooperationsangeboten. „Whatever view the Prime Minister may take about the situation in Britain, the opposition took the view that we were in a position of grave trouble of crisis proportions“, begann sie, auf Callaghans mißglückte Pressekonferenz anspielend. Es folgte eine ausführliche Beschreibung der Krise: Der Gütertransport sei weitgehend lahmgelegt; es führen keine Züge mehr; und der Export litte unter den Unruhen der Hafenarbeiter. Mindestens 125 000 Menschen seien bereits entlassen worden, bis Ende der Woche sei mit einer Million zu rechnen. Grundnahrungsmittel wie Speiseöl, Hefe, Salz und Zucker würden immer knapper. „If that is not mounting chaos, it is difficult to see what is.“ Das Problem wurzele in der übergroßen Macht, die den Gewerkschaften aufgrund der Nachgiebigkeit des Staates zugewachsen sei. Die Regierung könne von Glück sagen, daß sich die Konservativen in dieser Notsituation verantwortungsbewußter benähmen als Labour fünf Jahre zuvor. Ihre Partei sei bereit zur Zusammenarbeit, falls Labour die Probleme wirklich angehen wolle: Weder eine Veränderung des Streikrechts noch eine Begrenzung des closed shop werde an den Tories scheitern. Nicht weniger als sechs Mal wiederholte Thatcher die Floskel „Wir werden die Regierung unterstützen“, machte zugleich aber unmißverständlich klar, daß die Zusammenarbeit auf die Gewerkschaftsgesetzgebung begrenzt und an die Bedingung einer entschiedenen Reformpolitik geknüpft sei.347 345

346 347

Nicht nur Gegner des Thatcher-Kurses wie Patten drängten die Parteichefin, sich staatsmännisch und kooperativ zu geben. Auch Gefolgsleute wie Utley und Millar glaubten, in der gegenwärtigen Krise erwarte die Nation einen engen Schulterschluß aller Parteien und lehne Parteiengezänk ab. Am Abend des 15. Januar sprach sich schließlich auch eine Mehrheit im inneren Kreis des Schattenkabinetts, für ein Kooperationsangebot aus; vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 500–1; MILLAR, S. 247–8. Vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 502. Wörtlich erklärte sie: „While we are critical of [the Prime Minister’s] complacency, and while we are critical of the way in which matters have hardened and he has not been prepared to take the requisite action, and while we are critical of much of his political philos-

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Während die Parlamentsrede zwischen Konfrontation und Kooperation oszillierte, drängten Thatchers Berater darauf, in der Fernsehansprache am folgenden Tag ganz auf den Versöhnungsgestus zu setzen.348 Die Parteichefin jedoch versuchte bis zum letzten Augenblick, den Ton des Manuskripts zu verschärfen. „You’re asking me to let Callaghan off the hook“, warf sie ihren Beratern vor. Erst der Hinweis, in Notzeiten müßten nationale vor Partei-Interessen rangieren, veranlaßte sie nachzugeben.349 Als das Kamerateam am Morgen des 17. Januar in Thatchers Büro im Unterhaus erschien, um die Ansprache aufzuzeichnen, merkte man ihr die innere Reserve nicht mehr an. „[T]onight I don’t propose to use the time to make party political points. I do not think you would want me to do so“, begann sie, direkt an die Zuschauer gewandt. Die Lage sei viel zu ernst für Parteienstreit. Nach den Exzessen der zurückliegenden Streikwochen frage sie sich, „what has happened to our sense of common nationhood and even of common humanity. [. . .] What we face is a threat to our whole way of life.“ Der Bedrohung könne man nur durch eine Veränderung der Gewerkschaftsgesetzgebung entgegenwirken. Es folgten die bekannten Vorschläge einer Reform des Streikrechts, der closed shop-Gesetzgebung sowie geheimer Abstimmungen innerhalb der Einzelgewerkschaften. In ihren Schlußworten verband Thatcher den Gedanken einer radikalen Reformpolitik geschickt mit dem Lieblingsmotiv ihrer innerparteilichen Gegner, der One NationParole, der sie auf diese Weise eine neue Stoßrichtung gab: Wenn die gegenwärtige Krise irgendetwas lehre, so Thatcher, it has surely taught us that we have to think of others as well as ourselves; that noone, however strong his case, is entitled to pursue it by hurting others. There are wreckers among us who don’t believe this. But the vast majority of us, and that includes the vast majority of trade unionists, do believe it, whether we call ourselves Labour, Conservative, Liberal – or simply British. It is to that majority that I am talking this evening We have to learn again to be one nation, or one day we shall be

348

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ophy, if he will take steps to deal with the situation of trade union power and consider new laws and new practices against picketing, of alleviating the effect of the closed shop and of trying to achieve more secret ballots so that people do not go on strike before they have been consulted about a matter which affects their whole livelihood – if he will agree to take action on these issues, we will support him through and through. [. . .] If he does not, I hope that he will step aside for a party that will“; am 16. Januar 1979 im Unterhaus; Hansard Vol. 960, col. 1541. „[A]n emotional appeal would take advantage of her being a woman“, glaubte Millar, der gemeinsam mit Patten den Redetext verfaßt hatte, „and her natural feminine sympathies could [. . .] have a powerful effect on the people. Above all by offering to unite the country it would present her for the first time as a national, as distinct from a Party, leader“; MILLAR, S. 247. So jedenfalls MILLAR, S. 248.

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no nation. If we have learnt that lesson from these first dark days of 1979, then we have learnt something of value.350

In den folgenden Tagen zeigte sich, daß die Rechnung der Tory-Strategen aufging: Der Graben zwischen den Parteien war zu breit, als daß Callaghan die ausgestreckte Hand der Oppositionsführerin hätte ergreifen können. Die Regierung blieb eine direkte Antwort auf das konservative Angebot schuldig. Gleichzeitig machten Thatchers fulminante Auftritte im Parlament und auf dem Bildschirm großen Eindruck. Sogar der skeptische Economist bescheinigte ihr „a rousing parliamentary performance“, die Labours Gewinnchancen bei den nächsten Wahlen einen schweren Schlag versetzt habe.351 Der Leitartikler des Daily Telegraph fand Thatchers Rede „remarkable“ und konstatierte: „What emerged most clearly was not the appeal for a common effort by both parties to meet a common and immediate danger, but a crystal-clear definition of where the Tories stand in relation to the present crisis. [. . .] Nothing of comparable clarity was yielded by Mr. Callaghan.“352 Thatchers Berater waren im Rückblick überzeugt, der Parlamentsauftritt und vor allem die anschließende Fernsehansprache seien der entscheidende Wendepunkt auf dem Weg nach 10 Downing Street gewesen.353 Millar glaubte, die Fernsehansprache sei ein entscheidender Durchbruch gewesen. „It wasn’t so much the words, it was the gesture of holding out the hand to the political enemy that grabbed the country. People who had no love for the Conservative Party warmed to its leader.“354 Thatcher selbst setzte die Akzente ein wenig anders. Ihrer Ansicht nach hatte sich „unser erkennbarer Wille, die Militanten in den Gewerkschaften auf die Hörner zu nehmen, der bisher ein Passivum gewesen war, [. . .] plötzlich als Vorteil entpuppt“.355 Immer wieder profilierte sie in den folgenden Wochen als unbarmherzige Gegnerin militanter Gewerkschaften. „Some of the unions are confronting the British people“, erklärte sie Ende Januar in einem Radiointerview, „they are confronting the sick, they are confronting the old, they are confronting the children. I am prepared to take on anyone who is confronting those and who is confronting the law of the land [. . .] If someone is confronting our essential liberties, if someone is inflicting injury, harm and damage on the

350 351 352 353

354 355

Am 17. Januar 1979 in einem Party Political Broadcast: News Service 71/79, S. 1, 4 . The Economist, 20. Januar 1979. Daily Telegraph, 17. Januar 1979. „Although I am not a political scientist“, erklärte Tim Bell, als Managing Director der Werbeagentur Saatchi and Saatchi für die Produktion des Spots zuständig, „my feeling is that this broadcast won her the election“; zit. nach COCKERELL, S. 244. MILLAR, S. 249. THATCHER, Erinnerungen, S. 504.

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sick, my God, I will confront them.“356 Die Umfrageergebnisse gaben ihr Recht. Sie zeigten, daß die öffentliche Stimmung vollends gegen die Gewerkschaften umgeschlagen war. „Meanwhile party in grip of mild euphoria“, notierte Hoskyns in seinem Tagebuch. „[I]dea of special relationship between Labour and unions a joke. Union issue is now top of the list.“357 Ende Januar erklärten 80 Prozent der Befragten, sie stimmten mit Thatchers Vorschlägen zur Gewerkschaftsreform überein. Der Popularitätsrückstand der Tories vom Herbst hatte sich in einen Vorsprung von zwanzig Prozent verwandelt.358 Zum Leidwesen der Konservativen hatte Callaghan noch bis zum Herbst Zeit, ehe er die Bürger zu den Urnen rufen mußte. Seine Regierung wollte die Galgenfrist nutzen, um den entstandenen Schaden zu begrenzen. Am 21. Februar akzeptierten die Beschäftigten der Kommunen eine Lohnerhöhung von neun Prozent, die eine unabhängige Kommission unter dem Vorsitz von Professor Hugh Clegg vorgeschlagen hatte. Die Ziffer lag zwar deutlich über den von der Regierung ursprünglich angestrebten fünf Prozent, zugleich aber weit unter den anfänglichen Forderungen der Streikenden. Wenig später erklärten sich Schwestern, Pfleger und anderes Krankenhauspersonal mit einem vergleichbaren Kompromiß einverstanden. Auch die Verhandlungen zwischen Regierung und TUC kamen wieder in Gang und führten am 23. Februar zum sogenannten Concordat, einer Art Miniaturausgabe des Social Contract. Darin einigten sich beide Seiten, die Inflationsrate innerhalb von drei Jahren auf unter fünf Prozent zu senken und in jährlichen Wirtschaftsberichten die hierfür notwendigen Zielvorgaben für Lohnerhöhungen festzulegen. Darüber hinaus stimmten die Gewerkschaftsführer freiwilligen Richtlinien zu, die Streikverhalten, Verhandlungsverfahren in Tarifstreitigkeiten und innergewerkschaftliche Organisationsreformen regeln sollten.359 Kaum ein Minister hielt die Übereinkunft langfristig für eine ausreichende Antwort auf die Probleme des Streikwinters. Kurzfristig jedoch beruhigte sie die politische Szene, verschaffte der Regierung eine Atempause und gab der Labour-Partei die Chance, den Vorsprung der Konservativen in den Meinungsumfragen aufzuholen, der bis Ende März auch tatsächlich von zwanzig auf gut zehn Prozent schmolz.360 356 357 358 359 360

Am 31. Januar 1979 im Jimmy Young Programme auf BBC 2 Radio, zit. nach CAMPBELL, Thatcher, S. 423. Tagebucheintrag vom 18. Januar 1979, in: HOSKYNS, S. 85. Vgl. BUTLER und KAVANAGH, S. 263. Siehe auch COCKERELL, S. 244; THATCHER, Erinnerungen, S. 504. Vgl. TAYLOR, S. 259; HOLMES, Labour Government, S. 141–2. Siehe BUTLER und KAVANAGH, S. 122–3, 167. Auch in der Forschung ist das Concordat

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

Die Tories mußten deswegen daran interessiert sein, möglichst bald Neuwahlen zu erzwingen. Eine günstige Gelegenheit ergab sich Anfang März auf einem Politikfeld, das nichts mit den Unruhen des Winters zu tun hatte: die Autonomiebestrebungen in Wales und Schottland. Die Callaghan-Regierung war nach dem Ende der Zusammenarbeit mit der Liberalen Partei und einer Reihe von Niederlagen bei Nachwahlen für ihre parlamentarische Mehrheit auf die Stimmen der nordirischen Abgeordneten sowie der schottischen und walisischen Nationalisten angewiesen und hatte sich gezwungen gesehen, Referenda in beiden Ländern abzuhalten, um ihre Devolutionsvorschläge gegen den Widerstand in der eigenen Partei durchzusetzen. Am 1. März scheiterte dieses Vorhaben: Die Abstimmung in Schottland erbrachte zwar eine knappe Mehrheit der abgegebenen Stimmen, aber nicht die erforderlichen vierzig Prozent aller Stimmberechtigten; in Wales wurden die Vorschläge deutlich abgelehnt.361 Zwar hielt die walisische Partei Plaid Cymru weiterhin zu Labour, die schottischen Nationalisten jedoch signalisierten, daß sie nicht länger vorhatten, die Regierung zu tolerieren. Weil auch die Liberale Partei inzwischen an einem möglichst frühen Wahltermin interessiert war, hing alles von der Entscheidung der nordirischen Abgeordneten ab. Als genügend Zusagen vorlagen, entschieden sich die Tories, einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung einzubringen. Das Ergebnis, das am Abend des 28. März ermittelt wurde, war denkbar knapp: für den Mißtrauensantrag stimmten 311 Abgeordnete, dagegen 310. Das genügte. Erstmals seit 1924 war wieder eine britische Regierung von der Opposition gestürzt worden.362 Zum Wahltermin bestimmte Callaghan den 2. Mai 1979 – fünf Wochen nach der Abstimmungsniederlage. Der bevorstehende Wahlkampf würde somit der längste seit 1945 werden. Für die Entscheidung des Premiers gab es zwei Gründe. Pragmatisch ließ sich die lange Frist mit den Osterferien erklären, die den Wahlkampf Mitte April für fünf Tage unterbrechen würden. Callaghans politische Überlegung jedoch ging dahin, daß eine möglichst ausgedehnte Wahlkampagne seine Partei mehr begünstige als die Tories. Der Winter of Discontent würde in den Hintergrund rücken, und die Erfolge seiner Regierung bei der Inflationsbekämpfung könnten deutlicher hervortreten. Gleichzeitig setzte er darauf, daß Thatcher in ihrem ersten

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ganz überwiegend negativ bewertet worden. Die Urteile reichen von „an orderly retreat“; BUTLER und KAVANAGH, S. 122; über „too little, too late“; TAYLOR, S. 259, bis hin zu „the redrawing of boundaries for the next industrial relations war“; HOLMES, Labour Government, S. 142. Vgl. hierzu SKED und COOK, S. 315–8, 325–7. Vgl. BUTLER und KAVANAGH, S. 123–7.

