Textil & Raum: Visuelle Poetologien in Gustave Flauberts Madame Bovary 9783839439302

With masterly irony, Gustave Flaubert deals with the modern age in Madame Bovary, the relationship between text and imag

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German Pages 416 Year 2017

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Flauberts »images«: Schreiben im Heterotop
Madame Bovary: Industrialisierung und textile Diskurse
Vorbilder
»La couleur normande« im Zeichen des Textilhandels
»Normandismes«: Madame Bovary und La Revue de Paris
Textile Räume
Textiles Objekt und Raum: Vier Madame Bovary
Textile Handarbeit als Ereignis
Gartengeschichten: Genesis, Hohelied, Hortus conclusus
Textile Handarbeit. Textanalysen
Die Jungfrau: Das Marienleben des Jakobus
Das Burgfräulein: Mittelalterliche Minne und aufgelöste Fäden
Original und Bildkopie: Fontanes Effi Briest
(Bilder-)Geschichten. Madame Bovary
Madame Bovary, Teil I: Klosterschülerin, Jungfrau, Braut
Madame Bovary, Teil II: Ehefrau, Ehebrecherin
Gartenräume
Yonville als Gartenraum
Gartenraum und Landschaft
Locus amoenus und Apuleius’ Amor und Psyche
Locus terribilis: Balzacs »Pension bourgeoise«
Zwei Zeichnungen von Yonville
Textiles Erzählen
Bildergeschichten als Gewebe
Die Spektakularität des Textilen
Hand und Oberfläche
Spinne und Mumienhand
Dank
Siglen
Literatur
Abbildungsnachweise
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Textil & Raum: Visuelle Poetologien in Gustave Flauberts Madame Bovary
 9783839439302

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Kathrin Fehringer Textil & Raum



machina | Band 11

Editorial Das lateinische Wort »machina« bedeutet – wie seine romanischen Entsprechungen – nicht nur Maschine, sondern auch List, bezeichnet zugleich den menschlichen Kunstgriff und das technische Artefakt. Die mit diesem Wort überschriebene Reihe versammelt Studien zur romanischen Literaturund Medienwissenschaft in technik- und kulturanthropologischer Perspektive. Die darin erscheinenden Monographien, Sammelbände und Editionen lassen sich von der Annahme leiten, dass literarische, theatralische, filmische oder andere mediale Produktionen nur mit gleichzeitiger Rücksicht auf ihre materielle Gestalt und ihren kulturellen Gebrauch angemessen zu beschreiben sind. Die Reihe wird herausgegeben von Irene Albers, Sabine Friedrich, Jochen Mecke und Wolfram Nitsch.

Kathrin Fehringer (Dr. phil.), geb. 1981, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Nach dem Studium der Romanistik, Germanistik und Kunst in München und Paris promovierte sie in Erfurt bei Jörg Dünne und Bettine Menke. Sie forscht insbesondere zu Kulturtechniken in den romanischen Literaturen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Kathrin Fehringer

Textil & Raum Visuelle Poetologien in Gustave Flauberts Madame Bovary

Erfurt, Univ., Diss. 2013 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-STIFTUNG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Fotolia (41011526) © Erica Guilane-Nachez Satz: Kathrin Fehringer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3930-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3930-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Flauberts »images«: Schreiben im Heterotop | 9

MADAME BOVARY: I NDUSTRIALISIERUNG UND TEXTILE DISKURSE Vorbilder | 35 »La couleur normande« im Zeichen des Textilhandels | 51 »Normandismes«: Madame Bovary und La Revue de Paris | 66

TEXTILE RÄUME Textiles Objekt und Raum: Vier Madame Bovary | 75

Wäscheaufhängen: Madame Héloïse Bovary | 88 Tauschhandel: Madame Bovary Mère | 91 Spinnräder: Berthe Bovary | 93 Textile Handarbeit als Ereignis | 97

Madame Couaën (Volupté, 1834) | 103 Marie Arnoux (L’Éducation sentimentale, 1869) | 105 Frau Dörr (Irrungen, Wirrungen, 1888) | 108 Effi Briest (Effi Briest, 1894) | 109 Emma Bovary (Madame Bovary, 1857) | 111 Gartengeschichten: Genesis, Hohelied, Hortus conclusus | 115

Marienikonographie im 15. Jahrhundert: Paradies und Garten Eden | 117 Prätexte: Genesis und Hohelied | 120 Garten, Handarbeit und eintretende Liebhaber: Die Texte des 19. Jahrhunderts | 121

TEXTILE HANDARBEIT. TEXTANALYSEN Die Jungfrau: Das Marienleben des Jakobus | 129 Die Ehefrau: Homers Penelope | 139

Protevangelium und griechischer Roman | 139 »Lügengewebe«: Textile Handarbeit als List | 142 Das Burgfräulein: Mittelalterliche Minne und aufgelöste Fäden | 150 Original und Bildkopie: Fontanes Effi Briest | 162 Rossettis Verkündigung: The childhood of Mary virgin (1848/49) | 166 Ordnen: Effis Altarteppich | 176 Lilienfinger | 180 Das marianische Objekt: »disguised symbolism«? | 183

(BILDER-)G ESCHICHTEN. MADAME BOVARY Madame Bovary, Teil I: Klosterschülerin, Jungfrau, Braut | 193

Alte und neue Geschichten | 193 Dornröschen | 199 Minerva und Arachne | 204 Auf der Schwelle | 206 Dornenwald und Rosenlaube | 209 Ein Gipspriester und sein Breviarium | 214 Minne und Jan Van Eycks Lesende Maria | 216 Bildlektüren: Das Klosterkapitel | 221 Paul et Virginie | 228 Sedes Sapientiae und Herz Mariae | 235 Madame Bovary, Teil II: Ehefrau, Ehebrecherin | 238

Fensterszenen | 238 Verführung im Garten | 258 Der Stoffhändler | 264

G ARTENRÄUME Yonville als Gartenraum | 271 Gartenraum und Landschaft | 280 Locus amoenus und Apuleius’ Amor und Psyche | 286 Locus terribilis: Balzacs »Pension bourgeoise« | 307 Zwei Zeichnungen von Yonville | 315

TEXTILES ERZÄHLEN Bildergeschichten als Gewebe | 329 Die Spektakularität des Textilen | 342 Hand und Oberfläche | 356 Spinne und Mumienhand | 379

DANK | 385 S IGLEN | 387 LITERATUR | 389 ABBILDUNGSNACHWEISE | 413

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Flauberts »images«: Schreiben im Heterotop Je vais aller ces jours-ci dans la campagne faire quelques excursions, et puis […] nous repartons pour Rouen, ancienne capitale de la Normandie, chef-lieu du département de la Seine-Inférieure, ville importante par ses manufactures, patrie de Corneille, de Jouvenet […], de Géricault […]. Il s’y fait un grand commerce de cotons filés. Elle a de belles églises et des habitants stupides, je l’exècre, je la hais […]. Malheur aux murs qui m’ont abrité ! GUSTAVE FLAUBERT1

An einem Samstagabend im September 1851 schreibt der dreißigjährige Flaubert in seinem unseligen »Turm«,2 dem elterlichen Landsitz Croisset einige Kilome-

1

Brief an Ernest Chevalier, Nogent-sur-Seine, 2. September 1843. Géricault war neben Delacroix der einflussreichste Maler für Flauberts Generation; so nennt ihn der junge Flaubert ihn in einem Zug mit dem großen Dramatiker Corneille. Jouvenet wurde in Frankreich als Vertreter des Klassizismus für seine religiösen Gemälde berühmt, die er für Kirchen insbesondere in der Provinz malte. Flauberts Briefe sind nach der neu überarbeiteten Pléiade-Ausgabe zitiert und, wenn nicht in Croisset verfasst, mit der entsprechenden Ortsangabe versehen: Gustave Flaubert: Correspondance. Janvier 1830−Mai 1880, Édition de Jean Bruneau et Yvan Leclerc, avec la collaboration de Jean-François Delesalle, Jean-Benoît Guinot et Joëlle Robert, Paris: Gallimard, 22002−2008 (Bibliothèque de la Pléiade, 5 Bde).

2

Flaubert hätte sich Croisset als Elfenbeinturm erträumt; an Louise Colet schreibt er am 4. September 1851: »Que ne peut-on vivre dans une tour d’ivoire !« Zwanzig Jahre später heißt es rückblickend: »J’ai toujours tâché de vivre dans une tour d’ivoire; mais une marée de merde en bat les murs, à la faire crouler.« Brief an Ivan Tourgueniev, 13. November 1872.

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ter Seine-aufwärts von Rouen, an seine Geliebte Louise Colet. Etwas erschöpft tut er ihr kund, nun mit der Arbeit an Madame Bovary begonnen zu haben – ein Projekt, das ihn die nächsten fünf Jahre intensiv beschäftigen sollte –, und zeigt sich von Beginn an von der Sorge um den richtigen Stil für sein Sujet getrieben; ein Sujet »über nichts«.3 J’ai commencé hier au soir mon roman. J’entrevois maintenant des difficultés de style qui m’épouvantent. Ce n’est pas une petite affaire que d’être simple. J’ai peur […] de faire du Balzac chateaubrianisé.4

Die Korrespondenz mit Louise Colet über sowohl seine als auch ihre literarischen Arbeiten begleitet die Genese seines ersten Romans als erzähltheoretische Reflexion und begründet eine Poetologie, die die Literatur der Moderne eröffnet: Nach dem Tod des großen Romantikers Chateaubriand im Jahre 1848 und dem Tod des großen Realisten Balzac im Jahre 1850, der ihn recht mitgenommen hatte,5 schreibt sich Flaubert aus diesen literarischen Traditionen heraus – weg von einem wertenden, moralisierenden Stil, weg von Beglaubigungsstrategien und durchsichtiger, klischéehafter Metaphorik. Die Suche nach dem angemessenen Stil ist dabei keineswegs nur als Abgrenzungsgeste zu den literarischen Vorgängern zu verstehen. Sie bildet den Ausgangspunkt für eine neue intermediale Ästhetik, die aufs engste mit dem Aufkommen moderner Bildmedien und deren spezifischen Wahrnehmungsbedingungen verbunden ist. Mit der Erfindung der Photographie und den neuen technischen Möglichkeiten der Bild(re)produktion verändert sich im 19. Jahrhundert der Blick auf die Welt und damit die Art und Weise ihrer Repräsentation.6 Eine »Inflation der Bilder« droht im zeittypischen Diskurs den literarischen Text (als Medium der

3

Flaubert wird diesbezüglich prominenter Weise von seinem »livre sur rien« sprechen.

4

Brief an Louise Colet, 20. September 1851 (Anm. 1).

5

»Pourquoi la mort de Balzac m’a-t-elle vivement affecté?« Brief an Louise Colet,

Brief an Louise Colet, 16. Januar 1852.

Konstantinopel, 14. November 1850. Flaubert wird es dennoch nicht müde, in seinen Briefen immer wieder auf Balzacs »défaut de style« hinzuweisen, so etwa im Brief an Louise Colet, 28.−29. Juni 1853. 6

Vgl. hierzu Philippe Hamon: Imageries, littérature et image au XIXe siècle, Paris: José Corti, 12001; Jonathan Crary: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture, Cambridge: MIT Press, 11999, und Peter Geimer (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 12002.

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Wirklichkeitsdarstellung) zu verdrängen und läutet damit nicht nur eine Krise der Imagination und des Imaginären ein, sondern auch eine Krise der Sprache: Als cliché werden die Gemeinplätze, die sich in der Sprache eingenistet haben, fortan mit einem Begriff aus der typographischen Reproduktion bezeichnet und stehen so mit der Flut von reproduzierten, wiederholten, abgegriffenen Bildern, die den Alltag des Bürgertums prägen, in direkter Verbindung.7 Es handelt sich um jene Plattitüden des (Klein-)Bürgers, die Flaubert so verhasst sind: In seinem letzten Werk Bouvard et Pécuchet findet man sie als bêtisier aufgelistet, in Madame Bovary im Kursivdruck als solche bêtises entlarvt. Dabei sind Bilderflut und Sprachkrise, Bildlichkeit und Schriftlichkeit im Fall von Flaubert auf mehreren Ebenen aufeinander bezogen. Auftakt für seinen Erstlingsroman ist die große Reise in den Orient, die er mit seinem Freund, dem Photographen und Schriftsteller Maxime Du Camp, von Herbst 1849 bis zum Frühling 1851 entlang des Nils unternimmt und die unter der Voraussetzung des modernen Bildes steht:8 Du Camp ermöglicht diese Reise, indem er sie als photographische Exkursion archäologischen Interesses affichiert und so erfolgreich finanzielle Mittel von der Regierung einwirbt. Während Du Camp die Ruinen ägyptischer Denkmäler photographisch dokumentieren soll, steht es in Flauberts Auftrag, vor Ort Informationen über den Anbau, die Produktion und die Verschiffung von Waren zu sammeln – eine Aufgabe, die er aus mangelndem Interesse bald ad acta legt. In seiner Reisedokumentation äußert er sich nur rudimentär, und wenn dann abschätzig, über sowohl den photographischen Anlass dieser Reise und die photographischen Leistungen des Freundes, als auch über das photographische Aufzeichnungsverfahren selbst. Er wird diese Abneigung gegenüber der Photographie zeitlebens beibehalten. Du Camp unterstellt er, ausschließlich aus Prestigegründen zu photographieren und

7

Joseph Jurt: »Intermedialität bei Flaubert«, in: Praktizierte Intermedialität: Deutschfranzösische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo, Bielefeld: transcript, 12010 (Kultur- und Medientheorie), S. 37–51. Hier: S. 37−38.

8

Vgl. zu einer Revision dieser Reise und Flauberts Bezug zur Photographie Monique Sicard: »Gestes et images du voyage en Orient«, in: Flaubert. Revue critique et génétique 12 (2014) [o.S.]. Du Camps Égypte, Nubie, Palestine et Syrie (1852) und seine Bedeutung für die Geschichte der Photographie ist lange Zeit verkannt worden. Es handelt sich jedoch um »[…] le premier livre mêlant photographies et textes imprimés. Il est aussi le premier livre de photographie à tirage industriel et le premier livre de photographie français.« Sicard, »Gestes et images du voyage en Orient«, ebd., S. 35. Vgl. hierzu auch Gérard de Senneville: Maxime Du Camp. Un spectateur engagé du XIXe siècle, Paris: Stock, 11996.

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sollte damit Recht behalten: Dem Freund trägt, zurück in Paris, seine 1852 als Bildband veröffentlichte Photoserie mit dem Titel Égypte, Nubie, Palestine et Syrie aus über 200 Papiernegativen, die er und Flaubert von der Reise zurückbringen,9 am ersten Januar 1853 das croix d’honneur ein.10 Die Ausarbeitung des Textes Madame Bovary zeigt sich von dieser Reise, wie auch, im Gegenzug dazu, von Flauberts abgeschotteten Leben in Croisset, wo er sich einschließt, um zu schreiben,11 tiefgreifend beeinflusst. Sie offenbart sich als ein Umgang mit Bildern, als eine, wie man heute sagen würde, »praktizierte Intermedialität«,12 die jedoch dezidiert das Primat der Literatur behauptet: Flauberts Umgang mit Bildern als Poetologie bietet der Invasion der visuellen Medien die Stirn und erteilt ihr eine Abfuhr: Der literarische Text, so scheint Flaubert zeigen zu wollen, vermag das Bild noch stets zu übertreffen−13 wie es sich in einer Bilderpraktik niederschlägt, um die es in den folgenden Kapiteln en detail gehen soll. Flaubert mag den neuen Medien – wie übrigens allen Neuerungen seiner Zeit – sehr skeptisch, wenn nicht sogar feindselig gegenüberstehen; er wehrt sich bekanntlich hartnäckig und zeitlebens nicht nur gegen die Illustration seiner

9

Sicard, »Gestes et images du voyage en Orient«, S. 1 (Anm. 8).

10 Vgl. hierzu Johanne Mohs: Aufnahmen und Zuschreibungen: Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche, Bielefeld: transcript, 12013 (lettre), S. 197−201. 11 Während seiner Arbeit an Madame Bovary fühle sich Flaubert »isolé de son entourage«, ja eingesperrt: »[s]es lettres à Louise Colet multiplent les métaphores de la clôture«; so schreibe er von seiner »détermination de ‚rompre avec l’extérieur’«. Lucette Czyba: »Écriture, corps et sexualité chez Flaubert«, in: Jean Guillaumin (Hrsg.): Corps Création. Entre Lettres et Psychanalye, Lyon: Presses Universitaires de Lyon, 1

1980, S. 93–104. Hier: S. 94.

12 Während Intermedialität häufig als paritätisches Verhältnis zwischen Medien gedacht wird, behauptet Flaubert konsequent die Überlegenheit der Literatur über das Bild. Ich beziehe mich an dieser Stelle auf den Titel des 2010 erschienenen Sammelbandes zum Thema; den für mich im Folgenden zentrale Praktikbegriff entlehne ich Michel de Certeau. Vgl. Fernand Hörner/Harald Neumeyer/Bernd Stiegler (Hrsg.) Praktizierte Intermedialität: Deutsch-französische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo, Bielefeld: transcript,

1

2010 (Kultur- und Medientheorie); Certeau, Michel de:

L’invention du quotidien. 1 Arts de faire, nouvelle Édition, établie et présentée par Luce Girard, Paris: Gallimard, 21990. 13 Jurt, »Intermedialität bei Flaubert«, S. 51 (Anm. 7) und Hamon, Imageries, S. 305 (Anm. 6).

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Romane, sondern auch dagegen, selbst photographiert zu werden.14 Die Auseinandersetzung mit der von ihm diagnostizierten ›Macht von Bildern‹ jedoch, der er sich hilflos ausgeliefert fühlt, findet sich in einer erstaunlichen Kontinuität in all seinen literarischen Texten (wie auch in seinen Briefen) wieder.15 Von der Orientreise, deren letzte Station während der Osterwoche 1851 Rom ist, bringt er zahlreiche Erinnerungen an die Gemälde eines Murillo oder Michelangelo mit nach Hause. »Quels tableaux ! quels tableaux ! J’ai pris des notes sur quelques-uns«,16 heißt es schwärmerisch in seinen Briefen aus Rom, »nous ne sortons pas des musées«.17 Murillos Marienbildnis, Maria auf dem Mond, hat es ihm besonders angetan. Das Gemälde verfolgt Flaubert geradezu wahnhaft als imaginäres, mentales (Erinnerungs-)Bild, das er wie ein Verliebter in einer Klimax der Wiederholungen in der Schrift bannt; in seinen Briefen nämlich.18 Als großer Liebhaber von Atlanten und Karten – »quelle chose énorme qu’un atlas, comme ça fait rêver!«19 – ist Flaubert zudem ein ›Fingerreisender‹ wie seine bereits in Entstehung begriffene Figur Emma Bovary, die er unter dem Einfluss der für ihn so faszinierenden, in seinem Geist gespeicherten Darstellungen der Heiligen Jungfrau bereits als »vierge normande«20 im Kopf hat und die ihrerseits Bilder nicht nur konsumieren, sondern praktizieren wird: Anhand eines Stadtplanes von Paris wird Flaubert seine Protagonistin als Auftakt des letzten Kapitels im ersten Teil seines Romans, das den Hauptschauplatz Yonville-L’Abbaye vorbereitet, eine ganze Welt in und aus Bildern erstehen lassen.21

14 Sh. exemplarisch Jurt, »Intermedialität bei Flaubert«, S. 40 42 (Anm. 7), und Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer, 12009, S. 27−28. 15 Vgl. insbesondere die umfassende Studie von Adrianne Tooke: Flaubert and the Pictorial Arts. From Image to Text, Oxford: Oxford University Press, 12000. 16 Brief an Louis Bouilhet, Rom, 4. Mai 1851. 17 Brief an seine Mutter, Rom, 8. April 1851. 18 »J’ai vu une Vierge de Murillo qui me poursuit comme une hallucination perpétuelle […].« Brief an Louis Bouilhet, Rom, 9. April 1851. Jurt schreibt von einem »mystische[n] Glücksgefühl«, das Bilder in Flaubert auszulösen scheinten. Jurt, »Intermedialität bei Flaubert«, S. 42 (Anm. 7). 19 Brief an an Louis Bouilhet, 15. August 1855. 20 Thierry Laget, »Préface«, in: Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Mœurs de Province, Édition présentée, établie et annotée par Thierry Laget, Paris: Gallimard, 12001 (Bibliothèque de la Pléiade). Hier: S. 31. 21 Michel de Certeau denkt in seinen Arts de faire (1980) Raum von einem Bild her, vom Bild der Straßen New Yorks in Vogelperspektive aus dem 110. Stock des World

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Sein Leben lang spricht Flaubert immer wieder von einem großen Hang zu solchen Bildern22 als »déclivités involontaires d’idées, d’images«, für deren körperliche Zeichen er jene »attaques de nerfs« hält, die ihn so quälen: »Chaque attaque était comme […] mille images sautant à la fois, en feu d’artifices.«23 Auf halluzinatorische Art und Weise fühlt sich Flaubert von Bildern überschwemmt, die unkontrollierbar erscheinen24 und zunächst nicht verschriftlicht werden können. Wie er Louise gesteht, musste er auf Grund der so nachhaltigen, visuellen Eindrücke auf seinen Reisen die Arbeit an literarischen Texten für den langen Zeitraum von zwei Jahren aufgeben. In der Abgeschiedenheit von Croisset erlangt Flaubert nun die nötige Distanz zur Welt, die er als schnelle Abfolge von Bildern wahrnimmt,25 als serielle Bilderfolge. Erst das in der (ironischen) Distanz gezähmte Bild kann niedergeschrieben werden und hat bereits einen längeren Entwicklungsprozess hinter sich, wenn es Eingang in seine Texte erhält.26 Der Einfluss dieser produzierten »images« auf Madame Bovary und Flauberts Poetologie tritt 1852 in seiner brieflichen Auseinandersetzung mit einem literarischen Text von Louise, den er korrigiert, deutlich zutage. Die Begriffe »dessin«, »vers-images« und »fabrication«27 tauchen auf als Stichwörter seiner eigenen écriture, die er als körperlich strapaziöses Handwerk darzustellen pflegt: »Mon Dieu, que j’ai mal à la tête! Il faut que je me couche! J’ai le pouce creusé par ma plume«.28 Aus dieser Zeit intensiven Schreibens stammt Flauberts

Trade Centers: Die Straßen sehen wie Linien auf einer zweidimensionalen Oberfläche aus, wie eine Stadtkarte, die von ihren Teilnehmern – sprich: den Bewohnern New Yorks – praktiziert wird. In einer Vektorbewegung, die die Variable der Zeit in den Raum einträgt, werde Raum in alltäglichen Praktiken erschaffen, durch gehen, reisen oder auch kochen. Certeau, Arts de faire (Anm. 12). 22 Jean Seznec stellt bereits im Jahre 1945 seinem Aufsatz »Flaubert and the graphic arts« voran, dass Flauberts »imagination […] of the visual type« bereits seit langem bekannt und so auch diskutiert worden sei. Jean Seznec: »Flaubert and the graphic Arts«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 8 (1945), S. 175–190. Hier: S. 175. 23 Brief an Louise Colet, 27. Dezember 1852. 24 Tooke spricht von der »immediate visual perception« Flauberts. Tooke, Flaubert and the Pictorial Arts, S. 18 (Anm. 15). 25 Ebd., S. 15. 26 Vgl. zu Flauberts »écriture« und »tableaux« Philippe Dufour: »Flaubert lecteur: une histoire des écritures«, in: Flaubert. Revue critique et génétique 2 (2009) [o.S.]. 27 Brief an Louise Colet, 29. Dezember 1852. 28 Brief an Louise Colet, 28.−29. Juni 1853.

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berühmter Ausspruch vom »Buch über nichts«, das er im Sinn hat, und welcher seither ebenso etikettengleich zu Madame Bovary gehört wie das Postulat der »couleur normande«, die er seiner Geschichte über die Normandie zu verleihen gedenkt.29 Am 16. Januar 1852 erklärt er Louise: Ce qui me semble beau, ce que je voudrais faire, c’est un livre sur rien, un livre sans attache extérieure, qui se tiendrait de lui-même par la force interne de son style, comme la terre sans être soutenue se tient en l’air, un livre qui n’aurait presque pas de sujet ou du moins où le sujet serait presque invisible, si cela se peut. Les œuvres les plus belles sont celles où il y a le moins de matière. […] C’est pour cela qu’il n’y a ni beaux ni vilains sujets et qu’on pourrait presque établir comme axiome, en se plaçant au point de vue de l’Art pur, qu’il n’y en a aucun, le style étant à lui seul une manière absolue de voir les choses.30

Flauberts Stil als »innere Kraft«, die, wie es in diesem planetarischen Bild gefasst wird, das Werk auf geradezu physikalische Weise zusammenhalten soll, ist Ausdruck einer Sicht auf die Dinge, und genauer noch: eines Sehens der Dinge aus der großen Distanz einer absoluten Perspektive. Diese für Flaubert programmatische Perzeptionssituation schlägt sich in distanzierenden Verfahren in seinem Text nieder, zu denen Flauberts Ironie gehört. »Der ironische Stil«, schreibt Rainer Warning in seinem bahnbrechenden Aufsatz von 1982, »dissoziiert das Dargestellte vom Medium der Darstellung, er definiert, als eine manière absolue de voir les choses, die Rezeptionssituation als Perzeptionssituation, die die Strukturen der Wahrnehmung selbst thematisch macht«.31 Madame Bovary ist als »Art pur« zu einem Text geworden, der visuelle Wahrnehmungsstrukturen in einer Praktik der verschriftlichten Bilder sichtbar macht. Die Elemente des Textes sind dabei, in Flauberts Worten, wie »Fäden« in einer »fabrication« als »contexture d’icelles [de ficelles]« miteinander verbunden,32 wobei die textile Handarbeit, die diese Fäden in großer Kunstfertigkeit zu einem »tissu de style«33 verarbeitet, zugunsten der Illusion einer »glatten Oberfläche« im Verborgenen bleiben soll. Flaubert fasst dies in der Vorstellung einer

29 Brief an Louise Colet, 10. April 1853. 30 Brief an Louise Colet, 16. Januar 1852. Meine Hervorhebung. 31 Rainer Warning: »Der ironische Schein: Flaubert und die ›Ordnung der Diskurse‹«, in: Eberhard Lämmert (Hrsg.): Erzählforschung. Ein Symposion, Stuttgart: Metzler, 1

1982 (Germanistische Symposien-Berichtsbände, 4), S. 290–318. Hier: S. 314.

32 Brief in Rabelais-Französisch an Louis Bouilhet, 26. Dezember 1852. 33 Brief an Louise Colet, 28. Oktober 1853.

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Kahnfahrt, bei der im Verb filer zudem an die textile Konnotation angespielt ist: Es geht um einen Stil, der in der Form von Bildern, die man sich vorzustellen hat, auf der Stelle Gestalt annimmt, »un style qui vous entrerait dans l’idée comme un coup de stylet, et où notre pensée enfin voguerait sur des surfaces lisses comme lorsqu’on file sur un canot avec un bon vent arrière«.34 Bei Flaubert wird also Bild zu Text nicht im Rückgriff auf die Metapher des Zeichnens oder Malens, sondern auf die Metapher des Transportes, des Übersetzens als Kahnfahrt, und des Textils: Text wird in Gewebe überführt als tissu de style, wobei dieser Stil zu einem Transportmedium wird, das es erlaubt, kinderleicht und blitzschnell zu imaginieren; denn fabrication meint einerseits eine konsequente Bildgebung im Text, andererseits aber eine hochelaborierte textile Technik des Erzählens, mit der − so werde ich im letzten Kapitel dieser Studie zeigen − Flaubert auf MeisterInnen des Webens referiert: Ovid und seine Figuren Arachne und Minerva. Bild wird zu Text und umgekehrt über den Umweg des Textils. Radikal formuliert erklärt sich Flauberts Diktum vom »Buch über nichts« aus diesem Verständnis von fabrication, die den Stil zum alleinigen Mittel der Diegesis erklärt. Insofern gehen zur Darstellung von Welt in Madame Bovary Bild und Text eine enge Verbindung ein;35 so zeigt es die Rede von textiler Handarbeit in sowohl Text (Madame Bovary), als auch Paratext (Flauberts Briefen), die letzten Endes das Bild von einer typisch weiblichen Beschäftigung in die Metapher des Schreibens überführt. Beide Kulturtechniken, Schreiben und textile Handarbeit, sind sich ähnlich in dem Bild, das sie dem Betrachter bieten, der in die heterotopischen, bürgerlichen Innenräume des 19. Jahrhunderts blickt: das Bild einer still sitzenden Gestalt mit gesenktem Kopf, den Blick auf die Handgesten gerichtet, mit denen Text und Textil entstehen. Die sich im »tissu minutieux de Madame Bovary« (Charles Baudelaire)36 vollziehende Verquickung von visuellem Bild und (sprachlicher)

34 Brief an Louise Colet, 24. April 1852. Meine Hervorhebung. 35 Carol Rifelj spricht bezüglich Emmas Konstitution von Welt anhand der Bilder in ihren Keepsakes von einer Verbindung

zwischen »visual images and rhetorical

figure« und »the world and its presentation«. Carol Rifelj: »›Ces tableaux du monde‹: Keepsakes in Madame Bovary«, in: Nineteenth-Century French Studies 25, 3−4 (1997), S. 360–385. Hier: S. 380−381. 36 So Baudelaire in seiner Besprechung des Romans unter dem Titel »Madame Bovary par Gustave Flaubert« in der Zeitschrift L'Artiste vom 18. Oktober 1857. Charles Baudelaire: »Madame Bovary par Gustave Flaubert« (1857), in: C.B.: Œuvres complètes II, texte présenté, établi et annoté par Claude Pichois, Paris: Gallimard, 1

1976 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 76−86. Hier: S. 85.

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Metapher, geistigem Bild und erzähltem Gemälde, die zudem Teil eines ironischen Gefüges ist, sorgt dafür, dass den Flaubert’schen »images« nicht leicht beizukommen ist: Sie sind Teil eines Bilddiskurses, der sich auf jener dritten Ebene abspielt, auf der Warning den ironischen Diskurs verortet, und die ausschließlich über den vorausgesetzten komplizenhaften Wissensstand zwischen Autor und Leser* funktioniert und funktionieren kann.37 Diese beiden distanzierenden Verfahren − das zu Flauberts Markenzeichen gewordene rhetorische Verfahren der Ironisierung und das intermediale Verfahren seiner Bilderpraktik – haben ihren Ort außerhalb des Textes und nähren sich aus der heterotopischen Situation,38 in der Flaubert sich mit Madame Bovary seine Bildsprache erschreibt. Vollkommen zurückgezogen von der Welt arbeitet er wie ein Asket39 in seiner normannischen »Exklave« Croisset als einem »Außenraum innerhalb Frankreichs«,40 die der Flaubert-Schüler Guy de Maupassant folgendermaßen beschreibt: C’était une jolie maison blanche de style ancien, plantée tout au bord de la Seine, au milieu d’un jardin magnifique qui s’étendait par-derrière et escaladait la grande côte de Canteleu. Des fenêtres de son vaste cabinet de travail, on voyait passer tout près, comme s’ils allaient toucher les murs avec leurs vergues, les grands navires qui montaient vers Rouen ou descendaient vers la mer.41

37 *Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. Warning, »Der ironische Schein« (Anm. 31). 38 Rainer Warning: »Das kenternde Chavignolles: Flauberts Bouvard et Pécuchet«, in: R.W. (Hrsg.): Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München: Fink, 12009, S. 117–143. Hier: S. 118. 39 Jörg Dünne: Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne, Tübingen: Narr, 12003 (Romanica Monacensia, 65). 40 Warning, »Das kenternde Chavignolles«, S. 118 (Anm. 38). 41 Zitiert nach Jean Bariller: »Le procès de Madame Bovary«, in: Les Amis de Flaubert 45, Mai (1978), S. 30–34. Hier: S. 30.

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Die von einem Garten und von Wasser unmittelbar umgrenzte Residenz Flauberts,42 deren aus- und einschließende Mauern als Schreibstube in Maupassants Schilderung von den Rahen der vorbeifahrenden Schiffen markiert werden, stellt eine Heterotopie im Foucault’schen Sinne dar, einen beispielhaften Ort »pour vouloir dissiper la réalité avec la seule force des illusions«.43 Die Distanz des Ironikers Flaubert zur Welt seines Romans spiegelt sich in dieser räumlichen Distanz zur Normandie, zu Rouen, zu Paris und damit einhergehend zum Fortschrittsoptimismus und zur von ihm diagnostizierten bêtise des Bürgers wider. Es ist die Welt einer Gesellschaft, von der es sich radikal abzugrenzen gilt und die Flaubert in der Zeit, als er sich mit der Konzeption der ebenso umschlossenen Topographie seines Schauplatzes Yonville beschäftigt, in einem eigentümlichen Umkehrschluss als die eigentliche Heterotopie bezeichnet, nämlich als »une société comme un couvent«.44 Flauberts selbstgewählter Rückzug in sein Landhaus als einem solchen klösterlichen »espace autre« beeinflusst die Entstehung seiner verschriftlichen Bilder in erheblichem Maße: Der Schriftsteller verdoppelt sich in seiner Figur Emma, die er in einem Inklusorium zeigt, wo sie Bilder nacherzählt wie auch neu erschafft. Bilder sind das Rohmaterial, in dem Flaubert seine Eindrücke von der Außenwelt in den Innenraum hineinträgt, Bilder, die sich an der Schwelle dieses Innenraums, Croisset, brechen. Diese in Bildern gespeicherte Realität des Außenraumes, der Normandie, der Provinz, Rouens und seiner Bewohner erhält nunmehr als »tableaux du monde«,45 also in Form von imaginären (Erinnerungs-)Bildern, Eingang in Flauberts Inklusorium, wo sie schließlich als in der Sprache gezähmte, überformte und auf Hochglanz polierte Bilder in seinen Text

42 »Croisset était une agréable demeure du XVIIIe siècle bâtie au bord de la Seine. […] La maison, adossée à la colline, était encadrée par un jardin long et étroit, séparé du chemin de halage par un petit muret et une grille.« Senneville, Maxime Du Camp. Un spectateur, S. 68−69 (Anm. 8). 43 Michel Foucault: Les Hétérotopies/Die Heterotopien. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 12005, S. 51. 44 Flaubert prangert mit diesen Worten die republikanische Vorstellung von einer durchreglementierten Gesellschaft an; »[…] j’ai fait huit pages de ma deuxième partie: la description topographique d’un village«, Brief an Louise Colet, 4. September 1852. 45 Gustave Flaubert: Madame Bovary. Mœurs de Province, in: G.F.: Œuvres complètes III (1851−1862), Édition publiée sous la direction de Claudine Gothot-Mersch, avec la collaboration de Jeanne Bem, Yvan Leclerc, Guy Sagnes et Gisèle Séginger, Paris: Gallimard, 22013 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 147−458. Im Folgenden MB. Hier: S. 183.

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eingehen, dort verarbeitet, entwickelt werden. So führt es die Entstehung der berühmten Romanszene der »comices agricoles« vor Augen, für deren Darstellung von Viehmarkt und Verführungsdiskurs als »alternierende Montage«46 Flaubert in einem bei Louise Colet groß angekündigten Ausflug seine Exklave am 18. Juli 1852 verlässt, um einer Landwirtschaftsmesse beizuwohnen. Die Eindrücke dieser Messe speichert Flaubert lange Zeit als Erinnerungsbilder ab, die sodann ganz offensichtlich erst heranreifen müssen: Erst exakt ein Jahr später erfahren sie tatsächlich ihre literarische Umsetzung, als Flaubert am 15. Juli 1853 mit der langwierigen Arbeit an der Passage der Comices, dem achten Kapitel des zweiten Teils in Madame Bovary, beginnt.47 Während Flauberts Verfahren also darin besteht, reale Welten mittels einer Bild(er-)praktik in Romanwelten zu übertragen, zeigt er seine Protagonistin im Kampf mit einem umgekehrten Übertragungsverfahren, wenn sie Romanwelten und reale Welten miteinander zu verwechseln beginnt. Wolfgang Matz bezeichnet diesen umgekehrten Versuch Emmas, ihre Romanwelten auf die eigene Welt zu übertragen, als »Manie«, die darin bestünde, »alles unmittelbar auf sich selbst zu beziehen«48 und folglich die Schwelle nicht erkennen zu können, an der die ›Welt‹ zu ›Bildern von der Welt‹ gebrochen wird. Matz spricht von einer »Verdoppelung der Welt als eine moderne, bürgerliche Krankheit«, welche zwar von Lektüre »befördert« werde, jedoch »keineswegs von ihr her stammt«.49 Zugespitzt formuliert ist Emmas Problem also nicht nur ihr berühmtes Leküreproblem, sondern vielmehr ein grundsätzlich mediales,50 nämlich die Frage nach dem

46 Jörg Dünne: »Madame Bovary (Gustave Flaubert, Jean Renoir, Claude Chabrol). Ironische Negativität als intermediale Herausforderung«, in: Anne Bohnenkamp/Tilman Lang (Hrsg.): Literaturverfilmungen, Stuttgart: Reclam, 12005, S. 102– 114. Hier: S. 105. 47 Vgl. die Anmerkung von Thierry Laget zu den »Comices«: Madame Bovary, Édition par T. Laget, 2001, S. 196, 491, Anm. 1 (Anm. 20). 48 Wolfgang Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter, Frankfurt a.M.: Fischer, 12007, S. 96. 49 Ebd., S. 97. 50 Es handle sich dabei um das Problem des modernen »Medienmenschen«, wie Matz es fasst, der »zwischen Wirklichkeit und Fiktion nicht mehr unterscheidet« (ebd.). Aus Sicht der Medienwissenschaften würde man allerdings davon ausgehen, dass Menschen schon immer »Medienmenschen« sind; auch das behauptete Zusammenfallen von Wirklichkeit und Fiktion scheint mir an dieser Stelle recht vollmundig. Matz entwickelt sein Argument zur Medienproblematik in Flauberts Roman auch nicht weiter,

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Grenzverlauf zwischen der Wirklichkeit und ihrer medialen Reproduktion, bei der Text und Bild zueinander in Bezug gesetzt sind. Für dieses mediale Problem der Bovary findet Flaubert nicht nur das Bild der lesenden, sondern auch das der textil beschäftigten Figur, wobei beide dieser Praktiken als räumliche inszeniert werden, die nicht nur in einem Inklusorium stattfinden, sondern den geschlossenen Raum gleichzeitig mitherstellen.51 Die mediale Verdoppelung der Welt als ›falsche‹ Praktik der Bovary ist eine Praktik der Bildkopie (ein Sujet, das Flaubert übrigens in seinem Spätwerk mit den beiden Kopisten Bouvard und Pécuchet und deren Umgang mit Bücherwissen noch einmal ausführt): Emma konsumiert bereits reproduzierte, abgedruckte Bildvorlagen in Form von Illustrationen aus ihren Romanen und Keepsakes,52 mit denen sie die Außenwelt abgleicht, um diese Bilder als private Interpretation von Welt erneut zu reproduzieren. Der Clou des Textes besteht darin, dass dieses Bildmaterial, das die Protagonistin praktiziert, sich zu eigen macht und auf ihre Welt überträgt, Informationen von Räumen beinhaltet und Raumkonzepte bereits klischéehaft wiederholt. Mit der ›Lektürepraktik‹ der Bovary  von Beginn an als Bildlektüre angelegt, anhand derer Räume erlebt, erzählt und erschaffen werden  konstituiert sich Raum in Flauberts Roman in einer mise en abyme: Flauberts eigene Bilderpraktik doppelt in einem Dispositiv seines eigenen Schreibens dieselben kopierten Raummodelle, die die Heldin selbst konsumiert und treibt diese zugleich auf die Spitze. Flaubert kopiert selbst die Raummodelle seiner Bildvorlagen bzw. seiner eigenen Bildlektüren in die Raumstruktur seines Romans hinein, um sie dort immer weiter ineinander zu verschachteln und zu vervielfältigen. Die Bovary wird dabei im Roman in eben jenen Räumen gezeigt, die sie als Bildmaterial in ihren Büchern sieht und ›liest‹. Diese Raummodelle, in die der Text die Protagonistin einbettet, stellen selbst ein immergleiches Bild dar; sie lassen sich allesamt als Idylle beschreiben, ein im 19. Jahrhundert häufig auftauchender Begriff, der etymologisch »kleines

legt damit jedoch den Finger auf aktuelle deutsch-französische Forschungstendenzen unter dem Motto Flaubert et les images, bei denen unter anderem die Photographie in die beginnende Mediendiskussion zu Flaubert Eingang findet und die mit einer Journée d’études des Flaubert Zentrums München und des Centre Flaubert in Paris im Dezember 2011 mit einer Fragestellung zu Flauberts Querelles de l’image unter der Leitung von Anne Herschberg Pierrot und Barbara Vinken initiiert wurden. 51 Ich folge wiegesagt dem Praktikbegriff von Michel de Certeau, vgl. Anm. 12 und 21. Certeau, Arts de faire (Anm. 12). 52 Rifelj, »›Ces tableaux du monde‹« (Anm. 35).

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Bild« (»petit tableau/image«) bedeutet.53 Bei Flaubert stammen diese Idyllen aus verschiedenen literarischen Vorbildern und konkreten Texten, wie etwa der Binnengeschichte »Amor und Psyche« aus dem antiken Roman Der Goldene Esel von Apuleius, der Schäferidylle aus der Bukolik (etwa bei Vergil) sowie aus der christlichen Ikonographie: Der Raum der Jungfrau Maria ist die Idylle des Hortus conclusus, der geschlossene Garten, in dem sie stets bei zweierlei Beschäftigungen gezeigt wird, entweder bei der textilen Handarbeit, oder lesend, mit einem Buch in der Hand. Flaubert, so werde ich in den folgenden Kapiteln argumentieren, inszeniert die Bovary als eine solche Jungfrau im Garten. Den Effekt eines Dispositivs von übereinander gelegten Bildern, genauer noch, von Bildern von Räumen, wird dabei durch die Darstellung der Heldin in Szenen erreicht, die zunächst zu einem Bild eingefroren werden und das anschließend in beständiger Wiederholung auftaucht: das Bild von einer weiblichen Figur, die ab ihrer ersten Darstellung im Roman durchwegs in textiler Betätigung gezeigt wird, beim Nähen, Sticken und Stopfen.54 Dieses zutiefst traditionelle Bild von Weiblichkeit als Inszenierung textiler Handarbeit erfährt bei Flaubert eine zweifache Variation. Erstens wird es in einen neumodischen, kapitalistischen Diskurs des Handels und des Ruins

53 Hamon, Imageries, S. 23, 30, 37 (Anm. 6). 54 Die Frage nach Textil und textiler Handarbeit in Madame Bovary findet sich in der Forschung vielerorts aufgeworfen. Sie ist dabei meist in lediglich anmerkenden Hinweisen angerissen und in nur wenigen Aufsätzen selbst zum Thema geworden: A[?] M[?]Lowe: »Emma Bovary, a modern Arachne«, in: French Studies XXVI, 1 (1972), S. 30–41; Hans Staub: »Der Weber und sein Text«, in: Gerhard Buhr (Hrsg.): Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser, Würzburg: Königshausen & Neumann,

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1990, S. 533–553; Liana Nissim: »Les vêtements d’Emma: sexe

ambigu ou frénésie des modes?«, in: Frédéric Monneyron (Hrsg.): Vêtement et littérature, Perpignan: Presses Universitaires de Perpignan, 12001, S. 193–212; Christine Schmider: »›Être la matière‹: Gustave Flauberts Poetik des Materiellen«, in: Thomas Strässle/Caroline Torra-Mattenklott (Hrsg.): Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie, Freiburg: Rombach, 12005   

 Arachnes Rache. (Rombach Wissenschaften, 132), S. 55 Flaubert inszeniert einen Wettkampf im narrativen Weben: Madame Bovary, NotreDame de Paris und der Arachne-Mythos, Paderborn: Fink, 12007. Weiterhin: Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln: Böhlau, 12002 (Pictura et poesis, 9), S.29, und Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer, 12009, S. 123−125.

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eingefügt; zweitens und parallel dazu wird die histoire selbst mit Textilien aller Art förmlich überschwemmt, die den geschlossenen Raum der provinziellen Kleinstadt als (zumeist exklusive und damit teure) zirkulierende Waren nach Rouen und schließlich Paris hin öffnen, indem sie in dieser Bewegung (Handels-)Räume verbinden. Schreibend in seinem heterotopischen Inklusorium sitzend und zwar inmitten des textilen Zentrums im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Rouen, lässt Flaubert dabei seine Protagonistin interessanter Weise spiegelbildlich die eigene Pose einnehmen und verweist mit ihr auf das eigene Schreibverfahren: In seinen eigenen textilen Metaphern von Fäden, die verbunden werden und von seinem tissu, der entsteht,55 gibt er während der Arbeit an seinem Roman zu, dass textiles Handarbeiten und schreibendes Handwerk gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Nun ist die für den frühen Flaubert offenbar so zentrale Thematik textiler Handarbeit traditionell an einen geschlossenen Raum gebunden und in Erzähltexten grundsätzlich über eine zumeist sexualisierte, voyeuristische Blickinstanz als Bild gegeben. Texte des 19. Jahrhunderts nehmen dabei nicht nur auf klassische Topoi weiblicher Inklusion Bezug, die bis zu Homers Penelope zurückreichen, sondern sakralisieren deren profanen Kontext, indem sie das sogenannte »geistige Bild« des Hortus conclusus heraufbeschwören,56 durch das nun die Handarbeiterin als marianische Figur im Garten gezeigt ist – ein Bilderwissen, das als Gemeinplatz beim zeitgenössischen Leser vorauszusetzen war. Die inhaltlichen, historischen und poetologischen Charakteristika dieses marianischen Bildes in Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts sind im vierzig Jahre nach Madame Bovary entstandenen Ehebruchsroman von Theodor Fontane, Effi Briest, schön sichtbar, den ich in meiner Argumentation daher noch vor Madame Bovary in den Blick nehmen werde. Bei Fontane figuriert der Hortus conclusus als moralisierend-symbolischer Auftakt seiner Geschichte über eine unglückliche Ehe in einer Manier, die die Grenzen von Bild und Text in einer Logik von Original und (Bild-)Kopie im Topos des gefährlichen Lesens auflöst. Die Themata des geschlossenen Gartens werden echoartig in Semantiken des Schutzes, der Furcht und des Eingeschlossenseins in einer unglücklichen Ehe wiederholt, bestimmen

55 Vgl. zu Flauberts »textilem« Schreiben Hans Staub: »Der Weber und sein Text«, in: Gerhard Buhr (Hrsg.): Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser, Würzburg: Königshausen & Neumann, 11990, S. 533–553. 56 Nele Ströbel/Myrzik, Ulrike: Hortus conclusus. Ein geistiger Raum wird zum Bild, München: Deutscher Kunstverlag, 12006.

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die Narration jedoch nicht weiter. Flaubert dagegen entwickelt über den ersten und zweiten Teil seines Romans eine sehr komplexe Version des Hortus conclusus als normannisch-bürgerlichem Gartenraum zwischen Kuhdorf und romantischem Klischee. Er macht das Bild von textiler Handarbeit poetologisch produktiv: Es bestimmt nicht nur als Matrix die Raumkonstitution seines Romans, sondern verweist auf die Entstehung seines Textes selbst als ein textiles Erzählen in Bildergeschichten. Das Bild von textiler Handarbeit als klassisches Bild weiblicher Tugend entsteht in den Texten seit der Antike nicht nur durch den begehrenden Blick der männlichen Figuren, sondern auch durch das Schweigen der Figuren selbst, die diese grundsätzlich auktorial bzw. nullfokalisiert erzählten Handarbeitsszenen stets begleiten. Der Ort dieser Handarbeiten ist, wie es Fontanes berühmter Romanbeginn von Effi in der Laube zeigt, dabei der Garten; Flaubert erweitert und erhebt ihn − so soll in den folgenden Analysen deutlich werden − zu einem Gartenraum, indem er das aus der Ikonographie stammende Bild des Hortus conclusus zunächst semantisch doppelt und daraufhin mit weiteren Bildern aus anderen Raumkontexten, die aus verschiedenen literarischen Traditionen stammen, zu einem Bilddispositiv überlagert, das Raum paradigmatisch erzählt. In diesem Sinne ist von Flauberts Bilderpraktik zu sprechen, durch die Raum in Madame Bovary in Verfahren der Doppelung und Überlagerung in mehreren Schichten konstituiert und in seiner Semantik ironisch gebrochen wird. Dieses literarische Verfahren der copie und juxtaposition von Bildern erklärt Philippe Hamon in seiner Studie Imageries, littérature et image au XIXe siècle (2001) zum Grundprinzip des literarischen Schaffens moderner Autoren, bei dem das deplazierte, entwurzelte Bild in die Texte Eingang finde im Zusammenhang mit einem der neuen Bilderflut geschuldeten »nouveau regard« auf die Welt.57 Aktuelle Auseinandersetzungen mit dem Bild in Flauberts Texten bzw. deren Intermedialität folgen Hamon getreu,58 der von einer genuin bildhaften

57 Hamon, Imageries (Anm.6). 58 Die Équipe Flaubert des Institut des Textes et Manuscrits modernes der ENS, Paris, gibt die monatliche elektronische Zeitschrift Flaubert. Revue Critique et Génétique heraus, deren Ausgaben 11 und 12 von 2014 sich mit Les pouvoirs de l’image I/II bei Flaubert beschäftigen, etwa in Bezug auf den Spektakelbegriff von Jonathan Crary: Jeanne Bem: »Les dispositifs optiques au XIXe siècle et la production des images dans Madame Bovary«, in: Flaubert. Revue critique et génétique 11, 2014 [o.S.], oder zum ekphratischen Schreiben Flauberts: Françoise Gaillard: »›Elle avait lu Paul et Virginie‹ ou les moments parfaits d’Emma«, in Flaubert. Revue Critique et Génétique 12 (2014) [o.S.].

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Wahrnehmung u. a. durch den Aufschwung der Photographie im 19. Jahrhundert ausgeht, welcher den Blick des Bürgers zu einem Blick in Bildern mache. Diese Tatsache schlage sich in einer Literatur nieder, die nunmehr selbst in Bildern erzähle, wobei zwischen »images à voir« und »images à lire« zu unterscheiden sei.59 Hamons Schlusskapitel »L’image dans le texte« endet mit einer These zu Madame Bovary. Flauberts »Textrhetorik« stelle »les fonctions icôniques de l’image à voir« über eine vorgetäuschte Sabotage des »image à lire« wieder her, und zwar als Sieg des Textes über das Bild in einem Kampf der modernen Kunst gegen eine Flut (technisch) reproduzierter Bilder (»Le texte a fini par vaincre l’image«).60 Auf diese Weise, mit dem Ikonoklasten Gustave Flaubert, löst Hamon seine Frage nach einem »effet de réel« in den Erzähltexten des 19. Jahrhunderts, bei dem das Bild als »affiche«, also als »objet sémantique complexe« (»texte, image, signes, consignes«) und damit als realer Gegenstand beschrieben sei. Es gelange so als erneute Bildkopie in einer »modernen Ekphrasis« in die Texte der Realisten und Naturalisten: Moderne Mimesis sei nur noch als Kopie von Bildern möglich.61 Als Ort dieser »Iconosphère« weist Hamon die Straße (»la rue«) aus;62 die Frage nach der Konstitution jener Räume, in denen sich diese Bilder doppeln und überlagern und die mit den von Hamon recht schematisch aufgelisteten diversen (literarischen) Bildverfahren des 19. Jahrhunderts sehr offensichtlich einhergeht,63 wird jedoch nicht gestellt. Genau dieser Frage widmet sich vorliegendes Buch. Mit dem Argument eines »bildhaften Schreibens« Flauberts hat die aktuelle Flaubertforschung auf die Arbeiten von Liliane Louvel zu Text-BildVerhältnissen angespielt, die von »Ikonotexten« spricht und mit dem Begriff der »description picturale« die verschiedenen Grade an Bildhaftigkeit eines Textes

59 Hamon unterscheidet zwischen der Photographie als »art muet et industriel de fabriquer des images à voir bien réelles« und der Literatur als »art verbeux et artisanal de fabriquer des images à lire« (Hamon, Imageries, S. 41 (Anm.6)). Die reproduzierten Bilder als »Imageries« fungierten als eine neue, moderne Bedrohung für die Literatur, was sich nicht nur in neuen Erzähltechniken, wie dem Fragmentarischen, niederschlage, sondern überhaupt eine neue Lesart der Welt (durch die und in der Literatur) herbeiführe. 60 Ebd., S. 305. 61 Ebd., S. 166. 62 Ebd., S. 147 153. 63 Hamon spricht beständig von Verfahren der »juxtaposition« und »superposition« von Bildern im (Stadt)Raum, die als literarische Verfahren wiederholt würden.

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beschreibbar zu machen versucht. Einleuchtend scheint mir Louvels Idee, das Bild als Ereignis im Text zu verstehen.64 Mein Vorschlag, um noch weiter zu gehen, wird im Folgenden sein, das Bild grundsätzlich als Ereignis des Textes zu verstehen, das jene dritte, diskursive Ebene eröffnet (Warning), wo die Semantisierung als Bibliothek und Ikonothek Flauberts und des Lesers stattfindet.65 Daher ist auch die Frage nach Flauberts Bilderpraktik mit traditionellen TextBild-Begriffen  und so diagnostiziert es auch Hamon für die Realisten und Naturalisten  wie etwa der Ekphrasis oder dem Topos des Ut pictura poesis nicht oder nur unzureichend zu klären. Flauberts Versionen der Madonnenbilder eines Raphael oder der Odalisque eines Ingres als klischierte Kopien bei der Inszenierung von Madame Arnoux in der Éducation sentimentale, die in solch klassischen Text-Bild-Verhältnissen von Barbara Vinken beschrieben wurden (»Flauberts Texte sind mit Gemälden gegen Gemälde geschrieben«),66 sind im Sinne Hamons eine literarische Bilderpraktik der Moderne und damit, wie ich meine, jedoch irreduzibler Bestandteil der Flaubert’schen Ironie: »[L]’image triviale remplace la grande ekphrasis et l’image noble de la peinture historique, biblique ou mythologique«.67 Mit seinem Roman von 1857 erfindet Flaubert den von Hamon postulierten, jedoch nicht genauer untersuchten »neuen Blick« der Literatur auf die Welt in Bildern als poetologisches Verfahren einer raumkonstitutiven Bilderpraktik und erweist sich hierin als Initiator der Moderne. In meinen Analysen werde ich dem Bildmaterial seines Textes nachspüren und argumentieren, dass Hamons Differenzierung zwischen images à voir und images à lire sich für Flaubert gerade in

64 Liliane Louvel: Poetics of the Iconotext, hrsg. v. Karen Jacobs, übers. v. Laurence Petit, Farnham: Ashgate, 12011. 65 Zur Bibliothek Flauberts vgl. grundlegend Michel Foucault: »La bibliothèque fantastique«, in: Raymonde Debray-Genette (Hrsg.): Travail de Flaubert, Paris: Editions du Seuil, 11983, S. 103–122. 66 Vinken, Flaubert, S. 27; zu Gemälden bei der Einführung von Madame Arnoux in der Éducation sentimentale, S. 325 330 (Anm. 14). Zu Ut pictura poesis vgl. exemplarisch Gotthold Ephraim Lessing (1766): Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: G.E.L.: Werke in acht Bänden. Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, München: Hanser, 11974 (Bd. 6), und Hans Christoph Buch: Ut pictura poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukacs, München: Hanser, 11972, und zu Ekphrasis Peter Wagner (Hrsg.): IconsTextsIconotexts. Essays on Ekphrasis and Intermediality, Berlin: De Gruyter, 1

1996 (European cultures, 6).

67 Hamon, Imageries, S. 35 (Anm. 6).

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einer Ästhetik niederschlägt, die die Grenzen von Text und Bild konsequent verwischt. So besteht auch Flauberts Ikonothek aus sowohl ›realen‹ Bildern aus Kunsttraditionen, Gemälden und Buchillustrationen (wie Emma Bovary sie zur Hand hat), als auch aus imaginären Bildern, Bildern also, die man sich vorstellen muss und die sich dadurch definieren, dass sie einerseits von Texttraditionen herstammen und andererseits zu jenen ›realen‹ Bildern der (Bildenden) Kunst in einer engen Beziehung stehen. »La ›question de l’image‹«, um die Leitfrage aufzunehmen, die Hamon seiner Studie voranstellt, in Flauberts Debütroman führt meines Erachtens daher nicht (nur) über den »espace de musée«, wie es die französische Forschung in direktem Anschluss an Hamon und in Erweiterung des Foucault’schen Begriffs der »bibiliothèque« Flauberts vorschlägt,68 sondern vielmehr über die Instanz des erzählten Blickes. Denn was Hamon mit seiner Unterscheidung von images à voir und images à lire als intermediales Verfahren der literarischen Moderne ausmacht, steht unter der narratologischen Voraussetzung von showing und telling und damit unter der Voraussetzung moderner écriture. Noch bevor Genette das Flaubert’sche Bild anachronistischer Weise mit dem cinematographischen Bild des Kinos als »écran de la représentation verbale« beschreibt,69 findet Erich Auerbach mit seiner berühmten Analyse des dîner in Madame Bovary und der Behauptung des ›sehenden Lesers‹ eine schöne Beschreibung dafür, auf welch komplexe Weise sich Bilder in Flauberts Text erheben: [D]er Leser sieht zunächst Emma, von der auf den vorhergehenden Seiten viel die Rede war, und erst durch sie sieht er das Bild. […]Von ihr geht zwar das Licht aus, durch welches das Bild beleuchtet wird, aber sie ist auch selbst ein Teil des Bildes, sie steht darin. [Sie] sieht […] nicht bloß, sondern wird als Sehende selbst gesehen.70

68 Vgl. Anm. 50, 57 und 64. Foucault, »La bibliothèque fantastique« (Anm. 65). 69 Gérard Genette: »Silences de Flaubert«, in: G.G.: Figures I, Paris: Éditions du Seuil, 1

1966, S. 223–243. Hier: S. 228. James Winders spricht gar von Flauberts »›cinemat-

ic‹ effecty [of] a postmodernist«, James Winders: »Modernism, Postmodernism and Writing: Style(s) and Sexuality in Madame Bovary«, in: J.A.W.: Gender, Theory, and the Canon, Wisconsin: Wisconsin University Press, 11991, S. 72–93, insbes. II »Pictures of Emma«, S. 79–87. Hier: S. 80. 70 Erich Auerbach: »Im Hôtel de la Mole«, in: E.A.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern: Francke, 71982, S. 422–459. Hier: S. 450−451.

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Seit der frühen Flaubertforschung dient der Begriff des Bildes zur Beschreibung einer Poetologie, die man als visuelle Poetologie versteht und die von der Inszenierung jenes regard geprägt ist, der eng mit der narratologischen Frage nach dem von Flaubert ›erfundenem‹ style indirect libre zusammenhängt, also mit der Frage nach Fokalisierung, Perspektive und nach Flauberts, wie Proust sagt, »ewigem Imperfekt«.71 Text- und Bildtraditionen fallen in Madame Bovary in einer intermedialen Zitatpraktik zusammen, deren Voraussetzung narratologisch ist und die mit dem Begriff des showing gefasst werden kann. Percy Lubbocks Unterscheidung zwischen showing (»the reader is shown an event«) und telling (»the reader is told an event«)72 versteht den Rezipienten eines Erzähltextes entweder durch den personalen Erzähler als Betrachter oder, mittelbar erzählt, als Leser. Im Sinne der Unterscheidung von Mimesis (Darstellung) und Diegesis (einfache Erzählung) wird damit mit dem Betrachter (»is shown«) das Bild gegen – mit dem Leser (»is told«) – den Text gestellt. Der Begriff des showing, der prinzipiell also auch vom Begriff des imaginären Bildes ausgeht, das heißt sich auf Bilder verlässt, die man sich vorstellen, die man imaginieren muss, ist deswegen so hilfreich, da er eben auf der narratologischen Ebene ansetzt und damit dort, wo das Flaubert’sche Bild in einer Instanz entsteht, die Jean Starobinski »regard extérieur« nennt und welche es erlaubt, Bilder im Text als solche aufsteigen zu lassen. Mit Fokus auf Perspektive und Fokalisierung spielt der »regard« in all jenen zentralen narratologischen Studien zu Flaubert eine essenzielle Rolle – so etwa bei Auerbach,73 Genette,74 Raimond,75 Starobinski76 – und figuriert der Begriff

71 »éternel imparfait«, Marcel Proust »A propos du ›style‹ de Flaubert« (1920), in: M.P.: Contre Sainte-Beuve, Édition de Pierre Clarac, Paris: Gallimard, 11971 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 586−600. Hier: S. 590. 72 Percy Lubbock: The Craft of Fiction, London: Jonathan Cape, 21955. Lubbock behauptet, ein Schriftsteller »like Flaubert − or any other novelist whose work supports criticism at all − is so far from telling a story as it might be told in an official report, that we cease to regard him as reporting in any sense. He is making an effect and an impression, by some more or less skilful method«. Ebd., S. 63. 73 Auerbach, »Im Hôtel de la Mole« (Anm. 70). 74 Genette, »Silences de Flaubert« (Anm. 69). 75 Michel Raimond: »Le réalisme subjectif dans L’ Éducation sentimentale«, in: Raymonde Debray-Genette (Hrsg.): Travail de Flaubert, Paris: Seuil, 11983, S. 93–102.

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des Bildes (an vielen Stellen »image«, an manchen Stellen auch »tableau«), der dieser Wichtigkeit des Blickes Rechnung trägt. Es handelt sich um eben jene Bilder, die sich im Text Madame Bovary als textile und dabei raumschaffende Szenen erheben, indem sie zu unbeweglichen Bildern eingefroren werden. Diesen Einfrier-Effekt nennt Genette »effet d’immobilisation«, der über Blicke, über Momente der »contemplation«, entstünde und stets mit einem Schweigen der Figuren (»on ne parlait pas«) einsetze.77 Diese Stille, die das Bild generiert, ist nicht nur im Genette’schen Sinne eine Stille der Figuren, sondern ebenso eine Stille der Erzählerstimme, die eine dritte Betrachterposition erschafft. Auerbach (auf den Genette wie auch Starobinski verweisen) zeigt bereits in den 1940er Jahren, dass das Bild bei Flaubert eben nicht durch Begriffe wie etwa Figuration, Szene oder Tableau im Balzac’schen Sinne zu ersetzen ist, da es aus einer »présentation visuelle« (Genette, de Biasi)78 bzw. besser: einer Narratologie der Blicklenkung (Starobinski: »séries de perspectives«) resultiert anstatt aus einer (auktorial gegebenen) deskriptiven (Frontal-)Perspektive. Aus eben diesem Grund setzt Starobinski den Begriff der »description« von »Szenen« (»scènes«) in seiner Argumentation zu den Flaubert’schen Bildern konsequent in Anführungszeichen. Anhand der Abendessen-Szene in Madame Bovary analysiert Auerbach Flauberts showing als durch Blicke generierte Bilder: Das Bild – das heißt Emma und Charles zu Tisch – sei dem Leser erst mittelbar durch Emmas Augen gegeben, dann durch die Stimme des »Schriftstellers« und schließlich durch die Sicht auf sowohl Emma als auch Charles, welche das Bild fertigstelle. »[E]verybody looks at Emma, but nobody sees her« unterstreicht dagegen Frederik Tygstrup (2000) ein Paradoxon, das Peter Brooks (1993) ausmachte: Flauberts Text sei, so Tygstrup, »a representation of the desire to see«.79 Auf die Frage »Who saw?« findet James Winders (1991) die Antwort »on« (man). Wer nun »on« sei, könne jedoch nicht definiert werden − die Figuren? »everyone?«,

76 Jean Starobinski: »L’échelle des températures. Lecture du corps dans Madame Bovary«, in: Raymonde Debray-Genette (Hrsg.): Travail de Flaubert, Paris: Seuil, 1

1983, S. 45–78.

77 Genette, »Silences de Flaubert«, S. 234 (Anm. 69). 78 Pierre-Marc de Biasi: Gustave Flaubert. Une manière spéciale de vivre, Paris: Grasset, 12009. 79 Frederik Tygstrup: »Realisms: Images of the Body in Balzac, Flaubert, and Proust«, in: Orbis Litterarum 55, 6 (2000), S. 463–480. Hier: S. 471; Peter Brooks: Body Work: Objects of Desire in Modern Narrative, Cambridge: Harvard University Press, 1

1993.

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und was genau würde »everyone« sehen?80 Die erzählte Blickinstanz in Madame Bovary verlässt sich auf eben jenes »on«, das so schwer auszumachen ist, da es auf jener dritten Position verortet ist, wo die Ironie des Textes entsteht. Wer sieht, ist gerade nicht »everyone«, sondern ein vom Text selbst ironisierter, informierter Leser mit Bilder- und Textwissen. Folglich gilt es bei der Entstehung des Bildes in Madame Bovary zweierlei zu unterscheiden: Jenes Bild, das durch den stillen Blick einer Figur entsteht, also durch interne Fokalisierung, und jenes, das durch einen »externen Blick« gegeben wird (Starobinski: »à travers un regard extérieur«), welcher auf dritter Ebene stattfindet und es erst möglich macht, Emma »als Sehende zu sehen«. Sowohl Starobinski als auch Genette verweisen dabei auf den stets gesenkten Blick der Figuren selbst, der diesen Blick von außen in den Text einträgt. Das Bild der textil beschäftigten Emma Bovary ist in Flauberts Roman daher an keiner Stelle durch interne Fokalisierung gegeben, da die Figur bei dieser Tätigkeit den Blick auf ihre Arbeit gesenkt hält. In interner Fokalisierung, in der Emmas Imagination in Bildern erzählt wird, wird jedoch dies von ihr durch einen »externen Blick« gegebene Bild gedoppelt und angereichert, indem die Heldin sich selbst als ein solches – marianisches, mittelalterliches, romantisches – Bild zu sehen versucht. Sie nimmt hierbei auf eben jene Bildvorlagen Bezug, die der Text selbst zitiert und wiederholt diese, indem sie sie nachstellt. Insofern behaupte ich, dass der Erzähler Flaubert die Bilderpraktik seiner Protagonistin nicht nur selbst wiederholt, sondern mit ihr zur Schau stellt. Gleichermaßen zeigt die Protagonistin an, was der Text Madame Bovary dem Leser selbst abverlangt; wie Jacques Neefs es formuliert: Si Madame Bovary a suscité une telle fascination, à côté d’un rejet provoqué par le brouillage de la vue et des perspectives […] c’est assurément parce que le roman impliquait une participation mentale et sensible d’un type tout à fait nouveau.81

Zwischen dieser Verwirrung von Blickrichtungen, Perspektiven und der »mentalen Partizipation« des Lesers, von der Jacques Neefs hier in seiner Fortsetzung seines Aufsatzes zu Emmas imaginären Bildern,82 »Du réel écrit« (2007), spricht, erhebt sich das Flaubert’sche Bild als Ereignis des Textes. Wie nach ihm

80 Winders, »Modernism, Postmodernism and Writing«, S. 81 (Anm. 69). 81 Jacques Neefs: »Du réel écrit…«, in: MLA 122, 4 (2007), S. 697−712. Hier: S. 707. 82 Jacques Neefs: »L’espace d’Emma«, in: Michel Guggenheim (Hrsg.): Women in French literature. A collection of Essays. Saratoga: ANMA Libri, 11988 (Stanford French and Italian studies, 58), S. 169–180.

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Theodor Fontane seine Figur Effi Briest, inszeniert Flaubert Emma Bovary in ihrer textilen Beschäftigung als Bild, nämlich als Maria im Hortus conclusus, das in beiden Romanen an den Anfang gestellt und damit als Ankerbild ausgewiesen ist, auf das alle weiteren (intermedialen) Hinweise auszurichten sind. Bei Fontane geschieht dies als Exposition auf wenigen Seiten, bei Flaubert dagegen als Exposition, die sich auf den ganzen ersten Teil von Madame Bovary erstreckt. Bei Fontanes Bild von Effis textiler Handarbeit handelt es sich um ein tatsächliches, nacherzähltes Gemälde; es wird in auktorialer Erzählweise gegeben und ist damit im weitesten Sinne einer Bildbeschreibung als telling zu verstehen (the reader is told the image). Das Bild ist auch hier dem Leser als solches durch eine Blicklenkung angezeigt, die wie ein Kamerazoom funktioniert und von einer Vogelperspektive von oben ausgeht. Raum ist dadurch im Sinne Michel de Certeaus kartengleich, als Oberfläche erzählt,83 auf der die von oben betrachteten Gebäude (Haus, Kirchenmauer und See) als Linien eine geographische Geschlossenheit abbilden. Bei Flaubert hingegen the reader is shown the image: Das Bild von Emmas textiler Handarbeit wird schrittweise durch mehrere Bilder zusammengebaut, die der Text durch Ähnlichkeitsbezüge aufeinander verweisen lässt. Jedes Bild wird durch eine Blickgeste generiert. Entweder geschieht dies durch den Blick einer Figur, dem der Leser durch die Narration in interner Fokalisierung folgt; oder durch eine in der Narration im Wechsel der Fokalisierungen generierte dritte Position, von der aus gesehen wird und die mit dem Leser zusammenfällt. Flauberts Bilder von Emma sind also trotz ihrer ikonographischen Vorlage nicht ekphrastisch gegeben – dies schließt die personale Perspektive als showing aus. Die Entstehung des Bildes in Flauberts Text ist dabei durch mehrere ›BildSignale‹ angezeigt: Grammatikalisch als imparfait, mit dem die Zeit eingefroren wird (und die Genette im Begriff der »immobilité« fasst); durch die »silences« im Text, dem Schweigen der Figuren (»on ne parlait pas« wie Genette sagt); narratologisch als »regard externe« oder »regard interne« (interne Fokalisierung) durch die Blickgeste einer Figur auf eine andere, und schließlich durch das Signalwort voir in all seinen Variationen (Charles voyait/contemplait/l’adorait etc.), oftmals auch als on voyait, welches im Personalpronomen das vom Leser selbstständig zu leistende Aufrufen der Bilder signalisert, »comme si c’était des

83 Certeau, Arts de faire (Anm. 12).

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tableaux« (Louvel)84 – und es ist dieser Effekt, auf den Flauberts showing, seine Bilderpraktik, abzielt. Die Inszenierung textiler Handarbeit in Madame Bovary kann so allein durch ihren thematischen Inhalt ab dem zweiten Teil des Romans autark auf diese ›Initial-Bilder‹ anspielen, die im ersten Teil des Romans expositorisch eingeführt werden. Erst durch ihre anfänglich produzierte Eigenständigkeit bzw. mehr noch: Selbstständigkeit können und sollen die im Text gezeigten Bilder mit ›realen‹ Bildern abgeglichen werden, mit Gemälden, mit Illustrationen und Abbildungen. Dieser Abgleich geschieht – wie auch das Sehen von außen – auf einer narratologisch generierten dritten Ebene, weswegen Bilder in Madame Bovary eben nicht mit klassischen, medialen Text-Bild-Modellen beschrieben werden können, ebenso wenig wie die Ironie Flauberts Rainer Warning zufolge mit der klassischen Rhetorik eines Quintilian zu fassen ist. Flauberts Bild verlässt sich auf die Ikonothek, auf das Bilderwissen, das Referenzwissen des Lesers und ist hierin direkt mit dem ironischen Diskurs verbunden, welcher ebenso außerhalb des Textes funktioniert und den Leser mit einbezieht: Die illusio des ironischen Diskurses, die Ironie der Ironie, bedarf einer solchen dritten, wissenden bzw. sehenden Position gegenüber einer Erzählinstanz, die vollkommen hinter den zitierten Diskursen zurücktritt, diese selbst sprechen lässt und sie im Akt des Zeigens ironisch bricht. Diese Zitatpraktik, als welche Flauberts Bilderpraktik zu beschreiben ist, setzt extratextuelle Präsuppositionen voraus, die, wie Warning sagt, »dem Sprechakt vorausliegen«.85 Es handelt sich dabei um jenes diskursive Wissen, das sowohl aus Texten, als auch aus Bildern stammt und zu einem Referenzwissen verschmilzt. Text und Bild sind in Madame Bovary im Akt des Zeigens ununterscheidbarer Teil ein und derselben Zitatpraktik, die auf narrativer Ebene im showing verankert ist. Der Akt des Zeigens, der mit Flauberts Bilderpraktik und der Inszenierung textiler Handarbeit für seinen Roman zentral ist, wird mich am Ende dieser Studie auf das Problem der Deixis hinführen, das ich über die Verbindung von Hand und Faden ins Spiel bringe, um schließlich die Frage nach Flauberts textilem Schreiben zu stellen: Textile Handarbeit ist als Bild zu verstehen, bei dem man sich die Handgeste vorstellen muss, die den Faden führt. Erst die Betrachtung der Handgeste ermöglicht die Unterscheidung zwischen den Metaphern des Stickens und des Webens als voneinander abzugrenzende Techniken des Erzäh-

84 Liliane Louvel: »La description ›picturale‹; pour une poétique de l’iconotexte«, in: Poétique 112 (1997), S. 475–490. 85 Warning, »Der ironische Schein«, S. 294 (Anm. 31).

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lens; Flaubert lässt sich unter dieser Voraussetzung als vor allem ›stickender‹ und weniger ›webender‹ Erzähler beschreiben. Dem discours entspräche das Sticken als vertikale Geste. Michel Butor hat von Flauberts »écriture verticale« gesprochen,86 also einem paradigmatischen Schreiben. Die stickende Technik erfindet nichts neu, sie wiederholt, da sie nach einem Papiermuster Fäden in eine bereits existierende Oberfläche einträgt, die als glatte Oberfläche diese punktuellen Einzelstiche zunächst nicht preisgibt. Flauberts von ihm selbst (und seither von der Forschung) als textil ausgewiesenes Schreiben ist daher tatsächlich als Sticken und nicht – wie bisher geschehen – als Weben zu beschreiben.87 Der histoire hingegen entspräche die horizontale Handgeste, die das Syntagma, bzw. die Linearität eines Textes in der Metapher des Webens anzeigt, denn anders als beim Sticken wird beim Weben ein Textil und damit eine Oberfläche erschaffen, die es davor noch nicht gibt. Wie die Stickerin einen Kanvas, wie es in den Erzähltexten heißt, also ein Stück gewebten Stoffes bestickt, so ›bestickt‹ und schmückt Flaubert das syntagmatische Gewebe seines Textes mit Intertexten und verleiht ihm so Tiefe. Ich werde in diesem Sinne Ovids Metamorphose der Arachne, die vom Weben erzählt, unter einem anderen Gesichtspunkt lesen, als es in der Philologie Usus ist und argumentieren, dass es sich in Ovids Mythos um kein mimetisches, also nachahmendes Erzählen handelt, sondern um das Problem der inventio. Denn die Oberfläche, der ›Text‹, entsteht durch Arachnes und Minervas Weben, und zwar als Textil, das Bilder, Bildergeschichten, zeigt  jene Bildergeschichten, die in Flauberts Text als intermediales Verfahren die ›Oberfläche‹ generieren, die er mit seiner Geschichte »über nichts« neu beschreibt. Der Blick auf die Handgeste macht deutlich, dass eine Analyse des Textilen Erzählens sich ganz zentral mit den spezifischen Verbindungen zwischen Oberfläche und Textil, Linie und Faden auseinandersetzen muss. Überlegungen hierzu werden in meiner Studie mit den theoretischen Ansätzen des Literaturwissenschaftlers Hillis Miller und des Anthropologen Tim Ingold zur Linie entwickelt:88 Miller geht davon aus, dass die Linie eine Oberfläche voraussetzt, auf die sie aufgetragen wird. Die Linie kann also die Oberfläche niemals erschaffen. Er versteht die Linie als Linearität, in die die Wiederholung stets eingebaut ist und die dennoch stets unterbrochen werden muss (verknüpft, überlagert etc.), um Sinn stiften zu können. Das Bild der Linie sei der Faden. Mit Tim Ingold lässt sich über dieses klassische Verständnis von Faden und Oberfläche hinaus-

86 Michel Butor: Improvisations sur Flaubert (1984), Paris: Différence, 22005, S. 79. 87 Staub, »Der Weber und sein Text« (Anm. 55). 88 Hillis Miller: Ariadne’s thread. Story lines, New Haven: Yale University Press, 11992.

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gehen. Er argumentiert (in Abgrenzung zu Miller und vergleichbaren Positionen), dass die Linie zwar stets unter der Voraussetzung der Oberfläche gedacht wurde, dies aber keineswegs der Fall sein muss bzw. deren Verhältnis jedoch keineswegs einseitig zu betrachten ist. Vielmehr kann die Linie zweierlei sein: Faden oder Spur. Für die Spur steht ihm die Technik des Schreibens auf Papier, für den Faden stehen ihm alle textilen Techniken, die ihn zu der These leiten, dass sich diese Spuren in Fäden verwandeln bzw. Fäden sich in Spuren verwandeln können und dadurch Oberflächen entstehen oder aufgelöst werden. Mit dem imaginären Bild von der Handgeste, die vertikal oder horizontal ausgeführt wird, werde ich den Faden als Figuration der Handgeste verstehen: Der eingestickte Faden macht die Handgeste sichtbar, die ihn geführt hat. Als solche Figuration – oder eben »image«, wie Hillis Miller sagt – kann der Faden mit der Linie korrespondieren und somit das Textil mit einer Stadtkarte in Bezug gesetzt werden. So kann Emma Bovary mit ein und derselben Handgeste eine Stadtkarte von Paris bereisen wie auch ein besticktes Etui mit Geschichten beleben (indem sie die imaginären Handgesten seiner Stickerin nachvollzieht). In diesem Sinne gilt es, die Handgeste mit Horst Wenzel als eine deiktische Geste zu beschreiben.89 Der Begriff der Deixis geht dabei selbst von einem Bild (und nicht der Metapher) der Geste aus: Sie kommt in mittelalterlichen Stichen als erhobene Zeighand und ruhende Schauhand vor oder führt als kleines Ikon einer zeigenden Hand in illuminierten Schriften durch die Argumentation. Dabei kann die Handgeste allein noch nichts zeigen, sondern sie verweist als Bild auf Inhalte und macht deren Stellenwerte sichtbar, das heißt also: Sie zeigt Paradigma und Syntagma an. Die Verbindung von Handgeste und Faden, die für die textile Handarbeit konstitutiv ist, ist mit der Verbindung von Oberfläche und Textil zusammenzudenken. Nicht nur der Faden, auch die Linie ist als Figuration einer Handgeste in Bezug zu einer Oberfläche zu verstehen. Textil wie Stadtkarte stellen dabei Oberflächen dar, die gleichermaßen mit der Hand bzw. dem Finger in einem Parcours erfahren werden. Im Roman lösen sie die Bilderpraktik aus, die Raum erschafft. Mit einem Blick von oben – dem gesenkten Blick – werden Textil und

89 Horst Wenzel: »Deixis und Initialisierung. Zeighände in neuen und alten Medien«, in: Heike Gfrereis (Hrsg.): Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen: Wallstein, 12007 (Marbacher Schriften, 1), S. 110–143, und »Beidhändigkeit. Schauplätze und deiktische Gebärden in Bildern und Texten der Vormoderne«, in: H.W.: Deixis und Evidenz, Freiburg: Rombach, 12008 (Rombach Wissenschaften/Scenae, 8), S. 13– 41.

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Karte selbst zu Bildern, die Emma Bovary nicht nur mit dem Finger liest, sondern anhand derer sie sich selbst eigene Geschichten in imaginären Bildern erzählt. Die Protagonistin spiegelt darin den Autor: Flauberts gottgleicher »regard d’en haut« (oder eben auch: »regard externe«), wie Starobinski sagt und dabei den Stil der impersonnalité und impassibilité meint, auf die surface lisse seines Textes, Flauberts »retour à la surface« also,90 lässt Bilder erstehen, die er in seinem Text in eine diskursive Ordnung bringt. Wie seine Heldin in einem Inklusorium sitzend und von einem Garten umsäumt, erschafft Gustave Flaubert Bilder im wahrsten Sinne des Wortes: Er imaginiert auf eine radikal neue Weise.

90 Starobinski, »L’échelle des températures«, S. 72−73 (Anm. 76).

Madame Bovary: Industrialisierung und textile Diskurse

V ORBILDER Flauberts Geschichte in Bildern über seine ehebrecherische Heldin wird bereits von den ersten Lesern des Romans in Bilddiskursen besprochen, bei denen in einem fort von den images und tableaux des Autors die Rede ist. »L’art sans règle n’est plus l’art; c’est comme une femme qui quitterait tout vêtement« urteilt im Februar 1857 Staatsanwalt Ernest Pinard in seiner Anklage gegen Madame Bovary – Mœurs de Province, die da lautet: »outrage aux bonnes mœurs«1 und charakterisiert hiermit das »Skandalon« an Flauberts Text.2 Der Prozess um seinen selbsterklärten »Roman über nichts«, dessen Erscheinung in Buchform am 18. April 1857 im Journal de Rouen angekündigt wird,3 stellt sich für Flaubert allerdings als Glücksfall heraus: Der Autor wird freigesprochen und

1

Ernest Pinard: »Réquisitoire de M. L’Avocat Impérial M. Ernest Pinard (Procès intenté à l`auteur devant le Tribunal Correctionnel de Paris (6e chambre). Présidence de M. Dubarle. Audiences des 31 janvier et 7 février 1857. Le Ministère Public contre M. Gustave Flaubert)«, in: Gustave Flaubert: Œuvres complètes III (1851−1862), Édition publiée sous la direction de Claudine Gothot-Mersch, avec la collaboration de Jeanne Bem, Yvan Leclerc, Guy Sagnes et Gisèle Séginger, Paris: Gallimard, 22013 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 461−481. Hier: S. 481.

2

Christine Schmider: »›Être la matière‹: Gustave Flauberts Poetik des Materiellen«, in: Thomas Strässle/Caroline Torra-Mattenklott (Hrsg.): Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie, Freiburg: Rombach, 12005 (Rombach Wissenschaften, 132), S. 55−73. Hier S. 57.

3

Alfred Darcel: »La première critique sur Madame Bovary (21 avril 1857)«, in: Les Amis de Flaubert 46, Mai (1975), S. 41–42. Hier 42.

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über Nacht berühmt, sein Erstlingswerk zum Bestseller: Innerhalb von nur zwei Monaten werden 15.000 Exemplare des Romans verkauft.4 »Offenses à la morale publique et à la religion«5 ist das Vergehen, das nach Artikel 8 des Gesetzes vom 17. Mai 1819 (»outrage à la morale publique«) und dem erweiterten Artikel vom 25. März 1822 (»outrage à la morale publique et religieuse«)6 einklagbar ist. Findig wie ein Literaturwissenschaftler und in einem für das 19. Jahrhundert typisch emphatischen juristischen Stil7 versucht Pinard anhand ausgewählter Textpassagen, die er (vor)liest, den Vorwurf der Unmoral als »poésie de l’adultère«8 zu belegen. Zur Sprache kommen nicht nur das Verhältnis Emmas mit Rodolphe und Léon sowie Szenen aus dem ehelichen Schlafzimmer, sondern auch eine vorgebliche Verunglimpfung des christlichen Glaubens in Flauberts Text, wenn Emmas »volupté« selbst im Kloster, in der Kirche und auf dem Sterbebett das Unantastbare des Gebets und der heiligen Sakramente besudle. Auch über die berühmte Fiakerszene schimpft der Staatsanwalt, obwohl diese längst wie andere heikle Passagen (und oft gegen den ausdrücklichen Wunsch Flauberts) dem Rotstift Maxime du Camps zum Opfer gefallen ist, in dessen Zeitschrift, La Revue de Paris, Madame Bovary wenige Wochen vor dem Prozess zensiert erschienen war und dessen »scrupules«9 Pinard lobend in seiner Anklagerede erwähnt. Gerade in seiner Funktion als Vertreter der Interessen des Staates ist Pinard also vor allem eines: der erste textanalytische Leser von Madame Bovary. Seine Obsession, überall und in allem »volupté«, »lascivité« und nackte Haut zu sehen,10 fasst sich schön in seiner Allegorie der regellosen Kunst (»art sans règle«) als eine sich aller Kleider entledigenden Frau zusammen. Pinard scheint sich

4

Thierry Laget: »Préface«, in: Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Mœurs de Province, Édition présentée, établie et annotée par Thierry Laget, Paris: Gallimard, 12001 (Bibliothèque de la Pléiade). Hier: S. 7.

5

Pinard, Réquisitoire, S. 478 (Anm. 1).

6

Yvan Leclerc: Crimes écrits. La littérature en procès au XIXe siècle, Paris: Plon, 1

1991, S.19.

7

Jean Bariller schreibt über das Plädoyer des Verteidigers Sénard, dessen Stil nicht weniger emphatisch ist, als der des Staatsanwaltes: »[…] le style est emphatique, mais c’est le style judiciaire de l’époque«. Jean Bariller: »Le procès de Madame Bovary«, in: Les Amis de Flaubert 45, Mai (1978), S. 30–34. Hier: S. 33.

8

Pinard, Réquisitoire, S. 475 (Anm. 1).

9

Ebd., S. 472.

10 Leclerc nennt ihn »lecteur exemplaire, obsédé par la nudité, le déshabillage«. Leclerc, Crimes écrits, S. 42 (Anm. 6).

I NDUSTRIALISIERUNG

UND TEXTILE

DISKURSE

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beider Ebenen bewusst zu sein, die er aufmacht, wenn er sich einerseits auf das Kunstwerk als »femme qui quitterait tout vêtement« bezieht und damit andererseits auf den textinternen Diskurs des Ehebruches verweist, der an der Figur Madame Bovary verhandelt wird, die (wie er im Zitat zahlreicher Textstellen zu beweisen versucht) ständig entkleidet oder beim Entkleiden gezeigt wird. Es sei dahingestellt, ob sich der Staatsanwalt damit eine geistreiche Anspielung auf die von ihm zuvor zitierte Textpassage erlaubt, wo es über den Ehebruch Emmas mit Léon im Hotelzimmer heißt: »elle faisait d’un seul geste tomber ensemble tous ses vêtements; er verweist jedenfalls besonders auf diese Passage, wenn er über den Roman zusammenfassend von einer »peinture admirable sous le rapport du talent, mais une peinture exécrable au point de vue de la morale«11 spricht, in Metaphern also, die aus der Bildenden Kunst stammen. Was der Staatsanwalt anprangert, ist Flauberts »peinture réaliste«,12 welche darin bestünde, zwei Diskurse als »images« und »tableaux« übereinander zu legen, die um der öffentlichen Moral willen nicht vermischt werden dürften, nämlich sakraler und profaner Diskurs: L’offense à la morale publique est dans les tableaux lascifs que je mettrai sous vos yeux, l’offense à la morale religieuse dans des images voluptueuses mêlées aux choses sacrées.13

In Pinards Lektüreergebnis schließlich, das er selbst tatsächlich als »Textanalyse«14 ausweist, spricht er (parallel zu seinem sprachlichen Bild der regellosen, sich ausziehenden Kunst) von Flauberts Roman als Gemälde, »car, enfin, son roman est un tableau«. Die Narration als »mélange du sacré au profane« und von hier aus »le mélange du sacré au voluptueux«15 sei im »image voluptueuse«16 der ehebrecherischen Heldin Emma eingefangen; eine solche Vermischung stellt auch Pinards Terminologie dar, die Allegorie, Metapher, Gemälde und Bild bei der Besprechung eines Romans derart zusammenwirft, als sei einer Kunst aus Text ausschließlich mit Bildbegriffen beizukommen.

11 Pinard, Réquisitoire, S. 474 (Anm. 1). 12 Ebd., S. 477. 13 Ebd., S. 465. 14 »J’ai analysé le livre […] sans oublier une page«, Ebd., S. 477. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 475.

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Die Empörung des Staatsanwaltes macht in einer Argumentation, die Emma als laszive Ehefrau denunziert, sichtbar, in welchem Maße sich die bürgerlichen Werte und Vorstellungen von der weiblichen Rolle als Ehefrau und Mutter (Kinder – Küche – Kirche) an christlichen Vorstellungen orientieren. Diese Normative sind in Form von Leitbildern17 in der bürgerlichen Gesellschaft nur allzu präsent – Hamon spricht vom »bourgeois grand consommateur d’images«, der sieht, ohne zu verstehen – 18; man begegnet ihnen als reproduziertem Kitsch in den bürgerlichen Haushalten und als Kopien berühmter Gemälde in den Dorfkirchen.19 So markiert auch eine kitschige Marienstatue als »idole« mit apfelroten Backen und eine Heilige Familie in der Kirche von Yonville in einer totalen Perspektive das ganze Städtchen in Flauberts Roman. »[U]ne copie de la Sainte Famille, envoi du ministre de l’Intérieur, dominant le maître-autel […], termine au fond la perspective« eines sakralen Interieurs, das Flaubert detailreich beschreibt, wenn er als erstes Gebäude der Stadt diese Kirche vorstellt.20 Die Kursivsetzung weist als Zeichen der Ironie21 dieses Kirchengemälde als bürgerliche bêtise aus und attestiert damit gleichzeitig eine eben solche klischéehafte Idee der Familie, die sich als imaginäres, christliches Bild davon ableitet. In einer Parallelführung von weltlichen Strukturen (»ministre de l’intérieur«) und dem

17 Vgl. zu einer Analyse solcher Leitbilder im Zusammenhang bürgerlicher Normen in Fontanes Effi Briest Peter-Klaus Schuster: Theodor Fontane: Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, Tübingen: Niemeyer, 11978 (Studien zur deutschen Literatur, 55), und Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen: Ein Versuch, Frankfurt a.M.: Fischer, 12000. 18 Das »Auge« [»œuil«] des Bürgers sei angesichts der omnipräsenten Kopien von Bildern »vide, exorbité, déculturé, ahuri, grand ouvert sur des spectacles qui sont faits pour sa sidération mais qu’il ne comprend souvent pas.« Hamon Philippe: Imageries, littérature et image au XIXe siècle, Paris: José Corti, 12001, S. 22. 19 Vgl. zum Usus reproduzierter Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts den Klassiker aus der Kunstwissenschaft von Timothy Clark, der seine Argumentation mit eben dieser »Sainte Famille« aus Flauberts Madame Bovary eröffnet: Timothy J. Clark: The absolute bourgeois. Artists and politics in France 1848−1851, London: Thames and Hudson, 11973, wie auch Hamon, Imageries (Anm. 18). 20 MB, S. 212. 21 Vgl. zur Kursivsetzung bei Flaubert exemplarisch Claude Duchet: »Significance et insignifiance. Le discours italique dans Madame Bovary«, in: Claudine Gothot-Mersch (Hrsg.): La production du sens chez Flaubert, Paris: Union générale d’éd, 11975 (Colloque de Cerisy, Collection 10−18), S. 358–394.

I NDUSTRIALISIERUNG

UND TEXTILE

DISKURSE

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Interieur der Kirche wird das Gemälde zur Bild gewordenen Norm, auf die nicht nur der Blick des Kirchenbesuchers und Betrachters (»perspective«), sondern eine ganze Gesellschaft ausgerichtet ist, nämlich die Kirchengemeinde unter dem wohlwollenden Vorsitz des Innenministers von Frankreich, der ihr dieses Gemälde zum Geschenk gemacht hatte. Der präraffaelitische Maler John Everett Millais übrigens hatte die Idee, die Heilige Familie (1849−50) als Tischlerfamilie darzustellen und damit in einen profanen Raum zu verlegen; 22 diese Versetzung einer heiligen Szene in die schnöde Welt des Handwerks entrüstete Charles Dickens dermaßen, dass er die dargestellte Maria in seiner wohlbekannten Rezension über das Gemälde sogar als »French whore in a dance hall« beschrieb.23 Den für Aufruhr sorgenden präraffaelitischen Malern aus England wird Theodor Fontane bei der Darstellung seiner Ehebrecherin Effi Briest in marianischen Raumdiskursen gegen Ende des Jahrhunderts große Beachtung schenken.24 Pinard spricht in seinem Schlusswort von dieser »morale chrétienne qui est le fond des civilisations modernes« und wertet demzufolge auch den in Madame Bovary dargestellten Ehebruch als »un crime contre la famille«.25 Hatte Jules Michelet »die Liebe der Braut Christi in die bürgerliche Ehe […] überführt«,26 das heißt die Liebe der geweihten Jungfrau zu Gott als himmlische Ehe in ein direktes Verhältnis zu der Liebe der Gattin für ihren Mann gesetzt, so orientieren sich diese christlichen Leitbilder, aus denen sich die bürgerlichen Familienstrukturen, insbesondere der Ehe als Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung und damit ein Rollenverständnis der Ehefrau ableiten, im 19. Jahrhundert vor allem am Marienvorbild: Die heilige Mutter empfängt ihren Sohn von Gott als ihrem himmlischen Bräutigam und bringt so Glück und Heil auf die Welt. In einem erbaulichen Diskurs von Vorbild und Pflicht haben Begehren und volupté folglich nichts verloren; so stößt sich Pinard auch in erster Linie an der Klos-

22 John Everett Millais: Christ in the house of his parents (The Carpenter’s Shop), Öl auf Leinwand, 86,4 cm x 139,7 cm, Tate Gallery, London, 1849−50. 23 Rachel Teukolsky: The Literate Eye. Victorian Art Writing and Modernist Aesthetics, Oxford: Oxford University Press, 12009. Vgl. insbes. das Kapitel »Pre-Raphaelites: Exhibiting Time«, S. 91−98. Hier: S. 95. 24 Vgl. die Kapitel zu Effi Briest in diesem Buch. 25 Pinard, Réquisitoire, S. 480 (Anm. 1). Meine Hervorhebung. 26 Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer, 12009, S. 20. Michelets Buch mit dem sprechenden Titel resümiert einen weiblichen Diskurs der Zeit. Jules Michelet: La femme, Paris: Hachette, 11860.

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terszene,27 die Emmas Lektüreverhalten erzählt unter dessen Vorzeichen ihre spätere Ehe mit Charles steht.28 Die Öffentlichkeit in Gestalt Pinards zeigt sich daher gegenüber diesem aus christlichen Bildern abgeleiteten, nun erotischen Diskurs von Weiblichkeit, den Flaubert vorstellt und der sich aus dem Zusammenspiel von Sakralem und Profanem nährt, überfordert. Pinard erkennt zwar ganz offensichtlich diese oszillierende Bewegung des Diskurses, interpretiert sie aber als intentionalen Angriff auf Religion und Moral, bei dem die als Ehebruch glorifizierte Unmoral selbst in einem beinahe religiösen »Lobgesang« besungen sei. Gemäß Pinards Wortwahl wird sie in Flauberts Text zurückverbildlicht als »toujours le même coup de pinceau«:29 Er spricht von einer »glorification de l’adultère« und einem »cantique de l’adultère«,30 den Flaubert anstimme, wenn dieser wie ein Maler dem Leser als ›Betrachter‹ – und womöglich noch unverdorbenen jungen oder verheirateten Mädchen –31 diese »tableaux lascifs« von Ehebruch und verhöhnter Religion als »images voluptueuses mêlées aux choses sacrées« vor Augen stelle.32 Flauberts Verteidiger im Prozess dagegen, Maître Sénard, gibt – natürlich von diesem selbst in Kenntnis gesetzt – Pinards Vorwürfen Contra, indem er zunächst in eigenem ironischen Ton gleich zu Beginn seiner Rede auf die Unfähigkeit des Staatsanwaltes als Interpretator hinweist, der mitsamt dem »ministère public« wohl ganz offensichtlich Flauberts Ironie nicht verstanden habe.33

27 Pinard, Réquisitoire, S. 465 (Anm. 1). 28 Vgl. hierzu Carol Rifelj: »›Ces tableaux du monde‹: Keepsakes in Madame Bovary«, in: Nineteenth-Century French Studies 25, 3−4 (1997), S. 360–385. 29 Pinard, Réquisitoire, S. 467 (Anm. 1). 30 Ebd., S. 469. 31 »[L]es pages légères de Madame Bovary tombent en des mains plus légères, dans des mains de jeunes filles, quelquefois de femmes mariées«, Ebd., S. 479. 32 Ebd., S. 465. 33 »[Flaubert] appartiendrait à l’école romantique moins peut-être qu’à toute autre, car si le romantisme apparaît dans son livre, de même que si le réalisme y apparaît, ce n’est que par quelques expressions ironiques […], que le ministère public a prises au sérieux.« Jules Sénard: »Plaidoirie du Défenseur (Procès intenté à l`auteur devant le Tribunal Correctionnel de Paris (6e chambre). Présidence de M. Dubarle. Audiences des 31 janvier et 7 février 1857. Le Ministère Public contre M. Gustave Flaubert)«, in: Gustave Flaubert: Œuvres complètes III (1851−1862), Édition publiée sous la direction de Claudine Gothot-Mersch, avec la collaboration de Jeanne Bem, Yvan Leclerc,

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Yvan Leclerc resümiert diesen von Sénard diagnostizierten Interpretationskurzschluss: »Plaisante société qui juge pour outrage aux bonnes mœurs les livres sur les mœurs et accuse les écrivains de corrompre par la représentation de sa propre corruption« und verweist hiermit auf den Erwartungshorizont einer Zeit, in der die Literatur des mœurs im Sinne sittlich-moralischer Erbauung (noch) ausschließlich als nützliche Reflexion zu Moral und Unmoral rezipiert wird.34 So argumentiert Flauberts Verteidiger Sénard letzten Endes ebenso vor allem mit moralischen Gemeinplätzen, die die bürgerliche Erwartungshaltung in Diskursen von Nützlichkeit, Bildung und sozialer Klasse bedienen:35 Flaubert sei es darum gegangen, ein »résultat utile« zu erreichen »en mettant en scène trois ou quatre personnages de la société actuelle, vivant dans les conditions de la vie réelle, et présentant aux yeux du lecteur le tableau vrai de ce qui se rencontre le plus souvent dans le monde«,36 nämlich Ehebruch aus »mésalliance«. In erster Linie geschehe dieser jedoch nicht aufgrund einer unglücklichen Verbindung der Eheleute, sondern aus falscher Mädchenerziehung heraus: Emma hätte als Bauerstochter in ihrem Milieu verbleiben und keine bessere Erziehung genießen sollen, für die im Roman ihr Klosteraufenthalt steht. Bei all der hitzigen Diskussion um eine manifestierte falsche oder eben verweigerte richtige, moralisch-religiöse Anschauung Flauberts fällt ins Auge, dass sich sowohl Sénard, als auch und vor allem Pinard einer Sprache bedienen, die aus dem Bilddiskurs stammt.37 So ist in beständiger Wiederholung von Flauberts »peinture« die Rede, von den »images« und »tableaux« der Szenen, die Flaubert dem Leser und damit auch Pinard seinem Auditorium zeigt und vor Augen stellt.38 Es ist zwar von seinen »coups de pinceau« die Rede,39 an keiner Stelle aber – trotzdem beide Parteien uneingeschränkt Flauberts Stil rühmen – von den

Guy Sagnes et Gisèle Séginger, Paris: Gallimard, 22013 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 482−532. Hier: S. 484. 34 Leclerc, Crimes écrits, S. 38 (Anm. 6). 35 Vgl. insbes. zum Diskurs des »utile« Didier Philippot: Vérité des choses, mensonge de l’homme dans Madame Bovary de Flaubert, Paris: Champion, 11997 (Romantisme et modernités, 11), S. 244 247. 36 Sénard, Plaidoirie du Défenseur, S. 484 (Anm. 33). 37 Vgl. zum Einfluss von visuellen Medien und neuen Technologien auf die Wahrnehmung im 19. Jahrhundert Hamon, Imageries und Crary, Suspensions of Perception (Anm. 18). 38 Flaubert, so formuliert es Sénard bespielsweise, »montre une femme allant au vice par la mésalliance«. Sénard, Plaidoirie du Défenseur, S. 485 (Anm. 33). 39 Pinard, Réquisitoire, S. 466 (Anm. 1).

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coups de plume, von Flauberts berühmter Feder also, die er einer Besprechung Sainte-Beuves zufolge wie ein Skalpell führe.40 Die Praktik des Zeigens in anschaulichen Bildern, wie Pinard Flauberts Verfahren fasst, und Sénards Rede von deren Ironie weisen bei diesen beiden frühen, kritischen Lesern und Interpretatoren von Flauberts Text, die bei der Frage um religiöse und moralische Werte in Madame Bovary in entgegengesetzte Richtungen argumentieren, bereits auf eine neue Poetologie hin, die das Verhältnis von Sakralem und Profanen, von Bild und Text als Praktik des intentionierten Zeigens zu problematisieren scheint. Dabei stellt Pinards Allegorie der entkleideten Kunst, das in seiner Argumentation Genre und Diskurs verbindet, nicht nur die plakative Rhetorik und das Analyseergebnis des wider die Moral hin lesenden Staatsanwaltes aus, sondern spiegelt gleichzeitig einen erotischen Diskurs der Zeit, der in der Inszenierung des verhüllenden oder eben nicht verhüllenden Textils die Schönen Künste auf ihrem Weg zur Moderne prägt: Ehebrecherinnen aller gesellschaftlichen Schichten vom Ersten Kaiserreich bis zur Dritten Republik lüpfen den Rocksaum hinter zugezogenen Vorhängen, in mit Stoffbahnen, Kissen und Teppichen ausgestopften Boudoirs entledigen sich Prostituierte ihrer Jupons (so etwa in Flauberts Frühwerk Novembre, Balzacs Splendeurs et Misères des Courtisanes, Zolas Nana). Kutschen, Hotelzimmer, Gärten und Parks werden zu Orten der Verführung, wo sich entkleidete Frauen in Männermäntel hüllen oder den Blick auf bas und bottines freigeben (Madame Bovary, Feydeaus Fanny, Zolas Thérèse Raquin). Die Geste des Röckehebens ist das »tableau lascif« des Ehebruchs,41 auf dessen Inszenierung Pinard hinaus will: »point de gaze, point de voiles, c’est la nature dans toute sa nudité, dans toute sa crudité!«42 In der Lyrik der Parnassiens − Baudelaire, Gautier, Hérédia − wird die Wolllust metonymisch an der Inszenierung von Textilien verhandelt; »la volupté du corps est transférée au

40 Charles-Augustin Sainte-Beuve: »Causéries de lundi. Madame Bovary par Gustave Flaubert«. Zeitungsartikel in Le Moniteur Universel, 4. Mai 1857, Online-Dossier der Université de Rouen, hrsg. v. Emmanuel Vincent, 2006. 41 Michael Riffaterre: »Flaubert’s Presuppositions«, in: Naomi Schor (Hrsg.): Flaubert and Postmodernism. Papers presented at the Brown Univ. Flaubert Symposium, Nov. # $%"   6        !"  , Lincoln: Nebraska University Press, 11984, S. 177–191. 42 Pinard, Réquisitoire, S. 474 (Anm. 1).

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lin«,43 die verhüllende Funktion des Kleidungsstoffes wird dagegen umgekehrt und in ein textiles Dekor der Interieurs verlagert. Stoffe der Alkoven, Draperien der Fenster und Vorhänge der Kutschen inszenieren nun als textile Wand die Grenze zwischen einem Innen und einem Außen, zwischen einem privaten und öffentlichen, einem sakralen und profanen Raum. Textilien gereichen den Protagonistinnen zum Glück (Gervaise macht in Zolas L’Assommoire ihre eigene Wäscherei auf, Emma bekommt ein Reitkleid nach dem neuesten Chic für ihre Ausritte mit Rodolphe) und zum Unglück. Die marchande de toilettes (der gängige Euphemismus für Kupplerin) und der marchant d’étoffes, wie bei Flaubert die Figur des Wucherers mit dem sprechenden Namen Lheureux, bestimmen ihr Schicksal. In einer Zeit der Industrialisierung und des Hochkapitalismus (Walter Benjamin)44 verwandeln sich die weiblichen Figuren gar der textilen Ware an, indem sie selbst zur Ware, zu Objekten innerhalb des männlichen ökonomischen Systems werden,45 wie es Édouard Manets berühmtes Gemälde Déjeuner sur l’Herbe (1863) vor Augen stellt.46 Inmitten einer Idylle aus Bäumen, Gewässer und Blumen entspannen zwei vollständig bekleidete Herren in der Gegenwart zweier weiblicher Figuren, deren abgestreifte Kleider einen guten Teil des unteren Bildraumes einnehmen. Die vor dem Dunkelgrün der Vegetation hellblau leuchtenden Stoffe dienen als auffälliger Hintergrund für einen umgestürzten Korb mit Aprikosen, mit denen die beiden Damen der Szenerie in Verbindung gebracht sind: Begriffen und konsumiert wie schnödes Obst, verkommen sie in Manets Gemälde zur Ware unter dem männlichen Blick.47 In der Literatur wird in diesem Diskurs eines unglückseligen Konsums und Handels die Gegenüberstellung von Ehe und Ehebruch als Prostitution nunmehr enggeführt: Emma verschuldet sich beim Stoffhändler Lheureux und versucht bei ihren ehemaligen Liebhabern und sogar beim Notar von Yonville Geld einzuwerben um sich zu retten; Zolas Heldin Gervaise muss wegen der Trunksucht ihrer Ehemänner ihre Boutique (eine Wäscherei) aufgeben und steht kurz vor der

43 David Scott: »Écrire le nu: la transposition de l’image érotique dans la poésie française au XIXe siècle«, in: Romantisme 63, 1 (1989), S. 87–101. Hier: S. 98. 44 Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Zwei Fragmente, Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 11969. 45 Vgl. Mary Orr: Madame Bovary. Representations of the masculine, Bern: Lang, 11999 (Le romantisme et après en France, 3), S. 76. 46 Édouard Manet: Déjeuner sur l’Herbe, Öl auf Leinwand, 208 cm x 264 cm, Musée d’Orsay, Paris, 1863. 47 Zu Ware und Prostitution vgl. Benjamin, Charles Baudelaire, S. 85 90 (Anm. 44).

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Prostitution; Thérèse Raquin, Besitzerin einer ehemals gut laufenden Näherei, rutscht in die Prostitution ab; die schneidernde Marquise Aimée in Feydeaus Souvenirs d’une cocodette, Modeschöpferin und Liebhaberin eleganter Toiletten, tilgt ihre Schulden durch eine Affäre gegen Bezahlung. Dieser ökonomische Diskurs, in dem weibliche Erotik verhandelt wird, vermischt sich in der Kunst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem religiösen, eine Vermischung, die Pinard in Flauberts Roman mit dem Begriff der volupté ausmacht. In Abgrenzung zu den sentimentalistischen Diskursen der Romantik und den an christlichen Leitbildern ausgerichteten bürgerlichen Werten findet die Parallelführung von Ehe und Prostitution nun in den Bibelgeschichten von Eva und Maria ihre Entsprechung. Sie wird in der Zitation und Umbesetzung marianischer Topoi aus dem Marienleben und der Marienikonographie als Oszillieren der weiblichen Figur zwischen Hure und Heilige verhandelt. Mit dem »typologischen Komplex Eva/Maria«48 tritt nicht nur Sinnlichkeit und sexuelles Begehren an die Stelle der heiligen Mütterlichkeit und der idealen Liebe, bei der Maria als Garantin für ein Heils- und Glücksversprechen steht.49 Zusammen mit Maria und Eva und damit den Diskursen von Tugend und Sünde, Treue und Ehebruch, tritt mit den Gartenräumen des Hortus conclusus (Maria) und Paradieses (Eva) insbesondere eine ganz bestimmte Vorstellung von einem geschlossenen Raum zutage, in den diese Figuren eingebettet werden und der klassischer Weise zunächst die Tugendhaftigkeit der weiblichen Figuren schützen soll. Es sind die dort inszenierten Textilien und textilen Handarbeiten, die diese Räume und ihren grundsätzlichen um- und geschlossenen Charakter als Grenzmarkierungen zwischen einem Innen- und Außenraum sichtbar machen und markieren. Die unmögliche Permeabilität dieser Räume der Heldinnen wird nach der Zäsur der 1848er-Revolution in Frankreich in erster Linie sozialpolitisch als Klassenfrage formuliert, wie folgende Rezension zu Madame Bovary veranschaulicht und wie es auch das Problem der Bovary mit ihren Wünschen vom gesellschaftlichen Aufstieg bekundet. In einem Artikel aus der Zeitung Le Correspondant vom 25. Juni 1857 über Flauberts Roman, also als unmittelbare Reaktion auf seine Erscheinung in Buchform, führt der Journalist Armand de Pontmartin die von Pinard im Prozess monierte, amoralische Entwicklung der Literatur auf die Entwicklung einer

48 Schuster spricht vom »typologischen Komplex Eva/Maria – Paradies/hortus conclusus«. Peter-Klaus Schuster: Theodor Fontane: Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, Tübingen: Niemeyer, 11978 (Studien zur deutschen Literatur, 55), S. 4. 49 Vgl. Vinken, Flaubert (Anm. 26).

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ganzen Gesellschaft zurück. Der »Abstieg« des Romans am Beispiel Madame Bovary gilt dem Journalist als Symptom einer Zeit von Extremen, in deren Konsequenz er auch Flauberts Geschichte als »exaltation maladive des sens et de l’imagination dans la démocratie mécontente« deklariert. Pour que le roman arrive de la Princesse de Clèves […] à Madame Bovary […] il faut qu’il se soit accompli dans la société même des révolutions telles que pour peindre exactement ce qu’il avait sous les yeux ou pour plaire à ceux qui devaient le lire, le roman ait eu aussi à se déclasser, à passer d’un extrême à l’autre dans l’échelle sociale…50

Dieser scheinbare Niedergang und Verfall der Moral in der Literatur sei, wie der Artikel in einem bitterem Ton (und erneut in Bilddiskursen des Malens und des Blickes) behauptet, an der sozialen Degradierung des Personals des Romans von der Noblesse zur Bourgeoisie und damit der Verlagerung seines Schauplatzes vom herrschaftlichen Schloss auf den Bauernhof bzw. das bürgerliche Foyer festzumachen. Es liegt auf der Hand, aus welchem Grund de Pontmartin auf Madame de Lafayettes Princesse de Clèves zurückgreift, um seinerseits die »poésie de l’adultère« (Pinard) in Madame Bovary zu besprechen: Beide Romane sind Geschichten einer Ehe; Flauberts Ehebrecherin ist die tugendhafte Prinzessin als Antagonistin entgegengesetzt, deren Geschichte Emma Bovary eigentümlich umkehrt. Die verheiratete Princesse de Clèves nämlich widersteht ihrer Liebe zu Nemours und zieht sich schließlich als letzte Rettung ins Kloster zurück. Dies ist nun aber gerade der Ort, an dem, wie sich Pinard entrüstet, Emmas Verdorbenheit beginnt, als ihre erotischen Wünsche gerade innerhalb dieser heiligen Mauern im Bild vom himmlischen Gatten zum Ausdruck kommen (eine solche sexuelle Initiation des jungen Mädchens im Kloster stellt in extremer Weise Ernest Feydeaus Protagonistin Aimé in Souvenirs d’une cocodette, 1858, vor und natürlich Denis Diderots La religieuse, 1796). Die Debatte um die Ehebruchsthematik des realistischen Romans arbeitet sich, wie es der Zeitungsartikel in seiner Gegenüberstellung von La princesse de Clèves und Madame Bovary aufzeigt, an althergebrachten Diskursen hehrer Tugendhaftigkeit ab: Der Journalist wiederholt exemplarisch eine Argumentation, die er in Flauberts Roman selbst zwar zu vermissen behauptet, die aber als modellierendes Verfahren in Madame Bovary wie auch in anderen Ehebruchsromanen zu finden ist, und zwar als ein Verfahren ex negativo, das sich mit den klassischen Topoi weiblicher Tugendhaftigkeit auseinandersetzt, wie sie beispielsweise in La Princesse de Clèves vorkommen.

50 Zitiert nach Leclerc, Crimes écrits, S. 39 (Anm. 6).

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Einen solchen klassischen Topos stellt die textile Thematik dar: Mit dem Blick in die Privaträume der Heroinen rücken nicht nur die Textilien in den Vordergrund, die sie auf der Haut tragen, die sie waschen, flicken, nähen, im Garten auf die Leine hängen und im Schrank verstauen. Im Fokus stehen insbesondere jene, die sie tagtäglich auch in den Musestunden in den Händen halten und damit auch alle textilen Handarbeiten, die als Ausdruck von Persönlichkeit, innerer Gefühlswelt51 und nicht zuletzt gesellschaftlicher Position die Darstellung weiblicher Figuren in langer literarischer Tradition begleiten. Es handelt sich um Handarbeiten, »mit denen man sie als junge Mädchen zur Stille, Sauberkeit und Akkuratesse erzogen hatte«,52 die ihnen vertraut und damit privat sind und die sie in mehr oder weniger Geschicklichkeit und Können erfordernden Techniken als Strick-, Knüpf- und Stickarbeiten selbst herstellen. La Princesse de Clèves liefert für eine solche textile Inszenierung weiblicher Tugend und ehelicher Treue ein gutes Beispiel, und zwar als kategorische Abwehr eines Verführers, denn selbst diese geradezu mustergültig tugendhafte Prinzessin hält die Textilien der volupté in der Hand: Der erotische Diskurs, der sich in den Verführungsversuchen des Duc de Nemours entfaltet, denen die Prinzessin widersteht, findet sich an ihrer textilen Beschäftigung verhandelt. Zugleich wird der Raum, in der diese Beschäftigung stattfindet, als ein geschlossener Raum inszeniert, und zwar in einer Fensterszene, die den Verführer außerhalb und die weibliche Figur innerhalb einer Architektur zeigt, deren Grenze von einem Fenster markiert ist. So hat der Herzog große Mühe, in den Garten der Prinzessin einzudringen, die sich dort in einen Pavillon zurückgezogen hat: Les palissades étaient fort hautes, et il y en avait encore derrière, pour empêcher qu’on ne pût entrer; en sorte qu’il était assez difficile de se faire passage. Monsieur de Nemours en vint à bout néanmoins ; sitôt qu’il fut dans ce jardin, il n’eut pas de peine à démêler où était Mme de Clèves. […] Il se rangea derrière une des fenêtres, qui servaient de porte, pour voir ce que faisait Madame de Clèves.53

51 Thomas Röske: »Krankheitssymptom oder kritisches Aufbegehren? Stick-, Näh- und Häkelwerke aus der Psychatrie«, in: Tristan Weddigen (Hrsg.): Metatextile. Identity and History of Contemporary Art Medium, Emsdetten: Edition Imorde, 12010 (Textile Studies, 2), S. 51–61. 52 Ebd., S. 52. 53 Madame de Lafayette: La princesse de Clèves (1678), Édition de Jean Mesnard, Paris: Flammarion, 11996, S. 208.

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Als sich Nemours hinter einem der offenen Fenster, das gleichzeitig als Eingangstüre dient, versteckt hält »pour voir ce que faisait Mme de Clèves« (Betätigung)54 und beinahe von seiner flatternden »écharpe« verraten wird, bietet sich ihm folgendes Bild: Il faisait chaud, et elle n’avait rien, sur sa tête et sur sa gorge, que ses cheveux confusément rattachés. Elle était sur un lit de repos, avec une table devant elle, où il y avait plusieurs corbeilles pleines de rubans ; elle en choisit quelques-uns, et Monsieur de Nemours remarqua que c’était des mêmes couleurs qu’il avait portées au tournoi. Il vit qu’elle en faisait des nœuds à une canne des Indes, fort extraordinaire, qu’il avait portée quelque temps et qu’il avait donnée à sa sœur, à qui Mme de Clèves l’avait prise sans faire semblant de la reconnaître pour avoir été à M. de Nemours. Après qu’elle eut achevé son ouvrage avec une grâce et une douceur que répandaient sur son visage les sentiments qu’elle avait dans le cœur, elle prit un flambeau et s’en alla proche d’une grande table, vis-à-vis du tableau du siège de Metz, où était le portrait de Monsieur de Nemours ; elle s’assit et se mit à regarder ce portrait avec une attention et une rêverie que la passion seule peut donner.55

Nur leicht bekleidet widmet sich die Prinzessin der textilen Handarbeit: Sie knüpft, und zwar unter dem Porträt des Prinzen, den sie liebt (Emma näht unter dem Porträt der Minerva – so wird sie in den Roman eingeführt). Um sie herum stehen Körbe voll mit Material aus bunten Bändern in Nemours Turnierfarben, mit denen sie einen Gehstock verziert. Nemours entschlüsselt diese textile Beschäftigung sofort als erotische Ersatzhandlung: Er ist »tellement hors de luimême qu’il demeurait immobile à regarder«.56 Diese erotische Metapher des um einen Stock bzw. Baum gewundenen Textils in Nachahmung textiler Handarbeit wie dem Knüpfen oder Flechten findet sich 170 Jahre später bei Honoré de Balzac wieder; die Kurtisane Esther »enveloppa Lucien de ses bras comme un tissu qui, saisi par le vent, s’entortillerait à un arbre.«57 Doch nicht nur die Knüpferei der Prinzessin verschafft dem verliebten Nemours solche Lust: Das voyeuristische Moment ist innerhalb des Topos von tugendhafter Handarbeit zentral. Es geht stets einher mit einem geschlossenen Raummodell, wie im vorliegenden Falle dem umschlossen Garten, in den erst

54 Meine Hervorhebung. 55 Lafayette, La princesse de Clèves, S. 208 209 (Anm. 53). 56 Ebd., S. 209. 57 Honoré de Balzac: Splendeurs et misères des courtisanes (1838−1846), Édition de Pierre Barbéris, Paris: Gallimard, 11973, S. 137.

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mühevoll eingedrungen werden muss. Erst der männliche Blick von Außen ins Innere, also die visuelle Überwindung einer (sehr wohl nicht vollständig überwundenen) Schwelle, sexualisiert, da er ein begehrender Blick ist, die textile Geste des Knüpfens und damit die Handarbeit selbst: Nemours versteckt sich am Fenster »pour voir ce que faisait Mme de Clèves« (weibliche Betätigung; männlicher Blick):58 On ne peut exprimer ce que sentit Monsieur de Nemours dans ce moment. Voir, au milieu de la nuit, dans le plus beau lieu du monde, une personne qu’il adorait, la voir sans qu’elle sût qu’il la voyait, et la voir tout occupée de choses qui avaient du rapport à lui et à la passion qu’elle lui cachait, c’est ce qui n’a jamais été goûté ni imaginé par nul autre amant.59

Der Zusammenhang zwischen wiederholt erzähltem Blick (das Verb voir kommt hier in einer Klimax gleich fünfmal vor) und jenen doppelbödig formulierten »choses, qui avait du rapport à lui«, mit denen die Prinzessin beschäftigt ist, wird in der Inszenierung der textilen Handarbeit topisch: Es handelt sich um die Bedrohung der Tugendhaftigkeit einer traditioneller Weise unerreichbaren Dame und erinnert darin an die zumeist glücklose Werbung des Sängers um eine eingeschlossene Maid oder unerreichbare Herrin, wie man sie aus der mittelalterlichen Minne kennt. In Madame Bovary treibt eben dieser mittelalterlich-romantische Zusammenhang von tugendhafter textiler Handarbeit unter dem begehrenden männlichen Blick, so wie ihn der klassische Roman von 1678 erzählt, Léon zur Verzweiflung, als er Emma besucht, um um sie zu werben. Léons verbale Annäherungsversuche verlaufen vollkommen im Sande gegenüber Emma, die unter seinem sehnsüchtigen Blick konzentriert mit Nadel und Faden beschäftigt scheint. Bei Emmas Handarbeit handelt es sich jedoch um einen bloßen Vorwand, der dazu dienen soll, Léons Avancen abzublocken; Leon erkennt das sehr wohl, seine Frustration kanalisiert sich als Wut auf diese vorgetäuschte Beschäftigung. Elle entendit des pas dans l’escalier : c’était Léon. Elle se leva, et prit sur la commode, parmi des torchons à ourler, le premier de la pile. Elle semblait fort occupée quand il parut.

58 Meine Hervorhebung. 59 Lafayette, La princesse de Clèves, S. 209 (Anm. 53). Meine Hervorhebung.

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La conversation fut languissante, Mme Bovary l’abandonnant à chaque minute, tandis qu’il demeurait lui-même comme tout embarrassé. Assis sur une chaise basse, près de la cheminée, il faisait tourner dans ses doigts l’étui d’ivoire ; elle poussait son aiguille, ou, de temps à autre, avec son ongle, fronçait les plis de la toile. Elle ne parlait pas; il se taisait, captivé par son silence, comme il l’eût été par ses paroles. — Pauvre garçon ! pensait-elle. — En quoi lui déplais-je ? se demandait-il. Léon, cependant, finit par dire qu’il devait, un de ces jours, aller à Rouen, pour une affaire de son étude. — Votre abonnement de musique est terminé, dois-je le reprendre ? — Non, répondit-elle. — Pourquoi ? — Parce que... Et, pinçant ses lèvres, elle tira lentement une longue aiguillée de fil gris. Cet ouvrage irritait Léon. Les doigts d’Emma semblaient s’y écorcher par le bout ; il lui vint en tête une phrase galante, mais qu’il ne risqua pas.60

Die Blickgesten (voir), die in La princesse de Clèves eindrücklich das Bild als solches gegeben haben, fehlen in der Textpassage Flauberts gänzlich. Die Szene wird dagegen durch die Stille der Figuren (»Elle ne parlait pas; il se taisait«) zu einem Bild eingefroren, das zunächst im Imperfekt erzählt wird, um dann mit dem Einsetzen des Dialogs der beiden Figuren nach diesem als (so inszeniert es der Text) unangenehm lang empfundenen Schweigen wieder zu einer Szene belebt zu werden. Hier ist im formulierten Auftritt des Eindringlings wie auf dem Theater (»il parut«), bei dem zugleich die Zeit angehalten wird (Absatz), angezeigt, was der Leser an Léons Stelle nun vor sich sieht und mit seinem Bilder- und Textwissen außerhalb des Textes, auf einer dritten Ebene, abzugleichen hat. Bei der Inszenierung textiler Handarbeit, die aus heutiger Sicht augenscheinlich als bloßes Dekor in der Literatur und Bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts auftaucht, handelt es sich vielmehr, wie an diesen beiden Textpassagen deutlich werden sollte, um einen traditionellen Topos weiblicher Tugendhaftigkeit, der durch einen dabei stets figurierenden männlichen, begehrenden Blick als Bild gegeben wird. Mit diesem Bild wird gleichsam grundsätzlich ein als räumliche Geschlossenheit gezeigtes soziales Modell gesellschaftlichen Standes als Problem der Unerreichbarkeit mitgeführt. Seit Homer bereits widmen sich die weibli-

60 MB, S. 242.

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chen Figuren in ihren Privaträumen, die als solche konsequenter Weise vom öffentlichen Raum und damit von männlichen Eindringlingen abgeschottet sind, der textilen Beschäftigung des Stickens, Webens und Nähens. Seit Penelope, die sich der ehelichen Untreue erwehrt, indem sie in ihrer Kammer unausgesetzt webt und sich damit die Freier vom Hals hält, handelt es sich bei den in Texten inszenierten textilen Handarbeiten ganz gleich welcher Art um eine genuin tugendhafte Beschäftigung, die die eheliche Treue bzw. die Jungfräulichkeit des jungen Mädchens bewahren soll. Dabei ist es ausgerechnet der Ort des privaten Raumes, der die tugendhafte Handarbeit mit dem erotischen Diskurs verbindet: Dort, wo die durch das Sakrament der Ehe legitimisierte Sexualität stattfindet, wenn die Nadelarbeit aus der Hand gelegt wird, dort wird auch genäht, gewoben und gestickt, um eine ›illegitime‹ Sexualität durch Verführung und Ehebruch zu verhindern. In Homers Epos bereits wird diese tugendhafte Handarbeit sozialpolitisch als Zeichen von Penelopes hohem Stand vorgestellt, wie es daraufhin auch in der mittelalterlichen Minne zu beobachten ist. An der Handarbeit selbst ist bereits die gesellschaftliche Stellung der weiblichen Figuren abzulesen: Die ‚hohe Frau’ dort oben in ihren Gemächern oder in ihrem Turm stickt oder webt, während die Frau niederen Standes in ihrer Hütte spinnt oder flickt. Flaubert, der seine Heldin in ihren geschlossenen Räumen als flickende wie auch stickende Figur vorstellt, war bekanntlich in keinster Weise an einer moralisierenden Aussage seiner Ehebruchsgeschichte, im Sinne einer Madame de Lafayette etwa, gelegen. Angesichts der ihm vorgeworfenen Amoralität seines Textes als fehlender Erbaulichkeit der Geschichte durch sowohl impersonnalité und impassibilité als auch durch die Vermischung von profanen und sakralen Diskursen, bezeichnet er in einem seiner zahlreichen Briefe über den aktuellen Verlauf des Prozesses um Madame Bovary an seinen Bruder Achille seinen Roman als »ni immoral ni irreligieux«.61 Für ihn heiligte das Primat des Stils alle Mittel: »La morale de l’Art consiste dans sa beauté même, et j’estime par-dessus tout d’abord le style, et ensuite le Vrai«.62 Umso bitterer für den sich missverstanden fühlenden Flaubert, dass er sich durch diesen ihm unwürdigen Prozess quälen muss – der nebenbei Madame Bovary über Nacht zu einem »europäischen Ereignis« macht.63 Zuletzt lacht dennoch der Ironiker: Pinard sei, wie Flaubert zu

61 Brief an seinen Bruder, 6. Januar 1857. 62 Brief an Louis Bonenfant, 12. Dezember 1856. 63 Wolfgang Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter, Frankfurt a.M.: Fischer, 12007, S. 365.

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seiner großen Freude zugetragen wird, so geht die Anekdote, selbst Autor »de vers obscènes«.64

» LA COULEUR NORMANDE « DES T EXTILHANDELS

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Z EICHEN

Madame Bovary est surtout une fille d’une époque et d’une civilisation qui trouvent leur gloire à produire de la fonte, des locomotives, des toiles de coton, et des poètes désemparés par la vulgarité et la brutalité des temps, impuissants face au règne de la matière positive qui se substitue aux âges méditatifs. THIERRY LAGET65

Der Skandal um Madame Bovary war von Flaubert durchaus einkalkuliert – allerdings in einem anderen Zusammenhang. Im Frühjahr 1853 schreibt er an Louise Colet: »La seule chance que j’ai de me faire reconnaître, ce sera quand [la] Bovary sera publiée; et mes compatriotes rugiront, car la couleur normande du livre sera si vraie qu’elle les scandalisera.«66 Diese skandalträchtige Wahrheit als normannische Färbung seines Romans wird in einem Bezug zur Hauptstadt entwickelt, wenn sich die Heldin Raum anhand einer Stadtkarte von Paris zu erschaffen versucht und diese Stadtkarte zu ihrem einzigen stabilen Referenzsystem wird. Raumkonstitution im Roman geschieht mittels Emmas Wahrnehmung ihrer Räume als kategorisch geschlossene Räume, die an der Pariser Stadtkarte kulminieren: Räume rund um die fiktiven wie auch historischen Orte von Yonville bis nach Rouen, der normannischen Kapitale und Heimatstadt Flauberts, in die Emma im Roman regelmäßig mit der Postkutsche fährt, um ihren Geliebten zu treffen. Die Topographie des fiktiven Hauptschauplatzes Yonville konzipiert Flaubert in zwei kartographisch anmutenden Zeichnungen, deren Legende die Häuser und ihre Anordnung um das Viereck des den Ort wie ein Stempel markierenden Marktplatzes (»halles«) herum mit Groß- und Kleinbuchstaben nummeriert.67

64 Leclerc, Crimes écrits, S. 42 (Anm. 6). 65 Laget, »Préface«, Madame Bovary 2001, S. 14 (Anm. 4). 66 Brief an Louise Colet, [18.] April 1853. 67 Zur Analyse dieser Zeichnungen vgl. das Kapitel »Zwei Zeichnungen von Yonville«.

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Dort, in Yonville, erschließt die Protagonistin mit ihren Fingerspitzen die topographische wie auch kapitalistische Struktur der Großstadt Paris in einem den kartographischen Linien folgenden Fingerparcours und stellt so eine Verbindung zwischen dem Provinzstädtchen und der Kapitale her. Elle s’acheta un plan de Paris, et, du bout de son doigt, sur la carte, elle faisait des courses dans la capitale. Elle remontait les boulevards, s’arrêtant à chaque angle, entre les lignes des rues, devant les carrés blancs qui figurent les maisons. Les yeux fatigués à la fin, elle fermait ses paupières, et elle voyait dans les ténèbres se tordre au vent des becs de gaz, avec des marche-pieds de calèches, qui se déployaient à grand fracas devant le péristyle des théâtres.68

In dieser Lektüre der zweidimensionalen Stadtkarte, bei der Emma auf keinerlei Welterfahrung zurückgreifen kann, die nicht fiktional wäre, vollzieht sich ihre räumliche Doppelung der Welt. Der jahrelange Konsum von Romanen seit ihren Mädchenjahren, die Erfahrung mit fiktionalen Räumen also, prägt die Art und Weise, wie die Bovary im Roman die Zweidimensionalität einer Karte in einen dreidimensionalen Raum verwandelt. Sie legt dabei gleichzeitig den Finger auf aktuelle Veränderungen im Paris der 1830/40er Jahre: Die öffentliche Gasbeleuchtung in der Hauptstadt wurde im Zuge der Haussmann’schen Neustrukturierung der winkeligen Cité zugunsten geradliniger, sternförmig verlaufender Boulevards in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und Großhandels eingeführt.69 Der erzählte Raum in Madame Bovary steht damit auch unter dem Zeichen eines aktuellen Fortschrittsdiskurses, der insbesondere in der Textilhauptstadt Rouen eine große Rolle spielt, so wie es Flaubert als normannisches Charakteristikum in seinem Roman wie beiläufig unter anderem mit der Figur des Textilhändlers illustriert, der Emma ruinieren wird. Nun ist Madame Bovary in erster Linie, und so auch immer in der Forschung gelesen worden, eine Geschichte über falsches Lesen;70 Emma ist – in der Flaubertforschung längst ein lieu commun – ein kleiner Don Quijote,71 deren locura,

68 MB, S. 199 200. 69 Marc Ferro: 1801−1992. Chronologie universelle du monde contemporain, Paris: Nathan, 11993, S. 103. Vgl. hierzu auch Benjamin, Charles Baudelaire (Anm. 44). 70 Vgl. hierzu insbes. Vinken, Flaubert (Anm. 26). 71 Von Thibaudet bis Lukacs habe man stets auf dem großen Einfluss von Don Quijote auf Madame Bovary herumgeritten. Mario Vargas Llosa: L’orgie perpétuelle. Flaubert et Madame Bovary, übers. v. Albert Bensoussan, Paris: Gallimard, 11978,

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Fiktion und Realität zu verwechseln, zum Selbstmord führt. Anders als der Ritter von der traurigen Gestalt empfindet Emma in dieser medialen Täuschung die Bitterkeit der sich nicht realisierenden Wünsche vom sozialen Aufstieg und von romantischer Liebe immer vehementer. Ortswechsel – vom väterlichen Hof nach Tostes, von Tostes in das größere Yonville, von dort, zumindest einmal pro Woche, nach Rouen –, die zunächst stets eine Veränderung versprechen, lösen diese nicht ein. Entsprechend organisiert sich die Erzählung anders als im Don Quijote nicht am Wechsel von Schauplätzen als Brennpunkten,72 an denen Begegnungen zu neuen Geschichten und einem Vorantreiben der Intrige führen können. Die Verzweiflung der Figur resultiert gerade aus der Tatsache, dass die Protagonistin sehr wohl an verschiedenen Schauplätzen gezeigt wird, diese Ortswechsel und die damit verbundenen Begegnungen, etwa mit Emmas Liebhabern Léon und Rodolphe, jedoch nicht die geringste Veränderung herbeiführen, sondern die Heldin im Gegenteil auf diese Weise immerfort in ein und demselben räumlichen Konzept gezeigt wird, das sich durch eine kategorische Geschlossenheit auszeichnet. In der Fiktion, in Emmas Romanen, würden laut Flaubert sogar sehr weit voneinander entfernte Räume durch Liebhaber miteinander verbunden, die in den guten alten Zeiten vom Mittelalter bis zur Klassik zwischen Rom, Venedig und Paris, zwischen England und Frankreich ihre Pferde zuschande ritten und damit auf abenteuerliche Weise Räume eröffneten: »Ce n’étaient qu’amours, amants, amantes, […] postillions qu’on tue à tous les relais, chevaux qu’on crève à toutes les pages«.73 So wie sich Schauplätze als Orte im Certeau’schen Sinne

S. 119. Flaubert schreibt selbst zu diesem Einfluss: »Quand je m’analyse, je trouve en moi […] la place […] de don Quichote et de mes songeries d’enfant dans le jardin, à côté de la fenêtre de l’amphithéâtre.« Brief an seine Mutter, Konstantinopel, 14. November 1850. 72 Vgl. zur Organisation von Räumen im Roman Bachtins Begriff des Chronotopos, insbesondere den Chronotopos des Weges im Abenteuerroman. Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hrsg. v. Edwald Kowalski und Michael Wegner, Frankfurt a.M.: Fischer, 11989. Zum Don Quijote bei Bachtin: S. 193 194. Zur Organisation von Räumen im Don Quijote vgl. exemplarisch Heinrich Bihler: »Miguel de Cervantes Saavedra. El Ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha. ›Glanz und Elend‹ der Quijote-Deutung«, in: Volker Roloff (Hrsg.): Der spanische Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart: Metzler, 2

1995, S. 86–115. Insbes. S. 100 102.

73 MB, S. 181.

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erst durch eine vektoriale Bewegung in einen Raum verwandeln,74 das heißt durch die Verbindung miteinander, im Roman in einer Kutschfahrt beispielsweise, verwandelt Emmas Fingerreise den Ort Paris in einen Raum, wenn sie eine topographische Karte ebenso praktiziert, wie es ihre Romanhelden zu Pferde tun. Als Ersatz für das fehlende Verbindungsglied eines solchen Räume verknüpfenden amant-postillion stopft Emma in ihren textilen Praktiken, ihrer Handarbeit und dem manischen Ankauf von Textilien, die ihr gegenüber dem Referenzraum Paris leer und bedeutungslos erscheinenden eigenen Räume aus. Die Figur, die für diesen Zusammenhang steht, ist der Stoffhändler Lheureux, der von seinem ersten Auftritt an mit dem Postkutschendienst als Handelsvehikel in direktem Bezug steht und als Stellvertreter für unwahre Geschichten mit seinen »glücklich« machenden Attributen, Fiktion und Textil, die Möglichkeit der Verbindung von Räumen und die Versprechung einer »Zeit des Glücks« (L’heure – heureux) personifiziert. Unter Anleitung der Modeillustrierten, die sie sich aus Paris schicken lässt, kleidet Emma sich und ihre unmittelbare Umgebung ein in teure, modische Textilien, welche ihr der Handlungsreisende und Boutiquebesitzer auf Kredit verkauft. Ihre Wohnung inszeniert der Text somit wie ein »Gehäuse«, ein »Futteral«, in das die Heldin eingebettet ist, und offenbart auch hierin seine bürgerlichen Diskurse der bêtise. Mit dem Bürgerkönig Louis Philippe (an der Macht von 1830 bis 1848) bricht in Frankreich eine Epoche des Interieurs an, in der sich das Bürgertum mit der Anschaffung und einem geradezu eifersüchtigen Horten textiler Objekte einnistet, die als Waren nicht nur realen, sondern innerhalb der eigenen vier Wände insbesondere sentimentalen Wert haben. Walter Benjamin schreibt in seinen beiden Fragmenten zu Baudelaire: Seit Louis Philippe erkennt man im Bürgertum das Bestreben, sich für die Spurlosigkeit des Privatlebens in der großen Stadt zu entschädigen. Das versucht es innerhalb seiner vier Wände. Es ist, als habe es seine Ehre darein gesetzt, die Spur, wenn schon nicht seiner Erdentage, so doch seiner Gebrauchsartikel und Requisiten in Äonen nicht untergehen zu lassen. Unverdrossen nimmt es den Abdruck von einer Fülle von Gegenständen. Für Pantoffeln und Taschenuhren, für Thermometer und Eierbecher, für Bestecke und Regen-

74 Michel de Certeau unterscheidet zwischen Ort (lieu) und Raum (espace). Ein Ort ist als Ordnung von festen Punkten definiert, wohingegen ein Raum durch die Verbindung von Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit entsteht, also ein Ort ist, mit dem man etwas macht (lieu pratiqué). Michel de Certeau: L’ invention du quotidien. 1 Arts de faire, nouvelle Édition, établie et présentée par Luce Girard, Paris: Gallimard, 21990, S. 170 175.

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schirme bemüht es sich um Futterale und Etuis. Es bevorzugt Sammet- und Plüschbezüge, die den Abdruck jeder Berührung aufbewahren. ›Frappant ist‹, so schreibt Louis Sonolet über das Second Empire, ›die Vorliebe für Draperien und Wandbespannungen – die Konzeption, welche die Epoche vom Interieur hatte, steckt darin.‹ Dem Makartstil – dem Stil des Second Empire – wird die Wohnung zum Gehäuse. Er begreift sie als Futteral des Menschen und bettet ihn mit all seinem Zubehör in sie ein, seine Spur so betreuend wie im Granit die Natur eine tote Fauna. Es braucht dabei nicht verkannt zu werden, daß der Vorgang seine zwei Seiten hat. Der reale oder sentimentale Wert der derart aufbewahrten Gegenstände wird unterstrichen. Sie werden dem Blick entzogen, und insbesondere wird ihr Umriß auf bezeichnende Art verwischt. 75

Emma wiederholt dieses typisch bourgeoise Verhalten geradezu buchstäblich: Ihr Privatleben wird zu einer tatsächlichen Fingerspur auf der Cité, deren mediale Öffentlichkeit als Zeitschriftenartikel und Stadtplan sie zum imaginären, eigenen Privatraum erhebt. »Unverdrossen« nimmt auch sie mit ihren Fingern »den Abdruck von einer Fülle von Gegenständen«, die ihrerseits als Textilien »den Abdruck jeder Berührung aufbewahren«. Tatsächlich fungiert das Textil als Objekt in Flauberts Roman wie ein »fatales Requisit« auf dem barocken Theater der Schicksalsdramen:76 »[D]ie Leidenschaft selbst setzt das fatale Requisit in Aktion. Es ist nichts als die seismographische Nadel, die Kunde gibt von ihren Erschütterungen«, wie Benjamin in seinem Trauerspiel-Buch erläutert; es ist ein »Instrument«, das sich »fortdauernd virtuos im vordern Plane sich behauptet«.77 Textilien in Madame Bovary stehen als solche requisitartigen, praktizierten Objekte mit eigener agency in erster Linie für die textile Praktik der Heldin, mit deren Inszenierung Raum im Roman nicht nur erzählt wird, sondern gleichsam entsteht. In der Bewegung ihres Zeigefingers auf dem Stadtplan, der den Linien der Straßen folgt, und auf der Fädenstruktur der Textilwaren, die ihr Lheureux ins Haus bringt, stellt die Bovary eine Bewegung aus, die weit über die Anschaffung dieser Textilien im Sinne eines »besitzenden Bürgertum[s]«78 hinausgeht: Zum einen stellt sie ihre Textilien in unausgesetzter Handarbeit selbst her, oder sie näht sie zu Kleidern zusammen und stopft ihre Löcher mit Nadel und Zwirn.

75 Benjamin, Charles Baudelaire, S. 74 (Anm. 44). 76 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 11978, Kap. »Natürliche und tragische Schuld: Das Requisit«, S. 113. 77 Ebd. 78 Benjamin, Charles Baudelaire, S. 74 (Anm. 44).

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Zum anderen kann sie, anders als der Besitzbürger im Sinne Benjamins, über keinen stabilen, eigenen Privatraum verfügen, der dem öffentlichen Raum der Stadt – Paris – gegenüberstünde. Sie muss sich beide Räume in einer ständigen Oszillationsbewegung selbst schaffen. Über Lheureux und seine Textilien, die er nach Yonville bringt, schlägt Emma eine Brücke zwischen den Räumen, die als Textilien in ihren Händen nun haptisch greifbar werden. Lheureux, das aufreizend höfliche Finanzgenie, ist anders als alle anderen Bewohner von Yonville dazu in der Lage, Orte zu verbinden und damit Raum zu eröffnen. Als Wucherer, der mit seinem System der Ausbeutung durch Ware das kapitalistische System verkörpert, gelingt es ihm, das Handelssystem Yonvilles über dessen Transportwege zu monopolisieren, indem er seine eigene Postkutschenlinie nicht nur von Yonville nach Rouen etabliert, sondern nach Emmas Tod, für den er durch seine Wechsel (mit)verantwortlich ist, schließlich Yonville durch den fortgesetzten Handelsweg endlich mit Paris verbindet. Der Stoffhändler reist auf eben dieser Postkutschenlinie, die er später ausbauen und an sich reißen wird, zusammen mit dem Ehepaar Bovary und Körben von Waren in Yonville an.79 Die Kutsche selbst als gelber Behälter, als »coffre jaune porté par deux grandes roues«,80 der den Reisenden die Sicht nach draußen versperrt, wird bereits sehnsüchtig auf dem Marktplatz von Yonville erwartet. Sie war verspätet, denn man hatte Emmas Windhündin gesucht, die sich als einzige aus dem »gelben Kasten« befreit hatte und davongelaufen war. Nun ist es ausgerechnet Lheureux in diesem seinem ersten Auftritt im Roman und zugleich ersten Kontakt mit seiner späteren besten Kundin, der die verzweifelte Emma über den Verlust ihres Hundes mit als für wahr verkauften Märchengeschichten zu trösten versucht, die von der Verbindung und Öffnung von Räumen erzählen: M. Lheureux, marchand d’étoffes, qui se trouvait avec elle dans la voiture, avait essayé de la consoler par quantité d’exemples de chiens perdus, reconnaissant leur maître au bout de longues années. On en citait un, disait-il, qui était revenu de Constantinople à Paris. Un autre avait fait cinquante lieues en ligne droite et passé quatre rivières à la nage; et son

79 Zur Figur des Lheureux als neuem Vautrin in Zusammenhang mit einem ökonomischen Diskurs und dem Code Napoléon vgl. Mary Orr: Intertextuality. Debates and contexts, Cambridge: Polity Press, 22008, S. 76−93. 80 MB, S. 218.

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père à lui-même avait possédé un caniche qui, après douze ans d’absence, lui avait tout à coup sauté sur le dos, un soir, dans la rue, comme il allait dîner en ville.81

So wie sich Emma über ihr ereignisloses, mediokres Leben mit den Stoffbahnen trösten wird, die ihr Lheureux persönlich ins Haus bringt, erfüllt dieser bereits in dieser ersten gemeinsamen Szene die Rolle des scheinbar verständnisvollen Helfers, der sich als perfider Geschichtenerzähler entlarvt. Von Beginn an steht der Stoffhändler mit seinen Hundegeschichten nicht nur für die Weite zwischen zwei Welten, Konstantinopel (Istanbul) und Paris,82 Orient und Okzident,83 sondern für die mögliche Verbindung zwischen ihnen, die sogar ein Hund zu erlaufen fähig sei,84 und für eine Zeitlichkeit, die, so lang-weilig wie sie erscheinen mag, dennoch ein glückliches Ende in Aussicht stellt. Dieses Glück würde »eines Abends« durch eine haptische Erfahrung wie ein Schlag eintreten, als springe einem plötzlich ein Pudel auf den Rücken. So absurd dies klingt, so absurd erweisen sich Emmas Hoffnungen, die in dieser Lügengeschichte bereits angelegt sind, noch bevor Emma einen Fuß auf Yonvill’schen Boden setzt. Die Konzeption einer Raum- und einer Zeiterfahrung, die der Roman an der Figur Emma Bovary konsequent am Textil verhandelt und im Bild von ihr als textiler Handarbeiterin verankert ist, zeigt sich somit von vornherein an einen kapitalistischen Diskurs geknüpft. Dieser wird mit Lheureux als Handelsreisendem zwischen Yonville und Rouen in die textile Thematik rund um die Heldin eingetragen und ist von einer Textilindustrie geprägt, als deren traditioneller Standort die Normandie ihre Bedeutung in Bezug auf ganz Frankreich und damit

81 Ebd. 82 Flaubert konzipiert Lheureux offensichtlich nach einem Händler, den er auf seiner Orientreise in Konstantinopel getroffen hat. Er schreibt in einem Brief vom 30. Mai 1851 aus Venedig an Maxime Du Camp: »Aujourd’hui je suis entré chez un marchand d’orientalités (un Smyrniote) […]. Nous avons causé de Constantinople…« Hier zitiert nach Yvan Leclerc (Hrsg.): Correspondances. Flaubert−Le Poittevin, Flaubert−Du Camp, Paris: Flammarion, 12000, S. 255. 83 Konstantinopel selbst steht in seiner langen Geschichte als Tor zum Orient bereits für einen Schwellenraum zwischen den Räumen, zwischen Orient und Okzident. Für diesen Hinweis danke ich Katharina Pink, Projekt Travel Writing des Lehrstuhls Christoph Bode, Institut für Englische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. 84 Für Rivelj steht Emmas levrette, die Kutschfahrt und der Tröster Lheureux für eben jene »images of beautiful women«, die Emma aus ihren Keepsakes hat. Rifelj, »›Ces tableaux du monde‹«, S. 378 (Anm. 28).

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in Bezug auf Paris erlangt. An der textilen Handarbeit, mit der Emma Bovary ihre Tage zubringt, vollzieht sich nicht nur in den Nähmustern aus den Zeitschriften, nach denen sie ihre Kleider näht, eine Verbindung von Yonville mit Paris. Es kristallisiert sich gleichermaßen eine Entfremdung mit einem Raum und einer Zeit heraus, die die Protagonistin als »sans place précise, et comme n’existant pas«, als »hasard particulier où elle se trouvait prise« erlebt,85 ein ortlos gewordener Raum und eine willkürlich gewordene Zeit, deren einziges valides Referenzsystem Paris ist, eine zweidimensionale Kartenstadt aus Vierecken und Linien, die über die haptische Erfahrung des Fingers auf dem Papier zu einer Parallelwelt »entre ciel et terre«86 zusammengesetzt wird und darin an Flauberts Vorstellung von seinem Text selbst als freischwebendem Planeten »sans attache extérieur« erinnert. Madame Bovary entsteht unter einem aus dem Frankreich der Zeit nicht wegzudenkenden großen Einfluss der Industriellen Revolution, deren Neuerungen das napoleonische Regime in großem Maße prägen. Der dank privater Investitionen großformatige Ausbau eines Schienennetzes der Eisenbahn,87 das von Paris aus in ganz Frankreich hineinwächst, bindet im Jahr 1845 Rouen an Paris an.88 Lheureux’ Postkutschendienst nimmt am Ende der zeitlich etwas früher angelegten Geschichte des Romans diese neue Bahnverbindung als Handelsweg via Kutsche bereits vorweg und steht gleichermaßen exemplarisch für das anbrechende Zeitalter des »Hochkapitalismus«:89 Investitionen in die für die technische Entwicklung nötige Suche nach Rohstoffen, der daraus resultierende Imperialismus und die damit einhergehenden kulturellen und sozialen Veränderungen beeinflussen den Blick auf den Menschen in Bezug zu seiner Umwelt,90 deren Räume sich weiten. 1855 hinterlässt die Weltausstellung in Paris einen immensen Eindruck. Deren wichtigster Teil, die Halle über Textilproduktion, wird mit einem Preis ausgezeichnet; die größte Sensation ist die Nähmaschine, die ab

85 MB, S. 201. 86 Ebd. 87 Ferro, Chronologie universelle du monde contemporain, S. 96 (Anm. 159). 88 Jean Canu: »La couleur normande de Madame Bovary«, in: PMLA 48, 1 (1933), S. 167–208. Hier: S. 170. 89 Vgl. Benjamin, Charles Baudelaire (Anm. 44). 90 Marc Ferro: 1801−1992. Chronologie universelle du monde contemporain, Paris: Nathan, 11993, S. 80.

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1856 in die Massenproduktion geht.91 Im literarischen Umfeld erscheinen zahlreiche Zeitungsartikel, Abhandlungen und Manifeste über eine Rolle der Kunst in einer Zeit des als rasend schnell empfundenen industriellen Fortschritts. Hauptpersonal dieser »neuen Welt«, die auf der Schwelle zur Moderne in der Literatur neu kartographiert wird, ist das Bürgertum und mit ihm eine neue Gesellschaftsschicht, die das Prinzip des Kapitalismus zu ihrem raison d’être erhebt.92 Flauberts Madame Bovary gilt gemeinhin und mit Referenz auf den Untertitel Mœurs de province als Abbild dieser Gesellschaftsschicht, die sich herzlos und leere Phrasen produzierend in ihrer bêtise suhlt.93 Der Untertitel markiert einen Ort, der auf den ersten Blick weit von dem entfernt ist, was sich unter dem Begriff der industriellen Revolution in der Großstadt abspielt, jedoch unter deren Zeichen steht: die Provinz. So wird der Schauplatz YonvilleL’Abbaye als ein Ort erzählt, wo nichts passiert, an dem sich nichts verändert, von wo aus jedoch der Apotheker als Prototyp des fortschrittsbegeisterten Bürgers Artikel an die Zeitung von schickt, in denen er die abgeschottete Kleinstadt, die in der Tat zum Schauplatz einer Bauernverbandsmesse wird, auf geradezu universelle Weiten vergrößert: Où courait cette foule, comme des flots d’une mer en furie, sous les torrents d’un soleil tropical qui répandait sa chaleur sur nos guérets ? […] Du courage ! […] mille réformes sont indispensables, accomplissons-les.94

In der historischen Normandie als wichtigem Wirtschaftsstandort werden solche Fortschrittsdiskurse, wie sie Flaubert seiner Figur hier in den Mund legt, traditioneller Weise am Textil verhandelt. Der enorme Einfluss der Textilindustrie auf wirtschaftliche, räumliche und gesellschaftliche Strukturen in und um Rouen schlägt sich in erheblichem Maße in der Bourgeoisie nieder. Ein Großteil all jener Bürger, die in der Normandie des 19. Jahrhunderts Vermögen machen, haben dies der Textilindustrie und dem Importhandel von Baumwolle zu verdanken. Beinahe alle wohlhabenden Familien von Rouen und Umgebung finden

91 Ebd., S. 101, sowie Marta Caraion: Les philosophes de la vapeur et des allumettes chimiques. Littérature, sciences et industrie en 1855, Genf: Droz,

1

2008,

»L’exposition universelle«, S. 26 29. 92 Vgl. zum Bürger in der Moderne Benjamin, Charles Baudelaire, insbes. S. 107 112 (Anm. 44). 93 Vgl. zur Herzlosigkeit das Kapitel zu Madame Bovary in Vinken, Flaubert, insbes. S. 75 96 (Anm. 26). 94 MB, S. 285.

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als Händler oder Fabrikanten, Spinner oder Weber mit Stoffarten wie den sogenannten Indiennes oder Rouenneries in der Textilindustrie den Ursprung ihres Reichtums.95 Aus den Textilstädten Englands, wie etwa Manchester, genannt the Valley, gelangt ein neues, hoch entwickeltes, technisches Wissen zusammen mit der romantischen Literatur eines Walter Scott und der epochemachenden fashion über den Kanal in die normannische Hauptstadt. In der Normandie, seit jeher traditioneller Standort textiler Produktion, werden nun auf königlichen Erlass hin Flussläufe verändert, um an deren Ufern Spinnereien mit Wasserkraft bauen zu können, wie etwa in Lillebonne, einem kleinen Ort nord-westlich von Rouen, der sich im Rahmen einer intensiven Industrialisierungsperiode zwischen 1841 und 1846 wie viele seiner Art vom kleinen Weberstädtchen zum wichtigen textilen Standort entwickelt.96 Zu Nationalgütern erklärte verlassene Abteien97 an den Flussläufen werden zu Manufakturen, Wassermühlen zu Textilfabriken umfunktioniert.98 Zwar präsentiert sich Flauberts Schauplatz Yonville wie ein weißer Fleck auf der Landkarte, ein Nirgendwo, abgeschottet in einem Tal, eingekesselt von den Anhöhen der Plateaus, ein Ort, an dem sich nichts verändert, dessen Einwohner von allem Fortschritt nichts wissen wollen. Doch lässt der Fluss bereits drei Mühlen sich drehen, noch bevor man sich dem Dorfeingang nähert, YonvilleL’Abbaye trägt die am Wasser gebaute, als solche eben nicht mehr existente Abtei im Namen. Die größte Sehenswürdigkeit, die man sich im Schneetreiben an einem Sonntagsausflug ansieht, ist die im Aufbau begriffene Fabrik einer Spinnerei, die der Apotheker gerne mit einem Meterstab vermessen würde – das metrische System ist eine Neuerung der Zeit. Vor allem jedoch beherbergt dies Tal, das die Kleinstadt Yonville einschließt, mit Emma Bovary eine Hohepries-

95 Jean-Pierre Chaline: »Le Patronat cotonnier au XIXe siècle. Esquisse d’un groupe social«, in: André Dubuc (Hrsg.): Le Textile en Normandie, Rouen: Société libre d’émulation de la Seine-Maritime, 11975, S. 95−105. Hier: S. 95. 96 Vgl. etwa Gérard Hurpin: »Fileurs cauchois à la fin du XIXe siècle«, in: André Dubuc (Hrsg.): Le Textile en Normandie, Rouen: Société libre d’émulation de la SeineMaritime, 11975, S. 181–187. Hier: S. 181. 97 Ebd., und Yves Fouyé: »Une filature de coton dans l’abbaye de Fontaine-Guerard«, in: André Dubuc (Hrsg.): Le Textile en Normandie, Rouen: Société libre d’émulation de la Seine-Maritime, 11975, S. 173–180. Hier: S. 173. 98 André Dubuc: »L’Industrie Textile en Haute Normandie au cours de la Révolution et l’Empire«, in: A.D.: Le Textile en Normandie, Rouen: Société libre d’émulation de la Seine-Maritime, 11975, S. 131–152. Hier: S. 137.

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terin des Textilankaufs und der textilen Handarbeit und mit ihr die Figur des Kapitalismus im Zeichen der Textilindustrie schlechthin, den Stoffhändler Lheureux.99 Als Madame Bovary in den 1850er Jahren entsteht, kann die Textilindustrie in der Normandie auf ihre Kindertage bereits stolz zurückblicken; immer mehr Bürger bauen auf einen sozialen Aufstieg durch die Textilindustrie und deren kapitalistischen Strukturen. Wie Maupassant es formuliert: il pleut du coton.100 Seine literarische Normandie siedelt Flaubert zur Zeit seines eigenen Sturm und Drang an, während der Junimonarchie des liberalen Bürgerkönigs LouisPhilippe. 1843 vollendet er Novembre, eine ganz in der Tradition der Romantik verfasste, sentimentalistische Prosa über die ersten erotischen Erfahrungen eines jungen Mannes mit der Prostituierten Marie, eine Figur, die in ihrem Namen die Verbindung herstellt zu ihrer Nachfolgerin Emma, die Flaubert mitsamt ihrer textilen Beschäftigung nach marianischen Vorlagen konzipiert. Emmas und Charles erste Begegnung auf dem Bauernhof Les Bertaux ist (nach einem Vorschlag von Liana Nissim) auf etwa 1837 zu datieren.101 Die große Junirevolution von 1830, die die Restauration unter Louis XVI und Charles X beendet und das Bürgertum erneut an die Macht bringt, liegt bereits fast wieder ein Jahrzehnt zurück. Es ist der Beginn der Ära der Massenproduktion und reproduzierten Kunst, eine Blütezeit der Industrie, an deren Umwälzungen das Bürgertum sich bereichert und unter denen vor allem die Arbeiterschicht leidet. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert etabliert sich die Normandie, insbesondere das Pays de Caux, Schauplatz der Madame Bovary, als Zentrum der Textilherstellung, der toiles de coton.102 Die dortige Baumwollverarbeitung symbolisiert gegenüber der Wollspinnerei, die in ganz Europa bereits auf eine lange Tradition zurückblicken kann, »la modernité industrielle« Frankreichs,103

99

Details hierzu im Kapitel »Gartenräume«.

100 »Une pluie de coton«, Guy de Maupassant: Boule de suif (1880), introduction et notes par Marie-Claude Banquart, Paris: Librairie Générale Française, 11997, S. 45. 101 Liana Nissim: »Les vêtements d’Emma: sexe ambigu ou frénésie des modes?«, in: Frédéric Monneyron (Hrsg.): Vêtement et littérature, Perpignan: Presses Universitaires de Perpignan, 12001, S. 193–212. Hier: S. 205. 102 François Jarrige: Au temps des »tueuses de bras«. Les bris de machines à l’aube de l’ère industrielle, (1780−1860), Rennes: Presses Universitaires de Rennes, 12009. Speziell zum Pays de Caux: Dubuc, »L’Industrie Textile en Haute Normandie« (Anm. 98). 103 Jarrige, Au temps des »tueuses de bras«, S. 53 (Anm. 102).

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dessen ganzer Stolz die Qualität der Textilien ist,104 die es produziert. Die Nachfrage nach Textilien und Kleidung schießt in die Höhe, um 1820 wird Paris zur Modehauptstadt105 – immer in Konkurrenz zum Trendsetter England, das (noch) Textilien billiger produziert und dessen modischen Einflusses sich auch Flauberts Heldin nicht entziehen kann: Ihr elegantes Reitkleid aus schwarzem Tuch samt Hut und blauem Schleier, das Charles für ihre Ausritte mit Rodolphe bestellt, ist der letzte Schrei der fashion.106 Tatsächlich stammen alle Neuerungen der Textilindustrie aus England. Dort werden in den 1770er Jahren die ersten Web- und Spinnmaschinen erfunden, die seit dem Handelsvertrag beider Länder im Jahre 1786 über den Kanal in die Normandie verschifft werden und zusammen mit den neuen Herstellungsprozessen das Textilgewerbe revolutionieren. In Rouen und Umgebung lebt der Großteil der Bevölkerung von der Baumwollund Wollspinnerei; die Arbeit wird zu Hause erledigt, Händler holen die Ware zur Fertigstellung ab.107 Von 1780, als die erste Spinnmaschine in Rouen in Arbeit geht, bis 1814 vervielfacht sich dort die Anzahl der Spinnmaschinen auf rund 300 Stück. Das Handwerk der Spinnerei wird daher mehr und mehr von dem der Weberei abgelöst: Im Jahre 1848 weben 110 000 Arbeiterinnen zuhause per Hand, sechs Mal mehr als noch 1780.108 Sind im Textilgewerbe vor allem Frauen beschäftigt, so verschiebt sich dies mit dem Einsatz von Maschinen zugunsten der Männer, und auch Kinder werden in den Fabriken eingestellt – die vielen Aufstände der ArbeiterInnen gegen den Siegeszug der Web-, Spinn- und Schurmaschinen zum Walken von Tuch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben Geschichte gemacht. Zahlreiche Einbrüche in solche Fabriken, bei denen man die verhassten Maschinen zerschlägt, verbrennt oder im Fluss versenkt, zeugen von der tiefsitzenden Angst einer Bevölkerung, die vom textilen Handwerk lebt, vor Arbeitslosigkeit und Verarmung. Erst durch die Februarrevolution von 1848 wird – neben der Pressefreiheit – auch das Recht auf Arbeit eingeführt.109 Doch der Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Fabriken schießen wie die Pilze aus dem Boden, und so führt in Flauberts Roman über die Normandie auch Emmas Sonntagsspaziergang zu einer solchen in Entstehung begriffenen Fabrik.

104 Beispielsweise feines, schwarzes Tuch aus Sédan (drap noir de Sédan) oder die indiennes. 105 Jarrige, Au temps des »tueuses de bras«, S. 108 (Anm. 102). 106 Nissim, »Les vêtements d’Emma«, S. 209 (Anm. 101); MB, S. 289. 107 Jarrige, Au temps des »tueuses de bras«, S. 64 (Anm. 102). 108 Ebd., S. 40 41. 109 Ebd., S. 53.

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Ils étaient tous, M. et Mme Bovary, Homais et M. Léon, partis voir, à une demi-lieue d’Yonville, dans la vallée, une filature de lin que l’on établissait. […] Rien pourtant n’était moins curieux que cette curiosité. Un grand espace de terrain vide, où se trouvaient pêle-mêle, entre des tas de sable et de cailloux, quelques roues d’engrenage déjà rouillées, entourait un long bâtiment quadrangulaire que perçaient quantité de petites fenêtres. Il n’était pas achevé d’être bâti, et l’on voyait le ciel à travers les lambourdes de la toiture. Attaché à la poutrelle du pignon, un bouquet de paille entremêlé d’épis faisait claquer au vent ses rubans tricolores. Homais parlait. Il expliquait à la compagnie l’importance future de cet établissement, supputait la force des planchers, l’épaisseur des murailles, et regrettait beaucoup de n’avoir pas de canne métrique, comme M. Binet en possédait une pour son usage particulier. Emma, qui lui donnait le bras, s’appuyait un peu sur son épaule, et elle regardait le disque du soleil irradiant au loin […].110

Während der fortschrittsbegeisterte Apotheker Homais darauf bedacht ist, auf die Zukunftsträchtigkeit dieser Spinnereifabrik hinzuweisen, weist sie der Text als langweiligste Sehenswürdigkeit der Gegend aus. Am Ende des Romans wird Emmas Tochter nach dem Tode ihrer Mutter, nun bei einer verarmten Tante lebend, von dieser in eine ebensolche Textilfabrik geschickt werden, eine Baumwollspinnerei: »Elle [la tante] est pauvre et l’envoie, pour gagner sa vie, dans une filature de coton.«111 Auch hier ist nicht viel von einem stolzen Fortschrittsdenken des Normand gegenüber den Errungenschaften der Textilindustrie zu spüren. Berthe verrichtet die Arbeit der Ärmsten und ist damit gesellschaftlich noch tiefer gesunken als ihre Mutter, die auf einem recht stattlichen Gehöft aufgewachsen war. Die Ironie von »gagner sa vie« zu sprechen liegt jedoch insbesondere darin, dass ein langes Leben der ohnehin schon seit Kindesbeinen an lungenkranken Berthe mit dieser körperlich anstrengenden und aufgrund der erheblichen Staubemission gesundheitsschädigenden Arbeit sicherlich nicht beschert sein wird.112 Ganz zu Beginn des Romans wird der junge Charles in Rouen im Hause eines Färbers in der Nähe einer Baumwollherstellung untergebracht. An Sommerabenden pflegt er aus dem Fenster seiner Studentenbude zu schauen, wo sich ihm ein für die Stadt historisch typischer Anblick bietet: In der Straße spielen die Dienstmädchen Federball, während sich die Arbeiter ihre Arme im Fluss abwa-

110 MB, S. 238. 111 Ebd., S. 458. 112 Vinken, Flaubert, S. 117 (Anm. 26).

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schen, der durch Rouen fließt; an Dachstangen trocknen anders als im Winter auf Gestellen in den Dachböden nun, im Sommer, Baumwollbahnen unter freiem Himmel: La rivière, qui fait de ce quartier de Rouen comme une ignoble petite Venise, coulait en bas, sous lui, jaune, violette ou bleue, entre ses ponts et ses grilles. Des ouvriers, accroupis au bord, lavaient leurs bras dans l’eau. Sur des perches partant du haut des greniers, des écheveaux de coton séchaient à l’air.113

Charles’ Vater hatte bereits im Boom des rouenaiser Textilgewerbes sein Glück gesucht. Ohne das geringste Knowhow »il […] se lança dans la fabrique«.114 Doch das Geschäft mit der Fabrikation von indiennes, bunt gemustertem Tuch aus Baumwolle, das zu Beginn des 19. Jahrhundert groß in Mode kam,115 führt zu seinem Ruin, nachdem er bereits in den ersten Ehejahren mit der Tochter eines bonnetiers, Charles’ Mutter, die stattliche Mitgift aus dem Kapital des schwiegerväterlichen Textilhandels durchgebracht hatte.116 In Flauberts Roman wird der in historischen Fortschrittsdiskursen gefeierte Aufstieg der Textilindustrie in und um Rouen, auch und besonders mit der Figur des Stoffhändlers, von Beginn an gerade nicht als Reichtum und Glück bringende, positive Entwicklung verhandelt, sondern in einem durch und durch ruinösen Zusammenhang von Unglück, Armut und bitteren Schicksalsschlägen. So ist die Heldin des Romans auch eine solche unglückliche Figur, die mit ihrer textilen Handarbeit zuhause sitzt und mit jenen ruinösen Objekten in Kontakt kommt, die den historischen Diskurs der Zeit Flauberts spiegeln: Textilien aller Art, die nun schneller, in großen Massen, günstiger und sauberer verarbeitet werden können und das professionelle Handwerk revolutionieren, das mit der maschinellen Herstellung verbunden ist, Hüte (chapellerie),117 Bänder (rubannerie), indiennerie,118 das Zuschneiden von Stoffbahnen und Schneidern von Kleidern. Konfektionsgrößen werden eingeführt, Stoffe nun maschinell bedruckt, auch die Herstellung von bunten Tapeten erfährt einen Boom:119 Denn das maschinelle Bedrucken von Stoff liefert nun eine Grundlage für die Revolution der Papier-

113 MB, S. 157. 114 Ebd., S. 154. 115 Jarrige, Au temps des »tueuses de bras«, S. 23 und 101 (Anm. 102). 116 MB, S. 154. 117 Jarrige, Au temps des »tueuses de bras«, S. 108 (Anm. 102). 118 Ebd., S. 23 und 101. 119 Ebd., S. 100−109.

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herstellung, damit auch des Buchdrucks und löst damit wiederum einen Boom des (journalistischen) Schriftstellertums aus: 1850 hat sich die Anzahl von verlegten Veröffentlichungen in Frankreich innerhalb von 30 Jahren von knapp 4000 auf etwa 1100 mehr als verdoppelt. Es gibt kaum noch eine Druckerei, die ohne Maschine arbeitet, das Jahr 1846 verzeichnet allein 25 Tageszeitungen:120 Die Verbindung von Text und Textil, in Sprache und Literatur längst topisch, vollzieht sich historisch im Handwerk des Druckwesens. Madame Bovary spiegelt als Geschichte über die Normandie in ihren Details die Realität der dort angesiedelten Textilindustrie wider und erscheint als Fortsetzungsroman in einer jener ins Leben gerufenen und dann wieder verschwindenden Zeitschriften, La Revue de Paris, die das neue Druckwesen möglich macht und die das Jahrhundert des Feuilleton-Journalismus prägen. Der Roman als »weibliches« Genre wird dort als Fortsetzungsgeschichte nun im »männlichen« Genre journalistischer Publikation aufgenommen:121 etwa in den ein breites Publikum erreichenden illustrierten Familienblättern wie der Gartenlaube, in der Theodor Fontane publiziert,122 oder der ideenkritischen Revue des deux mondes. Deren Konkurrenzzeitschrift, La Revue de Paris, wird von jenem Maxime du Camp mitherausgegeben, der mit Flaubert auf Reisen war und nun als Journalist und Photograph in Paris lebt. Bereits ein Jahr vor Flaubert hatte dieser auch als Literat bereits erfolgreich publiziert: einen Gedichtband mit dem vielsagenden Titel Les champs modernes.123

120 Ebd., S. 86 87. 121 Leclerc, Crimes écrits, S. 45 (Anm. 6). 122 Vgl. Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des poetischen Realismus, München: Fink, 11998. 123 Marta Caraion: Les philosophes de la vapeur et des allumettes chimiques. Littérature, sciences et industrie en 1855, Genf: Droz, 12008, »L’exposition universelle«, S. 21.

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»N ORMANDISMES «: M ADAME B OVARY L A R EVUE DE P ARIS

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Ces flocons légers qu’un voyageur, Rouennais pur sang, avait comparés à une pluie de coton, ne tombaient plus. Une lueur sale filtrait à travers de gros nuages obscurs et lourds […],

so heißt es zu Beginn der berühmten Kutschfahrt in Boule de suif (1880) aus der Feder von Flauberts normannischem Landsmann und Schüler Maupassant.124 Maupassant wie auch Flaubert, der sich in seinen Briefen als Normand par excellence zu inszenieren pflegt, sind als Kinder der Normandie sozusagen bereits per definitionem textil geprägt: Der Normanne, so geht das Sprichwort, wird mit einem Hanfkorn in der einen und einer Eichel in der anderen Hand geboren; Hanffasern, bekannt für ihre Widerstandsfähigkeit, sind bis weit ins 19. Jahrhundert hinein und bereits lange bevor Baumwolle importiert wird, der wichtigste Rohstoff für die Herstellung aller Arten von Textilien;125 die Eiche symbolisiert als Baum, der sehr alt werden kann, Standhaftigkeit, Kraft und Dauer: »On dit que les Normands naissent avec un grain de chénevis dans une main et un gland dans l’autre. Le chénevis devient chanvre et le gland chêne d’où la potence«.126 Flaubert ist als Vollblut-Normand in Rouen geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Als er sich nach Croisset zurückzieht, um zu schreiben und nicht mehr aus dem Haus zu gehen, nimmt er die detailreichen Eindrücke seiner Heimatstadt und ihrer Umgebung, das Pays de Caux, das Andelle-Tal, die er wie seine Hosentasche kennt, mit in die Kammer.127 Doch anstatt die Textilindustrie

124 Marie-Claude Banquart bezeugt in ihren Anmerkungen zu diesem Text: »La plus grande activité économique à Rouen était la filature et le tissage du coton importé brut d’Amérique.« Maupassant, Boule de suif, S. 45, Anm. 2 (Anm. 100). 125 Alain Becchia: La draperie en Normandie du XIIIe au XXe siècle, Mont-SaintAignan: Publications de l’Université de Rouen, 12003, S. 11. 126 Lucien Andrieu: »Les Greniers étentes de Rouen«, in: André Dubuc (Hrsg.): Le Textile en Normandie, Rouen: Société libre d’émulation de la Seine-Maritime, 1

1975, S. 41–56. Hier: S. 31.

127 Zur »couleur normande« in Madame Bovary als Geographie der Normandie sowie als Cauchois’scher Lebensstil vgl. die minutiöse Zusammenschau von Jean Canu: »La couleur normande de Madame Bovary«, in: PMLA 48, 1 (1933), S. 167–208. Die Textilindustrie findet in diesem Aufsatz dagegen keine Erwähnung.

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als ganzer Stolz des Normannen im Sinne eines nationalistischen Fortschrittsdenkens im Roman zu heroisieren, wie dies im Text der Bürger Homais stellvertretend für seine Landsleute tut, wenn er eine »filature de lin«128 auf dem Sonntagsspaziergang vor lauter Ehrfurcht und Begeisterung mit einem Meterstab vermessen möchte und zukunftsträchtig nennt, entwickelt Flaubert an der Textilindustrie eine Raum- und Zeitwahrnehmung in einem Roman, mit dem die »couleur normande« gerade als Entfremdung von der Welt im Zeichen der Hauptstadt erzählt wird. Flauberts Verhältnis zu Paris ist seit seinem gescheiterten Jurastudium nicht das beste. Nicht einmal die dort lebende Louise Colet (seine Geliebte und Brieffreundin) kann ihn in die Hauptstadt locken, im Gegenteil: Seit dem Umzug seiner Eltern von Rouen ins Landhaus Croisset im Jahre 1843 hält sich Flaubert – auch aufgrund der erlittenen mysteriösen Nervenkrisen – von Paris fern.129 Von Croisset aus jedoch unterhält er als, in den Worten Maxime Du Camps, »pauvre garçon claquemuré dans sa vie solitaire, se transportant de Rouen à Croisset et de Croisset à Rouen, rêvant les espaces«130 eine rege Korrespondenz nach Paris. So wird es Du Camp in seinen Briefen an den Freund nicht müde zu versuchen, ihn zu einem Umzug in die Hauptstadt zu bewegen. Aus dieser Konstellation heraus – Flaubert in der »Provinz«, wie Du Camp es nennt, und Du Camp in Paris – kristallisiert sich in einem heftigen Briefwechsel zwischen den beiden Literaten ein Streit an dem entstehenden Text Madame Bovary, der über zwei sehr gegensätzliche Auffassungen von Kunst sowie von einer Schreib- bzw. Publikationspraxis ausbricht.131 Maxime du Camp definiert in seiner Kunst des l’art pour l’art die Moderne über den Fortschritt, dessen begeisterter Befürworter er ist132 und als dessen Ort er in seinen Briefen immer wieder Paris ausweist. Die »neue Schule« einer Literatur der Moderne, die Du Camp im Zusammenhang mit der industriellen Revo-

128 MB, S. 238. 129 Sh. hierzu Gérard de Senneville: Maxime Du Camp. Un spectateur engagé du XIXe siècle, Paris: Stock, 11996, und das Kapitel »Briefe an Louise Colet« in: Vinken, Flaubert, S. 44 58 (Anm. 26). 130 Maxime Du Camp: Souvenirs littéraires: Flaubert, Fromentin, Gautier, Musset, Nerval, Sand (1881), Paris: Complexe, 12002, S. 71. Meine Hervorhebung. 131 Vgl. zu Du Camp und der Revue de Paris: Caraion, Les philosophes de la vapeur et des allumettes chimiques, S. 13 25 (Anm. 123), und in Bezug zu Flaubert und dessen Streit mit Du Camp das Kapitel »Madame Bovary: Logiques de la censure« in: Leclerc, Crimes écrits, S. 129 188, insbes. S. 134 ff. (Anm. 6). 132 Caraion, Les philosophes de la vapeur et des allumettes chimiques (Anm. 123).

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lution und des Fortschritts ankündigt – und damit im Schulterschluss mit Mitstreitern wie, zumindest für eine gewisse Zeit, Baudelaire argumentiert – negiert Flaubert kategorisch, der von einer solchen literarischen Neuerung weit und breit nichts zu spüren behauptet.133 Während Du Camp im Jahre 1855 seinen Gedichtband Les chants modernes veröffentlicht und darin den Fortschritt in Gestalt der Eisenbahn oder einer Spinnerei-Fabrik als lyrisches Du anspricht,134 schreibt Flaubert einen Roman »sur rien«, dessen Schauplatz von allem Fortschritt entkoppelt scheint, in dem Paris in unerreichbare Entfernung gerückt ist und lediglich als Stadtkarte figuriert sowie der Figur des Fortschritts, dem Apotheker Homais, der Orden der Ehrenlegion als Gipfelpunkt seiner Ironisierung verliehen wird: »Il vient de recevoir la croix d’honneur.«135 – damit endet der Roman, mit dem Flaubert den Fortschrittsoptimismus seiner Zeit, den Fortschrittsoptimismus Du Camps, als bêtise des Bürgers ausstellt, als dessen Verkörperung die Figur Homais im Schlusssatz ihren Klimax erfährt. Nun wird Flauberts Roman über die Normandie in sechs Teilen vom 1. Oktober bis 15. Dezember 1856 in der Revue de Paris abgedruckt136 und erscheint damit ausgerechnet in einer Zeitschrift, die gerade als Plattform gedacht ist für die Inszenierung des Vormarsches der Industrie, der hiermit gleichsam ins Zentrum ästhetischer Reflexionen rückt. La Revue de Paris, die 1851 unter der Herausgeberschaft von Maxime du Camp und Théophile Gautier hierfür zum zweiten Mal neu ins Leben gerufen wird, ermöglicht die literarischen Anfänge vieler

133 Brief an Maxime Du Camp, [ohne Angabe des Tages] Juli 1852: »Ce renouvellement littéraire que tu annonces, je le nie, ne voyant jusqu’à présent ni un homme nouveau, ni un livre original, ni une idée qui ne soit abusée.« Hier zitiert nach Leclerc (Hrsg.), Correspondances. Flaubert−Le Poittevin, Flaubert−Du Camp, S. 287 (Anm. 82). 134 Maxime Du Camp: Les chants modernes (1855), in: Marta Caraion: Les philosophes de la vapeur et des allumettes chimiques. Littérature, sciences et industrie en 1855, Genf: Droz, 12008, S. 76–153. »La Bobine«, S. 139 141, »La locomotive«, S. 142 145. 135 MB, S. 458. 136 Leclerc, Crimes écrits, S. 67 (Anm. 6). Zur minutiösen Historie der Veröffentlichung von Madame Bovary in La Revue de Paris sh. Leclercs Anmerkungen zum Briefwechsel von Flaubert mit Du Camp: Leclerc (Hrsg.), Correspondances. Flaubert−Le Poittevin, Flaubert−Du Camp, S. 295 ff. (Anm. 82).

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namhafter Schriftsteller der Zeit,137 darunter Baudelaire und, dank Du Camp, eben auch Flaubert, dessen Ehebruchsroman unter dem Druck der Zensur des Napoleonischen Regimes zu seiner großen Verärgerung für diese Veröffentlichung auch noch empfindlich gekürzt wird.138 Die Zeitschrift, im ständigen Konflikt mit einer Regierung, die ihrerseits die Rhetorik des Fortschritts im Zuge der Industrialisierung als essenziellen Bestandteil ihrer Propaganda nutzt,139 erscheint ab 1853 nicht mehr nur einmal, sondern zweimal pro Monat und stellt der Ankündigung über diese Änderung im Juli 1853 folgendes Programm voran: De nos jours les questions industrielles ont pris une importance telle, qu’il est impossible de ne pas s’inquiéter du rôle qu’elles auront à jouer dans la vie moderne. […] L’industrie est appelée à créer un art nouveau, ou, pour mieux dire, à déterminer les transformations de l’art. Considérer la France comme le grand centre artistique auquel il faut tout ramener ; suivre l’industrie dans son mouvement, dans son développement, l’étudier dans ses tendances, dans ses efforts, dans les monuments qu’on lui doit déjà, la pousser dans des voies élégantes, la soutenir dans ses aspirations grandioses, tel sera le rôle de la Revue de Paris dans la mesure de ses forces et de sa publicité.140

Die industrielle Revolution als Schöpferin einer neuen Kunst wird in der Revue de Paris in Texten beschworen, die erstere mit einem Einsatz von Pathos besingen, bei dem gar Goethes Faust als Inspirationsquelle herhalten muss. In seinem Essay »La poésie de l’industrie« schreibt ein Autor in der Juli-Ausgabe von 1853: [L]’industrie modifie les conditions d’existence, porte la vie et le mouvement dans des solitudes, transforme l’inutile château féodal en usine féconde, met l’aisance à la place de la misère ! Est-ce que Gœthe, dans la deuxième partie de Faust, n’a pas trouvé de sublimes inspirations en montrant le crédit public fondé par la création du papier-monnaie ? Est-ce que Méphistophélès, jusque-là le railleur, le tueur de l’idée, n’est pas devenu à ce moment

137 Caraion, Les philosophes de la vapeur et des allumettes chimiques, S. 23 (Anm. 123), und Leclerc, Crimes écrits, S. 134 (Anm. 6). 138 Laget, »Notice«, Madame Bovary 2001, S. 456 457 (Anm. 4), und Leclerc, Crimes écrits, S. 167 188 (Anm. 6). 139 Caraion, Les philosophes de la vapeur et des allumettes chimiques, S. 24 (Anm. 123). 140 Zitiert nach Caraion ebd.

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le valet obéissant du génie qui va refaire la société, arracher aux entrailles de la terre leurs richesses enfouies ?141

Die mittelalterliche Burg, Lieblingsort noch der Romantik, erhält in den Texten nun erst als nützliche Fabrik ihre Daseinsberechtigung und bringt auf diese Weise eine Leichtigkeit wie auch eine neue Sublimität in das romantisch klischierte Bild vom Leben in Einsamkeit und Armut zurück. Der Teufel selbst wird zugunsten einer Neuordnung der Gesellschaft zum Diener am nunmehr nicht mehr geistigen, sondern kapitalistischen Genie, wenn er der Welt ihre Bodenschätze entreißt: Es ist der Totschlag des romantischen Gedankenguts im neuen Fortschrittsdenken der schreibenden Elite. In dieses literarische Umfeld wird Flauberts augenscheinlich dem Romantizismus verschriebene Madame Bovary verständlicher Weise nur widerwillig aufgenommen; doch setzt sich Maxime Du Camp im Dienst an einer alten Freundschaft mit allen Kräften für Flaubert ein, mit dem er sich über eben diese Fortschrittsthematik überworfen hatte. Die Revue zahlt Flaubert für die dreimonatige Veröffentlichung 800 F; ein fünfjähriges, exklusives Abdrucksrecht von Madame Bovary als Roman verkauft Flaubert im neuen Jahr zum gleichen Preis an den Verleger Lévy.142 Die »brutalité«143 seines Romans als Verstoß gegen jene mœurs de province, die Flaubert als »couleur normande« deklariert hatte, zieht den sofortigen Prozess nach sich, in dessen Verlauf Flaubert zwar freigesprochen, die Revue de Paris, die den Text abgedruckt hat, aber verboten wird. Diese normannische Färbung seines Romans geht über die ironisierte Darstellung örtlicher Details und normannischer Lebensart weit hinaus: Es handelt sich gleichzeitig um einen ganz privaten modus vivendi, den sich Flaubert in seinen Briefen an Maxime Du Camp während seiner Arbeit an Madame Bovary erschreibt. Seine Selbstinszenierung als ein Normand, dessen freier Wille von Normandismen kategorisch unterlaufen werde, führt zu dem ersten ernsten Zerwürfnis mit seinem Freund und steht im Zusammenhang mit dessen ständigem Drängen, nach Paris zu ziehen und zu publizieren. Im Gegensatz zu Du Camp, nach dessen Kunstauffassung sich die Moderne über den Fortschritt und einem damit logisch einhergehenden Bruch mit ästhetisch-literarischen Vorbildern

141 Achille Kaufmann: »La poésie de l’industrie«, Revue de Paris, Juli 1853, zitiert nach Caraion, S. 191−206. Hier: 191. 142 Laget, »Notice«, Madame Bovary 2001, S. 456−458 (Anm. 4). 143 Maxime Du Camp an Flaubert, um den 20. Januar 1857 [Brief ohne exaktes Datum]. Zitiert nach Leclerc (Hrsg.), Correspondances. Flaubert−Le Poittevin, Flaubert−Du Camp, S. 302 (Anm. 82).

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definiert, hält sich Flaubert von den Fortschritts- und Industrialisierungsdiskursen seines Freundes und dessen Umfeldes sowie – und vor allem! – von der Stadt Paris selbst fern. Des Insistierens Du Camps leid, der von dem geradezu literarischen Muss spricht am Puls der Zeit, in Paris eben, zu residieren, um die neuen, den Veränderungen geschuldeten intellektuellen Strömungen nicht zu verpassen, verfasst Flaubert bissige Briefe, die er wie seinen Prosatext sorgfältig redigiert und deren Abschläge er aufbewahrt. In einem Tagebucheintrag der Brüder Goncourt am 27. März 1889 zu diesem Streit zwischen Du Camp und Flaubert, deren Briefwechsel zu der Zeit veröffentlicht werden sollen, heißt es über diese »dures lettres adressées par Flaubert à Du Camp«: »[…] Flaubert gardait la copie de ses lettres, rédigées comme un article de journal. Cela dit bien des choses sur lui, cette confidence, et confirme joliment ce que je pensais: que ce n’était pas le Monsieur tout spontané que quelques-uns veulent voir en lui et qu’il y avait souvent dans sa conduite du calcul du Normand«.144 Im ersten der drei Briefe, die den Streit zwischen Du Camp und Flaubert initiieren, greift dieser tief in die Mottenkiste der Freundschaft, die die gemeinsame, mehr als eineinhalb Jahre dauernde Orientreise intensiviert hatte und von der sie zu diesem Zeitpunkt erst vor wenigen Monaten zurückgekehrt waren: Si tu savais tous les invisibles filets d’inaction qui entourent mon corps et tous les brouillards qui me flottent dans la cervelle ! […] J’ai la vie en haine, le mot est parti, qu’il reste, oui la vie, et tout ce qui me rappelle qu’il la faut subir. Je suis emmerdé de manger, de m’habiller, d’être débout etc. J’ai traîné cela partout, en tout, à travers du tout, au collège, à Rouen, à Paris, sur le Nil. Nature nette et précise, tu t’es toujours révolté contre ces normandismes indéfinis que j’étais si maladroit à excuser et cela m’a valu de ta part, Maxime, des duretés qui m’ont souvent été amères.145

Wenn Flaubert seine »Normandismen« etwas pathetisch als ein Gefangensein in einem »Netz« der Untätigkeit und in der Melancholie beschreibt, die in ihrem Ton stark an den ennui der Romantik erinnern, lässt Du Camp die stetig als Verteidigung ins Feld geführte Selbstinszenierung seines Freundes als Normand

144 Edmont und Jules Goncourt: Journal. Mémoires de la vie littéraire, texte intégral établi et annoté par Robert Ricatte, Monaco: Fasquelle/Flammarion, 11956 (22 Bde., 16 (1889 1890)), S. 51. Zu dieser Zeit werden Flauberts Briefe veröffentlicht: »J’en suis là maintenant: c’est qu’un livre comme le second volume de la Correspondance de Flaubert, ça m’amuse plus à lire qu’un roman, qu’un volume d’imagination.« Tagebucheintrag vom 22. April 1889. 145 Brief an Maxime Du Camp, 21. Oktober 1851. Meine Hervorhebung.

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nicht als Entschuldigung durchgehen; er entlarvt diese Diskurse als nichts anderes als triefendes Selbstmitleid und die längst überholte Lebensform der Romantik. In seiner Antwort auf diesen Brief geht er daher hart mit seinem Freund ins Gericht und präzisiert den Vorwurf, den Flaubert als Kritik an seinen Normandismen interpretiert: Er habe jahrelang nichts aus seiner sehr guten gesellschaftlichen Stellung als finanziell abgesichertem Sohn mit einem (dank des Vaters, einem bekannten Chirurgen) bereits etabliertem Namen gemacht. Stattdessen habe er sich in Croisset vergraben. Du Camp resümiert: Nous sommes à une époque où sans dangers graves on ne peut s’isoler des mouvements des intelligences. […] Si j’étais plus jeune je ferais des sciences afin de comprendre ce qui se fait – ne serait-ce que comme vocabulaire, c’est utile […] Si tu veux réussir […] si tu veux être vrai, sors de ta tanière où personne n’ira te chercher et viens au jour – Frotte-toi au monde ; […]. Mes duretés t’ont été pénibles, dis-tu, et tu les attribues à tes normandismes – Tu t’es trompé […].146

Anstatt sich, wie es laut Du Camp die Pflicht des modernen Schriftstellers sei, wieder ins Tageslicht zu wagen und sich »an der Welt zu reiben«, verharrt Flaubert in seinem selbst gewählten Inklusorium und distanziert sich derart konsequent vom literarischen Diskurs en mode, dass es zum Zerwürfnis mit seinem langjährigen Freund kommt, das von dessen zensorischem Eingriff in den Text von Madame Bovary zugunsten der fortschrittsorientierten Revue de Paris besiegelt wird. Doch gerade wegen dieses Hintergrundes von Fortschrittsoptimismus und einer damit einhergehenden neuen Konzeption von Kunst, vor dem Madame Bovary entsteht, hinterlässt diese Thematik tiefe Spuren in Flauberts Roman. Sie schlägt sich in einer Narration nieder, in der lediglich der Stil Bedeutung erlangt und sich Sujet wie auch Erzählerstimme hinter hochironischen Diskursen verbergen. Wenn sich Flaubert, anders als seine Zeitgenossen und auch Nachfolger wie etwa Zola, eben nicht in den Straßen der Hauptstadt aufhält, wo das neue Bild, die neuen Medien ihren Ort haben, so reibt er sich gerade durch seinen konsequenten Rückzug an dieser Welt, der er aus dem Weg geht: In diesem Sinne bewahrheitet sich Hamons Behauptung zu einer Zeit des großen Umbruchs nach 1848, dem Ende der Romantik und der französischen Monarchie, »que de nombreux écrivains font passer une certaine détestation de leur siècle par une détestation de ses images«, die sich erstens in einer Einbettung dieser »question de l’image« in eine präzise umrissene Topographie und zweitens in

146 Brief von Maxime Du Camp an Flaubert, 29. Oktober 1851.

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einem neuen bildhaften Scheiben als moderne Mimesis zeige, auch für den Einsiedler und bekannten Ikonoklasten Flaubert.147 Das nichtige Thema des Ehebruchs einer typisch normannischen jungen Frau wird bei ihm von der Thematik einer profanen wie auch sakralen Raumkonzeption verdrängt, die Flauberts Ort als Heterotopie Croisset inmitten des Textilstandortes Normandie miterzählt und den modernen Entwicklungen seiner Welt krass entgegengesetzt ist. Während (Handels-)Räume dank neuer Transportwege zusammenwachsen und in der Industrie die textile Handarbeit als berufliches Handwerk von der im Wohnzimmer produzierenden Familie in die Manufakturen und Fabrikhallen, also von der Hand an die Maschine verlegt wird, schildert Flaubert eine klaustrophobisch erfahrene Welt mit einer Heldin als textile Handarbeiterin im engen, geschlossenen, auf immer abgeschotteten Raum in einer Ästhetik in Bildern. »Normands, tous que nous sommes, nous avons quelque peu de cidre dans les veines ; c’est une boisson aigre et fermentée et qui quelque fois fait sauter la bonde«,148 lauten die versöhnlichen Worte, die Flaubert findet, um sich für einen ätzenden Brief an Maxime Du Camp zu entschuldigen, in dem er seine Einstellung zu Fortschritt und Kapitalismus ein für alle mal kund getan hatte: Il se peut faire qu’il y ait des occasions propices en matières commerciales, des veines d’achat pour telle ou telle denrée, un goût passager des chalands qui fasse hausser le caoutchouc ou renchérir les indiennes. Que ceux qui souhaitent devenir fabricants de ces choses se dépêchent donc d’établir leurs usines, je le comprends. Mais si votre œuvre d’art et bonne, si elle est vraie, elle aura son écho, sa place, dans six mois, six ans, ou après vous. Qu’importe !149

Keine drei Monate nach Flauberts Tod im Jahre 1880 wird sein Rückzugsort Croisset an eine Industriegesellschaft verkauft und dem Erdboden gleich gemacht. In einer Zeit, da in und um Rouen eine Fabrik nach der anderen entsteht,

147 Hamon, Imageries, S. 30 31 (Anm. 18). 148 Brief an Maxime Du Camp, 3. Juli 1852. 149 Brief an Maxime Du Camp, 26. Juni 1852. De Biasi schreibt zu dieser Stelle: »Ce que Flaubert formule ici sans ménagement à l’intention de l’ami Max qui n’y verra que paresse et prétention, c’est le refus pur et simple de se plier à la logique du marché. Cette lettre n’est pas une simple fin de non-recevoir ; elle est l’affirmation positive d’une nouvelle conception de l’art face à la société industrielle, à sa productivité et à ces cycles courts : une autonomie radicale de la création artistique.« Pierre-Marc de Biasi: Gustave Flaubert. Une manière spéciale de vivre, Paris: Grasset, 12009, S. 129.

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muss Flauberts berühmter gueuloir, in dem er jahrelang zum Amüsement der Passanten seine Prosa vor sich hin schrie, um den idealen Satz zu formen, der Industrialisierung weichen: einer Schnapsbrennerei.150

150 [?] Jumièges: »La maison de Flaubert«, Zeitungsartikel in La Vie populaire vom 7. Dezember 1890, texte saisi par Emmanuel Vincent, hrsg. v. Yvan Leclerc, 2002.

Textile Räume

T EXTILES O BJEKT UND R AUM : V IER M ADAME B OVARY Emma ist nicht die erste Madame Bovary in Madame Bovary. Die erste im Roman, der nicht mit Emmas, sondern mit Charles’ Schulzeit beginnt, ist dessen Mutter. Madame Charles-Denis-Bartholomé Bovary tritt namenlos als »fille« des Großvaters, »femme« des Vaters oder »mère« des Sohnes in Erscheinung; als zweite kommt Madame Héloïse Bovary ins Spiel, Charles’ erste Frau. Erst nach ihr wird die Protagonistin Madame Emma Bovary  nur augenscheinlich die singuläre Titelgeberin des Romans  als Charles’ zweite Frau eingeführt, die nach dem Umzug der Familie von Tostes nach Yonville nun Mademoiselle Berthe Bovary auf die Welt bringt. Der Bezug zwischen diesen vier Frauenfiguren gleichen Namens wird an jenen textilen Objekten entwickelt, die der Text mit ihnen in Szene setzt. Mit den vier Demoiselles Bovary, deren aller Geschichten vor ihrer Vermählung beginnen, wird ein ganzes Menschenleben im Zeichen des Textils erzählt, das mit der ersten Madame Bovary in der Chronologie des Textes von hinten anfängt: das Alter mit Madame Bovary Mère, die Reife mit Héloïse Bovary, 45jährig bei ihrer Heirat mit Charles,1 die Adoleszenz mit Emma (deren Geschichte im Roman als Analepse erst im sechsten Kapitel des ersten Teils mit ihrer Teenagerzeit im Kloster beginnt) und, mit der Geburt von Berthe (im dritten Kapitel des zweiten Teils), die Kindheit. Dieses Menschenleben wird exemplarisch durch Emma vorgeführt, in deren Gestalt als ›Luxusversion‹ aller Bovary-Frauen die drei Nebenfiguren mitartikuliert werden. Keine der Bovary-Frauen, dies ist ihre Lebensgeschichte, erleben – und die kränkliche Berthe erlebt sie ja im wahrsten Sinne dieses Wortes nicht – eine 1

MB, S. 159.

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glückliche Ehe. Die Ehethematik wird als »couleur normande« am Textil artikuliert, das heißt an der textilen Handarbeit und an den textilen Objekten, mit denen man etwas macht:2 Sie werden in einem traditionellen erotischen Diskurs, nämlich im Zeichen einer einzutretenden ehelichen Verbindung, hergestellt, benutzt, verziert und verschenkt. Référant à la sexualité, matériaux et outils textiles réfèrent bien entendu au couple et c’est de mariage que parlent, en leur langage symbolique, la quenouille, le drap et l’aiguille. Peigne de tisserand, planche à lessiver, battoir, affinoir, lisseron, sont autant de cadeaux traditionnels qu’à la fiancée offre le fiancé. Ils seront décorés de cœurs, d’initiales, de dates ; peints, gravés, sculptés.3

Über solche Objekte – und dazu gehören in Flauberts Roman Nadelarbeiten, Vorhänge und Sesselbezüge ebenso wie Wäsche, Kleider und textile Accessoires – verweisen alle männlichen wie weiblichen Figuren der Familie Bovary, die allesamt in Geschichten einer, bei Flaubert, unglücklichen Ehe verwickelt sind, im textilen Thema aufeinander. In diesem Sinne bereiten die textil beschäftigten weiblichen Figuren, die Emma als Mesdames Bovary doppeln, die Hauptfigur vor (Madame Bovary Mère, Héloïse Bovary) oder nach (Berthe Bovary). Bis buchstäblich zur letzten Seite gibt es immer eine lebende Madame Bovary im Roman, obwohl drei in der histoire sterben und auch die letzte, die immerzu kränkelnde Berthe, bereits als Todgeweihte in den Roman eingeführt wird. Héloïses Tod macht Platz für Emmas Geschichte; Emmas Tod macht Platz für die Geschichte von Charles’ Mutter, von dessen Seite Emma sie verdrängt hatte; deren Tod wiederum macht Platz für die Geschichte von Berthe, die nun von einer Tante aufgezogen wird (eine fünfte Madame Bovary?). Konsequenter Weise durchzieht das textile Thema, für das alle Figuren Bovary, auch die männlichen, zusammen mit ihren unglücklichen Ehen stehen, den Roman ebenso von Beginn an bis zur letzten Seite; mit Charles’ monströser Ballonmütze aus einer Verwirrung von Textilien und textilen Techniken angefangen, bishin am Ende zu Berthe, die in einer Textilfabrik arbeiten muss.

2

Ronald Vouillié hat in seiner Übersetzung von Certeaus Arts de faire den Raumbegriff des lieu pratiqué als Ort übersetzt, »mit dem man etwas macht« und in dieser Übersetzung den Praktik-Begriff Certeaus, auf den ich mich beziehe, noch einmal verdeutlicht. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Vouillié, Berlin: Merve, 11988, S. 218.

3

Jacques Bril: Origines et symbolisme des productions textiles. De la toile et du fil, Paris: Clancier-Guénaud, 11984 (Bibliothèque des signes), S. 59.

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Nun zielt die Forschung zum Flaubert’schen Objekt traditioneller Weise auf die Frage nach räumlichen Strukturen in Madame Bovary ab, welche seit den 1960er Jahren als Dekor (als Beschreibung eines Schauplatzes) verstanden worden sind und aus heutiger Sicht Überlegungen zur Raumkonstitution in literarischen Texten freilich nicht mehr gerecht werden können. Denn (ohne die abgegriffene Notion des sogenannten spatial turn erneut bemühen zu wollen) es ist in den Literaturwissenschaften seit etwa zehn Jahren ein vollkommen neuer Blick auf Räume in Texten zu beobachten, der einem neuen Raumbegriff entspringt und unter anderem auf Geographie und Kartographie in der Literatur Bezug nimmt:4 Im Rückgriff auf Henri Lefebvres La production de l’espace aus den 1970er Jahren und Michel de Certeaus Arts de faire aus den 1980ern wird davon ausgegangen, dass Raum nicht (als Container) gegeben, sondern (sozial) produziert ist.5 Diese Annahme kann im Rahmen der Kulturtechnikforschung u. a. an die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour anknüpfen (wichtig ist hier statt des Begriffes der Produziertheit der Begriff der agency), wie es der Anthropologe Tim Ingold zeigt  seine Arbeiten zu Linie und Faden werden am Ende meiner Studie wichtig, wenn es schließlich um Bildergeschichten und den Zusammenhang der beiden Kulturtechniken Textiles Handarbeiten und Erzählen geht. 6

4

Verwiesen sei hier in Bezug auf die Literaturwissenschaft vornehmlich auf die Arbeiten des Romanisten Jörg Dünne, unter dessen Federführung u. a. auch die beiden Sammelbände Raumtheorie und Literatur & Raum erschienen sind. Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M: Suhrkamp, 12006; Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hrsg.): Handbuch Literatur & Raum, Göttingen: De Gruyter, 12015 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, 3); Jörg Dünne: Die kartographische Imagination. Erinnern, erzählen und fingieren in der Frühen Neuzeit, München: Fink, 12011, und zum spatial turn zuletzt Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript, 12015 (lettre).

5

Henri Levebvre: La production de l’espace, Paris: Anthropos, 11974, und Michel de Certeau: L’invention du quotidien. 1 Arts de faire, nouvelle Édition, établie et présentée par Luce Girard, Paris: Gallimard, 21990.

6

Für Zusammenhänge zwischen ANT und Raum für die sogenannten Kulturtechniken interessieren sich die Forscher der Laborgruppe Kulturtechniken der Universitäten Erfurt und Weimar (Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Geschichtswissenschaft) unter der Leitung von Jörg Dünne und Gabriele Schabacher. Bruno Latour:

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Mit dem Raumbegriff des Dekors also wurde seit den 1960er Jahren unter anderem in Bezug auf die einflussreiche Objekttheorie des Medientheoretikers und Soziologen Jean Baudrillard, Le système des objets (1968), von einer Opposition von Einzelobjekt und Objektserie ausgegangen.7 Diese Grundannahme führte zu der bekannten These über Flauberts Poetologie, welche über das Objekt ihre Elemente untereinander verbinde, und zwar in Verfahren der Symmetrie (Rinehart 1958),8 der Doppelung (Vargas Llosa 1978) oder der Multiplikation (Vercollier 1977). Eine solche Doppelung und Multiplikation vollzieht sich in Flauberts Roman bereits grundlegend im Personal, nämlich in den vier Figuren mit dem Namen Madame Bovary. Mit ihnen ist eine textile Thematik aufgerufen, die mit ihren Objekten sehr wohl auf eine Raumstruktur übergreift. Diese Raumstruktur jedoch, und das ist für Madame Bovary bis heute übersehen bzw. noch nicht berücksichtigt worden, geht weit über einen Dekorbegriff hinaus. Sie muss − so soll in dieser Studie deutlich werden − über ihn hinausgehen in dem Moment, da von Emma Bovarys Lektürepraktik die Rede ist: Die Welt der Figur und zwar als Konstitution und Semantisierung von Zeit und Raum und damit Welt im Roman steht unter der medialen Voraussetzung von Text und Bild, sine qua non. Der Paradegegenstand für die Analyse von räumlichen Strukturen in den Texten des französischen Realismus ist nun bis heute Balzacs Le Père Goriot mit seinem illustren Schauplatz La Maison Vauquer mitten in Paris.9 An diesem Text entwickelt auch Michel Butor seine Thesen zu »L’espace du roman« (1969), die bereits erstaunlich an Michel de Certeaus Rede von raumkonstituti-

»Visualisation and Cognition: Drawing Things Together«, in: Knowledge and Society. Studies in the Sociology of Culture Past and Present 6 (1986), S. 1 40, und Tim Ingold: »Point, line and counterpoint: From environment to fluid space«, in: Alain Berthoz (Hrsg.): Neurobiology of »Umwelt«. How living beings perceive the world, Berlin: Springer, 12009 (Research and perspectives in neurosciences), S. 141 155. 7

Jean Baudrillard: Le système des objets, Paris: Gallimard, 11968.

8

Keith Rinehart: »The structure of Madame Bovary«, in: The French Review 31, Feb-

9

Eine aktuelle Untersuchung zur Raumkonstitution in diesem klassischen Text unter-

ruar (1958), S. 300–306. nahm Eva-Tabea Meineke: »Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot«, in: Franziska Sick (Hrsg.): Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte. Literarische Räume vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Tübingen: Narr Francke Attempto, 12012 (Édition lendemains, 27), S. 69–80.

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ven Praktiken erinnern.10 Es bietet sich daher an, Butors Ideen noch einmal neu nachzuvollziehen und, unter Einbezug der ihm nachfolgenden Arbeiten zu Raumstrukturen in Madame Bovary, die sich zentral um die Rolle des Objektes drehen, zunächst auf Certeaus Arts de faire hin zu perspektivieren und sodann weiter zu überlegen. Butor möchte (parallel zu den bereits zur Sprache gekommenen Diskursen des 19. Jahrhunderts) den romancier als Maler verstanden wissen, als »peintre du décor, mais aussi peintre de personnages«.11 Im Zusammenhang einer Gegenüberstellung von »lieu« und »espace parcouru« bzw. »espace vécu«,12 die die Certeau’sche Definition von »espace« als »lieu pratiqué« bereits vorwegzunehmen scheint, figurierten Objekte hierbei »de façon à constituer dans l’espace imaginé des figures précises et stables«, und zwar, wie Butor sagt, in einer »mise en place«.13 Er definiert das Dekor als Summe der »qualités propres du lieu«,14 die sich wiederum von den dort inszenierten Objekten ableiten lassen. Dieses Dekor produziere »des figures formées dans l’espace par les arrangements d’objets«. Der Schauplatz als Dekor werde in einer Überlagerung von statischen Orten (»juxtaposition des lieux statiques«) und in der Bewegung von Objekten zum Raum, der als fiktiver wiederum selbst in Bezug zu anderen, realen Räumen stünde. Referenzen von realen Räumen aufeinander sind dabei nach Butor grundsätzlich medial: Räume seien als Verwalter von Informationen über andere Räume zu verstehen, deren Verbindung untereinander durch Medien wie Zeitungsartikel, Bilder und geographische Karten hergestellt würden15 (so wie es Flauberts Protagonistin mit ihrem Umgang mit Objekten wie einem Stadtplan, Bildern und Texten als Bilderpraktik im Roman vorführt). Am Beispiel Balzacs erklärt Butor »comment, à partir de tels objets, on peut méthodiquement reconstituer des mondes entiers«.16 Solche Welten figurieren nun bei Flaubert als ein über die textilen Objekte artikulierter universaler, geschlossener Raum. Claudine Vercollier (1977)

10 Michel Butor: »L’espace du roman«, in: M.B.: Essais sur le roman, Paris: Gallimard, 1

1969, S. 48–58.

11 Ebd., S. 54. 12 Ebd., S. 57. 13 Ebd., S. 53. 14 Ebd., S. 52. 15 Ebd., S. 55−57. Meine Hervorhebung. 16 Michel Butor: »Philosophie de l’ameublement«, in: M.B.: Essais sur le roman, Paris: Gallimard, 11969, S. 59–72. Hier: S. 67.

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beschreibt ihn als »univers […] limité«,17 für das Yonville (»enfermé de toutes partes«) und der Garten in Tostes (»Le jardin lui-même est cloîture«)18 stünden, und zwar als »décor qui se répète et qui n’est toujours qu’une copie de soimême«.19 Diese Wiederholung des Dekors als »Kopie« resultiere aus der Doppelung von Objekten in einer »technique du double« und »multiplication«, wie es etwa die Vorhänge im Roman anzeigten »qui s’entrecroisent«.20 Emmas Welt, so zieht Vercollier das Fazit, »est donc extrêmement étroit, rétréci, mais il est en même temps curieusement ›bourré‹ [des objets], rempli au maximum, ce qui accentue encore l’effet d’emprisonnement«.21 Für keine literarische Figur vor Emma Bovary zwar waren diese Objekte, von denen Butor spricht und die Emma laut Vercollier in einer solch engen Welt gefangen halten, je so wichtig gewesen, sei es im Sinne eines Barthes’schen »éffet de réel«22 oder als Wertgegenstände der Figur selbst, die die Intrige vorantreiben, wie all jene textilen Objekte, die Emma dem Stoffhändler abkauft und die Familie am Ende wirtschaftlich ruinieren. Flaubert, so scheint mir, zäumt jedoch im Vergleich zum realistischen Roman eines Balzac das Pferd sozusagen von hinten auf, wenn es um den Einsatz inszenierter Objekte zur Konstitution von Raum im Roman geht: Seine Protagonistin, um Butors These ins Aktiv umzukehren, forme l’espace par les objets und zwar indem sie sie praktiziert und auf diese Weise ihren eigenen Raum und damit Raum im Roman produziert. Auf diese Weise erhalten sämtliche textile Objekte eine auffällige agency (wie der Akteur-Netzwerk-Theoretiker sagen würde),23 die eben gerade zu diesem ereig-

17 Claudine Vercollier: »Le décor et la signification dans Madame Bovary«, in: Les Amis de Flaubert 50, Mai (1977), S. 31–37. Hier: S. 30. 18 Ebd., S. 31. 19 Ebd., S. 37. 20 Ebd., S. 33. Es handelt sich bei diesem Beispiel um ein Flaubertzitat: »[…] des rideaux de calicot blanc, bordés d’un galon rouge, s’entrecroisaient le long des fenêtres«, MB, S. 177. 21 Vercollier, »Le décor et la signification dans Madame Bovary«, S. 33 (Anm. 17). 22 Roland Barthes: »L’effet de réel«, in: Communications 8, Nov (1966), S. 1–27. 23 Es wäre zu überlegen, ob die textilen Objekte in Madame Bovary mit dem Begriff des Quasi-Objekts zu beschreiben wären, der von Michel Serres stammt (und auf den sich Bruno Latour bezieht). Quasi-Objekte generieren das Kollektiv, indem sie das Soziale nicht nur binden und speichern, sondern erzeugen, wie Serres am Beispiel des Fußballs zeigt. Eine ganz ähnliche Idee von agency scheint mir das textile Objekt bei Flaubert zu bestimmen. Michel Serres: Le parasite, Paris: Grasset, 11980.

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nishaften Chrakter des textilen Themas in Madame Bovary führt, um den es mir zu tun ist. Bei solchen praktizierten Objekten handelt es sich in Madame Bovary fast ausschließlich um jene textile Objekte, die zunächst allesamt zu essentiellen Bestandteilen eines vollgestopften Dekors gehören und dabei das bürgerliche Interieur als Futteral und Gehäuse gewissermaßen selbst zu einem textilen Objekt stilisieren.24 Dabei erhebt sich textile Handarbeit, augenscheinlich bloßer Bestandteil des Dekors, als Bild für eine solche buchstäbliche Manipulation von Objekten,25 mit denen ein Raumverständnis aufgerufen ist, das als Umgang mit Bildern (ich spreche von Flauberts Bilderpraktik) vom Prinzip medialer Überlagerung geprägt ist und auf verschiedene Topoi des geschlossenen Raumes aus Kunst und Literatur anspielt. Mit einer These zum »transformierten« Flaubert’schen Objekt eröffnet James Hamilton (1991) seinen Aufsatz zur Raumbeschreibung und -konstitution in Madame Bovary und führt einen Symbolbegriff ein, den er der Bildenden Kunst entlehnt, und zwar dem Genre des Stilllebens: »Objects [in Madame Bovary] are transformed by ›an excess of art‹ into complex symbols of intrinsic value, and key incidents achieve the status of still life engravings«.26 Als Beispiel führt Hamilton Charles’ casquette an, um auf den grundsätzlich ironischen, symbolisch-statischen Charakter der Objekte in Madame Bovary hinzuweisen. Unter diesem Ausgangspunkt versteht er die Raumstruktur des Romans am Beispiel der »Beschreibung« (»depiction«) von Yonville als Dekor symbolisch, das heißt

24 Vgl. Anmerkung 165 zu Benjamins Rede von Gehäuse und Futteral; Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Zwei Fragmente, Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 11969, S. 74. 25 Ich folge damit der von Abraham Moles (1969) vorgeschlagenen Definition eines Objektes, mit der Claude Duchet in seinem zentralen Aufsatz zum Flaubert’schen Objekt arbeitet: »›Un élément du monde extérieur fabriqué par l’homme et que celui-ci peut prendre ou manipuler‹«. Claude Duchet: »Roman et objets: L’exemple de Madame Bovary«, in: Raymonde Debray-Genette (Hrsg.): Travail de Flaubert, Paris: Seuil, 11983, S. 11–43. Hier: S. 13. In dieser Konsequenz spricht Duchet in seinem Aufsatz zusammenfassend vom »homo faber«, mit dem Flaubert den Bürger verwechsle. Ebd., S. 43. 26 James Hamilton: »The Ideology of Place: Flaubert’s Depiction of Yonvillel’Abbaye«, in: French Review 65 (1991), S. 206–215. Hier: S. 206. Hamilton zitiert hier Mieke Bal: »Théorie de la description: l’exemple de Madame Bovary«, in: Peter Michael Wetherill (Hrsg.): Flaubert. La dimension du texte, Manchester: Manchester University Press, 11982, S. 175–236.