2. Der Streit um die konservative Gewerkschaftspolitik

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Wahlkampf als Parteichefin eine derart lange Kampagne mental und physisch nicht durchhalten werde, sei es daß ihre Stimme versagte, sie gesundheitlich zusammenbrach oder sich zu einer unbedachten Äußerung hinreißen ließ.363 „Maggie’s Nerve Is The Target“, titelte der Observer am 1. April.364 Callaghan war entschlossen, die Persönlichkeit seiner Kontrahentin zum Dreh- und Angelpunkt seiner Wahlkampfstrategie zu machen.365 Thatcher sollte als unbedarfte und gefährlich radikale Politikerin dargestellt werden, gegen die er selbst sich als erfahrener, moderater Staatsmann umso positiver abhob. Die Zuversicht seiner Wahlkampfberater stützte sich auf Umfrageergebnisse, die seit langem belegten, daß die Wähler Callaghan als Regierungschef der konservativen Parteichefin vorzogen. Im Verlauf des Wahlkampfs vergrößerte der Premierminister seine Zustimmungsrate von 40 auf 44 Prozent, während diejenige Thatchers von 33 auf 25 Prozent sank.366 Eine vom Economist Ende April veröffentlichte Umfrage ergab, daß sowohl Thatchers Persönlichkeit als auch ihr Geschlecht Wähler abschreckten. Viele sahen in ihr eine unerfahrene Extremistin, die wenig Gespür für die Sorgen des einfachen Bürgers hatte und diesen von oben herab behandelte.367 Diese Einschätzung versuchte Labour durch eine Wahlkampfstrategie zu verstärken, die weniger die eigenen Leistungen betonte als vielmehr die negativen Auswirkungen einer Regierungsübernahme durch die Tories in düsteren Farben malte. Die Konservativen reagierten auf Labours Wahlkampfführung mit drei verschiedenen Strategien, die nicht immer reibungslos ineinandergriffen. Thorneycroft und die Parteizentrale setzten ihre Hoffnung darauf, daß sie mit dem größten Vorsprung in den Meinungsumfragen gestartet waren, den jemals eine britische Partei am Beginn eines Wahlkampfes besessen hatte. Ihr Kalkül ging dahin, den Vorsprung ins Ziel zu retten, indem man keine Fehler machte, strittige Themen mied und darauf vertraute, daß Labour diskreditiert sei.368 Die wichtigste Waffe in ihrem Arsenal war die Erinnerung an die Unruhen und Streiks des Winters. Ein Wahlwerbespot der Partei

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Vgl. MORGAN, Callaghan, S. 686; BUTLER und KAVANAGH, S. 165. The Observer, 1. April 1979. Am 22. April lautete die Schlagzeile in derselben Zeitschrift: „The Search for the Tory Banana Skin“. „The issue is Thatcher“, hieß es im Economist am 31. März 1979. „[T]he limelight will fall directly on Mrs Thatcher’s personality as a leader. If unions and the economy are her election issues, she herself is the Labour issue“. Vgl. COCKERELL, S. 246. BUTLER und KAVANAGH, S. 323. The Economist, 28. April 1979. Vgl. BUTLER und KAVANAGH, S. 141, 167.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

zeigte Bilder von Müll, der sich in den Straßen türmte, Streikposten vor Krankenhäusern, geschlossene Flughäfen, verlassene Bahnsteige und streikende Totengräber. Aus dem Hintergrund ertönte dazu nicht weniger als acht Mal die – von einer an Callaghan erinnernden Stimme vorgetragene – Frage: „Crisis? What Crisis?“369 Callaghans Attacken auf die Spitzenkandidatin versuchte die Parteizentrale zu begegnen, indem sie Thatcher aus der Schußlinie nahm. Man riet ihr, keine heißen Eisen, etwa das Thema der Gewerkschaftsreform, anzufassen, sich auf unkontroverse Stellungnahmen zu beschränken und jeden Verdacht des Extremismus weit von sich zu weisen. „Mr Callaghan tried to frighten you with a picture of Conservatives ‚tearing everything up by the roots‘“, erklärte Thatcher den Wählern. „But we are the party of roots, of tradition.“370 Eine direkte Konfrontation mit dem Premierminister in der Fernsehsendung Weekend World, der Callaghan bereits zugestimmt hatte, sollte unter allen Umständen vermieden werden. Thatcher hingegen neigte nach eigenem Bekunden dazu, sich dem Duell zu stellen.371 Thorneycroft, Gordon Reece und William Whitelaw glaubten jedoch, ein Verzicht sei weiser. Ihrer Ansicht nach würde ein Showdown der beiden Spitzenkandidaten im Fernsehen den gesamten Wahlkampf dominieren, von den Sachthemen ablenken und auf diese Weise Labours Strategie in die Hände spielen. Zudem war der Ausgang eines Schlagabtausches unberechenbar, und die Konservativen hatten es bei ihrer sicheren Führung in den Umfragen nicht nötig, Risiken einzugehen.372 Am Ende siegte die Vorsicht. Die Politikerin lehnte in einem Schreiben an Weekend World ihre Teilnahme mit der Begründung ab, die Wähler sollten über politische Inhalte, nicht über Personen entscheiden.373 Bestandteil derselben Sicherheitsstrategie war es, die eigenen Versprechen im Wahlmanifest zu begrenzen.374 Konkrete Festlegungen, gerade auch im 369

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Vgl. COCKERELL, S. 250; BUTLER und KAVANAGH, S. 222–4. In den Wahlkampfreden konservativer Politiker rangierte das Thema ebenfalls an erster Stelle. Thatcher selbst erklärte in ihrer ersten Fernsehansprache: „We have just had a devastating winter of industrial strife – perhaps the worst in living memory, certainly the worst in mine. We saw the sick refused admission to hospital. We saw people unable to bury their dead. We saw children locked out of their schools. We saw the country virtually at the mercy of secondary pickets and strike committees. And we saw a Government apparently helpless to do anything about it“; am 2. April 1979 als Antwort auf Callaghans Prime Minister’s Ministerial Broadcast vom 29. März 1979: News Service 439/79, S. 2 Ebd., S. 4. Siehe THATCHER, Erinnerungen, S. 521. Vgl. BUTLER und KAVANAGH, S. 168. Vgl. COCKERELL, S. 247. Tatsächlich war das konservative Wahlmanifest vom Frühjahr 1979 nur halb so lang wie sein

2. Der Streit um die konservative Gewerkschaftspolitik

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Hinblick auf eine Lohnpolitik, wurden vermieden, was Healey zu der spöttischen Bemerkung veranlaßte, im Tory-Manifest nach konkreten Politikvorschlägen zu suchen sei ähnlich frustrierend wie im Kohlenkeller nach einer schwarzen Katze zu suchen.375 Joseph als Exponent des marktradikalen Flügels der Konservativen Partei spielte während des Wahlkampfes keine hervorgehobene Rolle. Die Parteizentrale wollte den Eindruck vermeiden, die Tories seien hartherzig und auf eine Konfrontation mit den Gewerkschaften aus.376 Heath dagegen war neben der Parteichefin die zweite Hauptfigur des konservativen Wahlkampfes. Er sprach im ganzen Land und warb für einen Regierungswechsel, wenn er es in seinen Reden auch sorgfältig vermied, Thatchers Namen zu erwähnen. Als in der letzten Woche der Kampagne der Vorsprung der Tories auf fünf Prozentpunkte zusammengeschmolzen war, plante Thorneycroft, seiner Partei durch einen gemeinsamen Auftritt von Thatcher und Heath neuen Schwung zu verleihen, zumal Umfragen ergeben hatten, daß mit Heath als Parteiführer der Vorsprung 18 Prozentpunkte betragen würde. Der Vorschlag scheiterte jedoch am Widerstand Thatchers, die Thorneycrofts Ansinnen wutenbrannt ablehnte.377 Anders als die Parteizentrale wollte Thatchers Medienberater Gordon Reece die Spitzenkandidatin durchaus ins Zentrum der Wahlkampagne rükken, allerdings weniger mit prononcierten politischen Stellungnahmen als mit den „weichen“ Seiten ihrer Persönlichkeit. Er hielt sie an, sich vornehmlich bei alltäglichen Verrichtungen fotografieren und filmen zu lassen: beim Einkaufen, beim Abwasch, beim Nähen oder Staubsaugen. Obwohl die Tory-Chefin in den Meinungsumfragen weit hinter Callaghan zurück-

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Vorgänger vom Oktober 1974; Labours Manifest hingegen verdoppelte im selben Zeitraum seinen Umfang. Während die Tories ihre Wahlversprechen von 87 auf 57 zurückstutzten, erhöhte sich die Anzahl bei der Labour-Partei von 72 auf 77; vgl. BUTLER und KAVANAGH, S. 144. Zit. nach ebd., S. 188. In der Passage über „Responsible Pay Bargaining“ hieß es im konservativen Wahlmanifest vage: „There should [. . .] be more open and informed discussion of the Governemnt’s economic objectives (as happens, for example, in Germany and other countries) so that there is wider understanding of the consequences of unrealistic bargaining and industrial action. Pay bargaining in the private sector should be left to the companies and workers concerned. At the end of the day, no one should or can protect them from the results of the agreements they make“; CRAIG, Manifestos, S. 271. In der umfangreichen Wahlanalyse des Nuffield College taucht sein Name im Zusammenhang mit dem Wahlkampf nur an zwei Stellen auf – jeweils mit dem bezeichnenden Zusatz: „[he was] carefully kept off the central stage“ bzw. „[he was] conspicuous by his absence“; BUTLER und KAVANAGH, S. 178, 332. Vgl. THATCHER, Erinnerungen, S. 535; BUTLER und KAVANAGH, S. 192, 323. Zu Heaths Rolle im Wahlkampf siehe HEATH, Course, S. 572–3.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

lag, versuchte Reece, die Kampagne zu personalisieren. Er wollte zeigen, daß Thatcher keineswegs die mitleidlose, arrogante und unsympathische Person war, für die viele sie hielten. Dabei setzte er vor allem auf das Privatfernsehen und die Massenblätter Sun und Daily Mirror. Von Reece in Auftrag gegebene Umfragen hatten ergeben, daß diese Medien vor allem jene Gruppe liberaler und Labour-Wähler beeinflußten, die von den Konservativen abgeworben werden mußten, wollten sie die Wahl gewinnen.378 Um den gewünschten Effekt zu erzielen, führte Reece die aus den USA übernommene Idee des Fototermins in den Wahlkampf ein. Die Spitzenkandidatin posierte in einem unpolitischen, aber telegenen Umfeld und gab Pressefotografen und Kameraleuten Gelegenheit, sie von ihrer „sympathischsten“ Seite zu präsentieren. Sie nähte in einer Kleiderfabrik Taschen an Overalls an, ließ sich gemeinsam mit ihrem Ehemann Herz und Lunge testen, posierte in einer Süßwarenfabrik. Der Belegschaft einer Teefabrik vertraute sie an, sie finde Teebeutel praktisch; und in einem Werk, das Besen herstellte, verkündete sie, neue Besen kehrten gut. Besonders glücklich war Reece über Thatchers Besuch bei einem Bauern, auf dessen Hof sie fünfzehn Minuten lang ein neugeborenes Kalb streichelte, bis auch der letzte Fotograf sein Bild gemacht hatte. Denis Thatcher betrachtete den unbeholfenen Umgang seiner Frau mit dem Tier amüsiert und murmelte: „Wenn wir nicht aufpassen, haben wir ein totes Kalb am Hals.“379 Thatcher erwies sich als gelehrige Schülerin und zunehmend auch als begabte Selbstdarstellerin. Dennoch behagte ihr der defensive Charakter des Wahlkampfes und die Beschränkung auf reine Imagepflege nicht. Sie wollte angreifen und war überzeugt, „daß wir kühn und klar ansprechen mußten, was falsch gewesen war“.380 Zur Wahlkampferöffnung hatte sie erklärt: „We are at the Spring of the year, the traditional season of hope and new beginnings. I think we all know in our hearts it’s time for a change.“381 Es widerstrebte ihr, bei der bloßen Leerformel stehenzubleiben. Zumindest auf dem Gebiet der Gewerkschaftsreform wollte sie die Forderung nach einem Politikwechsel mit Inhalt füllen. Der Manifestentwurf vom Sommer 1978 müsse „angesichts der jüngsten Ereignisse und unserer eigenen, sehr viel handfesteren Gewerkschaftspolitik radikal umgeschrieben werden“, hatte sie schon im Winter Maude und Patten, den Autoren des Entwurfs, mit-

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Vgl. hierzu COCKERELL, S. 247–8; BUTLER und KAVANAGH, S. 138–40, 172. THATCHER, Erinnerungen, S. 525–541 (S. 528). Vgl. auch COCKERELL, S. 248–9. THATCHER, Erinnerungen, S. 517. Am 2. April 1979 als Antwort auf Callaghans Prime Minister’s Ministerial Broadcast vom 29. März 1979: News Service 439/79, S. 5.