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als ideologische Konzeption im Gegensatz zu einem von der Forschung postulierten fotografischen Realismus (»réalisme photographique«) bei Flauberts Beschreibung seiner Schauplätze.27 Das Dekor als Überlagerung von Orten (»places«) wird als raumsemantische Architektur begriffen und damit als »Koordinatensystem«, das ein Innen und Außen in Bezug setzt.28 Dieses System sei als seriale Doppelung beschreibbar (»series of bipolarities«)29 und werde im Schauplatz Yonville als Prinzip der Überlagerung semantischer Ebenen aufgerufen. Es ist problematisch, Flaubert’sche Objekte als solche Symbole zu verstehen, wie sie in der Bildenden Kunst funktionieren, da sie grundsätzlich eine klare, eindeutige Referenz verweigern, wie es etwa Hans Ulrich Gumbrecht nach Roland Barthes in seinem Begriff des Flaubert’schen »Referenzparadox«30 fasst. Vielmehr muss es um jene »statischen Kontexte« gehen, die mittels dieser Objekte aufgerufen und überlagert werden und mit denen sich Bilder im Text (als »Stillleben«-Effekt im Sinne Hamiltons) in einem medialen Verfahren der Doppelung und Überlagerung erheben und damit nicht als Symbole, sondern als Raumkonstitutive figurieren, die mit einem Dekorbegriff nicht zu fassen sind. Die Darstellung der vier Mesdames Bovary, die sich in der textilen Thematik der praktizierten Objekte gegenseitig kopieren und doppeln, ruft dabei nicht nur ein solches Raumkonzept auf, das sich den Begriffen von Dekor und Schauplatz entzieht; sondern es trägt in die topische Geschlossenheit dieses inszenierten Raumes ebenso das Zeitkonzept der beständigen Wiederholung als Konstitutiv mit ein. Für eine solche Raum- und Zeitkonzeption, die, wie in den folgenden Kapiteln deutlich werden soll, über das textile Objekt funktioniert, stellt in Madame Bovary Charles’ berühmte Mütze eine Initiation dar. Sie führt das textile Thema des Romans ein und zeigt deutlich, dass textile Objekte in Madame Bovary eben gerade keine symbolische Funktion innehaben, das heißt von einem Dekor ent-

27 Hamilton, »The Ideology of Place«, S. 206 (Anm. 26). Hamilton bezieht sich hier auf Claudine Gothot-Mersch: La genèse de Madame Bovary, Paris: Corti, 11966. 28 Hamilton spricht von »›a system of coordinates that relates inner and outer spheres‹« und nimmt dabei Bezug auf die Architekturtheorie. Hamilton, »The Ideology of Place«, S. 211 (Anm. 26). 29 Ebd., S. 213. 30 Vortrag von Hans Ulrich Gumbrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität in München im Rahmen des Kompaktseminars »Antike Legenden und das 19. Jahrhundert. Flaubert und die Epistemologien des Wissens« des Flaubert-Zentrums unter der Leitung von Barbara Vinken, 12.−16. Oktober 2009.

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koppelt sind und vielmehr ein poetologisches Verfahren im Zeichen des Textils aufdecken, an dem schließlich eine umfassende Konzeption von Raum im Roman entwickelt wird. Im Text geht es zunächst nur um die Materialität der Mütze selbst (wie in der Forschung zuhauf beobachtet).31 Damit geht es aber auch um eine per se absurde textile Thematik und Technik, die die verschiedensten Materialien zu einer recht sonderbaren Form vereint. Die Formen selbst tauchen als »eiförmig«, »kreisrund«, als »Vieleck« und »Trapez« auf und beleuchten schlaglichtartig eine ereignishafte Art und Weise des Zusammengesetzt-Seins: Als »ordre composite« ist dieses der Beschreibung des Objektes sogar noch vorangestellt, die mit einem Blick auf Charles’ Knie einsetzt, dort, wo aber die Mütze »immer noch« liegt (»le nouveau tenait encore sa casquette sur ses deux genoux«): C’était une de ces coiffures d’ordre composite, où l’on retrouve les éléments du bonnet à poil, du chapska, du chapeau rond, de la casquette de loutre et du bonnet de coton, une de ces pauvres choses, enfin, dont la laideur muette a des profondeurs d’expression comme le visage d’un imbécile. Ovoïde et renflée de baleines, elle commençait par trois boudins circulaires ; puis s’alternaient, séparés par une bande rouge, des losanges de velours et de poils de lapin ; venait ensuite une façon de sac qui se terminait par un polygone cartonné, couvert d’une broderie en soutache compliquée, et d’où pendait, au bout d’un long cordon trop mince, un petit croisillon de fils d’or, en manière de gland. Elle était neuve ; la visière brillait.32

Als textiles Objekt offenbart sich diese Kopfbedeckung des jungen Charles Bovary als eine Ansammlung verschiedenster Materialien und Techniken zur Herstellung eines Textils – Baumwolle und Samt, Fischbein und Pappe, komplizierte Stickerei und gedrehte Kordel, Goldfäden und Kaninchenhaare. Gezeigt wird ein erstes textiles Objekt, das nicht nur, wie in der Forschung längst so gelesen, durch seine offensichtliche Referenzverweigerung pure Materialität und pure Sprache ausstellt und darin primär auf seine eigene Gemachtheit verweist,33 sondern seinen textilen Charakter als Problematik des lächerlichen Nicht-

31 Vgl. als eine aktuelle Interpretation (im Anschluss an Victor Hugos Geschichte von Quasimodo) Edi Zollinger: Arachnes Rache. Flaubert inszeniert einen Wettkampf im narrativen Weben: Madame Bovary, Notre-Dame de Paris und der Arachne-Mythos, Paderborn: Fink, 12007, S. 29 44. 32 MB, S. 152. 33 Vgl. hier insbes. Barthes, »L’effet de réel« (Anm. 22).

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Verstehens als »groteske Montage« (Jacques Neefs) sichtbar macht.34 Zur Schau gestellt wird eine Ansammlung heterogener Materialien als Textilien, die in mehreren textilen Techniken, die wiederum nicht zu ihrem Material passen, zu einer »ordre composite« zusammengefügt werden. Diese vornehmliche »Ordnung« wird natürlich ironisiert, als sie gleichzeitig die Mütze selbst ist. Diese aber gibt ein lächerliches Bild ab, wie auch die Pose, in der sie inszeniert wird und damit schließlich die mit ihr in den Text eingeführte Figur, Charles, der am Ende prompt zwanzig Mal schreiben muss: »ridiculus sum«.35 Damit steht die kopierende, wiederholende textile und (ab)schreibende Technik am Anfang des Romans, die mit Charles dem »Neuen« und seiner glänzend neuen Mütze als eine gerade neue Technik verkauft wird. Als mediale Technik wird eine Technik der ironisierenden Verbindung ausgewiesen von dem, was eigentlich gar nicht zusammenpasst. Eine solche Technik der Verbindung, die in den Worten Gustave Flauberts Elemente auf textile Weise miteinander verquickt, wird sodann mit der im zweiten Kapitel auftretenden Hauptfigur Emma Bovary als poetologisches, raumkonstitutives Bild-Verfahren des Textes selbst in aller Klarheit vorgeführt. Charles’ Mütze als Variation eines »bonnet de coton«, wie es am Ende der Aufzählung all der verschiedenen Kopfbedeckungsarten heißt, leitet die Initiation des textilen Themas als Metonymie für eine mediale Poetologie Flauberts in der histoire direkt zur ersten Madame Bovary des Romans weiter, nämlich zu Charles Mutter, Tochter eines wohlhabenden »marchant bonnetier«, dessen Handel nicht etwa der Mützenhandel ist, wie es das Lexem glauben machen könnte, sondern ein Wirk- und Strickwarenhandel.36 Charles’ Mutter ist die erste Vertreterin für die textile Thematik, die mit dem Familiennamen Bovary zunächst überraschender Weise als genuin männliche eingeführt wird, und zwar als Genealogie im Zeichen der Textilindustrie, der »couleur normande«. Es tauchen expositorisch in diesem ersten Kapitel auf: der junge Charles Bovary zunächst mit seiner Mütze, die in ihrem Clou am Ende der Passage (»[e]lle était neuve, la visière brillait«) den exklusiven goût seiner späteren Ehefrau Emma für Textilien und die neueste Mode in einer Parodie bereits antizipiert. Es folgen Charles’

34 Jacques Neefs spricht von einer »montage grotesque«. Gustave Flaubert: Madame Bovary, préface, notes et dossier par Jacques Neefs, Paris: Librairie Générale Française, 22008, S. 57. 35 Charles muss als Strafe für seinen eigentümlichen Namen, aufgrund dessen sich die Klasse vor Lachen ausschüttet, zwanzig mal »ridiculus sum« schreiben. MB, S.153. 36 MB, S. 154. Bonneterie, dt. Gewirk, Wirk- und Strickwaren. Die Hutmacherei wäre die Chapellerie.

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Großvater als »marchant bonnetier«, Charles’ Vater mit seinem »indiennes«Handel und dann endlich die erste Madame Bovary, Charles’ Mutter, als aufgrund ihrer stattlichen Mitgift »en passage« geheirateten »fille d’un marchant bonnetier«.37 Mit diesem Vermögen aus dem Textilgeschäft, das dem Text zufolge ihr einziger Wert zu sein scheint und der einzige Grund, weshalb sie geheiratet wird, ist in dieser Figur die textile Thematik im Diskurs der bürgerlich-kapitalistischen Textilindustrie der Normandie bereits markiert, die von allen anderen Frauen Bovary, welche in der Chronologie des Textes nun nach ihr kommen, weitergeführt wird. Auch Charles heiratet seine erste Frau Héloïse, »veuve d’un huissier de Dieppe, qui avait quarante-cinq ans et douze cent livres de rente«, ausschließlich ihrer Mitgift wegen und auf Drängen der Mutter.38 Héloïse hat den eigenartigen neurotischen Tick – so zumindest ist es im Manuskript angelegt –, beständig die Wäsche zu zählen (»Elle était sans cesse à compter son linge dans les armoires«),39 und sie erleidet beim Wäscheaufhängen im Hof einen Blutsturz, woraufhin sie ohnmächtig umfällt und stirbt. Emma wird später beim Anblick ihrer neugeborenen Tochter Berthe vor Enttäuschung ein Mädchen, also eine neue Bovary, geboren zu haben in Ohnmacht fallen.40 Sie stellt anders als ihre Vorgängerinnen, die verbitterte Mutter Bovary und die unattraktive Héloïse, unter dem begehrenden Blick der männlichen Figuren eine regelrechte Erscheinung inmitten der Bovary-Frauen des Romans dar. So trägt sie bei ihrer ersten Begegnung mit Charles und damit ihrem ersten Auftritt im Roman ihr blaues Merinokleid wie ein Motto.41 Neben dem spekta-

37 MB, S. 154. 38 MB, S. 159. 39 Définitif autographe, folio 40/Séquence 40: I, chap. 2: La mort de Mme BovaryDubuc. Alle Manuskripte zitiere ich im Weiteren aus der Online-Ausgabe Danielle Girard/Yvan Leclerc (Hrsg.): Madame Bovary. Brouillons, Définitifs autographes, Plans et scénarios, Rouen: Bibliothèque de Rouen/Centre Flaubert de l’Université de Rouen, 2009. 40 Emma hatte sich, wie Mère Bovary, einen Sohn gewünscht, der dazu fähig sei, die Hindernisse des Raumes zu überwinden: »Elle souhaitait un fils […]. Un homme, au moins, est libre ; il peut parcourir les passions et les pays, traverser les obstacles, mordre aux bonheurs les plus lointains. Mais une femme est empêchée continuellement.« MB, S. 227. 41 Nach Jacques Neefs dominiert die Farbe Blau Madame Bovary in ähnlicher Weise wie das Purpurrot Salammbô. »Le chromatisme du bleu traverse tout le roman, comme un motif musical d’Emma Bovary«. Madame Bovary, Édition par Jaques Neefs, 2008,

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kulären Aspekt der neuesten fashion42 rückt das Material des Kleides selbst in den Vordergrund und stellt die Besonderheit dieses Textils – und damit die (scheinbare) Besonderheit der Trägerin – noch einmal heraus. Es verkörpert darin eines der vielen textilen Objekte, die die Bovary von nun an durch den ganzen Roman hindurch leitmotivisch begleiten und dabei auf den Chic der Zeit anspielen. Une jeune femme, en robe de mérinos bleu garnie de trois volants, vint sur le seuil de la maison pour recevoir M. Bovary, qu’elle fit entrer dans la cuisine, où flambait un grand feu.43

Emmas erster Auftritt ist wie bereits erwähnt auf die historische Zeit um 1837 festzulegen,44 als neue Textilien mit dem Namen »nouveautés« Epoche machen.45 In Flauberts Text ist Lheureux ein solcher »marchant de nouveautés«,46 bei denen es sich um unifarbene oder gemusterte Wollstoffe handelt, auch »étoffes de fantaisie« genannt,47 die unter traumhaften Namen wie »zéphyrs« oder »amazones« feilgeboten und in der Normandie hergestellt oder aus England zusammen mit der fashion importiert werden.48 Diese »neuen« Textilien verdanken einer Revolution der Färbetechnik (eine »évolution […] au niveau des couleurs«) ihren horrenden Preis; am teuersten ist die Farbe Blau, die aus Indigo gewonnen wird (so wie ihre Derivate Grün und Schwarz – Farben, die Emma im Roman neben ihrem Blau bevorzugt trägt).49 Als »mérinos« ist Blau in verschie-

S. 69, Anm. 1 (Anm. 34). Vgl. auch Jacques Neefs: »Blau«, in: Barbara Vinken/Cornelia Wild (Hrsg.): Arsen bis Zucker. Flaubert-Wörterbuch. Berlin: Merve, 12010, S. 38–43. 42 Zur fashion vgl. den Aufsatz von Liana Nissim: »Les vêtements d’Emma: sexe ambigu ou frénésie des modes?«, in: Frédéric Monneyron (Hrsg.): Vêtement et littérature, Perpignan: Presses Universitaires de Perpignan, 12001, S. 193–212. 43 MB, S. 161. 44 Nissim, »Les vêtements d’Emma«, S. 205 (Anm. 42). 45 Und zwar in den 1830er Jahren. Alain Becchia: La draperie en Normandie du XIIIe au XXe siècle, Mont-Saint-Aignan: Publications de l’Université de Rouen, 12003, S. 334. 46 MB, S. 240. 47 Becchia, La draperie en Normandie, S. 369 (Anm. 45). 48 Ebd., S. 368. An dieser Stelle sei an Emmas »amazone« erinnert, die sie zum Ausritt und damit zum Ehebruch mit Rodolphe animiert: »L’amazone la décida«. MB, S. 289. 49 Becchia, La draperie en Normandie, S. 334 (Anm. 45).

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denen Farbtönen von »bleu flore« bis zu »bleu roi«, »couleurs dominantes de l’époque«, in textiler Form für teure 20 bis 24 Francs die Elle zu haben.50 So drehen sich in Flauberts Roman auch die mondänen Gespräche in der rouenaiser Oper wieder und wieder ums Textil und um die Farbe Blau: »[…] ils causaient encore coton, trois-six ou indigo«.51 Der Luxus von Emmas Kleid52 wird mit den Pfauen als »luxe des bassecours cauchois«53 bei Charles’ erstem Besuch auf les Bertaux wiederholt. Mit ihren leuchtend blauen Körpern und dem blau-grau schillernden Gefieder doppeln diese Vögel Emmas Aufzug und ihren aufgespannten Regenschirm aus graublau gemusterter Moiré (»gorge de pigeon«), den die Sonne schillern lässt (»reflets mobiles«) und der den Kreis des Pfauenrads zu wiederholen scheint. Der Ort, der mit diesen luxuriösen Textilien inszeniert wird, ist die Schwelle, die die Bovary nicht übertritt, und mit ihr ein als unüberwindbar und geschlossen stilisierter Raum. Elle était sur le seuil ; elle alla chercher son ombrelle, elle l’ouvrit. L’ombrelle, de soie gorge de pigeon, que traversait le soleil, éclairait de reflets mobiles la peau blanche de sa figure. Elle souriait là-dessous à la chaleur tiède ; et on entendait les gouttes d’eau, une à une, tomber sur la moire tendue.54

Die Verbindung Emmas mit den drei anderen Frauen Bovary erfolgt über eine Wiederholung dieses Motivs der textilen Spektakularität, die die Figur prägt. Ein

50 Ebd., S. 370. 51 MB, S. 346. Meine Hervorhebung. Thierry Laget führt zu dieser Textstelle einen Eintrag aus Flauberts Dictionnaire des idées reçues an: »›COTON […] Une des bases de la société dans la Seine-Inférieure‹«: Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Mœurs de Province, Édition présentée, établie et annotée par Thierry Laget, Paris: Gallimard, 1

2001 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 499, Anm. 1.

Bei dem »trois-six« handelt es sich um einen hochprozentigen Schnaps, der in der Normandie hergestellt und im 19. Jahrhundert auf öffentlichen Plätzen verkauft wurde. Möglicherweise ist er mit dem Modegetränk Absinth vergleichbar, das ab den 1880er Jahren wiederholt in der Literatur, insbesondere des Naturalismus, auftaucht. Madame Bovary, Édition par J. Neefs, 2008, S. 340, Anm. 4 (Anm. 34). 52 Das Kleid aus blauem Stoff kommt in Yonville ein weiteres Mal vor: »[…] [E]lle écrivit à Rouen, afin d’avoir une robe en cachemir bleu«, MB, S. 258. 53 MB, S. 161. 54 MB, S. 164.

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Seidenkleid stellt als eine Variation des Merinokleides den Konnex zu Héloïse Bovary, ihrer Vorgängerin, her. Wäscheaufhängen: Madame Héloïse Bovary Emmas Besonderheit ist, wie die eifersüchtige Héloïse feststellt, nicht nur in ihrer schicken Garderobe, sondern ebenso in ihrer textilen Handarbeit ausgestellt: Emma ist eine Stickerin. Ah ! c’est qu’il [Charles] y avait là-bas une personne, quelqu’un qui savait causer, une brodeuse, un bel esprit. C’était là ce qu’il aimait : il lui fallait des demoiselles de ville ! – Et elle reprenait : – La fille au père Rouault, une demoiselle de ville ! Allons donc ! Leur grand-père était berger, et ils ont un cousin qui a failli passer par les assises pour un mauvais coup, dans une dispute. Ce n’est pas la peine de faire tant de fla-fla, ni de se montrer le dimanche à l’église avec une robe de soie, comme une comtesse.55

Der Mehrdeutigkeit des Begriffes broder folgend (broder, ausschmücken, ausmalen; textil. besticken, fig. hinzudichten), entlarvt Héloïse die mutmaßliche Konkurrentin als Angeberin, die als Bauerstochter nun unstandesgemäß wie eine Comptesse Unterhaltung mache und sticke. Beides setzt Héloïse gleich mit einem weltfremden, nutzlosen Geschichtenerzählen und einem Hang dazu, sich »zu zeigen«. Charles’ erste Frau liefert in ihrem Kommentar zudem gleich mit, was der Roman später an der Protagonistin als Gartenraum ausfalten wird: Emmas Herkunft aus einer Hirtenfamilie spielt bereits hier an den bukolischen Raum der Idylle in einem ruinösen, kapitalistischen Diskurs an. Ihr großer Auftritt im Seidenkleid in der ländlichen Kirche, der Emma in Héloïses Augen abwertet, nimmt bereits ihren späteren Auftritt in der Kathedrale von Rouen vorweg, die als »boudoir gigantesque [qui] se disposait autour d’elle«56 Emma zur Prostituierten degradiert. Dieser Figurenkommentar aus dem Munde von Héloïse erlangt dadurch besonderes Gewicht, als es die letzten Worte sind, die diese im Roman sprechen darf. Ihr plötzlicher Tod macht den Weg frei für Emma, noch Mademoiselle Rouault, die durch die Heirat mit Charles zur neuen Madame Bovary wird. Em-

55 MB, S. 165. 56 MB, S. 362. Auch hier trägt Emma ein Kleid aus Seide: »[…] un froufrou de soie sur les dalles, la bordure d’un chapeau, un camail d’or… C’était elle!« (S. 363). Selbst Héloïses spöttisches »fla-fla« findet dabei als »froufrou« im Seidenkleid seine Doppelung, die das Bild ›Emma in der Kirche‹ herausmodelliert.

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ma trägt die textile Handarbeit in ihrem Mädchennamen, ihrem Jungfrauennamen – la roue, das Rad, le rouet, das Spinnrad –, das ihrer niederen Herkunft entspricht (im Gegensatz zur elitären Stickerei). Die ›Geburt‹ der neuen Frau Bovary aus dem Tod der alten vollzieht sich metonymisch über die Textilien, die beide Figuren auf dem Leib tragen und im Hof trocknen.57 Héloïse, die ohnehin stets zu kränkeln behauptet, stirbt, als und weil sie im Hof Wäsche aufhängt. [C]omme elle étendait du linge dans sa cour, elle fut prise d’un crachement de sang, et le lendemain, tandis que Charles avait le dos tourné pour fermer le rideau de la fenêtre, elle dit : « Ah ! mon Dieu ! » poussa un soupir et s’évanouit. Elle était morte ! Quel étonnement !58

Im Französischen (»étendre le linge«) ist dabei die Bedeutung des Ausbreitens mitgeführt und erinnert bereits an Lheureux, der seine Textilien, »dépliées dans toute leur longeur«,59 auf Emmas Küchentisch ausbreiten und versprechen wird »de lui fournir ce qu’elle voudrait, tant en mercerie que lingerie [Héloïse], bonneterie [Madame Bovary Mère] ou nouveautés [Emma]«.60 Héloïses tödliches »crachement de sang«, das vom Ausbreiten der Wäsche ausgelöst wird, nimmt in der Verknüpfung von Textil und gespucktem Blut Emmas Todeskampf wie auch Berthes »vomissements« vorweg. Kurz nach Emmas Abreise nach Yonville von ihrem Haus in Tostes, wo Héloïse mit Charles lebte und wo sie diese Wäsche aufhing, wiederholt Emma bereits ihre Vorgängerin, die in ihrer Ehe mit Charles dort ebenso unglücklich war:61 »Alors les mauvais jours de Tostes recommencèrent«.62 Auch Emma »eut un

57 Zur Metonymie, die als »connecting link between novel and intertext« Topoi in Narrative verwandelt vgl. Michael Riffaterre: »Flaubert’s Presuppositions«, in: Naomi Schor (Hrsg.): Flaubert and Postmodernism. Papers presented at the Brown Univ. # $%"   Flaubert Symposium, Nov. 6        !"  , Lincoln: Nebraska University Press, 11984, S. 177–191. Hier: 189 190. 58 MB, S. 166. Meine Hervorhebung. Die Konjunktion comme transportiert eine temporale wie auch kausale Logik. 59 MB, S. 241. 60 MB, S. 240. 61 Auch Héloïse hatte resigniert: »On lui avait bien dit qu’elle serait malheureuse; et elle finissait en lui [Charles] demandant quelque sirop pour sa santé et un peu plus d’amour.« MB, S. 159. 62 MB, S. 259.

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crachement de sang« und,63 nachdem sie sich mit Arsen vergiftet hatte, »ne tarda pas à vomir du sang«.64 Am Ende erbricht sie nur noch schwarze Flüssigkeit auf ihr Hochzeitskleid. Berthe dagegen spuckt als Baby immerfort auf die Kleider ihrer Mutter;65 die »plaques rouges«66 auf ihren Wangen zeigen die Schwindsucht an, die als Spucken von Blut alle drei Bovary-Frauen verbindet. Als Charles’ Blick auf das Kleid der verstorbenen Héloïse fällt, das noch am Bettpfosten hängt (und damit das metonymische Prinzip als Bezug der Figuren aufeinander in seiner Blickgeste selbst vorführt), versinkt er, dem ihre zu kurzen Kleider und groben, grauen Wollstrümpfe in Erinnerung an Emmas elegante Toilette so bitter aufgestoßen sind,67 in trüben Gedanken. Quand tout fut fini au cimetière, Charles rentra chez lui. Il ne trouva personne en bas ; il monta au premier, dans la chambre, vit sa robe encore accrochée au pied de l’alcôve ; alors, s’appuyant contre le sécretaire, il resta jusqu’au soir perdu dans une rêverie douloureuse.68

Denn das erste, was Charles bei seinem ersten Besuch bei Emma gesehen hatte – da lebte Héloïse noch –, waren im Kamin zum Trocknen aufgehängte Kleider, zusammen mit einem Schrank voller Wäsche, deren Feuchtigkeit sich als Geruch manifestiert hatte und zwar als »une odeur d’iris et de draps humides, qui s’échappait de la haute armoire en bois de chêne«.69 Diese Verbindung der ersten

63 MB, S. 260. 64 MB, S. 431. 65 MB, S. 231, 251. Vgl. zu einer Interpretation dieses Erbrechens der großen und kleinen Bovary als Durchkreuzung der Hoffnung auf geistige Speise im religiösen Diskurs: Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer, 1

2009, insbes. S. 95, Anm. 31.

66 »[Berthe] toussait quelque fois, et avait des plaques rouges aux pommettes«, MB, S. 455. Vgl. bereits direkt nach Berthes Geburt: »Mais l’enfant se mettait à tousser dans son berceau«, weshalb Emma regelmäßig nicht einschlafen kann. MB, S. 324. 67 »Et puis la veuve était maigre ; elle avait les dents longues ; elle portait en toute saison un petit châle noir dont la pointe lui descendait entre les omoplates ; sa taille dure était engainée dans des robes en façon de fourreau, trop courtes, qui découvraient ses chevilles, avec les rubans de ses souliers larges s’entrecroisant sur des bas gris«, MB, S. 165. Die schäbigen »robes« von Héloïse sind »trop courtes«, die »robe« von Emma, ihr Hochzeitskleid, »trop longue«, MB, S. 173. 68 MB, S. 166. Meine Hervorhebung. 69 MB, S. 162.

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und zweiten Madame Charles Bovary im aufgehängten Kleid ist bei Flauberts Entwurf zu dieser Stelle, die damit gleichzeitig zwei Schauplätze, les Bertaux und Tostes, zueinander in Bezug setzt, im Partizip »accroché« noch deutlich markiert: »Des vêtements humides séchaient [accrochés à des clous] dans l’intérieur de la cheminée.«70 Tauschhandel: Madame Bovary Mère Die erste Madame Bovary im Roman, Charles’ Mutter als junge Frau, heiratet einen gut aussehenden Schürzenjäger, in den sie sich – ausgerechnet, wenn man an ihre spätere beständige Kritik an Emmas Textilienchic denkt71 – aufgrund seiner eleganten Kleidung verliebt. Gutes Aussehen, leuchtende Textilien und die verwegene Haltung eines Handlungsreisenden tun ihr Übriges und antizipieren als elegante tournure und in der Thematik des Sich-Verliebens die Hauptfigur Emma mitsamt ihrem Satelliten, dem reisenden Stoffhändler Lheureux. […] M. Charles-Denis-Bartholomé Bovary […] avait alors profité de ses avantages personnels pour saisir au passage une dot de soixante mille francs, qui s’offrait en la fille d’un marchand bonnetier, devenue amoureuse de sa tournure. Bel homme, hâbleur, faisant sonner haut ses éperons, portant des favoris rejoints aux moustaches, les doigts toujours garnis de bagues et habillé de couleurs voyantes, il avait l’aspect d’un brave, avec l’entrain facile d’un commis voyageur.72

Mutter und Sohn überwerfen sich nach Emmas Tod unwiederbringlich, als Madame Bovary Mère einen Tauschhandel vorschlägt:73 Als sie dem ruinierten Charles die Hypothek auf ihr Haus überlässt, fordert sie dafür einen modischen

70 MB, S. 161, Définitif autographe, folio 30/Séquence 30: I, 2: Rencontre d’Emma. 71 MB, S. 392. 72 MB, S. 154. 73 In Les mots et les choses geht Foucault in seinem Kapitel »Échanger« auf die grundsätzliche Verbindung von Handel, Reichtum, Geld, Zirkulation von Waren und Tauschgeschäft ein, ein Zusammenhang, der mit Madame Bovary Mère vorgestellt wird. Sie steht von Beginn an mit ihrer hohen Mitgift für einen Tauschhandel im Zuge einer »panoplie des activités économiques que Flaubert expose«, wie Neefs zur Einführung ihres Ehemannes und ihres Vaters im Roman als Aktive im Textilgeschäft, indiennerie und bonneterie, schreibt. Madame Bovary, Édition par Jaques Neefs, 2008, S. 59, Anm. 3 (Anm. 34); Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard, 11966, S. 177 180.

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Schal von Emma – oder ihre Tochter Berthe, die ihr im Haushalt helfen soll. Charles verweigert ihr beides. So wie er das Kind nicht weggeben kann, hat auch der Schal für ihn einen emotionalen Wert: Er hatte Emma selbst als Trost auf ihrem Sterbebett gedient74 und entgeht daher offenbar auch der Raffgier des Dienstmädchens, die nach Emmas Tod mit all ihren Luxustextilien und einem Liebhaber das Weite sucht.75 [Madame Bovary Mère] demandait, en retour de son sacrifice, un châle, échappé aux ravages de Félicité. Charles le lui refusa. Ils se brouillèrent. Elle fit les premières ouvertures de raccommodement, en lui proposant de prendre chez elle la petite, qui la soulagerait dans sa maison. Charles y consentit. Mais, au moment du départ, tout courage l’abandonna. Alors, ce fut une rupture définitive, complète. 76

Die Schwiegermutter und Emma, die immerfort nur streiten, sind sich wie es ihr gemeinsamer Name anzeigt indes recht ähnlich. Aus einem wohlhabenden Hause stammend, das seinen Reichtum dem Textilhandel verdankt und ihr zu dem Mann ihrer Wünsche verhilft, genoss Charles’ Mutter wie Emma eine gute Erziehung: Auch sie kann Klavier spielen und konsequenter Weise (der Text macht es nicht explizit) sticken und knüpfen, wie es Emma im Kloster gelernt hat. »Dans l’isolation de sa vie« singt sie ihrem kleinen Sohn Charles »deux ou trois petites romances« vor,77 wie Emma es später auf dem Bänkchen im Garten in Tostes tun wird: Au clair de lune, dans le jardin, elle [Emma] récitait tout ce qu’elle savait par cœur de rimes passionnées et lui chantait en soupirant des adagios mélancoliques ; mais elle se trouvait ensuite aussi calme qu’auparavant, et Charles n’en paraissait ni plus amoureux ni plus remué.78

Diese Passage im Garten von Tostes kurz nach Emmas Vermählung resümiert die Erzählung von der Eifersucht der alten Madame Bovary auf ihre Schwieger-

74 »[Emma] tourna sa figure lentement, et parut saisie de joie à voir tout à coup l’étole violette, sans doute retrouvant au milieu d’un apaisement extraordinaire la volupté perdue de ses premiers élancements mystiques, avec des visions de béatitude éternelle qui commençaient.« MB, S. 436. 75 MB, S. 451. 76 MB, S. 455. 77 MB, S. 155. 78 MB, S. 187.

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tochter, wenn es um Charles’ Liebe geht. Wie Emma hat auch sie am Ende alles verloren: ihren Mann, ihr Geld und, am bittersten für sie, den geliebten Sohn, mit dem sie sich wegen Emma unversöhnlich zerstreitet. Durch Madame Bovary Mère wird die Konzeption der Hauptfigur Emma im Vergleich mit der ersten alten und hässlichen Madame Bovary, Héloïse, verhandelt, die der Mutterliebe nicht gefährlich werden konnte (Mère Bovary hatte ihrem Sohn ja selbst diese ältliche, unattraktive Witwe als Ehefrau ausgesucht).79 Im Zeichen des Textils als »linge dans les armoires«, das Mère Bovary für Emma im Schrank aufräumt, um sie zu lehren, wie man einen ordentlichen Haushalt führt und mit der Héloïse als – in den Augen der Schwiegermutter – »bessere« Ehefrau so pingelig war,80 werden alle drei Mesdames Bovary zusammengeführt. Spinnräder: Berthe Bovary Berthe dagegen doppelt ihre Mutter insbesondere in der textilen Handarbeit, die in der Konstellation dieser beiden Bovary-Frauen innerhalb des Ovid’schen Intertextes von der bestraften Arachne (Berthe, die den Spuckefaden aus sich zieht) und der strafenden Minerva (Emma, die unter dem Porträt der Minerva eingeführt wird)81 als Antithese ihre Bedeutung erlangt und am Ende dennoch eine Geschichte von textiler Handarbeit als exzellentem Weben erzählt.82 Zunächst wird diese Handarbeit am textilen Objekt festgemacht, dem Kragen von Emmas elegantem Nankin-Kleid beispielsweise, auf den das Kind spuckt83 und damit Emmas Todesszene antizipiert, in der sie ihr Hochzeitskleid besudelt. Die konsumierten Buchstaben (»la langue tout entière«) quellen Emma wie schwarze Tinte »comme un vomissement« aus dem Mund und beflecken den weißen Stoff.84 Nach dem Tod ihrer Mutter tut Berthe das, was Emma zu ihren Lebzeiten gemacht hat: Sie »malt« Bilder »aus«. Was auf einen ersten Blick wie die typische Beschäftigung eines Kleinkindes erscheint, wird mit der textilen Handarbeit

79 »[…] il lui fallait une femme. Elle lui en trouvait une : la veuve d’un huissier de Dieppe, qui avait quarante-cinq ans et douze cent livres de rente.« MB, S. 158 159. 80 MB, S. 186. 81 MB, S. 162 163. 82 Vgl. die Analyse von Edi Zollinger: Arachnes Rache. Flaubert inszeniert einen Wettkampf im narrativen Weben: Madame Bovary, Notre-Dame de Paris und der Arachne-Mythos, Paderborn: Fink, 12007. 83 MB, S. 231. 84 MB, S. 437, 442.

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Emmas, die nun Charles an ihrer statt übernimmt (so wie er auch Emmas Allüren übernommen hatte und »comme si elle vivait encore« Kosmetik benutzt, elegante Kravatten trägt und modische Lackstiefel kauft),85 in Bezug gesetzt und in Emmas Objekten von Nadel und Handarbeitskorb veranschaulicht. Durch Charles’ Blick erstarrt auch die ausmalende Berthe zu einem betrachteten Bild, das mit den von ihrer Mutter im Text gegebenen Bildern als textile Handarbeiterin in enger Verbindung steht und ihnen dennoch krass entgegengesetzt wird. Denn mit ihren abgerissenen Kleidern und den kindlichen, textilen Objekten in ihren Händen, den Puppen nämlich, aus deren aufgeplatzten Bäuchen die Wolle quillt, ist Berthe eine ärmliche Version ihrer Mutter, die ihr zudem weder äußerlich noch in ihrem ruhigen, sanften Chrakter ähnelt; und so ist der Vater derjenige, der nun anstatt der Mutter zusammennäht und stopft. Berthe, près de lui [Charles], enluminait des estampes. Il souffrait, le pauvre homme, à la voir si mal vêtue, avec ses brodequins sans lacet et l’emmanchure de ses blouses déchirée jusqu’aux hanches, car la femme de ménage n’en prenait guère de souci. Mais elle était si douce, si gentille, et sa petite tête se penchait si gracieusement en laissant retomber sur ses joues roses sa bonne chevelure blonde, qu’une délectation infinie l’envahissait, plaisir tout mêlé d’amertume comme ces vins mal faits qui sentent la résine. Il raccommodait ses joujoux, lui fabriquait des pantins avec du carton, ou recousait le ventre déchiré de ses poupées. Puis, s’il rencontrait des yeux la boîte à ouvrage, un ruban qui traînait ou même une épingle restée dans une fente de la table, il se prenait à rêver, et il avait l’air si triste, qu’elle devenait triste comme lui.86

Auch hier ist in Berthes Blusenkleidern Emmas Seiden- und Mérinokleid antithetisch aufgerufen. Diese Antithese wird jedoch in der Mutter und Tochter verbindenden textilen Handarbeit wieder eingeholt, die Charles anhand der Objekte von Nadel und Nähkorb als solche erinnert und mit der älter und damit arbeitsfähigen gewordenen Berthe in der filature zuende gebracht wird.87

85 MB, S. 452. 86 MB, S. 452. 87 Die textile Handarbeit, die mit der Nähnadel erinnert wird, entspricht selbstverständlich der spinnenden Tätigkeit nicht ganz, für die es keine Nadeln braucht. In der Spinnerei wird Berthe an der Maschine sitzen, die Rohmaterial zu Fäden verarbeitet. Ihrer fehlenden Bildung entsprechend ist Berthe selbst nicht in der Lage, wie ihre Mutter mit der Nadel und dem Faden, den die Kleine von Beginn an als Spuckefaden herstellt, umzugehen. Wichtig bei der Inszenierung textiler Handarbeit in Madame Bovary ist zunächst nicht die textile Technik selbst, sondern der Ähnlichkeitsbezug

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Anders als ihrer Mutter wird Berthe (trotz ihrer kindlichen Bilderpraktik) keine höhere Erziehung zuteil; der Ort ihrer Bildung ist so nicht das Kloster und seine Keepsakes und Romane, sondern eine Textilfabrik, in der sie tatsächlich arbeiten muss »pour gagner sa vie«.88 Konsequenter Weise besteht Berthes textile Handarbeit, auf die hier mit ihrem »graziös« gesenkten Kopf als typische Pose der textil Beschäftigten bereits angespielt ist, auch nicht aus Sticken: Sie ist keine »brodeuse« wie ihre Mutter, Berthe ist Spinnerin. Ihr letzter Auftritt im Roman als arme Handarbeiterin unter vielen in einer Fabrik der Textilindustrie, einer »filature de coton«, 89 verbindet sich abschließend mit einer weiteren textilen Handarbeiterin, die als Amme oder Ziehmutter Berthe und ihre Mutter Emma im genealogischen Diskurs der Frauen Bovary zusammenführt: Mère Rolet, die, wie Emma mit ihrem Mädchennamen Rouault, ihr Spinnrad, le rouet, im Namen trägt.90 Nicht nur hat Mère Rolet als Mitwisserin und Briefträgerin in den Affären Emmas91 die Funktion einer Kupplerin inne, also – um dem gängigen Euphemismus der Literatur der Zeit zu folgen – einer marchande de toilettes. In ihrem Wissen um Emmas Untreue, die sie durch ihre Dienste unterstützt, erreicht sie einen vergleichbaren Stand wie der marchant d’étoffes Lheureux, der seine Mitwisserschaft schamlos ausnutzt, indem er Emma mit Liebespfänden und Textilien für ihre Affären beliefert, die sie nur in Schuldscheinen bezahlen kann.92 Wie Lheureux die Bezahlung dieser Schuldscheine aus Emmas »affaires« fordert, stellt auch Mère Rolet nach Emmas Tod Charles die Versandkosten für mehr als zwanzig Briefe, Emmas billets doux, in Rechnung. Auf Charles’ Nachfrage hin erlaubt sich die Amme einen geistreichen Scherz, der ebenso aus Lheureux’ Munde hätte stammen können: »[E]lle eut la delicatesse de répondre: – Ah ! je ne sais rien ! c’était pour ses affaires.«93 Während Lheureux Emma mit Textilien eindeckt, deckt Mère Rolet sie mit Röcken zu. Als Emma unter einer »longue araignée« an der Decke wie erstarrt

der textilen Techniken, der zu den Bildvariationen von textiler Handarbeit führt, die Flaubert mit anderen Bildern überblendet. 88 MB, S. 458. 89 MB, S. 458. 90 Vgl. hierzu und zum Spinnenthema als Bezug zwischen Mère Rolet und Emma: Zollinger, Arachnes Rache, S. 85 (Anm. 82). 91 Aufgrund dieser Mitwisserrolle ist die Amme auch nach Berthes Abstillen – zum Unverständnis aller – ständiger Gast in Emmas Haus. MB, S. 379. 92 MB, S. 317 318, 324, 389 390. 93 MB, S. 451.

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auf dem Bett der Amme Zuflucht vor ihrem finanziellen und emotionalen Ruin sucht, lässt diese an Emmas Stelle ihr Spinnrad schnurren, wundert sich, was Emma in ihr ärmliches Zuhause getrieben haben mag und antizipiert darin bereits die Zukunft Berthes, die sie an ihrer Brust genährt hatte. » Mère Rolet, « dit-elle en arrivant chez la nourrice, » j’étouffe !... délacez-moi. « Elle tomba sur le lit ; elle sanglotait. La mère Rolet la couvrit d’un jupon et resta debout près d’elle. Puis, comme elle ne répondait pas, la bonne femme s’éloigna, prit son rouet et se mit à filer du lin. » Oh ! finissez ! « murmura-t-elle, croyant entendre le tour de Binet. » Qui la gêne ? se demandait la nourrice. Pourquoi vient-elle ici ? « Elle y était accourue, poussée par une sorte d’épouvante qui la chassait de sa maison. Couchée sur le dos, immobile et les yeux fixes, elle discernait vaguement les objets, bien qu’elle y appliquât son attention avec une persistance idiote. Elle contemplait les écaillures de la muraille, deux tisons fumant bout à bout, et une longue araignée qui marchait au-dessus de sa tête, dans la fente de la poutrelle. Enfin, elle rassembla ses idées. Elle se souvenait... Un jour, avec Léon... Oh ! comme c’était loin... Le soleil brillait sur la rivière et les clématites embaumaient... Alors, emportée dans ses souvenirs comme dans un torrent qui bouillonne, elle arriva bientôt à se rappeler la journée de la veille.94

Mit dem Thema der textilen Handarbeit, die einerseits als nervenaufreibender, akustischer Code des Spinngeräuschs auftaucht und andererseits von oben, von der Decke aus, diese Szenerie im Symbol des Fäden webenden Insekts bestimmt (für den französischen Begriff für Spinne, araigné, besteht ein etymologischer Bezug zum Arachne-Mythos), erinnert Emma ihren ehemaligen Liebhaber und mit ihm jenen geschlossenen Raum, der unzertrennbar mit ihren Liebesaffairen verbunden ist: die Idylle. Als Sonnenglanz auf dem Wasser und mit duftenden Blumen konstituiert sich Emma hier wieder einmal ein imaginäres Bild ihres Raumes, so wie sie anhand des Stadtplans von Paris ein Bild von einem städtischen Raum konstituiert hatte, mit dem sie ihr Inklusorium abgleicht und anreichert. So wie textile Objekte mit den Figuren Bovary zu Variationen semantisch gedoppelt werden, mehrmals auftauchen und im textilen Diskurs inhaltliche Verbindungen zwischen den Figuren herstellen, so handelt es sich auch bei der Darstellung textiler Handarbeit um ebensolche semantische Doppelungen, die Figuren zueinander in Bezug setzen. Mit diesen Nadelarbeiten werden die texti-

94 MB, S. 420 421.

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len Objekte als praktizierte Objekte inszeniert, mit denen Raum im Roman konstituiert wird: Als textile Praktiken figurierten Handarbeiten und ihre Objekte als Zitat eines traditionelles Bildes von weiblicher Tugend, mit dem stets ein geschlossener Raum aufgerufen ist, in dem diese Tätigkeit stattfindet und der die Funktion des Dekors als Schauplatz dieser textilen Praktiken in eine mediale, raumkonstitutive Bilderpraktik überführt.

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ALS

E REIGNIS La femme est une fileuse, la femme est une couseuse. C’est son travail, en tous les temps, c’est son histoire universelle. JULES MICHELET95

Wenn mit dem praktizierten textilen Objekt Raumstrukturen im Roman entstehen, so wird in der textilen Handarbeit als Verfahren der Benutzung und vor allem Produktion solcher Objekte ein Zeitverständnis mitartikuliert, das für die Konstitution von geschlossenen Räumen zentral ist. Eine solche Verbindung von Zeit und Raum in literarischen Texten wurde von Michail Bachtin im Konzept des Chronotopos zusammengedacht,96 das eine poetologische Überlagerung und Verschachtelung von Räumen als »Raumzeiten« analysierbar macht. Bachtin zeigt, dass für jedes Genre bzw. jede Epoche ein typischer Chronotopos bestimmt werden kann, der zur Darstellung von Ereignissen im Roman dient. Gemäß des Begriffs definiert dabei die spezifische Zeit den Raum (und nicht andersherum).97 Ein solcher Chronotopos wäre beispielsweise die Idylle, die durch die Einheit des Ortes und eine zyklische Zeit bestimmt wird;98 oder, im Ritterroman, die »wunderbare Welt, in der die Zeit des Abenteuers herrscht«.99 Mit der Abenteuerzeit fügt sich in den Chronotopos der wunderbaren Welt z. B.

95

Jules Michelet: La femme, Paris: Hachette, 11860, S. XXVII.

96

Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hrsg. v. Edwald Kowalski und Michael Wegner, Frankfurt a.M.: Fischer, 1

1989.

97

Ebd., S. 7 8.

98

Ebd., S. 170 190.

99

Ebd., S. 84 91.

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der Chronotopos des Weges ein, der wiederum für den griechischen Roman wie der Odyssee genrekonstitutiv ist.100 Nur einen kurzen Abschnitt als »Schlußbemerkungen«101 widmet Bachtin den Chronotopoi des 19. Jahrhunderts; Flaubert wird dabei in nur einer Seite abgehandelt. Als ein Chronotopos des realistischen Romans wird der »Empfangssalon« bei Stendhal und Balzac aufgeführt, und zwar als »Ort, an dem sich die räumlichen und zeitlichen Reihen des Romans überschneiden« sowie das »Provinzstädtchen Yonville« als ein von der ereignislosen und gewöhnlichen, zyklischen Alltagszeit bestimmter Ort der immergleichen, alltäglichen Handlungen. In diesem zunächst stabilen Charakter dienen beide genretypischen ›Hauptchronotopoi‹ auch im Sinne Bachtins tatsächlich als eine Art eingefrorenes Dekor. Zur Inszenierung von Ereignissen kommen nämlich nun die ›Nebenchronotopoi‹ ins Spiel und zwar durch einen Wechsel zu anderen Zeitreihen, die diese Alltagszeit als kontrastierendem Hintergrund unterbrechen.102 Mit diesen anderen Zeiten, der Abenteuerzeit beispielsweise, treten nun die Chronotopoi auf den Plan, die zu diesen Zeiten typischer Weise gehören, zum Beispiel der Weg mit der Erzählung einer Reise wie Emmas Kutschfahrt, bei der sie zum ersten Mal auf Lheureux trifft. Bachtins Theorie vom Chronotopos zur Beschreibung von Formen der Zeit im Roman denkt also in seinem erklärten Prinzip als Überlagerung von Raumund Zeitreihen stets auch die Organisation von Räumen mit, und zwar als Verschachtelung von ›Nebenchronotopoi‹ in einem ›Hauptchronotopos‹, der das Genre bestimmt. Diese ›Nebenchronotopoi‹ sind ihrerseits wiederum als ›Hauptchronotopoi‹ für andere Romane bestimmend, die für Madame Bovary als Intertexte wichtig sind, wie etwa Apuleius’ Goldener Esel (Bachtins Kapitel »Apuleius und Petronius«), die Odyssee (Bachtins Kapitel »Der griechische Roman«), der Ritterroman oder die Idyllendichtung. Der Chronotopos ist folglich nicht nur eine Metapher zur Beschreibung von Zeit-Räumen, sondern zeigt gleichermaßen eine intertextuelle Praktik in Erzähltexten auf, die sich an der Konzeption von Raum und Zeit kristallisiert.103 Die Inszenierung textiler Handarbeit als eine solche intertextuelle Praktik in Erzähltexten, die an jene genretypischen Chronotopoi anspielt, von denen

100 Ebd., S. 9 37. 101 Ebd., S. 191 209. 102 Ebd., S. 196 198. 103 Bachtins Begriff von Intertextualität als Dialogizität und seine Rede vom ZitatMosaik fügt sich hier schön ein.

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Bachtin spricht, macht daher sowohl das Konzept eines geschlossenen Raumes, als auch eine damit verbundene Zeitlichkeit sichtbar: Als immergleiche wiederholte Gesten mit Nadel und Faden beim Nähen, beim Sticken oder Stricken wird diese Zeit als zirkuläre Zeit der Wiederholungen inszeniert. Im entstehenden textilen Objekt und damit im Schauplatz (Dekor) wird sie als Dauer und Wiederholungsfrequenz von Handgesten materialisiert, sichtbar und greifbar. Der zeitliche Aspekt textiler Handarbeit ist in Flauberts Textentwürfen noch vielerorts klar markiert, wenn die Zeiger der Uhren, auf die Emma während ihrer Rendez-vous mit ihren Liebhabern blickt, selbst als Nadeln (»aiguilles«) vorkommen, die stets einfrieren, die Zeit also anhalten und damit die Szenerie als Bild ausstellen. Die Rahmung dieser Zeit als »cadrage« der Uhr in Emmas foyer in les Bertaux ist in diesem frühen Textentwurf sogar noch mit jenen Rosen geschmückt, die an den für die Inszenierung von textiler Handarbeit im 19. Jahrhundert so typischen Mariendiskurs anspielen. Das Material der »spitzen Nadeln« aus »Eisen« erinnert dabei an die Nähnadel der Handarbeiterin. Offenbar waren Flaubert diese Anspielungen an den klassischen literarischen Topos so offensichtlich, dass er sie tilgte. le balancier de la gde horloge dans la cuisine − battait toujours / à temps égaux /en en heurtant contre sa boîte, et sur le cadran blanc, peint de bouquets de roses, les aiguilles de fer au pied pointu marquant les mêmes heures104

Dieser für die textile Handarbeit charakteristische Aspekt der Zeitlichkeit als Wiederholung (»les mêmes heures«) zeigt sich grammatikalisch im imparfait, in dem sie grundsätzlich erzählt wird. So führt es die Bovary beständig in Flauberts Roman vor: »Entre la fenêtre et le foyer Emma cousait«, »elle faisait des reprises«,105 »[e]lle décousait la doublure d’une robe, dont les bribes s’éparpillaient autour d’elle«,106 »elle cousait des habits pour les pauvres«107. Da auch Hintergrundinformationen im Gegensatz zu Ereignissen im imparfait erzählt werden, ist textile Handarbeit in literarischen Texten als typisch weibli-

104 Définitif autographe, folio 44/Séquence 44: I, chap. 3: Retour de Charles aux Bertaux. Vgl. Emma bei einem Rendez-vous mit Léon: »Alors se penchant vers la pendule, comme pr regarder l’heure à l’aiguille arrêtée, elle se mit à dire d’un air naïf qu’il est tard mon Dieu ! que nous bavardons !« Brouillons vol. 5, folio 46/Séquence 375: III, chap. 1: Déclaration de Léon [Page entièrement biffée]. 105 MB, S. 168. 106 MB, S. 373. 107 MB, S. 340.

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che Beschäftigung stets als Teil des Dekors, das vom Milieu erzählt und die Figur definiert, abgetan und ihr von der Forschung auch in Madame Bovary keine weitere Beachtung geschenkt worden.108 Die unausgesetzte textile Beschäftigung Emmas im Roman wird dabei so gut wie ausschließlich als »nähen« erzählt – es lassen sich kaum Textstellen mit anderen Verben textiler Aktivität finden, wie beispielsweise Emma brodait. Das erklärt sich daraus, dass Emmas Handarbeit lediglich zu Beginn der Geschichte, auf dem Bauernhof les Bertaux oder in Tostes, in Verben artikuliert wird. So führt es der Text kurz nach dem Umzug der Familie Bovary nach Yonville in Charles Blick zuende: Als noch keine Patienten in seine neue Praxis kommen wollen, sieht Charles seiner Frau in trauriger Untätigkeit noch stundenlang beim Nähen zu (»[Charles] regardait coudre sa femme«).109 Von hier an jedoch nicht mehr: Alle textilen Tätigkeiten Emmas, die mit dem neuen Schauplatz Yonville verbunden sind, werden nur noch in Bildern über die Inszenierung von Blickgesten erzählt, nicht aber in Verben wie coudre oder broder. Es handelt sich beim ersten Teil von Madame Bovary um eine Exposition als Hinführung zu diesem Bild der textilen Handarbeit, das seine ganze Tragweite erst in Yonville, in Emmas geschlossener Idylle, entfaltet. Das passiert also erst in diesem zweiten Teil des Romans, der mit der einzigen ausgedehnten Beschreibung eines Raumes im Roman einsetzt, nämlich mit der Beschreibung von Yonville und seiner Umgebung. Diese Zeit der Wiederholungen, die, im imparfait angezeigt, in der textilen Handarbeit Emmas Zeit des ewigen Wartens zur Schau stellt, macht Mario

108 Erika Greber stellt dieses Manko in der Einleitung »Leitende Konzepte und Fragestellungen« zu ihrer Habilitationsschrift Textile Texte ausdrücklich heraus. Ihr geht es grundsätzlich um eine Textilmetaphorik, die auf ein kombinatorisches Denkmodell abzielt; daher spielt die textile Handarbeit auch bei ihr eine untergeordnete Rolle. Als »dringendes Desiderat« weist sie eine solche Untersuchung unter komparatistischem Blick für die französischen Moderne aus. Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln: Böhlau, 12002 (Pictura et poesis, 9), S. 29. Barbara Vinken hat in ihren Analysen zu Madame Bovary die Handarbeit Emmas zu einem »Medium« erklärt, mit dem Flaubert Erotik gegen Mütterlichkeit stelle: »Stoffe bearbeitet Mme Bovary nur im Zeichen des Eros«, sie stellten als Gewebe im Zeichen des Arachnemythos »tödliche Truggebilde« dar und seien in diesem Sinne mit Texten, dem tödlichen Buchstaben nämlich, gleichzusetzen. Vinken, Flaubert, S. 123−125. Vgl. auch Anm. 54. 109 MB, S. 226.

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Vargas Llosa in Madame Bovary als »temps circulaire ou la répétition« bzw. »temps immobile ou l’éternité plastique« aus, die nach Bachtin den Chronotopos der Idylle prägt. Vargas Llosa spricht in diesem Zusammenhang von den Flaubert’schen Bildern, die diese Zeit als »images qui résument des actions répétées plusieurs fois«110 bündeln und gleichermaßen im Einfrieren dieser Zeit eine erstarrte Szene anzeigen: »Rien ne bouge, le temps ne s’écroule pas, tout est matière et espace comme dans un tableaux.«111 Diesen Bild-Effekt, den das Einfrieren von Zeit im Roman generiert, wird durch verschiedene Distanz schaffende Verfahren erreicht, die einer (impliziten oder expliziten) Betrachterfigur bedürfen, das heißt eines von der Erzählung (implizit oder explizit) gelenkten Blickes. Eine solche Blicklenkung mittels einer Betrachterfigur macht Michel Raimond in seinem Aufsatz über L’Éducation sentimentale als Verbindung von Blick und Raum bei Flaubert in seinem Begriff des »réalisme subjective« fest, und zwar als »une mise en perspective du spectacle«:112 »[P]résenter au lecteur la réalité fictive à travers l’optique d’un protagoniste« heiße gleichermaßen, den Raum in den Vordergrund zu stellen, in dem die Figuren gezeigt werden, als »véritable promotion de l’espace, exploré par le regard et par le mouvement«.113 Raum in der Éducation sentimentale transportiere in dieser »Optik« die Problematiken von Separation und Unerreichbarkeit, so wie die tugendhafte Ehefrau Madame Arnoux für Frédéric, der sie begehrlich betrachtet, immer unerreichbar bleibt: »Les murs et les cloisons qui s’interposent sont comme la figure spatiale de l’impossible accomplissement«. Der Blick (»regard«) jedoch »n’est plus attribué […] au protagoniste«, sondern werde vielmehr durch ein »on« ersetzt,114 »qui prend le lecteur à témoin«115 und erreicht somit seine Loslösung von der Figur. In dieser Depersonalisierungstendenz des Blickes116 und der Überlagerung als »figure spatiale« bei Flaubert legt Raimond die grundlegende Fährte, die bereits Jahre vor der Éducation in Madame Bovary zum Bild, zu den

110 Mario Vargas Llosa: L’orgie perpétuelle. Flaubert et Madame Bovary, übers. v. Albert Bensoussan, Paris: Gallimard, 11978, S. 170. 111 Ebd., S. 173. 112 Michel Raimond: »Le réalisme subjectif dans L’ Éducation sentimentale«, in: Raymonde Debray-Genette (Hrsg.): Travail de Flaubert, Paris: Seuil, 11983, S. 93– 102, S. 94. 113 Ebd., S. 93 94. 114 Ebd., S. 97. 115 Ebd., S. 102. 116 »[D]épersonnaliser la perception«, Ebd., S. 97.

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»images« von Raum führt (der Begriff des Bildes jedoch fällt bei Raimond abermals nicht).117 Die explizite Darstellung der textilen Handarbeit unter dem Blick einer männlichen Figur, durch den die in ihrer textilen Tätigkeit dem klassischen Topos weiblicher Tugend folgende weibliche Figur (intertextuelle Bedeutungsebene) erotisiert wird (semantische Doppelung durch erotischen Diskurs), stellt ein solches distanz- und damit bildschaffendes Verfahren dar, der Bestandteil dieses Topos ist. Das Bild braucht dabei, wie es auch Raimond in seinem Begriff des »spectacle« anspricht (»une mise en perspective du spectacle«),118 ein Ereignis des Textes;119 erst so kann es entstehen und sich als Bild offenbaren. Ein solches Ereignis ist im vorliegenden Zusammenhang meist der Auftritt einer männlichen Figur als potenzieller Liebhaber im Privatraum der textilen Handarbeiterin; mit ihm kommt es zur Betrachtungssituation, die das Bild erschafft. Unter dem männlichen Blick wird die textile Handarbeit nun selbst zu einem Ereignis erhoben und tritt damit klar aus dem Dekor heraus. Das Ereignis wird klassischer Weise im passé simple (oder passé composé) erzählt und stellt in seinem Gegenpart, dem imparfait, schön diese diffundierende Bewegung aus, die es konstituiert. Ich veranschauliche dieses Prinzip noch einmal mit einer bereits zuvor zitierten Textpassage aus Madame Bovary: Elle entendit des pas dans l’escalier : c’était Léon. Elle se leva, et prit sur la commode, parmi des torchons à ourler, le premier de la pile. Elle semblait fort occupée quand il parut. La conversation fut languissante, Mme Bovary l’abandonnant à chaque minute, tandis qu’il demeurait lui-même comme tout embarrassé. Assis sur une chaise basse, près de la

117 Zu Beginn seines Aufsatzes bedient sich Raimond der Metapher von einer Bildkomposition, einer »rigeur d’une composition picturale«, die bei der Organistaion des Raumes über das Subjekt zum Tragen komme, und zwar stets als »compte rendu de l’expérience perceptive du héros«; diese Idee vom Gemälde führt er jedoch nicht weiter aus. Ebd., S. 94. 118 Ebd. 119 Mein Ereignis-Begriff orientiert sich an Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, München: Fink, 11972. Lotman begreift Texte als modellbildende Systeme. Ein solches ist das Modell räumlicher Strukturen, mit denen er seinen Sujetbegriff klärt, der an das Ereignis gekoppelt ist. Lotman definiert: »Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes«, S. 332 (Hervorhebung im Original). Auf diese Weise können Einheiten im Text vom Sujetlosen ins Sujethafte (und umgekehrt) diffundieren.

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cheminée, il faisait tourner dans ses doigts l’étui d’ivoire ; elle poussait son aiguille, ou, de temps à autre, avec son ongle, fronçait les plis de la toile [imparfait]. Elle ne parlait pas ; il se taisait, captivé par son silence, comme il l’eût été par ses paroles. — Pauvre garçon ! pensait-elle. — En quoi lui déplais-je ? se demandait-il. Léon, cependant, finit par dire qu’il devait, un de ces jours, aller à Rouen, pour une affaire de son étude. — Votre abonnement de musique est terminé, dois-je le reprendre ? — Non, répondit-elle. — Pourquoi ? — Parce que... Et, pinçant ses lèvres, elle tira lentement une longue aiguillée de fil gris [passé simple]. Cet ouvrage irritait Léon. Les doigts d’Emma semblaient s’y écorcher par le bout ; il lui vint en tête une phrase galante, mais qu’il ne risqua pas.120

Emmas textile Handarbeit wird als ihre Verteidigungsstrategie und unter Léons begehrendem Blick zum erotisierten Bild. Der zeitliche Aspekt der immergleichen Wiederholung ist im Zeichen der Beliebigkeit im Stapel ihrer Handarbeiten angezeigt und stellt darin die Beschäftigung als tatsächliche Praktik aus. Die zeitliche Dauer als Warten, das Léon als geradezu aufreizend empfindet, visualisiert sich in der langsam ausgeführten Geste der »longue aiguillée de fil«. Hier ist die textile Beschäftigung als von Emma inszeniertes, als ihr eigenes Dekor vorgestellt und referiert darin auf den klassischen Topos: Zunächst wird textile Handarbeit tatsächlich als Teil des Dekors erzählt und ist hierin stets mit einem bestimmten, die Figur definierenden Ort und den dort inszenierten Objekten verbunden. In einem zweiten Schritt jedoch wird die textile Handarbeit durch die männliche Figur zum Ereignis erhoben und in seinem Blick als Bild ausgestellt, wie ich es an vier Textbeispielen von der französischen Romantik bis zum späten Realismus Fontanes illustrieren möchte. Madame Couaën (Volupté, 1834) Charles Augustin Sainte-Beuves Figur Madame Couaën zeigt den an der textilen Beschäftigung der begehrten weiblichen Figur entfalteten Topos sehr schön auf. Zum ersten Mal betritt der Verliebte den Privatraum seiner Angebeteten. Sein Blick schweift erst über die in ihrem Zimmer befindlichen Objekte, die sie als gebildete, religiöse Frau der Oberschicht ausweisen – eine Gitarre, ein Kruzifix,

120 MB, S. 242.

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Nippes als Mitbringsel von Reisen –, um schließlich auf dem Stickwerk in ihrem Schoß inne zu halten. In dem Moment, als die Augen sich auf die textile Handarbeit richten, wird das »erste Mal« plötzlich zu einem »toujours« der Wiederholungen. In der zeitlichen Wiederholung überlagert sich der immergleiche Anblick der träumenden Madame Couaën am Fenster, die ihre Stickerei für einen Augenblick ruhen lässt, zu einem Bild: Je pénétrais dans ce séjour intime pour la première fois. Tout y était simple, mais tout y brillait : des meubles polis quoique antiques ; une guitare suspendue, un crucifix d’ivoire à droite dans l’enfoncement du lit, à gauche la cheminée garnie de porcelaines rares de cristaux rapportés d’Irlande, et un petit portrait en médaillon de chaque côté ; elle en face de moi à la fenêtre, toujours assise, une chaise devant pour ses pieds, une broderie au tambour sur ses genoux, un de ses coudes sur la broderie qui semblait oubliée, et dans cet oubli levant au ciel une tête douce, altière, étincelante. Elle ne bougea pas d’abord et à peine si elle regarda […].121

An dieser Stelle tritt nun das Ereignis ein, das ebenso an der textilen Handarbeit verhandelt wird. Madame Couaën hatte ihrem Verehrer von ihrem Fenster aus gebeten, eine Sticknadel aufzusammeln, die ihr aus der Hand gefallen war. Auf diese Weise hatte er zum ersten Mal Eintritt in ihren Privatraum erhalten. Elle ne bougea pas d’abord et à peine si elle regarda : »Voici de quoi il s’agit «, me ditelle, en recevant l’aiguille que je lui rendais. » M. de Couaën est sorti pour tout le soir […].« 122

Unter dem Zeichen des an der Wand hängenden Kruzifixes wird die begehrte Stickerin als marianisches Bild inszeniert: Das im 19. Jahrhundert so beliebte Marienleben als apokryphes Evangelium erzählt, wie die Heilige Jungfrau in einem geschlossenen Raum mit textilen Handarbeiten beschäftigt ist, als ihr der Engel Gabriel verkündet, dass sie Gottes Sohn auf die Welt bringen wird. In der Ikonographie wird dieser Raum zumeist mit Gartenmotiven angereichert, oder gar als Garten erzählt. Die Schwelle dieses Raumes, als Zaun oder Mauer dargestellt, markiert einen Außenraum, der ihrem bewahrenden, reinen Innenraum entgegengesetzt ist; als eine solche, zwei nicht vereinbare Räume markierende Schwelle fungiert in der Literatur das Fenster.

121 Charles Augustin Sainte-Beuve (1834): Volupté, Paris: Belles lettres, S. 74 75. 122 Sainte-Beuve, Volupté, S. 75.

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1927,

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Am Fenster sitzend richtet die liebevoll betrachtete Madame Couaën den eigenen Blick gen Himmel (»levant au ciel une tête douce, altière, étincelante«). In ihrer Blickgeste und ihrer mit dem »vergessenen« Stickwerk im Schoß eingefrorenen Pose erinnert sie an eine angebetete Marienfigur: Ihr Kopf erscheint gegen den Hintergrund des Himmels sublimiert und förmlich erleuchtet, wie von einem Heiligenschein umrahmt. Marie Arnoux (L’Éducation sentimentale, 1869) Ein ebensolches Bild liefert Gustave Flaubert mit der Einführung seiner stickenden Marienfigur Marie Arnoux,123 die wie Madame Couaën unter dem begehrenden männlichen Blick erstarrt. Wie in einem Kunstmuseum marschiert ihr Verehrer Frédéric vor ihr auf und ab und betrachtet das Bild, das sich ihm bietet, aus verschiedenen Perspektiven. Die Zeit scheint eingefroren und impliziert – einer veritablen Marienerscheinung entsprechend – glücksversprechende Ewigkeit. Auch hier hebt sich der Kopf der weiblichen Figur wie in einem Ikonengemälde vom Himmel als blauem Grund ab; das Kleid wallt faltenreich um die sitzende Figur; bildbeschreibende Ausdrücke (»l’ovale de sa figure«, »se découpait sur le fond«) dominieren Frédérics »Vision«. Ce fut comme une apparition : Elle était assise, au milieu du banc, toute seule ; ou du moins il ne distingua personne, dans l’éblouissement que lui envoyèrent ses yeux. En même temps qu’il passait, elle leva la tête ; il fléchit involontairement les épaules ; et, quand il se fut mis plus loin, du même côté, il la regarda. Elle avait un large chapeau de paille, avec des rubans roses qui palpitaient au vent, derrière elle. Ses bandeaux noirs, contournant la pointe de ses grands sourcils, descendaient très bas et semblaient presser amoureusement l’ovale de sa figure. Sa robe de mousseline claire, tachetée de petits pois, se répandait à plis nombreux. Elle était en train de broder quelque chose ; et son nez droit, son menton, toute sa personne se découpait sur le fond de l’air bleu. Comme elle gardait la même attitude, il fit plusieurs tours de droite et de gauche pour dissimuler sa manœuvre ; puis il se planta tout près de son ombrelle, posée contre le banc, et il affectait d’observer une chaloupe sur la rivière.124

123 Vgl. hierzu Vinken, Flaubert, Kapitel »L’Éducation sentimentale – Ave Maria«, S. 321 342 (Anm. 65). 124 Gustave Flaubert: L’Éducation sentimentale (1869), préface et commentaires de Pierre-Louis Rey, Paris: Pocket, 12002, S. 23.

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Mit einem Blick auf den Schoß der Figur und ihren Handarbeitskorb wird nun auch hier die textile Beschäftigung vom Dekor entkoppelt und über das textile Objekt als Ereignis inszeniert: Jamais il n’avait vu cette splendeur de sa peau brune, la séduction de sa taille, ni cette finesse des doigts que la lumière traversait. Il considérait son panier à ouvrage avec ébahissement, comme une chose extraordinaire. Quels étaient son nom, sa demeure, sa vie, son passé ? Il souhaitait connaître les meubles de sa chambre, toutes les robes qu’elle avait portées, les gens qu’elle fréquentait ; et le désir de la possession physique même disparaissait sous une envie plus profonde, dans une curiosité douloureuse qui n’avait pas de limites.125

Der anbetende Blick vor einem Mariengemälde wird zum begehrenden Blick, der den religiösen Diskurs mit einem erotischen doppelt. Flaubert inszeniert seine Stickerin untypischer Weise in einem öffentlichen Raum, auf einem SeineDampfer. Unter Frédérics Blick wird dieser jedoch zu jenem privaten Raum umgestaltet, der mit der Inszenierung textiler Handarbeit klassischer Weise verbunden ist. In der Stickerei als Marienzitat erfährt auch der Privatraum der weiblichen Figur unter dem männlichen Blick eine Doppelung: Als Raum der ›Anbetung‹ erhält er einen sakralen, oder im romantischen Diskurs wie bei Sainte-Beuve fürderst sublimen Charakter, der die Unerreichbarkeit und Tugendhaftigkeit der Begehrten, die beide als verheiratete Frauen für ihre Verehrer nicht zu haben sind, herausmodelliert. Auf dem Bauernhof von les Bertaux dagegen stopft die noch unverheiratete Emma in ihrer Küche unter Charles’ Blick Strümpfe. Il [Charles] arriva un jour vers trois heures ; tout le monde était aux champs ; il entra dans la cuisine, mais n’aperçut point d’abord Emma ; les auvents étaient fermés. Par les fentes du bois, le soleil allongeait sur les pavés de grandes raies minces, qui se brisaient à l’angle des meubles et tremblaient au plafond. Des mouches, sur la table, montaient le long des verres qui avaient servi, et bourdonnaient en se noyant au fond, dans le cidre resté. Le jour qui descendait par la cheminée, veloutant la suie de la plaque, bleuissait un peu les cendres froides. Entre la fenêtre et le foyer, Emma cousait ; elle n’avait point de fichu, on voyait sur ses épaules nues de petites gouttes de sueur. Selon la mode de la campagne, elle lui proposa de boire quelque chose. Il refusa, elle insista, et enfin lui offrit, en riant, de prendre un verre de liqueur avec elle. Elle alla donc chercher dans l’armoire une bouteille de curaçao, atteignit deux petits verres, emplit l’un

125 Ebd.

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jusqu’au bord, versa à peine dans l’autre, et, après avoir trinqué, le porta à sa bouche. Comme il était presque vide, elle se renversait pour boire ; et, la tête en arrière, les lèvres avancées, le cou tendu, elle riait de ne rien sentir, tandis que le bout de sa langue, passant entre ses dents fines, léchait à petits coups le fond du verre. Elle se rassit et elle reprit son ouvrage, qui était un bas de coton blanc où elle faisait des reprises ; elle travaillait le front baissé ; elle ne parlait pas, Charles non plus. L’air, passant par le dessous de la porte, poussait un peu de poussière sur les dalles ; il la regardait se traîner, et il entendait seulement le battement intérieur de sa tête, avec le cri d’une poule, au loin, qui pondait dans les cours. Emma, de temps à autre, se rafraîchissait les joues en y appliquant la paume de ses mains, qu’elle refroidissait après cela sur la pomme de fer des grands chenets.126

Auch Emma arbeitet in einem geschlossenen Raum, der durch ihr fehlendes Brusttuch als privater Raum ausgewiesen ist, im erotischen Diskurs verhandelt wird und trotz des ländlichen Dekors eigentümlich sakral wirkt. Die Fensterläden sind geschlossen, es ist drückend heiß; es herrscht Stille, nur der einzelne »Schrei« einer Henne ist zu hören.127 Im Dämmerlicht tanzt der Staub auf den Dielen, erscheint der Ruß im Kamin wie Samt, die kalte Asche schimmert bläulich. Charles’ Blick gleitet auf Emmas nackte Schultern, auf deren Haut kleine Schweißperlen zu sehen sind. Die Szenerie ist von seinem begehrenden Blick dominiert; die Konversation zwischen den beiden Figuren findet in erster Linie über Gesten bzw. Blickgesten statt, es wird – wie in einer Kirche – kaum gesprochen. Auch hier ruft die textile Betätigung der Heldin den sakralen und damit marianischen Intertext auf. Sie wird jedoch zu einem Strümpfestopfen heruntergebrochen, das den vergleichsweise niederen Stand der Bovary als Bauerntochter ausstellt und dementsprechend in einem durch gebrauchte Trinkgläser der Leute und einfaches Küchenmobiliar definierten Raum inszeniert wird. Diese Einfachheit der Szenerie spielt auch in der Geschichte des Marienlebens eine große Rolle; zunächst jedoch erinnert Emmas nur allzu profane Beschäftigung des Strümpfestopfens in einem als sakral inszenierten Raum an einen

126 MB, S. 168 169. 127 Im Französischen »schreit« die Henne nicht weniger als im Deutschen, sie gackert (caquetter) oder gluckst (glousser). Tatsächlich wird hier an den Hahnenschrei, also einen biblischen Diskurs, erinnert. Die akustische Zeichenhaftigkeit dieses »cri« der Henne belegt seine Doppelung zu seiner erotischen Version im »Pfauenschrei«, der Emma bei ihrem Ehebruch mit Rodolphe im Wald entfährt (MB, S. 292) und der les Bertaux, wo die Pfauen zusammen mit den Hennen auf dem Hof herumspazieren, noch einmal aufruft.

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weiteren Kontext, in dem textile Handarbeit als Vorbereitung auf eine bevorstehende Hochzeit zum Gegenstand wird, nämlich die Familienidylle. Frau Dörr (Irrungen, Wirrungen, 1888) Theodor Fontane stellt eine solche Idylle aus dem einfachen Haushalt einer »Waschfrau« vor.128 Frau Dörr strickt im Kreise ihrer Familie an einer Jacke für ihren Mann. Das eigentliche Ereignis, das mit dieser Szenerie vorbereitet wird, ist jedoch das Eintreffen eines jungen Adeligen, der in das junge Mädchen des Hauses, Lene, verliebt ist. Und nun war der andre Abend da, zu dem Baron Botho sich angemeldet hatte. Lene ging im Vorgarten auf und ab, drinnen aber, in der großen Vorderstube, saß wie gewöhnlich Frau Nimptsch am Herd, um den herum sich auch heute wieder die vollzählig erschienene Familie Dörr gruppiert hatte. Frau Dörr strickte mit großen Holznadeln an einer blauen, für ihren Mann bestimmten Wolljacke, die, vorläufig noch ohne rechte Form, nach Art eines großen Vlieses auf ihrem Schoße lag. Neben ihr, die Beine bequem übereinandergeschlagen, rauchte Dörr aus einer Tonpfeife, während der Sohn in einem dicht am Fenster stehenden Großvaterstuhle saß und seinen Rotkopf an die Stuhlwange lehnte. Jeden Morgen bei Hahnenschrei aus dem Bett, war er auch heute wieder vor Müdigkeit eingeschlafen. Gesprochen wurde wenig, und so hörte man denn nichts als das Klappern der Holznadeln und das Knabbern des Eichhörnchens, das mitunter aus seinem Schilderhäuschen herauskam und sich neugierig umsah. Nur das Herdfeuer und der Widerschein des Abendrots gaben etwas Licht.129

Auch hier ist durch Lenes vorfreudiges Auf- und Abspazieren im Vorgarten und dem Stuhl am Fenster ein Außen- und ein privater Innenraum markiert; die Familie hat sich gemütlich in der Stube versammelt. Ähnlich wie in Flauberts Passage herrscht Schweigen: Herdfeuer, Abendrot und ein Eichhörnchen im Garten verstärken den idyllischen Eindruck der friedlichen Szenerie, deren Dekor – Möbel, Pfeife, Großvaterstuhl, wie auch das textile Objekt, eine entstehende Strickjacke – ein zufriedenes Familienleben in einfachem Hause erzählt. Nur das Klappern der Stricknadeln ist zu hören, dabei ist das gestrickte Textil als formloses »Vlies« und damit nicht das Kleidungsstück selbst, sondern die Handarbeit ausgestellt. Diese inszeniert das folgende Ereignis: Lene, nachdem sie Botho ein Getränk serviert hatte, schneidet sich an dem zackigen Papier der

128 Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen (1888), Stuttgart: Reclam, 11972, S. 21. 129 Ebd., S. 19 20.

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Knallbonbons, die ihr Verehrer mitgebracht hatte, in den Finger. Frau Dörr, die textile Handarbeiterin in dieser Szene, ordnet dieses Ereignis als freudiges ein, nämlich als Voraussicht auf eine baldige Heirat: Frau Dörr war entzückt, als es einen Knall gab, und noch mehr, als Lenes Zeigefinger blutete. »Das tut nich weh, Lene, das kenn ich; das is, wie wenn sich ’ne Braut in’n Finger sticht. Ich kannte mal eine, die war so versessen drauf, die stach sich immerzu un lutschte und lutschte, wie wenn es wunder was wäre.«130

Auch Emma Bovary wird sich in den Finger stechen, einmal vor und einmal nach ihrer Hochzeit mit Charles, einmal beim Nähen, einmal an ihrem vertrockneten Hochzeitsstrauß.131 Zur Ehe von Botho mit Lene wird es jedoch nicht kommen, da Botho, seiner sozialen Stellung verpflichtet, standesgemäß heiraten muss. In der einfachen textilen Handarbeit des Strickens ist diese soziale Diskrepanz der beiden Liebenden, die zum unglücklichen Ende dieser Beziehung führt, zusammen mit dem Sich-Stechen des jungen Mädchens – nicht an einer Nadel zwar, doch an dem Glanzpapier von Süßem, das der Baron reicht – vorweg genommen. Auf Fontanes »Hurengeschichte« als mésalliance zwischen einer Bürgerlichen und einem Baron, wie die Vossische Zeitung den Roman Irrungen Wirrungen wegen der zu freizügigen Erotik nennt, folgt seine Geschichte eines adligen Mädchens, die mit dem Verehrer ihrer Mutter, ebenso einem Baron, vermählt wird: Effi Briest. Effi Briest (Effi Briest, 1894) Effi wird als Stickerin in die Geschichte eingeführt und verbindet den marianischen Diskurs mit der Familienidylle in einer Gartenszenerie. […] [D]ie Front des Herrenhauses – eine mit Aloekübeln und ein paar Gartenstühlen besetzte Rampe – gewährte bei bewölktem Himmel einen angenehmen und zugleich allerlei Zerstreuung bietenden Aufenthalt; an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange

130 Ebd., S. 22 23. 131 »[…] en cousant, elle se piquait les doigts, qu’elle portait ensuite à sa bouche pour les sucer«, MB, S. 162; »[…] elle se piquat les doigts à quelque chose. C’était un fil de fer de son bouquet de marriage«, MB, S. 209.

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saßen, in ihrem Rücken ein paar offene, von wildem Wein umrankte Fenster, neben sich eine vorspringende kleine Treppe, deren vier Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des Seitenflügels hinaufführten. Beide, Mutter und Tochter, waren fleißig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezählte Wollsträhnen und Seidendocken lagen auf einem großen, runden Tisch bunt durcheinander, dazwischen, noch vom Lunch her, ein paar Dessertteller und eine mit großen schönen Stachelbeeren gefüllte Majolikaschale. Rasch und sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber während die Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen.132

Obwohl die textile Handarbeit nun nach draußen in die Gartenlaube verlegt wird, handelt es sich letztendlich abermals um eine Fensterszene, die einen Innen- und einen Außenraum markiert, deren Schwelle diesmal jedoch als überwindbar ausgestellt ist: Das Fenster steht offen in Antizipation des gleich anreisenden Baron von Innstetten. Die schattige Idylle zwischen Blumenkübeln und wildem Wein wird von der stillen Harmonie zwischen Mutter und Tochter unterstrichen, die sich im Moment der gemeinsamen textilen Beschäftigung artikuliert. Das Textil, das entsteht, ein erst besticktes und dann zusammengenähtes Altartuch (wie in Madame Bovarys tapis, den sie für Léon stickt, ist auch hier mit dem Begriff Teppich nicht das Fußbodentextil gemeint),133 nimmt in seinem sakralen Charakter als Hinweis auf den Altar, vor den getreten wird, das unmittelbar bevorstehende Ereignis der Verlobung vorweg. Schon im nächsten Augenblick trat Effi mit der Mama in den großen Gartensaal, der fast den ganzen Raum des Seitenflügels füllte. »Mama, du darfst mich nicht schelten. Es ist wirklich erst halb. Warum kommt er so früh? Kavaliere kommen nicht zu spät, aber noch weniger zu früh.«134

Während Effi noch wie ein Kind mit ihren Freundinnen im Garten gespielt hatte, war ihr zukünftiger Ehemann bereits eingetroffen und hatte bei Vater Briest um die Hand seiner Tochter angehalten.

132 Theodor Fontane: Effi Briest (1896), Nachwort von Kurt Wölfel, Stuttgart: Reclam, 2

2000, S. 3 4. Im Folgenden EB.

133 MB, S. 237. 134 EB, S. 14.

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Emma Bovary (Madame Bovary, 1857) In Madame Bovary stellt Flaubert in der Inszenierung von Emmas Nadelarbeit eine eigenartig verkehrte Version dieser typischen Szenerie von Mutter und Tochter in Garten- und Familienidylle vor. Im Manuskript ist diese Handarbeit tatsächlich noch als Nadelarbeit markiert und erinnert in seinen Versatzstücken stark an Fontanes spätere Variante in der Gartenlaube im sommerlich-heißen Hohen-Cremmen: »[O]n tira des cartons les vieilles robes, les vieux rubans, et comme on était aux plus fortes chaleurs, on s’alla mettre avec des ciseaux et des aiguilles sous la tonnelle, dans le jardin«.135 Unter diesem Zeichen steht die Textpassage im edierten Text: [Emma] décousait la doublure d’une robe, dont les bribes s’éparpillaient autour d’elle ; la mère Bovary, sans lever les yeux, faisait crier ses ciseaux, et Charles, avec ses pantoufles de lisière et sa vieille redingote brune qui lui servait de robe de chambre, restait les deux mains dans ses poches et ne parlait pas non plus ; près d’eux, Berthe, en petit tablier blanc, raclait avec sa pelle le sable des allées. Tout à coup, ils virent entrer par la barrière M. Lheureux, le marchand d’étoffes.136

Wie bei Effi der zukünftige Liebhaber Baron von Innstetten als Ehe-»Glück« durch die ›Gartentür‹ tritt, so öffnet nun Lheureux »la barrière«, das heißt das Gartentürchen, und wird bei Emma vorstellig. Dieses Gartentürchen ist für sich genommen eine topographische und topologische Grenze (Juri Lotman) und markiert damit die Ereignisse, sprich: Emmas Liebesaffären. Es ist das Bild für die Schwelle ihres Gartens, in dem sie ihre Nächte mit Rodolphe und Léon verbracht hatte. Die Tatsache, dass diese Gartentür im Diskurs weiblicher Tugend eigentlich geschlossen bleiben sollte, damit es nicht zum Ehebruch kommen kann, wird durch den Schlüssel symbolisiert, den Charles »verloren« glaubt. [T]rois ou quatre fois la semaine, à la nuit noire, il [Rodolphe] arrivait dans le jardin. Emma, tout exprès, avait retiré la clef de la barrière, que Charles crut perdue.137

135 Brouillons vol. 5, folio 116v/Séquence 390. III, chap. 2 : Mort du père Bovary [Page entièrement biffée]. 136 MB, S. 373. Bei dieser Inszenierung von Emmas textiler Handarbeit »schreit« nun die Schere und erinnert an den Schrei der Henne in vorheriger Textpassage. 137 MB, S. 299.

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Als Gipfel der Ironie im Spiel mit dem bisher an verschiedenen Textstellen exemplarisch vorgestellten Topoi textiler Handarbeit tritt in Madame Bovary für Emma, die ihre beiden Affären nicht glücklich machten, mit Lheureux nun eine dritte Figur, das laut seines Namens personifizierte Glück nämlich, in den Garten. Ihm bietet sich dabei das vollendete Bild einer bürgerlichen Familienharmonie an einem Sonntagnachmittag, mit Mutter, Ehepaar und Kind. Bei Lheureux’ Ankunft befindet sich Emma, wie Effi, gerade bei der textilen Handarbeit, zusammen mit ihrer Schwiegermutter, die wie Effis Mutter den Blick nicht von der gemeinsamen Arbeit wendet – ein ungewöhnliches Bild, denn die beiden Frauen nutzen eigentlich jede Gelegenheit, um sich in die Haare zu kriegen. Auch sitzt Emmas Ehemann bereits neben ihr, mitsamt der gemeinsamen Tochter. Wie exzellent Flauberts Bilder von textiler Handarbeit funktionieren, führt diese Textstelle deutlich vor Augen, fügt man das isolierte Bild, das sich als solches aus dem Kontext löst – sich »erhebt« wie Vargas Llosa sagt – wieder in seinen Kontext ein. Hier wird Flauberts Verfahren der semantischen Doppelung zu einer neuen Version dieses Bildes von einer Familienidylle sehr klar: Im Kontext der Geschichte ist diese Familie nämlich eigentlich in Trauer vereint: Charles’ Vater war gerade gestorben, und daher seine Mutter angereist. Es ist dem Trauerfall in der Familie zu verdanken, dass zwischen den beiden Mesdames Bovary solch traute Stille herrscht. Unter den Augen der Schwiegermutter muss sich Emma den Näharbeiten einer Hausfrau widmen. Sie führt ihre Nadel dementsprechend nicht zu einem Stickwerk wie Effi, das ihrem Stand als »brodeuse« entspräche, für ihren Stand als bürgerliche Hausfrau dagegen unangemessenen ist. Statt eines Bräutigams, der ja bereits Teil der Szene ist, marschiert der Stoffhändler in den Garten; auch das Kind der eigentlich noch bevorstehenden ehelichen Verbindung ist schon da. Das freudige Ereignis der Verlobung, das im Namen Lheureux eigentlich doppelt angezeigt wäre, ist umgekehrt in einen Familientrauerfall (und generell bringt Lheureux Emma eigentlich nur Unglück). Auch die Familienidylle gibt es nicht: Emma ist mit Charles unglücklich und kann seine Mutter nicht leiden. Die ganze Szene als Bild, das sich bietet, entzieht sich seiner klassischen Topik in seinen semantischen Doppelungen, die die Antithese erst durch die Illusion der Ähnlichkeit mit ihren Vorlagen erkennbar machen. Emma Bovary vermischt in ihrer textilen Handarbeit, die einmal ein Nähen und Strümpfestopfen, ein ander Mal ein Stricken und Sticken ist, die soziale Konnotation, die mit der Inszenierung textiler Handarbeit klassischer Weise verbunden ist – die Adelige stickt, die Bürgerliche strickt –, wie auch das dazugehörige passende Dekor: der Garten des Herrenhauses, die bäuerliche Küche.

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Ob sie auf dem väterlichen Bauernhof näht oder in ihrem bürgerlichen Haushalt in Yonville stickt und damit ihren Stand als »höhere Tochter« artikuliert – die Art ihrer textilen Beschäftigung macht letzten Endes keinen Unterschied. Denn textile Handarbeit hat in Madame Bovary mehrfachen Zeichenwert, der von ihrer Technik weitgehend losgelöst ist; sie spielt mit den klassischen Topoi der Tugendhaftigkeit und des Eheversprechens, die sie aufruft und durch semantische Doppelung umbesetzt. Gemäß Lotmans Ereignis-Begriff als »Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes«, 138 das im Sinne von Zeichenhaftigkeit von Konventionen bzw. als Intertexte, die hier zur Debatte stehen, von Traditionen geprägt ist, diffundieren Emmas textile Handarbeiten im Roman und damit die manipulierten, im Raum bewegten textilen Objekte beständig vom Sujetlosen ins Sujethafte. Dieser sujethafte Charakter der textilen Handarbeit wird von Beginn an ausgestellt: Wenn Emma mit Nadel und Faden beschäftigt ist, so geschieht dies unter dem Zeichen eines Bildes und eines Intertextes: unter dem von Emma gezeichneten Porträt der Minerva, die selbst als golden gerahmter Kopf zur Ikone stilisiert ist (»une tête de Minerve au crayon noir, encadrée de dorure«).139 Konsequenter Weise wird Emmas Umgang mit Textilien und ihre Handarbeit stets als Ereignis erzählt, das die Intrige vorantreibt und schließlich unmittelbar zur Selbsttötung der Heldin führt: Wenn Emma wie alle jungen Damen der Zeit ihre Aussteuer selbst näht, so tut sie das anhand von Modemagazinen, die sie sich aus Rouen kommen lässt.140 Wenn sie, wie alle Bräute, ein Hochzeitskleid trägt, so ist dieses zu lang, sodass sich Dornen darin verfangen.141 Wenn sie als épouse comme il faut Charles’ Kleider in Ordnung hält, Knöpfe annäht und Löcher stopft,142 so stickt sie gleichermaßen wochenlang an einer Decke für ihren Schwarm Léon, die das ganze Dorf für ein Liebesgeschenk hält und in Aufruhr versetzt.143 Gleichermaßen erregen auch ihre neumodischen Vorhänge, Teppiche und Sesselbezüge den Unwillen der Schwiegermutter.144 Als hysterische Reaktion auf ihr fehlendes Liebesglück strickt sie zwar eine Unmenge an Pullovern für Waisenkinder;145

138 Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 332 (Anm. 119). 139 MB, S. 163. 140 MB, S. 171. 141 MB, S. 173. 142 MB, S. 243. 143 MB, S. 237. 144 MB, S. 379, 392. 145 MB, S. 340.

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die Babysachen für ihre Tochter jedoch stellt die geschickte Handarbeiterin nicht selbst her: Da sie keine exklusiven Materialien dafür anschaffen darf, bestellt sie Berthes Ausstattung kurzer Hand bei einer Arbeiterin im Dorf, »sans rien choisir ni discuter«.146 Nach ihrem Tod noch personifizieren die Textilien die Protagonistin: Das Hausmädchen Félicité trägt fortan die eleganten Toiletten ihrer ehemaligen Dienstherrin unter Charles’ Augen, sodass der Arme zuweilen »saisi d’une illusion« glaubt, Emma selbst stünde noch einmal quicklebendig vor ihm, bis Félicité mitsamt der kostbaren Textilien und einem Liebhaber das tut, wovon die Bovary lebenslang träumte: Sie läuft davon.147 Textile Handarbeit, die im Dekorbegriff grundsätzlich mit der Inszenierung textiler Objekte in einer raumkonstitutiven Bewegung verbunden ist, treibt die Handlung in Madame Bovary voran bishin zum Höhepunkt der Intrige, Emmas immenser Verschuldung beim Stoffhändler Lheureux. Handarbeit und textile Objekte erweisen sich daher als maßgeblicher Bestandteil der narrativen und poetologischen Struktur des Romans Madame Bovary. Sie rufen das immergleiche Bild von einer textil beschäftigten, jungen Frau auf, die sich – wie Lene – zwar gestochen hat, deren Eheglück jedoch nicht eintritt. Mit diesem Bild geht stets der geschlossene Raum einher, den literarische Konventionen des 19. Jahrhunderts mit Topoi aus der Marienikonographie anreichern und daher als Garten erzählen. Dieser intertextuelle Bezug ermöglicht bei Flaubert die Überlagerung mehrerer Bilder – ihrerseits eine intertextuelle Praktik – zu einem geschlossenen Gartenraum. Mit ihm wird die unüberwindbare Schwelle zwischen einem Außen- und einem Innenraum artikuliert und Emmas Verdoppelung von Welt durch ihre Überlagerung von Bildern aus ihren Romanen und Keepsakes zur Schau gestellt. Hatte Vargos Llosa Flauberts Bilder als gekünstelten Stil abgetan und seine eigentliche »trouvaille« als style indirect libre ausgewiesen, so besteht die »trouvaille« von Vargas Llosa selbst in der von ihm en passant festgestellten Tatsache, dass »Beschreibungen« (Dekor) und »Ereignisse« in einem Flaubert’schen Bild ihre Vollendung finden. Ein solches Bild ist Flauberts Version des marianischen Gartens: der Hortus conclusus.

146 MB, S. 227. 147 MB, S. 451.

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G ARTENGESCHICHTEN : G ENESIS , H OHELIED , H ORTUS CONCLUSUS Der geschlossene Garten ist als marianischer Raum in der Bildenden Kunst der Früh- und Hochrenaissance als Hortus conclusus zum Bild geworden. In der Ikonographie erzählt der Hortus conclusus die Geschichte von Mariä Verkündigung: Als junge Frau wird Maria vom Engel Gabriel überrascht, der ihr prophezeit, dass sie unbefleckt empfangen und Gottes Sohn auf die Welt bringen wird. Als ihr der Engel erscheint, ist Maria mit textiler Handarbeit beschäftigt und folgt darin einem sehr alten Topos der Darstellung weiblicher Tugend, als deren Symbol der Jungfrau in der Bildenden Kunst gerne die Spindel in die Hand gegeben wird.148 Der Garten als geschlossener, nicht permeabler Raum, der sie in dieser Beschäftigung umgibt, versinnbildlicht Marias Jungfräulichkeit. Diese als Gartenbild also räumlich erzählte Geschichte des Heils- und Glücksversprechens an die Menschheit durch die Verkündigung der Geburt von Gottes Sohn stellt sich bei einem genauen Blick auf ihre Quellen – Lukasevangelium, Hohelied und die apokryphen Evangelien – als hochkomplex heraus.149 In den Darstellungen des Hortus conclusus überlagern sich in dieser Konsequenz seit jeher mehrere intertextuelle Bezüge, die sich allesamt als Gartengeschichten offenbaren. In den Texten des 19. Jahrhunderts wird textile Handarbeit als Ereignis und damit über die Blicklenkung im Text als Bild erzählt, das auf die marianische Ikonographie anspielt und dabei einen begehrenden Blick in den Gartenraum einträgt, der eigentlich aus der Mariengeschichte als einem Mysterium – Maria empfängt unbefleckt – kategorisch ausgeschlossen ist. Der Schauplatz, mit dem diese Handarbeit inszeniert wird, entfaltet sich in der Gegenüberstellung von einem Außen- und einem Innenraum und damit mit den Dichotomien von privat und öffentlich, sakral und profan zu einem geschlossenen Raum. Konstitutive Versatzstücke dieses Raumes, ein Fenster mit Vorhängen, ein Gartenzaun, eine Mauer, zeigen dabei als Inszenierungen einer Schwelle die genuine Unvereinbarkeit dieser Innen- und Außenräume an. Textile Handarbeit wird daher zumeist als Fensterszene erzählt.

148 Bril, Origines et symbolisme des productions textiles, S. 57 (Anm. 3). 149 Vgl. zum Hortus Conclusus insbes. Nele Ströbel/Myrzik, Ulrike: Hortus conclusus. Ein geistiger Raum wird zum Bild, München: Deutscher Kunstverlag, 12006.

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Bei Flaubert figuriert dieses Fenster, das die Schwelle von Emmas Innenund Außenräumen markiert, als Fenster zur Welt:150 Es wird als unüberwindbares Hindernis für die weibliche Figur markiert und macht auf diese Weise einen Konflikt sichtbar, der sich in allen Erzähltexten der Epoche als ein Eingesperrtbzw. Ausgesperrtsein ausformuliert findet, und zwar als eine Opposition nicht nur von Räumen, sondern von Welten, innerhalb oder außerhalb der Foyers, außerhalb der Gärten oder darin. Die Problematik des Innen- bzw. Außenraums, in dem Figuren eingeschlossen oder von dem sie ausgeschlossen sind, wird im Hortus conclusus der Ikonographie ausdrücklich thematisiert, wie ich zunächst an zwei Beispielen illustrieren möchte, die keine textilen Szenen zeigen, jedoch den geschlossenen Gartenraum, in den diese in Literatur und Kunst eingebettet sind, sehr eindrucksvoll darstellen.

Abbildung 1: Meister des Erfurter Einhornaltars: Maria mit dem Einhorn, Tempera auf Fichtenholz, 133 cm x 254 cm, Erfurter Dom, um 1410/1420.

150 »[Emma] s’y [à la fenêtre] mettait souvent: la fenêtre, en province, remplace les théâtres et la promenade«, MB, S. 262.

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Marienikonographie im 15. Jahrhundert: Paradies und Garten Eden Der Künstler des Erfurter Altargemäldes Maria mit dem Einhorn zum Beispiel hat zur Darstellung von Marias Reinheit nicht die textile Handarbeit, sondern das Symbol des Einhorns gewählt.151 In den durch einen abgrenzenden Zaun markierten Innenraum, in dem sich Maria mit einem Einhorn befindet, das vor seinen Jägern in ihrem Schoß Schutz sucht, führt im rechten unteren Bildrand eine Tür. Diese Pforte ist fest verschlossen: Zwei geistliche Figuren warten davor, drei weitere kommen von links herbei und befinden sich ebenfalls außerhalb des Zaunes, der den Garten mit Maria in der Mitte umschließt. Im Bildhintergrund wachsen mehrere Bäume außerhalb dieses Gartens und setzen zusammen mit den heraneilenden Figuren einen Außenraum in Szene, der auf den ersten Blick im Gemälde nicht erkennbar ist. Dass dieser Außenraum wichtig ist, zeigt eine weitere Darstellung des marianischen Gartens aus der gleichen Zeit, das um 1410/1420 entstande Paradiesgärtlein, in dem sich eine lesende Maria befindet, die in einem Buch blättert.152 In diesem Gemälde öffnet sich die umschließende Mauer für den Betrachter, der nun selbst zum ausdrücklich eingeladenen Teilnehmer am idyllischen, fruchtbaren Garten wird, in dem verschiedene Figuren inmitten von Blumen Früchte ernten, Wasser schöpfen, musizieren und andachtsvoll der Musik lauschen. Ein kaum erkennbarer Baum markiert in der Mitte des oberen Bildrandes den Außenraum, der in diesem Gemälde auf den ersten Blick scheinbar keine Rolle spielt. Bereits in seinem Titel jedoch wird die Überblendung des marianischen Hortus conclusus mit einem anderen, genauer: dem ersten biblischen Gartenraum angezeigt, dem Garten Eden nämlich. Eden ist eine Gartengeschichte über die Verbannung aus einem eben solchen hier dargestellten paradiesischen Innenraum in einen unerfreulichen Außenraum: die Welt der Menschen. Ein rote

151 Meister des Erfurter Einhornaltars: Maria mit dem Einhorn, Tempera auf Fichtenholz, 133 cm x 254 cm, Erfurter Dom, um 1410/1420. Einhörner lassen sich nicht von Jägern, sondern nur von Jungfrauen fangen, da sie reine Wesen sind. Vgl. Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik, Regensburg: Joseph Manz, 11854 (2 Bde), Bd. II, »Maria«, S. 82. In einigen wenigen Verkündigungsdarstellungen figuriert dieses Fabeltier deswegen als eine Doppelung des Themas der Reinheit und Unbeflecktheit. Der Garten umschließt daher beide Figuren, Fabeltier und Jungfrau, beschützt beider Reinheit und zeigt sie gleichsam doppelt an. 152 Oberrheinischer Meister: Paradiesgärtlein, Mischtechnik auf Eichenholz, 26,3 cm × 33,4 cm, Städel, Frankfurt a.M., um 1410/1420.

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Früchte tragender Baum innerhalb der Gartenmauer, von dem eine weibliche Figur eine Frucht pflückt, symbolisiert im Pardiesgärtlein den Baum des Lebens, der sich im Garten Eden befindet und von dessen Früchten der Mensch nach Gottes Gebot nicht essen darf. Für die Missachtung des göttlichen Gesetzes wird er mit dem Ausschluss aus diesem Garten bestraft und damit mit lebenslanger, mühsamer Arbeit, dem Ackerbau. Damit ist es dem Menschen von nun an verwehrt, weiterhin an jener friedlichen Muse teilzunehmen, die das Gartenbild erzählt. Der fruchttragende Baum im Garten wird im Paradiesgärtlein so auch durch einen Baum außerhalb des Gartens gedoppelt, der jedoch lediglich als dunkler Schatten erkennbar ist. Beide Bäume tragen die Geschichte vom Sündenfall in die Darstellung des Hortus conclusus mit ein. Um diese beiden Bäume und mit ihnen die beiden Räume, für die sie stehen (Paradies und Welt), noch einmal zu verbildlichen, teilt sich der Stamm des Lebensbaumes selbst in zwei. Der eine Stamm scheint dabei den anderen wie eine Schlange zu umschlingen und erinnert an eben jene Schlange, die Eva zum Apfelessen verführt.

Abbildung 2: Oberrheinischer Meister: Paradiesgärtlein, Mischtechnik auf Eichenholz, 26,3 cm × 33,4 cm, Städel, Frankfurt a.M., um 1410/1420. Der Konflikt von einem Innen- und Außenraum, der den Gartenraum des marianischen Hortus prägt, wird im Paradiesgärtlein durch die Anspielung an einen

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anderen Gartenraum noch einmal unterstrichen: Der Sündenfall ist, wie der Hortus conclusus, eine Gartengeschichte über ein heilvolles Ein- und ein unheilvolles Ausgeschlossen-Sein. Der Eingang des Garten Eden, durch den die ersten Menschen in die Welt hinaustreten müssen, wird fortan streng von den Kerubim bewacht, die damit diese kategorische Grenze von Außen und Innen als (Tür-) Schwelle kennzeichnen, die für alle Gartengeschichten so wichtig ist.153 Nun liegt das Bemühen der Kunst in erster Linie darin, mit dem Garten, seiner umschließenden Mauer und verschlossenen Pforte die Tugendhaftigkeit und Jungfräulichkeit, die Unbeflecktheit der Gottesmutter darzustellen. Sie wird dadurch geschützt, dass eben nicht jeder in diesen Garten eintreten kann. Dass ein Eintreten jedoch grundsätzlich und sogar für männliche Figuren möglich ist, zeigen jene Figuren, die an Marias Seite das Paradiesgärtlein genießen und bei denen es sich ganz offensichtlich um weltliche Figuren handelt.154 So wird im 19. Jahrhundert diese Idee des Schutzes und der Bewahrung des marianischen Gartens vollständig umbesetzt: Das Problem ist nun nicht mehr, dass keiner in den Garten eintreten soll – ganz im Gegenteil, dies ist geradezu erwünscht –, sondern dass die weibliche Figur aus dem Garten nicht hinaus kann. Marias (er)wartende Position, die mit der Ankunft des Engels ihre große Heil bringende Aufgabe inszenieren soll, bleibt zwar als solche noch erhalten. Sie manifestiert sich nun jedoch als zermürbende Langeweile, die den fruchtbaren Boden bildet für den Sündenfall der Bürgersfrau: den Ehebruch und damit den Verlust jener Tugend, für die Maria steht.155 Diesem Mariendiskurs folgend, werden Figuren des Realismus wie Effi Briest und Emma Bovary als eingesperrte Frauen inszeniert, Effi im geschlossenen Garten des Herrenhauses HohenCremmen und die bürgerliche Emma in ihrem Foyer, das wiederum in den Gartenraum der normannischen Landschaft eingebettet ist. Beide Figuren sind mit

153 Gen, 3,22 24. Alle Bibelstellen in dieser Studie entstammen der Zürcher Bibel, Zürich: Verlag der Zürcher Bibel, 32009. 154 In Maria mit dem Einhorn figuriert kurioser Weise sogar ein Jäger mit seinen Hunden, der es scheinbar auf ein anderes reines Wesen abgesehen hat: das Einhorn. Diese Figur entpuppt sich, wie viele andere heiligen bzw. göttlichen Figuren im Gemälde mit einer Fahne etikettiert, als Verkündigungsengel Gabriel, der, bewaffnet, die beschützende Rolle des Gartens noch einmal wiederholt. 155 Die Fruchtbarkeit ist ein zentrales Moment in der Mariendarstellung und eine Metaphorik der Gartenszenerie, da sie auf Jesus verweist, dessen angekündigte Geburt mit Marias Gartenszenen erzählt wird. »Heilige Maria, Muttergottes, […] gebenedeit ist die Frucht deines Leibes«, heißt es im Ave Maria.

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textiler Handarbeit beschäftigt und zwar in Erwartung derer, die ›da draußen‹ sind und endlich eintreten sollen: ihre Liebhaber. Prätexte: Genesis und Hohelied Diese im Hortus conclusus verbildlichte Problematik eines Innen- und Außenraums speist sich aus den beiden Quellen dieser Gartengeschichte über die Heilige Jungfrau: das Hohelied und der Schöpfungstext der Genesis.156 Im Zusammenlesen beider Bibelstellen wird seit dem Mittelalter die Jungfräulichkeit und Reinheit Marias in Erwartung des Herrn in Text und Bild modelliert. Die grundlegende Komplexität des Hortus conclusus, in der Bibelexegese seit dem 12. Jahrhundert Ort Marias als Sponsa, als Braut Gottes,157 ergibt sich aus der Tatsache, dass dieser Gartenraum aus zwei verschiedenen Quellen entstand und sich darin bereits ursprünglich zwei in jederlei Hinsicht unterschiedliche Raumvorstellungen überlagern. Der Schöpfungstext beschreibt einen hierarchisch geordneten (Lebens-) Raum als Garten.158 In diesem Garten, dem Paradies, ist der Konflikt eines Innen- und Außenraums, ein innerhalb und außerhalb Sein, explizit mit der Frage nach Heil und Sorglosigkeit (innen) und Schmerz und Leid (außen) mit der Geschichte von Adam und Eva und dem Sündenfall erzählt. Das Hohelied dagegen besingt die zeitweilige Trennung zweier Geliebter und deren erotisches Verlangen füreinander. Aus ihm stammen zwei zentrale Passagen, die in die Darstellungen der Maria im Hortus conclusus einfließen: 1. »Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut, ein verschlossener Brunnen, ein versiegelter Quell«, so schildert der Liebhaber im Hohelied die Jungfräulichkeit der Dame, die er begehrt, seiner Braut.159 Ein solcher Brunnen figuriert sowohl in der Gartengeschichte des Paradiesgärtleins als auch in Maria mit dem Einhorn, denn Maria ist die Braut Gottes, die unbefleckt empfängt und ewig jungfräulich bleibt. Als Grundmuster konstituiert diese Idee von der irdischen Frau als Braut des göttlichen ›Mannes‹ in der Vorstellung der Sponsa

156 Vgl. insbes. die Beiträge von Esther Meier: »Der umschlossene Garten in der Kunstgeschichte – die Frage nach dem drinnen und draußen«, und Reinhold Then: »Vom Garten zum Paradies

Biblische Gartenimpressionen«, in: Nele

Ströbel/Ulrike Myrzik (Hrsg.): Hortus conclusus. Ein geistiger Raum wird zum Bild, München: Deutscher Kunstverlag, 12006, S. 15–30 und S. 33−49. 157 Meier, »Der umschlossene Garten in der Kunstgeschichte«, S. 16 (Anm. 156). 158 Vgl. Then, »Vom Garten zum Paradies« (Anm. 156). 159 Hohelied, 4,12.

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Christi nicht nur das Selbstverständnis von Klosterschwestern. Sie kommt auch als Diskurs weiblichen Martyriums in den Heiligenlegenden vor, von denen beispielsweise Jacobus de Voragine in seiner Legenda aurea berichtet: Jesus nimmt die gemarterte Jungfrau als Ehefrau an, ihr öffnet sich nun das Himmelstor;160 damit sind zwei Liebende, nun im Sinne der christlichen Lehre, nach der erzwungenen Trennung und den grausamen Abenteuern des Martyriums wieder vereint. 2. »In seinen Garten komme mein Geliebter und esse seine köstlichen Früchte« wünscht die Braut.161 Das menschliche Herz wird hier als ein umschlossener, bepflanzter Garten verstanden, der zur Schlafkammer wird, in der sich der Bräutigam und seine reine Geliebte vereinen.162 Auch dieses Detail aus dem Hohelied wird für die Geschichte von Mariä Verkündigung fruchtbar gemacht. Maria empfängt als Sponsa keinen Geliebten aus Fleisch und Blut in ihrem Garten, wie die Braut im Hohelied, sondern einen geistigen Geliebten, einen geistigen Bräutigam. Der clue dabei ist, dass dieser in den Garten eintritt, ohne die Pforte zu öffnen, Maria empfängt ja unbefleckt. In den Texten des 19. Jahrhunderts und ihren Gartengeschichten erlangt diese Gartenpforte die weitreichende Bedeutung einer Schwelle, die ein potentieller Liebhaber (ein solcher Bräutigam wie im Hohelied) überwindet oder, zum Unglück der Figuren, gerade nicht überwindet und also nicht Glück bringend in den Garten eintritt. Der marianische Garten ist im Diskurs des Hoheliedes, Bestandteil der Gartengeschichte Marias, für die literarischen Figuren wie Emma und Effi insofern als ausdrücklich permeabel ausgestellt, als ein Eintritt erlaubt, erwünscht, erwartet ist. Garten, Handarbeit und eintretende Liebhaber: Die Texte des 19. Jahrhunderts Fontanes Einführung seiner Protagonistin verdankt ihren ganz wörtlich zu nehmenden Bildcharakter der Beschreibung eines tatsächlichen Gemäldes und ver-

160 Vgl. z. B. die Geschichte der Heiligen Katharina aus den Heiligenlegenden der Legenda Auria des 13. Jahrunderts von Jacobus de Voragine (1261 1266): La Légende Dorée de Jacques de Voragine nouvellement traduite en français avec introduction, notices, notes et recherches sur les sources par l’Abbé J. B. M. Roze, Paris: Rouveyre, 11902, S. 285−260. Nach Katharinas Martyrium spricht Jesus zu ihr: ›Viens, ma bien-aimée, mon épouse; voici la porte du ciel qui t’es ouverte‹. Ebd. S. 260. 161 Hohelied, 4,16. 162 Meier, »Der umschlossene Garten in der Kunstgeschichte«, S. 16 (Anm. 156).

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weist damit – anders als vierzig Jahre zuvor Flauberts Text –sehr offensichtlich auf ihre Quelle: die Marienikonographie. Effi, die innerhalb des geschlossenes Gartens ihres Elternhauses Hohen-Cremmen an einem Altarteppich arbeitet, ist als junge Maria im Hortus conclusus dargestellt und damit ein genaues Zitat einer modernen Interpretation von Mariä Verkündigung in der Bildenden Kunst, nämlich The childhood of Mary Virgin (18481849) des präraffaelitischen Malers Dante Gabriel Rossetti.163 Bereits fünfzehn Jahre vor Effi Briest hatte Fontane in expliziter Weise ein solches Zitat aus der Bildenden Kunst mit dem seine Spätphase einleitenden Gesellschaftsroman L’Adultera (18791880) vorgelegt. Dort wird eine Kopie des Gemäldes Cristo e l’Adultera von Jacopo Tintoretto im Haus des Ehepaars van der Straaten aufgehängt, unter dessen unheilvollem Zeichen die Geschichte der Ehebrecherin Melanie beginnt.164 Die Protagonistin wird bereits in Antizipation dieses Gemäldes, das der Roman im Titel trägt, als textile Handarbeiterin in einer Fensterszene in den Roman eingeführt. Eine Konversation über den ehemaligen harmlosen Flirt ihres Ehemanns mit einer Pariserin führt Melanie, die tatsächlich Ehebruch begehen wird, zu einer scherzhaft-versöhnlich geäußerten Vergebungsgeste, noch bevor sie ihrem Gatten untreu wird: »›Nun, da mag es dir und ihr verziehen sein.‹« Der Text schließt sofort an: »Und dabei stand Melanie von ihrem hochlehnigen Stuhl auf, legte den Kanvas beiseite, an dem sie gestickt hatte, und trat an das große Mittelfenster.«165 Melanie blickt hinaus; auf dem winterlichen Kirchplatz ist Markttag, und ihr fällt ein altes Mütterchen ins Auge, das süßen Honig in mit einem »roten Wollfaden« umwickelten Gläsern verkauft.166 Als Ereignis, das in diese alltägliche Eheszene einbricht, wird nun die Kopie des Tintorettos geliefert. Nachdem der Ehemann schamvoll zugeben musste, dass er ihr aus finanziellen Gründen lediglich eine Kopie des Gemäldes zum Geschenk machen kann, betrachtet es

163 Peter-Klaus Schuster: Theodor Fontane: Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, Tübingen: Niemeyer, 11978 (Studien zur deutschen Literatur, 55). Meine Relektüre dieser Thesen und eine Analyse zum Einfluss der Präraffaeliten auf Theodor Fontane findet sich im Kapitel zu Effi Briest in diesem Buch. 164 Theodor Fontane: L’Adultera (1882), Stuttgart: Reclam, 22000, S. 9; Jacopo Robusti Tintoretto: Cristo e l'adultera, Öl auf Leinwand, 119 cm x 168 cm, Accademia, Venedig, um 1546. 165 Fontane, L’Adultera, S. 7 (Anm. 164). 166 Ebd. Die Szene erinnert erstaunlich an Flauberts Fensterszenen in Madame Bovary, die ich im anschließenden Kapitel en détail in den Blick nehmen werde. Auch Emma wird oftmals ihre Handarbeit unterbrechen, um aus dem Fenster zu sehen.

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Melanie eingehend, bezeichnet es aufgrund seines Sujets sofort als »gefährliches Bild« und äußert Mitleid für die dargestellte Ehebrecherin.167 Tintorettos Gemälde zeigt eine weibliche Figur in einem weitläufigen Säulengang, die vor dem sitzenden Christus in ihrer abwehrenden Handgeste alle Schuld von sich weist. Fontane doppelt seine Kopie dieses Gemäldes mit einer Kopie des aus der Ikonographie stammenden Bildes von weiblicher Tugend als textile Handarbeit, die in eine Fensterszene überführt wird und so einen Innenund Außenraum in Szene setzt. Wie bei Effi an später Stelle im Roman, die ihre billets doux rot umwickelt, gibt es hier bereits zu Beginn schon einen »roten Wollfaden«, der an die marianische textile Handarbeit anspielt  denn Maria spinnt Scharlach.168 In Effi Briest figuriert diese marianische Beschäftigung metonymisch als Nähtisch, dessen Schloss aufgebrochen wird (»›[…] das Schloß ist Spielerei; holen Sie nur das Stemmeisen, Roswitha, wir wollen den Deckel aufbrechen‹«, weist Effi an) und ist durch die darin gefundenen Liebesbriefe abermals mit dem Thema des Ehebruchs verbunden. Diese Briefe kommen zum Vorschein, als das Hausmädchen Roswitha nach einer Binde sucht, um Effis Tochter Annie zu verarzten. [Es] flog alles, was ihr dabei zu Händen kam, auf das breite Fensterbrett: Nähzeug, Nadelkissen, Rollen mit Zwirn und Seide, kleine vertrocknete Veilchensträußchen, Karten, Billets, zuletzt ein kleines Konvolut mit Briefen, das unter dem dritten Einsatz gelegen hatte, ganz unten, mit einem roten Seidenfaden umwickelt. Aber die Binde hatte man noch immer nicht.169

Nicht nur Nähutensilien wie Nadeln und Zwirn, auch Veilchen, Briefe und Karten bringt das Aufbrechen des verschlossenen Kästchens hervor. Die Veilchen, blaue Blumen, stehen traditioneller Weise wie das Rot des Fadens für Maria; weiterhin ist im marianischen Diskurs des Heils bzw. Heilens, nämlich der Verarztung des weinenden, stark blutenden kleinen Mädchens, textile Handarbeit

167 Ebd., S. 9 10. Zum »Dialog«, den Melanie mit dem Tintoretto führe, vgl. Marion Villmar-Doebeling: Theodor Fontane im Gegenlicht. Ein Beitrag zur Theorie des Essays und des Romans, Würzburg: Königshausen & Neumann, 12000 (Epistemata, 177), S. 121 124. 168 Fontane, L’Adultera, S. 7 (Anm. 164). Meine Hervorhebung. Maria spinnt rote Fäden. Sh. das Kapitel zum Marienleben. 169 EB, S. 259.

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mit Text und Bild (Briefe, (Post-)Karten) im Diskurs der erotischen Liebe zusammengebracht. Die unauffindbare Binde inszeniert die Symbolik dieses Nähtisches in eindeutiger Weise: Nachdem Innstetten sich bereits wegen der Affäre seiner Frau mit Major Crampas von ihr getrennt hatte und diese hier nun alleine in einer Berliner Wohnung lebt, tauchen die weggesperrten Unterpfände des Ehebruchs also wieder auf und referieren im Thema der Handarbeit auf die Anfangsszene des Romans, wo Effi als junges Mädchen mit ihrer Mutter im Hortus conclusus von Hohen-Cremmen eine Altardecke aus bunten Fäden knüpft. Mit der Stickerin als traditionellem Bild von weiblicher Tugend und der Adultera von Tintoretto ist in Fontanes jüngerem Roman in der Gegenüberstellung zweierlei Bildmaterials – einem literarischen, ‹geistigen› Bild und einem berühmten Gemälde aus dem 16. Jarhundert – im Diskurs bürgerlicher Moralvorstellung, die sich ganz offensichtlich an christlichen Bildern orientiert, das Titelmotto artikuliert, welches in den Texten des 19. Jahrhunderts mit der Inszenierung textiler Handarbeit ausgestellt ist: der Ehebruch. Auch Flaubert greift nicht erst in seinen Trois contes (1877) – »Un cœur simple«, »Saint Julien l’hospitalier« und »Hérodias« – auf christliche Bilder zurück, um seine Figuren zu modellieren; sie begleiten sein Schaffen von Beginn an. Wie frühe Entwürfe zu Madame Bovary zeigen, ist Emma in ihrer Entstehung zunächst eine »Marie«, wie sie Marie Arnoux in der Éducation Sentimentale (1869) wird und bereits im Jugendwerk Novembre (1842) als Prostituierte mit dem Namen Marie auftaucht. Die Dachthematik des Liebens als marianischem Diskurs, die diese drei Romane verbindet (und schließlich mit der DienstmagdFigur Félicité in »Un cœur simple« ihre Klimax erfährt), visualisiert sich in einem Anagramm: Marie – aimer.170 In einer langen Tradition französischer Dichtung wird auf dieses Anagramm Bezug genommen und Liebe ›marianisch‹ erzählt. Darauf scheint Flaubert als »signe« zurückzugreifen, wenn er in seinen Scénarios die Protagonistin seines ersten großen Romans folgendermaßen entwirft: Me Bovary Marie (signe Maria, Marianne ou Marietta) fille d’un cultivateur aisé élevée au couvent à Rouen – nobles amies – toilette piano – couvent.171

170 Cordula Reichart: »Bas blanc«, in: Barbara Vinken/Cornelia Wild (Hrsg.): Arsen bis Zucker. Flaubert-Wörterbuch, Berlin: Merve, 12010, S. 19–21. Hier: S. 20. 171 Plans et scénarios, folio 1/Séquence 1.

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Mit dieser Idee erweist sich Flaubert folglich als nicht sonderlich originell. Insbesondere im 19. Jahrhundert, dem ›Marienjahrhundert‹, ist der Rückgriff auf marianische Topoi zur Darstellung von Frauenfiguren zum poetologischen Gemeinplatz geworden.172 In Frankreich bedient sich vor allem die Romantik mit ihren Dienstmädchenfiguren und dem Topos der Magd Gottes ausgiebig an marianischen Gemeinplätzen, nämlich der im Lukasevangelium dargestellten Ancilla (Magd), einem Synonym für die Geschichte von Mariä Verkündigung, der der ikonographische Gartenraum des Hortus conclusus entspringt. Marias Demutsgebärde »ja, ich bin des Herren Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast« (Lk, 1,2638) wird an der Figur des arbeitsamen und vom Schicksal gebeutelten Dienstmädchens ausformuliert, wie es etwa Lamartines Konzeption der Näherin Geneviève (1850) ausreizt –173 auch sie wird wie die Bovary beständig in textiler Beschäftigung gezeigt –, die sich Flaubert später samt Marientopik in Gestalt seiner Dienstmädchenfigur Félicité vornehmen wird.174 Auch die Vorstellung der Sponsa Christi, also der Braut Jesu, die sich in Liebe mit ihm vereint, prägt die marianischen Topoi der Literatur, auf die das 19. Jahrhundert bei der Modellierung seiner weiblichen Figuren zurückgreift. Während der Arbeit an Madame Bovary vertieft sich Flaubert in die Schriften der größten aller Bräute Christi, Teresa von Avila; in diesem Sinne erklärt er Louise Colet, er habe Emma Bovary als »une fille, qui meurt vierge et mystique« im Kopf. Kurz nach Veröffentlichung des Romans behauptet Flaubert, er habe sich seine Heldin ursprünglich vorgestellt als »vierge, vivant au milieu de la province, vieillissant dans le chagrin et arrivant ainsi aux dernières états du mysticisme et de la passion rêvée«. 175 Eine »mystische Jungfrau« ist Emma nicht geworden; eine Jungfrau bleibt sie allemal: Sie wird als marianische Figur in einem Gartenraum inszeniert, der als räumliches Bild, als Hortus conclusus, den Grundstein legt für die Raumkon-

172 Schuster vermerkt über die »Häufigkeit religiöser Anspielungen« in Fontanes Romanen: »Was uns heute als gesuchter Verweis erscheint, ist vielfach nur Ausdruck damals herrschender Gesprächskonventionen«. Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, S. 138 (Anm. 163). 173 Alphonse de Lamartine Geneviève, histoire d’une servante, Paris: Wittersheim, 1

1850.

174 Vgl. zu Lamartine und Un cœur simple sowie zur Marienikonographie im 19. Jahrhundert, insbes. bei Flaubert, Vinken, Flaubert, S. 321 143, 394 413 (Anm. 65). 175 Barbara Vinken: : »Ästhetische Erfahrung durchkreuzt: Der Fall Madame Bovary«, in: Joachim Küpper (Hrsg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 12003, S. 241–263. Hier: S. 248 249.

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zeption in Madame Bovary. Wie Flaubert beginnen um 1850 nun auch andere Künstler, die alten, zu idées reçues verkommenen und in ihrer Symbolik verkrusteten marianischen Topoi auf verschiedene Weise wiederzubeleben, indem beispielsweise die Heilige mit verführerischen Evafiguren überblendet und zur erotischen Maria umbesetzt wird.176 Mit großer Tragweite aber – und das ist bisher für literarische Texte weitgehend übersehen worden – tritt dabei zusammen mit der Zurschaustellung textiler Handarbeit der sakrale Raum des Hortus conclusus als Reflexionsmodell auf, durch das erst der moderne Raum der kapitalistischen Zeit in den Texten Bedeutung erlangt. Das Oszillieren zwischen religiösem und profanem Diskurs, das bei diesen neuen, als Bildversionen in die Texte eingehenden Horti conclusi zu beobachten ist, fußt unter anderem auf der Tatsache, dass die Inszenierung textiler Handarbeit in einer geschlossenen Architektur als Bild weiblicher Tugend aus der profanen Literatur stammt. Lange vor der Mariengeschichte findet man sie prominent in Texten der Antike ausformuliert. Bereits Homer erzählt mit Penelope, die beständig an einem Tuch webt, um sich die ihr Inklusorium belagernden Freier vom Leib zu halten, eine solche Geschichte. Die Odyssee erfindet so mit ihrer Protagonistin eine Figur, deren Lebensgeschichte als textile Tätigkeit verhandelt wird und die seit dem frühen Mittelalter als Vorlage bei der Darstellung der textil beschäftigten jungen Maria einfließt. Im Zitat des marianischen Gartenraumes in der Literatur des 19. Jahrhunderts wird diese antike Vorlage wieder mit aufgenommen. Die narrative Grundstruktur des Homer’schen Epos prägt nicht nur die Erzählungen von Marias Mädchenzeit (in Text und Bild), sondern auch die modernen Ehebruchsromane. Sie schlägt sich dort als immergleicher Konflikt des ewigen (vergeblichen) Wartens auf das Glück nieder. Dabei geht es stets um die Trennung (bzw. das Getrenntsein) und die Vereinigung zweier Liebender und damit einhergehend um die Frage nach einer (un)möglichen Wahrung weiblicher Reinheit und Tugend, die sich für die Figuren in der drohenden Gefahr der Untreue äußert. Homers Penelope kann daher als Urahnin all jener weiblichen Figuren gelten, deren textile Handarbeit als Ereignis und damit als Problematik von entgegengesetzten, unvereinbaren Räumen inszeniert wird. Beginnend mit Marias

176 Charles Baudelaires »À une madonne« aus den Fleurs du mal (1857) wäre hier ein schönes Beispiel. Zur Evawerdung der Maria vgl. z. B. Vinken, Flaubert, S. 325 330 (Anm. 65), Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, S. 82 86 (Anm. 163), und Beryl Schlossman: Objects of Desire. The Madonnas of Modernism, Ithaca: Cornell University Press, 11999.

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Geschichte, wie sie Jakobus erzählt, möchte ich nun in die eingehende Analyse der Texte (und Gemälde) einsteigen, von Homers Odyssee bishin, schließlich, zu Fontanes Effi Briest und Flauberts Madame Bovary.

Textile Handarbeit. Textanalysen Spinnen und Weben sind alte Sinnbilder des Lebens […]. CHRISTLICHE SYMBOLIK (1854)1 Avec le culte de la Vierge, l’adoration des larmes est arrivée dans le monde. Voilà dix-huit siècles que l’humanité poursuit un idéal rococo. Mais l’homme s’insurge encore une fois, et il quitte les genoux amoureux qui l’ont bercé dans sa tristesse. Une réaction terrible se fait dans la conscience moderne contre ce qu’on appelle l’amour. GUSTAVE FLAUBERT2

D IE J UNGFRAU : D AS M ARIENLEBEN DES J AKOBUS Die Hortus conclusus-Darstellungen illustrieren primär zwar eine Geschichte aus der Bibel, das Lukasevangelium, das von Mariä Verkündigung berichtet (Lk, 1,26&56). Da dort jedoch weder von den näheren Umständen der Verkündigung, geschweige denn von Details aus dem Leben der jungen Maria die Rede ist, schöpft die Kunst den Großteil der Hintergrundinformationen, die letztlich zur typisierten Marieninszenierung als Hortus conclusus führen, aus einer Geschichte, die in den sogenannten verbotenen Evangelien erzählt wird und sich seit jeher großer Beliebtheit erfreute: dem Protevangelium von Jakobus.

1

Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik, Regensburg: Joseph Manz, 11854 (2 Bde),

2

Brief an Louise Colet, 12. April 1854.

Bd. I, »Kreuz«, S. 517.

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Der von der Heiligen Familie handelnde Text lässt sich in drei Teile gliedern: Er beginnt mit der überraschenden Empfängnis der unfruchtbar geglaubten Anna, Marias Mutter. Es geht weiter mit Marias Geburt, ihrer Mädchenzeit im Tempel und der Verkündigung. Daraufhin werden Marias Verlobung mit Josef, die Geburt Jesu und ihre Umstände erzählt. Die Geschichte endet mit der Verfolgung der Heilgen Familie durch Herodes und der Flucht von Marias Cousine Elisabeth mit ihrem Sohn Johannes (dem Täufer). Im Epilog gibt sich schließlich Jakobus als Autor zu erkennen.3 Der französische Humanist Guillaume Postel brachte den ursprünglich auf griechisch verfassten Text von einer Orientreise mit in seine Heimat und übersetzte ihn 1552 erstmals ins Lateinische.4 Diese Übersetzung übte einen enormen Einfluss auf die Kunst des Mittelalters in all ihren Formen aus – es entstanden Fresken, Ikonen, Miniaturen, religiöse Objekte. Die Heilige Familie, insbesondere aber die Erzählung von Marias Leben, ihrer Geburt und Kindheit, ihrer Vermählung und die jungfräuliche Geburt Jesu waren Sujets einer geradezu ausufernden ikonographischen Produktion und speisten die volkstümliche Marienverehrung.5 Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die einzig zugängliche französische Version der Apokryphen die Übertragung von Voltaire und seinem Übersetzerteam. Diese findet sich in Voltaires Œuvres complètes unter der Kategorie Philosophie, deren erste Ausgabe 1776 noch zu seinen Lebzeiten erschien und die im Jahre 1830, mitten in der französischen Romantik, einer Hochzeit der Marienverehrung, neu aufgelegt wurde.6

3

François-Marie Human/Jacques-Noël Pérès: Les Apocryphes chrétiens des premiers sciècles. Mémoires et traditions, Paris: Desclée de Brouwer, 12009, S. 67.

4

Ebd., S. 65.

5

Ebd., S. 68.

6

Voltaire: »Protévangile attribué à Jacques surnommé le Juste, Frère du Seigneur«, in: V.: Œuvres complètes. Avec notes, préfaces, avertissemens, remarques historiques et littéraires, XXVIII. Philosophie.Tome III. La bible enfin expliquée par plusieurs aûmoniers (1776), Paris: Armand-Aubrée, 1830, S. 430–443. Das Protevangelium ist im Folgenden mit PJ abgekürzt. Voltaire hatte sich bereits lange schon mit den Übersetzungen und Kommentaren zu den Apokryphen beschäftigt; 1769 veröffentlichte er unter dem Namen Abbé B**** die erste Sammlung apokrypher Texte in französischer Sprache, die Collection d’anciennes évangiles ou monuments du premier sciècle du christianisme, extraits de Fabricius, Grabius et autres savants. Vgl. Rémi Gounelle: »Voltaire, traducteur et commentateur de L’Évangile de Nicodème«, in: Revue des Études Augustiennes 43 (1997), S. 173−200.

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Jakobus erzählt auf recht spannende Weise die Verkündigung als kuriose Begebenheit: Das Mädchen Maria ist eine ausgezeichnete textile Handarbeiterin, die die feinsten Textilien zu spinnen und zu verweben weiß. Plötzlich wird sie schwanger, und ihr Ziehvater Josef, dem die Jungfrau anvertraut ist, rauft sich die Haare. Erstens, so wirft er sich vor, hätte er besser auf das in seiner Obhut befindliche Mädchen aufpassen müssen und zweitens wird er nun selbst von der Dorfgemeinschaft für ihre Schwangerschaft zur Verantwortung gezogen und für einen Wüstling gehalten. Indes schwört die junge Maria Stein und Bein, sich von allen Männern ferngehalten zu haben. Jakobus’ Erzählung bettet die Umstände von Mariä Verkündigung, oder, um es profan zu formulieren, ihrer Verlobung, in einen textilen Diskurs ein: Ihre Tätigkeit als exzellente Spinnerin und Weberin begleitet und umrahmt die Verkündigungsszene und modelliert so das Ereignis der Verkündigung heraus. Zugunsten der Inszenierung dieses Ereignisses wird die Handarbeit signifikativ unterbrochen – wie es bei den textilen Handarbeiterinnen in den Texten des 19. Jahrhunderts ebenso der Fall ist, die ihre Handarbeit ruhen lassen und aus dem Fenster sehen – Fontanes Effi Briest wird hierfür gar die für alle Handarbeiten typische sitzende Position verlassen, sich erheben und im Garten herumturnen. Die sitzende Position Marias ist auch Jakobus wichtig; in der Bildenden Kunst wird Maria bei der Verkündigung stets sitzend dargestellt, offensichtlich um ihren Schoß (von dem erst in einer sitzenden Position die Rede sein kann) und damit das Thema der bevorstehenden Empfängnis zu inszenieren. Weiterhin ist es eben diese textile Beschäftigung selbst, mit der Maria von vornherein unter den Frauen ausgezeichnet erscheint und mit der ihre Besonderheit gerade aufgrund ihrer niederen Herkunft angezeigt ist. Ganz ähnlich findet man diesen Sachverhalt bei Emma Bovary artikuliert, wenn sie stopft und stickt, in der bäuerlichen Küche sitzt und im Seidenkleid in die Kirche geht. Marias Beschäftigung wird von Jakobus als eine tugendhafte Tätigkeit vorgestellt, deren schützende Funktion von jenen Mauern der Architektur gedoppelt wird, innerhalb derer die Literatur – wie auch die Bildende Kunst mit dem Zusatz des aus dem Hohelied stammenden Gartenmotivs – textile Handarbeit in Szene setzt. Jakobus’ Geschichte der Verkündigung klingt bei Voltaire folgendermaßen: X. — Or, il se tint un conseil des prêtres, disant : Faisons un voile (ou un tapis) pour le temple du Seigneur. Et le prince des prêtres dit : Appelez-moi des vierges sans tache, de la tribu de David. S’en allant donc et cherchant, ils trouvèrent sept vierges. Et le prince des prêtres se ressouvint de Marie, qu’elle était de la tribu de David, et sans tache devant Dieu. Et le prince des prêtres dit : Tirez-moi au sort laquelle filera du fil d’or (d’amiante) et de

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fin lin (et de soie), et d’hyacinthe, et d’écarlate, et de la vraie pourpre ; et Zacharie se ressouvint de Marie, qu’elle était de la tribu de David ; et la vraie pourpre (et l’écarlate) échut à Marie par le sort ; et (les ayant reçues) elle s’en alla dans sa maison. Or, dans ce même temps, Zacharie perdit la parole. Et Samuel prit sa place, jusqu’à ce que Zacharie recommença à parler. Marie ayant reçu la pourpre (et l’écarlate) fila. XI. — Et ayant pris une cruche, elle sortit puiser de l’eau. Et voici une voix qui lui dit : Je vous salue, pleine de grâce, le Seigneur est avec vous ; vous êtes bénie entre les femmes. Or, Marie regardait à droite et à gauche pour savoir d’où venait cette voix. Et, toute tremblante, elle entra dans sa maison, et quitta sa cruche ; et ayant pris la pourpre, elle s’assit sur sa chaise pour travailler. Et voici que l’ange du Seigneur se présenta devant elle, disant : Ne craignez point, Marie, vous avez trouvé grâce auprès du Seigneur. Et l’entendant, Marie s’entretenait en soi-même de ces pensées : Si je concevrai par le Dieu vivant, et j’enfanterai comme chaque femme engendre ? Et l’ange du Seigneur dit : Il n’en sera pas ainsi, ô Marie ! car le Saint-Esprit viendra sur vous, et la vertu de Dieu vous couvrira de son ombre. C’est pourquoi le saint qui naîtra de vous sera appelé le fils du Dieu vivant. Et vous lui donnerez le nom de Jésus : car c’est lui qui sauvera son peuple de leurs péchés. Et voici que votre cousine Élisabeth a conçu son fils dans sa vieillesse : et ce mois-ci est le sixième pour celle qui était appelée stérile, parce que tout ce que je vous dis ne sera pas impossible auprès de Dieu. Et Marie dit : Voici la servante du Seigneur ; qu’il me soit fait selon votre parole. XII. — Et ayant achevé la pourpre et l’écarlate, elle l’apporta au grand prêtre. Il la bénit, et dit : Ô Marie ! votre nom est magnifié, et vous serez bénie dans toute la terre. Marie, ayant conçu une grande joie, s’en alla vers Élisabeth, sa cousine, et frappa à sa porte. Et Élisabeth, l’entendant, accourut à la porte, et lui ouvrit, et dit: Et d’où me vient ce bonheur que la mère du Seigneur vienne à moi ? Car ce qui est en moi a tressailli et vous a béni. Or Marie elle-même ignorait ces mystères, dont l’archange Gabriel lui avait parlé. Et, regardant le ciel, elle dit : Qui suis-je, pour que toutes les générations me disent ainsi bienheureuse ? Mais de jour en jour son ventre grossissait ; et, frappée de crainte, Marie s’en alla dans sa maison, et se cacha des enfants d’Israël. Elle avait seize ans lorsque ces mystères s’accomplissaient.7

Im Folgenden zitiere ich sowohl den französischen Text nach Voltaire, als auch den deutschen Text nach einer Neuübersetzung aus dem Griechischen von Jürgen Werlitz, da sich beide Texte im Detail unterscheiden. Werlitz’ Übersetzung folgt der ältesten Handschrift des Protevangeliums, dem sogenannten Papyrus

7

PJ, Voltaire, X−XII, S. 435−437.

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Bodmer 5, das aus dem vierten oder gar dritten Jahrhundert datiert. In eckigen Klammern vermerkt Werlitz die entsprechenden Passagen aus dem Lukasevangelium; die Kursivierungen in seiner Übersetzung markieren Rückgriffe auf andere Handschriften des Evangeliums zur besseren Verständlichkeit des Textes. 10. Kapitel (1) Bei einer Beratung beschlossen die Priester: »Laßt uns einen neuen Vorhang für den Tempel des Herrn anfertigen!« Der Hohepriester sprach: »Ruft mir die reinen Jungfrauen aus dem Stamm Davids!« Die Diener gingen los, suchten und fanden sieben solcher Jungfrauen. Der Priester erinnerte sich nun, daß das Mädchen Maria aus dem Hause David stammte und rein vor Gott war. Da gingen die Diener weg, um auch sie zu holen. (2) Sie führten sie in den Tempel des Herrn hinein, und der Priester sprach: »Lost mir hier aus, wer das Gold, den Amiant, das Leinen, die Seide, den Hyazinth, den Scharlach und das Purpur verweben soll!« Das Los für den echten Purpur und den Scharlach fiel auf Maria. Und sie ging damit nach Hause. Zu jener Zeit wurde Zacharias stumm, und Samuel wurde Priester an seiner Stelle, bis Zacharias wieder sprechen konnte. Maria aber nahm den Scharlach und spann ihn. 11. Kapitel (1) Und sie nahm den Krug und ging hinaus, um ihn mit Wasser zu füllen. Und siehe, eine Stimme sagte zu ihr: »Sei gegrüßt, du Gnadenvolle! Der Herr ist mit dir. Gesegnet bist du unter den Frauen.« [Lk 1,28: »Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen.«] Und Maria schaute sich nach rechts und links um, woher denn diese Stimme gekommen sein könnte. Schaudernd ging sie in ihr Haus zurück, stellte den Krug ab und nahm den Purpur, setzte sich damit auf den Stuhl und verwebte ihn. (2) Siehe, da stand ein Engel vor ihr und sagte: »Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden vor dem Herrscher des Alls. Du wirst empfangen aus seinem Wort.« [Lk 1,30: »Der Engel sprach zu ihr: ›Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott!‹] Als sie das hörte, zweifelte Maria und sprach zu sich selbst: »Ich soll vom Herrn, dem lebendigen Gott, empfangen und wie jede andere Frau gebären?« (3) Siehe, da trat ein Engel vor sie und sagte zu ihr: »Nicht so, Maria! Denn die Kraft Gottes wird dich überschatten. Deshalb wird auch der Heilige, der aus dir geboren wird, Sohn des Höchsten genannt werden. Du sollst ihn Jesus nennen, denn er wird sein Volk von seinen Sünden erretten.«

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Maria sprach: »Siehe, ich bin eine Dienerin des Herrn vor seinem Angesicht. Mir geschehe nach deinem Wort.« [Lk 1,38: »Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort!«] 12. Kapitel (1) Und sie webte den Scharlach und den Purpur fertig und brachte ihre Arbeit dem Priester. Der Priester nahm es in Empfang, lobte sie und sprach: »Maria, Gott, der Herr, hat deinen Namen groß gemacht, und gepriesen sollst du sein unter allen Geschlechtern der Erde.« (2) Voll Freude ging Maria zu ihrer Verwandten Elisabeth und klopfte dort an die Tür. Als sie es hörte, legte Elisabeth den Scharlach weg, lief zur Tür und öffnete. Sie hieß sie willkommen und sprach: »Wie kommt’s, daß mich die Mutter des Herrn besucht? Denn siehe, das Kind in mir hüpfte und segnete dich.« Maria aber hatte die Geheimnisse vergessen, die ihr der Engel Gabriel gesagt hatte. Und sie blickte zum Himmel und sagte: »Wer bin ich denn, daß alle Frauen der Erde mich glücklich preisen?« (3) Sie verbrachte drei Monate bei Elisabeth. Tag für Tag wuchs ihr Bauch. Und weil sie Angst hatte, ging Maria nach Hause und versteckte sich dort vor den Söhnen Israels. Sie war 16 Jahre alt, als ihr diese geheimnisvollen Dinge passierten.8

Jakobus bereitet diese Verkündigungsszene und damit die Rolle, die die textile Handarbeit sowie deren Ort als geschlossene und ›männerfreie‹ Architektur spielen wird, sorgfältig vor: Maria wächst ab ihrem zweiten Lebensjahr im Tempel auf; die Erzählung ihrer textilen Beschäftigung setzt mit ihrer Geschlechtsreife ein. Als sie zwölf Jahre alt wird, muss sie eine Tätigkeit finden, die ihre Tugend, in erster Linie aber die Reinheit ihres ersten Ortes, nämlich des Tempels, bewahren soll. Damit ist die Thematik der Entheiligung bzw. Profanisierung des marianischen Raumes als Diskurs von Gefahr und Bewahrung bereits von Beginn an Teil dieser Geschichte, wie es auch die oszillierende Bewegung zwischen einem sakralen und einem profanen Raum zeigt, die in den Texten des 19. Jahrhunderts mit ihren Versionen des Hortus conclusus zu beobachten ist.

8

Katharina Ceming/Jürgen Werlitz: »Protevangelium/Marienleben«, in: Katharina Ceming/Jürgen Werlitz (Hrsg.): Die verbotenen Evangelien. Apokryphe Schriften, Neuübersetzung der Evangelientexte von Jürgen Werlitz, Augsburg: Pattloch, 11999, (10.2–12.3), S. 79–81. Im Folgenden PJ. Kursivsetzungen in allen Zitaten aus dieser Vorlage entsprechen dem Text.

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Lorsqu’elle eut douze ans, il se tint (dans le temple du Seigneur) un conseil des prêtres, disant : Voilà que Marie a douze ans dans le temple du Seigneur ; que lui ferons-nous, de peur que la sanctification du Seigneur notre Dieu ne soit peut-être souillée ? Als sie zwölf Jahre alt wurde, berieten sich die Priester und sprachen: ›Seht, jetzt ist Maria im Tempel des Herrn zwölf Jahre alt geworden. Was sollen wir also tun, damit sie das Heiligtum des Herrn, unseres Gottes, nicht unrein macht?‹9

So beginnt die Geschichte von Mariä Verkündigung mit einem textilen Auftrag: Die Priester beschließen nämlich, die junge Maria, die nun nicht mehr im Tempel wohnen darf, im Hause Josefs unterzubringen und sie, zusammen mit sieben weiteren reinen Jungfrauen, mit der Arbeit an einem neuen Vorhang bzw. Teppich für den Tempel zu beschäftigen: »Faisons un voile (ou un tapis) pour le temple du Seigneur«. Et le prince des prêtres dit : Tirez-moi au sort laquelle filera du fil d’or (d’amiante) et de fin lin (et de soie), et d’hyacinthe, et d’écarlate, et de la vraie pourpre ; et Zacharie se ressouvint de Marie, qu’elle était de la tribu de David ; et la vraie pourpre (et l’écarlate) échut à Marie par le sort ; et (les ayant reçues) elle s’en alla dans sa maison. […] Marie ayant reçu la pourpre (et l’écarlate) fila. Sie führten sie [Maria] in den Tempel des Herrn hinein, und der Priester sprach: »Lost mir hier aus, wer das Gold, den Amiant, das Leinen, die Seide, den Hyazinth, den Scharlach und das Purpur verweben soll!« Das Los für den echten Purpur und den Scharlach fiel auf Maria. Und sie ging damit nach Hause. […] Maria aber nahm den Scharlach und spann ihn.10

Maria befindet sich bei dieser Arbeit nun alleine im Haus, denn aus Angst davor ins Gerede zu kommen,11 zieht Josef aus um Häuser zu bauen und überlässt die Jungfrau Gottes Schutz.12 Diese spinnt also den Scharlach zu Fäden und steht

9

PJ, Voltaire VIII, S. 434 435/ Werlitz (8.2), S. 77.

10 PJ, Voltaire X, S. 435 436/ Werlitz (10.2), S. 79. 11 »J’ai des fils, et je suis vieux ; mais elle est très-jeune : de là je crains de devenir ridicule aux enfants d’Israël.«/ ›Ich habe schon Söhne und bin ein alter Mann, sie aber ist eine junge Frau. Da werde ich doch zum Gespött für die Söhne Israels!‹ PJ, Voltaire IX, S. 435/ Werlitz (9.2), S. 78. 12 »Marie, voici que je vous prends du temple du Seigneur, et je vous laisserai à la maison, et j’irai pour exercer ma profession de charpentier (et je reviendrai à vous). Et

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zwischendrin auf, um nach draußen zu gehen und Wasser zu holen. Erst als sie ihre Handarbeit unterbricht und die sicheren Mauern verlässt, hört sie die Stimme des Engels, die sie zunächst nicht zuordnen kann: »Sei gegrüßt, du Gnadenvolle! Der Herr ist mit dir. Gesegnet bist du unter den Frauen« (»Je vous salue, pleine de grâce, le Seigneur est avec vous; vous êtes bénie entre les femmes«). Voller Furcht, »toute tremblante«, flüchtet sie zurück ins Haus, setzt sich und macht sich wieder an ihre Handarbeit. Jetzt erscheint plötzlich der Engel, dessen Stimme sie bereits gehört hatte und verkündet ihr, dass sie aus Gottes Wort empfangen und seinen Sohn auf die Welt bringen wird. Die Angst, die Maria empfindet und die der Engel thematisiert (»Fürchte dich nicht Maria!«, »Ne craignez point, Marie«), hat dabei weder mit der Erscheinung des Engels selbst – denn mit Engeln ist sie aus ihrer Zeit im Tempel vertraut –,13 noch mit dessen Botschaft zu tun. Was Maria das Fürchten lehrt, ist die unheimliche Situation, alleine und schutzlos außerhalb des Hauses zu sein und eine Stimme aus dem Off zu hören, von der sie wie eine Königin adressiert wird. Nach diesem Schreck ins Haus zurückgekehrt, lässt sich sie sich, so erzählt Jakobus ganz nonchalant, einfach auf ihrem Stuhl nieder und macht sich wieder an die Handarbeit. Selbst nachdem sich ihr der Engel daraufhin in seiner Gestalt zeigt und ihr die Aufgabe verkündet, den Sohn Gottes zu gebären, widmet sich Maria anschließend ihrer textilen Handarbeit, als wäre nichts geschehen und webt das Tuch fertig.

que le Seigneur vous conserve (tous les jours).«/ ›Maria, ich habe dich aus dem Tempel des Herrn empfangen. Jetzt lasse ich dich allein in meinem Haus zurück. Denn ich gehe fort, um Häuser zu bauen. Der Herr wird auf dich aufpassen.‹ PJ, Voltaire IX, S. 435/ Werlitz (9.3), S. 79. 13 »Or, Marie était comme une colombe élevée dans le temple du Seigneur, et elle recevait sa nourriture de la main d’un ange.«/ »Maria aber wurde im Tempel des Herrn gehegt wie eine Taube und erhielt Speise aus der Hand eines Engels.« PJ, Voltaire, VIII, S. 434/ Werlitz (8.1), S. 77. Als Maria sich vor den Priestern für ihre Schwangerschaft verantworten muss, fragt sie der Hohepriester: »Marie, pourquoi avez-vous fait cela ? et pourquoi avez-vous avili votre âme, et avez-vous oublié le Seigneur votre Dieu, vous qui avez été élevée dans le saint de saints, qui avez reçu votre nourriture de la main de l’ange, qui avez entendu ses mystères (et qui avez tressailli de joie en sa présence) ; pourquoi avez-vous fait cela ?« / ›Maria, warum hast du das getan? Hast du Gott, den Herrn, vergessen, du, die du im Allerheiligsten aufgezogen worden bist und Speise aus der Hand von Engeln empfangen hast, du, die du ihre Lobgesänge gehört und vor ihnen getanzt hast?‹ PJ, Voltaire XV, S. 438/ Werlitz (15.3), S. 84.

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Das Ereignis der Verkündigung, also die Ankündigung vom »Sohn des Höchsten«, ist eingebettet in die Erzählung von Marias textiler Beschäftigung, die beinahe wichtiger erscheint, als das große Ereignis selbst: Zum einen »vergisst« Maria die Erscheinung des Engels und seine Verkündigung einfach wieder und setzt ungerührt ihre textile Beschäftigung fort. Deren Ergebnis, der fertige Tempelvorhang, der bei dem Tod des Gottessohnes, von dessen Geburt eben erst Kunde getan wurde, zerreißen wird,14 bringt ihr in ihrem Stand als textile Handarbeiterin sodann großes Lob ein. Zum anderen handelt es sich, wie es bereits das im roten Farbton gedoppelte Material, Scharlach und Purpur, anzeigt, bei dieser Handarbeit um eine doppelte: Zunächst wird ein scharlachener Faden gesponnen, um diesen sodann zu einem großflächigen, purpurnen Textil zu verweben. Maria stellt aus dem wertvollen Rohstoff selbst die Fäden her, die sie in einer den Priestern zufolge offenbar großes Können erfordernden, webenden Tätigkeit zu einem Tempelvorhang weiterverarbeitet. Sie vermischt hier also den sozialen Diskurs, der mit der Art der Handarbeit verbunden ist, dem einfachen Spinnen und der anspruchsvollen Technik des Webens, und der in ihrer eigenen Herkunft als jenes Paradoxon offenbart wird, das das Ereignis von der Menschwerdung des Gottessohnes als Mysterium antizipiert: Das einfache Mädchen aus dem Volk wird Gottesmutter. Verarbeitet Maria Textilien, deren rote Farbe fortan metonymisch für sie steht, so ergänzt Flaubert in seiner Geschichte mit Emma das marianische Blau, eine Farbkombination, die für die Mariendarstellungen des 19. Jahrhunderts so typisch ist.15 Tatsächlich wird Maria in der Ikonographie des 19. Jahrhunderts vorwiegend in blauen Gewändern dargestellt. Wie der blaue Mérino der Bovary anzeigt, der aufgrund des Farbstoffes (wie auch ihre Seiden- und Kaschmirkleider) sehr teuer ist, so ist Marias Rot ein ebenso teurer Farbstoff, der aus der

14 »Le soleil s’obscurcit, et le voile du temple se déchira par le milieu. Jésus s’écria d’une voix forte: Père, je remets mon esprit entre tes mains. Et, en disant ces paroles, il expira.« / »[…] und die Sonne verfinsterte sich; und der Vorhang im Tempel riss mitten entzwei. Und Jesus rief mit lauter Stimme: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. Mit diesen Worten verschied er.« Lk, 23,44−46. 15 Die Dichotomie von Rot und Blau findet sich in Flauberts Werk selbst: Seinem »blauen« Roman Madame Bovary folgt im Jahre 1862 der »purpurne« Orient-Roman Salammbô. Vgl. hierzu das zu Flauberts Salammbô zentrale Nachwort von Monika Bosse und André Stoll in der Insel-Ausgabe der deutschen Übersetzung: Gustave Flaubert: Salammbô (1862), übers. v. Georg Brustgi, mit einer Bilddokumentation und einem Nachwort von Monika Bosse und André Stoll, Frankfurt a.M., Leipzig: Insel, 1

1996, S. 401−448.

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Purpurschnecke gewonnen wird. Blau und Rot sind daher als sehr kostspielige Farbstoffe seit jeher die Farben aller Herrscherinnen.16 Maria freut sich über das Lob, das sie vom Priester für ihre schöne, rote Textilarbeit erhält. Als sie das fertige Gewebe im Tempel abgibt, spricht sie der Priester, wie es der Engel getan hatte, wie eine Königin an, und scheint damit – zumindest aus Marias Sicht, denn sie hat das Ereignis, auf das der Priester eigentlich referiert, ja vergessen – ihr textiles Talent zu meinen: ›Maria, Gott, der Herr, hat deinen Namen groß gemacht, und gepriesen sollst du sein unter allen Geschlechtern der Erde.‹ »Voll Freude« über diese Auszeichnung geht Maria nun zu Elisabeth, die noch mit dem Spinnen des Scharlach beschäftigt ist und wird zu ihrer größten Verwunderung nun zum dritten Mal als Herrin angesprochen: ›Wie kommt’s‹, sagt Elisabeth zu ihr, ›dass mich die Mutter des Herrn besucht?‹ Verdutzt fragt Maria sich mit Blick gen Himmel: ›Wer bin ich denn, dass alle Frauen mich glücklich preisen?‹ Sie zieht nun drei Monate bei Elisabeth ein, da ihre Handarbeit zuende gebracht ist und Maria daher bei sich zuhause schutzlos und alleine wäre. Doch ihr Babybauch beginnt sich allmählich abzuzeichnen, und aus Angst vor dem Gerede der Dorfbewohner versteckt sich die junge Frau nun hinter verschlossenen Türen: im Haus von Josef. Es ist signifikant, dass eine Geschichte, die als das Heilsversprechen schlechthin eine der bedeutendsten der christlichen Lehre ist, gleichzeitig eine Geschichte über Angst und Scham, über Entehrt-Werden und Entheiligen, über Eingesperrtund Ausgestoßen-Sein darstellt. Die Konsequenzen des Engelsbesuches, also Marias unbefleckte Empfängnis, erleben die beteiligten uninformierten Figuren als Skandal, nämlich als die unerhörte Geschichte von der Verführung einer reinen Jungfrau bei ihrer tugendhaften Handarbeit für den Tempel, wie es nun die Reaktion des Patriarchen entlarvt: Beschuldigt wird nicht das junge Mädchen, sondern der (vermeintliche) männliche Eindringling, der die Schutzlose verführt hat: Josef. Als dieser, so geht die Geschichte weiter, nach langer Abwesenheit in sein Haus zurückkehrt, ist Maria im sechsten Monat schwanger – und der alte Mann verliert völlig die Fassung: »›Wer hat mich betrogen?‹« schreit er und wirft sich vor lauter Verzweiflung auf den Boden. »›Wer hat dieses Unrecht in meinem

16 Aus eben diesem Grund wird Jesus, der bei seinem Martyrium als König der Juden verhöhnt wird, zusammen mit der Dornenkrone auf seinem Kopf in einen Purpurmantel gesteckt. Joh, 18, 19.2.

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Haus angerichtet? Wer hat mir die Jungfrau verführt und sie unrein gemacht?‹«17 Ganz klar, so denkt Josef, dies ist der Sündenfall: »›Denn wie Adam in der Stunde der Anbetung abwesend war, als die Schlange kam, Eva allein fand, sie verführte und unrein machte, so geschah es nun auch mir.‹«18 Die Reinheit Marias wird also von vorneherein im Diskurs des Sündenfalls verhandelt, Maria wird zur verführten und daher sündigen Eva. Die Parallelführung von Maria und Eva im Diskurs der gefährlichen Verführerin bzw. der schamlosen, die Männer ins Unheil lockenden Hure, ist folglich nicht genuin eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, sondern ein Aufgreifen und Ausarbeiten einer Dichotomie, die bereits im Marienleben selbst angelegt ist. Dreh- und Angelpunkt dieser Skandalgeschichten über Verführte und Verführer, wie auch Mariä Verkündigung eine ist, stellt die Opposition von einem unvereinbaren Innenraum und Außenraum dar, die erst die Verführung der weiblichen Figur möglich macht. Dabei ist es unerheblich, ob es ums Schwangerwerden oder um Ehebruch geht. Auch die Unterscheidung von Jungfrau und tugendhafter Ehefrau, die ja eigentlich eine zentrale ist, wird aufgelöst und im Diskurs bewahrter Tugendhaftigkeit zusammengeführt. Denn im Vordergrund steht, wie in der Geschichte von Mariä Verkündigung, das Versprechen einer heilsbringenden Liebe, die in Erfüllung gehen wird. An dieses Versprechen erinnert das Angelus-Gebet (Der Engel des Herrn), das morgens, mittags und abends geläutet wird und das auch die junge Emma Bovary in Yonville mehrmals hören wird.

D IE E HEFRAU : H OMERS P ENELOPE Protevangelium und griechischer Roman Jakobus’ Protevangelium als Prosatext19 über die Mädchenschaft Mariens und damit über die genauen Umstände der Verkündigung Jesu stellt das am häufigs-

17 Im Französischen heißt es: Wer hat die Jungfrau gefangen genommen und verführt? »[Q]ui m’a trompé ? Qui a fait ce mal dans ma maison ? Qui a captivé et séduit la vierge ?« PJ, Voltaire XIII, S. 437/ Werlitz (13.1), S. 81 82. 18 »Ne m’est-il pas arrivé une histoire pareille à celle d’Adam ? Car à l’heure de son bonheur, le serpent entra et trouva Ève seule, et il la séduisit : oui, oui, pareille chose m’est arrivée.« PJ, Voltaire XIII, S. 437/ Werlitz (13.1), S. 82. 19 »Zunächst sind es Prosaschriften, genauer erzählende Prosa: Bei keinem der unter dem Begriff Evangelium gefaßten Schriften handelt es sich um poetische Werke in

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ten übersetzte und beliebteste apokryphe Evangelium dar, dessen älteste überlieferte Handschrift, wie Homers Odyssee, auf griechisch verfasst wurde.20 Die außerkanonischen Evangelien orientieren sich in ihrer Motivik und Erzählstruktur grundsätzlich am antiken Roman,21 an dessen Anfang die Odyssee als Prototyp des griechischen Romans steht.22 Homers basaler Erzählstrang von Trennung, Suche und Wiedervereinigung zweier Liebender findet im antiken Roman als vereinfachtes Muster seine Entsprechungen23 und mag auf den ersten Blick nichts mit Marias Geschichte zu tun haben. Wenn die Geschichte von Mariä Verkündigung jedoch ab dem Mittelalter nun mit einer Passage aus dem Hohelied zusammengelesen wird,24 die von der Sehnsucht zweier getrennter Geliebter erzählt, so wird diese Vereinigung mit dem göttlichen Bräutigam, den die Jungfrau in ihrer schützenden Architektur empfängt, als Liebesgeschichte zum ewigen Glück und Heil der ganzen Menschheit verhandelt. Es liegt also auf der Hand, dass sich das Protevangelium von Jakobus, das eingehend von Marias textiler Beschäftigung als Spinnerin und Weberin erzählt, an dem klassischen Topos textiler Handarbeit als tugendhafte, weibliche Beschäftigung und damit an Homers Darstellung der Penelope orientiert hat, die ihrerseits in steter Erwartung ihres Gatten und zum Schutze vor

gebundener Rede (genausowenig wie beim antiken Roman)«. Oliver Ehlen: Leitbilder und romanhafte Züge in apokryphen Evangelientexten. Untersuchungen zur Motivik und Erzählstruktur (anhand des Protevangelium Jacobi und der Acta Pilati Graec. B), Stuttgart: Steiner, 12004 (Altertumswissenschaftliches Kolloquium, 9). Hier: S. 75. 20 Ceming/Werlitz, Die verbotenen Evangelien, S. 68 (Anm. 8). 21 Vgl. zu Details Ehlen, Leitbilder und romanhafte Züge in apokryphen Evangelientexten (Anm. 19). 22 Ebd., S. 18. Ehlen bezieht sich hier auf Tomas Hägg: Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt, hrsg. v. Kai Brodersen, Mainz a.R.: von Zabern, 11987 (Kulturgeschichte der antiken Welt, 36). »Die Odyssee ist der Prototyp des griechischen Romans – sie ist schlichtweg der erste Roman über Liebe, Reisen und Abenteuer auf Griechisch. Freilich ist die Fabel der Odyssee nicht so unkompliziert wie die der späteren Romane mit ihrem Grundmuster von Trennung, Suche und Wiedervereinigung der beiden Liebenden. Doch Odysseus’ lange Fahrten zwischen Troia und Ithaka, seine phantastischen Abenteuer, die Frauen, denen er begegnet und die ihn in Versuchung führen wollen, bevor er schließlich mit seiner Gattin wiedervereint ist […], alles das hat in den späteren Romanen seine Entsprechungen.« Hägg nach Ehlen, S. 18. 23 Hägg nach Ehlen, ebd. 24 Sh. das vorhergehende Kapitel zu Gartengeschichten und Marienikonographie.

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ihren Freiern ein Tuch webt – zwar keinen Tempelvorhang wie Maria, sondern ein Grabtuch. Die grundlegende Kompliziertheit und Komplexität von Homers Text, die dann in seinen antiken Nachahmungen erst einmal weitgehend verloren geht,25 charakterisiert auch die aus mehreren literarischen Quellen gespeiste Geschichte der Verkündigung Mariä, wie es sich seit der Renaissance in den Hortus conclusus-Darstellungen manifestiert, und zwar als genuine Liebesgeschichte, die einer textil beschäftigten, wartenden jungen Frau in einem geschlossenen Raum passiert. Wenn Maria aus ihrem Haus tritt und außerhalb der schützenden Mauern die Stimme des Engels hört, so verlässt Penelope ihr Inklusorium nicht. Außenraum wie Innenraum sind in der Mariengeschichte zunächst als gleichwertig erzählt; die signifikante Verbindung beider erfolgt über das Motiv der Schwelle, die Maria übertritt, um aus dem Brunnen vor dem Haus Wasser schöpfen zu können und dieses in einem Krug zurück ins Haus zu tragen. Dieses Hinaustreten Marias, die zu diesem Zwecke ihre schützende Handarbeit ruhen lässt, erlaubt in Jakobus’ Text das Ereignis der Engelserscheinung. In Penelopes Fall ist dies anders. Ihr Außenraum konstituiert sich ausschließlich aus dem Wissen von Odysseus’ Reisen und damit aus der Abfolge von ganz unterschiedlichen Räumen, die sich als für sie recht abstrakter Raum, als Chronotopos der Welt,26 in dem die Abenteuerzeit herrscht, zu einer Gesamtheit vereinen. Nur ein sehr kleiner Teil dieses Außenraumes steht direkt mit dem Innenraum Penelopes, ihrer Wohnstatt, in Verbindung: Er ist im Abenteuer der sie belagernden, lärmenden Männerschar angezeigt, die Odysseus’ Heimatraum, Ithaka, und seine Herrschaft bedrohen, für die Penelope in seiner Abwesenheit steht. Nichts desto trotz ist die Gefahr des Verlustes der Tugend, die die textile Handarbeit Penelopes, ihr Weben, erzählt, mit der vor den Türen lauernden Männerhorde in der Pluralität der Bedrohung maximiert. Weniger in der Emergenz eines Außenraumes selbst also, als vielmehr in der männlichen Gefahr, die den Außenraum substituiert, ist hier ein Außen artikuliert, das den Schutzcharakter des Innenraums, in den einzudringen unter allen Umständen vermieden werden muss, und damit die textile Beschäftigung Penelopes umso stärker herausmodelliert.

25 Hägg nach Ehlen, ebd. 26 Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hrsg. v. Edwald Kowalski und Michael Wegner, Frankfurt a.M.: Fischer, 1

1989, S. 38.

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Anders als Maria kann diese ihr Inklusorium daher tatsächlich nicht verlassen und dementsprechend auch ihre textile Arbeit nicht unterbrechen; die Gefahr der Männerhorde ist zu groß. Penelope würde das ganze Königreich in die Hände eines anderen Herrschergeschlechts geben, träte sie, wie Maria, die lediglich Wasser schöpft, über die Schwelle. Als Vorlage für die Inszenierung textiler Handarbeit im 19. Jahrhunderts ist Penelopes Geschichte aus eben diesem Grund zentral: Der Schutzort des geschlossenen Gartens bzw. der geschlossenen Architektur mit Garten wird zu einem Ort, der einsperrt: Die Schwelle kann unmöglich übertreten werden. »Lügengewebe«: Textile Handarbeit als List Penelope, die in großer Trauer versunken noch immer die Rückkehr ihres Mannes herbeisehnt, bewohnt mit ihren Dienerinnen den ersten Stock des Herrenhauses des Odysseus. Das Haus wird seit langem von einer »lärmenden Schar«27 gieriger Freier umlagert, von denen jeder »am liebsten das Bett mit Penelopeia geteilt« hätte und darauf wartet, dass sich die vermeintliche Witwe endlich wieder bereit erklärt, sich neu zu vermählen.28 So verbringt Penelope ihre Tage innerhalb der schützenden Mauern ihrer Kammer29 und bleibt auch bei ihrem ersten Auftritt in der Odyssee konsequenter Weise auf der Schwelle stehen, ohne diese zu übertreten, als sie von ihrem Gemach zum Saal hinuntersteigt, wo ein Barde für die dort versammelten Freier singt. Im oberen Stockwerk vernahm die traurige Penelopeia die wunderschönen Töne. Mit zwei Dienerinnen kam sie die Stufen heruntergestiegen und trat auf die Schwelle zum Saal. Zu jeder Seite eines der lieben Mädchen, stand da die Herrin, das Haupt vom feinen Schleier verhüllt, der ihre Tränen verbarg, und wartete, bis der Gesang verstummte. Dann wandte sie sich an den Sänger: »Mein lieber Phemios, du kennst vielleicht herrliche Lieder über Götter und Menschen. […] Dein Gesang von der Heimkehr der Achaier schmerzt mich! Beweine ich doch schon so lange Zeit meinen Gemahl […]. Ich muss ja beständig an ihn denken.«30

27 Homer: Odyssee, Prosaübertragung von Karl Ferdinand Lempp, hrsg. v. Michael Schroeder, Berlin: Insel, 12010. Ich zitiere aus dieser Textausgabe als aktuellster Übersetzung der Odyssee. 28 Ebd., S. 22. 29 Ebd., S. 312. 30 Ebd., S. 21 22.

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Mit ihrem ersten Auftritt auf der Schwelle ist also bereits der Grundkonflikt des vermissten Gatten artikuliert; es folgt auf dem Fuße die Einführung des textilen Themas, für das Penelopes Geschichte als Weberin steht. Telemachos nämlich rügt seine Mutter daraufhin, den Sänger für ein erneutes Aufbrechen ihres Kummers zu beschuldigen und schickt sie wieder in ihr Gemach zurück, indem er sie an ihre Aufgabe als Frau erinnert: »Geh, Mutter, kümmere dich um die Geschäfte der Frauen: Spinnen und Weben! Halte deine Mädchen zur Arbeit an! Das Wort muss der Mann haben, und hier besonders ich, denn mein ist die Herrschaft im Haus!«31

Die textile Beschäftigung als stille Beschäftigung der Frauen (denn der Mann hat das Wort) unter der Leitung Penelopes dient also nicht nur einer zunächst als Geschlechterfrage inszenierten patriarchalen Ordnung, sie ist unter anderem dazu da, um das Leid der traurigen Herrin zu lindern: »Ihr Dienerinnen im Haus des Odysseus […]! Geht zu eurer Herrin, setzt euch zu ihr und muntert sie auf! Laßt die Spindeln sich drehen und zupft fleißig Wolle!«32

Den Freiern als »gewalttätige[n] Männer da unten« ist die hohe Frau im ersten Stock bereits in der topologischen Beziehung von oben und unten klar entgegengestellt. Penelope selbst erkennt die Männer als ernste Bedrohung für ihr Wohlergehen und bekräftigt gegenüber Eumaios, dem Vertrauten Odysseus’: »[…] bösartigere Menschen als die da unten gibt es nirgends; man weiß wahrhaftig nicht, wozu sie fähig sind.«33 Als Odysseus als Fremder verkleidet zurückkehrt, empfängt Penelope ihn in ihrer Kammer und schildert ihm ihre eigene Geschichte während der langen Trennung als textile Beschäftigung. Nicht nur die Wände der Kammer, in die nun ihr Ehemann – wenn auch noch unerkannt – Zutritt hat, dienen ihr als Schutz vor den Freiern, sondern die Handarbeit selbst wird zu ihrem effektivsten Schutz: »So viele Adelssitze es hier im Umkreis gibt […], soviele vornehme Söhne werben um mich, anmaßend und bös, und zehren unsere Güter auf. Das ist der Grund, warum ich mich der Fremden und Hilfesuchenden, ja auch der Ausrufer und Boten, viel zu wenig annehme. Wandern doch all meine Gedanken zu Odysseus, mein Herz sucht nur nach dem

31 Ebd., S. 22. 32 Ebd., S. 328. 33 Ebd., S. 315.

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lang verlorenen Gemahl! […] Einst gab mir ein Gott einen schlauen Gedanken ein: Ich begann, an einem übermäßig großen Tuch zu weben, einem besonders schönen Stück, und sagte den Freiern: ›Ihr jungen Herrn behauptet doch, daß ihr mich liebt und mich heiraten wollt, da Odysseus wohl tot ist. Nun, ich gehe darauf ein, aber laßt mich erst das Tuch vollenden, an dem ich webe! Es soll ein Totenhemd für den alten Laertes werden. Wenn er eines Tages sterben wird, soll keine der Achaierinnen mir vorwerfen können, da liege einer, der im Leben so vieles besessen und über so viele Leute geherrscht habe, und jetzt im Tod müsse er armselig daliegen, ohne Leichentuch! Auch will ich die schöne Wolle nicht ungenutzt lassen!‹ So habe ich ihnen aus Lügengarn ein Gewebe der Täuschungen gefertigt! An dem echten Tuch aber räufelte ich nachts alles wieder auf, was ich tagsüber gewebt hatte! Ich betrog sie so drei Jahre lang, die klugen Achaier! Es wechselten die Jahreszeiten, die Monate kamen und schwanden dahin; das vierte Jahr begann. Da verrieten elende, pflichtvergessene, gefühl- und schamlose Mädchen mein Geheimnis! Die Freier stürmten mit Geschrei heran und bedrängten mich. Es ging nicht mehr anders, ich mußte die Arbeit abschließen. Einer neuen Hochzeit werde ich mich kaum lang entziehen können, es fällt mir einfach nichts Kluges mehr ein. […] Jetzt kennst du meine Geschichte Fremder, aber ich kenne deine noch nicht.34

Penelopes Geschichte erzählt, wie ihr die schützende Architektur ihrer Kammer allein keine Sicherheit vor der männlichen Bedrohung bieten kann: Es bedarf einer List, die sich die kluge Herrin ausdenkt, um die »bösartige[n]« Männer, die ihr Haus belagern, in Schach zu halten. Erst mit ihrer beständigen textilen Beschäftigung kann sich Penelope jahrelang gegen eine fatale Eheschließung schützen; und als sie sich gezwungen sieht, das überdimensionale Grabtuch endlich fertig zu weben, endet mit der Handarbeit auch ihre Schutzfunktion – als es soweit ist jedoch, benötigt Penelope diesen Schutz nicht mehr, denn Odysseus ist zurückgekehrt. Die in Form der »bösen Söhne« wahrgenommene Bedrohung einer Neuvermählung kann also nur durch einen doppelten Schutz abgewehrt werden: durch eine geschlossene Architektur und textile Handarbeit. Denn bei dieser Bedrohung geht es ja nicht primär darum, dass Penelope sich nicht neu vermählen will, weil sie Odysseus noch liebt. Es steht viel mehr auf dem Spiel als ihr »Herz«: Bedroht wird Penelopes Tugend. Eine Neuvermählung wäre tatsächlich nicht nur ein politischer Verrat an Odysseus als Herrscher, sondern ein Ehebruch, denn Ehemann Odysseus ist – wie zunächst allein der Leser weiß – ja noch am Leben. Daher braucht die Geschichte von Penelope mehr als nur ein Herrenhaus mit abgeriegelter Kammer, nämlich eine zur Lebensgeschichte gewordene textile

34 Ebd., S. 337 338.

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List, die konsequenter Weise auch zweimal erzählt wird: zu Beginn der Odyssee zunächst von einem Freier, der sich verteidigend an Penelopes Sohn wendet, und später von Penelope noch einmal selbst, die ihrem Ehemann berichtet, wie sie ihm in den vergangenen Jahren treu bleiben konnte. Der Freier erzählt die Geschichte aus derselben Motivation heraus wie Penelope, nämlich um seine eigene Tugend und die seiner Mitstreiter zu bekräftigen. Dabei bedient er sich beinahe der gleichen Worte wie Penelope später – die Geschichte ihres Webens gibt es also in Homers Text in der Tat beide Male als Ereignis und als Diskurs verteidigter Tugendhaftigkeit doppelt. »Wir Freier sind vornehme Achaier, denen du keinerlei Vorwürfe machen kannst! Die Schuld trifft doch deine eigene Mutter, die uns so geschickt hereingelegt hat! Seit nahezu vier Jahren führt sie uns an der Nase herum. Jedem von uns machte sie Hoffnung, als wollte sie ihm ihre Gunst schenken, aber in ihrem Herzen sieht es anders aus. […] An einem Webstuhl in ihrer Kammer begann sie ein übergroßes Tuch zu weben und arbeitete daran Tag für Tag. Zu uns Freiern aber sagte sie: ›Nun, da mein geliebter Gatte Odysseus wohl tot ist, bedrängt mich bitte nicht zu sehr! Laßt mich erst das Tuch, an dem ich webe, vollenden! Es soll ein schönes Leichentuch für den alten Laertes werden, wenn ihn einmal der unvermeintliche Tod holen wird. Ich will das Garn dafür nicht umsonst bereitgelegt haben. Auch soll mich keine der achaiischen Frauen schelten können, daß der einst so reiche Laertes nicht standesgemäß ins Grab gebettet würde!‹ Wir hörten das gar nicht gern, aber hielten uns doch zurück. So wob sie tagsüber an der großen Arbeit, aber des Nachts trennte sie beim Schein von Fackeln alles wieder auf! Damit betrog sie uns über drei Jahre lang! Doch als im vierten Jahr wieder Monat um Monat verging, verriet uns eines der Mädchen das Geheimnis. Wir schlichen herbei und ertappten sie, wie sie das Gewobene fein säuberlich wieder aufräufelte. Da konnte sie nicht mehr anders, als die Arbeit zum Abschluss zu bringen!«35

Offensichtlich hatte der doppelte Schutz Penelopes tatsächlich seine Berechtigung: Da es ihre Mädchen sind, die sie verraten, scheint zunächst unterstrichen, dass nicht einmal ein männlicher Spion in ihre Kammer gelingen hätte können. Zusammen mit dem Verrat bröckeln jedoch nun beide Schutzinstanzen, Handarbeit und die vermeintlich sicheren Mauern. Denn durch die Hilfe der trügerischen Mädchen lauern die Männer Penelope nun mitten in der Nacht auf: Sie

35 Ebd., S. 29.

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»schlichen […] herbei und ertappten sie, wie sie das Gewobene fein säuberlich wieder aufräufelte«.36 Die Tragweite der textilen Beschäftigung Penelopes, die zur Wahrung der Tugend einer Figur dient, deren Fallhöhe durch ihren gesellschaftlichen Status enorm ist, wird noch einmal in ihrem sprechenden Namen deutlich: Es ist der Name der klugen Weberin, die ihre Arbeit immer wieder auftrennt, zusammengesetzt aus den griechischen Begriffen p 'n ', Gewebe und (ps, Gesicht bzw. lep (, abschälen.37 Diese Thematik, wie sie in Penelopes Namen eingetragen ist, wird später noch einmal für ihr Gefolge, die Mädchen aus niederem Stande, wiederholt: Hinter der »verriegelte[n] Tür zum Frauenhaus«38 sind diese mit allerlei textilen Handarbeiten beschäftigt. Odysseus’ Amme präzisiert: »Fünfzig Frauen haben wir insgesamt im Haus, die wir das Nähen, Wollekämmen und allgemeine Hausarbeit lehren«.39 Klug, wohltätig und der Welt zugewandt, vernachlässigt Penelope, da ihr »Herz«, wie sie sagt, »nur nach dem lang verlorenen Gemahl« sucht, nicht nur ihre Schutzbefohlenen, nämlich die »Fremden und Hilfesuchenden«, sondern auch das Wissen, was in der Welt vorgeht, nämlich die »Ausrufer und Boten«. Diese traditionelle Funktion der Herrscherin als Schutzherrin und Wohltäterin kennt man genauso aus der Marienverehrung: Maria breitet ihren schützenden Mantel über der Welt aus; als Symbol ihrer Weisheit sind ihr in der Ikonographie Bücher in die Hand gegeben. Ein Detail der Homer’schen Geschichte, das den primären Handlungsantrieb von Penelopes Sohn Telemachos darstellt, ist insbesondere für Flauberts Darstellung seiner textilen Handarbeiterin Emma von großer Bedeutung: Für Penelope besteht die Bedrohung der Freierhorde aus dem Druck, sich wieder zu vermählen. Für Telemachos besteht die Bedrohung darin, dass die Horde von den Gütern des Reiches schmarotzt und dabei ist, die Familie finanziell zu ruinieren.

36 Ebd. Anders als der am Fenster lauernde Prince de Nemours, der seiner Princesse de Clèves bei ihrer Handarbeit als erotischer Ersatzhandlung zusieht (vgl. das Kapitel »Vorbilder«), konnten die Männer in Penelopes Kammer möglicher Weise mithilfe eines ihrer untreuen Mädchen tatsächlich eindringen – die Beobachtungssituation, die einen Außen- und einen Innenraum, in dem textil gearbeitet wird, artikuliert, bleibt dennoch bestehen. 37 Vgl. Johannes Schmidt: »Penelope«, in: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, 6 Bde, Leipzig: Teubner, 11909 (3,2), Sp. 1901–1920. 38 Homer, Odyssee, S. 394 (Anm. 27). 39 Ebd., S. 395.

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Die Bedrohung durch die »bösartige[n] Menschen« ist also eine doppelte und die textile Beschäftigung – wie Penelope es Odysseus in der Geschichte ihrer ewigen Handarbeit auch so darstellt (»soviele vornehme Söhne werben um mich, anmaßend und bös, und zehren unsere Güter auf«) – Teil eines ökonomischen Diskurses. Dieser äußert sich nicht nur in Penelopes eigener Darstellung ihrer textilen Beschäftigung, sondern in ihrer Handarbeit selbst, diesem überdimensional großen »besonders schönen Stück«, an dem sie auch deshalb webt, weil sie, wie sie erklärt, »die schöne Wolle nicht ungenutzt« lassen will.40 Homers Text liefert die wichtigsten Versatzstücke für Jakobus’ Mariengeschichte: Zum einen die grundlegende Thematik einer weiblichen Figur von hoher Stellung41 in Erwartung des Gemahls, deren Tugend doppelt bewahrt wird durch eine sie umschließende Architektur und ihre textile Handarbeit. Dessen Produkt – ein Grabtuch bei Penelope und ein Tempelvorhang bei Maria – hat sakralen Charakter. Zum anderen die Artikulation eines liebenden Herzen, das fest glaubt – nämlich dass der Gemahl und damit das Glück (wieder)kommen wird. Dazu kommen, wie obig erwähnt, die bekannten Marienattribute der Weisheit, Wohltätigkeit, Schutzbefohlenheit und die Sorge um die Welt da draußen. Für die Texte des 19. Jahrhunderts bedeutet dies nun, dass diese Versatzstücke aus Homers Geschichte zusammen mit dem Intertext des Marienlebens mit der grundlegenden Problematik von Innen und Außen wieder neu auftauchen: Das Thema der Schwelle, die nicht übertreten wird, und die hohe Stellung der weiblichen Figur, die architektonisch als ›im ersten Stock‹ formuliert wird, begleitet die Figur Emma Bovary geradezu leitmotivisch. Homers Text ist jedoch nun deshalb besonders wichtig, da Penelope zwar, wie Maria, »ein besonders schönes Stück« webt, jedoch »aus Lügengarn ein Gewebe der Täuschungen« anfertigt.42 Erstens stellt Penelopes Handarbeit eine List dar, die einen abwehrenden Zweck erfüllt (so wie es auch Emma in ihrer Abwehr von Léons Avancen zeigt, während Marias textile Beschäftigung reiner Tempeldienst ist).43 Zweitens handelt es sich bei Penelopes Material um »Lügengarn«. Das Gewebe, das damit hergestellt wird, in erster Linie aber die textile

40 Ebd., S. 338. 41 Die Himmelskönigin Maria ist bei der Verkündigung des Engels ein Mädchen niederen Standes, ihre besondere Stellung als Gottes Auserwählte wird jedoch gleichzeitig eben durch die Worte des Engels, »du bist gebenedeit unter den Frauen« (Ave Maria), manifest. 42 Homer, Odyssee, S. 338 (Anm. 27). 43 MB, S. 242.

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Handarbeit, erweist sich damit als eine List der Täuschung und damit um Fiktion: Penelope tut so, als ob sie ein meisterhaft gewobenes Tuch anfertigen wolle, in Wirklichkeit aber erfindet sie diese Geschichte, um sich vor der Gefahr der Freier zu schützen, die ihr glauben, solange bis der Schwindel auffliegt (eine ähnliche List des Geschichtenerzählens übrigens kennt man von Penelopes Nachfolgerin Scheherazade aus den persischen, erotischen Erzählungen Tausenundeiner Nacht). Gerade dieser grundlegende Aspekt der Homer’schen Geschichte prägt die Inszenierung textiler Handarbeit in den modernen Texten: Nicht nur täuscht die Tugendhaftigkeit und der Schutzcharakter dieser Beschäftigung, denn die Männer werden eintreten. Vielmehr noch wird die textile Beschäftigung selbst zur Täuschung für die Handarbeiterinnen als eben solches »Lügengarn«, denn das erhoffte Glück tritt nicht ein. Und schließlich – so wird es Flaubert unter Rückgriff auf den Ovid’schen Mythos von Arachne und Minerva in einer komplexen Bilderpraktik vorstellen – geht es bei der textilen Handarbeit ums Fingieren, Imaginieren, Geschichten erzählen. Homers Text zeigt, dass textile Handarbeit als Allegorie des Erzählens fungieren kann.44 Im Falle Emma Bovarys wird dieser Sachverhalt zu dem Sujet schlechthin erhoben: Wie Penelopes Handarbeit stellt auch die Emmas eine ganze Lebens- und damit Liebesgeschichte dar. Die Protagonistin erzählt sich selbst Geschichten, fingiert und imaginiert unter dem Zeichen ewiger Wiederholung und doppelt dabei ihren Schöpfer. Diesem Flaubert’schen Textilen Erzählen und Ovids Metamorphose widme ich das Schlusskapitel dieser Studie; bei Fontane und den anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, die hier in den Blick genommen werden, so meine ich behaupten zu können, kommt eine solche von Homer und Ovid stammende mimetische Bedeutungsebene des textilen Handarbeitens nicht oder nur sehr latent vor, wohl aber die marianische Semantik.

44 Ovid erzählt mit der Metamorphose der Arachne einen Wettstreit im Weben: Das Menschenmädchen fordert die Göttin Minerva heraus. Wer kann am schönsten Geschichten in Gewebe darstellen? Beide Frauen schöpfen dabei ihre Inspiration aus der Mythologie, Arachne webt erotische Geschichten, Minerva Geschichten des Krieges. Die Göttin muss erkennen, dass Arachne sie in der Webkunst übertrifft, denn sie stellt prachtvoller und detailreicher da, als es die Gegenspielerin vermag. Also sticht diese dem Mädchen mit dem Weberschiffchen in die Stirn und verwandelt sie damit in eine Spinne, die auf ewig den Faden aus sich selbst ziehen muss. Ovid: Metamorphosen [Metamorphose der Arachne], übers. v. Erich Rösch, Zürich: Artemis, 11983, Buch VI, 1 143. Im Folgenden OA.

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Anders als die der Bovary sind Penelopes und Marias Liebesgeschichten Erfolgsgeschichten – und auch dies ist im Textil angezeigt, das im Moment der Einlösung des Liebes- und Heilsversprechen zerstört wird. Dieser zentrale Aspekt der Einlösung des Versprechens als Auflösung der Geschichte, als dénouement, läuft bei Penelope im buchstäblichen Auflösen des Gewebes von Beginn an mit und wird mit seiner Entstehung parallel geführt. Das Auflösen ist dabei eigentlich noch wichtiger, als die tatsächliche, produktive textile Tätigkeit des Webens selbst. Während Penelope zur Zeit ihrer Trauer um den Gemahl ihr Textil durch das nächtliche Auftrennen der Fäden beständig rückgängig macht und somit beständig im Textil ihre Hoffnung und ihren Glauben an das gute Ende, die Rückkehr des Gemahls artikuliert, zerreißt in der Heilsgeschichte der Tempelvorhang bei Jesu Kreuzestod im Tempel mitten entzwei. Denn auch der Gottessohn kehrt, nachdem er das Versprechen der Erlösung in seinem Tod erfüllt hat, wie Penelopes Mann dorthin zurück, von wo er kam: nach Hause, zur Rechten Gottes. Zusammen mit ihrem Sohn hat ebenso Maria, die im zerreißenden Tempelvorhang in der Stunde von Jesu Tod eindrücklich als textile Handarbeiterin noch einmal aufgerufen wird, das Heilsversprechen eingelöst. Der Tempelvorhang als proleptisches Zeichen des Glücks der Menschheit in der Verkündigungsszene, als er gewoben wird, ist nun zum analeptischen Zeichen für den Anfang dieser Geschichte geworden: Er erinnert an die Verkündigung von Christi Geburt und damit an Marias textile Handarbeit, die eine glücksbringende ist. Beide textilen Handarbeiterinnen, Maria und Penelope, enden im Glück. Die intakt erhaltene Ehe Penelopes mit Odysseus bewahrt das Land vor wirtschaftlichem Ruin und »setzt […] aufs neue den Bund des Friedens auf Ithaka«;45 Maria bringt mit Jesus die in seinem Tod eingelöste Versprechung von Heil und ewigem Frieden auf die Welt. Die verräterischen Mädchen, die Penelopes textile Tätigkeit unterlaufen haben, kommen übrigens bei diesem glücklichen Ende nicht ungestraft davon. Der Verrat am Textil wird mit ihm gesühnt. Wie dem uralten metonymischen Strafsystem gemäß Dieben die Hand abgehackt und Lügnern die Zunge abgeschnitten wird, so erhängt man die Mädchen in der Odyssee an Stricken, die Penelopes aufgeräufeltes Gewebe und seine losen Fäden am Ende noch einmal in einer Doppelung entstehen lassen. Die Mädchen verfangen sich darin gleich »Drosseln oder Tauben […] auf dem Rückflug zum Nest« wie »in einem aufgespannten Netz«.46 Diese Strafe erinnert an die Strafe der Weberin Arachne bei Ovid, die auch »hängen muss«, und zwar an ihrem eigenen Faden, nachdem die

45 Homer, Odyssee, 429 (Anm. 27). Mit diesen Worten endet die Odyssee. 46 Ebd., S. 396.

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besiegte Göttin Minerva sie in eine Spinne verwandelt hatte (mehr dazu im letzten Kapitel).47 Eigene Fäden werden auch einer Weberin in einer Geschichte des 19. Jahrhunderts zum Verhängnis, deren Textil sich gegen sie wendet und ein bedrohliches Eigenleben entwickelt: die Lady von Shalott. Sie webt wie Arachne und Minerva in ihrem Wettstreit, der für Arachne in einer fatalen Metamorphose endet, Bilder – keine Bilder, die Geschichten aus alten Mythen darstellen wie bei Ovid, sondern Bilder von einer gefährlichen Außenwelt: Camelot.

D AS B URGFRÄULEIN : M ITTELALTERLICHE M INNE UND AUFGELÖSTE F ÄDEN Textile Handarbeit im geschlossenen Raum, wie es bei Homer und im Protevangelium von Jakobus zu sehen war und bei der »Fixierung« der weiblichen Figuren auf das Marienvorbild eine essentielle Rolle spielt,48 hat bei dem präraffaelitischen Maler William Holman Hunt und seiner mehrmaligen Darstellung der Lady of Shalott »seine Monumentalisierung gefunden«,49 und zwar im Diskurs mittelalterlicher Minne. Es handelt sich bei Hunts Lady (die erste Version wird 1857 als Hochdruck veröffentlicht) um eine Illustration der gleichnamigen viktorianischen Ballade von Alfred Tennyson (1842), die erzählt, wie sich die einsam in einem Turm auf einer Insel lebende Lady in den dort vorbei reitenden Ritter Lanzelot verliebt.50 Wie Penelope webt sie Tag und Nacht an einem bunten, bei Tennyson nun magischen Gewebe, um sich vor der Bedrohung eines Fluches zu schützen, der in dem Moment über sie käme, als sie Camelot erblicke. Ein Spiegel bringt die Bilder von der Welt in ihren Turm, die sie dort in Gewebe überträgt. Eines Tages zeigt der Spiegel den schönen Lanzelot; die Jungfrau verlässt daraufhin den Webrahmen und eilt ans Fenster, wo sie dem Ritter auf seinem Weg nach Camelot nachblickt. In diesem Moment ereilt sie der Fluch: Ihr Gewebe löst sich aus dem Rahmen; der Spiegel bricht entzwei; die Lady verlässt Turm und Insel

47 OA, VI, 1 143. 48 Schuster spricht an dieser Stelle lediglich von einem »Motiv« und verkennt damit die Tragweite dieser Marienvorstellung als Raumkonzept. Peter-Klaus Schuster: Theodor Fontane: Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, Tübingen: Niemeyer, 11978 (Studien zur deutschen Literatur, 55), S. 77. 49 Ebd. 50 William Holman Hunt: The Lady of Shalott, Holzschnitt auf Papier, 9,5 cm x 7,9 cm, Tate Gallery, London, 1857.

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in einem Boot und überlebt den Austritt aus ihrem Inklusorium nicht: Als Tote wird sie in Camelot an Land getrieben. Hunt wollte die vollständige Ballade in einem Bild einfangen und folgte dem Wunsch Tennysons, die Figur darzustellen, wie sie sich in den Fäden ihrer Handarbeit verfängt – eine Szene, die das Gedicht selbst nicht darstellt, das folgendermaßen lautet:51 […] THERE she weaves by night and day A magic web with colours gay. She has heard a whisper say, A curse is on her if she stay To look down to Camelot. She knows not what the ›curse‹ may be, And so she weaveth steadily, And little other care hath she, The Lady of Shalott. And moving thro’ a mirror clear That hangs before her all the year, Shadows of the world appear. There she sees the highway near Winding down to Camelot: There the river eddy whirls, And there the surly village-churls, And the red cloaks of market girls, Pass onward from Shalott. […] And sometimes thro’ the mirror blue The knights come riding two and two: She hath no loyal knight and true, The lady of Shalott. But in her web she still delights To weave the mirror’s magic sights

51 Tennysons Gedichtband Poems in der Ausgabe von 1857 wurde von Hunt und Rossetti illustriert, das darin enthaltende Gedicht Lady of Shalott zum Grundstein für die präraffaelitische Kunst. Vgl. Annabel Zettel: Das Rätsel der Verstrickten. Die Illustrationen der Präraffaeliten zu Alfred Tennysons »The Lady of Shalott«, Berlin: Lukas-Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, 12011.

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For often thro’ the silent nights A funeral with plumes and lights And music, went to Camelot: Or when the moon was overhead, Came two young lovers stately wed; ›I am half sick of shadows‹, said The lady of Shalott. […] From the bank and from the river He [Lancelot] flash’d into the crystal mirror, ›Tirra lirra,‹ by the river Sang Sir Lancelot. She left the web, she left the loom, She made three paces thro’ the room, She saw the water-lily bloom, She saw the helmet and the plume, She look’d down to Camelot. Out flew the web and floated wide ; The mirror crack’d from side to side; ›The curse is come upon me,‹ cried The Lady of Shalott. […]

52

Im Rückgriff auf den marianischen Raum des Hortus conclusus inszeniert Hunt mit seiner Interpretation dieser Figur nicht die Entstehung des Textils, sondern dessen geradezu bedrohliches Eigenleben, das es mit seinen aufgelösten Fäden entwickelt. Dargestellt wird also vielmehr die Geschichte von textiler Beschäftigung per se, die zum Ereignis wird und mit der Lady die Geschichte Penelopes wie auch Marias im Diskurs mittelalterlicher Minne verschmilzt. Diese Verschmelzung wird in Hunts Werk selbst als Bilderpraktik ausgestellt: Die Verwirrung des Betrachterblickes ist in der Verwirrung der Fäden visualisiert. Hunts Hochdruck zeigt eine junge Frau mit wallendem Kleid, deren lange Haare in wilden Wellen den ganzen oberen Bildrand einnehmen. Sie steht inner-

52 Alfred Tennyson: »The lady of Shalott« (1842), in: Hallam Tennyson (Hrsg.): The Works of Tennyson: Ballads and other poems, New York: AMS Press, 11970 (9 Bde, I. Poems), S. 114−121. Hier: S. 115−118.

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halb eines Kreises, der von einem großen Webrahmen gebildet wird, in dem ein kreisförmiges Textil entsteht. Die am Rahmen festgemachten Kettfäden lösen sich, die Figur verheddert sich darin, Fäden umschnüren ihr Kleid.

Abbildung 3: William Holman Hunt: The Lady of Shalott, Holzschnitt auf Papier, 9,5 cm x 7,9 cm, Tate Gallery, London, 1857. Während der linke Arm bereits am Körper festgezurrt ist, versucht die rechte Hand, den Faden zu zerreißen. Ein Spiegel als kreisrundes Fenster lenkt den Blick des Betrachters aus dem Zimmer hinaus nach draußen auf einen wegreitenden Ritter mit langer Lanze. Sein Pferd ist von einer mauerähnlichen Vorrichtung aus dichtem, horizontalem Strich halb verdeckt; es könnte sich hierbei jedoch ebenso um die Spiegelung eines Teils des Gewebes handeln − Hunts Darstellung lässt die Unterscheidung von Spiegel und Fenster offen. Rechts neben dem Spiegel/Fenster hängt ein Bild in einem ovalen Rahmen an der Wand: Christus am Kreuz, unter seinem rechten Arm eine Mondsichel. Ein weiteres Bild im linken Bildraum wird von der Weberin verdeckt – ovale Bilder

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und kreisrundes Spiegel/Fenster bilden eine Art Triptychon, das noch einmal die Unterscheidungsunmöglichkeit ausstellt, was hier nun Bild ist, was Spiegel und was Fenster: Ist der Ritter, und damit der Außenraum, ›echt‹ oder nur Projektion, Fiktion, ein Bild? Das Raummodell des Hortus conclusus ist dabei eindeutig in der Thematik der webenden weiblichen Figur aufgerufen, die unter dem Zeichen von Christus und dem Mariensymbol des Mondes steht.53 Auch Emma Bovarys ›Mondsucht‹ ist bekannt und wird gemeinhin als ironisierte romantische idée reçue gelesen (»La lune, toute ronde et couleur de pourpre« trägt in Emmas Fall die Marienfarbe bereits in sich). 54 Der romantische Diskurs, wie ihn der Mond auch hier klischéehaft andeutet, ist in Hunts Version des weiblichen Inklusoriums in der Problematik eines unvereinbaren Innen- und Außenraumes aufgerufen. Er offenbart sich als mittelalterliche Minne in Gestalt eines vorbei reitenden (bei Tennyson dabei singenden) Ritters. Das klischierte Bild des vor dem in ihrem Inklusorium eingeschlossenen Fräulein werbenden Troubadours, mit Shakespeare gesprochen: Romeo unterm Balkon, findet sich als romantischer Gemeinplatz in den Texten des 19. Jahrhunderts immer wieder, ganz gemäß der Faszination, die das Mittelalter auf dieses Jahrhundert generell ausübte (wie es sich zum Beispiel im enormen Erfolg von Walter Scotts historischen Romanen niederschlägt, der in den Literaturen der Zeit in einem fort anzitiert wird und die auch Emma Bovary begeistert liest).55 Dieses Bild der Minne gehört zu den »[t]raditionelle[n] Motive[n] weiblicher Klaustration«.56 So sind auch Minne und Mariendarstellungen genuin eng miteinander verknüpft. Der im Mittelalter aufblühende Kult der Marienverehrung, aus dem sich als Interpretation des Hoheliedes die Vorstellung des Hortus conclusus entwickelt, »gilt als allgemeine

53 Der Halbmond in der Monstranz verhält sich zur Hostie wie Maria als Mond zu Christus als Sonne. Der Mond steht, im Gegensatz zur Sonne, für die besondere Nähe zum Menschen, also für Marias Mittlerrolle und ihre Eigenschaften als Fürbitterin und Besänfterin. Menzel, Christliche Symbolik, Bd. II, »Mond«, S. 136 (Anm. 1). 54 MB, S. 325. Peter Rogers weist auf die Rolle des Mondes als Mariensymbol in Madame Bovary hin. Peter Séraphin Rogers: The mystery play in Madame Bovary. Moeurs de province, Amsterdam: Rodopi, 12009 (Chiasma, 26), S. 42 43. 55 Vgl. als Beispiele unter vielen Balzacs Illusions perdues (Lucien möchte mit Charles X einen Roman à la Walter Scott schreiben) oder die Turmszene in Volupté von Sainte-Beuve. 56 Silvia Machein: Topologien der Geschlechter, die Revision traditioneller Raumordnungen im Postfranquismus am Beispiel von Esther Tusquets, Carme Riera und Clara ) Janes, Heidelberg: Online Ausgabe/Universität Heidelberg/Dissertation (12012).

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Vorbedingung des Minnegesangs«; die Verehrung Marias als jungfräulich-zarte Braut gewinnt im Gegenzug durch die ritterliche Minne an Bedeutung.57 Ein schönes frühes Beispiel hierfür ist die Miniatur Emilia im Rosengarten/ Teseida (um 1460), die Interpretation einer Szene aus Giovanni Boccaccios Epos Teseida (1340–1341) von Barthélemy van Eyck, einem der bedeutensten französischen Maler des 15. Jahrhunderts.

Abbildung 4: Barthélemy Van Eyck: Emilia im Rosengarten (Teseida), Miniatur, 26,6 cm x 20 cm, Anjou, um 1460. Mit Auftrag des Königs René von Anjou illustrierte der Schüler des flämischen Malers Jan van Eyck eine Prachthandschrift dieses Textes, der die Geschichte von Emilias Vermählung erzählt. Es handelt sich bei dieser Handschrift, den sogenannten Codex 2617 mit 17 Bildtafeln (davon etwa die Hälfte von 57 Dietmar Schuth: Die Farbe Blau. Versuch einer Charakteristik, Münster: LIT-Verlag, 1

1995 (Theorie der Gegenwartskunst, 5), S. 172.

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Barthélemy van Eyck), um die erste Übertragung von Boccaccios Epos ins Französische.58 Eyck, dem eine illustrierte italienische Handschrift vorlag, verändert Boccaccios Vorlage leicht und inszeniert Emilia, die im Epos einen Blumenkranz windet, stattdessen als vorgeblich stickende Maria im Hortus conclusus:59 In einem blauen Gewand mit kostbarem Pelzbesatz sitzt sie vor einer Rosenhecke, die sie nur halb vor den männlichen Blicken verbirgt. Ihre Beobachter, zwei Gefangene, spähen durch das vergitterte Fenster aus einer Burg in Emilias Garten hinaus. Vor einem blauen Himmel umschließt eine rote Backsteinmauer das quadratische Rasengrün, auf dem sie arbeitet. Dran klettert Wein an einem Spalier empor, dessen Stäbe eine Pforte bilden. Während die Jungfrau in dieser ausdrücklich schweigenden Szene in Boccaccios Text einen Kranz aus Blumen flicht, stellt Eycks Miniatur diese Handarbeit in Anspielung auf die Mariengeschichte wie eine textile Beschäftigung vor: In Emilias linker Hand befindet sich zwar ein mit weißen Blumen und roten Rosen zu umwindener Kranz, der jedoch wie ein Stickrahmen anmutet. Die rechte Hand hält mit spitzen Fingern eine Rose wie eine Nadel. Auch ein loser, langer, weißer Faden ist deutlich zu sehen. In der Pose dieser Hand wird die textile Geste schön deutlich; bei nach oben gewandter Handfläche bilden Zeigefinger und Daumen ein kleines O. Das Gemälde vereint in der Inszenierung textiler Handarbeit auf diese Weise sehr anschaulich (eine als Bedrohung artikulierte) ritterliche Minne mit marianischem Diskurs. Die »Klaustration« der weiblichen Figur (inszeniert als Handarbeit, Minne und umschließende Mauern) wie Holman Hunt sie darstellt interpretiert Peter-Klaus Schuster als Denunziation viktorianischer Moral, die die Frau als Gefangene im

58 Barthélemy Van Eyck: Emilia im Rosengarten (Teseida), 26,6 cm x 20 cm, Anjou, um 1460, abgebildet in und kommentiert von: Felicitas Brachert (Hrsg.): Giovanni Boccaccio. Von Minne, Kampf und Leidenschaft. Faksimile-Wiedergabe aller 17 Miniaturseiten aus Codex 2617 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 11989, S. 41 45. 59 Zu Details sh. die kommentierte Faksimileausgabe des Codex von Brachert (Anm. 478), und Kurt Kloocke: »Über Giovanni Boccaccios Teseida, den Desco da parto des Mariotto di Nardo und das Verhältnis von Literatur, Kunst und Leben in der Frührenaissance«, in: Gisela Vollmann-Profe (Hrsg.): Impulse und Resonanzen: Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, Tübingen: Niemeyer, 12007, S. 365−378. Hier: S. 370 372.

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Gehorsam gegenüber gesellschaftlicher Zwänge zeige.60 En passant verweist er dabei in seiner Überlegung zum Motiv des Spiegels in Hunts Illustration auf das Problem der Kommunikation, das, wie ich meine, die Inszenierung textiler Handarbeit als Konstante begleitet und damit die Entstehung ihres Bildes erheblich mit beeinflusst. Inszeniert wird zusammen mit der Handarbeit immer ein Betrachterblick und damit jene Doppelung von Räumen, die in den Texten stets als eine problematische Heterogenität von Innen und Außen figuriert und als poetologische Bilderpraktik klassische Diskurse und Topoi verbindet, vom Weben der Penelope bishin zu romantisierter Minne. [W]ährend bei [Jan] van Eyck61 mittels des Konvexspiegels weitere Personen von außen als Zeugen des Ehegelöbnisses hinzutreten und dieses so vor aller Welt bekräftigen, bilden bei Hunt die im Spiegel erscheinenden Bilder die einzig erlaubte Form einer Kommunikation der keuschen Frau mit der Außenwelt. In dem Moment, als die Lady of Shalott direkt

60 Dass es in Hunts Lady um weit mehr geht als um die Zurschaustellung moralischer Werte, zeigt die schöne Studie von Zettel (2011). Zettel analysiert die »ungewöhnlichen Darstellungsmodi« der präraffaelitischen Künstler, die eine »vielfache Anbindung an den philosophischen, theologischen und nicht zuletzt an den literarischen bzw. kunsttheoretischen Diskurs der Epoche« offenbaren (S. 297). Sie liest den langwierigen Entstehungsprozess von Hunts Lady von den ersten Skizzen (1850) bishin zum monumentalen Gemälde (1905) als Manifest der präraffaelitischen Kunstauffassung und die Lady somit selbst als »Symbolfigur« der Thematiken, die die Künstlergruppe wälzt. In diesem Zusammenhang spricht sie von einer »visuellen Strategie« als poetologischem Muster, das bereits in Tennysons Ballade vorkomme und von den Präraffaeliten übernommen werde. In den Gemälden werde dieses Muster als eine Strategie evident, »die einzelne Segmente mit Hilfe immer wiederkehrender analoger Konstellationen, Formen und Motive verbindet« und zwar durch »ungewöhnliche Analogien«, die die Künstler Rossetti und Hunt einsetzten (S. 295). Zettel, Das Rätsel der Verstrickten (Anm. 51). 61 Die Rede ist von der berühmten Arnolfini-Hochzeit (1434), in der Jan van Eyck einen Spiegel im Bildraum so raffiniert einsetzt, dass sich die Perspektive zu verlängern scheint. Dabei werden die sich in ihm spiegelnden Betrachter des dargestellten Ehepaares, also die Betrachter des Gemäldes selbst, in den Bildraum geholt: Die Betrachtersituation wird selbst zum Sujet des Gemäldes. Als Mariensymbol verweist der Spiegel auf die Verkündigung; er ist »Attribut der christlichen Tugenden veritas und prudentia, vorzugsweise aber Sinnbild der Jungfrau Maria und ihrer unbefleckten Empfängnis.« Menzel, Christliche Symbolik, Bd. II, »Spiegel«, S. 400. (Anm. 1).

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aus dem Fenster nach draußen blickt, in einen unmittelbaren Kontakt mit der Welt tritt, um den singenden Ritter Lancelot mit seinem Gefolge vorbeireiten zu sehen, ist sie an ihrer Tugendaufgabe gescheitert, hat sie gegenüber ihrem Marienvorbild versagt. Unmittelbar anschaulich wird dies im Teppich, der sich aus dem Rahmen löst und in dessen Webfäden sich die Frau nun wie ein gewürgtes Opfer verstrickt.62

Mir scheint nun, dass der Ritter in Hunts Gemälde nicht, wie Schuster behauptet, »vorbeireitet«, sondern vielmehr, da er dem Betrachter den Rücken zeigt und nicht seine Seite, vom Inklusorium der Weberin wegreitet, die der Fluch bereits ereilt hat und nun den Blick gesenkt hält. Sie ist verzweifelt mit den sie umschlingenden Fäden ihres magischen Gewebes beschäftigt und blickt daher auch nicht mehr aus dem Fenster. Logischer wäre also anzunehmen, dass eine Kommunikation (über Blicke?) zwischen den beiden Figuren, von außen nach innen, in Hunts Interpretation der Ballade bereits stattgefunden und sich die weibliche Figur deshalb in den Fäden verwickelt hat, die sie bisher gemeistert hat. Wenn Schuster sich in seiner Argumentation nicht recht entscheiden mag, ob ein Spiegel, ein Fenster oder ein Bild das Außen generiert, von dem die weibliche Figur ausgeschlossen ist und das der Ritter mit der Lanze als Bestandteil eines Außenraumes markiert, so problematisiert er dabei die entscheidende Bedeutung des Blickes in Hunts Lady. Er schließt von hier sogleich auf die Kommunikations(un)möglichkeit zwischen den Figuren, die jedoch erst durch Bilder, also in der Ununterscheidbarkeit zwischen Fenster, Spiegel und Gemälde, als visuelle Problematik sichtbar gemacht wird. Dieser Punkt der Kommunikations(un)möglichkeit ist in der Tat für die Darstellung textiler Handarbeit zentral. Sie geschieht im Stillen, es wird geschwiegen und betrachtet. Textile Handarbeit ist stumm. Diese ›Tonlosigkeit‹ befördert die Entstehung ihres Bildes in literarischen Texten, indem dort die Bedeutung des Blickes als einzig mögliche Form der Verständigung herausmodelliert wird. Die romanciers erweisen sich hier in der Tat als »peintres«, wie der Klage führende Staatsanwalt anlässlich Flauberts Text sagte, als Maler von Räumen und Figuren. In der erzählten Stille der Handarbeit wiederholen sie die Bildersprache eines Gemäldes, die stumm ist und ausschließlich unter dem Blick eines Betrachters ihre Inhalte preisgeben kann. Die Kommunikations(un)möglichkeit, die in Hunts Illustration mit einem Oszillieren der figurierenden Bilder zwischen Spiegel, Bild und Fenster inszeniert ist, kommt auch bei Emmas Fensterszene mit Leon ausdrücklich vor. Léon selbst ist diese Unfähigkeit zu kommunizieren in den Mund gelegt (»Il se tor-

62 Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, S. 77 (Anm. 48).

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turait à découvrir par quel moyen lui faire sa déclaration ; […] il en pleurait de découragement et de désirs.«),63 die sich bis zu einem Gefühl des im Schweigen Gefangenseins steigert. Léons Ärger über diese unmögliche Kommunikationssituation bündelt sich in Emmas Handarbeit. Ich zitiere die Textstelle aus Flauberts Roman, die bereits zur Erwähnung kam: Elle [Emma] entendit des pas dans l’escalier : c’était Léon. Elle se leva, et prit sur la commode, parmi des torchons à ourler, le premier de la pile. Elle semblait fort occupée quand il parut. La conversation fut languissante, Mme Bovary l’abandonnant à chaque minute, tandis qu’il demeurait lui-même comme tout embarrassé. Assis sur une chaise basse, près de la cheminée, il faisait tourner dans ses doigts l’étui d’ivoire ; elle poussait son aiguille, ou, de temps à autre, avec son ongle, fronçait les plis de la toile. Elle ne parlait pas ; il se taisait, captivé par son silence, comme il l’eût été par ses paroles. »Pauvre garçon ! pensait-elle. — En quoi lui déplais-je ?« se demandait-il. Léon, cependant, finit par dire qu’il devait, un de ces jours, aller à Rouen, pour une affaire de son étude. »Votre abonnement de musique est terminé, dois-je le reprendre ? — Non, répondit-elle. — Pourquoi ? — Parce que...« Et, pinçant ses lèvres, elle tira lentement une longue aiguillée de fil gris. Cet ouvrage irritait Léon. Les doigts d’Emma semblaient s’y écorcher par le bout ; il lui vint en tête une phrase galante, mais qu’il ne risqua pas.64

Die Konversation wird durch Emmas Handarbeit regelrecht durchlöchert. Die Heldin verhindert den Kommunikationsfluss und damit den romantischen Diskurs, indem sie so tut, als wäre sie textil beschäftigt, sie kopiert und fingiert ihn. Doch das stumme Bild ihrer textilen, tugendhaften Tätigkeit, das die Bovary nachstellen will, flackert: Im Schweigen der Figuren steigt es immer wieder von neuem auf und unterbindet so ein erfolgreiches Gespräch und damit die Verführung. Mit dieser vorgeschützten Handarbeit stellt sich Emma selbst als ihr eigenes Bild unter Léons begehrenden Blicken zur Schau; sie stellt das klassische Bild weiblicher Tugend nach. Sie bedient sich dieses Bildes von tugendhafter Handarbeit, wie sie sich der Bilder aus ihren Romanen bedient. Ähnlich wie

63 MB, S. 237. Flauberts Hervorhebung. 64 MB, S. 242.

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Effi, die eine Gottesmauer zum Schutze vor ihrem Verführer Crampas im stillen Gebet heraufbeschwören will – und auch bei ihr flackert dieses Bild vom Hortus conclusus, es funktioniert nicht mehr, denn Effi wird verführt (mehr dazu im anschließenden Kapitel) –, beschwört Emma vor Léon mit ihrer textilen Beschäftigung diesen ›Schutzwall‹ herauf. Wie Penelope gereicht ihr die Handarbeit zudem als List, die sie vor dem drohenden Ehebruch zunächst bewahrt. Hunt zeigt mit seiner webenden Lady of Shalott sehr schön, wie sich textile Handarbeit als Kommunikationsmodell vom Marienvorbild ablöst und sich an ihr ein narratives Muster der »visuellen Strategie«65 entfaltet. Die Handarbeit als Bild reflektiert die künstlerische Praktik selbst – und in diesem Fall erlangt sie den Status einer Allegorie. In ihrer Studie Das Rätsel der Verstrickten. Die Illustrationen der Präraffaeliten zu Alfred Tennysons »The Lady of Shalott« schreibt Annabel Zettel: »Figuren, Dinge und Ornamente verbinden sich […] zu einem universalen Gewebe, beziehen sich in vielfacher Weise aufeinander und werden zu einem Kaleidoskop immer neuer Betrachtungsweisen«.66 Im Zentrum von Hunts Darstellung steht daher weniger der Teppich selbst, als vielmehr die Fäden, die sich lösen und um die weibliche Figur schlingen, die die Macht über ihre eigene Handarbeit im Bild ihrer gebundenen Händen verloren hat.67 Die Bedeutung der Handarbeit läuft der Protagonistin den Rang ab; die Geschichte der Lady of Shalott mit Lanzelot, die die Darstellung vorgibt zu erzählen, wird nebensächlich. Bevor die Inszenierung textiler Handarbeit eine solche »visuelle Strategie« und damit in den Texten des 19. Jahrhunderts einen Umgang mit Bildern als poetologisches Verfahren ausstellen kann, referiert sie jedoch auf die räumliche Situation der weiblichen Figuren. In Hunts Lady fällt der weg reitende Ritter erst auf einen zweiten Blick ins Auge, und mit ihm der Konflikt zwischen einem Innen- und Außenraum sowie die Frage nach den Bildern, die in der Inszenierung textiler Handarbeit erstehen. So etablieren auch die Erzähltexte über die textil beschäftigten Figuren zunächst ein Interieur als Dekor. Erst mit den Intertexten des Hortus conclusus und der webenden Penelope, die im stummen Bild

65 Zettel, Das Rätsel der Verstrickten, S. 295 (Anm. 51). 66 Ebd., S. 9. 67 Zettel spricht bei dem kreisrunden Webrahmen sehr treffend von einem »Bannkreis«, der die Figur umschließe: »Mit dieser Handarbeit offenbar bis zuletzt beschäftigt, steht die Hauptfigur inmitten der massiven Rahmung wie in einem Bannkreis«. Ebd., S. 15.