2. Der Streit um die konservative Gewerkschaftspolitik

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geteilt.382 Die weitgehend von Priors Vorstellungen geprägten Passagen des Entwurfs, die sich mit der konservativen Einstellung zu den Gewerkschaften befaßten, waren nach Ansicht der Politikerin durch die Ereignisse des Winters obsolet geworden. Das Bekenntnis, man sei „even-handed in our approach to industrial problems“, erschien ihr nach dem Streikwinter ebenso unzureichend wie die Versicherung, die Tories „[would] not undertake any sweeping changes in the law of industrial relations“, oder das Versprechen, „[to] seek to promote an era of continuity and constructive reform“. Statt dessen hieß es im überarbeiteten Wahlmanifest, die Regierung habe zwischen 1974 und 1976 eine Gewerkschaftsgesetzgebung durchgesetzt, „[which] tilted the balance of power in bargaining throughout industry away from management and towards unions, and sometimes towards unofficial groups of workers acting in defiance of their official union leadership“. Während Labour behaupte, Gesetzesänderungen würden das Klima zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Lande nicht verbessern, seien die Tories vom Gegenteil überzeugt. Konkret sprach sich das Manifest für Gesetzesänderungen hinsichtlich des closed shop sowie der Zulässigkeit betriebsfremder Streikposten aus und versprach, geheime Abstimmungen innerhalb einer Gewerkschaft würden künftig aus staatlichen Mitteln finanziert.383 Stärker als es der Parteizentrale lieb war, sprach sich Thatcher in ihren Wahlkampfreden für einen politischen Neuanfang und die Abkehr von der Vergangenheit aus, wobei sie andeutete, daß sie damit nicht nur die vier Jahre der Labour-Regierung, sondern auch die konservative Nachkriegspolitik meinte. „[I]f you’ve got a message, preach it“, rief sie auf einer Wahlkampfkundgebung in Cardiff. I am a „conviction“ politician. The Old Testament prophets didn’t say „Brothers, I want consensus“. They said: „This is my faith and vision. This is what I passionately believe. If you believe it too, then come with me.“ Tonight I say to you just that. Away with the recent bleak and dismal past. Away with defeatism: Under the twin banners, choice and freedom, a new and exciting future beckons the British people.384

Thorneycroft und seine Mitarbeiter in der Parteizentrale fühlten sich durch derartige Äußerungen alarmiert. Sie fürchteten, Thatcher spiele damit Callaghan in die Hände, indem sie es ihm erleichtere, sie als gefährliche, radikale „Überzeugungstäterin“ hinzustellen. Eigenhändig strich Thorneycroft

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Zit. nach THATCHER, Erinnerungen, S. 512. CRAIG, Manifestos, S. 270–1. Am 16. April 1979 in der Stadthalle von Cardiff: News Service GE 542/79, S. 11–2.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

einen besonders gewerkschaftskritischen Absatz aus einer von Paul Johnson verfaßten Rede, die Thatcher am 19. April in Birmingham hielt, und erklärte, in Zukunft werde er selbst an den Reden der Parteichefin mitschreiben.385 Auf diese Weise sorgte er dafür, daß seine Parteichefin bis zum Ende des Wahlkampfes kaum noch Ausflüge auf das Feld der „conviction politics“ unternahm. Statt dessen beschränkte sie sich weitgehend auf die Kritik am britischen Niedergang und das Versprechen eines Neuanfangs unter ihrer Führung. „Unless we change our way and direction“, warnte sie, „our greatness will soon be a footnote in the history books, a distant memory of an offshore island, lost in the mists of time like Camelot, remembered kindly for its noble past.“386 Thatcher beharrte darauf, die Malaise ihres Landes sei nicht unvermeidlich, sondern auf bestimmte Fehler und Fehlentwicklungen in der Vergangenheit zurückzuführen, die man in die Zukunft korrigieren müsse. „Somewhere ahead lies greatness for our country again“, beschwor sie ihre Landsleute in ihrem letzten Wahlwerbespot. Statt radikale Reformvorschläge zu machen, appellierte sie an das Sicherheitsbedürfnis ihrer Landsleute. „Let us make this a country safe to work in. Let us make this a country safe to walk in. Let us make this a country safe to grow up in. Let us make it a country safe to grow old in. And it says, above all, may this land of ours, which we love so much, find dignity and greatness and peace again.“387 Die bewußt traditionalistische Rhetorik, die Thatcher gegen Ende der Kampagne benutzte, konnte nicht verschleiern, wie außergewöhnlich der Wahlkampf von 1979 war. Zum ersten Mal in der britischen Geschichte hatten Labour und Tories, Linke und Rechte die Rollen getauscht. Die Konservativen präsentierten sich als Reformpartei, die versprach, die bestehenden Verhältnisse radikal umzuwandeln. Labour hingegen, die klassische Partei von Fortschritt und Veränderung, stellte sich als Beharrungskraft dar, die für den Erhalt des Status quo, die Sicherung des Erreichten, die Garantie von Besitzständen eintrat. „The party of change and reform has become the party of benevolent immobilism“, schrieb der Guardian. „The party of resistance to change has sought to become the party of (at least rhetorical) revolution.“388 Zwei Karikaturen brachten den Rollentausch auf den Punkt.

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Für die gereinigte Fassung der Rede vom 19. April 1979 in der Stadthalle von Birmingham siehe: News Service GE 601/79. Vgl. auch THATCHER, Erinnerungen, S. 526–9. Zit. nach JUNOR, Thatcher, S. 125–6. Am 30. April 1979 in einem Fernsehwahlwerbespot: News Service GE 786/79, S. 3. Zit. nach BUTLER und KAVANAGH, S. 246.

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Am 8. April erschien im Sunday Mirror eine Zeichnung, auf der Premierminister Callaghan zu sehen war, der sich auf einen Parteitag der Konservativen eingeschlichen hatte. Listig hinter einem Vorhang hervorschauend, präsentierte er den Delegierten sein Wahlprogramm. Darunter stand: „If you must have a Conservative Prime Minister, I’m your man.“389 Zehn Tage später brachte der Daily Express eine Karikatur, die Margaret Thatcher zeigte, wie sie mit großem Schwung in den Vorgarten der Labour-Partei stürmte, in der Hand eine Fahne, auf der zu lesen war: „Let Me Set You Free! Workers of the World unite! You’ve nothing to lose but your chains!“390 Der Rollentausch entsprach dem Selbstgefühl der Protagonisten auf beiden Seiten. Gegen Ende des Wahlkampfes entgegnete Callaghan einem Berater, der ihn auf die ermutigenden Umfrageergebnisse seiner Partei in den vergangenen Tagen hinwies: „I should not be too sure. You know there are times, perhaps once every thirty years, when there is a sea-change in politics. It then does not matter what the public wants and what it approves of. I suspect there is now such a sea-change – and it is for Mrs Thatcher.“391 Kurz darauf erklärte die Tory-Chefin in ihrer letzten Wahlkampfrede: „I have heard no one deny that we are right to try and redress the balance because, except for those who are blinded by prejudice, most people see that the old era is ended and a new one is indeed beginning. Victor Hugo said that ‚there is one thing stronger than armies and that is an idea whose time has come‘.“392 Tatsächlich war Thatchers große Stunde gekommen: Am 3. Mai gingen die britischen Konservativen mit 43,9 Prozent der Stimmen als stärkste Partei aus den Unterhauswahlen hervor. Sie erhielten 339 Mandate. Labour stellte künftig 268 Abgeordnete. Die Tories hatten gegenüber der Wahl vom Oktober 1974 drei Millionen Wähler hinzugewonnen und damit ihren Anteil um sieben Prozent vergrößert. Der Umschwung zu ihren Gunsten – 5,1 Prozent – war der größte, den bis dahin irgendeine Partei in Großbritannien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erreicht hatte.393 Am Nachmittag des 4. Mai wurde Thatcher in den Buckingham-Palast zum Antrittsbesuch bei der Königin gebeten. Danach fuhr sie im Dienstwagen des Premierministers zu ihrem neuen Amtssitz. In der Downing 389 390 391 392 393

Sunday Mirror, 8. April 1979. Daily Express, 18. April 1979. DONOUGHUE, S. 190. Am 1. Mai 1979 auf der Abschlußkundgebung in der Stadthalle von Bolton: News Service GE 800/79, S. 16–7. Siehe BUTLER und KAVANAGH, S. 339.

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IV. Widerstände gegen den Thatcherkurs

Street angekommen, zitierte sie vor der wartenden Menge von Reportern und Kameraleuten ein Gebet des heiligen Franz von Assisi. Es beginnt mit den Worten: „Mögen wir Eintracht bringen, wo Zwietracht herrscht.“ Im Rückblick ist die harmonische Verheißung, die in diesem Satz anklingt, oft mit Spott bedacht worden. Doch wer die neue Premierministerin zu Ende hörte, konnte sicher sein, daß hier keine Konsenspolitikerin sprach, sondern eine Überzeugungstäterin. Sie fuhr fort: „Mögen wir Wahrheit bringen, wo Irrtum herrscht. Und mögen wir Hoffnung bringen, wo die Verzweiflung regiert.“394 Das Zeitalter des Konsenses in Großbritannien war vorüber. Ein Jahrzehnt des Konflikts hatte begonnen.

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THATCHER, Downing Street, S. 42.

Schlußbetrachtung

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SCHLUSSBETRACHTUNG UND AUSBLICK Mit dem Wahlsieg hatte Thatcher das erste Etappenziel erreicht, zu dem sie nach ihrer überraschenden Wahl zur Parteiführerin mehr als vier Jahre zuvor aufgebrochen war. Die britischen Wähler hatten sie mit einer komfortablen parlamentarischen Mehrheit ausgestattet, mit deren Hilfe sie in der nächsten Legislaturperiode ihre politischen Ziele in die Realität umsetzen konnte. Wie diese Ziele aussahen, daran konnte im Frühjahr 1979 kein Zweifel mehr bestehen: Der Staat sollte aus dem Wirtschaftsleben zurückgedrängt, dem Leistungsprinzip größere Geltung verschafft und mehr Wettbewerb ermöglicht werden. Die Inflationsbekämpfung würde gegenüber dem Ziel der Vollbeschäftigung Priorität erhalten. Die Macht der Gewerkschaften sollte beschränkt, Staatsausgaben und Steuern gesenkt, die Verteidigungsbereitschaft des Staates nach außen und im Innern vergrößert werden. Weniger klar war, auf welchen Wegen man diese Ziele erreichen wollte. Auf kaum einem Politikfeld hatte Thatcher konkrete Schritte für ihre Regierungszeit formuliert, ja sie hatte die Publikation detaillierter Programme bewußt vermieden, um sich möglichst viele Optionen offenzuhalten und den Zusammenhalt der Partei nicht zu gefährden. Besonders deutlich zeigt dies ein Blick auf die innerparteiliche Diskussion über den Monetarismus, mit dem der Thatcherismus so stark identifiziert wurde wie mit kaum einem anderen politischen Begriff. Auf der einen Seite ließen zahllose Stellungnahmen führender Politiker des Thatcher-Flügels der Tories sowie der Parteichefin selbst keinen Zweifel daran aufkommen, daß man in der monetaristischen Lehre die wichtigste Waffe im Kampf gegen die Inflation erblickte. Auf der anderen Seite beschäftigte sich jedoch niemand in der Partei eingehender mit der Frage, wie Friedmans Doktrin in praktikable politische Maßnahmen umgesetzt werden konnte. Nicht einmal das naheliegende Problem, anhand welcher Indikatoren man die für den Monetarismus zentrale Größe der Geldmenge bestimmen könnte, wurde eingehend diskutiert.1 Ähnlich war es um die Idee der Privatisierung maroder Staatsbetriebe bestellt, eine der wichtigsten, im Ausland am häufigsten kopierten Innovationen der Thatcher-Ära. Der Grundgedanke war 1979 in den Diskussionszirkeln der britischen „Neuen Rechten“ längst Allgemein1

Statt dessen nahm man allzu bereitwillig an, „that the task was essentially one of applying with conviction the approach that a reluctant Labour Government had had forced upon it by the International Monetary Fund“, wie Thatchers langjähriger Schatzkanzler Lawson rückblickend zugab; LAWSON, S. 18.

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Schlußbetrachtung

gut, das ihm zugrunde liegende Prinzip des Rückzugs der Staatsmacht aus der Wirtschaft gehörte zu den Lieblingsthemen der Parteiführerin. Trotzdem hatte weder das CPS noch eine der zahlreichen policy groups – vom Conservative Research Department ganz zu schweigen – eine kohärente Privatisierungsstrategie für bestimmte Unternehmen entwickelt.2 Selbst auf Feldern wie der Gewerkschaftspolitik, auf denen Thatcher während der Oppositionszeit unter dem Druck der Ereignisse eigene Detailvorschläge entwickelte, spielten diese später in der Regierungspolitik kaum eine Rolle. Noch Ende Februar 1979 sagte Thatcher zu einem Berater: „I’m not sure quite what we want to do at Number Ten.“3 Gleichwohl wäre es falsch anzunehmen, die Jahre 1975 bis 1979 seien für die Herausbildung des Thatcherismus unbedeutend gewesen. Das Gegenteil ist richtig. Die Oppositionsjahre bildeten die formative Phase von Thatchers radikalem Reformprojekt. In dieser Zeit wurde das intellektuelle Fundament gelegt, auf dem die spätere Politik ruhte, wurden die entscheidenden Weichen für die Wahlerfolge der achtziger Jahre gestellt, die Grundgedanken der Programmatik erarbeitet. Damals begann die lange Zeit erfolgreiche Zusammenarbeit der Parteichefin mit ihren wichtigsten innerpartilichen Verbündeten: Keith Joseph, Geoffrey Howe, Nicholas Ridley, Nigel Lawson, Norman Tebbit. Damals stießen einflußreiche Berater wie Alfred Sherman und John Hoskyns zu ihr. Man kann die Zeit zwischen 1975 und 1979 geradezu als Prägejahre des Thatcherismus bezeichnen, in denen sich jene vier charakteristischen Facetten herausbildeten, die sein Wesen bis zum Schluß bestimmten. Erstens war er eine radikale Antwort auf die sich zuspitzende Krise von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Großbritannien der siebziger Jahre: Das klassische Instrumentarium des Keynesianismus erwies sich als unbrauchbar, um den wirtschaftlichen Niedergang des Landes zu bremsen oder gar umzukehren; der Wohlfahrtsstaat, der nur bei Vollbeschäftigung bezahlbar war, wurde zu einer immer schwereren Bürde der Volkswirtschaft; die einvernehmliche Konfliktbewältigung zwischen den wichtigen Interessengruppen stieß in Zeiten des Mangels an ihre Grenzen. Der Thatcherismus war das Ergebnis dieses Erosionsprozesses. Die harten Schnitte, die er den Briten zumutete, waren nur vor dem Scheitern der Nachkriegs2

3

Vielmehr notierte Keith Joseph, als ihn ein jugendlicher Aktivist der „Neuen Rechten“ mit dem Gedanken einer Privatisierung der britischen Post konfrontierte: „I would very much like myself to remove the statutory monopoly but I suspect that it is all much more complicated than the enthusiasts think“; Schreiben von Keith Joseph an Sir John Eden vom 16. Juli 1975, in: Joseph Papers, General Correspondence KJ 8/1. Vgl. auch LAWSON, S. 199. Tagebucheintrag vom 28. Februar 1979, in: HOSKYNS, S. 87.

Schlußbetrachtung

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ordnung verständlich. Sie beruhten auf der Grundannahme, daß diese Ordnung derart brüchig geworden war, daß nur eine völlige Neuausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik Aussichten auf Erfolg hatte. „[T]he reason why peacetime governments in democracy find it so hard to halt socioeconomic disintegration (once it starts)“, schrieb ein Berater Thatchers damals scharfsichtig, „is that neither they nor most political commentators spot the moment when the rules of the game change, so that the established political thought and behaviour is suddenly obsolete.“4 Die schonungslose Brutalität, mit der Thatcher den Briten klar machte, daß sich die Spielregeln in der Tat grundlegend verändert hatten, erklärt zu einem guten Teil die Abscheu und den blanken Haß, der ihr später entgegenschlagen sollte. In seiner Analyse der Probleme deckte sie sich dabei weitgehend mit Einschätzungen des linken Flügels der Labour-Partei. Politiker wie Tony Benn waren ebenfalls der Ansicht, daß der keynesianische Konsensliberalismus der Nachkriegsära auf die drängenden aktuellen Fragen keine Antworten mehr wußte. Die Lösungsvorschläge hingegen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Während die Labour-Linke den Sozialismus für die einzig praktikable Alternative zur bestehenden Ordnung hielt, sah der Thatcherismus in ihm die Wurzel allen Übels, die es mit Stumpf und Stiel auszurotten galt. Das innenpolitische Bedrohungsszenario fiel dabei mit dem außenpolitischen zusammen: Die Unterschiede zwischen britischen Labour-Politikern und kommunistischen Funktionären in Moskau waren nur gradueller, nicht prinzipieller Natur. In einer Zeit des sich wieder verschärfenden Kalten Krieges bezog der Thatcherismus aus der hermetischen Geschlossenheit des Welt- und Feindbildes einen guten Teil seiner suggestiven Überzeugungskraft. Seine eigenen Lösungsangebote – und dies ist die zweite Facette seines Wesens – verdankte der Thatcherismus vor allem der „Neuen Rechten“. Man kann in ihm die parteipolitische Paßform jener geistigen Strömung erblicken, die im Verlauf der siebziger Jahre immer größeren Einfluß auf die politische Klasse Großbritanniens, insbesondere auf die meinungsbildende Presse, gewann. Zentrale Bestandteile der Programmatik des Thatcherismus, seiner strategischen Grundausrichtung sowie seiner moralischen Prinzipien waren seit Ende der sechziger Jahre in den Diskussionskreisen und Gesprächszirkeln der britischen New Right erörtert worden, die ihrerseits auf Ideen des klassischen Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert zurückgriff. Insofern waren die Grundgedanken des Thatcherismus weder neu 4

Memorandum „Political Innovation“ von John Hoskyns (ohne Datum), in: Sherman Papers, Box 19, Folder 1, S. 4.

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Schlußbetrachtung

noch originell. Was in den siebziger Jahren zu den klassischen Ideen des Wirtschaftsliberalismus hinzu kam, war ein neuer Optimismus, den Stein des Weisen gefunden zu haben, und damit verbunden ein Gefühl ungeduldigen Überdrusses der alten Ordnung gegenüber. „Thatcherism’s mood was one of impatience with what was going on“, beschrieb Sherman rückblikkend die Stimmung der „Neuen Rechten“ in der Mitte des Jahrzehnts. „In the beginning was the mood, and the mood became Thatcher.“5 Sie erst transformierte die teilweise abstrakten, weltfernen Ideen der Intellektuellen in praktikable Politik und verwandelte sie auf diese Weise zu einer scharfen Waffe im parteipolitischen Streit. Denn der Thatcherismus war drittens nie bloße Doktrin, Theorie oder Weltanschauung, sondern immer auch eine Strategie der politischen Machtgewinnung, die letztlich nicht an ihrer abstrakten Gültigkeit oder theoretischen Richtigkeit gemessen wurde, sondern an ihren Erfolgen. Für die Jahre 1975 bis 1979 bedeutet dies: Der Thatcherismus war eine Strategie, die Ziele und Ideen einer radikalen Minderheit in der Führungsschicht der Tory-Partei gegen den Widerstand oder zumindest die widerstrebende Beharrungskraft einer Mehrheit durchzusetzen, die am keynesianischen Konsensliberalismus festhalten wollte. Das wichtigste Instrument in den Händen der Minderheit war dabei die Position des Parteiführers, der in der Konservativen Partei traditionell über eine besonders starke Stellung verfügte und, wie sich zwischen 1975 und 1979 mehrfach deutlich zeigte, der Partei durch persönliche Initiaiven seinen Willen aufzwingen konnte. Doch sind dem Amtsinhaber auch Grenzen gesetzt – zumal dann, wenn sein Schattenkabinett mehrheitlich anderer Auffassung ist als er. Dem Thatcherismus war daher, gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, die Kunst des Kompromisses nicht fremd. Sie wurde vielmehr gerade in den Oppositionsjahren häufig angewandt, um den Zusammenhalt der Gesamtpartei nicht zu gefährden und die Wahlchancen der Partei zu verbessern. Zusammengebunden wurden diese verschiedenen Aspekte viertens schließlich von der Person der Parteiführerin. „[N]ever underestimate the force of personality“, lautete die Schlußfolgerung, die der Cambridger Historiker Peter Clarke aus der Geschichte des Thatcherismus zog.6 In der Tat wird man den Thatcherismus nicht begreifen, wenn man die Bedeutung seiner Namenspatronin nicht angemessen würdigt. Auch für sie waren die Jahre 1975 bis 1979 die formative Phase ihrer Laufbahn, in der sie nicht nur ihren eigentümlichen Politikstil entwickelte, ihre politischen Ziele formu5 6

Zit. nach ebd., S. 180. CLARKE, Rise, S. 321.

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lierte, sondern auch ihr öffentliches Image ausprägte. Zuvor war sie lediglich eine aus einfachen Verhältnissen stammende Tory-Dame mit Hut, Handtasche und Ehrgeiz gewesen, die einen reichen Ehemann geheiratet hatte und in der Politik Karriere machen wollte. Nach ihrer Entscheidung, für das Amt des Parteiführers zu kandidieren, entwarf sie eine neue Identität für sich, die zwar an Aspekte aus ihrem früheren Leben anknüpfte, aber insgesamt doch völlig andere Akzente setzte. Sie präsentierte sich nun als „Eiserne Lady“, die im Kramladen ihres Vaters die Gesetze des Marktes verinnerlicht hatte und mit Hilfe der dort erlernten viktorianischen Tugenden den Niedergang ihres Landes aufzuhalten, ja umzukehren gedachte. So wie Thatcher verschüttete Traditionen der britischen Geschichte wieder freilegen wollte, um die Nation zur Größe zurückzuführen, grub sie auch in ihrem eigenen Lebenslauf tiefer liegende Schichten aus, die ihrer radikalen Reformpolitik biographische Glaubwürdigkeit verleihen sollten. Es wäre jedoch irrig anzunehmen, Margaret Thatcher habe als Parteiführerin nur ein Image zur Schau getragen. Sie glaubte selbst felsenfest an die Eigenschaften, die zu verkörpern sie sich vorgenommen hatte. Individualismus, harte Arbeit, Leistungswille, Wettbewerbsbereitschaft, Eigenverantwortung, Patriotismus und Familiensinn – das alles waren in ihren Augen Tugenden, ohne die sich ihre Nation niemals aus der Krise befreien würde. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht beschrieb die Politikerin später einmal, was sie selbst unter Thatcherismus verstand: [I]t is in everything I do. It’s a mixture of fundamentally sound economics. You live within your means; you have honest money, so therefore you don’t make reckless promises. You recognise human nature is such that it needs incentives to work harder, so you cut your tax. It is about being worthwhile and honourable. And about the family. And about something which is really rather unique and enterprising in the British character – it’s about how we built the Empire, and how we gave sound administration and sound law to large areas of the world.7

Erst Thatchers unverrückbare – oft engstirnige – Überzeugung gab diesen zum Teil disparaten Elementen inneren Zusammenhalt. Erst ihr Führungswille, ihr Populismus, ihr missionarischer Eifer, andere von der Richtigkeit ihrer eigenen Einstellungen zu überzeugen, verliehen dem Thatcherismus seine politische Durchschlagskraft. Ihr wichtigster Beitrag zum Erfolg bestand in dem Mut, der Unbedingtheit und Aggressivität, mit der sie ihre Sache verfocht, und in dem festen Vorsatz, komplizierten Problemen mit einfachen Lösungen zu begegnen. 7

Zit. nach RODNEY TYLER, Campaign. The Selling of the Prime Minister, London 1987, S. 251.

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Gleichzeitig war sie eine professionelle Politikerin, die Risiken sorgfältig abschätzte, bevor sie sie einging, und abzuwarten verstand, bis sie ihre Chance gekommen sah. Es wäre falsch, in ihr lediglich die prinzipienfeste Überzeugungstäterin zu sehen, als die sie selbst sich gern präsentierte. Sie war auch eine gewiefte Taktikerin, die genau erkannte, von welch schwacher innerparteilicher Position aus sie agierte, wie groß das Mißtrauen in der Bevölkerung gegenüber ihrer Blitzkarriere und ihrem radikalen Reformprogramm war. Der vorsichtige, ja zögerliche und opportunistische Zug ihres Charakters trat in den Oppositionsjahren, als sie sich ihrer eigenen Fähigkeiten noch nicht sicher war, besonders deutlich zutage. Sie ging in dieser Zeit aus parteitaktischen wie wahlkampfstrategischen Gründen zahlreiche Kompromisse ein. Oft genug fraß sie Kreide und kaschierte ihre weitreichenden Ziele durch versöhnliche Rhetorik. Doch daneben fanden sich bereits immer wieder und zunehmend mehr – mit erstaunlicher Deutlichkeit ausgesprochen – alle zentralen Merkmale ihrer späteren Politik als Regierungschefin. Anzeichen für ein grundsätzliches Umschwenken oder Zurückweichen, für etwaige Zweifel an der Richtigkeit ihrer Überzeugungen gab es nicht. Wo Thatcher sich mit ihren Vorstellungen in der Partei nicht durchsetzen konnte, achtete sie sorgfältig darauf, daß wenigstens jede programmatische Festschreibung der ungeliebten Mehrheitsposition vermieden wurde. Im übrigen setzte sie auf die disziplinierende Wirkung der Regierungsverantwortung nach einem Wahlsieg und den Machtgewinn, den das Amt der Premierministerin ihr innerparteilich verschaffen würde. Eine eigentümliche Spannung, die allen vier Facetten des Thatcherismus innewohnte, bestand in dem konfliktreichen Verhältnis konservativer und liberaler Elemente. Seine akademischen Vordenker von Hayek und Friedman haben sich nie als Konservative bezeichnet, sondern stets als Liberale. Friedrich von Hayek hat sich sogar immer wieder abfällig über den Konservatismus als politische Philosophie geäußert, und Friedman hat erklärt, Thatcher sei eigentlich gar kein Tory, sondern eine Liberale des 19. Jahrhunderts.8 Die Politikerin selbst hat, freilich erst nach ihrem Sturz im November 1990, ganz ähnlich geurteilt. Zu einem Vertrauten sagte sie:

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Vgl. SKED und COOK, S. 329. Zu von Hayeks Einstellung gegenüber dem Konservatismus vgl. VON HAYEK, Verfassung, S. 484–91. Arthur Seldon und Oliver Smedley vom IEA verstanden sich ebenfalls als Liberale. Der Direktor des Instituts, Ralph Harris, trat, nachdem Thatcher ihn Mitte der achtziger Jahre für seine Verdienste geadelt hatte, ganz bewußt nicht der Tory-Fraktion im Oberhaus bei, sondern bestand auf seinem Status als Unabhängiger. Auch John Nott, Gründungsmitglied des Economic Dining Club und später während des Falklandkrieges Verteidigungsminister, sagte von sich: „I am a nineteenth-century Liberal and so is Mrs Thatcher“; zit. nach SKED und COOK, S. 329.

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Do you know, what’s the real problem with the Conservative Party? The name of it. „Conservative“ is no longer right. It doesn’t describe what we are. It’s directly misleading. We are not a „conservative“ party. We are a party of innovation, of imagination, of liberty, of striking out in new directions, of renewed national pride and a novel sense of leadership. That’s not „conservative“, is it?!9

Eben dies wurde dem Thatcherismus von seinen innerparteilichen Gegnern vorgeworfen. Er wolle Staat und Gesellschaft revolutionieren, grundlegend verändern und eben nicht bewahren, wie es Konservative zu tun pflegten. Thatcher und ihre Anhänger antworteten auf diese Kritik, die sozialistischen Irrwege der Nachkriegszeit wollten sie in der Tat nicht bewahren. Was sie erhalten – oder vielmehr wieder freilegen – wollten, sei der wahre Kern des britischen Wesens, die wahren britischen Tugenden, die das Land im 19. Jahrhundert groß gemacht hätten. Ihr Konservatismus war somit eine Revolution im ursprünglichen Wortsinn, eine „Rückwendung“ zu den angeblichen Wurzeln britischer Größe. Mit dieser Haltung seien sie die „wahren Konservativen“, betonten Thatcher und ihre Anhänger, während man die Gemäßigten auf dem linken Parteiflügel nur als verkappte Sozialisten bezeichnen könne. Daß dies nicht bloße Rhetorik war, zeigt ein Blick auf Thatchers Haltung zur Verfassungsordnung, die für sie ein genuiner Ausdruck des britischen Nationalcharakters war und die sie deshalb unter allen Umständen bewahren wollte. In dieser Frage war sie ganz konservativ: Sie wehrte sich gegen eine Veränderung des Wahlrechts hin zum Verhältniswahlrecht, gegen Koalitionsregierungen, eine geschriebene Verfassung, eine Reform des Oberhauses, eine Länderkammer, und wie die Vorschläge alle heißen mochten, die auch und gerade in ihrer eigenen Partei vorgebracht wurden. Im Thatcherismus finden sich liberale und konservative Elemente auf charakteristische, manchmal widersprüchliche Weise verquickt. Die Einstellung zum Weltmarkt etwa und zur Rolle der Nationen darin offenbarte die Spannung, in welcher die gaullistisch-nationalistische Seite des Thatcherismus zu dessen wirtschaftsliberalen Prinzipien stand. Das aus der liberalen Tradition stammende Leistungsdenken des Thatcherismus, seine meritokratische Grundeinstellung, ließ sich nur schwer mit dem konservativen Ziel vereinbaren, überkommene aristokratische Institutionen wie das Oberhaus zu bewahren. Und das Plädoyer für einen Rückzug der Staatsmacht, für Eigenverantwortung und Pluralismus standen, gelinde gesagt, quer zu der Weigerung, Schottland und Wales größere Autonomierechte zuzugestehen.10 9 10

URBAN, S. 191. Vgl. hierzu DAVID MARQUAND, The Paradoxes of Thatcherism, in: SKIDELSKY (Hrsg.), Thatcherism, S. 159–72. Siehe auch BENTLEY.