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von tugendhafter textiler Handarbeit aufgerufen werden, entfaltet sich diese Handarbeit in ihrer ganzen Tragweite als Raumkonstitutiv. Während bei Fontane dieses Raumkonstitutiv am Anfang von Effi Briest als Zitat eines Mariengemäldes im Sinne des Topos Ut pictura poesis in seine Erzählung eingeht,68 erweist sich Flauberts Raumkonstitutiv insbesondere durch seine ironischen Strukturen als hochkomplex. Es bündelt sämtliche Semantiken, die irgend mit textiler Handarbeit aufrufbar sind: marianischer Raum und seine (nun gebrochenen, verkehrten, märchenhaften) Bedeutungen, Prätexte aus der Antike wie jene von Homer und Ovid und erzähltheoretische, poetologische Reflexion. Aus diesem Grund muss die Lektüre von Madame Bovary in meiner Argumentation Fontanes Effi Briest nachstehen, bei der die Zusammenhänge von Handarbeit und Raum im marianischen Diskurs verhältnismäßig unkomplex und in recht klarer Metaphorik erzählt werden. Fontane hat Flauberts Roman gekannt; so beschwört auch seine Figur Effi als Nachfolgerin der Bovary aus Texten Bilder herauf oder zeigt sich von einem Miniaturbildchen auf dem Dachboden in Kessin, das sie halluzinatorisch verfolgt, stark beeindruckt.69 Was mich im Folgenden jedoch vor allem interessieren wird, ist Fontanes Art und Weise, textile Handarbeit zu inszenieren, die bei ihm, so scheint mir – wenn überhaupt von einer allegorischen Tendenz seiner Bilder im Sinn einer poetologischen Reflexion die Rede sein kann – höchstens die Quellen anzeigen will, von denen sie herrührt und mit denen ihre räumliche Semantik angereichert wird. Dabei handelt es sich um zwei (erbauliche) Prätexte aus der Romantik, die bei Fontane Minne und geschlossenen Raum zusammenbringen, vor allem aber um ein Gemälde, das den Anfang seines Romans bestimmt und einen Hortus conclusus in einer vollkommen neuen, modernen Bildsprache zum Gegenstand hat, The Childhood of Mary virgin (18481849).

68 Auch der Tintoretto in L’Adultera taucht als Motto für die daraus entwickelte Ehebruchsgeschichte ganz zu Beginn des Romans auf. Zu Ut pictura poesis vgl. exemplarisch Gotthold Ephraim Lessing (1766): Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: G.E.L.: Werke in acht Bänden. Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, München: Hanser, 11974 (Bd. 6), und Hans Christoph Buch: Ut pictura poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukacs, München: Hanser, 11972. 69 EB, Kapitel 9, S. 70 83.

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O RIGINAL

UND

B ILDKOPIE : F ONTANES E FFI B RIEST

In der berühmten Anfangsszene von Effi Briest beruft sich Fontane bei der Einführung seiner Protagonistin explizit auf die Marienikonographie, nämlich auf eine Lieblingsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Mariä Verkündigung, und ihren Raum als Bild: den Hortus conclusus.70 Die histoire setzt mit der eingehenden Beschreibung des Gartens von Hohen-Cremmen ein. Fronthaus, Seitenflügel, Kirchhofsmauer und Teich umschließen einen »Ziergarten«, in dem Effi und ihre Mutter bei der textilen Handarbeit gezeigt werden. Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an dessen offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angekettetem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde. […] Beide, Mutter und Tochter, waren fleißig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezählte Wollsträhnen und Seidendocken lagen auf einem großen, runden Tisch bunt durcheinander, dazwischen, noch vom Lunch her, ein paar Dessertteller und eine mit großen schönen Stachelbeeren gefüllte Majolikaschale. 71

Die in diesem Hortus conlusus stattfindende textile Beschäftigung von Mutter und Tochter ist im Arrangement der auf dem Tisch befindlichen Objekte ausgestellt (zwischen Wollsträhnen und Seidendocken: Dessertteller, Stachelbeeren, Majolikaschale) und artikuliert auf einen Blick die im Folgenden offengelegten Bande zwischen den beiden Handarbeiterinnen: Mutter und Tochter laut Textstelle, beide potentielle Bräute Innstettens, so geht die Analepse; die eine ehemalig Umworbene, die andere bald seine Verlobte. Angekündigt nicht durch einen Engel, sondern durch die Mutter wird Effi nun nicht der göttliche Gemahl, sondern Innstetten in den Garten treten und sie zu seiner Braut machen.72 Effi wird zugunsten des Ereignisses ihrer bevorstehenden Verlobung als Stickerin in den Roman eingeführt. Tatsächlich hat man bei dieser Exposition die Kopie eines Gemäldes vor sich, das ebenso eine Stickerin zum Gegenstand hat: Peter-Klaus Schuster versteht den Romananfang in seiner Studie Effi Briest. Ein Leben in christlichen

70 Vgl. Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern (Anm. 48). 71 EB, S. 9 10. 72 Schuster zieht diese Parallele von Gott und Innstetten ganz explizit: Wie ein Gott werde der Baron als ›Hoher Herr‹ adressiert, und Effi fürchtet sich vor ihm. Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, S. 8 (Anm. 48).

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Bildern (1978) als exakte literarische Umsetzung des Gemäldes The Childhood of Mary virgin des englischen Malers Dante Gabriel Rossetti, die auf die klassischen Hortus consclusus-Darstellungen des Mittelalters referiert und Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Bildsprache begründete.73 Rossettis Gemälde zeigt eine in einen profanen Garten verlegte Verkündigungsszene: Maria stickt unter den Augen ihrer Mutter Anna; im Hintergrund ist ein Teich zu sehen. Mit diesem Einstieg in die Geschichte durch die Kopie eines Gemäldes entwickelt Fontane in Effi Briest seine Idee aus L’Adultera konsequent und explizit weiter. Dieser Roman hatte mit der titelgebenden Tintoretto»Kopie«, wie es dort heißt, und deren Lektüre durch die Protagonistin begonnen: »Nun, Lanni, wie findest du’s?... Ich will dir übrigens zu Hilfe kommen… Ein Tintoretto.« »Kopie?« »Freilich«, stotterte van der Straaten etwas verlegen. »Originale werden nicht hergegeben. Und würden auch meine Mittel übersteigen. […]«74

Die histoire beider Romane also wird aus der Kopie eines Gemäldes und dessen Umsetzung in Text entwickelt, und zwar als Beschreibung durch einen Figurenkommentar in L’Adultera und durch die Stimme des Erzählers (»telling«) in Effi Briest.75 In L’Adultera als Auftakt von Fontanes Spätwerk löst dieses Gemälde einen Monolog der Protagonistin aus, die in wörtlicher Rede die dargestellte Ehebrecherin interpretiert und sich und dem Leser damit eine imaginäre Geschichte erzählt. Diese Geschichte endet mit der vielsagenden Bemerkung: »Es

73 Ebd., S. 35 39. Ein Pendant zur Studie Schusters zu Fontane stellt Peter Séraphin Rogers’ Arbeit zu Flaubert dar, The mystery play in Madame Bovary. Moeurs de province (Anm. 54). Ähnlich wie Schuster in Bezug auf Effi Briest, entwickelt Rogers durch einen minutiösen Nachweis von Bibelstellen in Flauberts Roman seine These von Madame Bovary als »mystischem Theaterstück«, in dem der Bibeltext als Matrix die Figuren zu dramatis personae mache. Mariä Verkündigung stelle für Flaubert, so Rogers, die wichtigste Referenz dar, um Emma als Maria zu etablieren. Die Frage nach Emmas textiler Beschäftigung und dem Modell des Hortus conclusus wird hier überraschender Weise jedoch nicht gestellt, obwohl Rogers zwei Teile seiner Studie mit »Virgin’s threads« und »Masters of the place« überschreibt und auch Flauberts offensichtliches Interesse an religiösen Sujets in der bildenden Kunst darlegt. 74 Theodor Fontane: L’Adultera (1882), Stuttgart: Reclam, 22000, S. 9. 75 Zum Begriff der Beschreibung vgl. Lessings ut pictura poesis-Begriff, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (Anm. 68).

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ist soviel Unschuld in ihrer [der Ehebrecherin] Schuld… Und alles wie vorherbestimmt«. Die Protagonistin nimmt also die histoire (die Geschichte ihres Ehebruchs) vorweg und kopiert durch ihre Auslegung des Tintorettos in ihrer Erzählung den Autor Fontane in einer mise en abyme (allerdings nur zu Beginn des Romans; bei Flaubert prägt dieser Kunstgriff der Doppelung von Autor und Heldin den ganzen Roman). In Effi Briest ist dies anders. Effi weiß erstens nichts von dem Gemälde, das ihre Einführung bestimmt (es ist auch nicht zu vermuten, dass der zeitgenössische Leser tatsächlich das Gemälde von Rossetti kannte; die damit erfolgende Anspielung auf die Mariengeschichte ist jedoch mehr als offensichtlich). Und zweitens wird das einführende Kapitel von L’Adultera mit Effi Briest noch einmal in einem ganzen Roman ausgefaltet. Die Rede von einer Mauer zum Beispiel, die Effi erst später in Kessin vor Crampas schützen soll, kommt in L’Adultera bereits in diesem ersten Kapitel vor, als die zuvor stickend gezeigte Melanie ihrem Mann zum Thema Ehebruch scherzhaft sagt: »Wenn du die Dinge so siehst, so weiß ich nicht, warum du mich nicht heut oder morgen einmauern lässt«.76 In Fontanes Spätwerk geht es, so soll im Folgenden deutlich werden, also nicht nur um textile Handarbeit als Vorzeichen des Ehebruchs, sondern damit auch um bedrohliche Bilder im Topos des gefährlichen Lesens. Es geht um Kopien von Gemälden (durch Text), die die Protagonistinnen lesen und als imaginäre Bilder heraufbeschwören können oder die (im Traum) zu bedrohlichen imaginären Bildern werden und ihnen Angst machen (die Furcht der weiblichen Figuren ist tatsächlich ein Schlüsselthema in Fontanes Ehebruchsromanen). Insofern führt auch Effi wie ihre Vorgängerin Melanie van der Straaten im Verlauf des Romans die Bildpraktiken ihres Autors vor, bei der aus im Text (Ebene der handelnden Heldinnen) und durch Text (Ebene der Erzählung) kopierten Bildvorlagen Text und Erzählung werden. Nach ihrer Hochzeit mit Innstetten verlässt Effi den Hortus conclusus Hohen-Cremmen und zieht nach Kessin. Wie Hohen-Cremmen erweist sich auch Innstettens Herrenhaus von einem Bild markiert, nicht von einem Gemälde diesmal, sondern von einem bürgerlich-profanen Alltagsbildchen, das mit einem Gemälde in Bezug gesetzt wird. Als Effi ihr neues Zuhause zusammen mit Innstetten zum ersten Mal besichtigt und sie über eine morsche Treppe in den ersten Stock steigt, dessen Räume leer sind, gelangt sie in einen Saal. Auf einem der dort gelagerten durchgesessenen Stühle klebt »ein kleines, nur einen halben Finger langes Bildchen […], das einen Chinesen darstellte, blauer Rock mit gelben Pluderhosen und einen flachen Hut auf dem Kopf«. Es handelt sich in

76 Fontane, L’Adultera, S. 10 11 (Anm. 74).

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den Worten Innstettens um eine »Spielerei« der Domestiken, denn das Bildchen ist »aus einer Fibel ausgeschnitten«.77 Dieses Bildchen wird im anschließenden Kapitel des Romans mit einem Gemälde zusammengeführt, dessen Beschreibung Effi in einem Buch über die Eremitage liest. Sie fühlt sich verlassen und greift daher zur Lektüre. Was sie liest, ist eine Geschichte über »ein stark nachgedunkeltes Frauenporträt«, das als »weiße Frau« berühmt geworden sei. Effi, die sich eigentlich »die Nerven beruhigen« wollte, legt erschrocken das Buch zur Seite, um es kurz darauf doch wieder aufzuschlagen: »… Eben dies alte Porträt (dessen Original in der Hohenzollerschen Familiengeschichte solche Rolle spielt) spielt als Bild auch eine Rolle in der Spezialgeschichte des Schlosses Eremitage, was wohl damit zusammenhängt, daß es an einer dem Fremden unsichtbaren Tapetentür hängt, hinter der sich eine vom Souterrain her hinaufführende Treppe befindet. Es heißt, daß, als Napoleon hier übernachtete, die ›weiße Frau‹ aus dem Rahmen herausgetreten sei und auf sein Bett zugeschritten sei. Der Kaiser, entsetzt auffahrend, habe nach seinem Adjudanten gerufen und bis an sein Lebensende mit Entrüstung von diesem ›maudit château‹ gesprochen.« »Ich muß es aufgeben, mich durch Lektüre beruhigen zu wollen«, sagte Effi. […] »Ich will also lieber wieder die Augen schließen und mir, so gut es geht meinen Polterabend [in Hohen-Cremmen] vorstellen«.78

Später wird Effi in der Nacht, wie Napoelon vor der weißen Frau, vor dem Chinesen zutode erschrecken, den sie aus dem Bildchen gestiegen lebendig neben sich am Bett zu sehen glaubt, und sie schreit nach dem Hausmädchen Johanna um Hilfe.79 Sie wird in ihren Briefen nach Hause von einem »Spukhaus« sprechen, in dem sie lebe und dafür die heftigste Kritik von Innstetten ernten.80 Die

77 EB, S. 65. Blauer Rock und gelbe Hose stehen bekanntlich für die Figur der Romantik, Goethes Werther. Womöglich ironisiert Fontane hier (wie Flaubert) einen romantischen (Lektüre)Diskurs, der bei der Verführung Effis durch Crampas auf der Schlittenfahrt noch einmal auftauchen wird, und zwar durch ein dort von Effi zitiertes Gedicht von Brentano, »Die Gottesmauer«. The Woman in White, ein Roman von Wilkie Collins von 1860, war ein berühmter und viel gelesener mystery novel, der von Doppelgängerinnen erzählt; die Figur der weißen Frau als Gespenst in der Funktion einer dramatischen Vorhersagung taucht immer wieder in (englischen) Erzählungen und Romanen auf. Sie steht für Ehebruch und Betrug und fürs Sich-Gruseln und ist ebenso eine berühmte Figur der Romantik. 78 EB, S. 76 77. 79 EB, S. 82. 80 EB, S. 110.

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Kursivierungen, mit denen die Begriffe Original und Bild markiert sind und die Rede von einer unsichtbaren Tapetentür, die sich auftut, scheint mir Fontanes eigene Bilderpraktik vorzustellen: Originalgemälde tauchen als Bilder (oder auch, in Anschluss an L´Adultera: Kopien) in seinen Texten auf. Durch ihre Umsetzung in Text, wie es die Protagonistin zeigt, erfahren sie eine bedrohliche Belebung, insofern, als sie zu imaginären Bildern durch eine gefährliche Lektüre werden (in L’Adultera ist das Gemälde selbst in den Worten der Protagonistin »gefährlich«).81 Dieshinsichtlich stellt die (Bilder) lesende und imaginierende Effi eine Nachfolgerin der Bovary dar. Dass solche imaginären Bilder, die von Texten oder eben Gemälden herstammen, jedoch auch beruhigen können, zeigt Effis Ehebruch: Bald nach ihrer Ankunft in Kessin macht ihr der schneidige Major Crampas den Hof, ein berüchtigter Schürzenjäger, und die zutode gelangweilte junge Frau unterliegt seinem Charme, nicht ohne zunächst ein tröstendes Bild aus ihrer Kinderzeit heraufzubeschwören: eine schützende Gottesmauer aus Schnee. Dies passiert auf einer winterlichen Schlittenfahrt durch den Schloon, der auf Hohen-Cremmen zurückverweist und damit auf das zu Text gewordene Gemälde von Rossetti, mit dem Fontane seine Heldin einführt. Rossettis Verkündigung: The childhood of Mary virgin (1848/49) Theodor Fontane hat der bildenden Kunst größtes Interesse entgegengebracht und sich sowohl mit Trivialkunst als auch mit modernen Malern und Literaten wie Gustave Courbet und Gustave Flaubert intensiv beschäftigt.82 1857, im Erscheinungsjahr von Madame Bovary, rezensiert der junge Fontane die Kunst der Raffaeliten als Korrespondent in England in begeisterten Tönen.83 Kurioser Weise bedient er sich bei der Beschreibung der revolutionären Darstellungsformen dieser Künstler  wie auch die Kritiker von Madame Bovary  eines medizinischen Diskurses84 und weist als Hauptcharakteristikum aus, was für Flaubert

81 Fontane, L’Adultera, S. 7 (Anm. 74). 82 Ebd., S. 43. 83 Fontane schreibt eine Rezension über eine Ausstellung der Präraffaeliten in Manchester. Theodor Fontane: »10. Brief aus Manchester: Die Präraffaeliten«, 7. Juli 1857, in: T.F.: Sämtliche Werke. Aufsätze zur Bildenden Kunst XXIII.1, hrsg. v. Edgar Carl Marian Gross, München: Nymphenburger, 11970, S. 139–146. Vgl. hierzu auch Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, S. 29 39 (Anm. 48). 84 Vgl. etwa die Kritik von Sainte-Beuve in Le Moniteur Universel vom 4. Mai 1857: »M. Gustave Flaubert tient la plume comme d’autres le scalpel.« Charles-Augustin Sainte-Beuve: »Causéries de lundi. Madame Bovary par Gustave Flaubert«. Zei-

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Dogma ist:85 ›Unmittelbarkeit! Nichts aus zweiter Hand!‹, so zitiert Fontane das »Feldgeschrei« der Präraffaeliten,86 die »jungen Medizinern [gleichen], die nach Arm und Bein und wirklichen Menschen verlangen« und beschreibt ihre Kunst als »eine Sondererscheinung innerhalb […] der großen realistischen Schule«.87 Im London des Revolutionsjahres 1848 schließt sich der junge Poet und Maler Dante Gabriel Rossetti mit seinen Malerkollegen William Holman Hunt und John Everett Millais zur »Pre-Raphaelite Brotherhood«, kurz PRB, zusammen.88 Im Verlauf von zehn Jahren entwickelt die Künstlergruppe unter der Führung Rossettis einen revolutionären Malstil, der als Präraffaelismus bekannt wird und im viktorianischen England für Furore sorgt. Beeinflusst unter anderem von der Kunst des späten Mittelalters und der Renaissance, lehnt die Gruppe – wie im Präfix ihres Namens angezeigt – den akademischen Stil eines Raffael zugunsten einer kompromisslosen »relation of art to nature« ab.89 Mit dem Ziel »to eschew all that was conventional in contemporary art«, wie Hunt es formuliert,90 reflektieren die Präraffaeliten in ihren Gemälden nicht nur soziale und moralische Problematiken, wie sie die 1848er-Revolution auf den Tisch gebracht hatte: Im Mittelpunkt insbesondere der ersten Jahre steht ein »Art-Catholicism« als Versuch »to embrace Christianity […] for the sake of its aesthetic tradition«. Dabei geht es den jungen Künstlern also nicht um die Suche nach religiöser Wahrheit, sondern vielmehr um die Suche nach einem Weg zur Darstellung von »some psychological need for and perception of some spiritual value«.91 Eine Lösung hierfür ist der Rückgriff auf klassische Topoi der Ikonographie, wie eben die Hortus conclusus-Darstellungen der Renaissance, zur Modellierung zeitgenössischer weiblicher Figuren. Marienfiguren werden nun in viktorianische Interieurs versetzt und religiöse Darstellungen in säkulare Szenerien des täglichen Lebens überführt (z. B. Hunt:

tungsartikel in Le Moniteur Universel, 4. Mai 1857, Online-Dossier der Université de Rouen, hrsg. v. Emmanuel Vincent, 2006 [o.S.]. 85 Wie Flaubert es so prominent in einem Brief an Louise Colet formuliert: »L’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout et visible nulle part.« Brief an Louise Colet, 9. Dezember 1852. 86 Fontane, 10. Brief aus Manchester, S. 139 (Anm. 83). 87 Ebd., S. 140. 88 Alicia Craig Faxon: Dante Gabriel Rossetti, New York: Abbeville Press, 11994, S. 48. 89 David Riede: Dante Gabriel Rossetti and the limits of Victorian vision, Ithaca: Cornell University Press, 11983, S. 46. 90 Faxon, Rossetti, S. 48 (Anm. 88). 91 Riede, Rossetti and the limits of Victorian vision, S. 52 (Anm. 89).

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The Awakening Conscience, 1853).92 In den Gemälden schwingt dabei ganz gemäß der Walter-Scott-Mode der Zeit, wie es auch Emma Bovarys Lektüreverhalten offenbart, ein verkitschtes Mittelalter und ein Hauch von Shakespeare mit: Die weibliche Figur in ihrem viktorianischen Inklusorium ist gleichermaßen weggesperrtes Burgfräulein wie auch tugendhaft-marianische Jungfrau (z. B. Hunt: The Lady of Shalott, 1857, und Millais: Mariana, 1851);93 im Zentrum stehen die Problematiken von Langeweile und Ehebruch. Im Zusammenhang mit dem Wiederaufblühen des Katholizismus im viktorianischen England und dem Revival eines romantisierten Mittelalters ab den 1830er Jahren als Ausdruck genereller Ablehnung der Entwicklungen während der industriellen Revolution, ihrer Ideen und ihres Fortschrittsglaubens, avanciert die Kunst der Präraffaeliten zu einem regelrechten »movement«,94 das die Vorbereitungen für die Great Exhibition in London erheblich beeinflusst. Es handelt sich um die erste Weltausstellung, zu der Flaubert wenige Tage, nachdem er mit der Arbeit an Madame Bovary begonnen hatte, im September 1851 reist.95 Es ist zwar zweifelhaft, ob Flaubert in England Gemälde der Präraffaeliten gesehen hat – zumindest nicht die Werke von Rossetti, der sich aufgrund der hysterischen Reaktion der Öffentlichkeit auf seine »blasphemische«, zweite Marieninterpretation Ecce Ancilla domini! (1850)96 weigerte, außer in privaten Kreisen jemals wieder auszustellen.97 Es mag aber durchaus sein, dass er Reproduktionen kannte, wie auch Fontane einige Gemälde, eben auch Rossettis Childhood of Mary Virgin, nur durch solche Reproduktionen kennengelernt hat, die den Raffaeliten finanziell weit mehr einbrachten als die Gemälde selbst.98

92 William Holman Hunt: The Awakening Conscience, Öl auf Leinwand, 76,2 cm x 55,9 cm, Tate Gallery, London, 1853. 93 William Holman Hunt: Mariana, Öl auf Mahagoni, 59,7 cm x 49,5 cm, Tate Gallery, London, 1851. 94 Jeffrey Auerbach (1999): The great exhibition of 1851. A nation on display, New Haven: Yale University Press, 11999, S. 171 172. 95 Briefe an Louise Colet, 20. September 1851 und London, 30. September 1851. Tatsächlich formuliert Flaubert im Brief vom 20. September 1851 die Reiseabsicht »[…] je pars pour Londre jeudi prochain« wenige Zeilen vor der

Information: »J’ai

commencé hier au soir mon roman.« 96 Dante Gabriel Rossetti: Ecce Ancilla Domini! (The Annunciation), Öl auf Leinwand, 72,4 cm x 41,9 cm, Tate Gallery, London, 1849−1850. 97 Julian Treuherz: Dante Gabriel Rossetti. Ausstellungskatalog, Amsterdam: Waanders, 1

2003, S. 22 23.

98 Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, S. 37 (Anm. 48).

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Viel wichtiger ist jedoch, dass die Präraffaeliten wie Flaubert einer Generation angehören, die von den Umwälzungen der 1848er-Revolution und der Industrialisierung geprägt ist und wie Flaubert textil beschäftigte weibliche Figuren als weltliche Marien in einem Hortus conclusus darstellen, der zugleich bürgerliches Heim und – um es lakonisch zu formulieren – Balkon der Julia ist. Der postrevolutionäre Zusammenschluss von anti-industrieller Haltung wider den Fortschritt und romantischen Mittelalter-Kitsch auf der Folie des neu entfachten Katholizismus und der Marienverehrung der Zeit prägt die Entstehung der präraffaelitischen Kunst in gleichem Maße wie Flauberts Madame Bovary. Dabei geht es den Präraffaeliten ebenso wenig wie Flaubert, und dies wird in beiden Fällen von der zeitgenössischen Kritik moniert, um eine simple Diffamierung religiöser Werte. Im Zentrum steht das Primat, eine Sprache zu entwickeln, um das Sujet, nämlich den psychologischen Notstand einer weiblichen Hauptfigur, zu entfalten und damit also um eine Suche nach neuen Darstellungsmöglichkeiten. Die Bildsprache, die die Raffaeliten finden, ist, wie ich meine, der Flaubert’schen nicht unähnlich – zumal Flaubert bei der Inszenierung seiner textilen Handarbeiterin als marianische Figur auf eine Sprache zurückgreift, die eben aus der Bildenden Kunst stammt, wenn er den Raum der Bovary in Doppelungsverfahren semantisiert und in einer Praktik intermedialer Überlagerung konstituiert. Die Unmittelbarkeit, die Fontane in seinen kunstkritischen Briefen bei den Raffaeliten ausmacht, basiert bei Flaubert grundsätzlich auf einer Liebe zum Theater, die zu seiner großen Enttäuschung als literarischer Versuch grandios scheitert. Sein Theaterstück La Tentation de Saint Antoine fällt bei seinen Lektoren – Flauberts Freunden, darunter Maxime Du Camp – durch und wird daher als Projekt zugunsten von Madame Bovary als zweitem literarischen Versuch zunächst resigniert ad acta gelegt. Die Arbeit an Saint Antoine beschäftigt Flaubert dennoch sein Leben lang.99 1852 bettet er daher in einem Brief an Louise Colet seine berühmte, aus den Darstellungspraktiken des Theaters abgeholte Prämisse »L’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout et visible nulle part« in eine Reflexion über das griechische Drama,100 Shakespeare sowie über Harriet Beecher Stowes gerade erst erschienenem Roman Onkel Toms Hütte.101

99

Vgl. zum Saint Antoine exemplarisch den zentralen Aufsatz von Michel Foucault: »La bibliothèque fantastique«, in: Raymonde Debray-Genette (Hrsg.): Travail de Flaubert, Paris: Editions du Seuil, 11983, S. 103–122, und zum Theater bei Flaubert Rogers: The mystery play in Madame Bovary (Anm. 54).

100 Brief an Louise Colet, 9. Dezember 1852. 101 Uncle Tom’s Cabin erschien 1852 und wurde sofort in zahlreiche Sprachen über-

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[L]a forme dramatique a cela de bon, elle annule l’auteur. […] L’effet, pour le spectateur, doit être une espèce d’ébahissement […] qu’on se sente écrasé sans savoir pourquoi. – L’art grec était dans ce principe-là et, pour y arriver plus vite, il choisissait ses personnages dans des conditions sociales exceptionnelles, rois, dieux, demi-dieux. – On [ne] vous intéressait pas avec vous-mêmes. – Le Divin était le but.102

Das Verfahren des griechischen Dramas, die Zuschauer durch ein Personal mit großer Fallhöhe und in außergewöhnlichen Situationen mitzureißen, ohne dass es ihnen bewusst wird, steht hier am Ende einer Argumentation über eine Poetologie, die das Menschliche zum Ausdruck bringen will und zwar ganz unmittelbar: L’humain est le but. Flaubert leitet seine Überlegungen hierzu mit dem Beispiel von Onkel Toms Hütte ein; das Urteil fällt hart aus und nimmt dieselbe Kritik vorweg, die einige Zeilen später in selbigem Brief auch Balzac zuteil werden wird: Onkel Toms Hütte sei »un livre étroit«, denn »[i]l est fait à un point de vue moral et religieux«. Sofort schließt Flaubert an: »Il fallait le faire à un point de vue humain.«103 »Le Divin« des griechischen Dramas sei also durch l’Humain zu ersetzen, wobei der dramatische Modus der Unmittelbarkeit und der hohe Stil im Roman erhalten bleibt und mit ausgefeilten ironischen Verfahren angereichert wird. Flaubert bedient sich, vergleichbar mit dem Verfahren der Raffaeliten, als Darstellungsmöglichkeit des Menschlichen, das er dem Göttlichen des griechischen Dramas entgegenstellt, bei der Ikonographie. Das geistige Bild des Hortus conclusus wird bei ihm so umbesetzt zum Lebensraum einer normannischen bourgeoise. In einer solchen Umformung religiöser Wertvorstellungen ins Profane als Distanz schaffendes Manöver, die in der Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts durchgängig zu beobachten ist, wird ein ganzes Paradigma semantischer Doppelung ausgestellt. Mit dem Bild des Hortus conclusus in Gemälde und Text als einem menschlichen Lebensraum und damit mit den in diesen Räumen inszenierten Figuren, reflektiert die Kunst soziale wie topographische Bewegungsmöglichkeiten in der aufkommenden Moderne. Flauberts Erfindung ist es – und damit unterscheidet er sich nun grundlegend von den Raffaeliten –, dieses Spiel von Sakulärem und Sakralem von einem Verfahren semantischer Doppelung in das Verfahren der Überlagerung von Bildern, die aus beiden Diskursen

setzt. Flaubert scheint sich in seinem Brief auf eine französische Übersetzung zu beziehen, da er den französischen Titel zitiert. 102 Brief an Louise Colet, 9. Dezember 1852. 103 Brief an Louise Colet, 9. Dezember 1852. Flauberts Hervorhebung. Bezüglich Balzac wird es heißen: »légitimiste, catholique, aristocrate«. Ebd.

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stammen, zu überführen, ohne auf eine Moral abzuzielen. Eine große Rolle spielt hierbei Flauberts berüchtigte Ironie, die der Staatsanwalt Pinard in seiner Anklage gegen Flaubert und seine Madame Bovary als Verstoß gegen Religion und Moral laut Plädoyer des Verteidigers nicht erkannt hatte.104 Mit ähnlichen Vorwürfen und der großen Empörung der Gesellschaft in den 1850er Jahren müssen sich der Maler Rossetti und seine Mitstreiter herumschlagen, als sie ihre ersten Gemälde der Öffentlichkeit präsentieren. Dante Gabriel Rossetti stellt 1849 mit seiner Interpretation von Mariä Verkündigung, The Childhood of Mary, das erste Werk der »Pre-Raphaelite Brotherhood« in der Free Exhibition im Hyde Park aus.105 Die Vertrautheit der englischen Gesellschaft mit traditionellen Bildinhalten als eine die Zeit prägende »popular Victorian idea of the Renaissance« 106 spiegelt sich einerseits in dem großen Wohlwollen wider,107 mit dem Rossettis erste noch recht traditionelle Verkündigungs-Darstellung aufgenommen wird, und andererseits in der geradezu hysterischen Ablehnung, die ein Jahr später die zweite und radikalere Version Ecce Ancilla Domini! erfährt, die die grundsätzlich feindselige Kritik an der Kunst der Raffaeliten unter dem Stichwort Blasphemie seit 1850 exemplarisch verdeutlicht.108 Rossetti signiert The Childhood of Mary virgin im linken unteren Bildrand mit seinem vollständigen Namen und dem Entstehungsjahr 1849 und markiert es unterhalb seiner Signatur mit dem Kürzel »PRB« als erstes Werk der »PreRaphaelite Brotherhood«. Es zeigt die junge Maria mit offenen, langen Haaren zusammen mit ihrer Mutter Anna beim Sticken auf einer gefliesten Terrasse, die im oberen Bildrand von einem Rundbogen, den eine vielblättrige Weinrebe wiederholt, abgeschlossen wird. Zu ihren Füßen befindet sich ein Stapel Bücher, die Maria klassischer Weise als Sedes sapientiae ausweisen, mit den Titeln der Kardinaltugenden Fortitudo, Temperantia, Prudentia, Spes, Fides und, ganz

104 Vgl. das Kapitel »Vorbilder«. 105 Dante Gabriel Rossetti: The childhood of Mary virgin, Öl auf Leinwand, 83,2 cm x 65,4 cm, Tate Gallery, London, 1848−49. Virginia Surtees: The Paintings and *+  , - ./ % ! 01 Drawings of Dante Gabriel Rossetti (1828  , Oxford: Clarendon Press, 11971, S. 11. 106 Rachel Teukolsky: The Literate Eye. Victorian Art Writing and Modernist Aesthetics, Oxford: Oxford University Press, 12009, S. 125. 107 Faxon, Rossetti, S. 54 (Anm. 88). 108 Treuherz, Rossetti. Ausstellungskatalog, S. 22 23 (Anm. 97).

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oben auf, Caritas.109 Ein Palmenzweig liegt vor ihr am Boden. Auf dem Bücherstapel steht, in einer roten Vase, eine grünblättrige, langstielige, weiß blühende Lilie. Ein kindsgroßer, stehender Engel mit roten Flügeln und träumerischem Blick zupft an ihren Blättern, die rechte Hand auf dem obersten Buch abgestützt. Hinter dem Engel wird eine Balustrade sichtbar, auf der im linken Bildrand eine Vase mit einer einzelnen Rose steht und über die, zentral im Bild, in Annas Rücken, ein rotes Tuch gehängt ist, das den Tempelvorhang zu zitieren scheint, den Maria in Jakobus’ Geschichte anfertigt. Während ein grüner Vorhang, wie in Anspielung auf dichtes Blattwerk, vor dem sich die beiden Frauenfiguren klar abheben, im rechten Hintergrund das Blickfeld begrenzt, öffnet sich jenseits der Balustrade der Raum durch ein Spalier hindurch auf eine grüne Landschaft mit einem Teich. Hinter der Balustrade weist der Heilige Joachim als Gärtner, Annas Mann und Marias Vater, der die Arme zu den Blättern des Astes reckt, in denen seine Hände verschwinden, die Landschaft als Garten aus. Das Spalier aus wenigen Stangen bildet im Zentrum des Gemäldes ein Kreuz, gedoppelt von der horizontalen Linie der Balustrade und der vertikalen Linie des sich streckenden Joachims. Auf einer der Stangen sitzt eine Taube mit Aureole.110 Rossetti verlegt die Bibelgeschichte von Mariä Verkündigung im Bild des Hortus conclusus also in einen weltlichen Garten. Zwar sind in seiner Interpretation von Mariä Empfängnis die Figuren mit Nimben als heilige gekennzeichnet, und es tauchen der Verkündigungsengel Gabriel, der heilige Geist als Taube und die Passion Christi im mit Efeu, Zeichen der Liebe, umrankten Kreuz und in einem Palmenzweig auf.111 Dennoch wird die klassische Darstellung eines Hortus conclusus in die profane Häuslichkeit einer im sommerlichen Garten versammelten Kleinfamilie aus Vater und Mutter, jugendlicher Tochter und einem Geschwisterlein umformuliert.

109 Tapferkeit, Mäßigung, Klugheit, Hoffnung, Glaube, Nächstenliebe. Surtees, The Paintings and Drawings of Rossetti, S. 10 (Anm. 105). Fides, spes und caritas tragen als Inschriften auf ihrem Fell auch die Jagdhunde in der Erfurter Hortus conclusus-Darstellung Maria mit dem Einhorn. 110 Vgl. zu Entstehung, Symbolik und anderen Details des Gemäldes Treuherz, Rossetti. Ausstellungskatalog, S. 146 147 (Anm. 97), und Surtees, The Paintings and Drawings of Rossetti, S. 10 11 (Anm. 105). 111 Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern), S. 35 (Anm. 48).

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Abbildung 5: Dante Gabriel Rossetti: The childhood of Mary virgin, Öl auf Leinwand, 83,2 cm x 65,4 cm, Tate Gallery, London, 1848−1849. Erst die eigenartiger Weise in Marienrot gehaltenen, schmalen Flügel, die wie zu schwere Kostümflügel leicht verbogen vor den Füßen des Knaben auf dem Boden aufgestützt sind und auf den ersten Blick wie ein Mantel aussehen, kennzeichnen das Kind im Gemälde, das einen beinahe gelangweilten Gesichtsausdruck aufgelegt hat, als Engel. Konsequenter Weise zeigt Rossettis Mädchen-

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figur keinerlei Furcht,112 wie Maria sie bei der Verkündigung durch den Engel empfindet, sondern blickt unkonzentriert von ihrer Handarbeit auf. Das große Lob, das Rossetti für dieses Gemälde von seinen Zeitgenossen zuteil wird, ist vor allem einem Detailreichtum zuzuschreiben, welcher für die präraffaelitische Kunst wie auch für Flauberts Poetik so typisch ist: Die aufgefahrenen Objekte, mit denen das Geschehen als Ereignis inszeniert wird, treffen nicht nur den goût einer materialistischen Gesellschaft als Zeichen von künstlerischem Fleiß und Können und als Anhäufung von Gegenständen im foyer, so wie sie Emmas Räume ausstopfen. Sondern sie dienen der Ausfaltung einer bestimmten räumlichen Vorstellung. [The] abundance of symbolic detail was characteristic of Pre-Raphaelite painting. It established a very specific sense of place and time; and as in Flemish fourteenth and fifteenth-century painting, it reinforced the significance of the event taking place. For Victorian spectators, the proliferation of detail also testified to the artist’s hard work and technical expertise, satisfying a counting-house mentality that delighted in the accumulation of material goods.113

Wenngleich diese Objekte in The Childhood of Mary virgin noch eindeutig als christologische Symbole ausgewiesenen sind – in späteren Arbeiten Rossettis und in denen von Hunt und Millais ist dies nämlich nicht (mehr) der Fall –,114 so

112 So auch das Argument von Schuster, ebd., S. 75. 113 Faxon, Rossetti, S. 54 (Anm. 88). Meine Hervorhebung. Mit »place« ist hier höchstwahrscheinlich nicht der Dekorbegriff gemeint, sondern in Opposition zum Bildraum, in dem die Gegenstände figurieren, die Überformung des realen, historischen Raumes und seinen Problematiken zu einer räumlichen Situation der Figuren. Die hier zu »place and time« veränderte, klassische Formulierung von »space and time« zielt dementsprechend auf das Adjektiv »specific« ab, d. h. auf das Ereignis, das im Vordergrund steht, »takes place«. 114 Rossetti stellt seinem Gemälde zwei Sonnette als Interpretationsschlüssel an die Seite, die auf den Rahmen des Gemäldes aufgeklebt sind. Ich zitiere das zweite Sonnet zur intentionierten Symbolik nach Treuherz, Rossetti. Ausstellungskatalog, S. 147 (Anm. 97). These are the symbols. On that cloth of red I’ the centre, is the Tripoint, − perfect each Except the second of its points, to teach That Christ is not yet born. The books (whose head

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ist dennoch nicht zu übersehen, dass das Gemälde mit der klassischen Marienikonographie bricht. Nicht nur ist es nicht Maria, die mit den Marienfarben ausgestattet ist, sondern ihre Mutter Anna mit roter Kopfbedeckung und dem Blau ihres Mantels, das sich auf der Bildfläche ein weiteres Mal mit dem Rot des Tuches in ihrem Rücken berührt. Dieses Tuch, das im Zentrum des Bildes den Blick des Betrachters auf sich lenkt, wiederholt die rote Stoffbahn, die Maria mit Goldfäden bestickt, und stellt somit das eigentliche Sujet doppelt aus, nämlich die textile Handarbeit einer jungen Frau. Auch Annas Haltung, deren Hände untätig gefaltet in ihrem Schoß ruhen, weisen die textile Betätigung als etwas Besonderes aus: Maria allein stickt, die Mutter senkt einen konzentrierten Blick auf die Handarbeit ihrer Tochter oder vielmehr auf Marias innehaltende Hand, deren Finger die Nadel halten. Die junge Maria »is working on a scarlet cloth, copying with her needle the tall lily-stem, the symbol of purity«.115 Auch im auf eigentümliche Weise inszenierten grünen Vorhang ist das textile Thema artikuliert: Die Stange, an dem er aufgehängt ist, verwandelt sich im linken Bildraum in die Stange des ein Kreuz bildenden Spaliers; der Vorhang selbst scheint auf einer Terrasse fehl am Platz und wirkt wie ein bühnenbildnerischer Effekt, der die Szenerie zum Theater macht. Das rote, mit Lilienmotiven bestickte Textil in Marias Händen wird hier zum grünen ›Pflanzenvorhang‹ gedoppelt, der die Kulisse eines Gartens imitiert und diesen limitiert, abgrenzt, einen Außenraum anzeigt. Somit ist im Textil und damit in der textilen Handarbeit das Thema des Hortus conclusus in den Motiven von Garten und geschlossenem Raum sichtbar gemacht. In Lilie, Rose und Palmenzweig, die entweder demonstrativ von einer Engelsfigur präsentiert werden, achtlos am Boden liegen oder im Hintergrund, weit von Maria entfernt, herumstehen, sind wie beliebig und durcheinander Pflanzen zitiert, die mit Maria symbolisch in Verbindung

Is golden Charity, as Paul hath said) Those virtues are wherein the soul is rich: Therefore on them the lily standeth, which Is Innocence, being interpreted. The seven-thorned briar and the palm seven-leaved Are her great sorrows and her great reward. Until the time be full, the Holy One Abides without. She soon shall have achieved Her perfect purity: yea, God the Lord Shall soon vouchsafe His Son to be her Son. 115 Surtees, The Paintings and Drawings of Rossetti, S. 10 (Anm. 105).

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gebracht werden.116 Sie unterstreichen das Gartenthema, das erst durch den in die Pflanzen greifenden Gärtner als solches erkennbar wird. In klassischen Darstellungen dieses geschlossenen Gartens wird man – und dies stellt ebenso eine Abweichung von der Tradition dar, für die sich Rossetti in dieser seiner ersten Verkündigungs-Version entscheidet – ebensowenig Marias Mutter an deren Seite finden. In der Tat wird, ist man mit den klassischen Hortus conclusus-Darstellungen nicht vertraut, bei einem ersten Blick zunächst einmal die Frage aufgeworfen, wer im Gemälde überhaupt Maria ist. Der Begriff »childhood« des Titels gibt den wichtigen Hinweis auf die junge Frau in weiß.117 Ordnen: Effis Altarteppich In Fontanes Effi Briest, die sich nach diesem genauen Blick auf Rossettis Gemälde als dessen Kopie im und durch Text liest, geht die Einführung der Heldin nach der Beschreibung ihrer textilen Tätigkeit in der geschlossenen Architektur Hohen-Cremmens nun folgendermaßen weiter: [A]n Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange saßen, in ihrem Rücken ein paar offene, von wildem Wein umrankte Fenster […]. Rasch und sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber während die Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und

116 Rose: Maria, Lilie: Reinheit, Wein: Wahrheit, Palmen und Dornen: die sieben Freuden und sieben Leiden der Jungfrau. Treuherz, Rossetti. Ausstellungskatalog, S. 147 (Anm. 97). 117 Auch weiß ist eine Marienfarbe; so trägt Effi in ihrer ersten Inszenierung weiß und blau (Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, S. 4 5 (Anm. 48)). Im Gemälde unterstreicht die weiße Farbe Marias Jungfräulichkeit und ihren Status als Braut Gottes. Fontanes Version davon ist Effi im Matrosenkleid. Der Matrosenaufzug wiederholt sich im »Midshipman« samt der zu bauenden Rahen an der geliebten Schaukel, der die verspielte Effi gerne wäre (EB, S.18). Er läutet das für die Figur so wichtige Wassermotiv (Melusine) ein, das auch für die Verkündigungsszene als Marias Gang zum Brunnen wichtig ist, als sie ihr Inklusorium verlässt. In den klassischen Hortus conclusus-Darstellungen trägt Maria tatsächlich kaum weiß, sondern blau und rot, daher rührt die Verwirrung in Bezug auf die Figurenrollen in Rossettis Gemälde, die diese drei Farben zunächst stiften.

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Zimmergymnastik118 durchzumachen. Es war ersichtlich, daß sie sich diesen absichtlich ein wenig ins Komische gezogenen Übungen mit ganz besonderer Liebe hingab, und wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflächen hoch über dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit auf, aber immer nur flüchtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen wollte, wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung mütterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. […] Eben hatte sich Effi wieder erhoben, um abwechselnd nach links und rechts ihre turnerischen Drehungen zu machen, als die von ihrer Stickerei gerade wieder aufblickende Mama ihr zurief: »Effi, eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden müssen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube beinah, daß du so was möchtest.«119

Das zuerst durch die präsentierten Objekte ausgestellte Sujet von zwei Frauen bei der textilen Handarbeit wird nun durch Effis Gymnastikübungen im Garten unterlaufen und damit doppelt markiert: Effi legt, während die Mutter kaum den Blick von der gemeinsamen Arbeit wendet, immer wieder die Nadel nieder, um lustig herum zu turnen. »Immer am Trapez, immer Tochter der Luft«, kommentiert Frau Briest, und damit ist an der Handarbeit, die liegen bleibt, bereits eine zentrale Konstante der Figurenkonzeption artikuliert: Effi als Melusine, als ein die Männer verhexendes, erotisches Wesen zwischen Wasser und Luft.120 Auch ist die textile Beschäftigung kein Zeitvertreib, sondern eine regelrechte »Arbeit«, die fertig werden muss, derer es Fleiß und Konzentration bedarf und der Effi so nonchalant aus dem Weg geht. Beide, Mutter und Tochter, waren fleißig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezählte Wollsträhnen und Seidendocken lagen auf einem großen, runden Tisch bunt durcheinander, dazwischen,

118 Effis »Heil- und Zimmergymnastik« mag in ihrer Begrifflichkeit das Thema des Inklusoriums wie auch das Heilsversprechen artikulieren, für das Mariä Verkündigung steht. 119 EB, S. 4 5. 120 Zu Effi als »Tochter der Luft« und Melusine vgl. Edda Ziegler/Gotthard Erler: Theodor Fontane - Lebensraum und Phantasiewelt. Eine Biographie, Berlin: Aufbau, 12002, S. 242 255, 252 253, und Hubert Ohl: »Melusine als Mythos und Mythologie bei Theodor Fontane«, in: Helmut Koopmann (Hrsg.): Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Klostermann, 1

1986 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, 36),

S. 289–305.

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noch vom Lunch her, ein paar Dessertteller und eine mit großen schönen Stachelbeeren gefüllte Majolikaschale.121

Mithilfe von »Wollnadel«, »Wollsträhnen« und »Seidendocken« werden am Anfang von Effis Lebens- und Liebesgeschichte zunächst nur Quadrate geschaffen, die am Ende zu einem Ganzen zusammengenäht werden müssen.122 Aus dem textilen Chaos auf dem Tisch ersteht durch langwierige Handarbeit ein geordnetes, fertiges Textil, das für die Kirche bestimmt ist. Mit Charles’ casquette hatte Flaubert unter eben diesem Motto des »ordre composite« den ordnenden Charakter ad absurdum geführt, den das fertige Textil ausstellen sollte.123 Anders als Fontane mit Effis Textil dreht Flaubert mit Charles’ Mütze, die ebenso aus Einzelteilen zusammengesetzt ist, die Ordnung schaffende Semantik der textilen Handarbeit in eine Chaos schaffende um. Die textile Handarbeit wird quasi rückgängig gemacht, wenn sie das Chaos, das sie ordnen soll, selbst stiftet. Sie wird auf diese Weise, wie es Emma in ihrer textilen Beschäftigung vorführt, zur ägerlich sinnlosen, dauerhaften Geste (»À quoi bon? à quoi bon? La couture l’irritait.«)124 Auch Effi hält diese textile Beschäftigung für außerordentlich sinnlos und langweilig; sie turnt viel lieber im Garten herum. Trotz ihrer scheinbar geordneten, zusammengenähten Form bleibt Charles’ Mütze aus wild kombinierten Textilflecken, die nicht zusammenpassen, Chaos. Mehr noch: Sie löst dieses Chaos selbst aus, in der Ordnung der Klasse nämlich, die der Lehrer nur im Schweiße seines Angesichts wiederherstellen kann. 125 Das zu einem Chaos geordnete Textil ist in diesem ironischen Diskurs der Verdrehung oder Umkehrung einer klassischen, textilen Semantik zu einem ebenso außergewöhnlichen Textil wie Effis Altarteppich erhoben, wobei das Textil bei Flaubert seine ›Auszeichnung‹ durch eine ausufernde Lächerlichkeit erlangt. So wie in Charles’ Kappe konsequenter Weise die verschiedenen textilen Techniken markiert sind und metonymisch die textile Handarbeit per se darstellen – sticken, zusammennähen, Fäden drehen (als Kordel) –, so gibt es in Fontanes Textstelle nicht nur eine, sondern mehrere Arten textiler Techniken – weben, sticken, zusammennähen –, die in der Inszenierung der »bunt durcheinander« liegenden

121 EB, S. 9 10. 122 EB, S. 10. 123 MB, S. 152. 124 MB, S. 205. 125 »s’essuyant le front avec son mouchoir«, MB, S. 153.

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Fäden bereits vorgeschlagen und im »Altarteppich« sakralisiert werden (dagegen gibt es wohl kein unseligeres Textil als Charles ›geisteskranke‹ Mütze).126 Teppiche werden nun grundsätzlich gewoben oder geknüpft; nur beim Knüpfen jedoch bedarf es, wie in Fontanes Textpassage, einer Wollnadel. Die Wollsträhnen dienen als Kette; durch das Einknüpfen von Flormaschen aus Schafwolle, oder bei feineren Teppichen, wie im Text, aus Seide, entsteht in symmetrischer oder asymmetrischer Anordnung mithilfe einer Nadel ein Flor.127 Trotz der genauen Angabe des verwendeten Materials, die in der Tat auf eine knüpfende Tätigkeit hinweist und auch so im Begriff des »Teppichs« angezeigt ist (und eben nicht »Altartuch« o. ä., denn das Fußbodentextil ist, wie auch mit Emmas tapis, nicht gemeint), erklärt Fontane diese Handarbeit als, wie er Effi in den Mund legt, »langweilige Stickerei«.128 Wie Rudolf Helmstetter bemerkt hat, wiederholen die Einzelquadrate, aus denen in Fontanes Text der Teppich der Damen von Briest entstehen soll, die Fliesen der Terrasse.129 In klassischen Darstellungen von Mariä Verkündigung tauchen diese Fliesenböden typischer Weise auf; sie verdanken ihre Beliebtheit der neuen Darstellungsmöglichkeit eines dreidimensionalen Raums durch die wiederentdeckte Zentralperspektive in der Renaissance, die sich insbesondere in der Ikonenmalerei niederschlug.130 Die textile Handarbeit als »erste Tätigkeit, von der der Roman erzählt« (gleiches gilt für die Protagonistin Melanie in L’Adultera), so beobachtet Helmstetter weiter, »ist selbst nicht spontan-natürlich […], es ist eine planvolle, kunsthandwerkliche Beschäftigung, die unstrukturier-

126 »[…] une de ces pauvres choses, enfin, dont la laideur muette a des profondeurs d’expression comme le visage d’un imbécile«, MB, S. 152. 127 Man unterscheidet drei grundsätzliche Kategorien von Stoffen, nämlich erstens Geflechte/ Geknüpfe/ Teppiche, zweitens Gewebe und drittens Maschenwaren. Zu den verschiedenen textilen Techniken vgl. die Zusammenschau von Jacques Bril: Origines et symbolisme des productions textiles. De la toile et du fil, Paris: ClancierGuénaud, 11984 (Bibliothèque des signes), »Lexique«, S. 133 145, hier: »tissage«, S. 144. 128 EB, S. 12. 129 Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des poetischen Realismus, München: Fink, 11998, S. 167. 130 Vgl. exemplarisch Gottfried Boehm: »Die Bilderfrage«, in: G.B. (Hrsg.): Was ist ein Bild?, München: Fink, 11994, S. 325–343. Hier: S. 336 338.

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tes Material in eine geometrische Form bringt.«131 Die Zusammenschau von textilem Objekt und Bodenfliesen in der Form des Quadrats verweist also, ähnlich wie das rote Tuch über der Balustrade und der das Blickfeld begrenzende, einen Garten imitierende Vorhang in Rossettis Gemälde, auf die Verbindung von Raum und Textil, von umschlossenem Garten und textiler Handarbeit. Die mit den Fäden auf dem Tisch befindlichen Stachelbeeren in der »großen, schönen Majolikaschale« antizipieren die Verführung im »Schloon« und die von Effi wie in einer Zauberformel gegen Major Crampas heraufbeschworene Gottesmauer, die ihrerseits den Hortus conclusus Hohen-Cremmen noch einmal in Erinnerung bringt. Diese berühmten Fontane’schen bereits den späteren Ehebruch anzeigenden Stachelbeer-»Schlusen« wird Effi nun in den Garten tragen und mit großem Aufwand dort im See versenken.132 Mit den Schlusen, so geht Effis Spiel, ist nicht nur die »Schuld« versenkt (und damit stellt sie wie Melanie van der Straaten in L’Adultera die Schuldfrage bereits vor dem Ehebruch), sondern gleich noch eine Gruselgeschichte erzählt von »arme[n], unglückliche[n] Frauen«, die früher versenkt wurden, und zwar »natürlich wegen Untreue«.133 Der Zusammenhang von Schlusen und Schloon als Antizipation des Ehebruchs mit Crampas wird, noch bevor Innstetten überhaupt in Effis Garten tritt, durch die Thematik des Versenkens bzw. Versinkens hergestellt. Lilienfinger Als Effis Schlitten bei einer winterlichen Ausfahrt der Kessiner Gesellschaft im Schloon versinkt, muss sie Crampas bei sich einsteigen lassen, denn ihr Mann leitet den Weg und fährt vorne weg. ›Ich kann Sie nicht allein lassen‹, sagt Crampas ritterlich, und Effi bekommt es mit der Angst zu tun.134 Im Wald, in den in einer geradezu apokalyptischen Verdunkelung hinein gefahren wird, kommt es zum Ehebruch. Die Ironie aber besteht darin, dass es diese Reiseroute

131 Helmstetter, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes, S. 167 (Anm. 129). Helmstetter will mit seiner Beobachtung auf eine Poetologie »literarische[r] Produktionsregeln« in Effi Briest hinaus, die den fiktiven Charakter sowohl von Wirklichkeit, als auch von Fiktion wider einen naiven Realismusbegriff ausstelle, und zwar als programmatische Argumentation, »daß das Leben die Literatur nachahmt«, S. 166. 132 EB, S. 7−12, 170−183. 133 EB, S. 11. 134 EB, S. 181.

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ist, die Innstetten selbst als Anführer wählt, die seine Frau zur Ehebrecherin macht. [S]tatt den Außenweg zu nehmen [bog Instetten] in einen schmaleren Weg ein, der mitten durch die dichte Waldmasse hindurchführte. Effi schrak zusammen. Bis dahin war Luft und Licht um sie her gewesen, aber jetzt war es damit vorbei, und die dunklen Kronen wölbten sich über ihr. Ein Zittern überkam sie, und sie schob die Finger fest ineinander, um sich einen Halt zu geben. Gedanken und Bilder jagten sich und eines dieser Bilder war das Mütterchen in dem Gedichte, das die »Gottesmauer« hieß, und wie das Mütterchen, so betete auch sie jetzt, daß Gott eine Mauer um sie her bauen möge. Zwei, drei Mal kam es ihr über die Lippen, aber mit einemmale fühlte sie, daß es tote Worte waren. Sie fürchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann und wollte auch nicht heraus. »Effi«, klang es jetzt leis an ihr Ohr, und sie hörte, dass seine Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen. Es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an. Als sie die Augen wieder öffnete, war man aus dem Walde heraus […].135

Fontane grenzt hier »Gedanken« und »Bilder« klar voneinander ab. Er verwischt mit seiner Heldin die Grenzen von Bild und Text, Ikonographie und imaginären (Erinnerungs-)Bildern, wie es bei Autoren im 19. Jahrhundert seit Flaubert konsequent zu beobachten ist. Durch die weibliche Figur aus einem Gedicht, das innerhalb sicherer Mauern sitzt, wird auf die Ikonographie des Hortus conclusus in seiner nun winterlichen Version als Bild durch und im Text angespielt. Ezählung und Gedicht in der Erzählung, extradiegetische und intradiegetische Ebene gehen so eine Verbindung ein, die bei Fontane im Gegensatz zu Flaubert explizit auf ihre Intertexte und ihre Intermedialität verweist (Gedicht von Brentano, Hortus conclusus bei der Einführung Effis) und keinerlei ironische Struktur aufweist. In ihrer Imagination doppelt Effi die Pose des Mütterchens und versucht das ›Bild‹ nachzustellen. Nicht nur das Bild von einer umschließenden Mauer, auch die Furcht Effis zeigt den marianischen Diskurs an. Der Ehemann ist außer Reichweite, die Gefahr in Gestalt von Crampas bereits ins Innere des Schlittens eingedrungen. Effi beschwört nun, mehr wie mit einen Zauberspruch als mit einem Gebet, den Hortus Conclusus ihrer Mädchenzeit herauf, HohenCremmen, und zwar in der Vorstellung von einer Gottesmauer, die sie schützen soll. Dieses gleichnamige Gedicht von Brentano hat Effi, wie sie einige Zeit zuvor Crampas erzählt hatte, eben dort als kleines Mädchen vom Pastor gelernt. Schon hier reagiert Crampas »sichtlich betroffen« auf diese Geschichte von der

135 EB, S. 181 182. Meine Hervorhebung.

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schützenden Mauer, denn er liest bereits selbst und auf der Stelle aus diesem Gedicht den Wunsch Effis nach Schutz heraus, und zwar nach Schutz vor der Verführung, also vor seiner Person.136 Es ist eine Unterhaltung übers Lesen, in der das Gedicht Erwähnung findet und diese gleichzeitig jäh beendet. Das Gespräch beginnt zunächst mit einem Liebesgedicht von Heine: »›Deine weichen Lilienfinger‹…«, zitiert Crampas, »und er berührte leise ihre Hand«.137 Diese erste eindeutige Annäherung des Majors kontert Effi auf einem gemeinsamen Spaziergang im Wald ebenso mit einem Gedicht: »Sie sind so belesen, Major, aber mit einem Gedichte – freilich keinem Heineschen […] – bin ich Ihnen, wie mir scheint, doch voraus. Dies Gedicht heißt die ›Gottesmauer‹, und ich hab es bei unserm Hohen-Cremmner Pastor vor vielen, vielen Jahren, als ich ich noch ganz klein war, auswendig gelernt.« »Gottesmauer«, wiederholte Crampas. »Ein hübscher Titel, und wie verhält es sich damit?« »Eine kleine Geschichte, nur ganz kurz. Da war irgendwo Krieg, ein Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde mächtig fürchtete, betete zu Gott, er möge doch ›eine Mauer um sie bauen‹, um sie vor dem Landesfeinde zu schützen. Und da ließ Gott das Haus einschneien, und der Feind zog daran vorüber.« Crampas war sichtlich betroffen und wechselte das Gespräch.138

Beide Male wird die Erzählung von Crampas’ Verführungsversuch mit einem Blick auf Effis Finger eingeleitet. Crampas bemerkt ihre »›weichen Lilienfinger‹…«, auf die auch im Schlitten sein Blick fallen wird. Wie bei Rossettis Marienfigur ist Effis textile Betätigung in ihren Händen markiert, auf die der Text ein Schlaglicht wirft. Konsequenter Weise sind im Moment des Ehebruchs Effis Hände leer und verkrampft, sie schlingt ihre Finger hilflos ineinander, als wiederholte sie so die Struktur des Textils, das sich in tugendhaften Händen befinden sollte. Effi hält sich fest an den eigenen Händen, wenn es schon nicht die Handarbeit sein kann, die ihr hilft (Emma führt gegenüber Léon ihre textile Handarbeit eben als solche Abwehr gegen ihre Verführung ins Feld, und zwar dermaßen kategorisch, dass der Arme zunächst wütend und frustriert die Waffen streckt).139 Die Beschwörung der Gottesmauer, das Gebet der Witwe zu Kriegszeiten – und der uralte Topos von der Liebe als Krieg kommt zum Zug – wird zur Zauberformel Effis, die sich am Ende als leere Worthülsen herausstellt. Effis Hortus

136 EB, S. 170. 137 EB, S. 153. 138 EB, S. 169 70. 139 MB, S. 242.

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conclusus als Tugendformel ihrer Mädchenzeit kann nicht heraufbeschworen werden, denn Effi will, wie Emma, letzten Endes gar nicht in sicheren Wänden, also tugendhaft, sein. Die bittenden Worte sind leer, der Ehemann abwesend und, vielmehr noch, nicht mal ein Liebhaber; »lieb und gut« ist Innstetten zwar, »aber ein Liebhaber war er nicht.«140 In dem Moment, wo die textile Handarbeit unterbrochen ist bzw. nicht (mehr) stattfindet, sind auch die Mauern, innerhalb derer sie klassischer Weise inszeniert ist, obsolet geworden. Konsequenter Weise bleibt es nun nicht mehr bei einer leisen Berührung dieser Hände, die metonymisch für die textile Handarbeit Effis stehen. Die verkrampften Finger werden gelöst und öffnen sich für das, was da nun kommt, nicht fürs Sticken oder Weben, sondern für die »heißen Küsse[]« des männlichen Eindringlings, Major Crampas. Das marianische Objekt: »disguised symbolism«? Was die Präraffaeliten in ihren Bildern tun, tut Peter-Klaus Schuster zufolge Fontane in seinem Roman: Durch »diskretes Zitat«141 und »Kritik und Verwandlung der Allegorie«142 werde versucht, die überlieferte allegorische Bild- und damit eine offizielle, den in ihr transportierten Normen verpflichtete Kunstsprache aufzubrechen. Analog zu Panofskys Theorem des »disguised symbolism«, demzufolge das Wesentliche im Symbol des Beiläufigen zu finden sei,143 geschehe dies, um das Besondere im Allgemeinen zu suchen, das heißt der Kehrseite der strikten Regelung des Lebens durch gesellschaftliche Konventionen bis ins kleinste Detail hinein nachzuspüren.144 Während Panofkys »symbolism«, wie Schuster überzeugend aufzeigt, grundsätzlich eine recht fruchtbare Basis für intertextuelle Untersuchungen in Fontanes Text darstellt, funktioniert die Argumentation, die eine literarische Umsetzung christlicher Marienbilder in Effi Briest bishin zu einer imitatio der Mariengeschichte durch die Protagonistin nachzuweisen versucht, nicht ganz problemlos – wie es auch die Kritik, die die ansonsten hochgelobte Studie erfah-

140 EB, S. 113. 141 Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, S. 138. (Anm. 48). 142 Ebd., S. 150. Schuster benutzt den Allegorie-Begriff im Sinne der Bildenden Kunst als »Sinnbild« und führt ihn nicht weiter aus. 143 Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting, Cambridge: Harvard University Press, 11953. 144 Schuster, Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, S. 156 (Anm. 48).

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ren hat, suggerieren muss.145 Dies liegt u. a. daran, dass an Panofskys hermeneutischer Methode aus dem Jahre 1953 selbst, die zu den basalen Texten der Kunstgeschichte gehört, eben bereits genau jene Kritik geübt worden ist, die meines Erachtens auch das Manko an Schusters Studie darstellt: Panofsky möchte die auf einen ersten Blick zum Dekor eines Interieurs gehörenden Gegenstände in den Bildräumen der frühniederländischen Kunst (zum Beispiel eben in Darstellungen von Mariä Verkündigung) grundsätzlich symbolisch verstanden wissen, zugunsten einer metaphysischen Lehre. Dieses an alten Traditionen orientierte hermeneutische Modell entschärft aber eben gerade die eigentliche Modernität des niederländischen Naturalismus.146 Wenn Schuster in seinen Betrachtungen zur Marienikonographie, und damit zum Raummodell des Hortus conclusus, auf ein Phänomen hinweist, das als Sujet Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat, sind etliche Ungenauigkeiten und die mancherorts geradezu kompromisslose Jagd nach »Symbolen« in Fontanes Roman dem an vielen Stellen wenig präzisen Blick eines Kunsthistorikers auf den literarischen Text zuzuschreiben. In Madame Bovary wird – und dies ist, wenn man mit Flaubert vertraut ist, nicht weiter verwunderlich – weder eine entsprechende Zitatpraxis, noch eine solche »Kritik« oder »Verwandlung« der marianischen Allegorie des Hortus conclusus offenbar, wie sie Schuster bei Fontane ausmacht. Vielmehr geht es bei ihm und in den Texten des 19. Jahrhunderts um eine Darstellung von Raum, mit dem der Lebensraum der weiblichen Figur als ewiger Hortus conclusus, als Raum ewiger Erwartung, erzählt wird und damit das Bild schaffende Verfahren der Texte in den Fokus rückt.147 Mit diesen Bildern von textiler Handarbeit im Hortus conclusus verknüpft ist eine Sprache der Objekte, die wohl marianische

145 Vgl. z. B. Karl Guthke: »Fontanes ›Finessen‹ − ›Kunst‹ oder ›Künstelei‹?«, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 26 (1982), S. 235–261. 146 Vgl. zur Kritik an Panofsky: Frank Büttner/Andrea Gottdang: Einführung in die Ikonographie. Wege zur Deutung von Bildinhalten, München: Beck,

1

2006,

S. 104 106. 147 Was bei Flaubert »rhetorische Ironie in einem fiktionalen Konterdiskurs ist«, findet Rainer Warning bei Fontane »in einer Autonomie des poetischen Bildes […] im Sinne transzendentalpoetischer Überwindung schlechter Mimesis mittels reflektierter Kontingenz.« In diesem Sinne sei der »verklärende[n] Humor« Fontanes »funktionalisiert«. Rainer Warning: Flaubert und Fontane. Vorgetragen am 8. November 1996, München: Bayerische Akademie der Wissenschaften, 11997 (Sitzungsberichte Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, 1997/8), S. 68.

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Symbole aufrufen, aber in erster Linie eben als das Interieur definierende Gebrauchsgegenstände im Sinne des Dekorbegriffs figurieren. So sind es nicht die Objekte, die als »Symbole« den marianischen Raum ausstellen und den sakralen Diskurs artikulieren, wie Schuster meint. Es verhält sich genau andersherum. Das bürgerliche Interieur wird über die Inszenierung von textiler Handarbeit und von Gartenmotiven im klassischen Topos weiblicher Tugend über einen begehrenden, männlichen Blick zum Bild und erst als solches in den marianischen Raum überführt. Fehlt eine solche Betrachterfigur, wie in Fontanes erster Inszenierung von Effi, so übernimmt die Narration selbst diese Rolle, in dem sie die Betrachterperspektive als Beschreibung der Szenerie vorstellt. Wie ein filmischer Zoom leitet Fontanes Text von der Vogelperspektive, aus der Hohen-Cremmen mit seiner Kirchenmauer als den Garten »umschließendes Hufeisen« betrachtet wird, in diesen »kleinen Ziergarten« hinein, wo die Protagonistin textil beschäftigt ist. Über den Teich, der dieses Hufeisen schließt, mit dem Boot auf dem Wasser und der Schaukel an seinem Ufer, kommt die ›Kamera‹ nun bis zur »Front des Herrenhauses« heran und schwenkt von dort zur »Gartenseite« des Anwesens. Hier sitzen »Frau und Tochter des Hauses«; nun sind auch die Kacheln des »Fliesengange[s]« zu sehen und schließlich, in ›Nahaufnahme‹, die »Wollsträhnen und Seidendocken« auf dem Tisch, zwischen Tellern und der mit Stachelbeeren gefüllten Schale.148 Die Objekte, die hier den Zoom arretieren, sind ebenso wenig wie das Textil, das hier gerade entsteht und der Efeu, der die Kirchenmauer hinaufklettert oder der schattige, wilde Wein der Laube, »Symbole«. Erst nachdem sich das Bild des Hortus conclusus erhoben hat und erst im Verlauf der histoire, erfahren diese Objekte eine semantische Doppelung, wie es die Schlusen der Stachelbeeren zeigen, die den Ehebruch im Schloon antizipieren. Auch in Flauberts Fall erfahren die im Interieur inszenierten Objekte als Nippes oder Gebrauchsgegenstände ihre semantische Doppelung als marianische ›Objekte‹, nachdem das Bild vom Hortus conclusus bereits sorgfältig entwickelt wurde, das heißt erst in Yonville. Marianische Symbole wie etwa die Rose oder der Spiegel sind im Text zur modischen Dekoration des Interieurs, zu schmückenden Motiven auf einem Textil oder zu Gebrauchsgegenständen heruntergebrochen. Erst im Zusammenhang mit der textilen Handarbeit, dem mit ihr etablierten Gartenraum und im erotischen Diskurs, der bei Flaubert im sublimen, romantischen Diskurs mitgeführt ist, werden sie erneut aufgewertet und sakralisiert.

148 EB, S. 3 4.

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Die marianischen »Symbole«, die Schuster also auszumachen glaubt, wären am ehesten noch als marianische ›Insignien‹ zu bezeichnen, da sie gebrauchte, praktizierte Gegenstände darstellen und erst dadurche eine gewisse Symbolhaftigkeit annehmen. Eben dieses Oszillieren der Objekte zwischen sakral und profan, nämlich der Entwertung der marianischen Symbole zu (bürgerlichen) Gebrauchsgegenständen in einem säkularen Raum und gerade damit ihre erneute Aufwertung ins Sakrale, zeigt Rossetti in seinem Gemälde The Childhood of Mary virgin. Die Marienlilie wird zur Topfblume, die Rose steht in einer Vase; die Bücher dienen als eine Art Couchtisch, auf dem sich das Engelchen abstützt und an den Blättern der Lilie zupft. Der Tempelvorhang ist zum achtlos über die Balustrade geworfenen roten Tuch geworden, der symbolische Garten zum grünen Vorhang. Erst im Erkennen des Sujets der textilen Handarbeit und des Hortus conclusus als Bildvorlage können diese Objekte als marianische Objekte im Wandel des Hortus conclusus zum säkularen (bürgerlichen) Gartenraum entschlüsselt werden. Die Inszenierung der Gegenstände in den Horti conclusi der Literatur des 19. Jahrhunderts folgt einer Sprache des Objekts, zu deren Entwicklung dem Text selbstverständlich andere Verfahren zur Verfügung stehen als dem Gemälde. Denn im Roman können diese Objekte immer wieder doppelt oder mehrfach auftauchen und über hunderte von Seiten hinweg Ereignisse und Diskurse im Bild des Hortus conclusus auf neue Weise verbinden, wie es der Bezug zwischen Hohen-Cremmen und die Kutschfahrt unter dem Zeichen der »Gottesmauer« in Fontanes Roman schön zeigt. Effis Stachelbeeren und ihre Schlusen sind keine Mariensymbole, ebenso wenig wie Emmas Bücher oder die Rosen auf ihrem Ballkleid. Als semantische Doppelung, die durch Ähnlichkeitsbezüge möglich ist, tauchen sie jedoch wiederholt als Teil des gleichen Bildes – dem Gartenraum – auf und erhalten erst darin in den Texten einen symbolhaften Wert. Wenn sich Fontane dem Hortus conclusus zur Darstellung seiner Effi im Rückgriff auf die präraffaelitische Kunst in einer Art und Weise bedient, die zwar dem Topos des Ut pictura poesis ähnelt, tatsächlich aber eine Praktik von Original und Kopie darstellt, die die Grenzen von Text und Bild im Topos des (gefährlichen) Lesens verschleiert, so scheint dieser Topos im 19. Jahrhundert ein derartiger Gemeinplatz geworden zu sein, dass ihn Flaubert bereits Jahrzehnte vor Fontanes Roman in Madame Bovary wie eine idée reçue behandelt. In seiner ironisierten Version des marianischen Gartens als bürgerlicher Hölle wird die ikonographische Vorlage nur durch sorgfältiges Aufdröseln der sich überlagernden Diskurse überhaupt noch erkennbar, die sich an der Inszenierung textiler Handarbeit und, damit verbunden, weiblicher Inklusion kristallisieren. Auch bei Flauberts Text möchte ich, wie bei Fontane, mit dem Beginn der Geschichte

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einsteigen (Emma Bovary taucht erst im zweiten Kapitel zum ersten Mal auf). Wie Melanies und Effis ist auch Emmas erste Tätigkeit im Roman eine textile. Anders als nach ihr die Fontane’sche Heldin, steht die Bovary jedoch zunächst unter dem Zeichen einer ganz anderen Geschichte weiblicher Inklusion und textiler Handarbeit als der marianischen, nämlich dem Märchen von Dornröschen, das jedoch seinerseits auf die Mariengeschichte anspielt und nicht von einer umschließenden Mauer, sondern einer Dornenhecke erzählt, die für einen tapferen Ritter zu überwinden sei.

(Bilder-)Geschichten. Madame Bovary Le jardin est un tapis où le monde tout entier vient accomplir sa perfection symbolique, et c’est en même temps un jardin mobile à travers l’espace. […] L’activité romanesque et une activité jardinière. MICHEL FOUCAULT1

Flaubert bedient sich für seine Version der Marienverkündigung nun all jener verschiedenen figureninszenatorischen Topoi, die für das 19. Jahrhundert so typisch sind und anhand der Beispiele deutlich geworden sein dürften, die, wie die präraffaelitische Kunst und der späte Fontane, in ihrer Zitatpraxis weniger komplex sind als Madame Bovary. Der erste Teil des Romans modelliert die Heldin in Rückgriff auf die Versatzstücke des Marienlebens als Klosterschülerin, Jungfrau und Braut heraus und entwickelt damit gleichzeitig ihren Ort als »éternel jardin«:2 Der Text etabliert Emma als textile Handarbeiterin und semantisiert sie über diesen klassischen Topos nicht nur als Maria in Erwartung, als Maria, die über Dornen geht und als lesende Maria, sondern auch als Leserin von Bernardin de Saint-Pierres typisch romantischer Marienfigur Virginie (Paul et Virginie, 1788). Auch Ovids Mythos von Arachne, der vom Weben als Erzählen handelt, bestimmt diese erste Inszenierung der Heldin. Weiterhin wird Charles als verfehlter Ritter und in den Garten dringender »époux céleste« figurieren, Emmas Küche als Kirche, der elterliche Bauernhof als Dornröschenschloss und schließlich (wie Emmas neues Heim, Tostes) als marianischer Garten.

1

Michel Foucault: Les Hétérotopies/ Die Heterotopien. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 12005, S. 44.

2

MB, S. 187.

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Der zweite Teil von Madame Bovary, der mit der Beschreibung des in der histoire neuen Hauptschauplatzes Yonville einsetzt, erzählt die Geschichte von Emma als Ehefrau und Ehebrecherin und spielt dabei erneut auf die im ersten Teil etablierten (Marien-)Diskurse an, wenn die Bovary nach ihrer offensichtlich glücklosen Eheschließung mit Charles ihr Glück nun mit zwei anderen Männern versucht, die als Marienverehrer in ihren ewigen Garten treten, nämlich Léon und Rodolphe – der eine ein junger, mittelloser Anwaltsgehilfe und Poet, der anmutet wie eine der Poetenfiguren aus den Illusions perdues, der andere ein Schlossherr, der an einen Vicomte de Valmont erinnert und zugleich dem märchenhaften Retter Dornröschens ähnelt. Und eine weitere wichtige Figur hat erst in Yonville ihren ersten Auftritt: Lheureux, der Stoffhändler, der die grüßende Pose des marianischen Verkündigungsengels nachahmen, sich aber als ruinöser Engel, als diabolische Figur entpuppen wird und dabei an Balzacs Teufelsfigur Vautrin denken lässt. Mit der Figur Emma Bovary verbindet Flauberts Text mit der für die marianische Geschichte so wichtigen Frage nach Glück, Rettung und Erlösung drei berühmte Figuren, die ihrerseits mit textiler Handarbeit zu schaffen haben: eine Heilige (Maria), eine verfluchte Prinzessin (Dornröschen) und eine kleine Weberin, die sich mit einer Göttin anlegt (Arachne). Bei all diesen Figuren steht ihre textile Beschäftigung im Zentrum, und zwar stets als »a kind of salvation«, wie es A. M. Lowe 1972 in ihrer Analyse zum Arachnemythos in Madame Bovary herausstellt.3 Während sich das neugierige Dornröschen an einer der im ganzen Königreich verbotenen Spindeln sticht und damit einen bösen Feenspruch einlöst, sticht eine erzürnte Göttin Arachne mit dem Weberschiffchen ins Gesicht, woraufhin sich das beleidigte Menschenmädchen erhängen will. Eine gute Fee jedoch hatte den Fluch für Dornröschen mildern können, die nun schläft, anstatt tot umzufallen, am Ende erlöst sie ein Prinz.4 Auch Minerva hat Mitleid mir Arachne und verwandelt die bereits Baumelnde in eine Spinne, die mit dem Weberfaden aus ihrem Bauch zwar keine kunstfertigen Gewebe, doch zumindest noch Spinnennetze weben kann.5 Ein drohendes, böses Ende wird für diese Ahninnen der Flaubert’schen Heldin stets abgewendet − nicht jedoch für die Bovary selbst, die sich, verzweifelt, am Ende das Leben nimmt.

3

A[?] M[?] Lowe: »Emma Bovary, a modern Arachne«, in: French Studies XXVI, 1

4

Charles Perrault: La belle au bois dormant (1697), in: C.P.: Contes, présentation,

(1972), S. 30–41 (1972). Hier: S. 32. notes et dossier par Fabrice Fajeau, Paris: Flammarion, 12013, S. 31–46. 5

OA, VI, 1 143.

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Es mag gerade an diesen in Flauberts Texten ineinander greifenden, alten Geschichten liegen − »et vetus in tela deducitur argumentum«, wie es bei Ovid heißt −6, dass seine Geschichte von Emma nicht nur wie ein Meisterstreich in Erzählkunst und Ironie, sondern auch so hoffnungslos traurig, ja zynisch erscheint. So wie sich Jakobus’ Marienleben (Mitte 2. Jahrhundert) mit Sicherheit auf die sehr alten Darstellungen textiler Beschäftigung stützt wie Homers Penelope (7./ 8. Jahrhundert v. Chr.) oder Ovids Arachnemythos (um 8 n. Chr., Arachne spinnt und verwebt Purpur mit großer Kunstfertigkeit),7 verweisen spätere Texte von Madame de Lafayettes Princesse de Clèves (1678) und eben Perraults Contes (1697) bishin zu den Texten der Romantik mit ihren Dienstmädchen- und Magdfiguren auf frühere Darstellungen und damit wiederum aufeinander. Insbesondere der Einfluss des Marienvorbilds tritt in den Texten, die von textiler Handarbeit und weiblicher Inklusion erzählen, seit dem Mittelalter stark hervor. Eine solche märchenhafte Variation des marianischen Themas stellt Dornröschen dar. Die Anspielung an Perraults La Belle au bois dormant in Madame Bovary analysierte bereits in den 1970er Jahren Juliette Frølich.8 Flaubert hat das Märchen 1852 gelesen,9 worauf auch Frølich hinweist, am Ende ihres Aufsatzes jedoch überraschender Weise ausdrücklich infrage stellt, ob das Märchen von Dornröschen in Madame Bovary tatsächlich verarbeitet ist. Meines Erachtens gibt es keinerlei Zweifel daran, dass Flaubert bei der Einführung seiner Protagonistin auf Perrault referiert. Allerdings geht es ihm nicht, wie Frølich meint, lediglich um eine »parfaite identité du décor« und damit um Charles’ »image d’Emma« als Dornröschen, mit dem sich dieser selbst in seinen eigenen romantischen Ideen als Märchenprinz sehe, den Emma »verzaubere« (Frølich spricht, im Anschluss an das Märchen, von enchantement).10 Der Intertext zielt vielmehr auf die Thematik des geschlossenen Raumes ab, von dem auch Perrault mit der durch eine Dornenhecke in ihrem Inklusorium geschützten, schlafenden Prinzessin erzählt. Das Königspaar erlässt Verbote, sich dem Schloss zu nähern, um ihre verwunschene Tochter vor Eindringlingen zu bewahren. Doch

6

Ebd., 69.

7

Nachdem der Vater Arachnes die Wolle mit der Farbe aus Purpurschnecken färbte,

8

Juliette Frølich: »Charles Bovary et La Belle au bois dormant«, in: Revue Romane 12

9

»Jai lu ces jours-ci les contes de Perrault; c’est charmant, charmant…« Brief an

spinnt Arachne den Faden und verwebt ihn sodann. OA, VI, 9, 19−25, 61. (1977), S. 202–209. Louise Colet, 17. Dezember 1852. 10 Frølich, »Charles Bovary et La Belle au bois dormant«, S. 204 (Anm. 8).

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[c]es défenses n’étaient pas nécessaires, car il crût dans un quart d’heure tout autour du parc une si grande quantité de grands arbres et de petits, de ronces et d’épines entrelacées les unes dans les autres, que bête ni homme n’y aurait pu passer […], afin que la Princesse, pendant qu’elle dormirait, n’eût rien à craindre des Curieux.11

Des Weiteren verkennt Frølich mit ihren Thesen zu Charles als selbsternanntem Retter des Dornröschens Emma die Tragweite der erzählten Blickgeste der Flaubert’schen Figuren: Diese lassen die von Frølich diagnostizierten »images d’Emma« eben nicht auf Figurenebene, sondern auf jener dritten Ebene außerhalb des Textes entstehen, wo Rainer Warning Flauberts Ironie verortet und wo diese Bilder von Emma mit all den anderen von ihr gegebenen Bildern durch ihre Gegenüberstellung und Überblendung im ironischen Diskurs semantisiert werden. Wenn Frølich am Ende ihrer Argumentation vom Homophon Père Rouault (Emmas Vater) und Perrault spricht, so scheint mit der Nagel auf den Kopf getroffen: Der »Vater« in Flauberts Text ist in der Tat der Autor der Contes, wie so viele anderen Autoren, deren Texte in Madame Bovary Eingang finden. In Bezug auf den von Ovid erzählten Arachnemythos beispielsweise macht Edi Zollinger als einen solchen weiteren Vater des Textes Victor Hugo mit seiner Notre Dame de Paris aus, der mit Emmas Widmung auf ihrer im Wohnzimmer von les Bertaux aufgehängten Minervazeichnung angesprochen sei, auf der geschrieben steht: »À MON CHER PAPA«. Zollinger spricht an dieser Stelle von einem »Wettkampf im narrativen Weben« zwischen Flaubert und seinem ›Vater‹ Hugo, wie sich auch Arachne und die Göttin Minerva in der Webkunst des Erzählens messen. 12 Es ist signifikant, dass Flaubert diesen Wettkampf im Erzählen, bei dem er auf zahlreiche alte (Bilder-)Geschichten zurückgreift, in Anspielung auf Ovids Mythos und zudem als Inschrift auf einem Bild gleich zu Beginn des Romans und mit der Einführung seiner Heldin als solchen zur Schau stellt und, Zollinger zufolge, als zu seinen Gunsten entschieden behauptet. Ähnlich klärt es Philippe Hamon für Flauberts Umgang mit Bildern als Sieg des Textes über das Bild in einem Kampf der modernen Kunst gegen eine Flut reproduzierter Bilder (»Le

11 Perrault, La belle au bois dormant, S. 37 38 (Anm. 4). 12 MB, S. 163. Edi Zollinger: Arachnes Rache. Flaubert inszeniert einen Wettkampf im narrativen Weben: Madame Bovary, Notre-Dame de Paris und der Arachne-Mythos, Paderborn: Fink, 12007, S. 101−110.

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texte a fini par vaincre l’image«).13 Bei den Intertexten, die Flauberts Madame Bovary gerade zu überschwemmen, geht es folglich um einen Wettbewerb im Erzählen, der auf zwei nun ununterscheidbar gewordenen Feldern ausgetragen wird: um eine aemulatio im Umgang mit Bildern und im Umgang mit Texten durch und im Text. Im Arachnemythos ist ein solches intermediales Verfahren als Bilderweben zum Sujet geworden. Bevor ich im letzten Kapitel noch genau auf das textile Erzählen Flauberts eingehen werde, folge ich nun zunächst der Chronologie jener Schauplätze, an denen der Text die Heldin unter Rückgriff auf zahlreiche »alte Gewebe« (Ovid) in Bildern inszeniert: les Bertaux, Tostes, das Kloster und schließlich Yonville im zweiten Teil des Romans, wo Emma Bovary mit ihren Männergeschichten ein ums andre Mal die im ersten Teil bereits als solche erzählte(n) Mariengeschichte(n) von vorne wiederholt: Als ewiger Garten präsentiert sich der Schauplatz Yonville und mit ihm ein breitgefächertes Raummodell, dessen Analyse im nächsten Kapitel erfolgt, bei dem es nicht mehr zentral um die Thematik der textilen Handarbeit, sondern vielmehr um ein Paradigma des erzählten Raums gehen soll und den, der Logik von Flauberts Text folgend, meine nun unternommenen Lektüren vorbereiten. Aufgrund der ironisierenden Vielschichtigkeit des Flaubert’schen Hortus conclusus werde ich nicht darum herum kommen, für meine Argumentation wiederholt dieselben Textstellen zu zitieren, querzuverweisen und Vorausblicke zu geben.

M ADAME B OVARY , T EIL I: K LOSTERSCHÜLERIN , J UNGFRAU , B RAUT Alte und neue Geschichten Von Beginn an steht Emma Bovary unter marianischem Zeichen. Bevor die Figur jedoch in einem blauen Kleid zum ersten Mal im Roman auftaucht und als ihre erste Handlung Kissen näht, die zum Schienen des gebrochenen Beines ihres Vaters dienen sollen, zum Ärger dessen ihr Nähnecessaire erst einmal nicht finden kann und sich bei der Handarbeit auch noch mit der Nadel in den Finger sticht, wird sie, wie es die Geschichte von Mariä Verkündigung im Titel trägt, durch einen Boten angekündigt. Dieser bringt Charles, Emmas künftigem Ehe-

13 Philippe Hamon: Imageries, littérature et image au XIXe siècle, Paris: José Corti, 1

2001, S. 305.

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mann, mitten in der Nacht, »vers 11 heures«, einen dringlichen Brief, der in ein Textil eingewickelt ist und ein blaues Siegel trägt (»une lettre enveloppée dans un chiffon […], cachetée d’un petit cachet de cire bleue«). Der in jeglicher Hinsicht als Ereignis inszenierte Brief stammt – ohne dass der Text darüber genaue Auskunft gäbe –, markiert durch ein Textil und die Farbe Blau, ganz offensichtlich von Emmas Hand und bittet den Landarzt, sich »immédiatement« nach les Bertaux zu begeben, wo die junge Frau mit ihrem Vater lebt, dessen gebrochenes Bein er behandeln soll.14 Aufgrund der Dunkelheit macht sich Charles erst drei Stunden später, »au lever de la lune«, auf den recht weiten Weg zu diesem Bauernhof, eine in den Augen der ängstlichen aktuellen Madame Bovary, Héloïse, abenteuerlich gefährliche Reise (Perraults Prinz freut sich bei seinem Aufbruch zu Dornröschen auf »une si belle aventure«).15 Gegen vier Uhr morgens erreicht er, »bien enveloppé dans son manteau«, Emmas Elternhaus,16 das sich ihm als von einer Hecke umschlossenes Gelände mit einem durch Bäume symmetrisch markierten Hof mit einem Tümpel präsentiert und in diesen Versatzstücken stark an den Hortus conclusus von Hohen-Cremmen erinnert, in dem Fontane seine Effi Jahre später inszenieren wird. Eine »barrière«, die mit dieser Hecke in Verbindung steht, artikuliert sich zum einen als Pforte, die Charles in diesen umschlossenen Raum hineinführt und erhält zum andern die Konnotation eines Hindernisses, das den Eintritt erschwert (vor dem Prinzen Dornröschens dagegen, der ja der ›richtige‹ Freier ist und die Prinzessin erweckt, »ces ronces et ces épines s’écartèrent d’elles-mêmes pour le laisser passer«).17 Der Modus von Charles’ Eintritt in dieses, Emmas, Inklusorium erweist sich so spektakulär wie seine Narrenkappe: Er überwindet die nur scheinbar undurchdringliche Hecke dank der Hilfe eines Bauernjungen, der sich vor ihm durch ein Loch in der Hecke zwängt, um die Pforte zu öffnen. Und anstatt sein Pferd in großer Manier steigen zu lassen, rutscht es in Flauberts Version nicht nur aus, sondern macht auf dem Hof vor Schreck einen linkischen Spagat. Die Szene persifliert den großen Auftritt eines freienden Ritters hoch zu Ross, der wie durch Zauberhand eingelassen wird, um eine Prinzessin zu erlösen

14 MB, S. 160. 15 »Madame Bovary jeune redoudait les accidents pour son mari.« MB, S. 160. Perrault, La belle au bois dormant, S. 38 (Anm. 4). 16 MB, S. 160. Alle Verehrer Emmas kommen mit einem solchen umhüllenden Mantel daher, der an den Mantel Marias erinnert, den sie schützend über der Welt ausbreitet. Vgl. das anschließende Kapitel »Verführung im Garten«. 17 Perrault, La belle au bois dormant, S. 39 (Anm. 4).

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– dabei aber nicht an einem Schloss herauskommt, sondern auf einem Bauernhof mit kläffenden Hunden und schnatternden Gänsen.18 On approchait des Bertaux. Le petit gars, se coulant alors par un trou de haie, disparut, puis il revint au bout d’une cour en ouvrir la barrière. Le cheval glissait sur l’herbe mouillée ; Charles se baissait pour passer sous les branches. Les chiens de garde à la niche aboyaient en tirant sur leur chaîne. Quand il entra dans les Bertaux, son cheval eut peur et fit un grand écart. C’était une ferme de bonne apparence. […] La cour allait en montant, plantée d’arbres symétriquement espacés, et le bruit gai d’un troupeau d’oies retentissait près de la mare.19

Das Loch in der Hecke, das es dem Bengel möglich macht, von innen die Pforte zu öffnen, nimmt vorweg, was sich bei Charles’ späterer Verlobung mit Emma abspielen wird: An seiner statt tritt Emmas Vater in Aktion, wenn er für Charles um ihre Hand anhalten wird und als Zeichen für ihre Zustimmung die Fensterläden aufreißt, während Charles draußen vor der Hecke wartet.20 Diese löchrige Hecke bildet ab, wie wenig Bemühungen es braucht, um die zu Tode gelangweilte Emma aus ihrem Heimathaus ›herauszuheiraten‹, die ihren Bräutigam in spe mit ihrem Brief ja gleich selbst und »immédiatement« in ihr Inklusorium befohlen hatte: Sie antizipiert bereits den löchrigen Gartenvorhang in der berühmten mondbeschienenen Szene mit Emmas späterem Verehrer Rodolphe im zweiten Teil des Romans.21 Selbst der Vater ist, noch bevor Charles sein Heiratsanliegen überhaupt äußert, erleichtert, dass er die Tochter, die ohnehin nicht zur Landwirtschaft taugt (kein Wunder, denn als »métier maudit du ciel« würde dies ohnehin nicht zu ›Marie‹ Bovary passen), aus dem Hause hat.22 Er verhält sich hierin ganz ähnlich wie später Rodolphe, der bereits vor der Verführung

18 Zu Dornröschen in Madame Bovary sh. weiterhin Dacia Mariani: Searching for Emma. Gustave Flaubert and Madame Bovary, Chicago: Chicago University Press, 1

1998, S. 6.

19 MB, S. 161. 20 MB, S. 171. 21 »La lune, toute ronde et couleur de pourpre, se levait à ras de terre, au fond de la prairie. Elle montait vite entre les branches des peupliers, qui la cachaient de place en place, comme un rideau noir, troué.« MB, S. 325. 22 »Le père Rouault n’eût pas été fâché que l’on le débarrassât de sa fille, qui ne lui servait guère dans sa maison. Il l’excusait intérieurement, trouvant qu’elle avait trop d’esprit pour la culture, métier maudit du ciel, puisqu’on n’y voyait jamais de millionnaire.« MB, S. 170.

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seiner »Madonna«23 schon wieder überlegt, wie er sie danach wohl wieder loswerden kann.24 Emmas erster Auftritt im Roman ist, im Gegensatz zu dem lächerlichen Erscheinen ihres künftigen Ehemanns auf dem Hof, ein wahrhaft großer. Unter seinem Blick tritt sie auf als élégante im schicken Kleid, das so gar nicht zur bäuerlichen Szenerie und dem verfehltem Ritter Charles passen will. Une jeune femme, en robe de mérinos bleu garnie de trois volants, vint sur le seuil de la maison pour recevoir M. Bovary […].25

Dieses Merinokleid wurde in der Forschung viel diskutiert; die einen erkennen darin ein Luxusgut als Mode en vogue,26 wieder andere sehen in den drei Volants sogar einen Bezug zur Trinität der Madonna, wie sie mittelalterliche Holzstatuen darstellen, oder behaupten, es sei ein ähnliches Kleid, wie es Louise Colet bei ihrer und Flauberts erster Begegnung getragen habe.27 Wie man es auch interpretieren möchte, markiert dieses Kleid jedoch in seiner Auffälligkeit eindeutig Emmas ersten Ort: die Schwelle, auf der die Figur in den Roman eingeführt wird und die sie fortan leitmotivisch begleitet. Bis zu ihrer Hochzeit mit Charles wird Emma die Schwelle des Bauernhauses nicht übertreten, mit der der Text zugleich ein eigenartig sakralisiertes Interieur in Szene setzt, in dem die Heldin gefangen ist, die Küche des Bauernhofes nämlich, die in einer auffälligen Lichtregie erleuchtet ist wie eine Kirche und deren Mauern von den das Licht noch einmal spiegelnden Oberflächen der blank polierten Küchenutensilien markiert sind.28

23 Rodolphe adressiert Emma als »madone sur un piédestal«. MB, S. 291. 24 Emma, so überlegt Rodolphe, wäre ja wirklich ganz reizend als neue Mätresse, »mais comment s’en débarrasser ensuite ?« MB, S. 265. 25 MB, S. 161. 26 Liana Nissim: »Les vêtements d’Emma: sexe ambigu ou frénésie des modes?«, in: Frédéric

Monneyron

(Hrsg.):

Vêtement

et

littérature,

Perpignan:

Presses

1

Universitaires de Perpignan, 2001, S. 193–212. Hier: S. 202 204. 27 Wie es Rogers in seiner Analyse zum marianischen Diskurs bei Flaubert zusammenstellt. Peter Séraphin Rogers: The mystery play in Madame Bovary. Moeurs de province, Amsterdam: Rodopi, 12009 (Chiasma, 26), S.32. 28 Der Spiegel ist ein Mariensymbol, das auf die Verkündigung referiert, als »Attribut der christlichen Tugenden veritas und prudentia, vorzugsweise aber Sinnbild der Jungfrau Maria und ihrer unbefleckten Empfängnis.« Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik, Regensburg: Joseph Manz, 11854 (2 Bde), Bd. II, »Spiegel«, S. 400.

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Une jeune femme, en robe de mérinos bleu garnie de trois volants, vint sur le seuil de la maison pour recevoir M. Bovary, qu’elle fit entrer dans la cuisine, où flambait un grand feu. Le déjeuner des gens bouillonnait alentour, dans des petits pots de taille inégale. Des vêtements humides séchaient dans l’intérieur de la cheminée. La pelle, les pincettes et le bec du soufflet, tous de proportion colossale, brillaient comme de l’acier poli, tandis que le long des murs s’étendait une abondante batterie de cuisine, où miroitait inégalement la flamme claire du foyer, jointe aux premières lueurs du soleil arrivant par les carreaux.29

Das Motiv der Sonnenstrahlen, die mit dem Wort »carreaux« kombiniert werden und damit sowohl das Fenster als auch die Bodenfliesen bezeichnen, kommen, wie es auch in den späteren Szenen mit Rodolphe und Léon zu sehen sein wird, immer wieder im Roman vor. Sie rufen die göttlichen Strahlen auf, die in den Hortus conclusus-Darstellungen Maria durchs Fenster dringen und wiederholen die für die Darstellungen des marianischen Raumes so typischen Bodenfliesen und Fensterszenen. Emmas erste Tätigkeit im Roman ist daher nicht das Kochen, wie es der Schauplatz der Küche zunächst anzudeuten scheint, die sogleich an die Aufgaben der bürgerlichen Frau denken lässt, Küche – Kinder – Kirche, sondern die Beschäftigung, die der Hortus conclusus inszeniert: textile Handarbeit. Bei diesem Krankenbesuch, der Charles via blau besiegeltem Brief per Expressauftrag zum ersten Mal in Emmas Haus brachte, geht es also sogleich von der Küche in den ersten Stock (»au premier«) und an die Handarbeit. Dort oben findet der wenig talentierte Landarzt Emmas verletzten Vater im Bett und stellt erleichtert fest, dass es sich lediglich um einen einfachen Beinbruch handelt, der gepolstert und geschient werden muss. Charles […] choisit une [latte], la coupa en morceaux et la polit avec un éclat de vitre, tandis que la servante déchirait des draps pour faire des bandes, et que mademoiselle Emma tâchait à coudre des coussinets. Comme elle fut longtemps avant de trouver son étui, son père s’impatienta ; elle ne répondit rien ; mais, tout en cousant, elle se piquait les doigts, qu’elle portait ensuite à sa bouche pour les sucer. Charles fut surpris de la blancheur de ses ongles. Ils étaient brillants, fins du bout, plus nettoyés que les ivoires de Dieppe, et taillés en amande. Sa main pourtant n’était pas belle, point assez pâle peut-être, et un peu sèche aux phalanges ; elle était trop longue aussi, et sans molles inflexions de lignes sur les contours.30

29 MB, S. 161. 30 MB, S. 162.

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Nun scheint diese textile Beschäftigung Emmas wie auch der ihr helfenden Magd zunächst nichts mit Marias Tempeldienst zu tun zu haben. Doch nicht nur das Ereignis des gebrochenen Beines, das im Text ironischer Weise von Beginn an als Teil des Diskurses einer bevorstehenden Vermählung figuriert, legt einen Fokus auf die hier verrichtete textile Handarbeit bei Emmas erster Inszenierung. Die Handarbeit selbst wird als Ereignis zentral, wenn sie ein verzögertes, beinahe verhindertes, erwartetes Ereignis ist, und zwar sowohl mit der Geschichte vom unauffindbaren Nähnecessaire und Emmas nervösen Stichen in die eigenen Finger unter den verärgerten Blicken des wartenden Vaters (man beachte hier den Plural; »elle se piquait les doigts«), als auch mit Charles’ Blick auf ihre Hand: Zwar sind die Fingernägel wie kleine Kunstwerke poliert und gefeilt, doch ist die Hand selbst nicht schön; der Text listet sogleich pingelig eine ganze Reihe an recht eigenartigen Mängeln auf (die Haut nicht blass genug und zu trocken, die Hand außerdem zu lang und ohne weiche Linien). Dies sind nicht die Hände einer Tag ein Tag aus in Küche und Garten arbeitenden Hausfrau, sondern sehr wohl die Hände einer élégante. Nur scheint in Emmas Händen bereits von Beginn an verbildlicht zu sein, was der Text von nun an ausfalten wird. Sie hat keine jener schönen, eleganten Frauenhände, wie man sie bei der Inszenierung der Handarbeit gemäß des klassisch-romantischen Diskurses erwarten würde (von »Lilienfingern« etwa spricht Effis Verführer Major Crampas). Denn nur scheinbar zu Großem geboren, bleibt Emma einem mediokren, bürgerlichen Dasein verhaftet. In einer zweiten Variation des textilen Themas doppelt eine Magd, die Bettlaken für Bandagen zerreißt, die Nadelarbeit des zu freienden Fräuleins Rouault und trägt als Figur von niederem Sozialstatus diese marianische Semantik mit in den Diskurs der Handarbeit ein.31 Einer ähnlichen Figur begegnet die Bovary in Yonville: Catherine Leroux wird während der Comices agricoles für ihre Arbeit geehrt und stellt eine Ancilla ganz gemäß des Dienstmädchendiskurses der Romantik dar. »Ecce ancilla domini!« heißt es in der Verkündigung, die in der katholischen Kirche auch unter dem Begriff Ancilla gefeiert wird. Diese »Magd Gottes« trägt ihre textile Handarbeit im Namen (la roue, das Spinnrad), die zudem in ihren »langen Händen« markiert ist:

31 Der von der Magd Gottes Maria angefertigte Tempelvorhang wird, so erzählt es das Lukasevangelium, bei Jesu für die Menschheit heilsamen Tod im Tempel »mitten entzwei« reißen (»le voile du temple se déchira par le milieu«), Lk 23, 45. Eine solche Magdfigur ist Emma in Yonville mit der Amme Rolet an die Seite gestellt.

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[D]es manches de sa camisole rouge dépassaient deux longues mains, à articulations noueuses. […] à force d’avoir servi, elles restaient entrouvertes, comme pour présenter d’elles mêmes l’humble témoignage de tant de souffrances subies. Quelque chose d’une rigidité monacale relevait l’expression de sa figure.32

Die öffnende Geste der Hände, die aus roten Ärmeln hervorkommen und die in den Gelenkknoten die Konnotation der Fäden aufnehmen, die Catherine Leroux spinnt, stellt ihr Dasein als Magd aus; das Kloster selbst spiegelt sich als »rigidité monacale« in ihrem Gesicht. Auch Effis Hände, die Nadel und Faden halten, sind markiert: Wenn sie ihre textile Handarbeit niederlegt, um sich in »Heil- und Zimmergymnastik« zu üben, legt sie die Hände in einer großen, orientalisch anmutenden Geste des Gebets zusammen und zieht darin die Blicke der Mutter auf sich, die ihrerseits nun ihre Handarbeit ruhen lässt: […] wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflächen hoch über dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit auf […].33

Dieses Ausstellen der Hände der textil beschäftigten Handarbeiterinnen erweist sich als literarischer Topos; auch Marie Arnoux’ stickende Hände werden durch ein Schlaglicht in Szene gesetzt,34 ebenso die Hände der Stickerin Virginie aus Bernard de Saint-Pierres Roman Paul et Virginie, wie im anschließenden Kapitel zu sehen sein wird. Dornröschen Die bei Emmas erstem Auftritt zunächst als nützlich und zielführend inszenierte Handarbeit, die nicht nur ordnenden, sondern geradezu heilenden Charakter hat, wenn mit ihr ein gebrochenes Bein behandelt wird, erweist sich jedoch als eine Handarbeit voller Pannen. Emma verletzt sich beim Nähen sogar, und zwar mehrmals. Flaubert ironisiert hier einen romantischen Diskurs, der aus dem Volksglauben der nähenden Berufsstände, den couturiers, stammt und erzählt, dass »se piquer jusqu’au sang est signe que l’on trouvera un mari«.35 Genau so interpretiert es auch fröhlich Frau Dörr in Irrungen Wirrungen, wenn sie sich

32 MB, S. 283. 33 EB, S. 4. 34 »[…] cette finesse des doigts que la lumière traversait«. ES, S. 23. 35 Zitiert nach Rogers, The mystery play in Madame Bovary), S. 34 (Anm. 27).

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freut, als Lene sich den Finger verletzt,36 und für Dornröschen erweist sich dieser Volksglaube ebenfalls als wahr: Wenn auch ihr Prinz erst hundert Jahre später auftaucht, um sie zu heiraten, so ist er doch der einzige, der sie nach ihrem Stich in die Hand erlösen kann. Die neckische Vorhersagung der Näher erlangt bei ihr den dramatischen Modus eines bösen Spruches, den nur ein Königssohn zum Guten wenden kann. Le rang de la vieille Fée étant venu, elle dit, en branlant la tête encore plus de dépit que de vieillesse, que la Princesse se percerait la main d’un fuseau, et qu’elle en mourrait. Ce terrible don fit frémir toute la compagnie, et il n’y eut personne qui ne pleurât. Dans ce moment la jeune Fée sortit de derrière la tapisserie, et dit tout haut ces paroles: »Rassurezvous, Roi et Reine, votre fille n’en mourra pas; il est vrai que je n’ai pas assez de puissance pour défaire entièrement ce que mon ancienne a fait. La Princesse se percera la main d’un fuseau ; mais au lieu d’en mourir elle tombera seulement dans un profond sommeil qui durera cent ans, au bout desquels le fils d’un Roi viendra la réveiller.«37

Die beiden Feen, die Junge und »l’ancienne«, stehen hier zugleich für das Erzählen von alten und neuen Geschichten. Die junge Fee tritt nicht zufällig hinter einem Teppich, einem alten Gewebe eben, hervor; sie vermag die alte Geschichte, die sie, hinter diesem Gewebe versteckt, hörte, neu und anders zu erzählen und günstig zu verändern. So erscheint auch das uralte Metier der Spinnerinnen der jugendlichen Prinzessin nun neu und aufregend. Da Spinnräder zu ihrem Schutz ja verboten waren, hatte Dornröschen nie eines zu Gesicht bekommen. Nun sticht sie sich aus Neugierde im Turmzimmer eines alten Mütterchens, das vom offiziellen Spinnradverbot nichts wusste. Perrault erzählt diese fatale Szene recht witzig; in Emmas Geschichte wird dies spinnende Mütterchen als Amme Rolet auftauchen, die das Spinnrad, le rouet, wie das Mädchen Emma Rouault, im Namen trägt und bei der sie als ruinierte Frau kurz vor ihrem Selbstmord Trost sucht und zusammenbricht. Auch

36 »Frau Dörr war entzückt, als es einen Knall gab, und noch mehr, als Lenes Zeigefinger blutete. ›Das tut nich weh, Lene, das kenn ich; das is, wie wenn sich ’ne Braut in’n Finger sticht. Ich kannte mal eine, die war so versessen drauf, die stach sich immerzu un lutschte und lutschte, wie wenn es wunder was wäre.‹« Irrungen Wirrungen, S. 22 23. Womöglich handelt es sich hier aus dem Munde Frau Dörrs um Fontanes Hinweis auf Madame Bovary. 37 Perrault, La belle au bois dormant, S. 33 (Anm. 4).