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Schlußbetrachtung

Ein gutes Beispiel für dieses Spannungsverhältnis ist Thatchers Menschenbild. In Fragen der Wirtschaftsordnung entsprach es den klassischen liberalen Ansichten eines Adam Smith, demzufolge der Mensch seinem Wesen nach gut und vernünftig ist, rational handelt, auf seinen eigenen Vorteil achtet und damit zugleich die Wohlfahrt aller befördert. In Bezug auf Recht und Ordnung vertrat die Politikerin jedoch die Position des typischen Konservativen, für den der Mensch aufgrund der Erbsünde etwas unausrottbar Böses in seinem Wesen hat, dem man nur mit Recht, Gesetz, Strafe und Sühne begegnen kann. Das Christentum lehre, erklärte sie in einer Ansprache in der Kirche St. Lawrence Jewry, „that there is some evil in everyone and that it cannot be banished by sound policies and institutional reforms; that we cannot eliminate crime simply by making people rich, or achieve a compassionate society simply by passing new laws and appointing more staff to administer them“.11 Die Politikerin ahnte selbst, daß die beiden Seiten ihres Menschenbildes sich nicht harmonisch ineinander fügten. In derselben Rede sprach sie davon, das Neue Testament enthalte zwei sehr allgemeine anscheinend widersprüchliche Gesellschaftsvorstellungen: eine von der Gemeinschaft der Gläubigen her denkende, um das Zusammenleben der Menschen besorgte und eine um das Individuum und seine Wahlfreiheit kreisende. Die Kunst der Politik bestehe darin, die beiden ins richtige Verhältnis zueinander zu bringen.12 Auf die Situation im Großbritannien der siebziger Jahre angewandt, leitete Thatcher daraus die politische Schlußfolgerung ab, den Staat aus dem Wirtschaftsleben zurückzudrängen, der Wahlfreiheit des Individuums mehr Platz einzuräumen, gleichzeitig jedoch die Ordnungs- und Schutzfunktion des Staates im Innern und nach außen zu betonen, um dem Bedürfnis der Bürger nach Sicherheit zu entsprechen. Dies alles sind Belege dafür, daß der Thatcherismus keine geschlossene und in sich schlüssige Theorie war, sondern eine wirkungsvolle Praxis, die man weder mit dem Etikett „liberal“ noch „konservativ“ vollständig beschreiben kann. Nicht die logische Stringenz war entscheidend, sondern der Blick auf politische Zweckmäßigkeit, politische Mehrheiten – und nicht zuletzt auf die persönlichen Vorlieben und Antipathien der Parteiführerin. Die Kombination erwies sich nicht nur als Erfolgsrezept für die Opposition, sondern lange Zeit auch für die Regierungsjahre. Radikalismus und

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12

Am 30. März 1978 in der Kirche St Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: THATCHER, Revival, S. 62–70 (S. 65); ebenfalls abgedruckt in: THATCHER, Collected Speeches, S. 70–7 (S. 73). Ebd., S. 69 bzw. S. 76.

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Populismus blieben die Markenzeichen von Thatchers Politikstil. Sie sei der einzige Parteichef der Nachkriegszeit, der in der Regierung radikaler gewesen war als in der Opposition, stellte einer ihrer Mitarbeiter im Rückblick fest.13 Tatsächlich betrieb Thatcher seit 1979 eine höchst kontroverse, zunehmend polarisierende Politik, die spürbare Konsequenzen für das Alltagsleben ihrer Landsleute hatte. Sie verfocht einen Kurs strikter Haushaltskonsolidierung und Inflationsbekämpfung – auch um den Preis einer zwischenzeitlichen Verdopplung der Arbeitslosenzahlen auf über drei Millionen, fast zwölf Prozent.14 Sie suchte den Konflikt mit der der mächtigen britischen Gewerkschaftsbewegung und gewann. Sie strich Subventionen für wirtschaftsschwache Regionen, auch wenn dadurch manche Gegenden im Norden des Landes in Industriebrachen verwandelt wurden, während andere – vor allem im Süden – prosperierten. Sie setzte umfassende Privatisierungsprogramme für kränkelnde Staatsbetriebe durch, die später von anderen Staaten kopiert wurden, aber viele Briten ihre Arbeitsplätze kosteten. In der Außenpolitik führte und gewann sie den Krieg um die FalklandInseln im Südatlantik gegen Argentinien. Sie kritisierte die Entspannungspolitik, mahnte eine unnachgiebige Haltung gegenüber der Sowjetunion an und betrieb einen Kurs intransingenter nationaler Interessenwahrung gegenüber der Europäischen Gemeinschaft. Mit dieser Politik spaltete Thatcher Großbritannien in zwei Lager: ihre Anhänger und ihre Gegner, die Gewinner und Verlierer der von ihr in Gang gesetzten Veränderungen. Gewiß profitierte sie bei ihren Erfolgen von der Schwäche der Labour-Partei und der Spaltung der britischen Opposition in den achtziger Jahren. Ebenso wichtig war jedoch, daß es lange Zeit mehr Gewinner als Verlierer zu geben schien. Zudem gelang es der Politikerin, ihre politischen Projekte als Kreuzzüge zu inszenieren, bei denen sie an der Spitze der Kräfte des Lichts gegen die Mächte der Finsternis zu Felde zog. So präsentierte sie sich nacheinander als Jeanne d’Arc des Falklandkrieges, als Drachentöterin der Gewerkschaften, als Nemesis des Weltkommunismus, als streitbare Marktmissionarin, die für den Abbau innereuropäischer Handelsschranken focht, als unversöhnliche Gegnerin der europäischen Bürokratie in Brüssel und als Kämpferin für die Selbsterhaltung eines souveränen Großbritannien. Es fällt auf, daß ihr Stern gegen Ende der achtziger Jahre zu sinken begann, als der Manichäismus ihrer Weltsicht sich immer weniger in die veränderte weltpolitische Landschaft einfügte. Kampfgeist, Populismus und 13 14

Chris Patten zit. nach YOUNG und SLOMAN (Hrsg.), S. 135. Siehe TAYLOR, S. 379.

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Radikalismus verwandelten sich aus Stärken in Schwächen, je weniger bedrohlich und krisenhaft die Lage im Innern und nach außen erschien. Nun rächte es sich, daß Thatchers brüsker, konfrontativer Politikstil ihr wenig loyale Freunde im Tory-Establishment gewonnen hatte. Ihre wiederholten Ankündigungen, die marktradikalen Reformen seien noch lange nicht vorbei, würden vielmehr immer weiter gehen, schreckte viele Briten zunehmend ab. Davon waren jedenfalls immer mehr konservative Abgeordnete überzeugt, die ernsthaft um ihre eigene Wiederwahl zu fürchten begannen. Gleichzeitig betrachtete die außenpolitische Elite des Landes Thatchers gegen die europäische Integration gerichteten Populismus mit wachsender Sorge. Die Vorurteile und Antipathien der Parteichefin drohten Großbritannien ins diplomatische Abseits zu manövrieren und den nationalen Interessen zu schaden. Jene Charakteristika, die Thatchers Politik anfangs so große Durchschlagskraft verliehen hatten, trugen am Ende entscheidend zu ihrem Sturz im November 1990 bei.15 All dies macht deutlich, daß der Thatcherismus keine überzeitlich gültige, überall anwendbare Doktrin ist. Vielmehr war er eng an die Traditionen, Verhaltensmuster und Institutionen Großbritanniens, an die Zuspitzung der ökonomischen und politischen Krise des Landes in den siebziger Jahren sowie an die Persönlichkeit und Weltanschauung seiner Namenspatronin, an ihre Vision von einer besseren Zukunft und ihren spezifischen Politikstil gebunden. Dennoch stellt sich die Frage, wieso es zum Beispiel in Deutschland keine vergleichbare Entwicklung gegeben hat, während etwa die USA unter Ronald Reagan einen ähnlichen Weg einschlugen. Schließlich legen doch die Arbeiten der Westernisierungsforschung den Schluß nahe, „daß bis zum Beginn der siebziger Jahre eine westeuropäisch-atlantische Homogenisierung ökonomischer, politischer und sozialer Wertvorstellungen stattgefunden hat“, daß also nicht nur die Staaten des atlantischen Bündnisses, sondern auch ihre Gesellschaften während der Jahre 1945 bis 1970 enger zusammengerückt sind.16 Die Frage stellt sich noch dringlicher, wenn man das Urteil George Urbans bedenkt, der als Leiter des Senders Radio Free Europe in München und als gelegentlicher Redenschreiber Thatchers sowohl Großbritannien als auch den Kontinent gut kannte. Urban hat auf den Gegensatz zwischen Thatchers englischem Nationalstolz und den sehr unenglischen Charakter-

15 16

Vgl. hierzu die knappe, treffende Darstellung bei EVANS, S. 108–14. DOERING-MANTEUFFEL, S. 134. Vgl. hierzu aus der Sicht des Sozialhistorikers auch HARTMUT KAELBLE, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880–1980, München 1987.

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eigenschaften hingewiesen, die sie verkörperte: „If Englishness means common sense, moderation, give-and-take, respect for minority views, the distrust of grand schemes and theories, then [Thatcher] represents the opposite of these: passionate attachments, perfectionism and unbending leadership.“ Im Rückblick fand Urban, die Politikerin sei in vieler Hinsicht zu gut für Großbritannien gewesen – unbritisch, wenn man von den Talenten und Mentalitäten der Briten im späten 20. Jahrhundert ausgehe. „She is cut out to be the leader of a nation with the thrift and work ethic of Japan, Germany, Switzerland, Taiwan, perhaps even the US“, behauptete er, „where her vision, resolve and free-market enthusiasm would produce lasting results.“17 Die Frage, wieso es im Deutschland der siebziger, achtziger und neunziger Jahre nichts dem Thatcherismus Vergleichbares gegeben habe, läßt sich im Rahmen einer Schlußbetrachtung nicht erschöpfend beantworten. Hierzu wären detaillierte Vergleichsstudien über die ökonomische, politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung beider Länder während dieser Zeit erforderlich, die es noch kaum gibt.18 Dennoch kann man auf der Grundlage des bisher Gesagten und in Anlehnung an die beschriebenen vier Facetten des Thatcherismus einige Vermutungen wagen. Erstens war die Krise der Nachkriegsordnung, des keynesianischen Konsensliberalismus, im Großbritannien der siebziger Jahre stärker ausgeprägt als in der Bundesrepublik. Zwar geriet auch die westdeutsche Volkswirtschaft in diesen Jahren in die Turbulenzen von Öl- und Weltwirtschaftskrisen. Doch wurde sie dabei ungleich weniger beschädigt als die britische, zum einen weil das westdeutsche Wirtschaftswachstum der beiden vorangegangenen Jahrzehnte größer gewesen war und länger angehalten hatte, zum anderen auch wegen des besseren Krisenmanagements, das Bundesregierung und Bundesbank betrieben. Infolgedessen war das Krisenbewußtsein 17 18

URBAN, S. 183, 109. Philipp Gassert hat jüngst noch einmal auf das „komparatistische Defizit der zeithistorischen Forschung“ hingewiesen; PHILIPP GASSERT, Die Bundesrepublik, Europa und der Westen, in: JÖRG BABEROWSKI et. al., Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Stuttgart, München 2001, S. 67–89 (S. 83). Es gibt freilich eine Reihe vergleichender politik- bzw. sozialwissenschaftlicher Studien – etwa GOSTA ESPING-ANDERSEN, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990, PETER BALDWIN, The Politics of Social Solidarity, Cambridge 1990, ALLAN COCHRANE (Hrsg.), Comparing Welfare States: Britain in International Context, London 1993, JENS BORCHERT, Die konservative Transformation des Wohlfahrtsstaates. Großbritannien, Kanada, die USA und Deutschland im Vergleich, Frankfurt a. M. 1995. Allgemein zu Ansätzen und Ergebnissen international vergleichender Geschichtsschreibung siehe HEINZ-GERHARD HAUPT und JÜRGEN KOCKA (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1996; HARTMUT KAELBLE, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt, New York 1999.

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in der Bonner Republik schwächer als jenseits des Kanals. Die Sorgen der Westdeutschen über mögliche Grenzen des Wachstums blieben eher vage und abstrakt, jedenfalls weniger bedrohlich als die Erfahrungen der Briten zu derselben Zeit. Die Nachkriegsära betrachtete man in der Bundesrepublik während der siebziger Jahre vor allem als Erfolgsgeschichte, sowohl hinsichtlich der ökonomischen und politischen Entwicklung im Innern als auch in Bezug auf den außenpolitischen Wiederaufstieg, der aufgrund der westdeutschen Wirtschaftskraft und des durch die „Neue Ostpolitik“ gewonnenen Handlungsspielraums unter den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt einen neuen Höhepunkt erreichte. In Großbritannien dagegen trauerten viele dem verlorenen Weltreich nach und sahen die Nachkriegsjahrzehnte zunehmend im Licht der Debatte über den wirtschaftlichen Niedergang des Landes. Der westdeutschen Erfolgsstory, so meinten viele Briten, stand die eigene Verfallsgeschichte gegenüber. Zweitens hatte die wichtigste Kraftquelle des Thatcherismus, die Strömung der „Neuen Rechten“, kein vergleichbar starkes Pendant in der Bundesrepublik. Dort fehlte in den siebziger Jahren eine nennenswerte wirtschaftsliberale Erneuerungsbewegung mit nationalen und konservativen Untertönen. Dafür sind mehrere Gründe denkbar. Zum einen hatte der Wirtschaftsliberalismus in Gestalt der Ordoliberalen um Ludwig Erhard an der Wiege der Bundesrepublik gestanden. Ihm fehlte der Reiz des Neuen oder gar Revolutionären, ganz anders als in Großbritannien, wo die Verstaatlichungsideen der Labour-Partei den Neuanfang nach dem Krieg geprägt hatten. Zudem brach sich der Gedanke einer wirtschafts- und sozialpolitischen Gemeinsamkeit der beiden großen Parteien, der in Großbritannien schon Mitte der fünfziger Jahre auftauchte, in der Bonner Republik erst mehr als zehn Jahre später Bahn. Der keynesianische Konsens, der die britische Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit bestimmt hatte, setzte sich in der Bundesrepublik erst unter Karl Schiller, dem Wirtschaftsminister der Großen Koalition, durch. Nicht zufällig ging der britische Begriff Butskellism, der jene Übereinstimmung zum Ausdruck brachte, auf das Jahr 1956 zurück; seine westdeutsche Entsprechung „Plisch und Plum“ hingegen, als Spitzname für das Zusammenspiel des sozialdemokratischen Wirtschaftsministers Schiller mit Finanzminister Strauß von der CSU, wurde erst 1966 geprägt.19 Damit fehlte in Deutschland lange Zeit die reale Grundlage für das Feindbild jenes „sozialistischen Keynesianismus“ oder „keynesiani19

Zum „Scharnierjahrzehnt“ der sechziger Jahre in Deutschland siehe den Sammelband von AXEL SCHILDT et al. (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000.

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schen Sozialismus“, gegen das sich die britische New Right wandte. Hinzu kam, daß sich die deutsche Sozialdemokratie die Prinzipien der Marktwirtschaft in ihrem Godesberger Programm stärker zu eigen gemacht hatte als die britische Labour-Partei dies bis in die neunziger Jahre hinein tun sollte.20 Nicht zufällig lobte Thatcher 1978 Kanzler Schmidt als „that rare person, a Socialist who believes in the market economy“.21 Mindestens ebenso wichtig dürften die Unterschiede zwischen der britischen Spielart des Konservatismus und der kontinentaleuropäischen Christdemokratie sein. Vermittlung, Versöhnung und soziale Verpflichtung waren Leitbegriffe in der auf der katholischen Soziallehre beruhenden politischen Philosophie vieler Christdemokraten, die gegenüber Individualismus und Marktvertrauen des Wirtschaftsliberalismus häufig skeptisch blieben.22 Unmittelbar geprägt von der Erfahrung des Zerstörungspotentials politischer Gewalt und totalitärer Ideologien spielten Pragmatismus, sozialer Friede und nationale Einigkeit in politischen Grundfragen im Denken der Nachkriegsgeneration gerade deutscher Christdemokraten eine größere Rolle als bei britischen Konservativen. Koalition und Konsens rangierten ganz oben in der Werteskala einer Sammlungspartei wie der CDU, die das Scheitern der ersten deutschen Republik nicht zuletzt auf die dogmatische Verbohrtheit der Weimarer Parteien zurückführte. Außerdem wußten christdemokratische Politiker nur allzu gut, welche Möglichkeiten der Patronage, des Machtgewinns und der Erschließung neuer Wählerreservoirs die Ausdehnung der Staatsaufgaben und der Ausbau des Wohlfahrtsstaates ihnen boten.23 Der unterschiedliche Staatsbegriff und die unterschiedlichen politischen Kulturen in beiden Ländern dürfte in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben.24 Da in Großbritannien die Vorstellung eines positiv konnotierten „Staates“ weitgehend fehlte, eignete sich der welfare

20

21 22 23

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Vgl. hierzu CARL CAVANAGH HODGE, The Long Fifties. The Politics of Socialist Programmatic Revision in Britain, France and Germany, in: Contemporary European History 2, 1993 (1), S. 17–34. Am 21. Februar 1978 im Dorchester Hotel in London: News Service 246/78, S. 2. Vgl. KEES VAN KERSBERGEN, Social Capitalism. A Study of Christian Democracy and the Welfare State, London 1995. Zur CDU als „Sammlungspartei“ vgl. FRANK BÖSCH, Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945–1969, Stuttgart 2001. Vgl. auch MARK MAZOWER, Dark Continent. Europe’s Twentieth Century, Harmondsworth 1998, S. 340–1. Diesen Aspekt unterstreicht KARL ROHE, Zur Typologie politischer Kulturen in westlichen Demokratien. Überlegungen am Beispiel Großbritanniens und Deutschlands, in: HEINZ DOLLINGER et. al. (Hrsg.), Weltpolitik – Europagedanke – Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer zum 65. Geburtstag, Münster 1982, S. 581–96.

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state, der quer zur britischen Tradition stand, hervorragend als Zielscheibe der Kritik. In Deutschland hingegen schwingt bis in die Gegenwart im Staatsbegriff Hegels Gedanke vom Staat als höchster Stufe der Sittlichkeit und konkreter Verwirklichung der Freiheit mit, was die Aufgabe einer Beschneidung staatlicher Einflußsphären bedeutend erschwert. Schließlich fiel den Deutschen auch der Rückgriff auf die angeblich großen nationalen Tugenden der Vergangenheit schwer, den die britischen „Neuen Rechten“ forderten. Zum einen fanden sie in ihrem 19. Jahrhundert weniger laissez faire-Kapitalismus und Freihandel, dafür mehr staatliche Sozialpolitik und Schutzzölle. Zum anderen blockierten die zwölf dunklen Jahre des Nationalsozialismus ohnehin bis auf weiteres jeden Zugriff auf eine positiv gedeutete nationale Geschichte.25 Drittens wäre eine Strategie der Machtgewinnung, wie Thatcher sie betrieb, unter den institutionellen Bedingungen der Bundesrepublik auf erheblich größere Hindernisse gestoßen als im politischen System Großbritanniens. Selbst wenn sich ein Vorsitzender der CDU eine ähnlich dominante Position in seiner Partei erkämpft hatte wie der Führer der Tories sie traditionell besaß, mußte er dennoch stets auch an die abweichenden Interessen und Ziele der bayrischen Schwesterpartei denken. Hinzu kommt das Verhältniswahlrecht bei Bundes- und Landtagswahlen, das absolute Mehrheiten erschwert und die Wahrscheinlichkeit von Koalitionsregierungen erhöht. Aufgrund der Eigenart des deutschen Föderalismus ist eine Bundesregierung darüber hinaus gezwungen, bei zentralen Gesetzesvorhaben mit der jeweiligen Mehrheit im Bundesrat Einigkeit zu erzielen. All dies machte nicht nur für christdemokratische Politiker jene Kompromiß- und Konsenssuche, die Thatcher ablehnte, zur Grundbedingung politischen Erfolges. Sie verringerte den Ausschlag des parteipolitischen Pendels von einem Extrem ins andere, hemmte aber zugleich in potentiellen Krisensituationen die Möglichkeiten radikaler Reformpolitik. Damit kam die Bundesrepublik jenem auf Koalition und Konsens gegründeten politischen System sehr nahe, das Thatchers innerparteiliche Gegner in Großbritannien durchsetzen wollten. Es bleibt viertens der Faktor der Persönlichkeit und die Frage, welcher Politiker in der Bundesrepublik eine ähnliche Rolle wie Thatcher in Großbritannien hätte spielen können. Viele in der New Right setzten damals ihre Hoffnungen auf Franz Josef Strauß, in dessen Populismus und Antikommunismus sie kongeniale Eigenschaften zu den Tugenden der „Eisernen 25

Siehe MICHAEL JEISMANN, Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, Stuttgart, München 2001.

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Lady“ erblickten.26 In der Tat wirkt Strauß’ berühmt-berüchtigte Sonthofener Rede vor der CSU-Landesgruppe vom November 1974 im Rückblick fast wie eine Vorwegnahme des Thatcher-Kurses. Man könne „nicht genug an allgemeiner Konfrontierung schaffen“, erklärte der Bayer damals. „Wir kämpfen für die Freiheit, gegen den Sozialismus, für die Person und das Individuum, gegen das Kollektiv“. Den politischen Gegnern müsse man vorwerfen, „daß sie den Sozialismus und die Unfreiheit repräsentieren, daß sie das Kollektiv und die Funktionärsherrschaft repräsentieren und daß ihre Politik auf die Hegemonie der Sowjetunion über Westeuropa hinausläuft“.27 Passagen wie diesen merkt man deutlich an, daß auch Strauß Kontakte zu von Hayek pflegte; die – durch von Hayek inspirierte – Parole „Freiheit statt Sozialismus“ im Bundestagswahlkampf von 1976 ging ebenfalls auf eine Initiative des bayrischen Ministerpräsidenten zurück. Als Strauß vier Jahre später selbst als Spitzenkandidat der Union antrat, drückte er der Auseinandersetzung noch deutlicher seinen Stempel auf. Wie Thatcher 1979, führte er einen polarisierenden Wahlkampf mit dem ausdrücklichen Ziel, eine absolute Mehrheit für seine Partei zu erreichen. „Freiheit oder Kollektiv ist und bleibt die große geistige Auseinandersetzung dieses Jahrhunderts bis zu seinem Ende“, behauptete er. Den damaligen CSU-Generalsekretär Edmund Stoiber ließ er verkünden, die Nationalsozialisten seien in erster Linie einmal Sozialisten gewesen. Er selbst sah in den Sozialdemokraten, ähnlich wie die Tory-Politikerin, lediglich den gemäßigten Flügel einer „Volksfront“, die auch die Kommunisten umfaßte. Seinem Kontrahenten, Bundeskanzler Schmidt, warf Strauß „Appeasement-Politik“ vor und warnte, dieser möge achtgeben, daß er nicht für die Zukunft die gleiche Rolle spiele wie Chamberlain 1939.28 Das alles kam Thatchers Verständnis von guter konservativer Politik sehr nahe. Der Ausgang des Wahlkampfes von 1980 zeigte aber auch, wo die Grenzen des Strauß’schen Ansatzes innerhalb des politischen Koordinatensystems der Bundesrepublik lagen. Zwar war sein Wahlergebnis mit 44,5 26

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Siehe etwa den Artikel „Europe’s Conservatives“ in: The Free Nation, 27. Mai 1977, Bd. 2 Nr. 11, S. 6; dort heißt es: „[T]here has been a very tangible revival of conservative movements which are ideologically opposed to the kind of collectivism that has wrecked the British economy and committed the West to re-arming against the Soviet strategic threat. This revival has been intellectual as well as political. In purely political terms it is best represented by Mrs. Thatcher, by Jacques Chirac, and by Franz-Josef Strauss.“ Die geheime Rede wurde dem Spiegel zugespielt und dort am 10. März 1975 abgedruckt; siehe Der Spiegel 11/1975. Zum Hintergrund und zur Bewertung der Rede vgl. auch ALEXANDER GAULAND, Franz Josef Strauss ’74. Als Sonthofen Geschichte schrieb, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Januar/Februar 2001, S. 54–7. Zit. nach Die Welt, 27. Mai 1980.

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Schlußbetrachtung

Prozent sogar um 0,6 Prozentpunkte besser als dasjenige von Thatcher, allerdings mit dem Unterschied, daß sie aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts eine klare Regierungsmehrheit errang, während er dem bundesdeutschen Verhältniswahlrecht gemäß deutlich unterhalb der absoluten Mehrheit blieb. Da eine Koalition mit der FDP unter einem Kanzler Strauß nach dessen Konfrontationsstrategie ebensowenig denkbar war wie eine Koalition Thatchers mit den Liberalen, war er gescheitert. Die Niederlage hatte jedoch noch zwei andere Gründe, die deutlich machen, wie sehr sich die Bundesrepublik in den siebziger Jahren von Großbritannien unterschied. Der erste Grund war außenpolitischer Natur und hatte mit der Entspannungspolitik zu tun, die Strauß wie Thatcher in Frage stellten. Er unterschätzte, wie sehr die Westdeutschen inzwischen auf politischem und humanitärem Felde von der Détente zu profitieren glaubten, wie gering das Gefühl der Bedrohung durch die Sowjetunion in der Bevölkerung geworden war. Anders als im britischen Fall erschien eine Rückkehr zur Rhetorik und Praxis des Kalten Krieges nicht als Chance, das nationale Selbstwertgefühl zu erneuern, sondern als unnötige Bedrohung der mühsam erreichten deutsch-deutschen Kontakte.29 Den zweiten Unterschied hatte Strauß selbst, ohne es zu ahnen, schon im November 1974 in seiner Sonthofener Rede angesprochen, als er bemerkte, die westdeutsche Öffentlichkeit sei noch nicht auf eine politische Radikalkur vorbereitet. Sie sei noch nicht „so stark schockiert, daß sie bereit wäre, die Rezepte, die wir zur langsamen Heilung der Krise für notwendig halten, in Kauf zu nehmen. . . . [Das Land] muß wesentlich tiefer sinken, bis wir Aussicht haben, mit unseren Vorstellungen, Warnungen, Vorschlägen gehört zu werden. Es muß also eine Art Offenbarungseid und ein Schock im öffentlichen Bewußtsein erfolgen.“30 Während Großbritannien in den siebziger Jahren diese traumatische Erfahrung machte, blieb sie in der Bundesrepublik aus. Eine radikale Abkehr von den politischen Rezepten der Vergangenheit, wie sie Strauß und Thatcher vorschwebte, ließ sich in der Bonner Republik nicht verwirklichen, weil sie nicht notwendig war.31

29

Zur deutschlandpolitischen Kontinuität in den achtziger Jahren siehe HEINRICH POTTDie „Koalition der Vernunft“. Deutschlandpolitik in den achtziger Jahren, München 1995; KARL-RUDOLF KORTE, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen, Stuttgart 1998. Der Spiegel 11/1975. So auch DAVID MARSH, Das Beispiel Großbritannien, in: MANFRED BISSINGER et al. (Hrsg.), Konsens oder Konflikt? Wie Deutschland regiert werden soll, Hamburg 1999, S. 111. HOFF,

30 31

Schlußbetrachtung

433

Der kontrafaktische Vergleich mit der westdeutschen Entwicklung in den siebziger Jahren unterstreicht noch einmal, wie stark der Thatcherismus an die historischen Traditionen, die politische Kultur, das Regierungssystem und die Krisenlage Großbritanniens in den siebziger und achtziger Jahren gebunden war. Gleichwohl kann man ihn auch als spezifisch britische Variante von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und ideengeschichtlichen Entwicklungen begreifen, die sich – zum Teil zeitversetzt und in durchaus unterschiedlichen Ausformungen – in vielen westlichen Industrienationen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vollzogen haben und noch vollziehen. Im Kern geht es dabei um die Erosion der Nachkriegsordnung und die Frage, was an ihre Stelle tritt. Auch in Deutschland widmet man diesem Thema seit einigen Jahren größere Aufmerksamkeit. 1996 schrieb etwa der Politikwissenschaftler Peter Lösche, das gesellschaftliche Organisations- und Regulationsmodell der sechziger und siebziger Jahre, das noch bis in die achtziger Jahre hinein seine Schuldigkeit getan habe, sei zum Auslaufmodell geraten: Seine wesentlichen Elemente waren der entwickelte Sozialstaat, Stärkung der Massenkaufkraft, öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, starke Massengewerkschaften und ausgebaute Mitbestimmung. Das war das sozialdemokratische, keynesianische Politikmodell in der Bundesrepublik. Dies ist heute außer Betrieb, ohne daß klar wäre, wie ein modifiziertes oder neues Modell aussehen könnte, ob es ein solches überhaupt geben kann.32

Inzwischen beginnt sich auch die zeithistorische Forschung in Deutschland für das von Lösche beschriebene Phänomen zu interessieren. Konnte HansPeter Schwarz noch 1990 erklären, die Geschichte der Bundesrepublik sei erst die Geschichte ihrer Stabilisierung, dann ihrer Stabilität, so hat sich die Wahrnehmung in den vergangenen Jahren langsam verschoben.33 Allmählich wird eine „Geschichte der Mitlebenden in den letzten drei Jahrzehnten“ skizziert, die ganz andere Problemfelder ausmißt: die gesellschaftlichen Umbrüche der siebziger und achtziger Jahre etwa, die globale Mobilität des Kapitals, die Erfahrungen jüngerer, nach dem Krieg geborener Generationen, die nachlassende Integrationsfähigkeit der Arbeitsgesellschaft oder die schwindende Steuerungskraft staatlicher Politik.34 Nun wird gefordert,