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Dornröschen, wie Maria, s’accomplissaient«:38

»avait

seize

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mystères

Au bout de quinze ou seize ans, le Roi et la Reine étant allés à une de leurs Maisons de plaisance, il arriva que la jeune Princesse courant un jour dans le Château, et montant de chambre en chambre, alla jusqu’au haut d’un donjon dans un petit galetas, où une bonne Vieille était seule à filer sa quenouille. Cette bonne femme n’avait point ouï parler des défenses que le Roi avait faites de filer au fuseau. »Que faites-vous là, ma bonne femme ? dit la Princesse. − Je file, ma belle enfant, lui répondit la vieille qui ne la connaissait pas. − Ah ! que cela est joli, reprit la Princesse, comment faites-vous ? donnez-moi que je voie si j’en ferais bien autant.« Elle n’eut pas plus tôt pris le fuseau, que comme elle était fort vive, un peu étourdie, et que d’ailleurs l’Arrêt des Fées l’ordonnait ainsi, elle s’en perça la main, et tomba évanouie. La bonne Vieille, bien embarrassée, crie au secours: on vient de tous côtés, on jette de l’eau au visage de la Princesse, on la délace, on lui frappe dans les mains, on lui frotte les tempes avec de l’eau de la reine de Hongrie, mais rien ne la faisait revenir.39

An späterer Stelle in seinem Roman variiert Flaubert diese Dornröschenszene, die von der Einlösung eines bösen Fluches erzählt, zur Untermauerung des finanziellen und seelischen Ruins der Bovary im Thema der textilen Handarbeit: »Mère Rolet«, dit-elle [Emma] en arrivant chez la nourrice, »j’étouffe!... délacez-moi.« Elle tomba sur le lit; elle sanglotait. La mère Rolet la couvrit d’un jupon et resta debout près d’elle. Puis, comme elle ne répondait pas, la bonne femme s’éloigna, prit son rouet et se mit à filer du lin.40

Emma Rouault ist eine couturière im Zeichen der nähenden Berufsstände: Die Vorhersagung von einer Eheschließung wird sich für sie sogar augenblicklich erfüllen, als sie sich in den Finger sticht; der zukünftige Ehemann sitzt dabei nämlich bereits vor ihren Augen am Bett des Vaters. Die Ironie von Flauberts Text verwandelt den romantischen Stich in den Finger in ein beständiges SichStechen, so als würde Emma ganz sicher gehen wollen: »[T]out en cousant« sticht sie sich nicht nur in einen, sondern in sämtliche Finger einer mangelhaften Hand, das in ein unschuldig-laszives Fingerlutschen unter Charles’ begehrenden Blicken mündet. Doch Emma muss wie Dornröschen wohl hundert Jahre bis zu

38 PJ, Voltaire X−XII, S. 437. 39 Perrault, La belle au bois dormant, S. 33 44 (Anm. 4). 40 MB, S. 420. Meine Hervorhebung.

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ihrer Erlösung durch einen Prinzen warten – zu ihren Lebtagen erfüllt sich nichts. Wenn übrigens Emma Rouault, zukünftige Madame Bovary, ihr Metier mit dem Spinnrad, le rouet, sogar in ihrem Mädchennamen trägt, tat es die Ehebrecherin, deren Geschichte Flaubert als fait divers für seine Figur inspiriert hat (und die, ähnlich wie die Geschichte der Elisabeth von Ardenne, die Fontane aufgegriffen hat, einen Skandal in der Gesellschaft ausgelöst hatte) ebenso; noch heute ist auf ihrem Grabstein in Ry zu lesen: »Delphine Delamare, née Couturier, Madame Bovary (18221848)«.41 Nachdem Père Rouault, Emmas Vater, verarztet ist, lädt dieser Charles ein, noch zum Essen zu bleiben. Im Wohnzimmer entwickelt sich ein Gespräch zwischen Charles und Emma, in dessen Verlauf durch Charles’ Augen die Beschreibung des von einer Minerva-Zeichnung markierten Raumes gegeben wird und daraufhin eine Beschreibung von Emma selbst. Diese hebt zunächst auf ihre coiffure als neueste Mode ab,42 um die Szene in einer versehentlichen Berührung zwischen Emma und Charles in dem Moment zu erotisieren, in dem der Text die Heldin als – begehrlich berührte – Marienfigur semantisiert. Eine Anspielung auf die verkitschten Marienbilder des 19. Jahrhunderts stellt in diesem Zuge Charles’ auf die lange Beschreibung von Emmas Frisur folgende Beobachtung als eigenartig isoliertem Satz dar  »Ses pommettes étaient roses.«  sowie Emmas Pose, wenn sie mit der Stirn ihr Inklusorium markiert und in den Garten hinaus blickt: »[L]e front contre la fenêtre, [Emma] regardait dans le jardin«. Sodann bückt sich die junge Frau, um Charles’ Reitpeitsche zu suchen; der Arzt »sentit effleurer le dos de la jeune fille, courbée sous lui«; Emma, verlegen, »se redressa toute rouge«.43 In ihren roten Wangen und im sexuell konnotierten Erröten nimmt Emma die Jungfrauenstatue von Yonville vorweg, die, wie sie, im Satinkleid in der Kirche

41 Association Guillaume-Budé, section d’Orléans: »Plaque à la mémoire de Delphine Couturier près de l’église«, in: »Fiches de Géographie littéraire: Gustave Flaubert à Ry«, 2001. Zum fait divers bei Flaubert vgl. Mario Vargas Llosa: L’orgie perpétuelle. Flaubert et Madame Bovary, übers. v. Albert Bensoussan, Paris: Gallimard, 11978, und bei Fontane: Edda Ziegler/Gotthard Erler: Theodor Fontane – Lebensraum und Phantasiewelt. Eine Biographie, Berlin: Aufbau, 12002, S. 249 251. 42 Vgl. hierzu Nissim, »Les vêtements d’Emma«, S. 203 (Anm. 26): »[…] la coiffure d’Emma, lisse et basse, reproduit parfaitement le goût de la nouvelle mode, […] mode romantique«. 43 MB, S. 163.

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zu finden ist44 und den marianischen Purpur auf den Wangen trägt, »une statuette de la Vierge, vêtue d’une robe de satin […] et tout empourprée aux pommettes comme une idole des îles Sandwich«.45 Flauberts Manuskript unterstreicht die Szene in les Bertaux als Erotisierung der marianischen Figur Emma Rouault mit der erneut eindrücklich sexuell konnotierten Berührung des blauen Mérinokleides, das sie in dieser ihrer ersten Vorstellung trägt, durch den Verehrer Charles: »[T]el qu’un frisson qui vous revient, il éprouvait encore [zurück zuhause in Tostes] la sensation [de] cette robe où ses genoux s’étaient enfoncés«.46 Auch Dornröschen hat diese marianischen roten Wangen (»ses joues étaient incarnates«);47 Perrault erzählt die erste Begegnung mit ihrem Verehrer, die eine Verkündigung einlöst (wenn auch durch keinen Engel, sondern eine Fee), in ganz offensichtlicher Anlehnung an die Marienverehrung: Il [le prince] entra dans une grande avant-cour où tout ce qu’il vit d’abord était capable de le glacer de crainte : c’était un silence affreux, l’image de la mort s’y présentait partout, et ce n’était que des corps étendus d’hommes et d’animaux, qui paraissaient morts. Il reconnut pourtant bien au nez bourgeonné et à la face vermeille des Suisses, qu’ils n’étaient qu’endormis, et leurs tasses où il y avait encore quelques gouttes de vin montraient assez qu’ils s’étaient endormis en buvant. Il passe une grande cour pavée de marbre, il monte l’escalier […], il entre dans une chambre toute dorée, et il vit sur un lit, dont les rideaux étaient ouverts de tous côtés, le plus beau spectacle qu’il eût jamais vu : une Princesse qui paraissait avoir quinze ou seize ans, et dont l’éclat resplendissant avait quelque chose de lumineux et de divin. Il s’approcha en tremblant et en admirant, et se mit à genoux auprès d’elle.48

Es sei an die Parallelen bei Flaubert erinnert: Héloïses Angst um Charles, sein ängstliches Pferd, den symmetrischen Hof von les Bertaux, die Fliesen des Küchenbodens, Charles’ Aufstieg über die Treppe in den ersten Stock, das goldene, sakrale Licht in Emmas Küche und die Geste der Marienverehrung durch Charles’ Blick.

44 Héloïse Bovary kritisiert später im Text Emmas Vorliebe »de se montrer le dimanche à l’église avec une robe de soie, comme une comtesse.« MB, S. 165. 45 MB, S. 211 212. 46 Définitif autographe, folio 33/Séquence 33: I: De l’enfance au départ de Tostes. 47 Perrault, La belle au bois dormant, S. 36 (Anm. 4). 48 Ebd., S. 39. Meine Hervorhebung.

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Minerva und Arachne Neben dem romantischen, märchenhaften und marianischen Diskurs ist diesen Anfangsszenen auf les Bertaux, die Emma als Jungfrau und Braut darstellen und sie auf der Schwelle, im ersten Stock und am Fenster stehend, auf den Garten blickend zeigen, eine weitere Figurensemantik über den Topos der textilen Handarbeit mit eingetragen: Der Beschreibung des Kopfes der Heldin (Hals, Haare, Ohrläppchen, Wangen) durch Charles’ Blick ist eine wiederum durch seinen Blick gegebene Beschreibung einer Zeichnung unmittelbar vorangestellt, die von Emmas eigener Hand stammt: der Kopf einer Minerva. Als Bild markiert diese Zeichnung nicht nur den Raum der Heldin, sondern antizipiert das Bild von ihr selbst, das sich daraufhin im Text durch die Blickgeste der männlichen Figur erhebt. Nachdem sich Charles von seinem Patienten verabschiedet hatte, war er vom ersten Stock ins Wohnzimmer im Erdgeschoss hinunter gestiegen. Bevor er sich nun dort mit Emma unterhält, um sodann ihren Kopf zu betrachten, wird durch seine Augen das Zimmer beschrieben, wo der Minervakopf als Wandschmuck hängt. Il y avait, pour décorer l’appartement, accrochée à un clou, au milieu du mur dont la peinture verte s’écaillait sous le salpêtre, une tête de Minerve au crayon noir, encadrée de dorure, et qui portait au bas, écrit en lettres gothiques: »À MON CHER PAPA«.49

Mit der Zeichnung der Minerva, die die Wände von Emmas Wohnraum markiert, wird die Heldin wie auch ihr Raum also im Zeichen eines Bildes in den Roman eingeführt. Die Beschreibung dieses Wohnraumes vereint bereits die wichtigsten, für ihre Inszenierung im Folgenden signifikanten Versatzstücke: Die Wand, deren Anstrich »bröckelt«, ist nicht zufällig grün gestrichen, sondern verweist bereits auf das im Laufe des Romans ausgefaltete Gartenmotiv, das die Protagonistin als der ironisierte, geschlossene Raum ihres »éternel jardin« begleitet. Die goldene Rahmung der Darstellung deutet auf die ikonographischen Vorlagen hin, mit denen der Text bei der Inszenierung weiblicher Inklusion im Medium der Handarbeit arbeiten wird, die ihrerseits in der Geschichte von Minerva und Arachne als eine zentrale Komponente bei der Ausformulierung der Heldin affichiert ist. Die doppelte, grüne und sodann goldene Rahmung des gezeichneten Minervakopfes spielt auf die antike Geschichte eines Wettbewerbes an, der

49 MB, S. 162 163.

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zwischen der Göttin Minerva und dem Menschenmädchen Arachne ausgetragen wird und bei dem Bildergeschichten in einem Kriegsdiskurs (Minerva) und einem erotischen Diskurs (Arachne) als Gewebe entstehen, die ihrerseits von beiden Weberinnen mit Gartenmotiven umrahmt werden. Der Wettbewerb in textiler Handarbeit ist jedoch ein Wettbewerb im Erzählen von Bildergeschichten, den Arachne gewinnt, weil sie viel schöner und detailreicher darzustellen vermag als die Göttin. Sie wird daraufhin als Strafe von dieser in eine Spinne verwandelt, die mithilfe ihrer jetzt verkümmerten Hände als Ersatz für die Spinnenbeine den zu verwendenden Faden fortan für immer aus sich selbst ziehen muss.50 Die Widmung von Emmas Zeichnung an ihren Vater erschließt sich aus dem frühen Tod seiner Frau, Emmas Mutter:51 Arachne, so erzählt es Ovid, ist eine Halbwaise (»Schon gestorben die Mutter«)52 wie Emma, die aufgrund dessen im Kloster aufwachsen und die Erziehung höherer Töchter genießen darf und darin in ihrer Konzeption nicht nur auf den Ovid’schen Mythos, sondern auch auf den Mariendiskurs anspielt. Auch in Marias Geschichte gibt es keine Mutter mehr, sondern lediglich einen Schutzherrn, Josef, bei dem die Tempeljungfrau aus gesellschaftlichen Gründen nicht alleine bleiben darf und dafür textil beschäftigt wird. Alle drei weiblichen Figuren, die in dieser Textstelle, die ein Bild, eine Zeichnung zum primären Gegenstand hat, bereits initial zusammengedacht werden – Emma, Maria und Arachne – zeichnen sich durch ihre niedere Geburt aus,53 die sie (scheinbar in Emmas Fall) zu Höherem berufen: Maria erlöst mit ihrer ›Ehe‹ gleich die ganze Menschheit, wenn sie den Gottessohn auf die Welt bringt, Arachne besiegt mit ihrer Erzählkunst als textiler Kunst die Schutzgöttin der Handwerkskunst und der Dichter, Minerva/Pallas (Arachne »war nicht berühmt durch Stand oder Abkunft, sondern allein durch die Kunst«).54 Signifikant, dass Emma gerade nicht Arachne, sondern die göttliche Gegenspielerin porträtiert, die mit ihren Kriegsgeschichten am Ende gegen die erotischen Geschichten Arachnes verliert, jedoch die Macht hat, diese dafür zu bestrafen. Emma schlägt sich auf die Seite der mächtigen Gottheit, unter deren

50 Zu einer ausführliche Analyse des Arachne-Mythos in Madame Bovary s. h. Zollinger, Arachnes Rache (Anm. 12). 51 Bei der Einführung der Figur Père Rouault heißt es: »Sa femme était morte depuis deux ans. Il n’avait avec lui que sa demoiselle, qui l’aidait à tenir la maison.« MB, S. 161. 52 »occiderat mater«, OA, VI, 10. 53 »quamvis orta domo parvis habitabat Hypaepis«. Ebd., 13. 54 »non illa loco nec origine gentis clara, sed arte fuit«. Ebd., 8.

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Zeichen sie in Flauberts Text eingeführt wird und ist doch gleichzeitig eine doppelte, mutterlose Arachne niederer Geburt, die mit ihrer Bilderpraktik am Ende verliert: »[D]as schreckliche Gift« der Minerva verwandelt Arachne in eine Spinne, die »die alten Gewebe ausführt« (»antiquas exercet aranea telas«);55 Emmas Selbstvergiftung ist die Selbstbestrafung für ein solches Vergehen, nämlich immerfort solche alten Gewebe (»antiquas […] telas«) auszuführen, also sich beständig jene gebrauchten, bereits dagewesenen, alten Geschichten zu erzählen, die sich für sie nicht erfüllen. Nun handelt es sich bei den Bildergeschichten, die Arachne und Minerva in kunstvoller, textiler Handarbeit, in der textilen Geste des Webens, erzählen, um alte »Argumente«, die sich als Bilder »erheben« (»et vetus in tela deducitur argumentum«).56 Sie erzählen mit ihrer textilen Handarbeit Mythen als Bildergeschichten nach und umrahmen diese mit schmückenden Gartenelementen, Minerva mit den Zweigen des Ölbaumes, Arachne mit Blumen und Efeuranken.57 Auch Emma Bovary wird ein solches Textil im Zeichen des Eros und im Zeichen Marias herstellen, und zwar für ihren Verehrer Léon »un tapis de velours et de laine avec des feuillages sur fond pâle«.58 Nicht webender, sondern stickender Weise »malt sie mit der Nadel« wie Arachne (»pingebat acu«; acupictura; lat. Stickerei, »Nadelbild«).59 Auf der Schwelle Bevor es dazu im zweiten Teil des Romans kommt, faltet der erste Teil zunächst die Marienthematik weiter aus und zielt nun verstärkt auf eine Raumsemantik ab, die mit dem Schauplatz les Bertaux im Motiv der Schwelle sehr deutlich wird. Diese Schwelle als Emmas Ort stellt sich in einem »toujours« von Beginn als Dauerzustand dar, wenn ihr erster Auftritt sie als »sur le seuil« in Szene setzt und ein sie so auffällig ankündigender Bote die Aufmerksamkeit auf ihre beschränkte Möglichkeit lenkt, sich im Raum zu bewegen. Als sich Charles’ Besuche auf les Bertaux häufen, wird Emma stets und wie zur Statue erstarrt – ohne zu reden, nur die im Wind flatternden Haare und Schürzenbänder in Bewe-

55 Ebd., 140−145. 56 Ebd., 69. 57 Ebd., 102, 128. 58 MB, S. 237. 59 OA, VI, 23. Hierzu ausführlich im letzten Kapitel zum Textilen Erzählen.

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gung60 auf der Schwelle stehen bleiben und sie nicht übertreten. Diese Schwelle findet in der zweiten entscheidenden, die Figur einführenden Textpassage gleich doppelt Erwähnung und fungiert wie die den Bauernhof umschließende Hecke als Hindernis, das Emma nicht überschreiten kann und das sie ganz offensichtlich im Haus gefangen hält. Im Schweigen der Figuren friert die Szene ein zu einem Bild: Elle le [Charles] reconduisait toujours jusqu’à la première marche du perron. Lorsqu’on n’avait pas encore amené son cheval, elle restait là. On s’était dit adieu, on ne parlait plus ; le grand air l’entourait, levant pêle-mêle les petits cheveux follets de sa nuque, ou secouant sur sa hanche les cordons de son tablier, qui se tortillaient comme des banderoles. Une fois, par un temps de dégel, l’écorce des arbres suintait dans la cour, la neige sur les couvertures des bâtiments se fondait. Elle était sur le seuil ; elle alla chercher son ombrelle, elle l’ouvrit.61

Emmas ›Gefängnis‹ hatte Charles bei seinem ersten Eintreten als »foyer« wahrgenommen, die Küche war von einem »grand feu« dominiert und von den ersten Strahlen der Morgensonne »arrivant par les carreaux« recht theatralisch illuminiert.62 Bei diesen erneuten Besuchen – jetzt als Witwer – erscheint ihm Emmas Inklusorium auf sehr ähnliche Weise. Emma wird nun bei der Handarbeit in jenem sakral erhöhten, geschlossenen Raum gezeigt, der in der Anfangsszene noch nicht Ort dieser Handarbeit war, die im ersten Stock und im salle als Anspielung auf den Arachnemythos stattgefunden hatte. Die den Raum beschreibenden Versatzstücke sind wieder dieselben und figurieren als sommerliche Hitze,63 geschlossene Fensterläden und Sonnenstrahlen auf den Fliesen. Il [Charles] arriva un jour vers trois heures ; tout le monde était aux champs ; il entra dans la cuisine, mais n’aperçut point d’abord Emma ; les auvents étaient fermés. Par les fentes du bois, le soleil allongeait sur les pavés de grandes raies minces, qui se brisaient à l’angle des meubles et tremblaient au plafond. Des mouches, sur la table, montaient le long des verres qui avaient servi, et bourdonnaient en se noyant au fond, dans le cidre

60 Ähnlich erstarrt wird sich auch Marie Arnoux in ihrer Einführung als »apparition« in der Éducation sentimentale präsentieren. 61 MB, S. 164. Meine Hervorhebung. 62 MB, S. 161. 63 Vgl. zu dieser Textstelle und zum Motiv der Hitze: Jean Starobinski: »L’échelle des températures. Lecture du corps dans Madame Bovary«, in: Raymonde Debray-Genette (Hrsg.): Travail de Flaubert, Paris: Seuil, 11983, S. 45–78.

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resté. Le jour qui descendait par la cheminée, veloutant la suie de la plaque, bleuissait un peu les cendres froides. Entre la fenêtre et le foyer, Emma cousait ; elle n’avait point de fichu, on voyait sur ses épaules nues de petites gouttes de sueur.64

Gegen drei Uhr nachmittags tritt Charles in Emmas einer Kirche gleichende Inklusorium. Eigentümlicher Weise organisiert sich die Anbahnung der Vermählung von Emma und Charles grundsätzlich nach Kirchenstunden: Emmas erster Brief aus les Bertaux erreicht ihn »vers 11 heures«;65 am Tag der Verlobung wird er um neun Uhr auf dem Bauerhof eintreffen.66 Freitags läuten die Glocken in Erinnerung an Jesu Passion (Karfreitag) um 9 Uhr, 11 Uhr und um 15 Uhr. Die in Flauberts Text so genau erwähnten Urzeiten von Charles’ Eintreffen mögen erneut an das Heilsversprechen erinnern, das mit der Geschichte von Mariä Verkündigung erzählt wird, und zwar nicht als Angelus-, sondern als Freitagsgeläut, als eingelöstes Heilsversprechen also, für das das Heilsgeschehen am Karfreitag steht.67 Zunächst figuriert Emma unter dem männlichen Blick als eine Erscheinung. Charles sieht sie zuerst gar nicht, die Fensterläden sind geschlossen, wie in einer Kirche dringen die in ihren Brechungen genau beschriebenen »samtigen« Lichtstrahlen ins Halbdunkel des Zimmers. Erst dann wird Charles Emma gewahr. Sie befindet sich erneut am Fenster, sitzend diesmal und mit einer Handarbeit beschäftigt: Der Text präsentiert Emma durch Charles Blick als erotisiertes Marienbild. Sie ist alleine, alle anderen sind auf dem Feld; in der Hitze verhüllen nun keine marianischen, wallenden Stoffe ihren Körper, der durch das fehlende Brusttuch und die Schweißperlen auf ihren nackten Schultern zu einem erotischen Körper geworden ist. Die berühmte Curaçao-Szene, die nun kommt, inszeniert Emmas Nähen auf ähnliche Weise wie Effis. Die Unterbrechung der Handarbeit wird, wie bei Effis ins Lächerliche gezogener Gymnastik, auch hier ausgestellt. Emmas laszives Auslecken des Likörglases mit geschürzten Lippen ahmt einen Kuss nach, bei dem sie, wie sie behauptet, »nichts spürt«. Danach setzt sie sich (wie Maria nach der Verkündigung durch den Engel) im wahrsten Sinne des Wortes ungerührt wieder auf ihren Stuhl und setzt die Handarbeit fort.

64 MB, S. 168. Meine Hervorhebung. 65 MB, S. 159. 66 MB, S. 171. 67 Madame Bovary wird das Angelus-Läuten im Roman mehrmals hören. MB, S. 246 247.

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Selon la mode de la campagne, elle lui proposa de boire quelque chose. [..] Comme il [le verre] était presque vide, elle se renversait pour boire ; et, la tête en arrière, les lèvres avancées, le cou tendu, elle riait de ne rien sentir, tandis que le bout de sa langue, passant entre ses dents fines, léchait à petits coups le fond du verre. Elle se rassit et elle reprit son ouvrage, qui était un bas de coton blanc où elle faisait des reprises ; elle travaillait le front baissé ; elle ne parlait pas, Charles non plus. L’air, passant par le dessous de la porte, poussait un peu de poussière sur les dalles […].68

»Elle se rassit et elle reprit son ouvrage« mutet an wie ein direktes Zitat aus dem Marienleben, wo es beim Besuch des Engels hieß: »[A]yant pris la pourpre, elle s’assit sur sa chaise pour travailler«.69 Doch während die heilige Jungfrau wertvollen Purpur verarbeitet, flickt Emma schnöde, löchrige Strümpfe. Diesem ironischen Kurzschluss Flauberts folgend, ist es im Roman auch unerheblich, ob Emma nun stopft oder stickt, wie auch Charles seine zukünftige Frau immer nur »nähen« zu sehen glaubt, selbst wenn sie stickt.70 Die Allusion auf Nadel und Faden in den Händen der Figur steht metonymisch wie symbolisch für eine textile Handarbeit, welche an den marianischen Diskurs und damit an eine Raumkonzeption anspielt, die sich als im Laufe der histoire vielfältig herausmodellierte Geschlossenheit zunächst in den Gartenmotiven sowie dem Motiv der Schwelle ankündigt, zu dem die Fensterszenen dazugehören. Dornenwald und Rosenlaube In Verbindung mit diesem Raummodell setzt Flauberts Text nun dem Motiv der stechenden Nadel das der stacheligen Pflanzen entgegen und verfolgt damit die Umsetzung einer weiteren zu einem Gemeinplatz gewordenen Marienvorlage: Die Rosenhecke und die Lilie unter den Dornen, die stechen und grundsätzlich für das Martyrium stehen,71 sind durch die Interpretation des Hoheliedes ein Sinnbild für Maria geworden, wie es in der Marienverehrung als Maria durch

68 MB, S. 168. 69 PJ, Voltaire X, S. 436. 70 In der Anfangszeit in Yonville vertreibt sich Charles die Zeit damit, seiner Frau beim Nähen zuzuschauen (»Charles […] regardait coudre sa femme«, MB, S. 226). Ihre textile Beschäftigung ist in dieser Zeit jedoch nicht das Nähen, denn die schwangere Emma weigert sich, ihre Babysachen selbst anzufertigen und bestellt diese bei einer Näherin (MB, S. 227). Sie arbeitet hier unter Charles’ Augen vielmehr bereits an dem tapis für Léon: Sie stickt. 71 Menzel, Christliche Symbolik, Bd. I, »Dornen«, S. 209 (28).

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den Dornwald ging (Marie allait par la forêt) gesungen wird und wie es eines der berühmtesten Gemälde des Mittelalters darstellt, Stefan Lochners Hortus conclusus-Interpretation Die Muttergottes in der Rosenlaube (um 1450).

Abbildung 6: Stefan Lochner: Die Muttergottes in der Rosenlaube [Madonna im Rosenhag], Öl auf Holz, 50,5 cm × 40 cm, Wallraf-Richartz-Museum, Köln, um 1450. Lochners Gemälde zeigt Maria in einem faltenreichen, dunkelblauen Kleid auf einem grünen Rasenrund sitzend, das Jesuskind auf dem Schoß. In einem Kreis um sie herum musizieren Engel; zwei weitere beten sie mit gefalteten Händen an. Ihren Kopf schmückt eine goldene Krone, deren Zacken rote und blaue Blu-

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men zieren, Rosen und Veilchen. Ihr Heiligenschein zeichnet sich vor einem Spalier ab, um das sich Kletterrosen ranken. Die horizontalen und vertikalen Spalierstangen kreuzen sich symmetrisch, sodass sie an ein Fenster erinnern; zusammen mit den Rosen wirken die Blumen wie eine Ziertapete auf goldenem Grund, die als Rechteck in Spannung stehen zum Wiesenkreis, auf dem Maria sitzt. Über deren Kopf öffnen zwei Engel einen roten, mit goldenen Blumen bestickten, kostbaren Vorhang, dessen Falten den oberen Bildrand rahmen. Eine kleine Gottvaterfigur schickt aus der Mitte des oberen Bildrandes eine Taube und goldene Strahlen auf Maria herab.72 Emma Rouault nun übertritt die Schwelle ihres geschlossenen Gartens les Bertaux am Tage ihrer Hochzeit, und sie tut dies in einem langen, über Seiten hinweg beschriebenen »cortège«. Das Zeichen hierfür gibt ihr Vater dem hinter der Hecke versteckten zukünftigen Bräutigam: Weit reißt er die Fensterläden auf und signalisiert damit Emmas Einverständnis zur Verlobung sowie die Öffnung ihres Hortus conlusus in einem akustischen Signal, wie er es Charles angekündigt hatte: […] je pousserai tout grand l’auvent de la fenêtre contre le mur : vous pourrez le voir par derrière, en vous penchant sur la haie. […] Tout à coup un bruit se fit contre le mur ; l’auvent s’était rabattu, la cliquette tremblait encore.73

Emma, die in Yonville Modemagazine mit Léon durchblättern wird,74 näht in Vorbereitung auf ihre Hochzeit bereits in les Bertaux ihre Aussteuer nach solchen Modemagazinen und bestellt sich einen Teil der Textilien, jetzt noch ohne die Verführungskünste des Stoffhändlers Lheureux, aus Rouen.75 Ausgerechnet sie, die so modebewusst ist, an einem gewöhnlichen Tag im blauen Merino auf der Schwelle steht und im Seidenkleid in die Kirche geht, trägt nun ein Hochzeitskleid mit einem Manko: Das Kleid ist zu lang. Nun dürfte es für eine couturière, brodeuse und spätere Teppichstickerin wie Emma keine große Sache sein, einen Rocksaum zu kürzen. Doch auch hier funktioniert das Textil als

72 Stefan Lochner: Die Muttergottes in der Rosenlaube [Madonna im Rosenhag], Öl auf Holz, 50,, cm × 40 cm, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, um 1450. 73 MB, S.171. 74 MB, S. 236. 75 »Mlle Rouault s’occupa de son trousseau. Une partie en fut commandée à Rouen, et elle se confectionna des chemises et des bonnets de nuit, d’après des dessins de modes qu’elle emprunta.« MB, S. 171.

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Allusion auf die Mariensymbolik. Das Hochzeitskleid ist zu lang, damit sich Disteldornen darin verfangen können. Die Distel ist, neben der Rose mit ihren Dornen, eine marianische Blume; grundsätzlich steht sie für das irdische Leid und die Geduld, die nötig ist, um dieses zu ertragen.76 Le cortège, d’abord uni comme une seule écharpe de couleur, qui ondulait dans la campagne, le long de l’étroit sentier serpentant entre les blés verts, s’allongea bientôt et se coupa en groupes différents, qui s’attardaient à causer. […] La robe d’Emma, trop longue, traînait un peu par le bas ; de temps à autre, elle s’arrêtait pour la tirer, et alors délicatement, de ses doigts gantés, elle enlevait les herbes rudes avec les petits dards des chardons, pendant que Charles, les mains vides, attendait qu’elle eût fini.77

Das Textil, das für Emmas Austreten aus ihrem Hortus conclusus als auffällig inszenierter »cortège« über die Felder, also für ihre Vermählung, steht, nämlich das weiße Hochzeitskleid, weist den selben Mangel auf wie die Hand, die Nadel und Fäden hält und in die sie sich als Vorzeichen für diese ihr zukünftig nur Leid bringende Vermählung stach.78 Auf ihrem Weg zur Kirche als Braut ist Emma eine »Maria, die über Dornen geht«. Unter Referenz auf die Vermählung mit Gott, die Marias Sohn Jesus besiegelt, geht das Kirchenlied so: Marie allait par la forêt Kyrieleison! La forêt depuis sept ans mourait Et d’épines dures ne manquait Jésus et Marie Que portait-elle sous son cœur Kyrieleison! Marie portait dessous son cœur Un petit enfant sans nulle douleur Jésus et Marie Alors la forêt tressaillit Kyrieleison ! Quand l’enfant passa dans le sein de Marie

76 Und weist, natürlich im ironischen Diskurs, bereits auf Emmas Leid auf Erden hin, das mit ihrer Eheschließung beginnt. Vgl. Menzel, Christliche Symbolik, Bd. I, »Distel«, S. 206 (Anm. 28). 77 MB, S. 173. 78 MB, S. 162.

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Dessus chaque épine une rose jaillit Jésus et Marie.79

Diese kleine Mariengeschichte spielt auf das menschliche Leid auf Erden an, dran Eva die Schuld trägt: Nach dem Sündenfall spricht Gott zu Eva »que la terre soit maudite à cause de toi. […] Elle te produira des épines et des ronces«.80 Wie der Bibelkommentator Samuel Cahen, dessen Werk Flaubert besaß, zu dieser Stelle bemerkt, tauchen die Dornen im Bibeltext innerhalb eines agrikulturellen Diskurses auf, nämlich als »des épines et des ronces dont il faut débarrasser les champs«. Cahen stellt den Aspekt der von Dorngestrüpp durchzogenen Felder dieser nunmehr verfluchten Erde als »l’horreur [des] peuples pasteurs« heraus und führt eine Übersetzungsproblematik an, »selon les uns, ce sont des ronces, selons les autres, des chardons«.81 In Flauberts Textstelle tauchen diese von Cahen kommentierten Motive aus der Bibel in Emmas Hochzeitszug über die Felder namentlich als »chardons« auf, die die Braut aus ihrem Rock zieht, während der Bräutigam ihr, »les mains vides«, wie Adam tatenlos, zusieht. Die Thematik des »Hirtenvolks« in diesem Zusammenhang schlägt sich im späteren pastoralen Bild des Städtchens Yonville erneut nieder, das zwischen den Feldern der Normandie gelegen das Bild von einem faulen Hirten abgibt und aussieht wie ein »gardeur de vaches qui fait la sieste au bord de l’eau«.82

79 Meine Hervorhebung. Menzel zitiert das Wallfahrts- und Adventslied folgendermaßen (Menzel, Christliche Symbolik, Bd. I, »Dornen«, S. 209 (Anm. 28)): Maria durch ein Dornwald ging, Der hatte sieben Jahre kein Laub getragen. Was trug Maria unter ihrem Herzen? Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen. Als das Kindlein durch den Wald getragen, Da haben die Dornen Rosen getragen. 80 Samuel Cahen: La Bible. Traduction nouvelle, avec l’hébreu en regard, accompagné des points-voyelles et des accents toniques avec des notes philologiques, géographiques et littéraires, et les principales variantes de la version des septante et du texte samaritain, dédiée à S. M. Louis-Philippe 1er, Roi des Français, Paris: [Selbstverlag], 11833−1854 (18 Bde). Hier: Bd. I, Genèse III. 17 18, S. 16. 81 Ebd. Flaubert besaß sämtliche achzehn Bände der kommentierten Cahen-Bibel. Vgl. Yvan Leclerc: La bibliothèque de Flaubert. Inventaires et critiques, Rouen: Presses Universitaires de Rouen/Du Havre, 12001. 82 MB, S. 211.

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Der im Lied besungene Wald als Raum Mariens, der sich durch ihren Weg vom Dornenwald in einen blühenden Rosenwald verwandelt, wird ebenso bei Emmas Amouren mit Rodolphe als Ort des Ehebruches eine große Rolle spielen. Auch hier wird sie ihre »robe trop longue« stören,83 die sich verfängt – nicht in Dornen diesmal, sondern schlimmer noch, am Samt von Rodolphes Rock.84 Ein Gipspriester und sein Breviarium Zunächst aber geht es von les Bertaux nach Tostes. Dort sticht sich die neue Madame Bovary ein zweites Mal in den Finger, obwohl sie ja bereits schon verheiratet ist, und zwar ausgerechnet an ihrem Hochzeitsstrauß. Es ist dies die letzte Szene vor ihrer Abreise nach Yonville und das Ende des ersten Teils des Romans. Un jour qu’en prévision de son [Charles’] départ elle faisait des rangements dans un tiroir, elle se piqua les doigts à quelque chose. C’était un fil de fer de son bouquet de mariage.85

Die vertrockneten Blumen dieses Straußes als Unterpfand ihrer Vermählung gehen in Flammen auf, als Emma sie, während ihr Mann aus dem Hause ist, in einer signifikanten Geste ins Feuer wirft, wie um diese Vermählung hinter sich zu lassen oder gar ungeschehen machen zu wollen. So sieht sie dem verstaubten, schäbigen Bouquet, dessen papierne Bänder »comme des papillons noirs« im Kamin verschwinden, ungerührt beim langsamen Verbrennen zu, bevor sie Tostes für immer verlässt.86 Auch die neue Heimat Tostes ist wieder nur ein Marienort, wie Emma feststellen muss, ein »éternel jardin«. Als solcher markiert ihn nicht nur der ebenfalls vertrocknete Hochzeitsstrauß ihrer Vorgängerin Héloïse Bovary »sur le secretaire, près de la fenêtre« im ehelichen Schlafzimmer (anstatt im Feuer, wie Emmas Brautstrauß, landet der ihrer Vorgängerin auf dem Dachboden), sondern ebenso von all den dort befindlichen Objekten, allesamt Mariensymbole, rote Vorhänge, Muscheln, ein Wasserkrug.87 Das Ehebett mit dem roten Vorhang

83 MB, S. 290. 84 MB, S. 292. 85 MB, S. 209. 86 Rogers verweist hier auf das Marienmotiv des brennenden Strauches, The mystery play in Madame Bovary, S. 39 (Anm. 27). 87 MB, S. 177. Meine Hervorhebung. Auch die Muschel ist ein Mariensymbol, da sie aus einem Wassertropfen eine Perle entstehen lassen kann, für die Maria steht, während

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(ein solcher rahmt auch Stefan Lochners Muttergottes in der Rosenlaube) kündet in Flauberts ironisierter Version des marianischen Ortes in Form eines von einer anderen Madame Bovary bereits gebrauchten, bourgeoisen Interieurs von zweierlei: erstens von der Vereinigung Marias mit ihrem göttlichen Bräutigam und zweitens, in der Anspielung an den purpur- bzw. scharlachroten Vorhang, den Maria bei der Verkündigung anfertigt, von einem eingelösten Heilsversprechen, das sich jedoch für keine der vier Mesdames Bovary je erfüllen wird. Emma monta dans les chambres. La première n’était point meublée ; mais la seconde, qui était la chambre conjugale, avait un lit d’acajou dans une alcôve à draperie rouge. Une boîte en coquillages décorait la commode ; et, sur le secrétaire, près de la fenêtre, il y avait, dans une carafe, un bouquet de fleurs d’oranger, noué par des rubans de satin blanc. C’était un bouquet de mariée, le bouquet de l’autre ! Elle le regarda. Charles s’en aperçut, il le prit et l’alla porter au grenier […].88

Als »éternel jardin« wiederholt der Garten von Tostes folglich den Garten les Bertaux und nimmt bereits Emmas salle in Yonville vorweg, diese »longue pièce à plafond bas où il y avait […] un polypier touffu s’étalant contre la glace«.89 Tostes mit seiner Dornenhecke entwickelt jedoch das marianische Thema weiter, wenn es als ein Ort der Lektüre semantisiert wird und damit bereits auf das im Schluss folgende berühmte Lektürekapitel des Romans vorbereitet. Le jardin, plus long que large, allait entre deux murs de bauge couverts d’abricots en espalier, jusqu’à une haie d’épines qui les séparait des champs. Il y avait au milieu un cadran solaire en ardoise, sur un piédestal de maçonnerie ; quatre plates-bandes garnies d’églantiers maigres entouraient symétriquement le carré plus utile des végétations sérieuses. Tout au fond, sous les sapinettes, un curé de plâtre lisait son bréviaire.90

Der »cadran solaire« erinnert an das marianische Heilsversprechen, wie ein Rondell mit einer Sonnenuhr auch in Effi Briests Hortus conclusus auftaucht: In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstra-

»alle Tropfen im unendlichen Meer die Perle nicht zu erzeugen vermögen«. Menzel, Christliche Symbolik, Bd. II, »Maria«, S. 82 (Anm. 28). 88 MB, S. 177. 89 MB, S. 235. 90 MB, S. 177.

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ße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. 91

Während bei Fontane jedoch nun die Kirchenmauer beschrieben wird, die das im Text gegebene Bild von Effis Hortus conclusus als sakraler Diskurs besiegelt, ist Emmas Garten in Tostes von einem Gipspriester markiert, der ein Gebetsbuch hält. Bei einem Breviarium, auch Stundenbuch genannt, handelt es sich um ein liturgisches Buch, das Auszüge aus der Heiligen Schrift, Heiligengeschichten und Gebete enthält, die zu bestimmten Stunden am Tag zum Gebet gelesen werden. Zur Anbetung der Heiligen Maria gibt es ein Kleines Stundenbuch, das sogenannte Officium beatae Mariae virginis.92 Der in einem solchen Büchlein lesende Priester aus billigem Gips zeigt sehr wohl einen sakralen Garten an, der auf Texten modelliert ist, die in seinem Breviarium zu finden wären. Er erscheint jedoch eher wie ein Gartenzwerg, der den marianischen Raum und damit das marianische Bild der Bovary einmal mehr der Lächerlichkeit preisgibt, indem er nicht nur die marianische Semantik, sondern nun sogar eine Textsammlung aufruft, die zu einer Auslegung und Semantisierung von Geschichten dient. Dieser ›heilige‹ groteske, priesterliche Gartenzwerg steht nicht nur für eine Ironisierung des Diskurses, sondern für eine Praktik der Auslegung, der Semantisierung, des Zitats. Als dessen Meister gibt sich Flaubert in Anspielung an seine lesende, stickende Heldin hier selbst zu Erkennen. Minne und Jan Van Eycks Lesende Maria So stellt Emma nun inmitten ihres neuen alten Hortus das mittelalterliche Minne-Klischée einer Balkonszene nach, in der sie durch das geöffnete Fenster und zwischen zwei Geranientöpfen hindurch zu ihrem »gespornten« Romeo Charles auf seinem schäbigen Pferd hinunter spricht und ihm Blumen und Blätter hinunter bläst. Die beiden Geranienpötte alleine rücken die Ironie einer der berühmtesten Szenen aus Madame Bovary als eine Zitatpraktik ins Licht, die hehre Diskurse zitiert, um schnödeste Bürgerlichkeit zur Schau zu stellen.

91 EB, S. 3. 92 »Brevier«, in: Friedrich Arnold Brockhaus (Hrsg.): Brockhaus Konversationslexikon in sechzehn Bänden, Leipzig: Brockhaus, 141894−1896, Bd III, S. 522.

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Elle se mettait à la fenêtre pour le voir partir ; et elle restait accoudée sur le bord, entre deux pots de géraniums, vêtue de son peignoir, qui était lâche autour d’elle. Charles, dans la rue, bouclait ses éperons sur la borne ; et elle continuait à lui parler d’en haut, tout en arrachant avec sa bouche quelque bribe de fleur ou de verdure qu’elle soufflait vers lui, et qui voltigeant, se soutenant, faisant dans l’air des demi-cercles comme un oiseau, allait, avant de tomber, s’accrocher aux crins mal peignés de la vieille jument blanche, immobile à la porte. Charles, à cheval, lui envoyait un baiser ; elle répondait par un signe, elle refermait la fenêtre, il partait.93

Die florale Szene erzählt verliebte Leichtigkeit; sie spielt an die Marienverehrung, Ritterromane und den romantischen Diskurs an. Indes sind alle Blumen in Tostes abgerissen, verblasst oder vertrocknet. Die Tapete im Wohnzimmer zeigt »une guirlande de fleurs pâles«;94 Disteldornen, die sich in Emmas Hochzeitskleid verfangen hatten, finden sich nun in der »haie d’épines« des Gartens; wenn Emma mit ihrem Mund den Blumen die Blätter ausreißt, gleicht sie eher Charles’ Märe als einer holden Maid. Emma Bovary stellt nach und spürt nichts. Die Szene stellt das unmögliche Unterfangen heraus, Lektüre(vor)bildern Leben einzuhauchen.95 Im Kirchenlied Maria durch den Dornwald ging ist es das Kind, das Maria unter dem Herzen trägt, welches die vertrockneten Dornen zu Rosen erblühen lässt. Die große Erwartung des Heils erfüllt sich in seiner Geburt. Und siehe da, Flaubert entlässt den Leser aus dem ersten Teil seines Romans und seinen Schauplätzen les Bertaux und Tostes in Vorbereitung auf Emmas Umzug nach Yonville-L’Abbaye folgendermaßen: Quand on partit de Tostes, au mois de mars, Mme Bovary était enceinte.96

93 MB, S. 178. 94 MB, S. 177. 95 Rainer Warning zufolge geht es bei der von Flaubert sorgfältig ausgearbeiteteten Szene im Zeichen der Geranien um die Markierung eines bestimmten sozialen (also verhassten bürgerlichen) Raumes und um die Herstellung eines – von Hugo Friedrich prominent so genannten – »Affektvakuums« der Figur Emma Bovary, deren Gefühle hier nicht zum Ausdruck kommen. Rainer Warning: »Geranien«, in: Barbara Vinken/Cornelia Wild (Hrsg.): Arsen bis Zucker. Flaubert-Wörterbuch, Berlin: Merve, 12010, S. 112–115. 96 MB, S. 209.

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Auch Emma trägt zwar nun ein Kind unter ihrem Herzen; doch als das Ehepaar Bovary Tostes verlässt, ist es März, der Monat von Mariä Verkündigung.97 Alles wird von neuem beginnen, Emma führt ihren »éternel jardin« mit sich. Was in les Bertaux und Tostes als ihr Gartenraum bereits angelegt ist, entfaltet sich im Roman in vollem Ausmaße in Yonville-L’Abbaye. Emma erhofft sich von ihrem neuen ›Garten‹, wie es die Geschichte von Maria auf ihrem Weg durch den Dornenwald erzählt, von einem heilenden Neuanfang, für den das ungerührte Verbrennen ihres Hochzeitsstraußes steht. Doch mit so einer Hoffnung war sie bereits nach Tostes gekommen: Ihr Versuch galt, den Anstrich ihres Raumes zu verändern 98 vergebens. Die Beschreibung von Tostes und damit das fünfte Kapitel dieses ersten Teils beginnt mit einer marianischen Mauer, an der die Straße endet. Kommt man zur Haustür herein, hängt dort bereits der marianische Mantel, ein »manteau à petit collet«. Die gelbe Tapete im Wohnzimmer, dort, wie der Text eigenartig präzisiert, »wo man aß und sich aufhielt«, schmückt eine Blumengirlande; die weißen Vorhänge mit roter Borte überlagern sich an den Fenstern und inszenieren erneut diese Schwelle, die Emma in ihrem Inklusorium festhält. La façade de briques était juste à l’alignement de la rue, ou de la route plutôt. Derrière la porte se trouvaient accrochés un manteau à petit collet, une bride, une casquette de cuir noir, et, dans un coin, à terre, une paire de houseaux encore couverts de boue sèche. À droite était la salle, c’est-à-dire l’appartement où l’on mangeait et où l’on se tenait. Un papier jaune serin, relevé dans le haut par une guirlande de fleurs pâles, tremblait tout entier sur sa toile mal tendue ; des rideaux de calicot blanc, bordés d’un galon rouge, s’entrecroisaient le long des fenêtres, et sur l’étroit chambranle de la cheminée resplendissait une pendule à tête d’Hippocrate, entre deux flambeaux d’argent plaqué, sous des globes de forme ovale. De l’autre côté du corridor était le cabinet de Charles […]. L’odeur des roux pénétrait à travers la muraille, pendant les consultations, de même que l’on entendait de la cuisine les malades tousser dans le cabinet et débiter toute leur histoire.99

97 Mariä Empfängnis wird am 25. März gefeiert. 98 »Elle s’occupa, les premiers jours, à méditer des changements dans sa maison. Elle retira les globes des flambeaux, fit coller des papiers neufs, repeindre l’escalier et faire des bancs dans le jardin, tout autour du cadran solaire ; elle demanda même comment s’y prendre pour avoir un bassin à jet d’eau avec des poissons.« MB, S. 178. 99 MB, S. 177.

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Die abgerissene Tapette wiederholt den bröckelnden Putz des Wohnzimmers von les Bertaux, und während eine Uhr mit dem Kopf des Hyppokrates, der für den Eid zu heilen steht, die marianische Zeit des Glückes aufruft wie die Sonnenuhr im Garten, ist durch die Wände das Husten und Jammern der Kranken zu hören. Die Tapete mit seinen verblassten Blumenornamenten bildet die Tristesse dieses neuen Heims als buchstäblich abgerissenes Marienbild ab: Eine solche gelbe Tapete mit Blumenschmuck gibt es als ornamentalen Hintergrund für eine weitere, berühmte Maria im blauen Kleid, die etwa zwanzig Jahre vor Stefan Lochners Muttergottes in der Rosenlaube entstand: Jan van Eycks Lesende Maria des Genter Altars (14321435).100 Sie ist Teil eines aus mehreren Tafeln bestehenden Altarschmuckes und gehört zu einem Tryptichon in dessen Mitte, das Maria, Gottvater und Johannes den Täufer darstellt. Rossetti führt in seinem Gemälde The Childhood of Mary Virgin textile Handarbeit und dieses Motiv der lesenden Maria im marianischen Garten zusammen, wie Flaubert es nun mit diesem zweiten Schauplatz Tostes tut und wie er es seiner Heldin als »une personne, quelqu’un qui savait causer, une brodeuse« eingangs auf den Leib schrieb.101 Handarbeit und Bücher, »needle and […] words«,102 sind die beiden gleichwertigen Bestandteile von Emmas unglücklichem Hortus conclusus: »[I]l en était de ses lectures comme de ses tapisseries, qui, toutes commencées, encombraient son armoire; elle les prenait, les quittait, passait à d’autres.«103 Van Eyck zeigt die Heilige Jungfrau in einem Kleid und Mantel aus dunkelblauem Samt vor einem Rechteck aus großen gelben Blüten auf blassem Grund, das an einen Wandschirm oder eine Tapete erinnert. Maria senkt den Kopf auf ein Buch in ihren Händen, das in grünes Tuch eingeschlagen ist. Sie trägt eine mit blauen, roten und weißen Blumen (Veilchen, Rosen und Lilie) verzierte Krone; ein goldener Halbkreis mit Inschriften ahmt einen Heiligenschein nach.

100 Jan van Eyck: Lesende Maria des Genter Altars, Öl auf Holz, 168,7 cm x 79,9 cm, Kathedrale St. Bavo, Gent, 1432−1435. Vgl. zu diesem Gemälde insbes. Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting, Cambridge: Harvard University Press, 1

1953, auf den sich auch Schuster in seiner Studie zur Marienikonographie bezieht:

Peter-Klaus Schuster: Theodor Fontane: Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern, Tübingen: Niemeyer, 11978 (Studien zur deutschen Literatur, 55). 101 MB, S. 165. 102 Lowe beobachtete hierzu »that the two notions, accomplishment with needle and with words, had been associated by Flaubert from the beginning«. Lowe, »Emma Bovary, a modern Arachne«, S. 32 (Anm. 3). 103 MB, S. 260.

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Er wirkt gleichzeitig wie der Türbogen einer Pforte, die sich hinter dem Wandschirm aus gelben Blumen verbirgt. Zu Marias Füßen ist ein braunrot gekachelter Fußboden sichtbar, den die kostbare goldene Borte des Mantels und Rocksaumes markiert.

Abbildung 7: Jan Van Eyck, Lesende Maria des Genter Altars, Öl auf Holz, 168,7 cm x 79,9 cm, Kathedrale St. Bavo, Gent, 1432−1435. Am Ende dieses fünften Kapitels von Madame Bovary mit seiner Beschreibung von Tostes, das die Protagonistin erneut als Maria  und diesmal ganz offen-

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sichtlich in Anschluss an Van Eyck – in Szene setzt, heißt es über Ehemann Charles: »[I]l possédait pour la vie cette jolie femme qu’il adorait. L’univers, pour lui, n’excédait pas le tour soyeux de son jupon«; über Emma heißt es jedoch: Avant qu’elle se mariât, elle avait cru avoir de l’amour ; mais le bonheur qui aurait dû résulter de cet amour n’étant pas venu, il fallait qu’elle se fût trompée, songeait-elle. Et Emma cherchait à savoir ce que l’on entendait au juste dans la vie par les mots de félicité, de passion et d’ivresse, qui lui avaient paru si beaux dans les livres. 104

Während Maria der gängigen Auslegung nach als mise en abyme im Hortus conclusus ihre eigene Geschichte, ihr eigenes Heilsversprechen in ihren Büchern liest, das sie selbst einlöst,105 liefert Flauberts Text in seiner Ironie als Conclusio sofort nach, woher Emma ihre Begriffe von Glück hat: Das hier unmittelbar anschließende Kloster- bzw. Lektürekapitel beginnt mit dem vielsagenden Satz: »Elle avait lu Paul et Virginie«.106 Bildlektüren: Das Klosterkapitel Emmas erster Ort ist nicht, wie es die Chronologie im Roman glauben machen will, der elterliche Bauernhof les Bertaux, sondern das Ursulinenkloster, in dem sie aufgezogen wird und somit der Hortus conclusus im buchstäblichen Sinne, dem Ort der Bräute Christi. Noch genauer gelesen ist Emmas erster Ort im Roman eigentlich das Viertel Saint-Gervais, in dem sie vor ihrem Klostereintritt übernachtet und wo ihr Vater sie zum Essen ausführt, seit der Julimonarchie dem textilen Viertel schlechthin in Rouen mit den meisten Stofffabrikanten der Stadt.107

104 MB, S. 179. Kursiv im Original. Meine Unterstreichung. 105 Vgl. hierzu Holt Meyer: »Das Buch (in) der Verkündigung an Maria. Zeugenaussagen der Ikonographie und deren Spuren in der Schrift«, in: Christoph Bultmann/Claus-Peter März/Vasilios Makrides (Hrsg.): Heilige Schriften. Ursprung, Geltung und Gebrauch, Münster: Aschendorff, 12005 (Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt, 2), S. 132–158. 106 MB, S. 179. 107 MB, S. 180. 80 % der Textilfabrikation in Rouen konzentriert sich auf diesen Stadtteil. Im Jahre 1840, das heißt zu der Zeit, als sich der Handel von »rouenneries« (in Rouen hergestellte Stoffe) und die Mode der Stoffarten nouveautés und indiennes auf ihrem Höhepunkt befinden, sind in diesem Viertel 295 Produktionsstätten von

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Der Ort Emmas steht damit von Beginn an unter textilem Zeichen durch die Zusammenführung von einem Detail aus der Textilindustrie im Rouen der 1840er Jahre und dem Diskurs von Mariä Verkündigung. Dieser findet hier nun explizit in der ständig wiederholten Vorstellung des himmlischen Bräutigams Erwähnung und wird von Emma unter Rückgriff auf ihre Romanlektüren und Bilder von Beginn an ganz weltlich verstanden: Les comparaisons de fiancé, d’époux, d’amant céleste et de mariage éternel qui reviennent dans les sermons lui soulevaient au fond de l’âme des douceurs inattendues.108

Emmas Klosteraufenthalt wird ein eigenständiges Kapitel gewidmet, dem, als analeptischer Einschub vom Rest der histoire isoliert und damit markiert, eine ganz besondere Bedeutung zukommt. Nicht nur illustriert dieses Kapitel en détail den Beginn von Emmas Lektüreverhalten und damit ihr Weltverständnis; nicht nur wird Emma hiermit als verkehrte Lesende Maria etabliert, als verkehrte Sedes sapientiae. In einem Vierschritt initiiert dieses Kapitel auf seinen ersten beiden Seiten die verschiedenen Versatzstücke, die von nun an, das heißt also: von Beginn ihrer Geschichte an, Emmas »éternel jardin« ausmachen werden, miteinander verschmelzen und die Figur als Konstanten im Aufrufen eines textil markierten Raumes in Anlehnung an die Ikonographie des Hortus conclusus begleiten: Die Lektüre von Paul et Virginie, der Abstecher ins textile Viertel Saint-Gervais, der Aufenthalt im Kloster und der Diskurs des geistigen Bräutigams als Erzählung von Mariä Verkündigung. Von Emmas Kindheit erfährt der Leser nichts. Ihre Geschichte setzt ein mit ihrem Teenager-Alter, dem Alter, in dem auch Maria mit ihrer textilen Tätigkeit beginnt, um ihre Reinheit zu bewahren:109 »Lorsqu’elle eut treize ans, son père

Stoffen aller Art angesiedelt. Im Vergleich hierzu gibt es nur 40 solcher Produktionsstätten am Eau-de-Robec, wo Charles in Flauberts Roman zu Studentenzeiten seine Bude hat. Sechzehn weitere Produktionsstätten verteilen sich auf den Rest der Stadtfläche Rouens. Lucien Andrieu: »Les Greniers étentes de Rouen«, in: André Dubuc (Hrsg.): Le Textile en Normandie, Rouen: Société libre d’émulation de la Seine-Maritime, 11975, S. 41–56, S. 53. 108 MB, S. 180. 109 »Als sie zwölf Jahre alt wurde, berieten sich die Priester und sprachen: ›Seht, jetzt ist Maria im Tempel des Herrn zwölf Jahre alt geworden. Was sollen wir also mit ihr tun, damit sie das Heiligtum des Herrn, unseres Gottes, nicht unrein macht?‹« PJ, Werlitz (8.2), S. 77.

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l’amena lui-même à la ville, pour la mettre au couvent.« 110 Im Kloster als erstem Hortus conclusus Emmas ist die eigentliche Hauptfigur für die Pensionärinnen konsequenter Weise keine religiöse Figur, sondern eine alte Jungfer, die für die textile Handarbeit in die heiligen Mauern kommt. Wie die Jungfrau Maria hält sie als veritable Magd Gottes (Ancilla) nicht nur Nadel und Faden in Händen, sondern auch Bücher: Romane jedoch, von denen sie zu erzählen weiß und die sie selbst seitenweise verschlingt. Von der Institution der Kirche protegiert, entstammt sie einem alten Adelsgeschlecht. Damit erzählt auch sie das marianische Paradoxon von der niederen Magd eines hohen Standes. Dieser ist wie in Emmas »erstem Stock« topographisch artikuliert, wenn die Magd zu ihrer Handarbeit wieder »hinaufsteigt« (»remonter«). Anders als Emma jedoch kann sie regelmäßig aus dem Kloster hinein und wieder hinaus und zeigt damit diese Permeabilität des marianischen Raumes an, an den Emma glauben will. Il y avait au couvent une vieille fille qui venait tous les mois, pendant huit jours, travailler à la lingerie. Protégée par l’archevêché comme appartenant à une ancienne famille de gentilshommes ruinés sous la Révolution, elle mangeait au réfectoire à la table des bonnes sœurs, et faisait avec elles, après le repas, un petit bout de causette avant de remonter à son ouvrage. Souvent les pensionnaires s’échappaient de l’étude pour l’aller voir. Elle savait par cœur des chansons galantes du siècle passé, qu’elle chantait à demi-voix, tout en poussant son aiguille.111

Dem klassischen Topos folgend, ist die Zeit dieser textilen Handarbeiterin die der Wiederholungen: Nicht nur ist das Dasein dieser Ancilla von ihrem beständigen Herab- und Hinaufsteigen vom und zum Ort ihrer Beschäftigung bestimmt (»tous les mois«). Sie wiederholt wie ein troubadour alte Geschichten, Lieder, die sie auswendig kennt und erinnert somit an die mündliche Tradition der Minne. Auch mit dieser Figur sind Nadel und Worte als Teil eines Erzählens vorgestellt, das im Bild textiler Handarbeit verhandelt wird. Die von Flaubert mit seiner Heldin als »personne [qui] savait causer, une brodeuse« bereits angelegte Verbindung von textiler Handarbeit und Erzählen wird in diesem zentralen Lektürekapitel umso deutlicher herausgestellt,112 wenn die ratschende Magd (»un petit bout de causette«) diese an Arachnes alte, erotische Geschichten erinnernden »galanten« Geschichten wie beschwörende Zauberformeln (oder wie Gebete) halblaut singt, »tout en poussant son aiguille«.

110 MB, S. 180. 111 MB, S. 181. 112 MB, S. 165.

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Zudem schmuggelt die Jungfer, versteckt unter ihrer Schürze, für die Mädchen Bücher mit Liebesgeschichten ins Kloster, die eine ganz andere Liebe artikulieren, als die hehren Worte aus den täglich gehörten Predigten vom himmlischen Bräutigam und von mystischer Liebe. Ce n’étaient qu’amours, amants, amantes, dames persécutées s’évanouissant dans des pavillons solitaires, postillons qu’on tue à tous les relais, chevaux qu’on crève à toutes les pages, forêts sombres, troubles du cœur, serments, sanglots, larmes et baisers, nacelles au clair de lune, rossignols dans les bosquets, messieurs braves comme des lions, doux comme des agneaux, vertueux comme on ne l’est pas, toujours bien mis, et qui pleurent comme des urnes. Pendant six mois, à quinze ans, Emma se graissa donc les mains à cette poussière des vieux cabinets de lecture.113

Diese romantischen Liebhaber aus den Romanen vermischen sich in Bildern von Räumen für Emma mit der Vorstellung von dem Bräutigam, der Maria (im übertragenen Sinn) in den Garten tritt. Mit den historischen Romanen von Walter Scott taucht Emma in die Minnewelt des Mittelalters ein, wie es William Holman Hunts Version des Hortus conclusus als eine Rittergeschichte von der Lady of Shalott zeigt.114 Wieder ist die Rede vom geschlossenen Raum, einem architektonischen Rundbogen, der den Blick nach draußen freigibt und den Konflikt von Innen und Außen ausstellt. Wie Emma verbringen auch die mittelalterlichen Schlossherrinnen hier ihre Tage am Fenster, Ausschau haltend nach einem um sie werbenden »Reiter«. Elle aurait voulu vivre dans quelque vieux manoir, comme ces châtelaines au long corsage, qui, sous le trèfle des ogives, passaient leurs jours, le coude sur la pierre et le menton dans la main, à regarder venir du fond de la campagne un cavalier à plume blanche qui galope sur un cheval noir.115

Als eine solche Bildersammlung werden Keepsakes heimlich von der Welt draußen ins Kloster mitgebracht und im Schlafraum gelesen. Die Nonnen versuchen, diese Lektüre zu unterbinden, wie auch die alte Jungfer ihre Romane unter ihrer Schürze verstecken muss: »Il les fallait cacher, c’était une affaire«.116 Die Bilder auf Seidenpapier faszinieren Emma und lassen sie gar »erschaudern«, obgleich

113 MB, S. 181. 114 Vgl. das Kapitel zu Burgfräulein und Minne. 115 MB, S. 181 182. 116 MB, S. 182.

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sie ihrerseits bereits Wiederholungen sind der immer gleiche Szene. Sie zeigen eine Balustrade, die als Schwelle einen Innen- und Außenraum markiert, junge Frauen im weißen Kleid am offenen Fenster, halb versteckt hinter den Vorhängen, und einen Verehrer, der sie im Garten in seinen Mantel hüllt. Elle frémissait, en soulevant de son haleine le papier de soie des gravures, qui se levait à demi plié et retombait doucement contre la page. C’était, derrière la balustrade d’un balcon, un jeune homme en court manteau qui serrait dans ses bras une jeune fille en robe blanche […]. D’autres, rêvant sur des sofas près d’un billet décacheté, contemplaient la lune, par la fenêtre entrouverte, à demi drapée d’un rideau noir.117

Die schmachtenden Helden vor dem Fenster und seinen Vorhängen werden in Flauberts Text zum Schluss noch eingebettet in einen orientalischen Diskurs mit Sultanen und Palmen, und zwar abermals im Aufrufen einer Gartenszenerie. Umschlossen nicht von einer Hecke, doch von einem »forêt vierge« wird das Fazit dieser Lektüre-Passage in einem chaotischen Bild gefasst, ausgestellt von einem Flaubert’schen »vous«: Et vous y étiez aussi, sultans à longues pipes, pâmés sous des tonnelles, aux bras des bayadères, djiaours, sabres turcs, bonnets grecs, et vous surtout, paysages blafards des contrées dithyrambiques, qui souvent nous montrez à la fois des palmiers, des sapins, des tigres à droite, un lion à gauche, des minarets tartares à l’horizon, au premier plan des ruines romaines, puis des chameaux accroupis ; − le tout encadré d’une forêt vierge bien nettoyée, et avec un grand rayon de soleil perpendiculaire tremblotant dans l’eau, où se détachent en écorchures blanches, sur un fond d’acier gris, de loin en loin, des cygnes qui nagent.118

Das Bild dieses Gartens, das die Versatzstücke aus Romantik und Bukolik im orientalistischen Diskurs wild kombiniert, wird ausdrücklich in seiner Inszenierung als »paysages blafards des contrées dithyrambiques«, den mondbeschienenen Ländern der Romantik, als Bild von einem Raum artikuliert. Flauberts ironische Titulierung dieser Bildbeschreibung als »le tout« wiederholt, dass sich hier mehrere Räume zu diesem orientalischen Garten zusammenfügen und überlagern, die eigentlich nicht zu einander passen. Palmen und Tannen, Tiger und Löwen, Minarette und römische Ruinen, alles wird durch die Umschließung durch einen Wald zu einem geschlossenen Garten zusammengebunden. Auch

117 Ebd. 118 MB, S. 182 183.

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der Sonnenstrahl fehlt nicht, der in der Marienikonographie die Szenerie beleuchtet. Ein Teich verkomplettiert, wie in Effi Briest, den hier aufgerufenen marianischen Garten und erinnert als Wassermetaphorik an Marias Brunnengang, während dem sie die Stimme des Engels zum ersten Mal hört. Es folgt als conclusio Emmas Interpretation dieses Garten-Potpourris. Wie in diesem Gartenbild Raume überlagert sind, so überlagern sich in Emmas Kloster »Bilder von der Welt«, die vor ihr herziehen, als wären sie echt, und reichern den ›realen‹ (tatsächlich natürlich fiktiven) Raum der Bovary an. Et l’abat-jour du quinquet, accroché dans la muraille au-dessus de la tête d’Emma, éclairait tous ces tableaux du monde, qui passaient devant elle les uns après les autres, dans le silence du dortoir et au bruit lointain de quelque fiacre attardé qui roulait encore sur les boulevards.119

Doch diese Bilder werden durch ihre Wiederholung in Flauberts Erzählung brüsk gebrochen: Der Sonnenstrahl aus den himmlischen Höhen wird zur schnöden Lampe an der Zimmerdecke von Emmas Inklusorium und setzt diese sich überlagernden Bilder von der Welt schlaglichtartig in Szene. Die Opposition von Innen und Außen, das heißt die Welt der Bilder innerhalb der Mauern und die reale Welt außerhalb, wird in der Stille drinnen und dem Rattern der Kutschen draußen akustisch formuliert. Die Boulevards der Stadt mit ihren vorbeifahrenden Kutschen zeigen das »Vorbeiziehen« von Emmas »tableaux« an und setzen den geschlossenen Klostermauern einen sich öffnenden Raum entgegen. Das Klosterkapitel, das mehr von Emmas Lektüreverhalten erzählt als vom Klosterleben selbst, etabliert Emma also als Leserin und Konsumentin von Bildern. Als solch eine Leserin innerhalb umschlossener Mauern inszeniert, kopiert Emma damit selbst eine Bildvorlage, und zwar Maria als Sedes Sapientiae und damit Jan Van Eycks berühmte Lesende Maria des Genter Altars, eine lesende Figur in einem blauen Kleid, deren Rahmung durch eine gelbe Blumentapete, wie sie in Emmas Haus vorkommt, ihren Ort als Hortus conclusus semantisiert. Emma liest dabei durchaus auch erbauliche Schriften, wie etwa »l’homme du monde au pieds de Marie«. Der Buchhändler beliefert sie auch später in Yonville »pêle-mêle« mit »livres pieux« und »des espèces de romans à cartonnage rose et à style doucéâtre, fabriqués par des séminaristes troubadours«.120 Wie im Kloster

119 MB, S. 183. Zu Emmas »tableaux du monde« sh. «. Carol Rifelj: »›Ces tableaux du monde‹: Keepsakes in Madame Bovary«, in: Nineteenth-Century French Studies 25, 3−4 (1997), S. 360–385. 120 MB, S. 339.

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wird ihre erbauliche Lektüre, der sie so wenig abgewinnen kann, stets mit den Titeln, Verfassern und Helden ihrer Romane konterkariert. Selbst die Seminaristen sind romanhafte Gestalten und ahmen in ihren Texten die mittelalterliche Minne nach. Madame Bovary n’avait pas encore l’intelligence assez nette pour s’appliquer sérieusement à n’importe quoi ; d’ailleurs, elle entreprit ces lectures avec trop de précipitation. Elle s’irrita contre les prescriptions du culte ; l’arrogance des écrits polémiques lui déplut par leur acharnement à poursuivre des gens qu’elle ne connaissait pas ; et les contes profanes relevés de religion lui parurent écrits dans une telle ignorance du monde, qu’ils l’écartèrent insensiblement des vérités dont elle attendait la preuve. Elle persista pourtant, et, lorsque le volume lui tombait des mains, elle se croyait prise par la plus fine mélancolie catholique qu’une âme éthérée pût concevoir.121

Emmas Lesen ist ein falsches Lesen,122 oder vielmehr: eine falsche BilderPraktik. Ihre Lektüre von Romanen ist ein Konsum von Bildern, die Emma ihrerseits benutzt. Sie fügt sie ineinander und reichert mit ihnen ihren Raum zu einem romanesken Raum an (beide sind jedoch unvereinbar). Daraus resultiert Emmas Scheitern an der bürgerlichen Welt: Ihre Bilderpraktik wird als Lektüreverhalten von den bürgerlichen Figuren selbst für ihr Scheitern zur Verantwortung gezogen; die Schwiegermutter beispielsweise plädiert inständig dafür, Emma zugunsten forcierter handarbeitlicher Beschäftigung das Romanlesen (und damit das Bilderlesen und Bilderschaffen) zu verbieten.123 Die Heldin stellt ihre eigene Lektüre des Bildes vom Hortus conclusus aus, den sie wie eine Geschichte, wie einen Roman liest. Sie wiederholt damit als mise en abîme ihre eigene Geschichte, so wie Flaubert das Bild des Hortus conclusus als Roman über einen Gartenraum erzählt, der im poetologischen Verfahren der Bildüberlagerung entsteht. Der heilige Garten wird mit den Gartenräumen aus Emmas Lektüren angereichert und von ihnen überblendet: Flaubert kopiert hierin die mediale Praktik seiner Protagonistin, bzw. anders herum, er stellt sein eigenes kopierendes Verfahren mit ihr zur Schau  mit dem

121 MB, S. 339 340. 122 Als neuere Studien zu diesem klassischen Thema der Flaubertforschung sh. Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer, 12009, und Sandrine Aragon: Des liseuses en péril, Les images de lectrices dans les textes de fiction de La Prétieuse de labbé de Pure à Madame Bovary de Flaubert (16561856), Paris: Champion, 12003 (Les dix-huitième sciècles, 71). 123 MB, S. 260.

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Unterschied natürlich, dass das Verfahren der Bovary eben genau jener Distanz entbehrt, die sich in der Flaubert’schen Ironie außerhalb des Textes, auf dritter Ebene, niederschlägt. Auch die Mariengeschichte erzählt eine solche mise en abyme: Maria liest, so die klassische Vorstellung von der Sedes sapientiae, in den Büchern, die ihr in der Ikongraphie in die Hand gegeben sind, ihre eigene Geschichte.124 Paul et Virginie Flauberts Kapitel über Emmas Klosterjahre erzählt den Anfang seiner Figur und beginnt konsequenter Weise mit einer Lektüre: »Elle avait lu Paul et Virginie«.125 Der Roman von Bernadin de Saint-Pierre über die Insel Maurizius, genannt L’Île-de-France, kann als Urszene für diesen Gartenraum gelesen werden, der im Kloster als Emmas erstem Hortus conclusus durch ihre Bilderpraktik entsteht. Wie in Emmas Keepsake-Bildern überlagern sich in Saint-Pierres Roman Räume, die unvereinbar sind: Europa und die Tropen, Paris und das einsame Eiland. Die Insel öffnet sich, wie Emmas Gartenraum Yonville, durch den Textilhandel. Handelsgüter aus allen Teilen der Welt treffen dort ein und werden von Virginie ausgesucht, gekauft, verarbeitet und getragen. Flauberts Text spielt nun auf eine ganz bestimmte Textstelle in Paul et Virginie an, die eine Gartenszene beschreibt: Elle avait lu Paul et Virginie et elle avait rêvé la maisonnette de bambous, le nègre Domingo, le chien Fidèle, mais surtout l’amitié douce de quelque bon petit frère, qui va chercher pour vous des fruits rouges dans des grands arbres plus hauts que des clochers, ou qui court pieds nus sur le sable, vous apportant un nid d’oiseau.126

»[Q]uelque bon petit frère« ist Virginies »Bruder« Paul, der zu ihrem Liebhaber werden wird.127 Die Textstelle, die Flaubert hier anzitiert, nimmt im Garten, in

124 Meyer, »Das Buch (in) der Verkündigung an Maria«, insbes. S. 150 (Anm. 105). 125 MB, S. 179. 126 MB, S. 179 180. 127 Der Liebhaber im Hohelied bezeichnet seine Braut als »Schwester«. Sie wiederum wünscht: »In seinen Garten komme mein Geliebter und esse seine köstlichen Früchte«, Hohelied, 4,12 16. »Schwester« ist »eine im alten Orient gebräuchliche Titulierung für Geliebte«. Diese Bedeutung kommt hier in der Gartenszene als biblischer Diskurs zum Tragen. Vgl. Helga Volkmann: Unterwegs nach Eden. Von Gärtnern und Gärten in der Literatur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 12000, S. 108.

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dem die beiden Geschwister noch kindlich ihre Zuneigung zueinander zeigen, das spätere Liebespaar vorweg, und zwar im Textil, das beide Figuren umhüllt: Virginie hebt ihre Röcke.128 Die roten Früchte, die in Flauberts Textstelle gepflückt werden, verweisen bereits auf den Diskurs eines biblischen Gartens, mit dem die Geschichte von Paul und Virginie unterlegt wird: der Garten Eden. Die Überblendung des sakralen Gartenraums mit dem profanen ist durch Obstbäume sichtbar gemacht, die von den Kirchtürmen gedoppelt werden und diese dennoch überragen (»des grands arbres plus hauts que des clochers«). In Saint-Pierres Textstelle nun wird Paul als Gärtner inszeniert. Er gräbt den Garten um und bringt Virginie »une belle fleur, un bon fruit, ou un nid d’oiseaux«.129 Sofort folgt die Interpretation dieses Gärtners als zukünftiger Bräutigam, die den Garten kindlichen Glückes zum erotischen Ort umbesetzt.130 Un jour […] j’aperçus à l’extrémité du jardin Virginie qui accourait vers la maison, la tête couverte de son jupon qu’elle avait relevé par derrière, pour se mettre à l’abri d’une ondée

128 Riffaterre spricht von einem »skirt code«: »[S]exuality is skirt-lifting«. Michael Riffaterre: »Flaubert’s Presuppositions«, in: Naomi Schor (Hrsg.): Flaubert and Postmodernism. Papers presented at the Brown Univ. Flaubert Symposium, Nov. # $%"   6        !"  , Lincoln: Nebraska University Press, 1

1984, S. 177–191, S. 188.

129 Bernardin de Saint-Pierre: Paul et Virginie (1788), Édition de Jean Ehrard, Paris: Gallimard, 12004, S. 120. Im Folgenden PV. Die vollständige Textpassage lautet: »Bientôt tout ce qui regarde l’économie, la propreté, le soin de préparer un repas champêtre, fut du ressort de Virginie, et ses travaux étaient toujours suivis des louanges et des baisers de son frère. Pour lui, sans cesse en action, il bêchait le jardin avec Domingue, ou, une petite hache à la main, il le suivait dans les bois ; et si dans ces courses une belle fleur, un bon fruit, ou un nid d’oiseaux se présentaient à lui, eussent-ils été au haut d’un arbre, il l’escaladait pour les apporter à sa sœur.« 130 Vgl. hierzu die Fußnote zu dieser Flaubert-Stelle in der Ausgabe von Laget, der ebendiese Garten-Passage von Paul et Virginie zitiert. Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Mœurs de Province, Édition présentée, établie et annotée par Thierry Laget, Paris: Gallimard, 12001 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 85 und 474, Anm. 1. Flaubert besaß Bernadin de Saint-Pierres Études de la nature, in dessen vierten Band die Erzählung von Paul et Virginie zu finden ist, wie auch eine von Anatole France kommentierte Ausgabe von 1877 (Vgl. Leclerc, La bibliothèque de Flaubert (Anm. 81). Bernardin de Saint-Pierre: Études de la nature. Édition en cinq volumes (1784), Paris: Deterville, 11804, und Paul & Virginie (1788), avec notices et notes par Anatole France, Paris: Lemerre, 11877).

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de pluie. De loin je la crus seule ; et m’étant avancé vers elle pour l’aider à marcher, je vis qu’elle tenait Paul par le bras, enveloppé presque en entier de la même couverture, riant l’un et l’autre d’être ensemble à l’abri sous un parapluie de leur invention. Ces deux têtes charmantes renfermées sous ce jupon bouffant me rappelèrent les enfants de Léda enclos dans la même coquille.131

Der Ich-Erzähler beobachtet Virginie im Garten, den auch sie wohlgemerkt nicht verlässt: Am äußersten Ende angekommen, läuft sie zurück zum Haus. Die Wassermetaphorik als Teil des marianischen Diskurses wird im heftigen Regen aufgerufen und begleitet Virginie ähnlich wie Effi von Beginn an: Virginie wird später im Meer ertrinken, dabei eine marianische Pose einnehmen und mit ihren »violetten Wangen« die marianischen Veilchen wie auch die Marienfarbe Blau wieder aufnehmen, wie gleich noch zu sehen sein wird.132 Zunächst aber – und dies steht zu einem krassen Gegensatz zu Virginies letzter Szene, denn sie ertrinkt, weil sie ihre Röcke eben gerade nicht heben, sich nicht ausziehen will – schlägt sie zum Schutz vor dieser »ondée«, die ihrerseits das aufgewühlte Meer antizipiert, in dem Virginie zutode kommen wird, ihren Rock hoch. Wie einen Mantel breitet sie ihn als »abri« aus, umhüllt sich und Paul »presque en entier« und ahmt damit die schützende Geste einer Mantelmadonna nach. So ist auch in Virginies Namen ihre marianische Markierung in den Begriffen Tugend, Glück und Jungfräulichkeit verankert. [M]adame de la Tour accoucha d’une fille. [Elle] lui donna le nom de Virginie. »Elle sera vertueuse, dit-elle, et elle sera heureuse. Je n’ai connu le malheur qu’en m’écartant de la vertu.«133

Virginie − wie Emma, wie Effi – wird als junge Maria im Garten vorgestellt und dementsprechend als textile Handarbeiterin, als brodeuse. Für Paul fertigt sie ein Liebespfand an, eine kleine Börse, in der sie Blumensamen aus Paris auf die tropische Insel schickt und die damit das Textil durch eine Gartenmetaphorik markiert. Der Text liefert zunächst jedoch den Hinweis auf ihr Alter: Virginie ist, wie Maria, zu Beginn ihrer textilen Geschichte zwölf Jahre alt. Virginie n’avait que douze ans ; déjà sa taille était plus qu’à demi formée ; de grands cheveux blonds ombrageaient sa tête ; ses yeux bleus et ses lèvres de corail brillaient du

131 PV, S. 120 121. 132 PV, S. 226. 133 PV, S. 116. Meine Hervorhebung.

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plus tendre éclat sur la fraîcheur de son visage : ils souriaient toujours de concert quand elle parlait ; mais quand elle gardait le silence, leur obliquité naturelle vers le ciel leur donnait une expression d’une sensibilité extrême, et même celle d’une légère mélancolie.134

Die gelösten Haare, die mit Korallen verglichenen Lippen und die zum Himmel gerichteten Augen vervollständigen die Anspielung auf die Mariendarstellungen, die in ihrem Raum, dem Garten, aufgerufen werden, und spielen bereits an Virginies letzte Pose auf dem untergehenden Schiff an, das sie aus Europa zurück auf die Île-de-France bringen wird. Tochter eines Handlungsreisenden aus der Normandie und einer unausgesetzt Baumwolle spinnenden Mutter, wird Virginie für ihre Ausbildung von der Insel nach Paris geschickt. 135 Für ihre Reise darf sie sich alle möglichen Textilien kaufen, die sie sich wünscht. Wie Lheureux zu Emma, kommt ein Stoffhändler in Virginies Haus, der dort seine Textilien ausbreitet.136 Unter den wachsamen Augen der Mutter werden nur die besten Textilien für Virginie ausgewählt, und zwar die Stoffe »[qui] accompagnaient admirablement sa tête virginale«.137 Zusammen mit den ›passenden‹ Textilien artikuliert sich dabei explizit die Modellierung Virginies auf marianischem Vorbild im Begriff »virginale«. Aus der Ferne sendet Virginie ihrem Paul eine mit ihrer Haarsträhne bestickte Börse, an der allein Paul ihre Liebe für ihn erkennt. Die Börse wiederholt das

134 PV, S. 122. 135 PV, S. 111, 117. 136 »Cependant le bruit s’étant répandu dans l’île que la fortune avait visité ces rochers, on y vit grimper des marchands de toute espèce. Ils déployèrent, au milieu de ces pauvres cabanes, les plus riches étoffes de l’Inde; de superbes bazins de Goudelour, des mouchoirs de Paliacate et de Mazulipatan, des mousselines de Daca, unies, rayées, brodées, transparentes comme le jour, des baftas de Surate d’un si beau blanc, des chittes de toutes couleurs et des plus rares, à fond sablé et à rameaux verts. Ils déroulèrent de magnifiques étoffes de soie de la Chine, des lampas découpés à jour, des damas d’un blanc satiné, d’autres d’un vert de prairie, d’autres d’un rouge à éblouir; des taffetas roses, des satins à pleine main, des pékins moelleux comme le drap, des nankins blancs et jaunes, et jusqu’à des pagnes de Madagascar. Madame de la Tour voulut que sa fille achetât tout ce qui lui ferait plaisir ; elle veilla seulement sur le prix et les qualités des marchandises, de peur que les marchants ne la trompassent.« PV, S. 171 172. 137 PV, S. 172.

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Gartenthema; es befinden sich die marianischen Veilchen darin, Veilchensamen, die blaue Blüten treiben, und ein Brief mit der Anleitung für Paul, der mit dieser Saat einen Garten anlegen soll. Elle avait renfermé ces semences dans une petite bourse dont le tissu était fort simple, mais qui parut sans prix à Paul lorsqu’il y aperçut un P et un V entrelacés formés de cheveux, qu’il reconnut à leur beauté pour être ceux de Virginie.138

Virginie weist Paul genau an, wie er die Pflanzen aufzuziehen habe, damit sie gedeihen. Dieser macht sich auf die Suche nach einem Garten »digne d’elle«, einem besonderen Garten »[pour] y mêler les plantes de l’Europe à celle de l`Afrique, ainsi qu’elle avait entrelacés leurs noms dans son ouvrage.«139 Mit den Blumen werden gleichzeitig die verschiedensten Räume, für die die Blumen jeweils stehen, in diesem Garten vereint. Es handelt sich um eine diskursive Verschachtelung, die derjenigen in Emmas Keepsake-Bildern ähnelt und damit schließlich Flauberts ironischer Variation einer solchen Verschachtelung von heterogenen Räumen als »le tout«, als Potpourri-Bild, das im Zentrum seines ›Lektürekapitels‹ steht. Paul kümmert sich hingebungsvoll um die Pflanzen, deren blaue Blüten ihm für Virginie und ihren jetzigen Lebensort stehen, Paris. Im Garten erkennt er »quelque analogie avec le caractère et la situation de Virginie« :140 In ihm überlagern sich die Kontinente zu einem Gartenraum der romantischen Liebe, wie es in der Gartenszene der ersten unschuldigen Umarmung der beiden als Kinder angelegt ist, nämlich alle Gegenden der Welt, wie der Text es auflistet, Indien, China, Madagaskar, und nicht zuletzt Paris. Virginie kommt tatsächlich aus Paris zurück, doch stirbt sie, noch bevor sie die Insel erreicht, in der stürmischen See. Schuld daran ist das Schiff, die SaintGéran, die in Meeresstellen getrieben wird, die noch nie befahren wurden und deshalb kentert.141 Kein Rettungsboot kann das Schiff von der Insel aus durch die Barriere des tosenden Meeres erreichen.142 Die Wellen schotten Virginie auf

138 PV, S. 189. 139 Ebd. 140 PV, S. 190. 141 »Il [le vaisseau] était mouillé entre l’île d’Ambre et la terre, en deçà de la ceinture de récifs qui entoure l’Île-de-France, et qu’il avait franchie par un endroit où jamais vaisseau n’avait passé avant lui.« PV, S. 222. 142 »[…] la mer était si mauvaise qu’on n’avait pu mettre aucun bateau dehors pour aller à lui [au vaisseau] «. PV, S. 219.

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dem Schiff ab, sie ist eingeschlossen. Sie kann das Hindernis des Meeres nicht überwinden und sich schwimmend an Land retten. Virginie weigert sich nun nämlich, trotz des nackt, doch demütig vor ihr knienden und sie anflehenden »Hercule«, ihre Kleider abzulegen (sie ist eben keine »femme qui quitterait tout vêtement«). Die Zuschauer, darunter Paul, verfolgen das sich auf dem Schiff abspielende Drama von der Küste aus wie ein Theaterschauspiel. Sie sehen diesen knienden, letzten Matrosen auf dem Schiff »s’efforcer même de lui ôter les habits«, um Virginie zu retten, die nicht ins Wasser springen will.143 Eine Hand auf ihrem Herzen, eine Hand auf ihrem Kleid nimmt sie die Pose der himmelfahrenden Maria ein und geht in einer Welle, die wie eine schwarze Mauer auf das Schiff zukommt, unter.144 Mais dans ce moment, une montagne d’eau d’une effroyable grandeur s’engouffra entre l’île d’Ambre et la côte, et s’avança en rugissant vers le vaisseau, qu’elle menaçait des ses flancs noirs […] ; et Virginie, voyant la mort inévitable, posa une main sur ses habits, l’autre sur son cœur, et levant en haut des yeux sereins, parut un ange qui prend son vol vers les cieux.145

Virginie wird an Land gespült. Man findet die Tote mit einer kleinen Schachtel in der Hand, die sich als Pauls Porträt herausstellt. Als wäre sie in ihrer letzten Pose zur Statue erstarrt, wiederholen die Hände der Ertrunkenen ihre Geste auf dem Schiff exakt: eine Hand auf dem Herzen, die andere auf ihrem Kleid. Wie in Emmas und in Effis Fall handelt es sich um die Hände einer brodeuse. In ihrer zweifach auf die gleiche Weise inszenierten Pose sind die Hände ausgestellt, die Nadel und Faden gehalten haben. Elle était à moitié couverte de sable, dans l’attitude où nous l’avions vue périr. Ses traits n’étaient point sensiblement altérés […] seulement les pâles violettes de la mort se confondaient sur ses joues avec des roses de la pudeur. Une de ses mains était sur ses habits, et l’autre, qu’elle appuyait sur son cœur, était fortement fermée et roidie. J’en

143 PV, S. 224. 144 Das »passive und weibliche Element in Maria« wird typischerweise durch das Meer symbolisiert (Maria − mare, Meer). Menzel, Christliche Symbolik, Bd. II, »Maria«, S. 85 (Anm. 28). 145 PV, S. 224 225.

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dégageai avec peine une petite boîte : mais quelle fut ma surprise lorsque je vis que c’était le portrait de Paul […].146

Die Anspielung auf das als Liebespfand bestickte Etui, das die Samen dieses besonderen Gartens enthalten hat, den Paul anlegt, und hierin die Anspielung auf das Gartenthema, mit dem auch Virginies textile Handarbeit verquickt ist, findet sich in den marianischen Blumen der Rose und des Veilchens wieder, die sich in den Wangen der Ertrunkenen, die im Tode wie lebendig scheint, abbilden und miteinander verschmelzen. Mit dem so ausdrücklichen Verweis auf Bernadin de Saint-Pierres Roman, der das Klosterkapitel einläutet und der in der Chronologie des Textes abgeschlossen wird vom Aufenthalt der Heldin im textilen Viertel Saint-Gervais, ruft Flaubert nicht nur den sentimentalen Diskurs auf im Sinne einer romantischen Lektüre, um die große Mode dieses Romans über die Insel Maurizius im 19. Jahrhundert als idée reçue widerzuspiegeln. Zusammen mit der marianischen Geschichte kopiert Emma die Geschichte von Virginie; beide Geschichten sind mit und durch Flauberts Protagonistin ineinander gefügt. Als Ahnin Emmas entstammt Virginie einer Familie aus der Normandie. Ihr Vater zirkuliert zwischen den Räumen als reisender Stoffhändler; durch ihn öffnet sich die utopische Garten-Insel, Virginies romantisch-sublimem Wohnort, paradoxer Weise im ökonomischen Diskurs des Textilhandels zu den weit entferntesten Räumen hin. Diese Öffnung endet für Virginie tödlich: Sie geht mitsamt ihrem Transportmittel im unüberwindbaren, tosenden Meer unter, nachdem sie als »fille insensée dont la tête était gâtée par les romans«147 von Paris ausgeschlossen und als unerziehbar auf ihre Insel zurückgeschickt wurde. Bernadin de Saint-Pierre bedient sich zur Modellierung dieses Konfliktes, nämlich einer durch die gefährliche Öffnung des Raumes unterlaufenen Utopie, eines textilen Diskurses. Er wird über die Mariensymbolik und einen Gartenraum entfaltet, der die Insel als abgeschottete Landschaft selbst zu einem umschlossenen Garten macht. Saint-Pierre folgt dabei alten literarischen Traditionen, die den Garten als bewahrenden, glücklichen Lebensraum inszenieren. Im utopischen Raumkonzept vereint sich hier der locus amoenus der antiken Rhetorik (Vergils Eklogen, Arkadien, die Idylle) mit der Pastorale, wie sie Cervantes konzipiert hat; die Bukolik des 17. und 18. Jahrhunderts mit dem pädagogischen

146 PV, S. 226. Menzel, Christliche Symbolik, Bd. II, »Veilchen«, S. 513 (Anm. 28). Die Veilchen sind auch Madame Bovarys und Madame Arnoux’ Attribute. 147 PV, S. 216.

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Garten von Rousseaus Nouvelle Héloïse;148 und mit ihm die biblischen Gärten, vom Paradies über den erotischen Garten aus dem Hohelied bishin zum marianischen Hortus conclusus. Während Saint-Pierre in seinem Vorwort zu Paul et Virginie seine konzeptionellen Vorlagen, wie eben die Pastorale, formuliert, treibt Flaubert dieses Verschachteln von geschlossenen Landschaften, die in einem marianischen Garten zusammengeführt werden, auf die Spitze. Als poetologisches Verfahren der intertextuellen Praktik durch Bilder ist die Verschachtelung Teil seiner Ironie und damit seines Raumkonzeptes als Gartenraum, der von der Protagonistin und ihren Lektüren selbst hergestellt wird. Konsequenter Weise gibt das Kapitel über Emmas Klosteraufenthalt und ihre Lektürepathologie die Matrix preis, auf der Emmas ewiger Garten und damit der Gartenraum in Madame Bovary fußt, nämlich die Matrix zweierlei Mariengeschichten: von Virginie, die zwischen den Räumen zu zirkulieren versucht und scheitert, und von Marias Mädchenzeit, die in der Ikonographie als Hortus conclusus zum Bild geworden ist. Sedes Sapientiae und Herz Mariae Emma war (wie Maria) zur ›Tempeljungfrau‹ bestimmt und sollte als beste Schülerin des Klosters, wo sie (wie Maria) auch mit Sticken beschäftigt war, eine Braut Christi werden. Im Anschluss an das Bild der tugendhaften, gehorsamen, lesenden Maria als Sedes sapientiae »c’est elle qui répondait toujours à M. le vicaire dans les question difficiles«.149 Doch müssen die Nonnen »qui avaient si bien présumé de sa vocation« mit Erstaunen feststellen »que Mlle Rouault semblait échapper de leur soin«.150 Die für Emma so faszinierenden »belles reliures de satin« und »le papier de soie des gravures« ihrer Romane spiegeln ihre konsumorientierte Veranlagung bereits in den Mauern des Klosters wieder, die ihr weiteres Leben außerhalb des Klosters bestimmen wird.151 Marien und Virginies als »vierges pures qui montent aux ciel« (man beachte den Plural) sind für Emma nur eine weitere Inkorporation ihrer Romanheldinnen im Lichte Alphonse de Lamartines:152 1850 erzählt dieser eine Variation der für das 19. Jahrhundert so einflussreichen Mariengeschichte der Ancilla mit seiner Figur

148 Vgl. zum Pastorale-Begriff des Rousseau-Schülers Saint-Pierre, der antike und barocke Tradition vereint, Jean Ehrard: »Préface«, PV, S. 7−26. 149 MB, S. 180. 150 MB, S. 183. 151 MB, S. 182. 152 MB, S. 183.

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Geneviève, einer Magd Gottes als Näherin aus der Unterschicht, die auf die wahre Liebe verzichten muss und sich Maria verschreibt.153 So sind die Nonnen froh, als Emma mit sechzehn das Kloster verlässt:154 »Quand son père la retira de pension, on ne fut pas fâché de la voir partir.«155 Emma entkommt dem Kloster und dem Gefängnis der heiligen Mauern, die durch die Zirkulation der gefährlichen Lektüren von außen nach innen ›durchlöchert‹ werden und so andere Räume in das Inklusorium mit eintragen. Die Heldin entkommt den einschließenden Mauern, nur um sich am Ende dessen bewusst zu werden, dass ihr Ort ein ewiger Garten ist, in den kein ersehnter Bräutigam je eintreten wird, um sie daraus heilsbringend zu befreien. Emmas Klosteraufenthalt ist daher die Wurzel allen Übels: Hier erlernt die Heldin ihren Gebrauch von Büchern als Quelle marianischer Sapientia in Form einer Bilderpraktik, die zu einem Weltverständnis von Räumen führt, welche als vereinbar verhandelt werden, es aber nicht sein können. Diese Bilderpraktik offenbart sich in Emmas Konsumverhalten, das ihren Raum aufbrechen will und doch nicht zu öffnen vermag, denn nun gelangt Emma nach Yonville. Das Städtchen, markiert von einer Kitschmadonna und einer Amorstatue, trägt den religiösen Ort des Klosters als ausgelöschtes Abbaye noch im Namen und kündet von romantischer Liebe: Als Emma verheiratet aus Tostes abreist, ist die Mariengeschichte nicht überwunden, sie beginnt im Gegenteil ohne das versprochene Heil und damit konsequenter Weise einfach wieder von vorn. Es ist März, der Monat von Mariä Empfängnis.156 Doch auch das Haus in Yonville ist von Beginn an ein Inklusorium und textil markiert. Die »Mauern« des neuen Heimes sind zwar neu, doch ein Gefängnis allemal. In einem Gefühl, als senke sich schwerer, nasser Stoff auf ihre Schultern, wird die Enge des »plafond bas«, unter dem sich Emma ihrer textilen

153 Alphonse de Lamartine: Geneviève, histoire d’une servante, Paris: Wittersheim, 1

1850. Lamartines romantische Darstellung der Dienst tuenden Näherin aus dem ein-

fachen Volk war überaus erfolgreich, vgl. hierzu Eva Eßlinger: Das Dienstmädchen, die Familie und der Sex. Zur Geschichte einer irregulären Beziehung in der europäischen Literatur, München: Fink, 12013, und Vinken, Flaubert (Anm. 122), die Lamartine als Matrix von Un coeur simple liest, »Verkehrte Maria: Vögelgeschichten?«, S. 394−413. 154 Vgl. das Marienleben: »[…] Maria war sechzehn, als ihr diese geheimnisvollen Dingen passierten« – so endet die Geschichte von Mariä Verkündigung bzw. Mariä Empfängnis. PJ, Werlitz (12.3), S. 61. 155 MB, S. 184. 156 MB, S. 209.

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Handarbeit in Yonville widmet, in textilen, räumlichen Metaphern formuliert. Sie befindet sich wieder »à une place haute«, im ersten Stock; wieder dringen milchige Sonnenstrahlen als »jour blanchâtre« durch die Fenster, deren Vorhänge noch fehlen (Emma wird für sie, wie für alle Textilien in ihrem neuen Heim, ein Vermögen ausgeben). Emma, dès le vestibule, sentit tomber sur ses épaules, comme un linge humide, le froid du plâtre. Les murs étaient neufs, et les marches de bois craquèrent. Dans la chambre, au premier, un jour blanchâtre passait par les fenêtres sans rideaux.157

In der Aufzählung der Schauplätze, wo sich die Heldin bereits befunden hat, wird ihr »ewiger Garten«, der Hortus conclusus, noch einmal sichtbar: Emma gelangt zwar vom Kloster bis nach Yonville-L’Abbaye, doch ihre neue Heimat erweist sich ein viertes Mal als geschlossener Raum. Die grundsätzliche topographische Konnotation von einem möglichem Glück artikuliert sich dort ausdrücklich in den Begriffen von »endroit« und »places«. C’était la quatrième fois qu’elle couchait dans un endroit inconnu. La première avait été le jour de son entrée au couvent, la seconde celle de son arrivée à Tostes, la troisième à la Vaubyessard, la quatrième était celle-ci ; et chacune s’était trouvée faire dans sa vie comme l’inauguration d’une phase nouvelle. Elle ne croyait pas que les choses pussent se représenter les mêmes à des places différentes, et, puisque la portion vécue avait été mauvaise, sans doute ce qui restait à consommer serait meilleur.158

Wie der Text auflistet, schachteln sich in Yonville die vier »Orte« nun ineinander. Wenn die Heldin selbst nicht daran glaubt »que les choses pussent se représenter les mêmes à des places différentes«, so liefert der Text im Verb »représenter« das Schlüsselwort für die Unveränderlichkeit, die in ihrer Darstellung als marianisches Bild eingetragen ist. Ihre Geschichte wiederholt sich ein ums andere Mal, es kommt zu keiner Auflösung im Sinne einer Penelope, wie es Emmas sinn- und ziellose Handarbeit als ewige Repetition, als zirkuläre Zeit sichtbar macht: »[I]l en était de ses lectures comme de ses tapisseries, qui, toutes commencées encombraient son armoire.«159 In »consommer« und »meilleur«, wie Flaubert Emmas Einzug in Yonville beschließt, wird der kapitalistische Diskurs deutlich, mit dem bei Flaubert die marianischen Diskurse gebrochen

157 MB, S. 224. 158 MB, S. 224. Meine Hervorhebung. 159 MB, S. 260.

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werden. Den Mariendiskurs des Herzens kopiert seine Heldin als einen Konsumdiskurs des Herzens. Il fallait qu’elle pût retirer des choses une sorte de profit personnel; et elle rejetait comme inutile tout ce qui ne contribuait pas à la consommation immédiate de son cœur […].160

Auch hier handelt es sich um einen Konsum von Bildern: Der Herz Jesu- und Herz Mariä-Kult prägt das 19. Jahrhundert als Kitsch in den bürgerlichen Haushalten. Epinal-Bildchen zeigen die heiligen Figuren, wie sie mit beiden Händen ihr Herz zur Schau stellen. Oftmals öffnet Maria selbst ihren Mantel, um ihr rotes Herz zu zeigen, das mit Rosengirlanden umgürtet und zuweilen mit dem Leidensschwert durchbohrt ist und in goldenem Schein erstrahlt. Die Finger beider Hände zeigen darauf; manchmal erhebt sich die Linke zur segnenden Geste oder hält eine weißblütige Lilie. In Flauberts Text missinterpretiert die Bovary die deiktische Geste Mariens, die auf ihr selbstloses Herz verweist, als kapitalistisches Anspruchsdenken. Mit seiner Heldin profaniert der Text das Marienbild und führt es ad absurdum, indem die marianischen Semantiken umgekehrt werden. Denn Emmas Herzenskult entspringt einem Nützlichkeitsdenken, das in Selektion und Zurückweisung (»elle rejetait comme inutile tout ce qui ne contribuait pas«) als »consommation immédiate« sofort seine Wirkung zeigen muss. So weist auch Flauberts Heldin wie die Jungfrau Maria beständig auf ihr Herz und stellt sich die ihr eigene Marienfrage: Wer bin ich, dass ich mich nicht glücklich preisen kann?

M ADAME B OVARY , T EIL II: E HEFRAU , E HEBRECHERIN Fensterszenen Flaubert etabliert seine Figur mit ihrer textilen Beschäftigung und den Textilien, mit denen sie sich umgibt und die ihr Leben bestimmen, als marianische Figur im geschlossenen Raum unter Rückgriff auf die Marienikonographie als Bild im Text. Er unterläuft die damit verbunden Semantiken allerdings konsequent durch (Gebrauchs-)Objekte und Diskurse, die diese zunächst aufgerufene Sakralität ironisch, oder zynisch beinah, im gleichen Moment, da sie angestimmt wird, zunichte machen. Im Hauptschauplatz des Romans ab seinem zweiten Teil, Yonville, ist daher Emmas ehebrecherisches Verhalten auch gerade in ihrer

160 MB, S. 181.

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Inszenierung als Maria angelegt, deren »séduction« sich selbst der Apotheker Homais nicht entziehen kann.161 Die tugendhafte textile Beschäftigung der Maria − oder der Penelope − gereicht Emma im Gegenteil zur Verführung oder zum Verführungsversuch, so wie es die Gemeinde von Yonville richtig erkennt. Ihre Textilien sind erotische Objekte, die Toiletten, Battisttaschentücher, vor allem der von ihr nun kurz nach ihrer Ankunft in Yonville eigenhändig angefertigte tapis, Tempeltuch bei Maria und Altarteppich bei Effi, den sie für ihren Schwarm Léon stickt. Der geschlossene Raum der Bovary offenbart sich als solcher im Motiv der Schwelle. Dort wird sie im Roman seit ihrer ersten Inszenierung in les Bertaux beständig gezeigt, und die Schwelle affichiert mit ihr einen zentralen Konflikt zwischen einem Außen- und Innenraum, der gleichzeitig in Emmas textiler Handarbeit als Fensterszene markiert ist. Es ist ihr Zimmermädchen Virginie, die mit einer Geschichte über eine Fischerstochter aus Dieppe ein räumliches Bild für das Unglück der Hausherrin findet und deren Ausweglosigkeit allegorisch als Geschichte vom Mädchen auf der Schwelle erzählt: Elle était si triste, si triste, qu’à la voir debout sur le seuil de sa maison, elle vous faisait l’effet d’un drap d’enterrement tendu devant la porte. Son mal, à ce qu’il paraît, était une manière de brouillard qu’elle avait dans la tête, et les médecins n’y pouvaient rien, ni le curé non plus. […] Puis, après son mariage, ça lui a passé, dit-on. Mais, moi, reprenait Emma, c’est après le mariage que ça m’est venu.162

Dabei ist es eben die Ehe, die gemäß einer typischen Vorstellung des 19. Jahrhunderts die Frau von ihrem Leid, nämlich von der weiblichen Krankheit schlechthin, der Hysterie,163 durch den Mann (oder den Phallus) heilt, 164 die Emma auf der Schwelle festhält. In Flauberts Text wird dieser bürgerliche Diskurs mit dem marianischen Diskurs von einem heilenden ›Herausheiraten‹ der Jungfrau aus dem Inklusorium parallel geführt.

161 MB, S. 244. 162 MB, S. 246. 163 Zum Hysterie-Diskurs im 19. Jahrhundert vgl. Georges Didi-Huberman/Silvia Henke: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München: Fink, 11997; zur Hysterie bei Flaubert vgl. Karin Westerwelle: Ästhetisches Interesse und nervöse Krankheit: Balzac, Baudelaire, Flaubert, Stuttgart: Metzler, 11993, und Janet Beizer: Ventriloquized bodies. Narratives of hysteria in nineteenth-century France, Ithaca: Cornell University Press, 11994. 164 Vgl. hierzu Vinken, Flaubert (Anm. 122).

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Die Bovary nimmt ihre marianische »sublime Vorbestimmung« noch vor ihrem Ehebruch selbst als ein ihr auf den Leib geschriebenes Zeichen wahr. Im Rückgriff auf den romantischen Geniediskurs, wie etwa Balzac ihn aufgreift, »trägt« sie die Vorbestimmung zu Großem als »Siegel auf der Stirn«165 und wiederholt damit den Namen und die Auszeichnung Marias. Avec ses bandeaux noirs, ses grands yeux, son nez droit, sa démarche d’oiseau, et toujours silencieuse maintenant, ne semblait-elle pas traverser l’existence en y touchant à peine, et porter au front la vague empreinte de quelque prédestination sublime ?166

Ihr erster Auftritt in Yonville ist jedoch bereits der einer erotisierten Ikone und streicht somit diese im romantisierten Mariendiskurs aufgerufene »Größe« von vorneherein durch. Emmas Ankunft im Städtchen wird in einem Bild erzählt, und zwar aus der Perspektive Léons, der sich mit etlichen anderen Bewohnern von Yonville, wie u. a. dem Apotheker Homais, im Gasthaus Lion d’or befindet, als das Ehepaar Bovary eintrifft. Léons Betrachterposition im Verborgenen, hinter dem Kamin, ruft den alten Topos auf, den die Geschichte von Nemours und seiner Princesse de Clèves so schön vor Augen führt: Das marianische Bild der weiblichen Figur entsteht unter dem begehrenden Blick ihres Betrachters. Mme Bovary, quand elle fut dans la cuisine, s’approcha de la cheminée. Du bout de ses deux doigts, elle prit sa robe à la hauteur du genou, et, l’ayant ainsi remontée jusqu’aux chevilles, elle tendit à la flamme, par-dessus le gigot qui tournait, son pied chaussé d’une bottine noire. Le feu l’éclairait en entier, pénétrant d’une lumière crue la trame de sa robe, les pores égaux de sa peau blanche et même les paupières de ses yeux qu’elle clignait de temps à autre. Une grande couleur rouge passait sur elle, selon le souffle du vent qui venait par la porte entrouverte. De l’autre côté de la cheminée, un jeune homme à chevelure blonde la regardait silencieusement.167

165 Vgl. z. B. Balzacs Cénacle in Les Illusions perdues: »Tous portaient au front, comme d’Arthez, le sceau d’un génie spécial«. Honoré de Balzac: Les illusions perdues (1837−1843), introduction, notes, chronologie et bibliographie par Philippe Berthier, Paris: Flammarion, 11990, S. 238. Dieses romantische Motiv des »Stempel des Genies« findet man bereits im Werther. Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther (1774), Stuttgart: Reclam, 41993, S. 11. 166 MB, S. 244. 167 MB, S. 219.

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Unter Léons stummem Blick verschmelzen die Poren des Kleides und der Haut zu einem wie nackt erscheinenden Körper, der im »großen Licht« des Feuers erleuchtet und durchleuchtet wird, als wäre er ganz von Licht durchdrungen. Auch unter Rodolphes Blick wird Emma in der »dorure« eines Barometers erstrahlen, die als »feux dans la glace« das Zimmer ausleuchtet.168 Léon kann in seiner stillen Verehrung den Blick nicht von Emma wenden. Ihre Ausstrahlung ist die einer Heiligen, wie es eine spätere, direkt mit dieser ersten Begegnung der beiden verbundene Szene sehr deutlich macht: Als die hier im Lion d’or sich scheinbar anbahnende Liebschaft nicht zustande gekommen war, ist Emmas Marienschein förmlich erkaltet, in dem sie hier erstrahlt; es umgibt sie eine Aura »comme l’on frissonne dans les églises« und damit dennoch ein Schein der Superlative, der »prédestination sublime«. Elle était si triste et si calme, si douce à la fois et si réservée, que l’on se sentait près d’elle pris par un charme glacial, comme l’on frissonne dans les églises sous le parfum des fleurs mêlé au froid des marbres. Les autres même n’échappaient point à cette séduction. Le pharmacien disait : »C’est une femme de grands moyens et qui ne serait pas déplacée dans une souspréfecture.« Les bourgeoises admiraient son économie, les clients sa politesse, les pauvres sa charité. Mais elle était pleine de convoitises, de rage, de haine. Cette robe aux plis droits cachait un cœur bouleversé, et ces lèvres si pudiques n’en racontaient pas la tourmente.169

Die Kirche ist im Marienbild, das der Text von Emma gibt, stets ein Ort der »séduction«, wie auch die Kathedrale in Rouen die Heldin als »boudoir gigantesque« umschließt, als es nun doch zu einer Affaire mit Léon kommt (der Ehebruch vollzieht sich nach dem gemeinsamen Treffen in der Kirche in einer Kutsche). Zu ihrem Schutz vor Léons Verführung sucht sich Emma in der Kathedrale ein Marienbild und huldigt der Heiligen: »Et brusquement elle retira sa main, pour entrer dans la chapelle de la Vierge, où, s’agenouillant contre une chaise, elle se mit en prière.« So wie Emmas Handarbeit Léon geärgert hatte (»Cet ouvrage irritait Léon«),170 ärgert ihn jetzt ihre Marienverehrung: »Le jeune homme fut irrité de cette fantaisie bigote«.171

168 MB, S. 287. 169 MB, S. 244. 170 MB, S. 242. 171 MB, S. 363.

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Der Apotheker Homais anerkennt die Bovary wie Marias Priester die Jungfrau als »femme de grands moyens«; wie in der Mariengeschichte Maria, wird Emma von der Gemeinde für ihre (hier vollkommen bürgerlichen) Tugenden verehrt, für Sparsamkeit, Höflichkeit, und – ganz marianisch – ihre Wohltätigkeit. Doch all dies, wie auch ihre Inszenierung im hehren »großen« Licht, ist nur Schein: Homais’ »grands moyens« sind bereits nur die »sous-préfecture«, über dem Feuer unter den Blicken von Léon dreht sich im Lion d’or ein sehr profanes Abendessen am Spieß, Emma lüpft ihre Röcke,172 und es verschlingen sie »les appétits de la chair, les convoitises d’argent et les mélancolies de la passion«.173 Unter den »Stofffalten« nämlich sieht ihr Herz nicht gerade marianisch aus, wie es sich in einem Gejammer über das Textil, das sie nicht haben kann, das Glück, das ihr fehlt und ihre architektonische Enge äußert. Elle s’irritait d’un plat mal servi ou d’une porte entrebâillée, gémissait du velours qu’elle n’avait pas, du bonheur qui lui manquait, de ses rêves trop hauts, de sa maison trop étroite.174

Diese zum geschlossenen Garten dazugehörende, drückende, einengende Architektur des Hauses der Bovary in Yonville als »longue pièce à plafond bas«, in der sie stickt, ist Teil des im Bild des Hortus conclusus marianisch erzählten Konflikts von Innen und Außen und figuriert in zahlreichen textilen Szenen in Kunst und Literatur als Fensterszene.175 Anders als in den Versionen von Mariae Verkündigung in Fontanes Text und Rossettis Gemälde, wo im grünenden Garten und dem harmonischen Zusammensein von Mutter und Tochter die Idylle heraufbeschworen wird, herrscht bei der Inszenierung der textilen Handarbeit am neuen Schauplatz YonvilleL’Abbaye, so beginnt das vierte Kapitel des zweiten Teils von Madame Bovary, Winter. Seit der ersten Kälte verbringt die Heldin ihre Zeit im Wohnzimmer, »longue pièce à plafond bas où il y avait, sur la cheminée, un polypier touffu

172 Riffaterre spricht in Bezug auf Madame Bovary und L’Education sentimentale von einem »skirt code«, der den Ehebruch anzeige: »[S]exuality is skirt-lifting, and the metonym for a loose woman is a liftable skirt«; Madame Arnoux’ Röcke, im Gegensatz zu Emmas, sind in Flauberts Text »insoulevable«. Riffaterre, »Flaubert’s Presuppositions«, S. 188 189 (Anm. 128). 173 MB, S. 245. 174 Ebd. 175 MB, S. 234.

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s’étalant contre la glace«.176 Dieses Zimmer ist in eigentümlicher Weise – die Beschreibung liefert keine weiteren Details – von einer Pflanze markiert, von einer Koralle nämlich, einer ihre buschigen Äste »ausbreitenden«, toten Pflanze, die noch einmal vom Spiegel, vor dem sie steht, gedoppelt wird. Der Spiegel ist ein klassisches Mariensymbol, der das Bild von textiler Handarbeit anzeigt, so wie es Hunt mit seiner Lady of Shalott in Szene setzt.177 Emma sitzt am Fenster und stickt, und zwar, wie erst einige Seiten später klar wird, an einem »Teppich« aus Samt und Wolle für Léon.178 Ihn sieht sie auf seinem Weg zum Mittag- und Abendessen im Wirtshaus Lion d’or, bei dem sich die beiden erst kürzlich kennengelernt hatten, zweimal täglich an ihrem Fenster vorbeigehen. Assise dans son fauteuil, près de la fenêtre, elle voyait passer les gens du village sur le trottoir. Léon, deux fois par jour, allait de son étude au Lion d’or. Emma, de loin, l’entendait venir ; elle se penchait en écoutant ; et le jeune homme glissait derrière le rideau, toujours vêtu de même façon et sans détourner la tête. Mais au crépuscule, lorsque, le menton dans sa main gauche, elle avait abandonné sur ses genoux sa tapisserie commencée, souvent elle tressaillait à l’apparition de cette ombre glissant tout à coup. Elle se levait et commandait qu’on mît le couvert.179

Weniger sieht Emma Léon, als ihn vielmehr schon akustisch zu antizipieren: »Emma, de loin, l’entendait venir«. Ihr Fenster scheint, trotz der Kälte, offen zu stehen, wie sonst könnte sie den jungen Mann hören, wie er sich ihrem Haus nähert? Nun heißt es in alten Kirchenliedern, die unbefleckte Empfängnis der Maria werde bei der Verkündigung übers Ohr empfangen, über Gottes Wort. Deshalb neigt Maria in der Ikonographie den Kopf leicht nach rechts (so zeigt es

176 MB, S. 234 235. 177 Menzel, Christliche Symbolik, Bd. II, »Spiegel«, S. 400 (Anm. 28). Den »polypier«, als »Koralle« (»corail«) weist Neefs in seiner Anmerkung zu dieser Textstelle als »objet décoratif« der Zeit aus. Flaubert, Gustave: Madame Bovary, préface, notes et dossier par Jacques Neefs, Paris: Librairie Générale Française, 22008, S. 182, Anm. 2. 178 Czyba spricht vom Fenster als einem Leitmotiv in Madame Bovary. Lucette Czyba: »Écriture, corps et sexualité chez Flaubert«, in: Jean Guillaumin (Hrsg.): Corps Création. Entre Lettres et Psychanalye, Lyon: Presses Universitaires de Lyon, 1

1980, S. 93–104.

179 MB, S. 235.

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etwa Stefan Lochners Muttergottes in der Rosenlaube).180 Jedes Mal, wenn sie Léon kommen hört, spitzt Emma daher die Ohren, beugt sich zum Fenster hin und sieht den jungen Mann, der sich nicht umdreht, hinter dem Vorhang verschwinden. Wieder beschneidet bei dieser ›Verkündigungsszene‹ ein Vorhang − so wie in Rossettis Mariengemälde − den Blick. Gemäß der Skizze, die Flaubert von Yonville angelegt hat, ist der Blick von Emmas Haus auf das Wirtshaus, in das Léon tagtäglich einkehrt, durch die Markthallen verstellt.181 Es handelt sich also hier nicht um den Türvorhang der Gaststätte, hinter dem Léon verschwindet, sondern um den Vorhang vor Emmas Fenster, der wie Spiegel, Koralle, textile Handarbeit, Stuhl und Fenster Bestandteil ihres marianischen Inklusoriums ist. Nachdem Emma also den ganzen Tag am Fenster sitzend mit dem Sticken zugebracht hat, tut bei Sonnenuntergang Léons abermalige Erscheinung ihre ganz besondere Wirkung. Emma »avait abandonné sur ses genoux sa tapisserie commencée«, den Kopf stützt sie dabei in ihre linke Hand, in der rechten hält sie wohl noch die Nadel auf ihrem Schoß. Plötzlich schaudert sie, »elle tressaillait à l’apparition de cette ombre«. Léon ist nurmehr ein Schatten, der vorbeihuscht und offensichtlich nicht zu sehen, sondern nur zu hören ist, und Emma erschreckt sich ganz ähnlich wie die junge Maria, die, nachdem sie ihre Handarbeit unterbrochen hat, die unheimliche, körperlose Stimme aus dem Off hört. So eine »apparition« kennt man bei Flaubert aus der berühmten Anfangsszene der Éducation sentimentale: »Ce fût comme une apparition« ist der wohl am häufigsten zitierte Flaubert-Satz, der den erotischen Tanz einer Prostituierten auf seiner Orientreise beschreibt und eigentlich von Flauberts Jugendfreund Maxime Du Camp stibitzt ist.182 Er leitet in der Éducation den ersten Auftritt der ›Heiligen‹ Marie Arnoux als Marienbildnis im Diskurs von Mariä Verkündigung ein.183 Diese sich täglich wiederholende Prozedur des Wartens, Hörens und Sehens der Bovary scheint trotz beständiger Wiederholung ihrer Erregung keinen Abbruch zu tun. Mit der Aussicht, dass Léon für heute zum letzten Mal an ihrem Fenster vorbeigeht, endet diese beinahe heiligen Routine jäh: Emma erinnert sich an ihren tatsächlichen Ehemann, und Flaubert schließt die Szene mit abrupter, kruder Nüchternheit: »Elle se levait et commandait qu’on mît le couvert.«

180 Menzel, Christliche Symbolik, Bd. II, »Ohr«, S. 172 (Anm. 28). 181 Auf diese Skizze komme ich en détail im Kapitel zu Gartenräumen zu sprechen. 182 Vinken, Flaubert, S. 325 (Anm. 122). 183 Ebd. S. 324 und Anm. 107, S. 537.

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Léon dagegen, die tägliche Erscheinung, auf die Emma wartet, während sie am Fenster sitzt und stickt, findet eines Tages das fertige Textil, das plötzlich wie hingezaubert in seinem Schlafzimmer liegt: Un soir, en rentrant, Léon trouva dans sa chambre un tapis de velours et de laine avec des feuillages sur fond pâle, il appela Mme Homais, M. Homais, Justin, les enfants, la cuisinière, il en parla à son patron ; tout le monde désira connaître ce tapis;184

Anstatt den Verliebten das Textil in die Hand nehmen, fühlen, Emmas Duft darin riechen zu lassen, beschreibt der Text knapp und präzise sein Material (Samt und Wolle) und seinen Gegenstand (Blätterwerk auf blassem Grund) und lässt Léon − der Satz geht ohne Punkt atemlos weiter − alle Leute herbeirufen. Jeder möchte diese Handarbeit nicht nur sehen, sondern erkennen: anfassen, drehen und wenden, dran riechen. Im Bezug auf das Marienbild, auf dem die Heldin modelliert ist, verweist dieser Teppich, der ein Pflanzenmotiv zeigt, auf die Geschichte des Hortus conclusus; die gewählte Begrifflichkeit »connaître« für die sinnliche Erfahrung eines Textils mag bereits den weltlichen, sexuellen Diskurs anzeigen, für den diese Handarbeit jedoch steht: Der Euphemismus für Sex ist in der Bibel das männliche »Erkennen« der Frau. 185 Eben diese Interpretation des tapis folgt im Text auf dem Fuße: […] tout le monde désira connaître ce tapis ; pourquoi la femme du médecin faisait-elle au clerc des générosités ? Cela parut drôle, et l’on pensa définitivement qu’elle devait être sa bonne amie. Il le donnait à croire, tant il vous entretenait sans cesse de ses charmes et de son esprit, si bien que Binet lui répondit une fois fort brutalement : »Que m’importe, à moi, puisque je ne suis pas de sa société !« Il se torturait à découvrir par quel moyen lui faire sa déclaration ; et, toujours hésitant entre la crainte de lui déplaire et la honte d’être si pusillanime, il en pleurait de découragement et de désirs.186

Der Verdacht der Gemeinde vom Liebespfand scheint gerechtfertigt, denn Léon hört nun gar nicht mehr auf, von der Handarbeiterin zu schwärmen, die ihm metonym für diese générosité, das Textil, geworden ist, und er vergießt in der

184 MB, S. 237. 185 Z. B. »Adam connut sa femme Hava«, Cahen-Bibel, Bd. I, Genèse 4,1, S. 17 (Anm. 80). 186 MB, S. 237.

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Unfähigkeit, Emma seine Liebe zu offenbaren, bittere Tränen unerfüllten Begehrens. Diese offenbar so unüberwindbare Schwelle zwischen Emma und Léon, die das Fenster mit seinen Vorhängen markiert und eine Liebschaft in Yonville verhindert, nehmen Léon von außen und Emma von innen in ähnlicher Weise wahr. Wie eine Maria erscheint Emma Léon »si vertueuse et inaccessible«, dass er die Hoffnung aufgibt.187 Als er nach Rouen abreist und das Intermezzo zwischen den beiden ohne Liebeserfüllung zunächst einmal zuende ist, dreht Léon sich dieses eine Mal nach Emma um. Quand il fut sous les halles, il s’arrêta, et il se cacha derrière un pilier, afin de contempler une dernière fois cette maison blanche avec ses quatre jalousies vertes. Il crut voir une ombre derrière la fenêtre, dans la chambre ; mais le rideau, se décrochant de la patère comme si personne n’y touchait, remua lentement ses longs plis obliques, qui d’un seul bond s’étalèrent tous, et il resta droit, plus immobile qu’un mur de plâtre.188

Wie Léon für Emma, wird nun sie für ihn zum Schatten jenseits der Schwelle; und die Vorhänge erstarren in Léons Vorstellung konsequenter Weise tatsächlich zu einer undurchdringlichen Wand. Emma trauert nach seiner Abreise weniger über Léon selbst, als um das, wofür er stand, »le seul espoir possible d’une félicité!«189 [L]es murailles de la maison semblaient garder son ombre. Elle ne pouvait détacher sa vue de ce tapis où il avait marché, de ces meubles vides où il s’était assis. La rivière coulait toujours, et poussait lentement ses petits flots le long de la berge glissante. Ils s’y étaient promenés bien des fois, à ce même murmure des ondes, sur les cailloux couverts de mousse. Quels bons soleils ils avaient eus ! quelles bonnes après-midi, seuls, à l’ombre, dans le fond du jardin ! Il lisait tout haut, tête nue, posé sur un tabouret de bâtons secs ; le vent frais de la prairie faisait trembler les pages du livre et les capucines de la tonnelle...190

187 MB, S. 243. Diesen Diskurs der Unerreichbarkeit als marianisches Bild arbeitet Flaubert in L’Éducation sentimentale mit der Figur Marie Arnoux en détail aus. Vgl. Michel Raimond: »Le réalisme subjectif dans L’ Éducation sentimentale«, in: Raymonde Debray-Genette (Hrsg.): Travail de Flaubert, Paris: Seuil, 11983, S. 93–102, und Czyba, »Écriture, corps et sexualité chez Flaubert« (Anm. 178). 188 MB, S. 255. 189 MB, S. 258. 190 Ebd.

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Die zusammengehörenden Versatzstücke des Hortus conclusus, Mauern und Garten, inszenieren hier der Marienikonographie entsprechend eine Leseszene, die jedoch durch den romantischen Diskurs Emmas angereichert und erotisiert wird. In ihren Erinnerungen und gleichsam in den sie umgebenden Mauern eingeschrieben verbleibt Léon der Schatten, der sie an ihrem Fenster sitzend erschreckte. Ihre Augen heften sich wie bei ihrem Sticken erneut auf einen tapis, nun der Teppich, auf den Léon trat und damit (wie ihr selbst gemachtes Textil für ihn an ihrer statt) nun für sie metonymisch erotisch besetzt ist. Emmas Erinnerungen gipfeln so auch im zu einer Geschichte gewordenen Bild von einem heimelig-romantischen, idyllischen Garten (bzw. einer Laube) mit blühender Kapuzinerkresse. Die Lektüre findet an der Schwelle diese Gartens statt, »dans le fond du jardin«; das Motiv des Windes, der die Weite des Umlandes in die räumliche Enge des in seiner Geschlossenheit hier recht paradiesisch anmutenden Gartens einträgt, stellt diese als existenzielle Enge der Heldin vor. Es ist April, als Léon Yonville und Emma zunächst verlässt und diese mit Nachbar Rodolphe ihren ersten Ehebruch begeht. Flaubert führt diese Ereignisse – nämlich die Abreise und die Ankunft eines zukünftigen Liebhabers (auch León wird schließlich Emmas Geliebter werden) – wie folgt ein: Un soir que la fenêtre était ouverte, et que, assise au bord, elle [Emma] venait de regarder Lestiboudois, le bedeau, qui taillait le buis, elle entendit tout à coup sonner l’Angelus. On était au commencement d’avril, quand les primevères sont écloses ; un vent tiède se roule sur les plates-bandes labourées, et les jardins, comme des femmes, semblent faire leur toilette pour les fêtes de l’été.191

Wieder einmal sitzt Emma am offenen Fenster, wieder einmal hört sie »plötzlich« etwas: Diesmal sind es nicht die Schritte Léons, sondern das AngelusLäuten, das Ave Maria, das in der Variation Flauberts den Auftritt von Rodolphe angekündigt. Sofort wird dieses Läuten mit einem Gartenmotiv zusammengebracht: den blühenden Gärten, die wie die Damen festliche »Toilette machen«, und dem Buchs schneidenden (und ansonsten auf dem Friedhof Kartoffeln anpflanzenden) »Gärtner« und eigentlichem Küster Lestiboudois,192 dem Emma zusieht. Die ironisierende Besonderheit dieses ganz alltäglichen Geläuts wird

191 MB, S. 246. 192 MB, S. 213, 450. Jean-Baptiste Lestiboudois war tatsächlich ein französischer Botaniker des 18. Jahrhunderts, der 1737 eine Abhandlung über die Vorzüge des Kartoffelanbaus veröffentlichte.

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noch einmal durch den nachgereichten Kommentar evident, dass es Lestiboudois mit dem Angelus nicht so genau nehme, »il tintait l’Angelus selon sa commodité«.193 Bereits in der Première Éducation sentimentale von 1845 taucht das Angelus-Läuten in ganz ähnlicher Weise auf, nämlich als Ursache einer »suspension rêveuse«, als akustisches Zeichen für die Erwartung − oder die Versprechung gar − einer Liebeserfüllung. Der junge Henry, der hier in Flauberts Version der Balzac’schen Femme de trente ans verliebt ist,194 Emilie Renaud nämlich, lauscht von seinem Zimmer aus auf deren allabendlich wiederkehrende Schritte. Auch Emilie ist eine textil beschäftigte Maria im Hortus conclusus, deren Unerreichbarkeit in ihrem sich zum Garten hin öffnenden und schließenden Fenster markiert ist: […] [L]e retour habituel de cette fenêtre qui se fermait et s’ouvrait, et ce bruit calme de pas féminins revenant ainsi chaque soir, avant de s’endormir, tenait son [Henrys] esprit dans une espèce de suspension rêveuse ; c’était, pour lui, comme pour d’autres le chant du coq ou l’angélus.195

Die eigenartige Gleichsetzung von Hahnengesang und Angelus-Geläut in diesem Text erinnert bereits an den ›Kartoffelbauer‹ der in Madame Bovary die Kirchenglocken läutet. Tatsächlich findet man in der Einführung dieser verheirateten Marienfigur aus der ersten Textversion der Éducation sentimentale als Vorgängerin von Marie Arnoux überraschend viele Details wieder, die in sehr ähnlichem Wortlaut in Madame Bovary wiederkehren (in Flauberts Jugendtext sind die Anspielungen an den Mariendiskurs im Bild textiler Handarbeit jedoch derart offensichtlich und auf eine so platte Art und Weise sexualisiert, dass dieser frühe Marienversuch des zu der Zeit 24-Jährigen schmunzeln macht). So bringt Mme Renaud ihre Tage wie Emma nähend oder lesend zu, am Fenster sitzend im

193 MB, S. 247. 194 Oder vielmehr Flauberts Version des Père Goriot: M. und Mme Renaud sind nämlich Pensionsbesitzer und beherbergen den jungen Henry in ihrer »pension spéciale ad hoc et sui generis« mit grüner Eingangstür und »une manière de jardin anglais avec des montagnes et des vallées« im Hinterhof. Gustave Flaubert: L’Éducation sentimentale (1845), in: Gustave Flaubert: Œuvres complètes I. Œuvres de jeunesse, Édition établie par Claudine Gothot-Mersch et Guy Sagnes, Paris: Gallimard, 22001 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 835−1080. Hier: S. 843. 195 Flaubert, L’Éducation Sentimentale (1845), S. 848.

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Winter, im Garten sitzend im Sommer;196 auch ihre Hand weist Mankos auf, etwas zu fleischig und zu kurz, aber dennoch »une main sensuelle«,197 und sie stickt (mit dieser Tätigkeit kommt sie im Roman zum ersten mal vor) ebenso ein Pflanzenmotiv auf Samt für einen Mann: »[elle] lui avait brodé une calotte grecque fond de velours brun avec des fleurs bleues«;198 »un tapis de velours et de laine avec des feuillages sur fond pâle« stickt Emma für Léon. Es ist Mittwoch und damit Markttag in Yonville, als in Madame Bovary nun Rodolphe erscheint. Da, wo Léon sich versteckt und einen letzten schmachtenden Blick auf Emmas Fenster geworfen hatte, nämlich hinter den Pfeilern der »halles«, ist nun alles mit Karren und Textilien vollgestopft, mit Baumwollwaren und blauen Bändern, Pferdedecken und Strümpfen. La Place, dès le matin, était encombrée par une file de charrettes qui, toutes à cul et les brancards en l’air, s’étendaient le long des maisons depuis l’église jusqu’à l’auberge. De l’autre côté, il y avait des baraques de toile où l’on vendait des cotonnades, des couvertures et des bas de laine, avec des licous pour les chevaux et des paquets de rubans bleus, qui par le bout s’envolaient au vent.199

Emma sitzt mit leeren Händen am Fenster im ersten Stock und sieht dem Markttreiben zu, als sie Rodolphe erblickt, der schnurstracks auf ihr Haus zusteuert. Ihr fällt als erstes ins Auge, was dieser Monsieur, als trage er das Gartenthema buchstäblich auf dem Leibe, anhat: einen grünen Samtrock. Auf der Landwirtschaftsmesse, auf der sich die beiden wiedersehen, werden es Rodolphes blankgewichste Stiefel sein, in denen sich das grüne Gras spiegelt (»Elles [ses bottines] étaient si vernies que l’herbe s’y reflétait«).200 Wie in der Première

196 »L’hiver elle se tenait dans sa chambre, assise entre la fenêtre et la cheminée, occupé à coudre où à lire«. Sobald im Frühling die ersten Lilien blühten, »elle allait avec son ouvrage se placer dans la tonelle« und pflegte – anders als Emma, die die Gartenarbeit nicht mag – dort ihre Rosen. In ihrem Duft sind diese marianischen Blumen wie auch diese marianische Dame »d’une manière toute sensuelle« ausdrücklich erotisch besetzt. Ebd., S. 846. 197 »C’était une main un peu grasse peut-être, et trop courte aussi, mais liante dans ses mouvements, garnie de fossettes au bas des doigts, chaude et potelée, rose, molle, onctueuse et douce, une main expressive – une main sensuelle». Ebd., S. 849. 198 Ebd., S. 844. 199 MB, S. 261. 200 MB, S. 272.

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Éducation ist der männlichen Figur auch hier mit den Textilien bzw. der Bekleidung das Gartenmotiv quasi auf den Leib geschrieben und damit die marianische Geschichte vom in den Garten eintretenden, glücksbringenden Ehemann textil erzählt. Auch Rodolphe wird für Emma zu einem solchen »ehelichen« Liebhaber werden.201 Emma était accoudée à sa fenêtre (elle s’y mettait souvent : la fenêtre, en province, remplace les théâtres et la promenade), et elle s’amusait à considérer la cohue des rustres, lorsqu’elle aperçut un monsieur vêtu d’une redingote de velours vert. Il était ganté de gants jaunes, quoiqu’il fût chaussé de fortes guêtres ; et il se dirigeait vers la maison du médecin, suivi d’un paysan marchant la tête basse d’un air tout réfléchi.202

Die eleganten gelben Handschuhe, die so gar nicht zu den Arbeitsgamaschen passen wollen, weisen mitsamt dem grünen Rock den Ankömmling als Mann höherer Stellung aus. Sofort bestätigt Rodolphes Selbstauskunft bei den Domestiken »sur le seuil« seinen Stand als Schlossbesitzer und vielmehr noch als reicher Junggeselle: »Il vivait en garçon, et passait pour avoir au moins quinze mille livres de rentes!« (man beachte Flauberts Kursivsetzung und als Gipfel der Ironie, die die bourgeoise Denke ausstellt, das Ausrufezeichen).203 Der Bauer in Rodolphes Begleitung, Zweck des Besuches, lässt sich von Charles zur Ader lassen. Als dieser und der in Emma verliebte Justin vor lauter Blut in Ohnmacht fallen, schreit Charles nach seiner Frau. »D’un bond, elle descendit l’escalier«, als hätte sie darauf gewartet, endlich gerufen zu werden. Wie man es von ihrem ersten Auftritt im Roman kennt, als sie Charles zum ersten mal sieht, nämlich als sie Kissen für die Schienen näht, mit denen die beiden das gebrochene Bein ihres Vaters verarzten, macht sich Emma als Krankenschwester am Textil des umgekippten Justin zu schaffen. Vor den Augen Rodolphes löst sie den Knoten seiner Hemdbänder, und ein Schlaglicht fällt für »quelques minutes« auf ihre Finger, die Finger der textilen Handarbeiterin, die das feine Taschentuch aus Battist halten. Mme Bovary se mit à lui retirer sa cravate. Il y avait un nœud aux cordons de la chemise; elle resta quelques minutes à remuer ses doigts légers dans le cou du

201 »[…] [A]u bout de six mois, quand le printemps arriva, ils se trouvaient, l’un vis-àvis de l’autre, comme deux mariés qui entretiennent tranquillement une flamme domestique.« MB, S. 301. 202 MB, S. 262. 203 Ebd.

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jeune garçon ; ensuite elle versa du vinaigre sur son mouchoir de batiste ; elle lui en mouillait les tempes à petits coups et elle soufflait dessus, délicatement.204 Es ist nicht nur Emmas Pariser Chic, der Rodolphes Interesse auf sich zieht und sich bereits in diesem Taschentuch zeigt, ihre »tournure comme une Parisienne« als sich auf den Kacheln ausbreitende, bauschende Stoffbahnen, sondern auch Emmas für den Verlauf der amourösen Geschichte vielsagendes Straucheln, als sie sich bückt.205 [D]ans le mouvement qu’elle fit en s’inclinant, sa robe (c’était une robe d’été à quatre volants, de couleur jaune, longue de taille, large de jupe), sa robe s’évasa autour d’elle sur les carreaux de la salle ; − et, comme Emma, baissée, chancelait un peu en écartant les bras, le gonflement de l’étoffe se crevait de place en place, selon les inflexions de son corsage.206

Erst in Retrospektive wird evident, welch großen Eindruck Emma hier auf Rodolphe machte. Sie sieht ihn über das Feld nach Hause gehen, »se ralentissant de temps à autre, comme quelqu’un qui réfléchit«,207 und Rodolphe überlegt tatsächlich, und zwar wie er Emma verführen könnte. Er, der sie später im Wald mit dem klischéehaftesten Satz »Vous êtes dans mon âme comme une madone sur un piédestal, à une place haute, solide et immaculée« herumkriegen wird,208 sieht sie von der ersten Begegnung an als Bild (»il revoyait Emma dans la salle, habillée comme il l’avait vue, et il la déshabillait«).209 Er sieht sie in ihrem Inklusorium und in den Stoffbahnen um sie herum, die sich auf den Bodenfliesen ausbreiten und damit als marianisches Bild, wie es Flauberts Entwurf noch sehr deutlich anzeigt: »Wie ein Dom« breiten sich dort Emmas Röcke auf den Fliesen aus.

204 MB, S. 263. 205 MB, S. 264. 206 MB, S. 263. 207 MB, S. 264. 208 MB, S. 291. Nur wenige Zeilen später bleibt Emmas Kleid an Rodolphes Samtrock hängen (»Le drap de sa robe s’accrochait au velours de son habit») und sie gibt sich hin. 209 MB, S. 265.

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[D]ans le mouvement qu’elle fit en s’inclinant, sa robe (c’était une robe d’été à quatre volants, de couleur jaune, longue de taille, large de jupe), sa robe [à la façon d’un dôme] s’évasa autour d’elle sur les carreaux de la salle […]. 210

Die Idee, Emma zu verführen, resultiert aus Rodophes Eindruck von ihr als schickem Marienbild, als Pariser Maria, die Gegenstand sexuellen Begehrens wird. Bei seinem zweitem Auftritt bei Emma (und damit seinem erstem Auftritt als Verführer) verfestigt sich dieser Diskurs der Marienverführung in den gleichen Versatzstücken wie im Fall Léons. Es tauchen auf die Vorhänge, der Sonnenuntergang, der Spiegel und der Korallenstock davor, sogar Emmas Schreck, den ihr Erblassen verrät. [E]n entrant dans la salle, il aperçut Emma pâlir. Elle était seule. Le jour tombait. Les petits rideaux de mousseline, le long des vitres, épaississaient le crépuscule, et la dorure du baromètre, sur qui frappait un rayon de soleil, étalait des feux dans la glace, entre les découpures du polypier.211

Hinzu kommt nun Emmas Name, den Rodolphe als Grund ausweist, warum er so lange auf seinen nächsten Besuch habe warten lassen, »ce nom qui remplit mon âme«. Er meint nicht den Namen »Madame Bovary«, wie er eindrücklich herausstellt, sondern ihren Vornamen, ihren »großen« Mariennamen, so wie es die Mariengeschichte erzählt: »›Maria, Gott, der Herr, hat deinen Namen groß gemacht‹«.212 Il la regarda encore une fois, mais d’une façon si violente qu’elle baissa la tête en rougissant. Il reprit : »Emma... — Monsieur !« fit-elle en s’écartant un peu. »Ah ! vous voyez bien«, répliqua-t-il d’une voix mélancolique, »que j’avais raison de vouloir ne pas revenir ; car ce nom, ce nom qui remplit mon âme et qui m’est échappé, vous me l’interdisez ! Madame Bovary !... Eh ! tout le monde vous appelle comme cela !... Ce n’est pas votre nom, d’ailleurs ; c’est le nom d’un autre!«213

210 Brouillons, vol. 2, folio 273 v/Séquence 256: II, chap. 7: La saignée du paysan. 211 MB, S. 287. 212 PJ, Werlitz, S. 81. 213 MB, S. 287.

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Emmas Nachname Bovary, bemerkt Rodolphe, »c’est le nom d’un autre«, der von ihrem Ehemann Charles, der ihren eigentlichen Namen lächerlich macht und beschmutzt: »[L]e ridicule de son [Charles’] nom allait désormais la salir«,214 so wird es Emma selbst nach der katastrophalen Klumpfussoperation feststellen, die ihr endgültig vor Augen führt, dass sie – »elle qui était si intelligente!« – den Falschen geheiratet hat. Bitter empfindet sie diese Ehe als »bassesses du mariage, du ménage«, als Erniedrigung ihrer selbst und zugleich damit als Erniedrigung ihres Inklusoriums, ihres Haushaltes, der ja gemäß ihres marianischen Namens der Ort ihres Glückes sein sollte.215 Im Namen dieses lächerlichen Ehemanns Charles Bovary, den Emma nichts desto weniger trägt, ist die Größe ihres marianischen Namens von vorneherein ironisch verkehrt. Rodolphe verfolgt nun hart den Kurs der Verführung und wiederholt dabei die romantische Pose der vor dem Inklusorium der Angebeteten schmachtenden Ritter aus Emmas Keepsakebildern, die schon Léon nachgestellt hatte. Er erzählt seine eigene Pose für Emma als Bild von einem Verführer, wie er ihren Keepsakes entsprungen sein könnte. Den Blick auf den Garten, auf Emmas Fenster und ihren Schatten dahinter gerichtet, habe er mitten in der Nacht im Mondlicht vor ihrem Haus gewartet. Der romantische Diskurs der mondbeschienenen Szenerie, auf den Rodolphe effektvoll zurückgreift, wiederholt auf höchst ironische Weise den Mond als Mariensymbol, der für Mariä Empfängnis steht: So endet sein Verführungsversuch in der Tat in einer Empfängnis, als Sex im Wald. Das Liebesgeständnis, zu dem Léon nie den Mut hatte, figuriert als Klimax eines Diskurses, der sämtliche Gemeinplätze von mittelalterlicher Minne über romantische Staffage bishin zum Bild der unerreichbaren, weggesperrten Maria auffährt und entlockt so der Heldin einen Schluchzer aus tiefster Seele. Mais, si je ne suis pas venu, continua-t-il, si je n’ai pu vous voir, ah ! du moins j’ai bien contemplé ce qui vous entoure. La nuit, toutes les nuits, je me relevais, j’arrivais jusqu’ici, je regardais votre maison, le toit qui brillait sous la lune, les arbres du jardin qui se balançaient à votre fenêtre, et une petite lampe, une lueur, qui brillait à travers les carreaux, dans l’ombre. Ah ! vous ne saviez guère qu’il y avait là, si près et si loin, un pauvre misérable... Elle se tourna vers lui avec un sanglot. » Oh ! vous êtes bon ! dit-elle.

214 MB, S. 314. Meine Hervorhebung. 215 MB, S. 313.

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— Non, je vous aime, voilà tout ! Vous n’en doutez pas ! Dites-le-moi ; un mot ! un seul mot! «216

Rodolphe erzählt sich nicht nur selbst als romantisches Bild für Emma, sondern er erzählt ihr ihr eigenes Bild als Maria im geschlossenen Raum. Wenn er nicht früher kam, um sie zu sehen, erklärt er, so habe er zumindest ihr Inklusorium von außen betrachtet, »j’ai bien contemplé ce qui vous entoure« – eine Lüge wohl, die das von ihm im Wald heranzitierte Marienbild »in seiner Seele« von Emma als »madone sur un piédestal, à une place haute, solide et immaculée«217 vorwegnimmt, das ja ebenso eine Lüge ist. Insbesondere dieses »solide« Bild von Emma als Maria ist aus Rodolphes Munde wie auch in Flauberts Bilderpraktik als pure Ironie ausgestellt, denn gleich zu Beginn wird diese Solidität durch Emmas Straucheln und Rodolphes initiale Fantasie, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, gründlich durchgestrichen – wie auch Rodolphe nur eine Handvoll Sand an Emmas Fenster werfen muss, um diese Mauern, die sie umgeben, zu durchbrechen: Der Liebhaber, der, und zwar immer wieder, in den Garten tritt, lockt seine Angebetete für den Ehebruch von ihrem »place haute« herunter: aus dem ersten Stock. Er tut dies mit der immerselben Geste: »Rodolphe jetait contre les persiennes une poignée de sable«, und Emma, die im ehelichen Schlafzimmer darauf wartet, dass Charles endlich einschläft, »s’échappait en retenant son haleine, souriante, palpitante, déshabillée«.218 Nach dem ernüchternden Ehebruch markieren in Emmas wehmütigen Erinnerungen an ihre Mädchenzeit Bienen, die an die Scheibe prallen, ihr dortiges Inklusorium in ganz ähnlicher Weise wie der von Rodolphe geworfene Sand Emmas Fenster in Yonville. Dieses Fenster ist somit ein weiteres Mal als unüberwindbare Schwelle des Hortus ausgestellt und wieder in einem akustischen Code formuliert, in einem trommelnden Geräusch nämlich (in les Bertaux war es das Klacken der Fensterläden), das in Rodolphes Fall tatsächlich ein Anklopfen ist: Elle se rappela des soirs d’été tout pleins de soleil. Les poulains hennissaient quand on passait, et galopaient, galopaient... Il y avait sous sa fenêtre une ruche à miel, et quelquefois les abeilles, tournoyant dans la lumière, frappaient contre les carreaux comme des balles d’or rebondissantes. Quel bonheur dans ce temps-là ! quelle liberté ! quel espoir ! quelle abondance d’illusions ! Il n’en restait plus maintenant ! Elle en avait

216 MB, S. 278 288. Meine Hervorhebung. 217 MB, S. 291. 218 MB, S. 299.

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dépensé à toutes les aventures de son âme, par toutes les conditions successives, dans la virginité, dans le mariage et dans l’amour ; − les perdant ainsi continuellement le long de sa vie, comme un voyageur qui laisse quelque chose de sa richesse à toutes les auberges de la route.219

In Emmas Erinnerungen wird les Bertaux im goldenen Licht zu einem tatsächlich glücklichen Hortus conclusus. Der Bienenkorb vor dem Fenster und die wie »goldene Kugeln« an die Scheiben schlagenden und davon regelrecht zurückprallenden, Honig produzierenden Insekten markieren die Schwelle zwischen dem Außen- und Innenraum. Sie rufen die süße Hoffnung auf einen eintretenden Ehemann auf, die zusammen mit den Schlagworten »virginité«, »mariage« und »amour« in einer auf einander aufbauenden, kausalen Reihenfolge Marias Geschichte als Gartenszene vor Augen stellen. Zusammen mit »bonheur« und »espoir« ist diese kausale Reihe in marianischen Emotionen artikuliert und damit die Szene als Hortus conclusus komplett. In dieses Gartenbild eingebettet ist die Frage nach persönlicher Freiheit (»liberté«), die konsequenter Weise als räumliche Freiheit erzählt wird, als Opposition von einem Innen- und Außenraum, einem Diesseits und Jenseits des Fensters, wie es auch die draußen fröhlich galoppierenden Fohlen noch einmal anzeigen. Die »Abenteuerzeit« von Emmas Seele (»toutes les aventures de son âme«) verbindet sich dabei in geradezu Bachtin’scher Manier als Chronotopos des Weges mit dem Reisen von Ort zu Ort. Anders als die Helden der Abenteuerromane, die von Station zu Station neue Gefahren meistern, neue Freunde und wertvolle Erkenntnisse gewinnen (wie beispielsweise im antiken Roman der Goldene Esel oder im Bildungsroman der Romantik), gewinnt Emma auf diesen »Reisen« ihrer malträtierten Seele nichts hinzu. Im Gegenteil: Nach und nach scheint sie alles zu verlieren, »[…] perdant ainsi continuellement le long de sa vie, comme un voyageur qui laisse quelque chose de sa richesse à toutes les auberges de la route«. Vor Emmas Fenster steht nun mit Rodolphe sehr wohl ein erhoffter Verehrer, der die im Bienenkorb gegenständlich gewordene Süße der Liebeshoffnung jedoch nur als leere Worte wiederholt.220 Rodolphe appelliert zwar an den hehren marianischen Diskurs im Bild der eingeschlossenen Maria auf dem »Podest«. Dieses meint jedoch nur Emma im ersten Stock, aus dem sie in jenen Garten herunterkommt, in den er so leicht eindringen konnte. Rodolphes ›Marienvereh-

219 MB, S. 302. 220 Vgl. zum Motiv der Süße und zum leeren, »auswendigen« Wort in Madame Bovary: Vinken, Flaubert, S. 85 96 (Anm. 122).

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rung‹ stellt einen einzigen schnöden Gemeinplatz eines Bilderwissens dar, dessen salbungsvolle Worte ausschließlich zu Verführungszwecken ausgesprochen werden. Es ist sein »bon sens bourgeois«, der die Bilder, die er für Emma nacherzählt und nachstellt, im gleichen Moment wie sie aufgerufen werden zerstört.221 Das Bild der Maria im geschlossenen Garten wird von Rodolphe als eine immergleiche, sinnlos wiederholte Bildersprache in Kopien erotisiert, profaniert und entheiligt, derer er sich eben auch bedient zum Zweck einerseits der Verführung, andrerseits aber um Emma bei Laune zu halten, die diese Sprache so gerne hört. Il [Rodolphe] s’était tant de fois entendu dire ces choses, qu’elles n’avaient pour lui rien d’original. Emma ressemblait à toutes les maîtresses ; et le charme de la nouveauté, peu à peu tombant comme un vêtement, laissait voir à nu l’éternelle monotonie de la passion, qui a toujours les mêmes formes et le même langage. Il ne distinguait pas, cet homme si plein de pratique, la dissemblance des sentiments sous la parité des expressions.222

Rodolphes romantischer Diskurs ist als bürgerlich-klischéehafter Umgang mit Bildern entlarvt: Diese Bildsprache mitsamt der Originalbildern, die er erzählt und an die er appelliert, sind selbst Gemeinplätze und »ähneln« sich so wie Emma allen Geliebten ähnelt: »Emma ressemblait à toutes les maîtresses«. Es ist eben dieser unoriginelle Bezug der Ähnlichkeiten jener (Bild-)Kopien, die ihre Überlagerung im Text ermöglicht. Diese sind Bilder weder »neu« noch »originell«, sondern in ihrer Wiederholung abgenutzt, monoton, ewig dieselben. Durch Rodolphe werden sie als nützliche Bilder aufgefahren, die dem Zweck der Verführung dienen und die ihrerseits in der Wiederholung allen Reiz verliert (»le charme de la nouveauté, peu à peu tombant comme un vêtement, laissait voir à nu l’éternelle monotonie de la passion«). Die Sublimierung, die das marianische Bild von Emma im romantischen Diskurs erfährt und dabei gleichzeitig gründlich unterlaufen wird, ist nur ein weiterer Gemeinplatz des praktisch veranlagten, erfahrenen Verführers Rodolphe. Flauberts Bild von Emma als Maria stellt somit über die Figur des Rodolphe ein Oszillieren zwischen profan und sakral bereits in seinem Entstehungsprozess als Ironie aus. Diese Ironie entspringt der bürgerlichen Denke als einem Diskurs der Nützlichkeit, die sich in Gestalt des Verführers und seinen benutzten Bildern selbst vorführt. Dabei ermöglicht Emmas Inszenierung am

221 »L’exaltation d’Emma, que son bon sens bourgeois dédaignait, lui semblait au fond du cœur charmante, puisqu’elle s’adressait à sa personne.« MB, S. 300. 222 MB, S. 319.

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Fenster, d. h. an bzw. auf der Schwelle als ihrem ständigen Ort, als Ankerpunkt die Überlagerung all der Bilder im Text möglich, durch die die Figur und ihr Raum konstituiert wird. Die Schwelle wird dabei zu einem Grenzraum erhoben, wie sie auch Michail Bachtin in seinen Überlegungen zum Chronotopos als einen eigenen Raum definiert: Ein weiterer, von hoher emotional-wertmäßiger Intensität durchdrungener Chronotopos ist die Schwelle. Dieser Chronotopos kann sich auch mit dem Motiv der Begegnung verbinden, seine wesentlichste Ergänzung aber ist der Chronotopos der Krise und des Wendepunkts im Leben. Allein das Wort »Schwelle« hat ja schon im Redeleben (neben seiner realen Bedeutung) eine metaphorische Bedeutung erlangt und sich mit dem Moment des Wendepunkts im Leben, der Krise, der das Leben verändernden Entscheidung verknüpft (oder auch mit dem Moment des Zauderns, der Furcht vor dem Überschreiten der Schwelle). In der Literatur ist dieser Chronotopos immer metaphorisch und symbolisch […].223

Emma zeigt ihren Raum als ewigem Hortus conclusus mit der Schwelle an, auf der sie beständig gezeigt wird, wenn ihre Schauplätze im Roman sich auch ändern mögen. Flaubert erhebt damit den Hortus conclusus, der einen Innenraum mit klarer Grenze zu einem Außen darstellt, zu einem Schwellenraum: Die Dichotomie von Innen und Außen löst sich erst in der Überlagerung von Bildern auf, die unvereinbar sind, aber als vereinbar suggeriert werden – durch die Bilderpraktik der Figur und die Bilderpraktik als poetologischem Verfahren Flauberts in gleichem Maße. Die verschiedenen Raummodelle aus Minne, marianischem Diskurs und bourgeoisem Heim werden diffus übereinander gelegt und verwischen so die Grenze, für die die Schwelle steht. Somit ist Flauberts Version des normannischen Hortus conclusus als Schwellenraum auch nicht stabil, wie es die Horti conclusi bei Fontane oder in den Gemälden der Raffaeliten sind. Beständig mit Bildern von anderen Gartenräumen angereichert und überblendet, wankt Emmas Gartenraum zwischen den semantischen Doppelungen, durch die er erschaffen wird, hin und her, ohne sich in einen offenen Raum aufzulösen: Er bleibt unüberwindbar.

223 Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hrsg. v. Edwald 1

Kowalski und Michael Wegner, Frankfurt a.M.: Fischer,

1989, S. 198. Bachtins Hervorhebung.

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Verführung im Garten Der Wunsch, diese Schwelle übertreten zu können, drückt sich in den Fluchtplänen aus, die Emma mit Léon und Rodolphe imaginiert: »Des tentations la prenaient de s’enfuir avec Léon, quelque part, bien loin, pour essayer une destinée nouvelle«.224 Was zunächst vager Fluchtimpuls ist, wird im Fall von Rodolphe zum konkreten Plan, der die Affäre zwischen den beiden in ähnlichen Versatzstücken beendet, wie sie beginnt. Denn Rodolphe schickt Emma den Brief, in dem er endgültig mit ihr bricht, in einem Korb voll Aprikosen, die, in ein Textil eingewickelt, auf Gartengrün gebettet sind. Dieser Korb als Vehikel für Rodolphes Absage wiederholt noch einmal jenen Garten, in dem die beiden sich geliebt hatten; und das marianische Licht, in dem Emma bislang gezeigt war, wendet sich nun als »Feuersbrunst« geradezu lebensgefährlich gegen sie. Rodolphe se fit cueillir une corbeille d’abricots. Il disposa la lettre dans le fond, sous des feuilles de vigne, et ordonna tout de suite à Girard, son valet de charrue, de porter cela délicatement chez Mme Bovary. Il se servait de ce moyen pour correspondre avec elle, lui envoyant, selon la saison, des fruits ou du gibier. […] Mme Bovary, quand il arriva chez elle, arrangeait avec Félicité, sur la table de la cuisine, un paquet de linge. »Voilà, dit le valet, ce que notre maître vous envoie.« Elle fut saisie d’une appréhension, et, tout en cherchant quelque monnaie dans sa poche, elle considérait le paysan d’un œil hagard, tandis qu’il la regardait lui-même avec ébahissement, ne comprenant pas qu’un pareil cadeau pût tant émouvoir quelqu’un. Enfin il sortit. Félicité restait. Elle n’y tenait plus, elle courut dans la salle comme pour y porter les abricots, renversa le panier, arracha les feuilles, trouva la lettre, l’ouvrit, et, comme s’il y avait eu derrière elle un effroyable incendie, Emma se mit à fuir vers sa chambre, tout épouvantée.225

Emma ergreift vor diesem Korb und seinem Inhalt fluchtartig das Weite – und landet doch nur wieder auf dem Dachboden, von dem aus sie sich in den Tod stürzen will. In dieser »mansarde close« scheint die Hitze mitsamt der Dachschindeln auf Emma herabzusinken und erinnert an den »plafond bas« ihres foyer. Dieser auf diese Weise artikulierten architektonischen Enge ist die Weite der Felder entgegengesetzt – Emmas Fluchtversuch endet an der Schwelle der Mansardenluke, scheitert an ihrem geschlossenen Raum.

224 MB, S. 245. 225 MB, S. 330 331.

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[E]lle continua vivement à monter les marches, haletante, éperdue, ivre, et toujours tenant cette horrible feuille de papier, qui lui claquait dans les doigts comme une plaque de tôle. Au second étage, elle s’arrêta devant la porte du grenier, qui était fermée. Alors elle voulut se calmer ; elle se rappela la lettre ; il fallait la finir, elle n’osait pas. D’ailleurs, où ? comment ? on la verrait. »Ah ! non, ici, pensa-t-elle, je serai bien.« Emma poussa la porte et entra. Les ardoises laissaient tomber d’aplomb une chaleur lourde, qui lui serrait les tempes et l’étouffait ; elle se traîna jusqu’à la mansarde close, dont elle tira le verrou, et la lumière éblouissante jaillit d’un bond. En face, par-dessus les toits, la pleine campagne s’étalait à perte de vue.226

Emmas Garten als Ort dieser Liebschaft mit Rodolphe ist vom Beginn dieser Affäre an durch Texte markiert, nämlich die Liebesbriefe, die sich die beiden gegenseitig im Garten hinterlassen, der schließlich zum Treffpunkt selbst wird. Wieder tritt Emma dabei stets nur an die äußerste Grenze dieses geschlossenen Gartens, »au bout du jardin«, am Rande des Wassers: À partir de ce jour-là, ils s’écrivirent régulièrement tous les soirs. Emma portait sa lettre au bout du jardin, près de la rivière, dans une fissure de la terrasse. Rodolphe venait l’y chercher et en plaçait une autre, qu’elle accusait toujours d’être trop courte.227

Rodolphe schleicht an ihr Fenster heran und lockt sie damit aus dem Haus in den Garten. In Nachtwäsche doppelt Emma das weiße Kleid der unbefleckten Maria im erotischen Diskurs und umhüllt sich nun mit einer ebenso erotischen Version des umhüllenden Marienmantels, der den Himmel auf die Erde holen soll und den nun der Liebhaber für sie ausbreitet: »Rodolphe avait un grand manteau ; il l’en enveloppait tout entière«. Der Mantel ist grundsätzlich ein Symbol des Schutzes und begleitet so die bei Flaubert stets unterlaufene Semantik des schützenden geschlossenen Gartens mit den Mänteln all der begehrenden, männlichen Figuren – Charles, Léon, Rodolphe. Als »Königin des geistigen Himmels« wird Maria in der Ikonographie mit den für den Menschen sichtbaren Elementen des Himmel dargestellt, Sonne, Mond und Sterne. Während der Sonnennimbus um die Mariengestalten im 16./17. Jahrhundert aufkam, ist es bereits seit dem Mittelalter usus, Maria auf dem Mond stehend darzustellen. Der mit

226 MB, S. 331. 227 MB, S. 294.

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Sternen verzierte blaue Mantel Mariens jedoch scheint eine Erfindung der Romantik zu sein, und so figuriert er in Flauberts Roman:228 Pendant tout l’hiver, trois ou quatre fois la semaine, à la nuit noire, il arrivait dans le jardin. Emma, tout exprès, avait retiré la clef de la barrière, que Charles crut perdue. Pour l’avertir, Rodolphe jetait contre les persiennes une poignée de sable. Elle se levait en sursaut ; mais quelquefois il lui fallait attendre, car Charles avait la manie de bavarder au coin du feu, et il n’en finissait pas. Elle se dévorait d’impatience ; si ses yeux l’avaient pu, ils l’eussent fait sauter par les fenêtres. Enfin, elle commençait sa toilette de nuit ; puis, elle prenait un livre et continuait à lire fort tranquillement, comme si la lecture l’eût amusée. Mais Charles, qui était au lit, l’appelait pour se coucher. »Viens donc, Emma, disait-il, il est temps. — Oui, j’y vais !« répondait-elle. Cependant, comme les bougies l’éblouissaient, il se tournait vers le mur et s’endormait. Elle s’échappait en retenant son haleine, souriante, palpitante, déshabillée. Rodolphe avait un grand manteau ; il l’en enveloppait tout entière, et, passant le bras autour de sa taille, il l’entraînait sans parler jusqu’au fond du jardin. C’était sous la tonnelle, sur ce même banc de bâtons pourris où autrefois Léon la regardait si amoureusement, durant les soirs d’été. Elle ne pensait guère à lui maintenant. Les étoiles brillaient à travers les branches du jasmin sans feuilles. Ils entendaient derrière eux la rivière qui coulait, et, de temps à autre, sur la berge, le claquement des roseaux secs. Des massifs d’ombre, çà et là, se bombaient dans l’obscurité, et parfois, frissonnant tous d’un seul mouvement, ils se dressaient et se penchaient comme d’immenses vagues noires qui se fussent avancées pour les recouvrir.229

Diese Laube war bereits der sommerliche Ort für die Schwärmerei mit Léon; das Glück scheint jetzt im Winter in Gestalt von Rodolphe wahrhaftig eingetreten. Doch so wie dieser Emma von Beginn an mit seinem zielführenden, kitschigen Verführungsdiskurs von der Ikone zum erotischen Bildchen einer entkleideten, entblößten Maria erniedrigt, ist der Ort dieser Verführung von Beginn an ein »vergammelter« marianischer Garten. Zwar ist mit der Erinnerung an Léon im duftenden, blumenreichen Garten samt Gewässer der marianische Raum aufgerufen, doch war bereits mit Léon diese Bank, auf der Emma in ihrem Garten sitzt, als der Unterbau ihres Hortus conclusus als glücklichem Ort, verrottet. Selbst im Winter noch, »pendant tout l’hiver«, stellt sich dieser Garten als ver-

228 Menzel verweist diesbezüglich auf eine Quelle von 1836. Menzel, Christliche Symbolik, Bd. II, »Maria«, S. 91 (Anm. 28). 229 MB, S. 299.

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kehrter Hortus conclusus dar: Es leuchten die marianischen Sterne durch die Zweige hindurch, sogar der Himmel mit seinen sich bauschenden Schatten, die sich herabsenken und das Paar umhüllen, wiederholt den weiten, glücksvoll umhüllenden Marienmantel, in den Rodolphe Emma in erotischer Umarmung einschließt. Auch Blumen bleiben Bestandteil des Szenarios, der Jasmin trägt im Winter natürlich keine Blätter, doch selbst die »roses« der marianischen Vorlage tauchen als trockene »roseaux«, als Schilf, auf. Als Ort des Glücksversprechens zersetzt sich dieser Garten jedoch nicht allein durch das ›falsche‹ Versatzstück der verrotteten Bank, sondern insbesondere durch den Diskurs ironisierter Romantik in der zynisch-opportunistischen Denke Rodolphes. Den romantischen Diskurs als weltfremde Lebensweisheit, die Emma aus ihren Romanen hat und den sie auf geradezu religiöse Weise aus tiefstem Herzen wiederholt, gibt Rodolphe in einer Argumentation des der puren Lust entsprungenen pro und contras wieder: D’ailleurs, elle devenait bien sentimentale. Il avait fallu échanger des miniatures, on s’était coupé des poignées de cheveux, et elle demandait à présent une bague, un véritable anneau de mariage, en signe d’alliance éternelle. […] Mais elle était si jolie ! il en avait possédé si peu d’une candeur pareille ! Cet amour sans libertinage était pour lui quelque chose de nouveau, et qui, le sortant de ses habitudes faciles, caressait à la fois son orgueil et sa sensualité. L’exaltation d’Emma, que son bon sens bourgeois dédaignait, lui semblait au fond du cœur charmante, puisqu’elle s’adressait à sa personne.230

Diese winterliche Gartenszene, die sich ständig wiederholt (»tout l’hiver«), wird in Emmas Wunsch nach einem veritablen Ehering trotz Rodolphes Widerstand hartnäckig und nun ganz eindeutig als Hortus conclusus ausgewiesen, im Stichwort der »alliance éternelle« nämlich, für die das Bild des Hortus steht. Bei Regenwetter muss Charles’ Sprechzimmer als Liebesnest herhalten, eingezwängt zwischen Wagenschuppen und Pferdestall,231 und während Emma ihren Liebhaber wie einen Prinzen empfängt und sich und ihr foyer mit Rosen und blütenweißer Wäsche schmückt,

230 MB, S. 300. 231 MB, S. 299.

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Quand il devait venir, elle emplissait de roses ses deux grands vases de verre bleu, et disposait son appartement et sa personne comme une courtisane qui attend un prince. Il fallait que la domestique fût sans cesse à blanchir du linge,232

mündet die ersehnte sublime Liebe letzten Endes in einem schalem Abklatsch der erhofften »alliance«. Das marianische Licht, das »grand feu«, das Emma umgab, ist zur »flamme domestique« verkommen, Emma selbst zur Kurtisane, die die Liebe nach den Wünschen Rodolphes vollzieht und mit Angst und Demütigung bezahlt. […] Rodolphe, de moins en moins, cacha son indifférence. Elle ne savait pas si elle regrettait de lui avoir cédé, ou si elle ne souhaitait point, au contraire, le chérir davantage. L’humiliation de se sentir faible se tournait en une rancune que les voluptés tempéraient. Ce n’était pas de l’attachement, c’était comme une séduction permanente. Il la subjuguait. Elle en avait presque peur. Les apparences, néanmoins, étaient plus calmes que jamais, Rodolphe ayant réussi à conduire l’adultère selon sa fantaisie ; et, au bout de six mois, quand le printemps arriva, ils se trouvaient, l’un vis-à-vis de l’autre, comme deux mariés qui entretiennent tranquillement une flamme domestique.233

Konsequenter Weise muss sich Emma, als sie mit Rodolphe tatsächlich fliehen will, der sie versetzen wird, ihren eigenen weiten Mantel zulegen. Der Mantel begleitet den erotischen Diskurs, für den ihr Hortus conclusus steht, als fester Bestandteil – auch Léon besitzt, wie er ihr selbst versichert, einen solchen Mantel. Als sich die beiden vor Léons Abreise verabschieden, steht Emma wieder einmal am Fenster. Mme Bovary, le dos tourné, avait la figure posée contre un carreau ; Léon tenait sa casquette à la main et la battait doucement le long de sa cuisse. »Il va pleuvoir, dit Emma. — J’ai un manteau, répondit-il.234

Dass dies nicht irgendein Mantel ist, macht Emmas Reaktion deutlich. Ihr scheinbar so gelangweiltes »Ah!« ist die Artikulation einer Erkenntnis: Wie auf

232 MB, S. 316. 233 MB, S. 301. 234 MB, S. 255.

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eine Marienstatue aus Marmor fällt nun das Licht auf Emmas Stirn, diese Stirn mit dem Stempel ihrer »prédéstination sublime«.235 — Ah!« Elle se détourna, le menton baissé et le front en avant. La lumière y glissait comme sur un marbre, jusqu’à la courbe des sourcils […].236

»J’aurais besoin d’un manteau, un grand manteau, à long collet, doublé«, bestellt Emma also für ihre Flucht beim Stoffhändler Lheureux, dem auch sofort ihre Liebesaffäre schwant (»Décidément, pensa Lheureux, il y a du grabuge làdessous«).237 Als sie sich zum letzten Mal mit Rodolphe im Garten trifft, läuft dieser wieder einmal nachdenkend über die Felder nach Hause und kommt zu dem Entschluss, Emma sitzen zu lassen. Auch er dreht sich, wie Léon, diesmal nach Emma um und sieht sie in dieser finalen Szene ihrer Romanze wieder als die reine Maria in weißer Wäsche, als die er sie bei ihrem ersten Treffen als Bild im Kopfe hatte. Dieser letzte Anblick Emmas trifft Rodolphe derart, dass er an einem Baum Halt sucht, und Emma ist wieder eine ›falsche‹ Maria, keine marianische Erscheinung, sondern ein romantischer Geist, ein sich auflösendes Phantom: »[Q]uand il la vit avec son vêtement blanc peu à peu s’évanouir dans l’ombre comme un fantôme, il fut pris d’un tel battement de cœur, qu’il s’appuya contre un arbre pour ne pas tomber.«238 Eine der berühmtesten Textstellen aus Madame Bovary etabliert nun diesen sommerlichen Garten ihrer letzten Begegnung, der u. a. durch das Thema der weißen Wäsche, die Emma trägt, mit seiner winterlichen Version verbunden ist, zum Ort für eine zum Greifen nahe Hoffnung auf Glück durch den Fluchtplan als Ausbruchsversuch. Die Passage ruft alle Versatzstücke des Hortus conclusus auf, die bisher von Rossetti über Effi Briest bishin zu Flauberts Text zur Sprache kamen, vom »Vorhang« aus Bäumen, dem »Tuch« aus dichtem Blattwerk, über Mondschein und Gewässer bishin zur lauen, mit Blumenduft erfüllten Luft und sogar Tieren und Früchten. C’était le mois prochain qu’ils devaient s’enfuir. Elle partirait d’Yonville comme pour aller faire des commissions à Rouen. […] La lune, toute ronde et couleur de pourpre, se

235 MB, S. 244. 236 MB, S. 255. 237 MB, S. 324. Meine Hervorhebung. 238 MB, S. 327.

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levait à ras de terre, au fond de la prairie. Elle montait vite entre les branches des peupliers, qui la cachaient de place en place, comme un rideau noir, troué. Puis elle parut, éclatante de blancheur, dans le ciel vide qu’elle éclairait ; et alors, se ralentissant, elle laissa tomber sur la rivière une grande tache, qui faisait une infinité d’étoiles ; et cette lueur d’argent semblait s’y tordre jusqu’au fond, à la manière d’un serpent sans tête couvert d’écailles lumineuses. Cela ressemblait aussi à quelque monstrueux candélabre, d’où ruisselaient, tout du long, des gouttes de diamant en fusion. La nuit douce s’étalait autour d’eux ; des nappes d’ombre emplissaient les feuillages. Emma, les yeux à demi clos, aspirait avec de grands soupirs le vent frais qui soufflait. Ils ne se parlaient pas, trop perdus qu’ils étaient dans l’envahissement de leur rêverie. La tendresse des anciens jours leur revenait au cœur, abondante et silencieuse comme la rivière qui coulait, avec autant de mollesse qu’en apportait le parfum des seringas, et projetait dans leur souvenir des ombres plus démesurées et plus mélancoliques que celles des saules immobiles qui s’allongeaient sur l’herbe. Souvent quelque bête nocturne, hérisson ou belette, se mettant en chasse, dérangeait les feuilles, ou bien on entendait par moments une pêche mûre qui tombait toute seule de l’espalier.239

Der Ausgang der Geschichte ist auch hier im Bild von einem Garten angelegt, in dem die inszenierten Objekte wie Symbole in einem Bildraum figurieren. Sie werden durch einen romantischen Diskurs noch einmal sakralisiert, um eben dort durch bittere Ironie aufs krasseste umgekehrt und entheiligt zu werden: Der Vorhang ist schwarz und durchlöchert, das Wasser »befleckt«, die Lichtstrahlen erscheinen wie ein »monströser Kandelaber« und schlimmer noch, wie eine kopflose Schlange, die an den heillosen Sündenfall erinnert. Die einzelne, süße Frucht, der Pfirsich, ist schließlich so überreif, dass er mit einem Plumps vom Baum fällt. Der Stoffhändler Der kapitalistisch-ruinöse Diskurs des Konsums, der im Kloster bereits den sakralen Raum des Hortus conclusus zu einem Marktplatz verkommen lässt, an dem die Mädchen heimlich von draußen in die heiligen Mauern geschmuggelte Keepsakes kursieren lassen, bekommt in Yonville eine Gestalt. Während des Umzugs des Paares Bovary nach Yonville tritt bei dieser Kutschfahrt zum ersten Mal der Stoffhändler Lheureux auf, eine wahrhaft unheilvolle Figur des Ruins, die von Beginn an für die Öffnung von Räumen steht. Lheureux zirkuliert im ganzen pays und dringt als Verführer in Emmas Hortus conclusus ein. Unter

239 MB, S. 324−326.

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seiner Anleitung belügt und bestiehlt Emma ihren Mann, um an Geld für den Ankauf seiner Waren zu kommen: Textilien.240 Das »Glück« in Gestalt von Lheureux öffnet mit seinen Waren von Paris nach Rouen bis hinein nach Yonville Emmas Raum im Handel mit den Textilien, an denen sie zugrunde geht. Die Öffnung des Raumes ist daher für Emma fatal, sie hat eine tatsächlich tödliche Wirkung. Wie eine geradezu diabolische Gestalt,241 wie ein gefallener Engel also, erscheint Lheureux im Hause Emmas nicht am helllichten Tag, sondern bei Einbruch der Nacht und zwar nachdem Emma wie in einer Erleuchtung verstanden hatte,242 dass Léon in sie verliebt sein musste: »Elle ne put s’empêcher de sourire, et elle s’endormit l’âme remplie d’un enchantement nouveau«. Emmas Hoffnung auf Veränderung scheint sich zu erfüllen, denn prompt erscheint im anschließenden Satz auch schon die Engelsgestalt, die dieses »Neue« feilbietet: »Lheureux, marchand de nouveautés«:243

240 Madame Bovary verkauft zum Beispiel ohne Charles’ Wissen eine Immobilie aus seiner ersten Ehe, um an Geld zu kommen. »Et Lheureux tira de son coffre-fort le reçu de dix-huit cents francs, qu’elle lui avait donné lors de l’escompte Vinçart. ›Croyez-vous, ajouta-t-il, qu’il [Charles] ne comprenne pas votre petit vol, ce pauvre cher homme?‹ Elle s’affaissa, plus assommée qu’elle n’eût été par un coup de massue.« MB, S. 409. 241 Lheureux ist in der Flaubertforschung wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Die wenigen Arbeiten zu dieser Figur weisen jedoch alle auf den »diabolischen« Charakter der Figur hin. Mary Orr analysiert diesen Charakter in einem zerstörerischen, kapitalistischen Diskurs um Sex, Geld und Ruin; Mary Orr: Madame Bovary. Representations of the masculine, Bern: Lang, 11999 (Le romantisme et après en France, 3), S. 76−93. Für Peter Rogers steht Lheureux, etwas wild interpretiert, sowohl für die Schlange im Paradies als auch für den Verräter Judas; Rogers, The mystery play in Madame Bovary, S. 114−118 (Anm. 27). Das Diabolische der Figur resultiert in der Tat aus seiner Konzeption als Luzifer, als Verführer aus der Unterwelt also, und gleicht darin, wie Orr en passant sehr treffend bemerkt, der Balzac’schen Verführer-Figur Vautrin (S. 91). 242 »Toutes les preuves à la fois s’en étalèrent, son cœur bondit. La flamme de la cheminée faisait trembler au plafond une clarté joyeuse; elle se tourna sur le dos en s’étirant les bras. Alors commença l’éternelle lamentation: »Oh! si le ciel l’avait voulu! Pourquoi n’est-ce pas? Qui empêchait donc?...« MB, S. 239 240. Meine Hervorhebung. 243 Meine Hervorhebung.

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Le lendemain, à la nuit tombante, elle reçut la visite du sieur Lheureux, marchand de nouveautés. C’était un homme habile que ce boutiquier. Né Gascon, mais devenu Normand, il doublait sa faconde méridionale de cautèle cauchoise. […] On ignorait ce qu’il avait été jadis : porteballe, disaient les uns, banquier à Routot, selon les autres. Ce qu’il y a de sûr, c’est qu’il faisait, de tête, des calculs compliqués, à effrayer Binet lui-même. Poli jusqu’à l’obséquiosité, il se tenait toujours les reins à demi courbés, dans la position de quelqu’un qui salue ou qui invite.244

Wie ein Schauspieler stellt Lheureux die Marienverehrung als theatralisch übertriebenen Gruß nach. Er wiederholt damit den Gruß des Verkündigungsengels, Je vous salue, Marie (Gegrüßet seist du Maria), das Ave Maria also, für das auch das tägliche Angelusläuten steht, das Emmas Fensterszenen begleitet. Nicht nur »grüßt« der Textilienhändler jedoch, er »lädt ein«. Er verführt zum Ruin und breitet vor Emmas nun verführerisch seine Ware aus. Noch kann sie ihm widerstehen (»› Comme j’ai été sage !‹ se disait-elle en songeant aux écharpes «).245 In seiner Konzeption als Engelsfigur stellt Lheureux Flauberts Version von Balzacs diabolischer Verführerfigur Vautrin alias Carlos Herrera dar. Als Angehöriger des »troisième sexe« (Balzacs Euphemismus für Homosexuelle) entstammt Herrera, der vorgibt Priester zu sein, als gefallener Engel tatsächlich der ›Hölle‹, dem heißen Süden nämlich: Spanien. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird dieses Land an der Schwelle zum Orient grundsätzlich selbst als orientalischer Raum verhandelt, aus dem die Verführerfiguren stammen – insbesondere die Verführerinnen, die Kurtisanen, Schauspielerinnen und Huren.246 Als Figur des »bagne«, als Knastbruder also, verkörpert Vautrin in Balzacs Romanen das kapitalistische Verbrechertum. Mit seinem durch dunkle Geschäfte errungenen Vermögen verhilft er jungen, schönen Männern zu einem triumphalen gesellschaftlichen Aufstieg, den diese mit ihrem moralischen Abstieg bezahlen; sie werden selbst zu Verbrechern und verraten ihre hehren, romantischen Ideale. Vautrin verführt dabei auf zweierlei Weise. Nicht nur erkennt er scharfsichtig die Charakterschwächen seiner Opfer und vergiftet sie förmlich mit seinen geschickten Diskursen, sondern der Verführung mit Worten folgt die

244 MB, S. 240. 245 MB, S. 242. 246 Vgl. exemplarisch für die Romantik Alfred de Mussets Gedicht »L’Andalouse« und für den Realismus Balzacs jüdische Kurtisane Esther. Alfred de Musset: »L’Andalouse«, in: A.M.: Premières poésies, Paris: Bibliothèque Larousse, 345 67 89 2 :  ;  =? 1 Splendeurs et misères des courtisanes 18292 (1838−1846), Édition de Pierre Barbéris, Paris: Gallimard, 11973.

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Verführung durch Taten: Die jungen Männer bezahlen für den Aufstieg, den Vautrin ihnen ermöglicht, in dem sie zu seinen Geliebten werden. Hierzu schreibt Flaubert 1853 an Louise Colet: Les héros pervers de Balzac ont, je crois, tourné la tête à bien des gens. La grêle génération qui s’agite à Paris, autour du pouvoir et de la renommée, a puisé dans ces lectures l’admiration bête d’une certaine immoralité bourgeoise, à quoi elle s’efforce d’atteindre. J’ai eu des confidences à ce sujet. Ce n’est plus Werther ou Saint-Preux que l’on veut être, mais Rastignac, ou Lucien de Rubempré.247

Lucien de Rubempré, Balzacs effeminierte Poetenfigur, begegnet Herrera/Vautrin in den Illusions perdues; der Folgeroman Splendeurs et misères des courtisanes erzählt vom unvergleichlichen sozialen Aufstieg, zu dem Herrera Lucien verhilft. Bei ihrer ersten Begegnung an einem Gewässer, in dem sich der ruinierte Poet, einen Blumenstrauß in der Hand, ertränken möchte, stellt sich Herrera als »abbé« aus »Tolède« vor und beteuert demütig: »Je ne suis qu’un humble prêtre«. Er kündigt an, sich vor Lucien verbeugen zu wollen (»je plierais devant vous«) und fragt ihn daraufhin in ironischem Unterton:248 »Ah! mon enfant, […] vous attendiez-vous à trouver l’ange Gabriel dans un abbé chargé de toutes les iniquités de la contre-diplomatie de deux rois […]?«249 Die Angst, die das Auftreten des Engels in der marianischen Geschichte stets begleitet, packt − wie Flauberts Heldin − auch Lucien: »Vous m’effrayez, mon père!« ruft er aus und hat Recht,250 denn der Handel, »ce pacte d’homme à démon«,251 den Herrera in einem orientalisch-märchenhaften Diskurs des Neuen als Schöpfungsakt vorschlägt, ist einer von Leben und Tod:

247 Brief an Louise Colet, 26. September 1853. Vautrin verführt die Poetenfiguren Lucien de Rubempré und Rastignac in Le Père Goriot, Les illusions perdues und Splendeurs et misères des courtisanes. Vgl. zu Vautrin exemplarisch Richard Berrong: »Vautrin and Same-sex Desire in Le Père Goriot«, in: Nineteenth-Century French Studies 31, Herbst/Winter (2002−2003), S. 53–65; Mireille Labouret: »Méphistophélès et l’androgyne«, in: L’année balzacienne 17 (1996), S. 211–230, und Martha Niess Moss: »Balzac’s villains: The origins of destructiveness in La Comédie humaine«, in: Nineteenth-Century French Studies 6 (1977), S. 36–51. 248 Balzac, Illusions perdues, S. 591 (Anm. 165). 249 Ebd., S. 595. 250 Ebd., S. 594. 251 Ebd., S. 596.

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Obéissez-moi comme une femme obéit à son mari, comme un enfant obéit à sa mère, je vous garantis qu’en moins de trois ans vous serez marquis de Rubempré, vous épouserez une des plus nobles filles du faubourg Saint-Germain […]. Je vous ai pêché, je vous ai rendu la vie, et vous m’appartenez comme la créature est au créateur, comme, dans les contes de fées, l’Afrite est au génie, comme l’icoglan est au Sultan, comme le corps est à l’âme ! Je vous maintiendrai, moi, d’une main puissante […] et je vous promets néanmoins une vie de plaisirs, d’honneurs, de fêtes continuelles... […] Je serai toujours heureux de vos jouissances qui me sont interdites.252

Unter diesem Zeichen des diabolischen Paktes und des orientalischen Raumes als Raum der Verführung steht auch Lheureux.253 Mit seinen Hundegeschichten von Konstantinopel erzählt auch er Emma in der Kutsche auf der Fahrt nach Yonville solche Märchen, wie es Herrera mit Lucien tut, den dieser auf seiner Reise nach Paris in einem Weinberg aufgabelt und für den Pakt kurzerhand in seine Kutsche zerrt.254 Auch Lheureux kommt aus dem Süden, aus der Gascogne, die direkt an Spanien grenzt. Wie Vautrin wird er in einer Kutschfahrt in den Roman eingeführt; wie Vautrin hat er sich seiner ›Ziel-Gesellschaft‹ anverwandelt, in der er seinen ruinösen Handel als Wucherer treibt. Vautrin verdient sein Geld u. a. als Zuhälter – so bringt auch Lheureux mit seinen Schuldscheinen Emma um ein Haar bis zur Prostitution. »Je suis à plaindre, mais pas à vendre!« verteidigt sich zwar die Heldin in letzter Minute,255 doch der Pakt ist längst schon besiegelt. »J’en ai assez, de vos signatures!« beendet Lheureux den Fall Bovary: »Allons donc! fitil en haussant les épaules, vous n’avez plus rien«. Der Verführer glaubt sich nun selbst Opfer einer Verführung und weist Emma in einem ähnlichen ironischen Ton, der Balzacs Figur Vautrin zu eigen ist, in gespielter Entrüstung zurück. Elle fut lâche, elle le supplia ; et même elle appuya sa jolie main blanche et longue, sur les genoux du marchand. » Laissez-moi donc ! On dirait que vous voulez me séduire !

252 Ebd., S. 595 596. 253 Zum Orient in Madame Bovary vgl. Laget, »Préface«, Madame Bovary 2001, S. 7−42 (Anm. 131). Der Roman sei »un rêve d’Orient travesti en tourment cauchois.« Ebd., S. 9. 254 MB, S. 218. »L’Espagnol […] le força littéralement à monter dans sa voiture«, Balzac, Illusions perdues, S. 587 (Anm. 165). 255 Es ist nicht Lheureux, sondern der Notar, an den sich Emma hier beinahe verkauft, um an Geld zu kommen. MB, S. 418.

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— Vous êtes un misérable ! s’écria-t-elle. — Oh ! oh ! comme vous y allez ! reprit-il en riant. — Je ferai savoir qui vous êtes. Je dirai à mon mari... — Eh bien, moi, je lui montrerai quelque chose, à votre mari ! «256

Vor allem aber vollstreckt auch Lheureux wie Vautrin durch Redegewandtheit. »Im Anfang war das Wort«: So unterstreicht es der Engel Gabriel in seiner Ankündigung der Geburt des Heil, Glück und Erlösung bringenden Gottessohnes.257 Lheureux’ Verkaufsdiskurse sind ruinöse, todbringende Verführungsdiskurse, wie es seine Waren, Textilien aller Art, zeigen, mit deren Ankauf sich die Heldin ihren gesellschaftlichen Aufstieg vorgaukelt und haushoch verschuldet. Sie begeht als letzten Ausweg Selbstmord und erinnert dabei an den Anfang der Geschichte des verführten parvenu Lucien: Vautrin alias Abbé Herrera »rettet« ihn in dem Moment, als er sich das Leben nehmen will. Als Emma sich durch ihren Umzug nach Yonville gerettet glaubt und auf Neues hofft, sitzt Lheureux als Reisebegleitung in ihrer Kutsche. Bei ihrer Ankunft im Städtchen jedoch weist Homais sie eindrücklich auf die Engelsqualitäten des jungen Léon hin, der später auch wie der Verkündigungsengel vor ihrem Haus erscheinen wird: Léon sänge »l’Ange gardien à ravir«.258 Zur Sprache kommt bei diesem Diskurs über Engel sofort der Garten, den Homais Emma beschreibt, noch bevor sie ihr neues Heim betritt: C’est comme j’avais l’honneur, dit le pharmacien, de l’exprimer à M. votre époux, à propos de ce pauvre Yanoda qui s’est enfui ; vous vous trouverez, grâce aux folies qu’il a faites, jouir d’une des maisons les plus confortables d’Yonville. Ce qu’elle a principalement de commode pour un médecin, c’est une porte sur l’Allée, qui permet d’entrer et de sortir sans être vu. D’ailleurs, elle est fournie de tout ce qui est agréable à un ménage : buanderie, cuisine avec office, salon de famille, fruitier, etc. C’était un gaillard qui n’y regardait pas ! Il s’était fait construire, au bout du jardin, à côté de l’eau, une tonnelle tout exprès pour boire de la bière en été, et si Madame aime le jardinage, elle pourra... — Ma femme ne s’en occupe guère, dit Charles ; elle aime mieux, quoiqu’on lui recommande l’exercice, toujours rester dans sa chambre, à lire.259

256 MB, S. 409. 257 Joh, 1,1. Und so beginnt auch die Bibel mit einer Gartengeschichte: der Schöpfung und dem Garten Eden. 258 MB, S. 221. 259 MB, S. 222.

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Die Versatzstücke des Hortus conclusus, in dem der das Heils-Wort Gottes verkündende Engel auftritt, werden aufgelistet, noch bevor Emma ihren ›neuen‹, ewigen Garten betritt. Nicht nur kann man dort eintreten ohne gesehen zu werden, wie es Rodolphe dank des Gartentürchens tun wird, von dem Charles den Schlüssel verloren glaubt. Die Schwelle ist mit der Laube »au bout du jardin« als eigener kleiner Gartenraum im Garten markiert, welcher mit seinen Obstbäumen den Fruchtbarkeitsdiskurs und das Paradies mit seinen gefährlichen Äpfeln, den Sündenfall, aufruft. Charles selbst sorgt abschließend für das Bild von seiner eingeschlossenen Frau als lesende Maria: Lieber als die Gartenarbeit, so meint er ahnungslos, »elle aime mieux […] toujours rester dans sa chambre, à lire«.260 Das ›marianische Glücksversprechen‹, das sich die Heldin in ihrer Mädchenzeit im Kloster aus den Büchern holt, wird in der Inszenierung von YonvilleL’Abbaye als Gartenraum verkehrt: Flaubert besetzt den Garten als locus amoenus, dessen Geschlossenheit in der literarischen Tradition stets positiv konnotiert ist, zum einsperrenden locus terribilis seiner marianischen Figur Madame Bovary um. Als literarischer Raum stellt der Garten ein biblisches Rahmenmotiv dar – die Bibel beginnt und endet mit einer Gartenbeschreibung.261 So offenbart sich der normannische Raum in Madame Bovary, dessen Beschreibung mit dem zweiten Teil des Romans einsetzt, mit der Darstellung des Schauplatzes Yonville-L’Abbaye als enormer, geschlossener Garten im Schutz eines Tals, das von Anhöhen und Wald umgeben ist. Die Umkehrung von schützender Geschlossenheit ins Eingesperrtsein ist dabei durch die Tatsache deutlich angezeigt, dass das Städtchen mit seinem neuen Anschluss an die Infrastruktur einsam bleibt und jeglichem Einfluss von außen – dem Fortschritt – trotzt. Wenn die Bibel also in ihren Gartendarstellungen auf profanen, orientalischen Vorbildern modelliert ist und diese Vorbilder zu den heiligen Gärten Eden und des Hortus conclusus fortschreibt, so dreht Flaubert diese Chronologie bei der Konstitution von Raum in seinem Roman um. Die Ikonographie des Hortus conclusus, aufgerufen in Emmas »éternel jardin«, wird mit zwei Gartenmodellen unterlegt und damit zurückgeführt bishin zu einem orientalischen Garten als erotischem Ort: dem klischierten, mondbeschienenen Garten aus dem romantischen Diskurs und dem antiken Modell des locus amoenus aus der Bukolik.

260 Meine Hervorhebung. 261 Reinhold Then: »Vom Garten zum Paradies

Biblische Gartenimpressionen«, in:

Nele Ströbel/Ulrike Myrzik (Hrsg.): Hortus conclusus. Ein geistiger Raum wird zum Bild, München: Deutscher Kunstverlag, 12006, S. 33−49. Hier: S. 34.

Gartenräume

Y ONVILLE

ALS

G ARTENRAUM

Nach vieren Jahren in Tostes, wo sich Charles als Arzt mittlerweile recht gut etabliert hat, beschließt dieser seiner Frau zuliebe und schweren Herzens einen Umzug. Wie sich der Landarzt von seinem ehemaligen Maître hatte bestätigen lassen, macht Emmas »maladie nerveuse« einen Ortswechsel unumgänglich, für die Charles die Raumerfahrung seiner Frau verantwortlich macht: Er formuliert diese unbeholfen als »quelque influence locale«, der trotz allerlei Wässerchen und Bädern nicht beizukommen ist.1 Die Suche nach einem wirtschaftlich lukrativen Standort lässt die Wahl schließlich auf Yonville fallen – doch bereits Charles’ Vorgänger, der dortige Arzt, »venait de décamper«,2 hatte also das Weite gesucht, und so wird das Städtchen auch für die dort verweilenden Bovarys zum heillosen Ort ihres Ruins. Die Mauern und Hecken, welche die Heldin von ihrer ersten Inszenierung an eingeschlossen hatten, wiederholen sich in diesem vierten Schauplatz in Madame Bovary, der sie zudem als abgeschirmtes Tal wie ein Wall umgibt; wie ineinander gelegte Ringe – vom Bauernhof ins gutbürgerliche Wohnhaus von Tostes, vom Kuhkaff Yonville in die normannische Hauptstadt Rouen – umrahmt der geographische Raum der Normandie die Protagonistin abermals als glückloser »éternel jardin«. Die Beschreibung des Andelle-Tals eröffnet den zweiten Teil des Romans und stellt die einzige ausführliche Landschaftsbeschreibung in Madame Bovary dar. Sie erweist sich darin als ein ähnlich isolierter Teil der Geschichte wie die Erzählung von Emmas Klosterzeit. Emmas Lektüreverhalten, ihre Bilderpraktik und ihre textile Beschäftigung stehen damit erneut in Bezug zu einem Gartenmodell, diesmal größerer Dimension: Die Landschaft als geographische

1

MB, S. 208. Meine Hervorhebung.

2

MB, S. 208.

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Einbettung von Yonville breitet sich vor den Augen des anreisenden Betrachters wie ein Mantel mit Kragen und Zierborte aus. An dieser Zierborte, dem Fluss, gibt es drei Wassermühlen vor den Toren des Städtchens. Ist die »Sensation« (»curiosité«) der Gegend, »à une demi-lieu d’Yonville«, eine »filature de lin«,3 so handelt es sich dabei wohl um Mühlen, die dem textilen Gewerbe dienen: Gerade die historische Andelle, in die in Flauberts Text die fiktive Rieule mündet, an der Yonville liegt, treibt Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Wassermühlen von Webereien und Spinnereien an.4 Das für den geschlossenen Garten zentrale Thema der textilen Handarbeit findet ihr Bild im Städtchen selbst, das von der Anhöhe wie ein eingeschlafener Hirte aussieht. Das Symbol des Hirten ist in der bukolischen Tradition die Spindel, die seit jeher für textile Handarbeit steht.5 Nach allen Seiten von Anhöhen und Wald begrenzt, verspricht das Andelle-Tal die totale Abschottung. Zusammen mit dem Städtchen innerhalb dieser geographischen Umgrenzung formuliert dieses Tal nun explizit einen geschlossenen Raum aus, der, in Emmas unausgesetzter textiler Beschäftigung markiert, bereits in ihrem ersten Ort, dem Kloster, angelegt ist und nun auf die normannische Landschaft ausgewalzt wird: der Hortus conclusus. In einigen Hortus conclusus-Darstellungen (und so taucht es sowohl in den Gemälden der Präraffaeliten als auch bei Flaubert als foyer mit Garten auf) wird die Gartenthematik nur in gartenartigen Versatzstücken aufgegriffen, während andere Darstellungen blumenreiche, fruchtbare Gärten ausarbeiten, mit Gewässern und Brunnen, schattigen (Obst-)Bäumen und Tieren, so etwa im Paradiesgärtlein und Maria mit dem Einhorn (beide um 1410/1420). In Jan van Eycks Lesender Maria des Genter Altars (14321435) ist mit einer gelben Blumentapete an das Gartenmodell lediglich angespielt, und Leonardo da Vincis Verkündigung (1472–1475) zeigt eine lesende Maria in einer außerordentlich häuslich wirkenden Szene.6 Dort sitzt Maria in einem Buch blätternd auf der Terrasse vor ihrem Haus, durch dessen offene Türe ein rotes Tuch zu erkennen ist; ein Engel kniet vor ihr auf einem länglichen Wiesenrechteck nieder. Auf dieser Wiese wachsen rote, weiße und blaue Blumen, wie etwa marianische

3

MB, S. 238.

4

André Dubuc: »L’Industrie Textile en Haute Normandie au cours de la Révolution et l’Empire«, in: A.D.: Le Textile en Normandie, Rouen: Société libre d’émulation de la Seine-Maritime, 11975, S. 131–152. Hier: S. 137.

5

»La quenouille [est le] symbole bucolique des bergères gardant leur troupeaux«. Ebd.,

6

Leonardo da Vinci: Die Verkündigung Mariae/L’Annunciazione, Ölfarben und Tem-

S. 131. pera auf Holz, 98 cm x 217 cm, Galleria degli Uffizi, Florenz, 1472–1475.

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Veilchen. Die Mauer dieses Gartens ist gerademal kniehoch; ein mit Zypressen gesäumter Weg führt aus diesem Garten direkt in eine vor den Augen des Betrachters sich öffnende Landschaft mit einem Fluss und einem Berg, an dessen Fuß eine Stadt erkennbar ist. Spektakulär erscheint in dieser idyllischen Landhausszene allein Marias üppiges, faltenreiches blaues Gewand wie auch die auf der Blumenwiese sonderbar deplaziert wirkende Figur mit Flügeln, der Engel Gabriel. In Madame Bovary werden nun üppiges Paradiesgärtlein und bloßes Gartenmotiv, Landhauscharme und Idylle in der Überlagerung von marianischem Raum und Minne in ihrer Semantik verkehrt und zu einem unglücklichen Gartenraum zusammengefügt. Als eben solcher figuriert das Tal, in dem der Hauptschauplatz Yonville liegt, wenn der Text mittels einer intermedialen Bilderpraktik eine Landschaftsbeschreibung in einen Gartenraum überführt. Er referiert dabei auf das (auch für die Mariendarstellungen klassische) utopische Raumkonzept des locus amoenus, wobei mehrere Texttraditionen zusammengedacht werden, die allesamt einen geschlossenen Raum beschreiben. Dabei spielt die Landschaft als Landkarte bei der Modellierung dieses Gartenraumes eine zentrale Rolle. Zwar hat Flaubert ausdrücklich darauf hingewiesen, dass trotz der intensionierten »couleur normande« Yonville und seine Umgebung ein imaginäres »Land« sei, das man vergeblich auf einer Landkarte Frankreichs finden werde und bedient sich dabei auch der Sprache der Photographie, wenn er behauptet, er habe in seinem Roman Typen reproduzieren wollen: Tous les personnages de ce livre son complètement imaginés, et Yonville-l’Abbaye luimême est un pays qui n’existe pas, ainsi que la Rieulle [sic !], etc. […] j’ai voulu […] reproduire des types.7

Im Gegenzug jedoch greift er – umso mehr in seiner großräumigen Bezeichnung des Städtchens eben als Land – gerade auf die Praktiken der Kartographie zurück, wenn er sein »pays« aus zweidimensionalen geometrischen Formen, Linien und farbigen Flächen modelliert oder besser: zusammensetzt. Die beiden Skizzen, die Flaubert in seinen Entwürfen von Yonville angefertigt hat, visualisieren mit ihren dicken Federstrichen, die das Städtchen umreißen, bereits die initial angelegte Geschlossenheit dieses Raumes auf den ersten Blick. Als konzeptuelle Vorlage und Schreibplan wird eine der beiden Zeichnungen, die

7

Brief an Émilie Cailtaux, 4. Juni 1857. Émilie hatte Flaubert in einem Leserbrief eine große Ähnlichkeit seiner Fiktion mit realen Begebenheiten und realen Personen unterstellt, wogegen sich Flaubert hier heftig wehrt. Meine Hervorhebung.

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detaillierte Karte von Yonville und Umgebung, als solche in einer poetologischen Umsetzung sichtbar, die ganz offensichtlich auf die Möglichkeiten und visuellen Effekte der Kartographie anspielt, das heißt – zusammen mit Emmas Stadtplan von Paris – auf ein weiteres bildschaffendes Medium: die geographische Karte. Die Abschottung als zentrale Konstante, die das Paradigma der topographischen Beschreibung in Madame Bovary verankert, artikuliert sich nun in drei verschiedenen literarischen Vorlagen. Diese werden im Zitat von dreierlei Figurentypen vorgestellt, die die Topographie Yonvilles auf markante Art und Weise besetzen: Erstens die Figur des Hirten durch den Vergleich des Städtchens mit einem faulenzenden »gardeur de vaches« sowie, zweitens, am Dorfeingang eine Amor-Figur auf grünem Rasenrund und, drittens, eine Madonna auf dem Dorfplatz in der Kirche. Der Kuh- oder Rinderhirte verweist eindeutig auf die Tradition der Bukolik;8 Flaubert war ein eifriger Vergil-Leser, der mit der Aeneis und damit Vergils für die europäische Tradition so einflussreicher Idyllendichtung vertraut war.9 Amor dagegen spielt an eine Binnengeschichte aus Flauberts »Heiligem Buch« an, das in den 1850er Jahren auf seinem Nachttisch lag, nämlich das Märchen von »Amor und Psyche« aus Apuleius’ erotischem Roman Der Goldene Esel;10 und schließlich wird mit der Kitschmadonna auf die Gemeinplätze der Marienverehrung verwiesen, auf das Marienleben aus den apokryphen Evangelien und auf die von Gärten erzählenden Bibeltexte, die Geschichte vom Sündenfall, das Hohelied und natürlich Mariä Verkündigung. Diese auf den ersten Blick heterogenen Figurentypen haben eine Gemeinsamkeit in dem ihnen klassischer Weise zugeordneten Schauplatz, dessen Beschreibung einem festgelegten Schema mit festgelegten Versatzstücken folgt:

8

Jonathan Cullerund Claudine Gothot-Mersch haben hier bereits auf die auffällige Wiederkehr des Rindermotivs in Flauberts Roman hingewiesen, das sogar im Namen Bovary selbst wiederholt wird (lat. bos/ bovis, Rind), nicht aber einen Bezug zur Bukolik in Betracht gezogen. Jonathan Culler: »The uses of Madame Bovary«, in: Naomi Schor (Hrsg.): Flaubert and Postmodernism. Papers presented at the Brown Univ. # $%"   , Lincoln: Flaubert Symposium, Nov. 6        !"  Nebraska University Press, 11984, S. 1–12. Hier S. 6 9, und Claudine Gothot-Mersch: La production du sens chez Flaubert, Paris: Union générale d’éd, 11975 (Colloque de Cerisy, Collection 10−18), S. 113−114.

9

Vgl. Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer, 1

2009, insbes. S. 228 240.

10 »Lis-tu enfin l’Âne d’or? […] Un écrivain, comme un prêtre, doit toujours avoir sur sa table de nuit quelque livre sacré.« Brief an Louise Colet, 12. Juli 1852.

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einer geschlossenen Landschaft nämlich, die sich bei Flaubert zu Emmas Gartenraum im Bild des Hortus conclusus ausdehnt, wenn nun eine Landschaftsbeschreibung analeptisch eingeschoben wird, die dem Leser für die ersten Schauplätze im Roman vorenthalten wurde. Figuriert die normannische Landschaft um les Bertaux nur als Hochzeitsumzug über die Felder, so vergrößert sie sich in Tostes zu einer Parklandschaft, bevor sie mit Yonville ihr ganzes Ausmaß entfalten darf: Der Text entwickelt seinen Gartenraum schrittweise, vom Kloster als klassischem Hortus conclusus der Bräute Christi bishin zu einer Gartenlandschaft, Versatzstück um Versatzstück, Bild um Bild. Mit ihr stellt der Text seine Bildhaftigkeit im Medium textiler Handarbeit aus und zeigt seine eigene Herstellung an: Er ist ein als solches deklariertes Textgewebe, das Intertexte wie farbige Fäden zu Bildergeschichten verwirkt. Das Tal, das Emmas neue Heimat wird, birgt ein Städtchen, dessen Name Yonville-L’Abbaye noch an den religiösen Ort anspielt, nämlich an eine längst verschwundene Abtei. Von vornherein liegt dabei die Emphase auf der Geschlossenheit dieser geographischen Einbettung, die sich in verschiedenen Versatzstücken artikuliert. In einem spitzen Winkel eingeklemmt, den der Angelpunkt Rouen mit den beiden Straßen bildet, die in die Picardie führen, nämlich nach Abbeville und nach Beauvais, präsentiert das Andelle-Tal bereits im ersten Satz seiner Beschreibung ein Element der Abschottung, das signifikant ist und kurz darauf auch noch einmal drastisch unterstrichen wird: die Infrastruktur, die per definitionem geographischen Raum zugänglich macht. Yonville-l’Abbaye (ainsi nommé à cause d’une ancienne abbaye de Capucins dont les ruines n’existent même plus) est un bourg à huit lieues de Rouen, entre la route d’Abbeville et celle de Beauvais, au fond d’une vallée qu’arrose la Rieule […]. […] Jusqu’en 1835, il n’y avait point de route praticable pour arriver à Yonville ; mais on a établi vers cette époque un chemin de grande vicinalité qui relie la route d’Abbeville à celle d’Amiens, et sert quelquefois aux rouliers allant de Rouen dans les Flandres. Cependant, Yonville-l’Abbaye est demeuré stationnaire, malgré ses débouchés nouveaux.11

Flauberts Kursivierung bedeutet wie immer die Markierung eines schnöden, bürgerlichen Diskurses, als der sich hier die geradezu sensationelle Neuheit einer Infrastruktur als Phänomen der Moderne offenbart. Doch selbst die neu gebaute Handelsstraße, die im Diskurs des Warenhandels eine Verbindung von Räumen

11 MB, S. 210 211. Flauberts Hervorhebung.

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unterstreicht, öffnet das Tal offenbar nicht – im Gegenteil, sie schließt den Winkel als dritte Gerade von Abbeville nach Amiens zu einem Dreieck und dient so wie das Bild von einem Zaun oder einer Mauer aus der Vogelperspektive als graphische Fixierung der undurchlässigen Umschließung um Yonville. Diese imaginäre, umschließende Linie wird als geographische Begrenzung von den Anhöhen von Les Leux und Saint-Jean verdoppelt, zwischen denen das Tal liegt. Tatsächlich muss man erst die befestigte Straße verlassen und die Anhöhe von Leux hinaufsteigen, bis man dieses Tal entdeckt, das sich in einer textilen Markierung wie ein Mantel entfaltet. Es präsentiert sich also in einer Perspektive von oben durch den Blick eines Betrachters als Bild. On quitte la grande route à la Boissière et l’on continue à plat jusqu’au haut de la côte des Leux, d’où l’on découvre la vallée. La rivière qui la traverse en fait comme deux régions de physionomie distincte : tout ce qui est à gauche est en herbage, tout ce qui est à droite est en labour. La prairie s’allonge sous un bourrelet de collines basses pour se rattacher par derrière aux pâturages du pays de Bray, tandis que, du côté de l’est, la plaine, montant doucement, va s’élargissant et étale à perte de vue ses blondes pièces de blé. L’eau qui court au bord de l’herbe sépare d’une raie blanche la couleur des prés et celle des sillons, et la campagne ainsi ressemble à un grand manteau déplié qui a un collet de velours vert, bordé d’un galon d’argent. Au bout de l’horizon, lorsqu’on arrive, on a devant soi les chênes de la forêt d’Argueil, avec les escarpements de la côte Saint-Jean, rayés du haut en bas par de longues traînées rouges, inégales ; ce sont les traces des pluies, et ces tons de brique, tranchant en filets minces sur la couleur grise de la montagne, viennent de la quantité de sources ferrugineuses qui coulent au- delà, dans le pays d’alentour.12

In Yonville angekommen, komplettieren im anschließenden Kapitel nun zwei Figurenkommentare dieses Bild von einem geschlossenen Raum. Homais ergänzt die infrastrukturellen und geographischen Begrenzungen durch klimatische, wenn er diese Abschottung euphemistisch als Schutz begriffen haben will und damit ausdrücklich aufruft, was die Geschlossenheit des Hortus conclusus transportiert: »[…] en effet, nous sommes abrités des vents du Nord par la forêt d’Argueil d’une part, des vents d’ouest par la côte Saint-Jean de l’autre«.13 Léon trägt mit seiner Auskunft den letzten Teil bei: Emmas desillusioniertes »zumindest« unterstreicht, dass selbst ein Austritt zu Fuß aus diesem Tal von der Anhö-

12 Ebd. 13 MB, S. 220. Meine Hervorhebung.

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he unterbunden wird, über die auch Léon nicht hinauskommt, der sich mit seinem Buch wohl oder übel an dieser Grenze niederlassen muss (»j’y reste«). − Avez-vous du moins quelques promenades dans les environs ? « continuait Mme Bovary parlant au jeune homme. » Oh ! fort peu, répondit-il. Il y a un endroit que l’on nomme la Pâture, sur le haut de la côte, à la lisière de la forêt. Quelquefois, le dimanche, je vais là, et j’y reste avec un livre, à regarder le soleil couchant.14

Der Text liefert konsequent mit, wie diese Abschottung gelesen werden muss. Yonville erscheint wie ein weißer – oder sollte man sagen: ein grauer – Fleck auf der Landkarte. Als charakterloser Raum zwischen den Räumen existiert er nur durch seinen Bezug zu jenen anderen Räumen, die die Poetologie des Romans in einer Bilderpraktik sichtbar macht, mit der Räume in Bildern von Räumen erzählt werden. On est ici sur les confins de la Normandie, de la Picardie et de l’Île-de-France, contrée bâtarde où le langage est sans accentuation, comme le paysage sans caractère. C’est là que l’on fait les pires fromages de Neufchâtel de tout l’arrondissement, et, d’autre part, la culture y est coûteuse, parce qu’il faut beaucoup de fumier pour engraisser ces terres friables pleines de sable et de cailloux.15

»Charakter« bekommt dieser Schauplatz als Landschaftsbeschreibung erst durch Flauberts Primat des Stils, durch eine Ästhetik nicht wie bei Baudelaire des Hässlichen, sondern der ›Grauheit‹.16 Wie die textile Beschäftigung der Protagonistin auf einen ersten Blick lediglich das Mediokre bürgerlichen Gattinnenalltags darzustellen scheint, so scheint der Ort dieses Alltags als ländliche Szenerie eben dieses Mediokre zu wiederholen. Doch ist diese Landschaft als bedeutungsloses Schwellenland auf spektakuläre Weise unspektakulär: Die Sprache bereits ist eintönig, die Käseproduktion nur erwähnenswert, weil die Produkte tatsächlich die schlechtesten sind, die Landwirtschaft scheitert am sandigen Boden voller Kieselsteine, vor allem jedoch an bürgerlich-bäuerlicher Ökonomie: am Sparen von Dünger. Diese Gegend erringt ihre Besonderheit in einer Poetik, die

14 MB, S. 221. 15 MB, S. 211. 16 Zur »couleur grise« in Madame Bovary vgl. Erich Auerbach: »Im Hôtel de la Mole«, in: E.A.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern: Francke, 71982, S. 422–459.

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deren Charakterlosigkeit durch die Überlagerung von Bildern literarisch erhöht und im ironischen Wechsel aufwertet und entwertet, sakralisiert und entheiligt. Diese Besonderheit entlarvt sich in der Präsentation von Yonville-L’Abbaye als abgeschottetem Tal in der Beschreibung dieser Topographie durch eine größtmögliche Heterogenität von Signifikat und Signifikant. Au lieu d’améliorer les cultures, on s’y obstine encore aux herbages, quelque dépréciés qu’ils soient, et le bourg paresseux, s’écartant de la plaine, a continué naturellement à s’agrandir vers la rivière. On l’aperçoit de loin, tout couché en long sur la rive, comme un gardeur de vaches qui fait la sieste au bord de l’eau.17

Die Vergleiche, derer sich Flaubert hier bedient, scheinen innerhalb des Paradigmas der Landschaftsbeschreibung ausgefallen und heterogen. Tatsächlich unterlaufen die aufgefahrenen (sprachlichen) Bilder den Inhalt, den sie vor Augen führen sollen, konsequent: Klassischer Weise wird wirtschaftlicher Fortschritt in der Normandie am Textil verhandelt. So sieht die Gegend in Flauberts Text auch tatsächlich selbst aus wie ein kostbarer Mantel mit Samtkragen und silbernem Besatz. Doch Yonville-L’Abbaye besetzt dieses ›Mantel-Land‹ auf eigentümliche Weise, wie ein Fleck. Es wird als das Gegenteil von dem beschrieben, mit dem es verglichen wird. Die Protagonistin macht nur zu deutlich, dass Yonville eben kein strahlendes, neureiches Textilstädtchen des Aufstiegs ist, wie sie in der Normandie der Zeit so häufig sind, sondern ein halbwaiser, todlangweiliger Ort, der jedem Fortschritt trotzt. Dieses Paradoxon, das in der Mariengeschichte als Paradoxon vom niederen und vom hohen Stand in ein Heilsversprechen mündet, zeigt sich als Paradoxon in der Beschreibung des Gartenraumes an, zu der diese Landschaft ausgefaltet wird und der als Lebensraum der Protagonistin eben im Gegenteil ein extrem unglücklicher ist. Erich Auerbach hat dieses Paradoxon zentral für die Flaubertforschung als ein poetologisches beschrieben: als Poetologie des hohen Stils für ein niedriges Sujet.18 In genau diesem Sinne kommt auch die Bilderpraktik zum Tragen, mit der über Intertexte dieser »hohe Stil« eingebaut wird, den Emma selbst wiederholt, mit dem aber ein (für sie nur allzu) niederes Sujet beschrieben wird: Ihre Welt ist eine beengende, umschlossene, graue Welt. Sie hat mit ihren literarischen Bildvorlagen nichts gemein. Aus diesem Paradoxon von hohem und niederem Stil und hohen und niederem Stand nährt sich Flauberts Ironie.

17 MB, S. 211. 18 Auerbach, »Im Hôtel de la Mole« (Anm. 16).

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So trägt das schläfrig-faule Städtchen Yonville als »Marktflecken« (»bourg«) nicht nur den religiösen, sondern auch den ökonomischen Titel im Namen und tilgt ihn gleichzeitig durch seine artikulierte Bewegungslosigkeit während einer Zeit des Fortschritts. Inmitten dieser unfruchtbaren, wirtschaftlich verkümmerten Gegend ohne Weideland ist dennoch das einzige, was im Text wächst, Yonville. Das anthropomorphe Städtchen bewegt sich im Text tatsächlich (»s’écartant de la plaine«, »[il] a continué naturellement à s’agrandir«), bis es schließlich zum Bild von einem schlafenden Hirten erstarrt. Erst als solcher verbindet es sich mit dem »Mantel« seiner Einkleidung, mit der Landschaft »[qui] ressemble à un grand manteau déplié«. An dessen Silberborte – dem Fluss nämlich – hat es sich ausgestreckt. Diese raffinierte Zusammenführung von Städtchen und Landschaft zu der Gesamttopographie eines abgeschotteten Tals im Vergleich mit einem Hirten (»un gardeur de vaches«) verweist auf die Tradition der Bukolik, der Hirtenidylle, und damit auf das Landschaftsmodell des locus amoenus. Im Zusatz der »vaches«, auf die der Hirte bei Flaubert aufpasst (und das in einer Gegend, deren Mangel an Weideland ausgerechnet im »pire« eines Kuhmilchproduktes, dem Neufchâtel-Käse, ausgestellt ist), ist dieser Bezug etymologisch verankert: Der Kuhoder Rinderhirte heißt auf griechisch boukólos. Auch der marianische Hortus conclusus ist ein locus amoenus, ein idyllischer Gartenraum des Glücks. Er wird in Madame Bovary mit der bukolischen Landschaft überblendet und angereichert und damit zu einem erotischen Gartenraum umformuliert. Mit Emma als erotisierter Ikone, die ihre Röcke hebt, kommt in einem letzten Schritt ein weiteres glücksbringendes, erotisches Tal mit hinzu: das idyllische Tal, wo der Liebesgott lebt, dem Schauplatz des antiken Märchens von »Amor und Psyche«, die zentrale Binnengeschichte im Goldenen Esel. Der aus marianischem Garten und idyllischem Tal zusammengesetzte Gartenraum erweist sich bei Flaubert als veritabler Heterotopos, wie Foucault ihn beschreibt, doch nur in dem Moment, wenn er aus verschiedenen literarischen Vorlagen konstruiert wird. Von der Protagonistin wird diese heterotopische Funktion nämlich durchgestrichen: Ihr Garten ist eben kein »espace autre«, sondern ihr ewig gleicher Raum, der sich als ewiger Schwellenraum erweist – wie es die Topographie Yonvilles selbst ausstellt. In dieser Konsequenz handelt es sich bei Flauberts Garten um einen Chronotopos par excellence, der eine komplexe intertextuelle Praktik ermöglicht. Er verschachtelt Gartenräume aus verschiedenen literarischen Epochen, die ihre typischen Zeiten mitbringen und sich in Yonville, dem unveränderlichen Städtchen, überlagern: die zyklische Zeit der Idylle mit der Bukolik und die Abenteuerzeit des Märchens mit Amors Tal.