32 33

34

PETER LÖSCHE, Die SPD nach Mannheim. Strukturprobleme und aktuelle Entwicklungen, in: APuZ 6/1996, S. 25. HANS-PETER SCHWARZ, Die ausgebliebene Katastrophe. Eine Problemskizze zur Geschichte der Bundesrepublik, in: HERMANN RUDOLPH (Hrsg.), Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 151–174 (S. 160). So etwa LUTZ NIETHAMMER, Methodische Überlegungen zur deutschen Nachkriegsge-

434

Schlußbetrachtung

nicht mehr vorrangig die Genese und Etablierung der bundesrepublikanischen Institutionen und Arrangements zu untersuchen, sondern auch ihren „Verschleiß, ihr Altern und ihre – jedenfalls partielle – Paralyse“.35 Mit einem derartigen Perspektivwechsel werden zwangsläufig Fragen ins Zentrum des Interesses rücken, die in dieser Studie an die britische Geschichte der siebziger Jahre gestellt wurden. Man wird die Reaktion des Staates auf die Umschichtungen und Verwerfungen in einer sich individualisierenden Gesellschaft untersuchen. Man wird den Siegeszug wirtschaftsliberaler Ideen analysieren – in international vergleichender Perspektive, aber auch als Form des Kulturtransfers.36 Man wird nach den sich verändernden Aufgaben und Rollen fragen, die dem Staat, dem Markt und dem Individuum im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte zugeschrieben wurden. Und man wird sich nicht zuletzt den Handlungsoptionen von Politikern zuwenden, die sich mit der wachsenden Dringlichkeit tiefgreifender Reformen und zugleich mit mächtigen gesellschaftlichen Beharrungskräften konfrontiert sehen. Der marktradikale Populismus, mit dem Thatcher auf diese Probleme reagiert hat, ist ein möglicher Pfad der Entwicklung, aber nicht der einzige. Welche Alternativen es gibt, gehört zu den interessanten Fragen der Zukunft.

35

36

schichte, in: CHRISTOPH KLESSMANN et. al. (Hrsg.), Deutsche Vergangenheiten. Eine gemeinsame Herausforderung, Berlin 1999, S. 307–27 (bes. S. 324–5). KLAUS NAUMANN, Reden wir endlich vom Ende!, in: FAZ vom 30. August 2001, S. 44. In diesem Sinne auch ARNULF BARING (in Zusammenarbeit mit DOMINIK GEPPERT), Scheitert Deutschland? Abschied von unseren Wunschwelten, Stuttgart 1997. Vgl. JOHANNES PAULMANN, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer, in: HZ 267, 1998, S. 649–85.

Dank

435

DANK Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2000 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen und für die Druckfassung geringfügig überarbeitet. Ich hatte das große Glück, im Verlauf meiner Arbeit von zwei akademischen Lehrern betreut zu werden, denen ich – auf unterschiedliche Weise, aber in gleichem Maße – sehr viel verdanke. Prof. Arnulf Baring hat die Studie angeregt und mit großem Engagement begleitet. Er hat mich immer wieder dazu ermuntert, ausgetretene Pfade zu verlassen und die Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart nicht aus dem Blick zu verlieren. Unsere zahlreichen Gespräche haben häufig über mein Promotionsthema hinaus-, aber nie in die Irre geführt. Prof. Hagen Schulze hat meine Arbeit mit großem Interesse und nie ermüdender Hilfsbereitschaft betreut, ohne mich je einzuengen. Gerade in der wichtigen Endphase der Niederschrift hat er mir im Lehrbetrieb der Freien Universität still und effektiv den Rücken freigehalten. Immer wieder hat er der Studie wichtige Impulse gegeben, mich motiviert und vor Abwegen gewarnt. Ermutigung, Unterstützung und guten Rat erhielt ich außerdem von Dr. Niall Ferguson, Dr. Ewen Green, Prof. Brian Harrison, Dr. Hans Jörg Hennecke, vor allem aber von dem leider schon verstorbenen Dr. Vincent Wright, meinem academic sponsor am Nuffield College in Oxford, der mir in der Konzeptionierungsphase meiner Arbeit wichtige Ratschläge gegeben hat. Prof. Anselm Doering-Manteuffel und seinem „Tübinger Zeithistorischen Kolloquium“, dem ich im Sommer 1999 einige meiner Thesen vorstellen durfte, verdanke ich im Hinblick auf die Einordnung des Thatcherismus in einen größeren westeuropäisch-atlantischen Zusammenhang wertvolle Anregungen. Den Zeitzeugen, die mir Rede und Antwort gestanden haben, sei ebenfalls herzlich gedankt. Jonathan Aitken, Dr. Sir Rhodes Boyson, Peter Cropper, Lord Howe of Aberavon, Sir Adam Ridley und Sir Alfred Sherman haben mir Zeit in ihren zum Teil vollen Terminplänen eingeräumt. Andere, wie Tony Benn, Sir John Hoskyns oder Lord Parkinson, gaben bereitwillig schriftlich Auskunft. Dank schulde ich auch Nuffield College in Oxford, an dem ich im Herbst 1998 drei Monate lang als junior visitor arbeiten durfte, Merton College in Oxford, das mich von Oktober 1998 bis März 1999 gastfreundlich aufnahm, und der Studienstiftung des deutschen Volkes, die nicht nur meinen Aufenthalt in Großbritannien finanziert, sondern mich während Studium und Promotion auch ideell unterstützt hat. Dem Beirat des Deutschen Historischen

436

Dank

Instituts London und seinem Direktor, Prof. Hagen Schulze, bin ich für die Aufnahme in die Schriftenreihe des Instituts dankbar, ebenso Prof. Keith Robbins, der meine Arbeit für das DHI begutachtet und mir wichtige ergänzende Hinweise für die Druckfassung gegeben hat. Von Prof. Lothar Kettenackers, Jane Raffertys und Cordula Huberts sorgfältigem Lektorat hat die Studie am Schluß noch einmal sehr profitiert. Ein weiterer Dank gilt den Bibliothekaren und Archivaren, die mir bei meinen Forschungen weiterhalfen: die Mitarbeiter der British Library of Political and Economic Science an der LSE, der Hartley Library der Universität von Southampton, der Bedford Library des Royal Holloway College der Universität von London, vor allem aber Jill Davidson vom Conservative Party Archive an der Bodleian Library in Oxford, dessen partielle Benutzung trotz laufender Sperrfristen mir Michael Simmonds vom Conservative Political Centre freundlicherweise genehmigt hat. Das Conservative Research Department hat mir durch die Bereitstellung von Wahlkampfbroschüren und Strategieschriften geholfen. Gerald Hartup von der Freedom Association gestattete mir die Nutzung des Zeitschriftenarchivs seiner Vereinigung. Die Hoover Institution on War, Revolution and Peace an der Stanford University in Kalifornien schließlich war so freundlich, mir einige Kopien aus dem Archiv der Mont Pélerin Society zukommen zu lassen. Ohne die Hilfe von Freunden in Berlin, Oxford und anderswo hätte meine Arbeit länger gedauert und weniger Spaß gemacht. Christian Calov und Thymian Bussemer haben Teile des Manuskripts gelesen. Ihre fundierte, konstruktive Kritik hat mich auf manche Schwäche hingewiesen, meine Argumentation stringenter, meinen Text lesbarer gemacht. Ein besonders großer Dank geht an meinen Schul- und Studienfreund Dr. Frank L. Müller, der so etwas wie der gute Geist dieser Studie gewesen ist. Er hat meine Arbeit von Anfang bis Ende mit Rat und Tat begleitet, den gesamten Text Korrektur gelesen, mir in England manchen Weg geebnet und manche Tür geöffnet. Meine Frau Christina hat mich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, wenn mein Kopf in den Wolken war, und aufgerichtet, wenn ich an meiner Arbeit und Frau Thatcher zu verzweifeln drohte. Auch dafür danke ich ihr. Der letzte und größte Dank schließlich gilt meinen Eltern für alles, was sie für mich getan haben. Sie haben mir immer den Rücken gestärkt und es mir ermöglicht, den Weg zu gehen, den ich gegangen bin. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. London, im Oktober 2001

Dominik Geppert

Abkürzungen

437

ABKÜRZUNGEN ACAS ACP APEX APuZ BLPES CBI Col. CPA CPS CRD DHSS EG EWG FAZ GE HZ IEA IMF/IWF IRA LCC LSC LSE MP MPSA NAFF NEC NHS NIER PLP PR TGWU TUC UCS UK VfZ

Advisory Counciliation and Arbitration Service Advisory Committee on Policy (and Political Education) Association of Professional, Executive, Clerical and Computer Staff Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament British Library of Political and Economic Science Confederation of British Industry Column Conservative Party Archive Centre for Policy Studies Conservative Research Department Department of Health and Social Security Europäische Gemeinschaft(en) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung General Election Historische Zeitschrift Institute of Economic Affairs International Monetary Fund/Internationaler Währungsfond Irish Republican Army Leader’s Consultative Committee Leader’s Steering Committee London School of Economics Member of Parliament Mont Pèlerin Society Archives National Association for Freedom National Executive Committee National Health Service National Institute Economic Review Parliamentary Labour Party Proportional Representation Transport and General Workers’ Union Trades Union Congress Upper Clyde Shipbuilders United Kingdom Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte

438

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

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QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

1. UNGEDRUCKTE QUELLEN A)

ARCHIVE

Conservative Party Archive (CPA), Bodleian Library, Oxford University – Margaret Thatcher: Speeches 1975–1979 – Geoffrey Howe: Selected Speeches 1975–1979 – Edward Heath: Selected Speeches 1975–1979 – Keith Joseph: Selected Speeches 1975–1979 – General Election, October 1974: Campaign Speeches – General Election, May 1979: Campaign Speches – Keith Joseph Papers – ACP: Advisory Committee on Policy (and Political Education) – CRD: Conservative Research Department – LCC: Leader’s Consultative Committee – LSC: Leader’s Steering Committee – 1922 Committee Hoover Institution on War, Revolution and Peace, Stanford/Kalifornien – Mont Pèlerin Society Archives (MPSA) Jonathan Aitken Papers, Privatbesitz von Jonathan Aitken Alfred Sherman Papers, Bedford Library, Royal Holloway College, University of London Lord Thorneycroft Papers, Hartley Library, University of Southampton B) INTERVIEWS

Jonathan Aitken, Geoffrey Howe, Rhodes Boyson, Adam Ridley, Peter Cropper, Alfred Sherman

2. GEDRUCKTE QUELLEN A)

ZEITUNGEN UND ZEITSCHRIFTEN

The Daily Telegraph, Conservative Monthly News, The Daily Mirror, The Economist, Crossbow, Financial Times, Encounter, The Guardian, Marxism Today, The Observer, New Left Review, The Spectator, Solon, The Sun, The Times, Swinton Journal

440

Quellen- und Literaturverzeichnis B)

REDENSAMMLUNGEN, WAHLKAMPFMANIFESTE, PARTEITAGSPROTOKOLLE ETC.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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ABSTRACT Even today opinions about Margaret Thatcher are still divided. Those who admire her compare her to Charles de Gaulle and Winston Churchill, or regard her, quite simply, as the greatest politician of the 20th century. Her opponents accuse her of having transformed Britain into a country dominated by egoism and greed. Dominik Geppert looks at a period so far largely neglected by scholars, Thatcher’s years as leader of the opposition in the House of Commons, from her surprising election as Conservative Party leader in February 1975 until she became Prime Minister in May 1979. These were not only the years that moulded her as a politician, but also the formative phase of that political and ideological phenomenon to which she gave her name. The study analyses the early years of Thatcherism against the backdrop of Britain’s intensifying politico-economic crisis, growing economic liberalism, and the emergence of the British „New Right“. It asks what concept of the individual, of the state, and of society Thatcher’s actions were based on. It examines the Tory leader’s radically populist and confrontational political style, her intellectual milieu, the discussion circles and communication networks from which she drew her inspiration and ideas. Were there any opposing forces in society? What was the reason for their opposition? How did Thatcher and her supporters react to these obstacles? Geppert’s study shows a society in transition – from Labour domination to Tory rule, from faith in the state to faith in the market, from consensus to conflict.

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Register

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PERSONENREGISTER

Abse, Leo 9 Acton, Lord (John Emerich Edward Dalberg-Acton) 101–102 Addison, Paul 209–210 Adenauer, Konrad 151 Aitken, Ian 12 Aitken, Jonathan 19, 21, 253, 255, 293 Albu, Austen 216, 219 Alexander, David 245, 259–260, 283 Alison, Michael 251, 287 Amery, Julian 40 Amis, Kingsley 219 Armstrong, Robert 203 Ashford, Nigel 283 Ashworth, Henry 256 Attlee, Clement 147–148, 150, 173, 190, 209–210, 365 Augstein, Rudolf 8 Bacon, Robert 201–202, 270 Baker, Kenneth 34, 52, 251, 322 Baldwin, Stanley 80, 209, 330, 334, 368 Ball, James 276 Balladur, Edouard 166 Barber, Anthony 156, 161–164, 167, 176, 250, 270, 298 Barnett, Correlli 215, 217–219 Barnett, Joel 174, 176 Barre, Raymond 166 Basnett, David 378 Beer, Samuel 208 Behrens, Robert 348 Bell, Daniel 149 Bell, Ronald 258, 360 Bell, Tim 406 Belloff, Max 206 Benn, Tony 10, 19, 57, 177, 185, 186, 188–190, 194, 203, 210–211, 221, 303, 323–324, 337, 378, 397, 419 Bentham, Jeremy 101–102 Berlin, Isaiah 73 Beveridge, William 148, 259 Bidwell, Sid 188 Biffen, John 75, 248, 251–252, 259, 273, 287, 322, 351, 356, 378 Birch, Nigel 240 Bismarck, Otto von 217 Blake, Robert 206, 254, 266, 315

Body, Richard 258 Bogdanor, Vernon 341 Boyd-Carpenter, John 86 Boyson, Rhodes 21, 255–257, 266–268, 282, 300, 310–312, 371 Bracewell-Milnes, Barry 260 Brandt, Willy 428 Breschnew, Leonid Iljitsch 143 Brittan, Samuel 211–212, 219, 271–272, 278 Brock, George 9 Bruce-Gardyne, Jock 83, 251, 253, 259, 260, 268, 293 Burk, Kathleen 183 Burke, Edmund 344 Butler, Richard Austen 46, 149 Butt, Ronald 270, 306 Byron, George Gordon Noel, 6th Baron 227 Cairncross, Alec 183 Callaghan, James 10, 23, 92, 172, 177, 181–184, 201, 224, 262, 271, 299, 301, 320–321, 337, 339, 361, 364, 388–389, 391–393, 395–397, 399, 403–411, 413, 415 Campbell, John 9, 106 Carr, Robert 44, 322, 325, 356 Carrington, Peter 35 Casey, John 253–255, 293 Castle, Barbara 19, 91, 177, 319, 325 Chalfont, Lord 191, 195 Chamberlain, Neville 330, 334, 431 Chatham, Earl William Pitt 74 Chirac, Jacques 431 Churchill, Randolph 78 Churchill, Winston 7, 22, 40, 71–75, 141, 226, 245, 330–332, 342, 371 Clark, William 258 Clarke, Peter 228, 420 Clegg, Hugh 407 Coleraine, Lord (ehemals: Richard Law) 34, 258–259, 305–306, 309 Collard, David 228 Connell, Brian 65 Conquest, Robert 297 Corfield, Frederick 258 Cosgrave, Patrick 33, 269, 297, 349

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Register

Cousins, Frank 367 Cowling, Maurice 315 Cox, Charles Brian (C. B.) 256–257 Cradock, Percy 63 Creighton, Harry 50 Critchley, Julian 82, 340 Cropper, Peter 21 Crosland, Anthony 173, 177, 179, 182–183, 185, 187, 191, 62 Crossman, Richard 20 Crozier, Brian 282, 295 Cunliffe, Marcus 200 Daly, Lawrence 383 Davies, John 42, 156, 390 Davies, Stephen 83 De L’Isle and Dudley, Lord 263–264 Derby, 14th Earl of, Edward Stanley 345 Director, Aaron 231 Disraeli, Benjamin 330–331, 342–343, 376 Doering-Manteuffel, Anselm 151 Domacki, Dreda 88 Du Cann, Edward 35–36, 39–40, 46, 47, 81, 85–86, 306 Dyson, A. E. 256–257 Eden, Anthony 132, 240, 331–332, 342 Einstein, Albert 342 Elisabeth I. 7, 84 Elisabeth II. 87, 415 Eltis, Walter 201–202, 270 Emery, Fred 396 Erhard, Ludwig 8, 231, 244, 292, 428 Eucken, Walter 231 Eyres, Stephen 259, 66, 283 Fairlie, Henry 200 Finer, Samuel E. 341 Fisher, Antony 234–235, 236, 238, 259 Fitzgerald, Garret 300 Fleming, Ian 200 Foot, Michael 174, 185 Ford, Gerald 205 Forsyth, Frederick 285 Fowler, Norman 33, 38 Franz von Assisi 416 Franz Josef I. 229 Fraser, Hugh 49, 57, 253 Friedman, Milton 231, 237, 240, 271, 292, 296, 298–299, 301–304, 315, 328, 335, 417, 422 Fry, Christopher 170

Gaitskell, Hugh 149, 198 Gandhi, Indira 84 Gardiner, George 74 Gaulle, Charles de 7, 136, 199, 324 Gavrilov, J. 4 George-Brown, Lord (ehemals: George Brown) 190–191, 400, 402 Giles, Frank 48 Gilmour, Ian 30, 50, 322, 328–329, 332–333, 334, 335–336, 340, 342, 344, 370, 374, 390 Giscard d’Estaing, Valery 8 Glotz, Peter 8 Goodhart, Philip 36 Goodlad, Alastair 253 Gorbatschow, Michail 144 Gorst, John 294 Gouriet, John 264 Gow, Ian 251, 350 Green, Maurice 267–268 Haider, Jörg 8 Hailey, Arthur 285 Hailsham, Lord (ehemals: Quintin Hogg) 30, 203, 214, 218–219, 340 Hall, Stuart 10 Harrington, Michael 268 Harris, Kenneth 89 Harris, Ralph 235–236, 238, 245, 255, 66, 269, 422 Harris, Robert 7 Harrison, Brian 145 Hayek, Friedrich August von 8, 229–235, 238–239, 244–247, 250, 254, 257, 259, 271, 284–285, 288–290, 292, 315, 328–329, 342, 373, 393, 422, 431 Hazlitt, Henry 244 Healey, Denis 10, 45, 48, 94, 119–120, 122, 145, 172, 174–182, 184, 187, 189–190, 193–194, 196, 224, 271, 299, 301, 337, 349–350, 362, 367, 397, 411 Heath, Edward 15, 20, 23, 28–47, 49–59, 62, 68, 77, 81–82, 119–122, 154–158, 160–172, 174–175, 186, 201–203, 209–211, 239, 243, 245, 249–251, 253, 257, 261, 268–269, 271–272, 274–277, 279–281, 287, 290–291, 300, 302, 305–306, 321–325, 326, 328, 330–333, 336–338, 340, 341–346, 348–349, 351–354, 357–358, 366–371, 374, 377, 394–396, 398, 411 Heffer, Eric 185

Register Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 108, 273, 430 Henderson, Nicholas 204, 217–218 Henderson, Richard 259–260 Hitler, Adolf 7, 22 Hobbs, Juan 263 Hodgson, Patricia 266 Holland, Stuart 85, 187, 208 Home, Alec Douglas (Lord Home of the Hirsel) 15, 36, 37, 51, 82, 171, 240, 245, 330–332, 342 Hordern, Peter 251 Hoskyns, John 21, 295, 296, 375, 386–390, 401, 407, 418 Howe, Geoffrey 20, 21, 56–57, 142, 248, 267, 273, 280, 287, 347, 349–350, 352, 371, 374–375, 78, 388–391, 393, 395, 401, 418 Howell, David 279, 345–347, 350, 388 Hughes, Cledwyn 323–324 Hurd, Douglas 325, 328, 356 Hutber, Patrick 198, 202 Ivens, Michael 263 Jay, Douglas 271 Jay, Peter 183, 201, 211–212, 219, 270–272 Jeanne d’Arc 425 Jenkin, Patrick 35, 350 Jenkins, Peter 201, 203, 302, 401 Jenkins, Roy 191 Jewkes, John 231 Johnson, Paul 282, 297, 400, 414 Jones, Jack 154, 161, 365–367, 378 Joseph, Keith 18, 37–39, 43–45, 206, 272–277, 279–281, 286–292, 295, 298–300, 307–312, 332, 335, 347, 349–350, 352, 355, 360, 370–374, 378, 383–386, 88, 394, 411, 418 Katharina II. 84 Kavanagh, Dennis 22, 67–68, 71–72, 149 Keynes, John Maynard 146–147, 151, 172, 179, 185, 187, 205–207, 220, 221, 230, 232, 236, 244, 259, 302, 331 Kieser, Egbert 9 Kilroy-Silk, Robert 210 Kinsley, Michael 137 Kipling, Rudyard 63, 70, 285 Kitson, Tim 324 Knight, Frank 231 Knox, David 327–328, 330, 334 Koestler, Arthur 199, 215, 217, 285

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Kohl, Helmut 8, 25, 142, 305 Lamont, Norman 351, 388 Laval, Pierre 384 Law, Andrew Bonar 83, 258 Lawson, Nigel 82, 142, 202, 300, 351, 375, 388, 417, 418 Lejeune, Anthony 268 Lenin, Wladimir Iljitsch 222 Le Pen, Jean Marie 8 Lever, Harold 44 Levin, Bernard 270 Lewis, Russell 248, 259, 266, 372 Lilley, Peter 208, 249 Lincoln, Abraham 135 Liverpool, 2ndı Earl 7 Livius 285 Llewelyn-Davies, Pat 92 Lloyd George, David 172 Lösche, Peter 433 Luther, Martin 223 MacDougall, Donald 176, 275 MacGregor, John 351 MacLean, Alistair 285 Macleod, Iain 37, 162, 164, 325, 332 Macmillan, Harold 15, 71, 82–83, 85, 147, 171, 240–241, 269, 272–273, 284, 330–332, 338–339, 342, 365 MacWhirter, Norris 262–264 MacWhirter, Ross 255, 262–264, 266, 294, 307, 311 Mao Tse-tung 7 Marten, Neil 250 Marwick, Arthur 313 Marx, Karl 173, 186, 330 Maude, Angus 307, 347–348, 352, 358–359, 412 Maudling, Reginald 32, 37, 245, 286, 321–322, 370, 390 Mayhew, Christopher 190 Meir, Golda 84 Meyer, Anthony 247, 268 Micardo, Ian 185, 188 Middlemas, Keith 210 Mill, John Stuart 101–103 Millar, Ronald 62, 86, 404–405, 406 Mises, Ludwig von 229–230 Monckton, Walter 371 Montgomery, Fergus 46 Morris, Peter 149 Mosley, Oswald 172 Moss, Robert 264–265, 295, 297, 373, 384

462 Much, Sandy 326 Murray, Len 378, 383 Neave, Airey 47–48, 53, 56, 352 Neave, Diana 47–48 Newton, Tony 350 Norman, Edward 253 Nott, John 251, 293, 322, 422 O’Neill, Con 204 O’Sullivan, John 245–246, 268, 283, 297 Oakeshott, Michael 253 Paoli, Pia 9 Parkinson, Cecil 21, 48, 251, 252, 351 Parris, Matthew 376 Patten, Chris 87, 347–349, 352–354, 355, 357, 389–390, 404–405, 412 Patten, John 251 Peel, Robert 330, 342 Pétain, Philippe 384 Peyton, John 56–57, 378 Phillips, Alban William 162, 237, 271 Phillips, Morgan 103 Pile, William 42, 70, 74 Pimlott, Ben 150 Plant, Cyril 378 Polanyi, Michael 231 Popper, Karl 231 Powell, Charles 63, 137 Powell, J. Enoch 37, 239–245, 247–248, 250–252, 257, 259, 272–273, 281, 286, 287, 293, 322, 323, 337, 363 Prentice, Reg 190–191, 195 Prior, Jim 20, 35, 52–53, 56–58, 83, 322, 347, 367–369, 371–372, 374, 376–378, 383–385, 388–391, 394, 403–404, 413 Pym, Francis 40 Quennel, Joan 32 Ramsden, John 15, 250 Rawlinson, Peter 85 Reagan, Ronald 426 Redmayne, Martin 49 Reece, Gordon 66–67, 87, 402, 410–412 Rees, Goronwy 199, 219 Rees, Merlyn 362 Rees, Peter 251, 351 Rees-Mogg, William 206, 210–211, 270, 281, 292, 303 Reid, Jimmy 157 Ridley, Adam 21, 276, 353

Register Ridley, Nicholas 137, 251–252, 258, 266, 293, 322, 350, 354, 371, 374, 418 Rippon, Geoffrey 322 Robbins, Lionel 231, 244 Roberts, Alfred 103–106, 290, 312 Röpke, Wilhelm 231 Rothschild, Victor 203 Sampson, Anthony 198, 267 Sapsted, N. J. 55 Scanlon, Hugh 378 Scarman, Leslie George 382–384 Scargill, Arthur 381 Schiller, Karl 428 Schmidt, Helmut 8, 22, 393, 428–429, 431 Schröder, Gerhard 305 Schumpeter, Joseph 211–212 Schwarz, Hans-Peter 9, 433 Scott, Nicholas 322, 336, 356 Scruton, Roger 253–255, 293 Seldon, Arthur 236, 238, 245–246, 248, 266, 267, 269, 282, 287, 422 Sewill, Brendan 202 Shakespeare, William 397 Shanks, Michael 198, 213, 219 Shelton, William 46–47 Shepherd, Robert 242 Sherman, Alfred 19, 21, 64, 273–274, 276–279, 282, 288–290, 292, 295–296, 297, 304, 307, 310, 353–356, 358–359, 386, 401–402, 418, 420 Short, Renee 91 Simon, William 180 Skidelsky, Robert 206–208 Skinner, Dennis 179 Smedley, Oliver 235, 238, 422 Smith, Adam 8, 125, 424 Soames, Christopher 40 Solschenizyn, Alexander 285 Stanley, John 251 Stalin, Josef Wissarionowitsch 7 Steel, David 362 Stewart, Michael 366 Stigler, George 231 Stoiber, Edmund 431 Strauß, Franz Josef 428, 430–432 Strauss, Norman 296, 386–390 Szamuely, Tibor 246–247 Tacitus 312 Tapsell, Peter 335 Tebbit, Norman 21, 32, 53, 376, 384, 418 Thatcher, Denis 41, 46, 80, 93, 412

Register Thatcher, Mark 92 Thomas, Hugh 195, 282, 295, 297, 312, 400 Thomas, Peter 322 Thorneycroft, Peter 18, 240, 351–352, 358, 389–390, 394, 409–411, 413 Thorpe, Jeremy 325 Tocqueville, Alexis de 196 Trittin, Jürgen 8 Trollope, Anthony 285 Tyrell, R. Emmett Jr. 198 Urban, George Robert 426–427 Utley, Thomas Edwin (T. E.) 268, 297, 306, 404 Vaizey, John 192, 195, 199, 282, 295 Vander Elst, Anthony 259 Vander Elst, Philip 259, 260–261, 266, 283 Van Straubenzee, William 326 Wade, William (H. W. R.) 253 Waldegrave, William 328, 335 Walden, Brian 7, 385 Walker, Peter 44, 49, 50, 52, 322, 325, 328, 330–331, 334, 340, 358, 369–371 Walters, Alan 275–276, 297 Wapshott, Nicholas 9

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Ward, George 379–384 Wassall, Martin 354–355 Watkins, Kenneth William (K. W.) 282 Welch, Colin 267–268 Wesley, John 103 Whitelaw, William 30, 50, 52, 56–58, 89–90, 119–120, 272, 292, 322, 326, 351, 361, 363, 378, 390, 410 Wiener, Martin 215, 218, 219 Wigram, Anthony 356 Williams, Ernest Edwin 215 Williams, Shirley 326 Wilson, Harold 23, 29, 31, 70, 92, 119–120, 155, 158, 172, 174–175, 177, 179–180, 185, 188, 190–192, 197, 201, 209, 211, 224, 256, 261, 269, 283, 313, 319–320, 325, 336, 339, 364, 366–367 Wilson, Trevor 381 Winkler, J. T. 207 Wolff, Michael 281, 332, 351 Wood, David 378 Worsthorne, Peregrine 217 Wright, Esmond 33 Wyatt, Woodrow 90, 192, 195, 282 Yeo, Ed 180, 181 Young, Hugo 9, 22

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