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Beide Zeiten und damit die ihnen zugeordneten Räume sind, und so stellt es die scheiternde Protagonistin aus, nicht vereinbar. Mit seiner Landschaftsbeschreibung und seinen Paradoxa von Bild und Inhalt wiederholt Flauberts Text im Chronotopos des Gartens das Gartenbild aus Emmas Keepsakes ihrer Klosterzeit. Auch dort waren unvereinbare Zeiten mit unvereinbaren Räumen zusammengebracht und gipfelten in einem Potpourri; die Titulierung mit »le tout« führte dabei die genuine Unvereinbarkeit dieser in einem Bild tatsächlich zu einem »Ganzen« vereinten Räume vor Augen. Flaubert verwandelt in seinem Roman eine intertextuelle Praktik, wie sie Bachtin mit dem Chronotopos meint, in eine mediale Überlagerung: Er friert die Erzählzeit ein und macht so aus Intertexten visuelle Abzüge: Bilder. Die Löcher im Erzählfluss des Textes, die aus dieser angehaltenen Zeit (grammatikalisch über den imparfait) resultieren, machen diese Bilder sichtbar. Bevor sich nun diese Intertexte von anderen, literarischen Gartenräumen als Bilder in die Landschaftsbeschreibung von Yonville und seiner Umgebung eintragen lassen und als solche überhaupt erkennbar werden, muss diese Landschaftsbeschreibung zunächst in eine Gartenbeschreibung überführt werden, das heißt ihre Bildquellen entlarven. Wie Emmas textile Handarbeit im ersten Teil des Romans Schritt für Schritt zu einem Marienbild ›heranwächst‹, so bereitet dieser erste Teil auch die Metamorphose der Landschaft zu einem Gartenraum vor. Diese findet in Tostes statt. Die Landschaft um Tostes, in der Emma spazieren geht, wird als Parklandschaft etabliert und sodann zu einem Gartenraum ausgeführt. Der direkte Bezug dieser Parklandschaft zur Gartenlandschaft von Yonville im Zeichen des marianischen Hortus conclusus ist in einer verfallenen Architektur angezeigt, nämlich als Ruine des Pavillon in Tostes und als »Ruine« Yonvilles als ausgelöschte Abtei, »dont les ruines n’existent même plus«.19

G ARTENRAUM

UND

L ANDSCHAFT

Vom Garten des Hauses in Tostes mit seinem Gartenzwergpriester, der Sonnenuhr und der Dornenhecke gelangt Emma auf ihren Fluchtversuchen mit ihrer Windhündin Djali »afin de n’avoir plus sous les yeux l’éternel jardin avec la route poudreuse« in den nächsten Garten, einen Gartenpark am Rand der Mauer, hinter der sich die Felder öffnen. Diese Mauer als Grenze zum offenen Außenraum, die Emma nicht übertritt, zeigt sich eigentümlich markiert: »Il y a […] parmi les herbes, de longs roseaux à feuilles coupantes«. Im Begriff der stechen-

19 MB, S. 210.

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den »roseaux« (Schilf) sind die marianischen Rosen (»roses«) wieder aufgenommen wie auch die stechende Nadel von Emmas textiler Handarbeit, die das Eintreten eines Liebhabers in diesen Garten verheißen soll. Un garde-chasse, guéri par Monsieur, d’une fluxion de poitrine, avait donné à Madame une petite levrette d’Italie ; elle la prenait pour se promener, car elle sortait quelquefois, afin d’être seule un instant et de n’avoir plus sous les yeux l’éternel jardin avec la route poudreuse. Elle allait jusqu’à la hêtrée de Banneville, près du pavillon abandonné qui fait l’angle du mur, du côté des champs. Il y a dans le saut-de-loup, parmi les herbes, de longs roseaux à feuilles coupantes. 20

Mit ihrer Hündin bringt Emma Italien, den traumhaften Raum der Romantik, in diesen Garten – bezeichnender Weise flüchtet das Tier auf der Kutschfahrt von Tostes nach Yonville in die Felder und kommt nicht mehr zurück.21 Der umschlossene Gartenpark in Tostes, in dem Emma spazieren geht, nimmt ihren nächsten Wohnort bereits vorweg: Auch hier verändert sich nicht das Geringste, Emmas Ort bleibt ein »éternel jardin«. Bezüglich Yonville wird der Text auf diesem ihren »ewig« gleichen Ort gleich zweimal insistieren; seit Jahrzehnten bleibt Yonville immer »stationnaire«, trotz der 1835 gebauten neuen Straße, die den Raum zu öffnen scheint.22 Emmas Geschichte spielt in den 1840er Jahren, der Text entsteht in den 1850ern; die Emphase ist hier als Erzählerkommentar sehr eindeutig: »Depuis les évènements que l’on va raconter, rien, en effet, n’a changé«.23 Im Gartenpark von Tostes sitzt Emma wie eine marianische Figur auf dem Gras inmitten von Blumen. Fingerhut und Goldlack werden dabei von wucherndem Unkraut konterkariert, von Brennnesseln und Flechten.24 Selbst die Hündin

20 MB, S. 187. 21 »Un accident l’avait retardé [l’hirondelle] : la levrette de madame Bovary s’était enfuie à travers champs. On l’avait sifflée un grand quart d’heure. « MB, S. 218. 22 MB, S. 211. 23 MB, S. 213. 24 Arthur Schurig (1919) übersetzt in Anlehnung an die marianischen Blumen folgendermaßen: »Alles stand noch auf seinem Platze: die Heckenrosen und die wilden Veilchen, die Brennesseln, die in Büscheln die großen Kieselsteine umwucherten, und die Moosflächen unter den drei Pavillonfenstern mit ihren immer geschlossenen morschen Holzläden und rostigen Eisenbeschlägen.« Gustave Flaubert: Frau Bovary, aus dem Französischen von Arthur Schurig, Leipzig: [ohne Verlag], 11919, S. 55.

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rennt nicht nur hin und her, sondern wiederholt mit den Kreislinien, die sie abläuft, ein ums andere Mal die Mauerumrahmung des Gartens. Eine solche Rahmung doppeln in der Bildenden Kunst die runden (oder rechteckigen) Rasenflächen, auf denen Maria sitzt. Auch Emmas Blick verläuft im Kreis: Sie beginnt um sich herum zu sehen, in der Hoffnung, etwas könne sich ja doch geändert haben seit ihrem letzten Besuch, stellt jedoch nur die ewigen »mêmes places« fest, die von den immer gleichen Blumen bewachsen sind. Elle commençait par regarder tout alentour, pour voir si rien n’avait changé depuis la dernière fois qu’elle était venue. Elle retrouvait aux mêmes places les digitales et les ravenelles, les bouquets d’orties entourant les gros cailloux, et les plaques de lichen le long des trois fenêtres, dont les volets toujours clos s’égrenaient de pourriture, sur leurs barres de fer rouillées. Sa pensée, sans but d’abord, vagabondait au hasard, comme sa levrette, qui faisait des cercles dans la campagne, jappait après les papillons jaunes, donnait la chasse aux musaraignes, ou mordillait les coquelicots sur le bord d’une pièce de blé. Puis ses idées peu à peu se fixaient, et, assise sur le gazon, qu’elle fouillait à petits coups avec le bout de son ombrelle, Emma se répétait : »Pourquoi, mon Dieu ! me suis-je mariée ? «25

Ihr Blick fällt von den Blumen schließlich auf den verrottenden Pavillon und wird damit »[à] l’angle du mur« aufgehalten. Mit den drei Fenstern und »volets toujours clos« führt diese Ruine das Moment der im Garten angelegten Geschlossenheit buchstäblich vor Augen und verweist bereits auf den Garten in Yonville mit seiner verrotteten Bank. Im wiederholten »Pourquoi, mon Dieu! me suis-je mariée?« verbindet sich die Empfindung des Eingesperrtseins mit dem marianischen Diskurs des Bräutigams, der in den Garten tritt und der heilbringenden Allianz Marias. Für Joachim Küpper enden Emmas schweifende Blicke und Gedanken am Pavillon, da dessen »pourriture« metaphorisch für den Zustand ihrer Ehe zu lesen sei. Die geschlossenen Fensterläden erlangen ihm zufolge geradezu kathartische Wirkung als Auslöser für Emmas desillusionierten Ausruf »Pourquoi, mon Dieu! me suis-je mariée?«.26 Diese These resultiert aus Küppers Analyse von Flauberts Landschaftskonzeption anhand eben dieser Textstelle, eine Konzeption, die sich einer ›realen‹ Darstellung im Sinne des Realismus gemäß dem

25 MB, S. 188. 26 Joachim Küpper: Balzac und der effet de réel. Eine Untersuchung anhand der Textstufen des Colonel Chabert und des Curé de village, Amsterdam: Grüner, 11986 (Poetica, 17), S. 226.

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style indirect libre entziehe. Küpper referiert hierbei auf die Tradition der Romantik, Landschaftsbeschreibungen metaphorisch zu funktionalisieren, um das Gefühlsleben der Figuren zu spiegeln, das heißt auf deren rhetorischen Charakter. Fragmentarische und diffuse Landschaftselemente […] entwerfen im Rahmen der Fiktion artifizielle Landschaften, deren Funktion ausschließlich auf die Kennzeichnung des seelischen Zustandes der Figuren bezogen ist […].27

Flauberts »Landschaftselemente« als Gräser, Blumen und andere Gewächse setzen sich jedoch zu keiner Landschaft, sondern lediglich zu einer Gartenszenerie wie die Teile eines Mosaiks zusammen. Denn auch hier ist der Blick auf die Weite der Felder durch eine Mauer begrenzt, wie auch, nach Küppers Idee, der Pavillon oder vielmehr seine geschlossenen, verrottenden Fensterläden Emmas kreisenden Blick aufhalten. In der Parklandschaft von Tostes wird bereits sichtbar, was Landschaft in Madame Bovary ist: ein unheiliger umschlossener Gartenraum. Die Kennzeichnung von Emmas seelischem Zustand geschieht nicht traditioneller Weise über eine Landschaftsbeschreibung, sondern über deren Semantisierung im Rückgriff auf den glückvollen Garten Marias. Emmas Seelenleiden wird räumlich erzählt und ist im Bild des verrottenden Pavillons visualisiert, der als Ruine den romantischen Diskurs, von dem Küpper spricht, zwar noch anzeigt. Dieser Pavillon jedoch »qui fait l’angle du mur« rückt die Mauer in den Vordergrund, die diese vorgebliche Landschaft umschließt. Im durch die Blumen und die Mauer anzitierten Hortus conclusus und mit Referenz auf die marianische Geschichte, in der ein eintretender Bräutigam Glück verheißt, geht es um weit mehr, als um die Metaphorisierung eines Seelenzustands der Figur. Es geht nicht nur um die Erkenntnis, unglücklich verheiratet zu sein (ein Gefühl, das sich bereits in Emmas räumlicher Wahrnehmung von Charles’ Konversation als »plate comme un trottoir de rue« anbahnte),28 sondern um die weitreichende Erkenntnis einer heillosen, unausweichlichen Inklusion, die einer Poetologie des Raumes im Roman folgt. Elle se demandait s’il n’y aurait pas eu moyen, par d’autres combinaisons du hasard, de rencontrer un autre homme ; et elle cherchait à imaginer quels eussent été ces événements non survenus, cette vie différente, ce mari qu’elle ne connaissait pas. Tous, en effet, ne ressemblaient pas à celui-là. Il aurait pu être beau, spirituel, distingué, attirant, tels qu’ils

27 Ebd., S. 225. 28 MB, S. 185.

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étaient sans doute, ceux qu’avaient épousés ses anciennes camarades du couvent. Que faisaient-elles maintenant ? À la ville, avec le bruit des rues, le bourdonnement des théâtres et les clartés du bal, elles avaient des existences où le cœur se dilate, où les sens s’épanouissent. Mais elle, sa vie était froide comme un grenier dont la lucarne est au nord, et l’ennui, araignée silencieuse, filait sa toile dans l’ombre à tous les coins de son cœur.29

Emmas Wahrnehmung dieses Gartenraumes von Tostes schlägt sich in sehnsuchtsvollen Bildern von der Stadt nieder und folgt darin sehr wohl einer literarischen Tradition der Landschaftsbeschreibung in der Opposition von Stadt und Land, Stadt und Idylle. Flaubert variiert diese Tradition zu einer Gegenüberstellung von Stadt und Gartenraum, in dem als Schlüsselwort für einen Abgleich von Welt durch Bilder von der Welt in der Bilderpraktik der Heldin und des Textes das Verb ressembler auftaucht. In der Imagination der Bovary ist nun die Stadt der Raum des Glücks, wenn es der heillose marianische Gartenraum ihrer Existenz nicht sein kann. Denn in der Stadt leben die Mädchen, die die geschlossenen Mauern verlassen haben und glücklich verheiratet sind. Über das Medium textiler Handarbeit artikuliert sich diese Trostlosigkeit, die weit mehr ist als ein bloßer Seelenzustand, in einem Vergleich, der den marianischen Diskurs des Herzens mit dem romantischen Ort der kalten, dunklen Dachkammer kombiniert, dem Ort der topischen mad women in the attic. Das marianische Herz wird mit der Metapher der Spinne zum Opfer einer textilen Handarbeit, die bewahren sollte und nun dessen Kammern heillos verstopft. Mais elle, sa vie était froide comme un grenier dont la lucarne est au nord, et l’ennui, araignée silencieuse, filait sa toile dans l’ombre à tous les coins de son cœur.30

Die Gartenszene von Tostes endet daher mit dem Eindruck einer architektonischen Geschlossenheit, die der Heldin das Fürchten lehrt. Als der Wind, der vom Plateau von Caux ins Tal bläst und damit eine Idee vom Meer und diesem Außenraum gibt, der Emma nicht zugänglich ist, erhebt sie sich fröstelnd vom Gras. »[U]ne peur la prenait«, als ihr die Landschaft plötzlich in den eindrücklichen Versatzstücken eines Hortus conclusus vor Augen steht: Vor einem roten und goldenen Hintergrund zeichnen sich die Bäume, die den Weg säumen, im grünen Licht des Blattwerkes als Architektur ab, wie ein Säulengang. Dieses

29 MB, S. 188. 30 Ebd.

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grüne Licht beleuchtet dabei den grünen Grund, auf dem Emma steht und erinnert an die typische Lichtregie der marianischen Ikonographie.31 Il arrivait parfois des rafales de vent, brises de la mer qui, roulant d’un bond sur tout le plateau du pays de Caux, apportaient, jusqu’au loin dans les champs, une fraîcheur salée. […] Emma serrait son châle contre ses épaules et se levait. Dans l’avenue, un jour vert rabattu par le feuillage éclairait la mousse rase qui craquait doucement sous ses pieds. Le soleil se couchait ; le ciel était rouge entre les branches, et les troncs pareils des arbres plantés en ligne droite semblaient une colonnade brune se détachant sur un fond d’or ; une peur la prenait, elle appelait Djali, s’en retournait vite à Tostes par la grande route, s’affaissait dans un fauteuil, et de toute la soirée ne parlait pas.32

Nun verweist die »colonnade« in recht traditioneller Weise auf den idyllischen Diskurs des locus amoenus, auf Vergils Arkadien nämlich.33 Es handelt sich in Flauberts Text hier höchstwahrscheinlich um eine romantische Verarbeitung Vergils, nämlich um ein weiteres Zitat aus der romantischen Pastorale Paul et Virginie, wo es über den Garten heißt: Le feuillage des arbres, éclairés en dessous de ses rayon safranés, brillait des feux de la topaze et de l’emeraude; leurs troncs mousseux et bruns paraissaient changés en colonnes de bronze antique.34

31 Emma verstummt nach dem Anblick dieses Bildes wie der Priester Zacharias, nachdem dieser Zeuge wurde, wie auf Maria die Wahl fiel, Purpur und Scharlach zu spinnen. Im Marienleben heißt es: »Tirez-moi au sort laquelle filera du fil d’or (d’amiante) et de fin lin (et de soie), et d’hyacinthe, et d’écarlate, et de la vraie pourpre ; et Zacharie se ressouvint de Marie, qu’elle était de la tribu de David ; et la vraie pourpre (et l’écarlate) échut à Marie par le sort ; et (les ayant reçues) elle s’en alla dans sa maison. Or, dans ce même temps, Zacharie perdit la parole. Et Samuel prit sa place, jusqu’à ce que Zacharie recommença à parler. Marie ayant reçu la pourpre (et l’écarlate) fila.« PJ, Voltaire X, S. 435. 32 MB, S. 189. 33 Ernst Robert Curtius: »Die Ideallandschaft«, in: E.R.C.: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern: Francke, 101984, S. 191–209. Hier: S. 204. 34 PV, S. 152. Jean Ehrard spricht in seinem Vorwort zu diesem Text bezüglich dieser Stelle von einer »fusion toute fénelonienne de la Bible et de la Grèce« innerhalb des den Text von Saint-Pierre prägenden Genres der Pastorale. Ehrard, »Préface«, PV, S. 17.

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Der Gartenraum, der in Tostes mit seiner Mauer und seiner Pavillon-Ruine noch den Charakter einer idyllischen Parklandschaft hat, wird in Yonville nun als ein einziger, enormer Gartenraum im idyllischen Diskurs entfaltet. Den Bezug zwischen den beiden Gärten stellt ein ironisiertes, romantisches Architekturklischée her, die verfallene Ruine. Wenn der Pavillon in Tostes in seinem verrotteten, verrammelten Charakter keinerlei Romantik mehr aufgewiesen hat, so tut dies Yonville doppelt nicht: Der Beiname des Städtchens L’Abbaye referiert auf eine Ruine, die längst schon nicht mehr existiert. In diesem ironisierend-romantischen Diskurs kommt als ein erotischer Ort die Idylle mit ins Spiel; weniger mit der Schäferdichtung der Romantik, als vielmehr mit der antiken locus amoenusDichtung eines Vergil, der seinerseits auf die Idyllen Theokrits zurückgreift. Von Theokrit über Vergil, von den Gartendichtern des Orients zu den Autoren der Bibel und der Apokryphen, schließlich bishin zu den Idyllen der europäischen Romantik entwickelt sich in der Literatur die Idee des Gartens als locus amoenus, als glückvoller Ort zweier Liebender. Diese Traditionen schlagen sich in Flauberts Gartenraum Yonville als raumkonstitutives Bilderpotpourri nieder, als ein Bild also, das der Text als »le tout« mit dem Lektürekapitel aus der Mädchenzeit der Heldin bereits vorgelegt hat, mit der ihre Geschichte beginnt. Mit dem Städtchen Yonville nun hat sich die Welt selbst faul als Hirte auf einem Mantel ausgestreckt, den ein Gartenraum umschließt.

L OCUS

AMOENUS UND

APULEIUS ’ A MOR

UND

P SYCHE

Devenere locos laetos et amoena virecta Fortunatorum nemorum sedesque beatas.35

Mit diesen Worten beschreibt Vergil die Ideallandschaft, in die Aeneas auf seiner Reise ins Jenseits gelangt, dem Elysium, und prägt damit im ständig wieder auftauchenden Adjektiv amoenus seiner Naturbeschreibungen das Hauptmotiv der Landschaftsschilderungen abendländischer Tradition bis zum 16. Jahrhundert, den locus amoenus.36 Es ist der Vergil-Kommentator Servius, der die Begriffe amoenus und amor miteinander kombiniert und zum »lieblichen Ort« zusammenbringt als einem Ort, der nicht dem Nutzen, sondern dem Genuss dient

35 Vergil: Aeneis, VI 638 ff., »Heitere Fluren betraten sie dann und grünende Auen/ glückliche Waldesgebreiten sind da der Seligen Sitze.« Zitiert nach Curtius, »Die Ideallandschaft«, S. 199 (Anm. 33). 36 Curtius, »Die Ideallandschaft«, S. 202 (Anm. 33).

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und damit »lieblich« und »Liebe« in der Ideallandschaft vereint. Der »schöne Ort« ist zum »Lustort« geworden, zur erotischen Gartenlandschaft. In seiner zwanzigbändigen Enzyklopädie Etymologiae (veröffentlicht um 623), dem zentralen Nachschlagewerk des Mittelalters, führt Isidor von Sevilla den Begriff des locus amoenus schließlich als terminus technicus ein, und zwar in seinem Buch 14 über die Geographie.37 Zur Modellierung einer fiktiven Geographie, d. h. eines Lebensraumes und der räumlichen Oberflächenstruktur eines Gebietes, nimmt Flaubert auf die literarische Tradition des locus amoenus Bezug. Sie ist durch die klassische Schulbildung des 19. Jahrhunderts zu einem derartigen literarischen Allgemeinwissen geworden, dass sie Flaubert lediglich durch Bilder, wie dem Hirten in seiner Landschaftsbeschreibung, als Intertexte aufrufen kann.38 Der locus amoenus konstruiert sich aus festgelegten, klassischen Versatzstücken, Baum, Wiese mit Quelle oder Bach, Blumen, und – in seiner reichsten Ausführung – Windhauch. Der glückliche Ort figuriert in unterschiedlichsten Formen, z. B. als von der Rose als »Königin der Düfte« markiertes Tal bei Tiberianus39 oder als zwischen den beiden Bergen Olymp und Ossa eingeschlossenes Tempetal (z. B. bei Plinius), das zu einer Unterart des locus amoenus geworden ist, nämlich zu einem »kühle[n] Waldtal zwischen steilen Hängen«.40 Dieses Tal hat durch die Mythologie als Ort der Liebe von Apollon und Daphne Berühmtheit erlangt und ist als klassisches Motiv in die locus amoenus-Dichtung eingegangen.41 Das Tempetal, ein Ideal schöner Landschaft im Sinne der Alten, vereinigt in seltener Weise den Charakter der Anmut eines Flußtals mit dem der Wildnis und Großartigkeit einer tiefen Felsschlucht. Der Fluß Peneus tritt hier in eine anderthalb Stunden lange, durch die fast unmittelbar an sein Bett herantretenden Abhänge des Ossa und Olymp gebildete Schlucht, die auf beiden Seiten von beinahe senkrechten, zerklüfteten, malerisch

37 Ebd., S. 199. 38 Zu den Lektüre-Gewohnheiten in den Schulen zur Zeit Flauberts vgl. Stephen Goddard: »Flaubert, Apuleius and Ovid: The Genesis of a. recurring Theme«, in: Nigel Harkness (Hrsg.): Birth and death in nineteenth-century French culture, Amsterdam: Rodopi, 12007, S. 35–47. Hier: S. 36 38. Zu Flauberts Lektüre-Recherchen »in tatsächlich philologischer Manier« (S. 145) und seiner Vergil-Rezeption vgl. Vinken, Flaubert (Anm. 14). 39 Tiberianus zitiert nach Curtius, »Die Ideallandschaft«, S. 203 (Anm. 33). 40 Ebd., S. 205. 41 Ebd., S. 206.

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mit Grün bewachsenen Felsenmauern eingefaßt ist. Die Abhänge des Olymp fallen fast durchwegs schroff ab; dagegen ist am rechten Ufer meist ein schmaler Saum fruchtbaren Landes, der sich manchmal zu kleinen Ebenen erweitert, welche von zahlreichen Quellen erfrischt, mit üppigem Rasen bedeckt, von Lorbeer, Platanen und Eichen beschattet sind.42

Flauberts Beschreibung des Tals von Yonville erinnert in seinen Versatzstücken eigentümlich an dieses illustre Tal aus der Antike. Wie der Fluss in der Schlucht zerschneidet die Rieule das Tal als »raie blanche« in zwei Hälften; die Anhöhen von Les Leux und Saint-Jean mit ihrem steilen Abhang, den Quellen und Eichen muten plötzlich wie die bürgerlich-normannische Version der mächtigen Berge Olymp und Ossa an. On quitte la grande route à la Boissière et l’on continue à plat jusqu’au haut de la côte des Leux, d’où l’on découvre la vallée. La rivière qui la traverse en fait comme deux régions de physionomie distincte […]. Au bout de l’horizon, lorsqu’on arrive, on a devant soi les chênes de la forêt d’Argueil, avec les escarpements de la côte Saint-Jean, rayés du haut en bas par de longues traînées rouges, inégales ; ce sont les traces des pluies, et ces tons de brique, tranchant en filets minces sur la couleur grise de la montagne, viennent de la quantité de sources ferrugineuses qui coulent au delà, dans le pays d’alentour.43

Plinius nun macht den Lustort zur kreisrunden Fläche bei einer Villenbeschreibung;44 diese Rasenflächen tauchen im Rückgriff auf die antiken Vorlagen in den Hortus conclusus-Darstellungen auf, die als räumliche Formulierung eines Glücksversprechens auf den locus amoenus referieren. Auf einer solchen kreisrunden Fläche, die zum »schönsten Haus des Landes« gehört, thront eine Amorstatue vor dem Dorfeingang in Yonville. Als bürgerliches Garten-Nippes, das der Amor hier zusammen mit zwei (an die Mariengeschichte erinnernden Gefäßen) darstellt, wird der antike Intertext zwar mit der Geschichte von Amors Tal im locus amoenus zusammengeführt, dadurch aber gleichzeitig in der Architektur als Statussymbol des Notars als reichstem Bürgers der Stadt zu einem bürgerlichen Diskurs des gesellschaftlich-pekuniären Aufstiegs heruntergebrochen: Puis, à travers une claire-voie, apparaît une maison blanche au-delà d’un rond de gazon que décore un Amour, le doigt posé sur la bouche ; deux vases en fonte sont à chaque bout

42 Friedländer zitiert nach Curtius, ebd., S. 205. 43 MB, S. 210 211. 44 Curtius, »Die Ideallandschaft«, S. 204 (Anm. 33).

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du perron ; des panonceaux brillent à la porte ; c’est la maison du notaire, et la plus belle du pays.45

Nicht nur mit dem literarischen Tempetal, sondern ebenso mit Vergils Elysium ist der locus amoenus zu einem Topos des geschlossenen Raumes geworden. Vergils Texte wie die Aeneis oder die Bucolica (Eklogen) dienen den christlichen Dichtern zur Modellierung der biblischen Schauplätze, denn der »schöne Ort« ist nicht nur ein Topos der Landschafts-, sondern ebenso der Gartenbeschreibung.46 Der Dichter des Hohelieds besingt mit einer eben solchen die sich erfüllende Liebe im Dialog zwischen Mann und Frau als »Liebeslyrik im Gewand der Garten-Allegorik«.47 In diesem Quellentext für das Bild von Mariä Verkündigung findet sich die reiche Ausstattung des locus amoenus mit Früchten, Düften und Windhauch; die Geliebte selbst wird nun allegorisch als verschlossener Garten erzählt. Der Windhauch kommt dabei als erotisches Motiv des Eindringens in diesen Garten vor. Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut, ein verschlossener Brunnen, ein versiegelter Quell. Aus dir gehen hervor ein Hain von Granatbäumen mit köstlichen Früchten, Hennasträucher samt Nardenkräutern, Narde und Safran, Gewürzrohr und Zimt samt allen Weihrauchhölzern, Myrrhe und Aloe samt allen besten Balsamsträuchern, ein Gartenquell, ein Brunnen lebendigen Wassers, Bäche vom Libanon. Nordwind wach auf, und Südwind komm! Weh durch meinen Garten! Seine

45 MB, S. 211 212. 46 Curtius, »Die Ideallandschaft«, S. 206 (Anm. 33). 47 Helga Volkmann: Unterwegs nach Eden. Von Gärtnern und Gärten in der Literatur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 12000, S. 108.

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Balsamdüfte sollen verströmen! In seinen Garten komme mein Geliebter und esse seine köstlichen Früchte.48

Die biblischen Gärten, wie sie in Madame Bovary im Bild des Hortus conclusus Eingang finden, sind nach dem Vorbild der erotischen, orientalischen Gärten entstanden, daher ist ihre Fruchtbarkeit – Obst, blühende Blumen – ein zentrales Motiv. Auch durch den fruchtbaren Garten Eden fließt ein Fluss, der sich daraufhin in vier Arme teilt; von den Früchten der Bäume sollen sich die Menschen ernähren; als Gefährten sind ihnen die Tiere an die Seite gestellt.49 In vielen Hortus-conclusus-Darstellungen aus dem Mittelalter, die in ihrer Gestaltung ja selbst auf verschiedenen traditionellen Gartenräumen aufbauen, gesellen sich in Allusion an den paradiesischen Garten daher Tiere zu Maria. In den Gärten der Literatur des Orients als Vorlage der biblischen Gartenversionen taucht oft der Pfau auf, der als erotischer Vogel in seiner Symbolik seit jeher grundsätzlich positiv besetzt ist.50 Als Versatzstück des »luxe cauchois« stolziert er in Emmas geschlossenem Garten in les Bertaux umher.51 Der genuin orientalistische Charakter der biblischen Gärten mag aus einer Information zum Garten Eden aus der Genesis selbst stammen, wo es heißt: »Iehovah Dieu planta un jardin dans Eden, du côté de l’orient, et il [y] plaça l’homme qu’il avait crée.« Cahen vermerkt zu dieser Textstelle in seiner annotierten Bibel-Ausgabe von 1854, die Flaubert sorgfältig studiert hat,52 der Begriff Paradies rühre vom kaldäischen Begriff für Garten, der im Persischen wiederum einen »königlichen Park« bezeichne.53 So findet man in Madame Bovary tat-

48 Hohelied, 4,12-16. 49 Gen, 2, 10-20. 50 Volkmann, Unterwegs nach Eden, S. 108−110 (Anm. 47). 51 »luxe des basse-cours cauchoises«, MB, S. 161. 52 Flaubert hat dabei u. a. Cahens Anmerkungen zum Hohelied exzerpiert. Vinken, Flaubert, S. 17 (Anm. 9). Zu Flauberts Bibelrezeption vgl. Agnès Bouvier: »Au rendez-vous allemand«, in: Revue de Flaubert 4, 2010 [o.S.]. 53 Genèse 2,8. »En persan ce mot désigne un parc royal ; il a servi de nom a plusieurs villes«. Cahen erklärt weiterhin: »[…] du côté de l’orient, dans la partie orientale. Onkelos dit […] auparavant, appliquant ce mot au temps, au lieu de l’appliquer à l’espace.« Samuel Cahen: La Bible. Traduction nouvelle, avec l’hébreu en regard […], Paris: [Selbstverlag], 11833−1854 (18 Bde). Hier: Bd. I, Genèse III., S. 9 10.

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sächlich beides im Städtchen Tostes vereint, das den großen Gartenraum Yonville vorbereitet: Garten und Gartenpark. Cahen macht interessanter Weise auf ein weiteres Schriftzeichen aus dem hebräischen Text dieser Bibelstelle über den Garten Eden aufmerksam, die »volupté« bedeutet. Volupté ist nun der Name der Tochter, die Psyche in Apuleius’ Märchen von ihrem Bräutigam Amor empfängt; Emmas »volupté« ist es, die ihre marianische Konzeption unterläuft und zu deren Allegorie sie als »femme qui quitterait tout vêtement« in den Augen des Staatsanwaltes Pinard wird. Zu diesem Begriff gibt Cahen in Bezug auf den Sündenfall an: »[L]e but [de cet apologue] est de montrer les conséquences funestes d’une vie efféminée.«54 Das »weibische« Leben mit seinen »düsteren Konsequenzen« verweist auf Eva: Dem Garten Eden ist so von vorneherein die Gefahr des Sündenfalls, d.h. des Ausschlusses aus dem »schönen Ort«, eingetragen und offenbart daher von Beginn an die Konzeption eines geschlossenen Gartens, wie auch die Umrahmung als Mauer, Zaun oder geographische Umgrenzung per definitionem jedem Garten zu eigen ist.55 Gott erklärt Kain nach dem Sündenfall seiner Eltern, also im Nachhinein, diesen Sachverhalt noch einmal: »N’est-ce pas, si tu te conduis bien, tu sera considéré ; si tu ne te conduis pas bien, le péché t’assiège à la porte, il veut t’atteindre, mais tu peux le maîtriser.«56 Es verwundert nicht, dass Autoren und Maler auf das Motiv des paradiesischen Gartens zurückgreifen, um einen Schauplatz zu lokalisieren und zu beschreiben. Denn der biblische Garten wurde seit jeher nicht nur als Allegorese, sondern auch als Geographie rezipiert. Lange haben sich Bibelkommentatoren damit beschäftigt, wo der Garten Eden nun realgeographisch zu situieren sei; Cahen erklärt sich dieses unmögliche Unterfangen folgendermaßen: »Eden est le nom ancien de plusieurs contrées, entre autres d’un lieu fort agréable situé près du Tigre, vers le midi de la Mésopotamie«.57 Das Paradies stellt – und genau so übernimmt es Flaubert – nichts anderes als einen als Garten erzählten Lebensraum dar und ist eben nicht genau situierbar, wie auch der Schauplatz Yonville, »contrée bâtarde«, im ewigen Dazwischen liegt.58 Wenn die Sünde den Men-

54 Ebd., Bd. I, S. 9. 55 Volkmann, Unterwegs nach Eden, S. 111 113 (Anm. 47). 56 Genèse 4,2. Cahen-Bibel, Bd. I, S.18 (Anm. 53). Cahen bemerkt hierzu, dass es unklar sei, weshalb Gott dies gerade zu Kain gesagt habe. 57 Ebd., S. 10. Meine Hervorhebung. 58 »sur les confins de la Normandie, de la Picardie et de l’Île-de-France«, MB, S. 211. Meine Hervorhebung. Der veraltete Begriff contrée kommt ursprünglich aus der Landwirtschaft und bechreibt als solcher die Fruchtbarkeit eines Landes, das sich aus-

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schen »vor die Tür« des Gartens setzt, so ist die Strafe für Emma der ewige Einschluss in ihrem Garten. Der paradiesische Garten findet in Madame Bovary als ein weiterer geschlossener Garten Eingang, der nun vom Ausgeschlossensein vom Glück erzählt und an die Figur der Eva erinnert, welche in den Texten des 19. Jahrhunderts das marianische Bild im Diskurs der Verführung und der Verbotsmissachtung erotisiert. Ein Punkt unterscheidet nun das Paradies als Garten grundlegend von den Gärten des Orients und der Antike: Eden ist ein Garten, der dazu bestimmt ist nützlich zu sein. In diesen Garten wird der Mensch gesetzt, damit er ihn bebaue und bewahre.59 Die idyllischen Gärten der Dichtung jedoch sind von jeglichem Nutzen abgelöst, sie sind als »Lustorte« nutzfrei. Aus eben diesem Grund hält auch Emma in Flauberts Roman nichts von der Gartenarbeit. Im bürgerlichen Diskurs des nützlichen Gartens hebt Homais bei seiner Beschreibung des neuen Gartenheimes von Emma an »[…] et si Madame aime le jardinage, elle pourra...«, woraufhin Charles sofort beteuert: »Ma femme ne s’en occupe guère« und ergänzt, »elle aime mieux, quoiqu’on lui recommande l’exercice, toujours rester dans sa chambre, à lire.«60 Der Garten, in den Flaubert seine Heldin setzt, ist kein nützlicher Garten, sondern ein Garten aus Büchern, aus Bildern. Der nützliche Garten ist ein Garten der Ordnung, wie es auch der nützliche Garten Eden in seiner hierarchisch-kausalen Ordnung und seinem Verbot, vom Baum des Lebens zu essen, erzählt. Didier Philipot versteht den Garten in Madame Bovary als Ort des »dogme de L’Utile«, als nützlichen Garten des homo faber, der z. B. in Tostes diese Nützlichkeit in einer geometrischen Ordnung anzeige (»quatres plates-bandes symétriques«). Es verhält sich jedoch mit dem traditionellen, ordnenden Charakter des Gartens als »spectacle« der Ordnung und Unterwerfung der Natur61 bei Flaubert wie mit dem ordnenden Charakter textiler Handarbeit: Der Text kehrt ihn um. Die Ordnung wird aufgerufen, um sie im gleichen Moment als Spektakel des Chaos darzustellen, als NichtOrdnung, in der Dinge zusammengeführt sind, die nicht zusammenpassen. Em-

dehnt. In dieser Semantik fließt er in die Poetik ein. Flaubert mag sich mit dieser Bezeichnung hier tatsächlich auf Cahens Anmerkung beziehen. Émile Littré: Dictionnaire de la langue française, Paris: Hachette, 11863−1877 (4 Bde), Bd. I, »contree«, S. 781. 59 »Und der HERR, Gott, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaute und bewahrte.« Gen, 2,15. 60 MB, S. 222. 61 Didier Philippot: Vérité des choses, mensonge de l’homme dans Madame Bovary de Flaubert, Paris: Champion, 11997 (Romantisme et modernités, 11), S. 244 247.

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mas Garten ist eine Lektüre, ein interpretiertes Bild und konstruiert sich aus Gartenbildern im ironisierenden Paradoxon des Bildes und seines Inhalts. Der Gartenraum in Madame Bovary stellt einen Garten in situ dar, in dem Sinne wie Philippe Nys in seinem Aufsatz zur Gartenbeschreibung als Ekphrasis argumentiert. Er unterscheidet drei Typen von Repräsentationen des Gartens: Die ikonische Repräsentation (als Bild), die Repräsentation als Diskurs (als Text) und den Garten als Repräsentation selbst, »comme lieu d’interruption et de rupture de ces représentations et de ces discours«.62 Flaubert verschmilzt alle drei Repräsentationsformen in seinem Gartenraum zu einem Ganzen: Der Garten ist ein Bild durch einen inszenierten Betrachterblick, eine Bildbeschreibung in der ausgefeilten Narration und eine Bilderpraktik als poetologisches Verfahren, die ihn als Raum immer wieder neu produziert und im Verfahren der Überlagerung Räume aufeinander verweisen lässt. Da es dabei stets um die paradoxalen Inhalte dieser Bilder geht, ist der Flaubert’sche Garten ein rhetorisches Bild und folgt darin dem rhetorischen Charakter der locus amoenus-Dichtung. Während bei Theokrit, auf den Vergil sich bezieht, und bei Vergil selbst die Lustorte nur als Dekor für ihre Hirtendichtung inszeniert werden, entwickelt sich der locus amoenus nach ihnen weiter »zum Gegenstand rhetorisierender Beschreibung« und, im Mittelalter, zu einer Stilübung.63 Hier schlägt sich die locus-amoenus-Dichtung als lateinische Dichtkunst nieder, mit der Neuerung, dass »jeder Gedanke mehrfach variiert« wird.64 Dieses poetologische Verfahren der wiederholenden Variation bei mittelalterlichen Ideallandschaften prägt Flauberts Bilderpraktik, aus der sein Gartenraum entsteht: Als solche Stilübung greift er in der Beschreibung von Yonville diese literarischen Traditionen von der Antike bis zum Mittelalter auf und mit ihnen die rhetorisierenden Landschaftsbeschreibungen aus der Tradition der Romantik, die ihrerseits auf mittelalterliche Vorlagen referiert.65

62 Zum rhetorischen Garten in situ: Philippe Nys: »L’art des Jardins: Une herméneutique du lieu et la question de l’Ekphrasis«, in: Michel Baridon/Jean-Jacques Wunenburger (Hrsg.): Lire l’espace, Bruxelles: Ousia, 11996 (Recueil, 6), S. 289–312. Hier: S. 294. 63 Curtius, Curtius, »Die Ideallandschaft«, S. 202 (Anm. 33). 64 Ebd., S. 204. 65 Auf diese romantische Vorlage hin, so scheint mir, argumentiert auch Hamilton, wenn er Yonville und seine Gebäude als ironisch gebrochene Metapher für Emmas Innenleben liest. James Hamilton: »The Ideology of Place: Flaubert’s Depiction of Yonvillel’Abbaye«, in: French Review 65 (1991), S. 206–215.

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Nun ruft Flauberts Schauplatz als Tal den locus amoenus jedoch nur auf, um ihn am Ende zu Emmas locus terribilis zu demontieren, als der sich ihr ewiger geschlossener Garten entpuppt. Dies passiert in Anspielung auf das Tal der Liebesgeschichte von Amor und Psyche und folgt darin wiederum Balzacs locus terribilis als Tal mitten in Paris, das einen bürgerlichen Haushalt zum Gegenstand hat: die Maison-Vauquer in Le père Goriot. Auch bei Balzac ist der Eingang  wie auch der Eingang von Yonville  von einem Armor markiert, der als Statue von der »peinture« eines gedoppelten, idyllisch-arkadischen, grünen Hintergrunds eingefasst ist und sich so wie ein Bild »erhebt«. Nicht nur die »porte bâtarde« erinnert dabei auffällig an den Flaubert’schen Schauplatz als »contrée bâtarde«. On entre dans cette allée par une porte bâtarde, surmontée d’un écriteau sur lequel est écrit : MAISON-VAUQUER, et dessous : Pension bourgeoise des deux sexes et autres. Pendant le jour, une porte claire-voie, armée d’une sonnette criarde, laisse apercevoir au bout du petit pavé, sur le mur opposé à la rue, une arcade peinte en marbre vert par un artiste du quartier. Sous le renfoncement que simule cette peinture, s’élève une statue représentant l’Amour.66

Über Flauberts Tal und dem dortigen foyer bourgeois heißt es ganz ähnlich: Au bas de la côte, après le pont, commence une chaussée plantée de jeunes trembles, qui vous mène en droite ligne jusqu’aux premières maisons du pays. Ils sont enclos de haies […]. Cependant les cours se font plus étroites, les habitations se rapprochent, les haies

66 Honoré de Balzac: Le père Goriot (1834−1835), préface de Félicien Marceau, notices et notes de Thierry Bodin, Paris: Gallimard, 11999, S. 24. Im Folgenden PG. Meine Unterstreichungen. Die halb ausgelöschte Beschriftung des Statuensockels »Qui que tu sois, voici ton maître: Il l’est le fut, ou le doit être« spricht Balzac hier explizit Voltaire zu; gleichzeitig verweist er mit der Amor-Statue auf eine Irren- oder Krankenanstalt gleich ums Eck der Pension, in der »l’amour parisien« geheilt würde. Es mag sein, dass hiermit gleichzeitig auf Shakespeares King Lear angespielt wird, der in der berühmten Passage auf der Heide bei seiner Flucht den Verstand verliert – Shakespeares Drama hat die Genese des Père Goriot bekanntlich entschieden beeinflusst (vgl. die Anmerkung 2 von Thierry Bodin zu S. 22, PG, S. 414). Als »symbole«, wie Balzac den Amor ausweist (S. 24), referiert die Statue dennoch bei seiner Beschreibung dieses Tals mitten in Paris eindeutig auf das Märchen von Amor und Psyche, zumal die Idyllenlandschaft in der »arcade peinte en marbre vert« selbst noch einmal aufgerufen ist.

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disparaissent ; […] Puis, à travers une claire-voie, apparaît une maison blanche au-delà d’un rond de gazon que décore un Amour, le doigt posé sur la bouche ; deux vases en fonte sont à chaque bout du perron ; des panonceaux brillent à la porte ; c’est la maison du notaire, et la plus belle du pays.67

Bei Balzac öffnet sich eine Tür auf eine Allee, die letzten Endes auf ein gemaltes grünes Arkadien hinführt, wo eine Amorstatue steht. Auch bei Flaubert führt eine Allee direkt zu einem Haus, dessen grünes Rasenrund eine Amorstatue schmückt. Der Liebesgott Amor ist der Held im Märchen von Amor und Psyche, das Apuleius als Binnengeschichte in seinem Schelmenroman Metamorphosen oder Der goldene Esel (um 160/170 n. Chr.) erzählt. Dieser Roman war eines der Lieblingsbücher Flauberts: In den Briefen, die er zur Zeit, als er an Madame Bovary arbeitet, an seine Geliebte Louise Colet schreibt, erwähnt er ihn immer wieder. Er bezeichnet ihn gar als »livre sacré«, stets griffbereit auf seinem Nachtkästchen.68 Das einzige Märchen der Antike ist die Geschichte von Psyche, einer Königstochter, die in ihrer Schönheit der Göttin Venus Konkurrenz macht.69 Psyches Geschichte ähnelt derer Emmas, die sich ebenso durch ihre Schönheit ausgezeichnet wähnt und auf das Glück der Liebe hofft, in vielen Versatzstücken. Wie sie erscheint Psyche unter dem männlichen Blick wie ein bildhaftes Kunstwerk (»gleich einer Bildsäule von Meisterhand«). »Unterdessen gereicht Psyche ihre sich selbstfühlende Schönheit keineswegs zum Glück«: Auch sie leidet zunächst; »[o]hne Hoffnung, jemals die seligen Freuden der Liebe zu genießen,

67 MB, S. 211 212. 68 Flauberts Briefe an Louise Colet wiederholen ein halbes Jahr lang immer wieder: »Lis-tu enfin l’Âne d’or? […] Un écrivain, comme un prêtre, doit toujours avoir sur sa table de nuit quelque livre sacré.« (Brief vom 12. Juli 1852), »Lis-tu l’Âne d’or?« (27. Juli 1852) und wieder »Lis-tu enfin L’Âne d’or?« (Brief vom 27. Dezember 1852). Flaubert erklärt, warum ihm dieses Buch so wichtig erscheint: »Aux mains d’un maître, alors, la prose […] pourra jouer une symphonie humanitaire formidable. Les livres comme le Satyricon et L’Âne d’or peuvent revenir, et ayant en débordements psychiques tout ce que ceux-là ont eu de débordements sensuels. Voilà ce que tous les socialistes du monde n’ont pas voulu voir, avec leur éternel prédication matérialiste.« Brief an Louise Colet, 4. September 1852. 69 Apuleius: Der goldene Esel, übers. v. August Rode, mit einem Nachwort von Wilhelm Haupt, Frankfurt a.M.: Insel, 12007, S. 336. Im Folgenden: GE.

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weint die unglückliche Psyche ihre Tage dahin.«70 Indes endet der Verlauf ihrer Geschichte glücklich. Ihre Schönheit erregt den Zorn der Göttin, und Psyche wird einem Unbekannten zur Frau versprochen. Das Königreich feiert die Hochzeit wie ein Begräbnis, denn der zukünftige Gatte soll ein grausiges Monster sein. Psyche wartet angstvoll an einem Abgrund, bis der freundliche Westwind Zephir ihre Röcke bläht und sie auf diese Weise sanft hinunter ins Tal auf einen grünen Rasen setzt. Ein Zephyr hob unvermerkt sie empor; er schwellte mit lindem Hauche den Busen ihres Gewandes – rauschend flatterte der Saum umher –, und so trug er sie ruhig in den Abgrund des darunterliegenden Tales und legte sie sanft in den blumigen Schoß eines weichen Rasens nieder. Augenblicklich ist Psyche hier aller quälenden Unruhe entledigt. […] Sie befindet sich in einem anmutigen Lustwald, wo unzählige Geschlechter der herrlichsten Bäume ihren Schatten ausbreiten. Eine Quelle, glänzender als Kristall, windet in mannigfaltigen Krümmungen sich mitten hindurch, und da, wo sie sanft rauschend vom Felsen herabstürzt und über sich leichten Silbernebel bildet, steigt auf grünem Ufer ein Palast empor, nicht durch Menschenhand und Kunst gebaut. Gleich beim ersten Eintritt erkannt man ihn für eines Gottes Lustwohnung.71

Wie es Balzac und Flaubert übernehmen, ist bei Apuleius der Charakter dieses Ortes gleich beim ersten Eintritt offensichtlich. Auch hier handelt es sich um einen locus amoenus reicher Ausstattung, der an das Tempetal erinnert, so wie es im »Lustwald« formuliert ist: Es figurieren der Lufthauch als mythischer Windgott Zéphir, eine Blumenwiese, eine Quelle als Fluss mitsamt grünem Ufer und nicht zuletzt der »Abgrund« selbst, von dem aus Psyche in dieses abgeschottete Tal gelangt. Der Windstoß, der den Rock hebt, nimmt Psyches Eheschließung als erotischem Diskurs vorweg; sein vor der grün-blumigen Szenerie flatternder Saum erinnert an den ondulierenden Saum in den Mariendarstellungen des Hortus conclusus, die ihrerseits die Geschichte einer Jungfrau erzählen: Auch die Jungfrau Psyche hat, wie nach ihr Maria, ob der unsichtbaren Erscheinung ihres göttlichen Gemahls Angst, wie gleich zu sehen sein wird. Zunächst scheint allein die Reiseweise mit dem zu einem Fallschirm aufgeblasenen Kleid bereits Psyches Qualen zu lindern und stellt den einzigen Weg hinunter in Amors erotisches Tal dar. Sobald sie den weichen Rasen berührt, ist Psyches Leiden »augenblicklich« getilgt.

70 GE, S. 107. 71 GE, S. 112 113.

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In Anspielung an diesen Beginn von Psyches Geschichte endet die Geschichte für Emma Bovary. Sie stirbt, als sie einen grausig entstellten, syphiliskranken Blinden vor ihrem Fenster von diesem Röcke-Flug der Psyche singen hört, die sich vor einem grausigen Monster gefürchtet hatte und stattdessen auf der Stelle glücklich wurde. In einer Version des pornografischen Dichters Rétif de la Bretonne geht das Lied bei Flaubert so:72 Souvent la chaleur d’un beau jour Fait rêver fillette à l’amour. Emma se releva comme un cadavre que l’on galvanise, les cheveux dénoués, la prunelle fixe, béante. Pour amasser diligemment Les épis que la faux moissonne, Ma Nanette va s’inclinant Vers le sillon qui nous les donne. »L’Aveugle! « s’écria-t-elle. Et Emma se mit à rire, d’un rire atroce, frénétique, désespéré, croyant voir la face hideuse du misérable, qui se dressait dans les ténèbres éternelles comme un épouvantement. Il souffla bien fort ce jour-là, Et le jupon court s’envola ! Une convulsion la rabattit sur le matelas. Tous s’approchèrent. Elle n’existait plus.73

Flauberts Text schneidet jene Passage aus dem Lied von Rétif aus, die eindeutig auf die Geschichte von Amor und Psyche verweist: Ma Nannette va s’inclinant Vers le sillon qui nous les donne: [Et fille qui baisse le front Raccourcit encor [sic!] son Jupon. Jupon court, quand il fait du vent, Bien-plutôt qu’un autre s’envole, Et sert les vœux d’un Amant : Le Zefir [sic!] en a plus beau rôle :]

72 Rétif oder Restif de la Bretonne war als begeisterter de Sade-Leser der Autor u. a. der Anti-Justine (1793) und beeinflusste die Literatur des 19. Jahrhundert nachdrücklich. Vgl. Sarane Alexandrian: Histoire de la littérature érotique, Paris: Seghers, 11989, S. 192 194. 73 MB, S. 437 438.

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Il souffla bien-fort ce jour-là Et le Jupon court s’envola ! 74

Für Emma symbolisiert dieser Sänger, der vor ihrem Fenster auf groteske Weise die mittelalterliche Minne wiederholt und die geographische Einrahmung der Anhöhe markiert, die ihm als Ort zugewiesen ist,75 die »ténèbres éternelles« und bringt damit Psyches Idylle und den marianischen Glücksort in einer trostlosen Umkehrung zusammen. In dieser Todesszene unterminiert der erotische Gartenflug von Psyche durch die Gestalt des entstellten, blinden Sängers die frohe Botschaft vom ewigen Leben im Garten Eden als Intertext einer Erotik, die Emma gerade in den Selbstmord getrieben hat und die ihr so nach christlichem Glauben den Eingang in den ewigen, glücklichen Garten für immer verwehrt.76 Als Diskurs der volupté wird mit diesem Lied Psyches Reise dank ihres hoch gewehten Rockes exakt in dem Moment aufgerufen, als Emma auf dem Totenbett ihre letzte Reise  ins Jenseits  antritt. Auch Psyche glaubt, am Abgrund stehend, sie trete eine Reise in den Tod an; sie »geht zum Leichenbegräbnis, nicht zur Hochzeit«.77 In Anspielung an diesen Hochzeitszug Psyches und damit an Emmas Hochzeitszug über die Felder von les Bertaux wird diese in einem »cortège« zum Friedhof getragen,78 wo sie in ihrem dreischichtigen Sarg unter

74 Die Kursivsetzung entspricht Flauberts Text. Rétif de la Bretonne zitiert nach Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Mœurs de Province, Édition présentée, établie et annotée par Thierry Laget, Paris: Gallimard, 12001 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 505, Anm. 1. Vgl. Anthony Williams: »Une chanson de Rétif et sa réécriture par Flaubert«, in: Revue d’histoire littéraire de la France 19, März/April (1991), S. 239−242. 75 MB, S. 385. Zu anderen Interpretationsansätzen des Blinden vgl. Max Aprile: »L’Aveugle et sa signification dans Madame Bovary«, in: Revue d’histoire littéraire de la France 76, 3 (1976), S. 385−392. 76 Emma wird dennoch gemäß ihres Grabspruches »Sta viator […] amabilem conjugem calcas « (MB, S. 454) wie eine ordentliche Ehefrau auf dem Friedhof bestattet, da Homais eine »Geschichte« von ihrem Tod erzählt: Emma habe beim Kochen Zucker und Arsen verwechselt: »[…] quand les Yonvillais eurent tous entendu son histoire d’arsenic qu’elle avait pris pour du sucre, en faisant une crème à la vanille, Homais, encore une fois, retourna chez Bovary. « MB, S. 438. 77 GE, S. 109. 78 MB, S. 447 448.

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»une grande pièce de velours vert« begraben wird.79 Der Sarg auf dem Friedhof als letzter Ort, an dem die Heldin im Roman inszeniert wird, steht, und von Flaubert selbst als idée reçue kursiv gesetzt, unter dem Zeichen eines Textils, das an die grüne Rasenfläche von Psyches Tal erinnert. In seinem Material ruft es das idyllische Bild ihres ewigen Gartenraumes noch einmal auf, nämlich den schlafenden Hirten des vorgeblichen locus amoenus Yonville auf grünem Mantel, »grand manteau déplié qui a un collet de velours vert«.80 Psyches Röcke, unter die der Wind fährt, führen sie nun in diesem glücklichen Tal ihrem Bräutigam zu. Sein Eintreten wird durch ein »leises Geräusch« angekündigt und lässt sie, wie Emma beim Auftritt Léons, schaudern: »Da schaudert es ihr durch alle Glieder. In der großen Einsamkeit ist ihr für ihre Unschuld bange.«81 Von nun an jedoch verbringt Psyche herrliche Nächte mit ihrem Ehemann, dem sie auch in langen Gesprächen nahe ist. Jedoch, und dies ist die Bedingung für diese Liebe, ist es ihr verboten, ihren Liebhaber zu sehen: Nacht für Nacht bleibt er ihr unsichtbar. Am Ende aber ist Psyches Neugierde zu groß. Eines Nachts zündet sie eine Öllampe an und erkennt in dem schlafenden Mann in ihrem Bett den Gott der Liebe selbst. Sie sticht sich aus Versehen an seinen Pfeilen, die im Köcher am Bettende stehen und ist damit, wie Dornröschen durch ihren Stich an der Spindel, verwunschen, nämlich Amor für immer in Liebe verfallen. Unstillbares Verlangen ergreift jetzt Psyche; neugierig beschaut sie die Waffen ihres Gemahls, befaßt sie, bewundert sie. Sie zieht einen Pfeil aus dem Köcher und versucht mit zarten Fingern dessen Spitze. Noch hatte sich das Zittern der Glieder nicht gelegt, stärker als sie will, berührt sie das Eisen und verletzt sich, daß gleich Tröpfchen rosigen Blutes ihre Hand betauen. Von nun an liebt sie Amor.82

Schusselig verbrennt Psyche den Schläfer mit einem Tropfen Öl aus ihrer Lampe. Armor erwacht, Psyche wird aufgrund des Verbots, gegen das sie verstieß, verjagt und findet erst nach vier schwierigen Aufgaben, die ihr die

79 So geschieht es nach den romantischen Wünschen von Charles. MB, S. 422, Flauberts Hervorhebung. Vgl. zu Emmas Sarg Jane Kairet: »Sur la signification mytho-poétique du motif des ›trois cercueils‹ de Madame Bovary«, in: The French Review 70, April (1997), S. 676–686. 80 MB, S. 210. 81 GE, S. 117. 82 GE, S. 135.

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Schwiegermutter, Venus, auferlegt, zu ihrem Geliebten zurück, von dem sie eine Tochter bekommt: Voluptas, die Wolllust. Die berühmten Pfeile Amors, die verliebt machen, stechen in diesem Märchen wie die Nähnadeln der Protagonistinnen im 19. Jahrhundert: Der Stich in den Finger mit der »eisernen« Spitze ist als körperliches Zeichen für die unheilbare Liebe der Frau für den Mann als Eheversprechen zum Sprichwort geworden. Als Ereignis wird dieser Fingerstich in den Texten der anbrechenden Moderne mit der textilen Handarbeit inszeniert und damit geradezu antizipiert. Denn in der Zeitlichkeit der Handarbeit, d.h. als langwierige Beschäftigung und immerfort wiederholte Geste mit der Nadel, wird ein solcher »versehentlicher« Stich tatsächlich, und im bürgerlichen Alltag, wahrscheinlich. Emma wiederholt dieses Zeichen gleich mehrmals, als sie sich bei ihrer ersten Inszenierung im Roman im Beisein von Charles sogar in mehrere Finger sticht (»elle se piquait les doigts, qu’elle portait ensuite à sa bouche pour les sucer«).83 Wie bei Psyche quillt nach dem fatalen Stich im Angesicht des Mannes, in den sie sich nun unsterblich verlieben sollte – Charles –, Blut aus Emmas Fingern; Blut benetzt Psyches Hand. So fällt Charles Blick bei ihrem ersten Treffen auch sofort auf Emmas Hand und auf ihre Augen, mit denen Apuleius’ Heldin ihren unsichtbaren Ehemann ›erkennt‹. Psyches neugieriger, dreister Blick spiegelt sich in Emmas »regard avec une hardiesse candide«.84 Der Witz des Märchens von Amor und Psyche liegt nun unter anderem im C Namen der Protagonistin: Das altgriechische Wort psyche ( @AB ) bezeichnet nicht nur die menschliche Seele, sondern ebenso den Schmetterling. So gibt die bildende Kunst Psyche einen Schmetterling als Attribut oder stellt sie mit Schmetterlingsflügeln dar.85 Enttäuschte Hoffnung, gefährliche Neugierde und voluptas bilden ein Paradigma, das als Intertext von »Amor und Psyche« im

83 MB, S. 162. 84 »Ce qu’elle avait de beau, c’étaient les yeux ; quoiqu’ils fussent bruns, ils semblaient noirs à cause des cils, et son regard arrivait franchement à vous avec une hardiesse candide.« MB, S. 162. 85 Die Darstellungen Psyches in der Bildenden Kunst etabliert sie als Allegorie der menschlichen Seele. So zeigt es etwa das seit 1822 im Louvre ausgestellte berühmte Gemälde von François Gérard: Psyché et l’Amour, Öl auf Leinwand, 186 cm x 132 cm, Louvre, Paris, 1798.

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Motiv des Schmetterlings aufgerufen wird.86 In Madame Bovary taucht der Schmetterling häufig und in exponierter Form auf. Er begleitet als Versatzstück den geschlossenen Raum und damit den Diskurs der Ehe bzw. der Vereinigung zweier Liebender und spielt auf den locus amoenus Psyches an. Ganz zu Beginn des Romans bereits erscheint ein Schmetterling als »papillons de nuit«. Andere kreisen um die Kerze, im Lichte derer der junge Charles Bovary über seinen Büchern eingeschlafen ist, nachdem das Angelus geläutet worden war.87 Im Gartenpark in Tostes jagt Emmas Hündin »papillons jaunes«.88 Die Überreste von Emmas ramponiertem Hochzeitsbouquet, das sie vor ihrem Umzug nach Yonville in die Flammen wirft, flattern im Kaminfeuer wie »papillons noirs«.89 Auch Rodolphes berühmten Verführungsdiskurs auf den Comices agricoles begleiten Schmetterlinge, »papillons blancs«; in seinen blankgewichsten Stiefeln spiegelt sich das grüne Gras, das an Psyches Rasen erinnert. Als sich die Finger von Emma und Rodolphe dort oben im Rathaussaal am Fenster verschlingen, hebt unten auf dem Platz ein Windstoß die sommerlichen Stoffe wie Schmetterlingsflügel: Rodolphe lui serrait la main, et il la sentait toute chaude et frémissante comme une tourterelle captive qui veut reprendre sa volée ; mais, soit qu’elle essayât de la dégager ou bien qu’elle répondît à cette pression, elle fit un mouvement des doigts ; il s’écria : — Oh ! merci ! Vous ne me repoussez pas ! Vous êtes bonne ! vous comprenez que je suis à vous ! Laissez que je vous voie, que je vous contemple ! Un coup de vent qui arriva par les fenêtres fronça le tapis de la table, et, sur la Place, en bas, tous les grands bonnets des paysannes se soulevèrent, comme des ailes de papillons blancs qui s’agitent.90

86 Vgl. zum Schmetterling und zu Apuleius’ Märchen meinen Artikel »Schmetterling«, in: Barbara Vinken/Cornelia Wild (Hrsg.): Arsen bis Zucker. Flaubert-Wörterbuch, Berlin: Merve, 12010, S. 231–236, und zum Goldenen Esel in Flauberts Gesamtwerk: Goddard, »Flaubert, Apuleius and Ovid« (Anm. 38). 87 MB, S. 156. Der Schmetterling ist bei Flaubert selten ein schönes Insekt, sondern hat vielmehr den textilzerstörenden Charakter von Motten. Solche »papillons« kommen aus dem Kleiderschrank der verstorbenen Virginie in Un cœur simple. Hier rufen sie zusätzlich den Seelenbegriff Platons auf. Vgl. »Schmetterling« (Anm. 86). 88 MB, S. 188. 89 MB, S. 209. 90 MB, S. 282.

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Das Märchen von Amor und Psyche ist hier ausdrücklich angezeigt, insbesondere im Windstoß, der unter die Textilien fährt, und auch mit Emmas Hand, die bereit ist »wegzufliegen«. Rodolphe schließlich adressiert Emma wieder wie ein Bild und verweist mit seinem Ausruf »Laissez que je vous voie, que je vous contemple!« gleichzeitig auf die verbotene Betrachtung des Liebesgottes unter Psyches neugierigem Blick. Die Affäre von Emma mit Léon ist ebenfalls von »papillons blancs« begleitet und markiert nochmals eindrücklich Flauberts Verfahren, Raum in seinem Roman aus Bildern von Räumen zusammenzubauen, die von diversen, zu Raummodellen funktionalisierten Intertexten herstammen. Weiße Schmetterlinge rieseln während des Liebesaktes der beiden auf einer rasanten Odyssee durch Rouen als Briefschnipsel aus dem Kutschfenster auf ein Feld von blühendem Klee. Die Fahrt geht von Garten zu Garten, von einem Rasen zur Weite eines roten Feldes. Der Kutscher »poussa la voiture en dehors des contre-allées, au bord de l’eau, près du gazon« und hält »devant le Jardin des plantes«;91 ungeduldig fordert Léon ihn zum Weiterfahren auf. In der grotesken Gestalt dieses bemitleidenswerten Fahrers, der »presque pleurant de soif« bis zur völligen Erschöpfung dahinrast, wiederholt sich als Karikatur körperlicher Erregung, was sich im Inneren der Kutsche vollzieht.92 Die Kutsche mit dem Liebespaar darin zieht seine Linien ähnlich wie Emmas Fingerreisen auf dem Stadtplan von Paris, erschafft jedoch nun die Stadtkarte selbst mit: Durch die chaotische Bewegung der Kutsche, die den Sexualakt metonymisch metaphorisiert – Hin- und Her, im Kreis, langsam und schnell, stop and go – entsteht ein Stadtplan von Rouen aus einem ebenso chaotischen Katalog von Straßennamen. Ankerpunkte bilden dabei die Rastorte der Tour, die Grünflächen, die Gärten und Rasen. Das Gefährt baut in seinem parcours einen Raum von der imaginären Karte zum Gartenraum im Zeichen des Schmetterlings, d.h. im Zeichen der Geschichte von Amor und Psyche, aus. Das Verhältnis von Karte und Parcours, wie de Certeau es beschreibt, wird dabei auf den Kopf gestellt.93 Bild (»tableau«/»voir«) und Bewegung (»mouvement«/»aller«) stehen

91 MB, S. 366. 92 Zur Karikatur bei Flaubert und seinem »sarcastic pencil« vgl. Jean Seznec: »Flaubert and the graphic Arts«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 8 (1945), S. 175–190. Hier: S. 182. 93 Michel de Certeau: L’invention du quotidien. 1 Arts de faire, nouvelle Édition, établie et présentée par Luce Girard, Paris: Gallimard, S. 175 180.

2

1990, »Parcours et cartes«,

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sich zwar oppositionell gegenüber,94 doch anstatt ausgehend von einer zweidimensionalen carte durch Bewegungsvektoren im parcours einen Raum zu kreieren, entsteht in Flauberts Text mit der chaotischen Kutschfahrt die Karte im Raum gleichzeitig mit. De Certeau erklärt zum Zusammenhang von Karte und Itinerar: [U]n élément de carte est le postulat d’un itinéraire. Le tissu narratif où prédominent les descriptions d’itinéraires est donc ponctué de descripteurs du type carte qui ont pour fonction d’indiquer soit un effet obtenu par le parcours (»tu vois…«), soit une donnée qu’il postule comme sa limite (»il y a un mur«), sa possibilité (»il y une porte«), ou une obligation (»il y a un sens unique«), etc. La chaîne des opérations spatialisantes semble piquetée de références à ce qu’elle produit (une représentation de lieux) ou à ce qu’elle implique (un ordre social). On a ici la structure du récit de voyage: des histoires de marches et de gestes sont jalonnées par la »citation« des lieux qui en résultent ou qui les autorisent.95

Der Katalog der Toponyme in Madame Bovary − Straßennamen, Quartiers, einige Kirchen als Angelpunkte, der Hafen, sogar ein Cabaret −96 als »Elemente« dieser Karte und damit als »postulat d’un itinéraire« streicht den ordnenden Charakter einer solchen durch: Die Stadtkarte, die durch die wilde Fahrt entsteht, ist eine Karte, die eben nicht der Orientierung dient. Diese Karten-Verwirrung zeigen ihre Teilnehmer selbst an: Die Passanten, die diesen Stadtplan von Rouen in ihren Bewegungen in der Stadt (»aller«) praktizieren, wiederholen die Entstehung dieser chaotischen Karte noch einmal, in dem sie der Fahrt zusehen (»voir«) und ihr damit Punkte zuordnen, die das rasende Gefährt als Linien miteinander verbindet:97 On la vit [la voiture] à Saint-Pol, à Lescure, au mont Gargan, à la Rouge-Mare, et place du Gaillard-bois ; rue Maladrerie, rue Dinanderie, devant Saint-Romain, Saint-Vivien, SaintMaclou, Saint-Nicaise, − devant la Douane, − à la basse Vieille-Tour, aux Trois-Pipes et au Cimetière Monumental. De temps à autre, le cocher sur son siège jetait aux cabarets des

94 »[O]u bien voir (c’est la connaissance d’un ordre des lieux), ou bien aller (ce sont des actions spatialisantes)«. Ebd., S. 176. 95 Ebd., S. 177. 96 Bei den »Trois-Pipes« handelt es sich um ein Cabaret. MB, S. 1181, Anm. 14. 97 Certeau definiert Raum als praktizierten Ort: »En somme, l’espace est un lieu pratiqué.« Certeau, Arts de faire, S. 173 (Anm. 12).

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regards désespérés. Il ne comprenait pas quelle fureur de la locomotion poussait ces individus à ne vouloir point s’arrêter. […] Et sur le port, au milieu des camions et des barriques, et dans les rues, au coin des bornes, les bourgeois ouvraient de grands yeux ébahis devant cette chose si extraordinaire en province, une voiture à stores tendus, et qui apparaissait ainsi continuellement, plus close qu’un tombeau et ballottée comme un navire.98

Als Vereinigung der Liebenden erschafft diese Kutschfahrt den Gartenraum, der im Gefährt »plus close qu’un tombeau et ballottée comme un navire« als geschlossener, geradezu versiegelter Raum angezeigt ist.99 Als veritabler espace autre im Sinne Foucaults steht diese Kutsche mit anderen Räumen in Spannung und zeigt diese gleichzeitig mit an. Was es mit dieser kategorischen räumlichen Versiegelung um die Heldin herum auf sich hat, die im eigenartig superlativen Bild von einem Grab formuliert ist, erschließt sich aus der Tatsache, dass es mit dieser Fahrt ja nun tatsächlich auf offenes Feld hinausgeht. Emma kann lediglich aus ihrem verrammeltem Kasten hinausgreifen, um die Briefschnipsel ihrer ursprünglichen Absage an Leon auf roten Blumen wie Schmetterlinge aussehen zu lassen und so den Intertext aufzurufen, um den es hier geht. Denn im Bild des rasenden Grabes als Ort sexueller Ekstase mit dem schwitzenden Kutscher oben auf wird noch einmal darauf angespielt, wie Psyche ihrem Liebhaber, bzw. der Liebe selbst, Amor, zugeführt wird (»sie geht zum Leichenbegräbnis, nicht zur Hochzeit«).100 In diesem Sinne endet die Sex-Szene in Madame Bovary, die von der Revue de Paris gestrichen wurde und als »Scène du fiacre« zu den berühmtesten Textstellen des Romans zählt,101 mit Schmetterlingen auf einem Feld. [U]ne main nue passa sous les petits rideaux de toile jaune et jeta des déchirures de papier, qui se dispersèrent au vent et s’abattirent plus loin, comme des papillons blancs, sur un champ de trèfles rouges tout en fleur.102

Auch die Szene in der Kutsche als weiteres Inklusorium Emmas ist mit seinen gelben Vorhängen als Fensterszene erzählt und verweist auf den Beginn von Emmas Geschichte, ihren Hochzeitstag. Apuleius’ Märchen ist dort in der mehr-

98

MB, S. 366 267.

99

MB, S. 367.

100 GE, S. 109. 101 Leclerc, Yvan: Crimes écrits. La littérature en procès au XIXe siècle, Paris: Plon, 1

1991, S. 171 173.

102 MB, S. 367.

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stöckigen Hochzeitstorte zum Bild geworden die in ihrer kunstvollen Konstruktion auch Psyches Geschichte vor Augen stellt. Ihre zuckersüßen Versatzstücke listen auf: eine grüne Wiese mit Felsen und Wasser, einen Tempel mit Säulengängen und auf der obersten Plattform triumphierend Amor, der Liebesgott. On avait été chercher un pâtissier à Yvetot, pour les tourtes et les nougats. Comme il débutait dans le pays, il avait soigné les choses ; et il apporta, lui-même, au dessert, une pièce montée qui fit pousser des cris. À la base, d’abord, c’était un carré de carton bleu figurant un temple avec portiques, colonnades et statuettes de stuc tout autour, dans des niches constellées d’étoiles en papier doré ; puis se tenait au second étage un donjon en gâteau de Savoie, entouré de menues fortifications en angélique, amandes, raisins secs, quartiers d’oranges ; et enfin, sur la plate-forme supérieure, qui était une prairie verte où il y avait des rochers avec des lacs de confitures et des bateaux en écales de noisettes, on voyait un petit Amour, se balançant à une escarpolette de chocolat, dont les deux poteaux étaient terminés par deux boutons de rose naturels, en guise de boules, au sommet.103

Diese dreistöckige Hochzeitstorte zeigt in den als Zuckerwerk nachgebildeten Landschaftselementen ein Potpourri verschiedener Diskurse an, wie es das Keepsake-Bild in Emmas Kloster noch ein weiteres Mal tun wird. Dabei liegt der Fokus dem Ereignis der Hochzeit entsprechend auf dem Diskurs der Vereinigung zweier Liebender, Bräutigam und Braut, dessen Schauplatz seit jeher der Garten ist: Das idyllische Tal bei Apuleius, die erotischen Gärten der orientalischen Tradition, die biblischen Gärten der Genesis und des Hoheliedes, der Hortus conclusus, die Gärten der Minne, Moralistik und Romantik und nun, mit Flaubert, der ironisierte, zu einem »le tout« zusammengebrachte Gartenraum der Moderne. Das »Fundament« dieser monströsen Torte bildet ein viereckiges Stück blauen Kartons als Tempel. Seine Säulen und Kolonnaden erinnern nicht nur an das Traumschloss Amors, sondern ebenso an die arkadischen Säulengänge des Vergil’schen locus amoenus. Im zweiten Stock ist als Burg die mittelalterliche Minne angezeigt. Der für sie zentrale Punkt weiblicher Inklusion wird in der Befestigungsanlage um den »Bergfried« herum (»entouré de menues fortifications«) deutlich dargestellt. Die Verteidigungssituation einer imaginären, im Turm befindlichen und zu freienden weiblichen Figur ist in den Begriffen »donjon« und »fortifications« unterstrichen. Der Hauptdiskurs, in dem die Ehe von Emma und Charles Bovary im Bild der zuckersüßen, überladenen Kitsch-Torte ausformuliert wird, bildet als Höhepunkt der Torte des wohlgemerkt debütieren-

103 MB, S. 174.

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den, maßlos übertreibenden Konditors, der wie sein Kuchen in der Chronologie des Romans am Anfang steht, eine Gartenlandschaft mit Felsen und Seen, wo ein Amor schaukelt. Die Schaukel des wankelmütigen Liebesgottes ist mit zwei Rosen gekrönt. Diese echten Rosen (»roses naturels«) auf dem artifiziellen Backwerk nehmen als marianischer Diskurs den blauen Grund der Mariendarstellungen noch einmal auf, der als »blauer Karton« einen Tempel darstellt und mit Goldsternen übersäht ist: Der Sternenhimmel, der sternenübersäte blaue Mantel, ist das Mariensymbol der Romantik.104 In dieser Landschaft, mit der Emmas Hochzeitstorte gipfelt, sind das antike Märchen von der Ehe mit dem Liebesgott und die marianische Geschichte vom heilsbringenden Bräutigam zu einer Ehe-Geschichte verschmolzen. Die geradezu monströse Torte, »pièce monté qui fit pousser des cris«, vereint Diskurse, die nicht zusammenpassen. Sie stellt – ähnlich wie Charles’ Mütze – ihre eigene Gemachtheit als groteskes Bild im Sinne Bachtins zur Schau. Sie zeigt die »Möglichkeit einer ganz anderen Welt, einer anderen Weltordnung, eines anderen Lebens« an, die die Welt der bürgerlichen idées reçues zu einem karnevalesken Spektakel macht, so wie es die Hochzeitsgäste im Anblick der Hochzeitstorte mit ihren begeisterten »Schreien« bezeugen.105 Mit Emmas Hochzeitstorte ist der profane Diskurs mit dem religiösen, das Märchen mit der christlichen Heilsgeschichte in einem »dreistöckigen« Potpourri verbunden, das einen Gartenraum ausformuliert, der ganz offensichtlich aus verschiedenen Intertexten zusammengebaut ist wie dieser Kuchen. Eine Schaukel, in dem der Liebesgott unter der Marienblume thront, stellt die vermeintlich dargestellte Landschaft »sur la plate-forme supérieure, qui était une prairie verte où il y avait des rochers avec des lacs de confitures et des bateaux en écales de noisettes« als Garten aus wie auch das ironische, wilde, die Dinge umkehrende Spiel, das Flaubert mit den aufgefahrenen Diskursen treibt. Dieses als spektakuläre Torte verkaufte Gartenchaos als Zusammenschau all der berühmten Geschichten von geschlossenen Räumen wird in seinem Debütroman zum Höhepunkt einer bürgerlichen Hochzeit.

104 Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik, Regensburg: Joseph Manz, 11854 (2 Bde), Bd. II., »Sterne«, S. 411 413. 105 Bachtins Groteske-Begriff lehnt das »Unheimliche« ab, das Wolfgang Kayser in ihr ausmacht und spricht ihr im Begriff des Karnevals einen zyklischen Charakter der Wiederholung zu. Michail Bachtin: Literatur und Karneval, übers. v. Alexander Kämpfe, München: Hanser, 11969 (Reihe Hanser, 31). Hier: S. 26.

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TERRIBILIS :

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BOURGEOISE «

Die Konstruktion von Emmas Tal um Yonville aus verschiedenen Intertexten zielt letzten Endes ab auf den Kern dieser geographischen Umschlossenheit, Emmas foyer, und deren Umkehrung in einen höchst unglücklichen Ort. Eine solche Umkehrung eines Glücksortes in einen Ort des Horrors über die Inszenierung einer weiblichen Figur in einem Tal findet man in Balzacs Père Goriot, wo eine »illustre vallée« mitten in Paris eine von verschiedensten Menschen bewohnte Pension beherbergt, die als Milieu gleichzeitig ganz Paris abbildet. Der berühmte Anfang des Romans mit der Beschreibung der Pension von Madame Vauquer gilt als Paradebeispiel für die literarische Konzeption und Konstruktion von Raum. An diesem Beispiel enwickelt Michel Butor in einer Gegenüberstellung von »lieu« und »espace parcouru« bzw. »espace vécu« seine Raumtheorie,106 die den romancier als »peintre du décor, mais aussi peintre de personnages« versteht und den erzählten Gegenständen eine raumkonstitutive Funktion zuspricht, »de façon à constituer dans l’espace imaginé des figures précises et stables«.107 Die Geschichte des Père Goriot beginnt im Jahre 1819 mit einer Frauenfigur: »Madame Vauquer, née de Conflans, est une vieille femme qui, depuis quarante ans, tient à Paris une pension bourgeoise établie rue Neuve-Sainte-Geneviève.« Diese Geschichte als »drame« »dans ce temps de douloureuse littérature« soll den Leser dazu bringen, »quelque larmes intra muros et extra« zu vergießen. Mit der Frage, ob man diese Geschichte auch außerhalb von Paris verstünde (»Sera-t-elle comprise hors de Paris?«), schließt das Argument der »couleurs locales« an.108 Diese lokaltypischen Charakteristika, die die Geschichte zu illustrieren gedenke, offenbarten sich laut Balzacs Erzähler erstens nur zwischen zwei Anhöhen (in einem Tal als Ort der Schmerzen, des Leids und der falschen Freuden, einem Ort von Tugend und Sünde), und zweitens geht ihnen ein Gartenmodell voraus, auf das die verschlungene Frucht des Sündenfalls hindeutet.

106 Butor, Michel Butor: »L’espace du roman«, in: M.B.: Essais sur le roman, Paris: Gallimard, 11969, S. 48–58. Zu aktuellen Ansätzen zu Balzacs Raumkonzeption vgl. exemplarisch Meineke, »Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot«, (Anm. 249). 107 Butor, »L’espace du roman«, S. 53 54 (Anm. 106). 108 Honoré de Balzac: Le père Goriot (1834−1835), préface de Félicien Marceau,. Nnotices et notes de Thierry Bodin, Paris: Gallimard, 11999, S. 21. Im Folgenden PG.

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Les particularités de cette scène pleine d’observations et de couleurs locales ne peuvent être appréciées qu’entre les buttes Montmartre et les hauteurs de Montrouge, dans cette illustre vallée de plâtras incessamment près de tomber et de ruisseaux noirs de boue; vallée remplie de souffrances réelles, de joies souvent fausses, et si terriblement agitée qu’il faut je ne sais quoi d’exorbitant pour y produire une sensation de quelque durée. Cependant il s’y rencontre çà et là des douleurs que l’agglomération des vices et des vertus rend grandes et solennelles: à leur aspect, les égoïsmes, les intérêts, s’arrêtent et s’apitoient; mais l’impression qu’ils en reçoivent est comme un fruit savoureux promptement dévoré.109

In diesem Tal, so geht es weiter, befindet sich die Maison-Vauquer mit ihrem Garten. Flaubert bedient sich des Balzac’schen Romaneinstiegs, der in »lokalen Farben« von diesem Jammertal erzählt, für Madame Bovary im Sinne einer aemulatio; Madame Vauquers Garten trägt nur eine weitere Semantik in das Flaubert’sche Gartenbilder-Potpourri ein, in dem seine Heldin gezeigt wird. So wie das Tal, in dem Yonville liegt, von Anhöhen eingeschlossen ist, liegt Balzacs Tal zwischen »Hügeln« und »Anhöhen«, »entre les buttes de Montmartre et les hauteurs de Montrouge«.110 Wie in Yonville hat sich auch hier im Laufe der Jahre nichts verändert.111 Mit dem Motto »intra muros et extra«,112 das Balzac seinem Roman und dessen Auftakt von einem dreistöckigen Wohnhaus im abgeschotteten Tal voranstellt, ist auch hier die Emphase auf eine Fragestellung gelegt, die sich am Hortus conclusus kristallisiert. Der Konflikt von innen und außen wird an einem bürgerlichen foyer verhandelt, das eine Marienfigur inszeniert und deren Garten in ein beinahe unzugängliches Tal verlegt wird. Unter Rückgriff auf den locus amoenus und auf das Liebestal Amors wird der scheinbare Glücksort bei Balzac in einem Verfahren klarer Antithesen zum locus horribilis umkehrt. Balzacs Ankerfigur dieses Raumes, Madame Vauquer, doppelt dabei das Bild von ihrem Lebensraum als deskriptives tableau und damit

109 PG, S. 22. 110 Ebd.. 111 Dies ist auch an dem Gemälde abzulesen, das im Esszimmer hängt und seit Jahrzehnten Gegenstand der Scherze der jungen, dort speisenden Pensionsgäste ist: »Depuis quarante ans cette peinture excite les plaisenteries des jeunes pensionnaires«. Es handelt sich um eine Darstellung des von Calypso für Odysseus’ Sohn ausgerichteten Festmahls. PG, S. 26. 112 PG, S. 21.

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den Lebensraum einer ganzen Figurengruppe,113 dessen Darstellung auf eine »dämonisch-organische Ganzheitsvorstellung« abzielt, wie Erich Auerbach es nennt. Auerbach spricht in diesem Zusammenhang von Balzacs »Besessenheit von suggestiven Bildern«, die zum »dämonischen Charakter« der dargestellten Figuren und Gegenstände führten. Dieses Dämonische gebe den Figuren und Dingen eine zweite, weitreichende, ja symbolische Bedeutung in dieser »Einheit eines bestimmten Lebensraumes«, um die es Balzac geht.114 Mit dieser Ganzheitsvorstellung, die die Maison-Vauquer vor Augen führt, ist gleichzeitig ein (Stadt-)Raum als Ganzes und damit die Topographie im tableau als »komprimierte[] Form«,115 als Bild also, markiert. Die Parallelen von Balzacs Stadtraum und Flauberts ländlicher Szenerie als Provinzstadtraum sind dabei unverkennbar. In Flauberts Roman bleibt eine klare antithetische Struktur innerhalb der Raumkonstitution freilich zugunsten eines ironischen Diskurses subtil. Auch Balzacs »Tal« ist infrastrukturell abgeschottet, die Mauern werden gar zu Gefängnismauern. Wie Léon in Yonville nicht über den Abhang der Anhöhe hinauskommt und das Städtchen allem Fortschritt trotzt, tun sich bei Balzac die Pferde schwer – also Reiter, Kutschen und Marktwägen –, die steile Straße zur Pension hinunter (oder von dort wieder hinauf) zu überwinden. La maison où s’exploite la pension bourgeoise […] est située dans le bas de la rue NeuveSainte-Geneviève, à l’endroit où le terrain s’abaisse vers la rue de l’Arbalète par une pente si brusque et si rude que les chevaux la montent ou la descendent rarement. […] [L]e bruit d’une voiture y devient un événement, les maisons y sont mornes, les murailles y sentent le prison.116

Das Tal im Père Goriot wird aus der Perspektive eines Anreisenden geschildert, eine Idee, die sich Flaubert bei der Beschreibung des Tals, in dem Yonville liegt, abschauen wird. Diese Anreise liest sich bei Balzac als »Abstieg« in »unbe-

113 Zum Balzac’schen Begriff des tableau vgl. Eva-Tabea Meineke: »Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot«, in: Franziska Sick (Hrsg.): Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte. Literarische Räume vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Tübingen: Narr Francke Attempto, 12012 (Édition lendemains, 27), S. 69–80, S. 70. 114 Auerbach, »Im Hôtel de la Mole«, S. 439 (Anm. 16). Vgl. Meineke, »Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot«, S. 71 (Anm. 113). 115 Ebd., S. 77. 116 PG, S. 23.

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kannte« Gefilde, ins Horrorviertel von Paris: »Nul quartier n’est plus horrible, ni, disons-le, plus inconnu […], le jour diminue et le chant du conducteur se creuse, alors que le voyageur descend aux Catacombes«.117 Nach seinem Abstieg in dieses Tal kommt der Reisende an einem quadratischen Garten heraus (»aussi large que la façade est longue«), der von einem grünen »Mantel« (»un manteau de lierre«) vor den Blicken der Passanten wie ein umwuchertes Dornröschenschloss versteckt ist (bei Flaubert heißt es: »La campagne ainsi ressemble à un grand manteau déplié qui a un collet de velours vert«).118. In einem »effet pittoresque« zieht dieser Efeumantel nicht nur den Blick aller Passanten auf diese Gartenmauer, sondern markiert die Bildvorlage dieses geschlossenen Gartens. Hinter der Grenzmauer befindet sich die glückliche Idylle eines fruchtbaren Gartens als stiller Hain – aus der Sicht von Madame Vauquer: »Pour elle seule ce petit jardin, que le silence et le froid, le sec et l’humide faisait vaste comme un steppe, était un riant bocage.«119 In Wirklichkeit ist dieser Garten eine Ödnis, geisterhaft still und zu kalt, hier zu trocken und dort zu feucht. So zeigt es der verunglückte Wein an, dessen Trauben keine dionysischen Früchte rauschhaften Glückes sind, sondern, verkümmert und staubtrocken, ein Ursprung von Sorge und Kummer. Le jardinet, aussi large que la façade est longue, se trouve encaissé par le mur de la rue et par le mur mitoyen de la maison voisine, le long de laquelle pend un manteau de lierre qui la cache entièrement, et attire les yeux des passants par un effet pittoresque dans Paris. Chacun de ces murs est tapissé d’espaliers et de vignes dont les fructifications grêles et poudreuses sont l’objet des craintes annuelles de madame Vauquer et de ses conversations avec les pensionnaires. Le long de chaque muraille, règne une étroite allée qui mène à un couvert de tilleuls […]. Entre les deux allées latérales est un carré d’artichauts flanqué d’arbres fruitiers en quenouille, et bordé d’oseille, de laitue ou de persil.120

Flaubert folgt Balzacs Gartenpassage in mehreren Versatzstücken, die er auf die beiden Gärten in Tostes und Yonville aufteilt. Die Beschreibung des Gartens in Tostes beginnt tatsächlich mit dem beinahe gleichen Wortlaut wie Balzacs Passage und formuliert sofort die Umschlossenheit dieses Gartens in einer Variation aus; »encaissé« von zwei grün bewachsenen Mauern bei Balzac, »entre deux murs« mit Dornenhecke bei Flaubert:

117 Ebd. 118 MB, S. 210. 119 PG, S. 39. 120 PG, S. 24 25.

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Le jardin, plus long que large, allait, entre deux murs de bauge couverts d’abricots en espalier, jusqu’à une haie d’épines qui le séparait des champs. Il y avait au milieu un cadran solaire en ardoise, sur un piédestal de maçonnerie ; quatre plates-bandes garnies d’églantiers maigres entouraient symétriquement le carré plus utile des végétations sérieuses. Tout au fond, sous les sapinettes, un curé de plâtre lisait son bréviaire.121

Wie Emmas Garten in Tostes ist der Garten im Père Goriot von einem »carré« dominiert. Um dieses Viereck herum ordnen sich Obstbäume, Kopfsalat und Küchenkräuter an. Die Spaliere bei Balzac tauchen als Aprikosenspalier bei Flaubert auf und nehmen damit den fatalen Aprikosenkorb bereits vorweg, mit dem Emmas Affäre mit Rodolphe im Garten von Yonville so bitter endet. In beiden Texten ist die Nützlichkeit des Gartens, die in seiner symmetrischen Ordnung aufgerufen scheint, im Diskurs der verkümmerten Unfruchtbarkeit durchgestrichen: Mit seinem dürren Wein »vaste comme un steppe« bei Balzac, ist der Garten bei Flaubert von »mageren« Heckenrosen markiert, die das carré des Gemüsebeetes umrunden. Dieses ist in Madame Bovary nicht näher beschrieben; im Père Goriot wachsen blau blühende Pflanzen darin: Artischocken. Mit den mageren Heckenrosen und blauen ›Blumen‹, die lediglich Nutzpflanzen sind (tatsächlich fehlen Blumen vollkommen im Garten der Vauquer), ist der blumenreiche, glücksbringende marianische Garten bei Balzac zum dörren Unglücksort geworden. Während Emma nichts vom Gärtnern hält und diesen ihren »éternel jardin« in Tostes beklagt, stellt der Küchengarten das glücksbringende Ressort der Pensionsbesitzerin Madame Vauquer dar. Er ist Teil dieser heruntergekommenen, bürgerlichen »maison jaune et morne, qui sentait le vert-de-gris du comptoir«,122 die mitsamt ihrem verschlissenen und wild kombinierten Mobiliar ihre Bewohner vorwegnimmt und doppelt.123 So passt auch Emmas Garten in Tostes mit seinen kümmerlichen Heckenrosen zu ihrem Interieur mit der gelben (»jaune serin«), abblätternden Tapete aus blassem Blumendruck. Dass Haus und Garten untrennbar Eins sind, zeigt Emmas Bemühen, ihr heruntergekommenes, ›marianisches‹ Zuhause und damit ihr eigenes Bild aufzupolieren: Wie sie das Interieur neu streichen lässt und die Tapete erneuert, so verschönert sie auch den Garten, stellt Bänke um die Sonnenuhr auf und plant die Anschaffung einer idyllische

121 MB, S. 177. 122 PG, S. 39. 123 Vgl. hierzu Butor, »L’espace du roman« (Anm. 106).

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Quelle, eines marianischen Brunnens als »bassin à jet d’eau«, mit Fischen sogar.124 Wenn Emmas Garten ein ewig geschlossener und unglücklicher ist, der sie mehrmals in Nervenkrisen und schließlich zur Vergiftung treibt, spielt Balazc bei der Beschreibung der Vauquer’schen Pension auf geschlossene Anstalten an, Gefängnis, Katakomben und Hospiz; die Pension »sent le renfermé, le moisie, le rance; elle est humide au nez, elle pénètre les vêtements«.125 Emmas erster Eindruck ihres Hauses in Yonville ist ein ähnlicher: Die Gipsmauern senken sich wie ein feuchtes, schweres Stück Wäsche auf sie herab und machen das drückende Gefühl des Eingesperrtseins haptisch erfahrbar. Emma, dès le vestibule, sentit tomber sur ses épaules, comme un linge humide, le froid du plâtre. Les murs étaient neufs, et les marches de bois craquèrent. Dans la chambre, au premier, un jour blanchâtre passait par les fenêtres sans rideaux. On entrevoyait des cimes d’arbres, et plus loin la prairie, à demi noyée dans le brouillard, qui fumait au clair de la lune, selon le cours de la rivière. Au milieu de l’appartement, pêle-mêle, il y avait des tiroirs de commode, des bouteilles, des tringles, des bâtons dorés avec des matelas sur des chaises et des cuvettes sur le parquet, − les deux hommes qui avaient apporté les meubles ayant tout laissé là, négligemment.126

Trotz der neuen Mauern des Hauses herrscht eine der Balzac’schen Pension sehr ähnliche Atmosphäre der Verwahrlosung vor (»négligence«). Wenn Balzac mit dem abgegriffenen Interieur gleichzeitig seine Figuren beschreibt, so sind die Teile des Mobiliars bei Flaubert, die wild durcheinander liegen, in ihrem Chaos bezugslos und sinnbefreit. Balzacs semantisierender Bezug von Figur und Dekor wird in Flauberts Text für einen größeren Zusammenhang funktionalisiert. Im Diskurs des Gartenraumes, in dem Emma eingeschlossen ist, wird ihre seelische Not als unerfülltes bourgeoises Heilsversprechen erzählt und in Rückgriff auf berühmte, von schönen Orten erzählende profane und sakrale Text- und Bildvorlagen herausgearbeitet, deren Überbietung Flaubert mit seiner Geschichte »über nichts« behauptet. Madame Vauquer mit ihrer beinahe zärtlichen Bindung zu ihrem kümmerlichen Garten, die kein Mensch versteht, thront dort, ihrem Ort des Glücks, geradezu allegorisch und modelliert gerade dadurch das absolute Gegenteil heraus:

124 MB, S. 178. 125 PG, S. 27. 126 MB, S. 224.

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In sämtlichen Versatzstücken wird dieser vermeintliche locus amoenus zu einem einsperrenden, krank machenden locus terribilis verkehrt. [E]nfin toute sa personne explique la pension, comme la pension explique sa personne. […] Son jupon de laine tricotée, qui dépasse sa première jupe faite avec une vieille robe, et dont la ouate s’échappe par les fentes de l’étoffe lézardée, résume le salon, la salle à manger, le jardinet, annonce la cuisine et fait pressentir les pensionnaires. Quand elle est la, ce spectacle est complet.127

Die Vauquer komplettiert dieses »spectacle«, also dieses Pariser Tal und sein darin inszeniertes foyer, und zwar in den Textilien, die sie wie uralte, verschlissene Schichten trägt und die dieses heruntergekommene Interieur zur Schau stellen. Auerbach versteht den Unterrock der Vauquer »als eine Synthese der verschiedenen Räumlichkeiten der Pension«, der so für einen Augenblick zum »Symbol des Milieus« werde.128 Die Spektakularität dieses »Symbols« bei Balzac resultiert tatsächlich aus dessen Bezug zur marianischen Ikonographie und deren Modellierung wiederum auf den Gärten der Idylle. Wenn Balzac mit dieser verschlissenen Marienfigur im Hortus conclusus und seinem schrecklichen Tal auf die Tradition des locus amoenus zurückgreift, so formuliert das aus Strickwerk und neu zusammengenähten, alten Röcken zusammengestückelte Outfit der Vauquer das Prinzip aus alt mach neu: Im Rückgriff auf alte Topoi revolutioniert Balzac als Poetologie des Dekors hiermit die Figurenkonzeption des Romans. Die einzig glückliche Figur dieses schrecklichen Tals »thront« als Hausherrin in ihrem traurigen, krank machenden Inklusorium, das sie selbst zu einem idyllischen Gartenbild erhebt. Hier taucht der Vergleich mit der weiten Steppe auf, dessen sich auch Flaubert zur Semantisierung des Gartens seiner Heldin bedient, welcher als Lustort mit Léon nach dessen Abreise als »un steppe de Russie, un feu de voyageurs abondonné sur la neige« konterkariert wird.129

127 PG, S. 29. 128 Auerbach versteht den Unterrock der Vauquer »als eine Synthese der verschiedenen Räumlichkeiten der Pension«, der damit für einen Augenblick zum »Symbol des Milieus« werde. Auerbach, »Im Hôtel de la Mole«, S. 438 (Anm. 16). 129 MB, S. 259. Bei dieser Rede von der Steppe handelt es sich um einen romantischen Gemeinplatz, der wohl ein Resultat der Napoleonischen Kriege ist. Balzac, der bekanntlich ein großer Verehrer Napoleons war, erzählt in Les illusions perdues (18361843) die Freundschaft zwischen dem in Paris einsamen Poeten Lucien de Rubempré zu D’Arthez mit folgendem Vergleich: »[Lucien] se serrait contre lui

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La plus heureuse de ces âmes désolées était madame Vauquer, qui thrônait dans cet hospice libre. Pour elle seule ce petit jardin, que le silence et le froid, le sec et l’humide faisait vaste comme un steppe, était un riant bocage. Pour elle seule cette maison jaune et morne, qui sentait le vert-de-gris du comptoir, avait des délices. Ces cabanons lui appartenaient. Elle nourrissait ces forçats acquis à des peines perpétuelles, en exerçant sur eux une autorité respectée. Où ces pauvres êtres auraient-ils trouvé dans Paris, au prix oú elle les donnait, des aliments saints, suffisants, et un appartement qu’ils étaient maîtres de rendre, sinon élégant ou commode, du moins propre et salubre ? 130

Madame Vauquer persifliert die Marientugenden als thronende Königin in einem düsteren, verschlissenen locus terribilis. Der Garten ist ihr idyllischer »Hain«, ihr Haus konsequenter Weise Quelle glücksversprechender »délices«. Als »Autorität« dieses Raumes nimmt sie die Rolle der Trösterin der Verzweifelten und Ernährerin der Armen ein. Als Mutter schließlich kümmert sie sich um ihre Schützlinge, ihre »enfants gâtés«.131 Zusammen mit ihnen nährt und heilt sie auch Verbrecher wie Vautrin von deren »peines perpétuelles«, ihr Tal in Paris wird zu einem Schutzort, einer erquickenden Quelle gesunder Nahrung und zur sauberen, heimeligen Ruhestatt. Im Erzählerkommentar ist diese Perspektive der Hausherrin ad absurdum geführt, und zwar in der initialen Beschreibung dieser Topographie, die eben gerade kein »bocage« ist, sondern ein vergessenes »horribles« Viertel mitten in Paris (»Nul quartier n’est plus horrible«).132 Zur Darstellung dieser Topographie greift Balzac auf kartographische Elemente zurück, die als »imaginäre Pariskarte«, als die die Maison-Vauquer selbst figuriert, die Dynamik der Gesellschaft als Ganzes spiegelt, in dem nämliche diese Maison mit ihren Räumen und Stockwerken jedem ihrer Bewohner eine bestimmte Region der Hauptstadt zuordnet.133 Die imaginäre Karte, die das Haus so selbst darstellt, wird von einem Katalog an Verortungen vorbereitet, welche als Stadtkarte mit touristischen Tipps den fremden Reisenden und mit ihm den Leser in das Tal hineinführen. Der Text listet auf: »rue Neuve-Sainte-Geneviève, entre le quartier latin et le faubourg Saint-Marceau«, »entre les buttes de

comme un soldat se pressait sur son voisin dans la plaine glacée de la Russie«. Honoré de Balzac: Les illusions perdues (1837−1843), introduction, notes, chronologie et bibliographie par Philippe Berthier, Paris: Flammarion, 11990, S. 242. 130 PG, S. 39 40. 131 PG, S. 31. 132 PG, S. 23. 133 Meineke, »Kartographische Elemente der Parisdarstellung in Balzacs Père Goriot«, S. 70 (Anm. 113).

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Montmartre et les hauteurs de Montrouge«, »dans le bas de la rue Neuve-SainteGeneviève, à l’endroit où le terrain s’abaisse vers la rue de l’Arbalète«, »entre le dôme du Val-de-Grace et le dôme du Panthéon« und schließt mit der Fassade des Hauses als Linie im rechten Winkel: »La façade de la pension donne sur un jardinet, en sorte que la maison tombe à angle droit sur la rue Neuve-SainteGeneviève, où vous la voyez coupée dans sa profondeur«.134 Das Motto »intra muros et extra«, unter dem diese topographische Verortung ausdrücklich steht, affichiert die beiden Karten von der Stadt Paris ein weiteres Mal: Der adressierte Leser, der in seinen weißen Händen den Roman halte (»vous qui tenez ce livre d’une main blanche«), folgt bei seiner Lektüre dem Text zusammen mit dem anreisenden Besucher von außerhalb der Mauern ins Innere dieser Mauern, das heißt vom »moelleux fauteuil« nach Paris und in die Geschichte hinein, von der Pariser Stadtkarte zur imaginären Stadtkarte der Maison-Vauquer.135 Eine solche buchstäbliche Anreise in ein Tal erzählt auch Flaubert in Madame Bovary und nimmt dabei das Balzacs Geschichte vorangestellte Motto von einer Darstellung der »particularités de cette scène pleine d’observations et de couleurs locales« wörtlich.136 Die Beschreibung von Yonville und Umgebung referiert ganz offensichtlich auf die Möglichkeiten der Kartographie und zeigt eine Bildvorlage an, die Flaubert zur Konzeption seines Tales selbst angefertigt hat: seine Zeichnungen von Yonville. In ihnen ist graphisch sichtbar gemacht, was Emmas Gartenraum zu ihrem »éternel jardin« und damit Psyches Tal des Glückes für sie zum locus terribilis umkehrt: die konsequente Geschlossenheit dieses Gartenraumes, aus der die Heldin nicht entkommen kann.

Z WEI Z EICHNUNGEN VON Y ONVILLE Flaubert hat zur Konzeption dieses Schauplatzes in seinen Plans et scénarios Zeichnungen angefertigt, von denen drei erhalten sind: Zuerst eine sehr detaillierte, große Zeichnung mit sorgsam geführter Feder, die immer wieder absetzt und die Lücken in der Linienführung schließt, dafür aber Teile der Legende

134 PG, S. 21−23. 135 PG, S. 22. Zum Topos der Zimmerreise vgl. Annegret Pelz: »Reisen im eigenen Interieur«, in: A.P.: Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, Köln: Böhlau, 11993 (Literatur, Kultur, Geschlecht, 2), S. 46−67. 136 PG, S. 21. Meine Hervorhebung.

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kurzer Hand einfach durchstreicht. Diese Zeichnung wurde auf einem eigenen Blatt angefertigt und auf die Rückseite einer Manuskriptseite aufgeklebt.137

Abbildung 8: Gustave Flaubert: Kleine Skizze von Yonville, Plans et scénarios (Detail Folio 14v). Nach dieser ersten Konzeption entstand eine kleinformatige Skizze mit nun stark reduzierten Elementen, die dem schwungvollen Strich zufolge wohl recht schnell in einer kleiner Ecke auf einer Manuskriptseite entstanden ist.138 Die dritte, 137 Plans et scénarios, folio 16/Séquence 139: Plan topographique de Yonville, II, chap. 1, p. 73 et suiv. [Feuille collée.]. Cliché/ Photographie: Thierry Ascencio-Parvy, in: Girard, Danielle/Yvan Leclerc (Hrsg.): Madame Bovary. Brouillons, Définitifs autographes, Plans et scénarios, Rouen: Bibliothèque de Rouen/Centre Flaubert de l’Université de Rouen, 2009. 138 Plans et scénarios, folio 14v/Séquence 435: Haut: Troisième scénario général (suite et fin) Bas: Notes pour le début de la deuxième partie. Scénario partiel, noms et portraits des personnages, plan de Yonville; détail du folio 14v: croquis de la place: Collections Bibliothèque municipale de Rouen. Cliché/ Photographie: Thierry Ascencio-Parvy, in: Girard, Danielle/Yvan Leclerc (Hrsg.): Madame Bovary. Brouillons, Définitifs autographes, Plans et scénarios, Rouen: Bibliothèque de Rouen/Centre Flaubert de l’Université de Rouen, 2009. Alle drei Zeichnungen hat Yvan Leclerc erfasst, zeitlich eingeordnet und in Kürze kommentiert: Yvan Leclerc (2014): »Trois plans d’Yonville, de la main de Flaubert«, in: Madame Bovary. Ressources. Site du Centre Flaubert, CÉRÉdI. Rouen: Bibliothèque de Rouen/Centre Flaubert de l’Université de Rouen [o.S.].

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chronologisch letzte Zeichnung, auf die ich nicht eingehen werde, ähnelt der ersten. Beide Zeichnungen, die detaillierte Version und die grobe Skizze, haben eines gemeinsam: Auf den ersten Blick erweckt der als Oval oder Rechteck dick aufgetragene Federstrich, der die Topographie von Yonville umreißt, den Eindruck des Konzeptes von einem umschlossenen Ort, wie es im edierten Text unter Rückgriff auf den Hortus conclusus und den locus amoenus ausformuliert wird.

Abbildung 9: Gustave Flaubert: Große Zeichnung von Yonville, Plans et scénarios (Folio 16, aufgeklebtes Blatt). Die große Zeichnung bettet diesen umschlossenen Ort in einen Raum ein, der sich in den Beschriftungen »cote« [sic!], »prairie« und »champs« als (im Text zu einem Gartenraum ausformulierte) normannische Landschaft entfaltet. Die Relation des Städtchens zu diesem Raum, wie sie der Text ausarbeiten wird, findet sich also in dieser ersten Zeichnung bereits klar visualisiert: Yonville ist von Beginn an konzipiert als umschlossener, umgrenzter Ort, der trotz aller Zugangsstraßen hermetisch abgeschottet bleibt.

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Die zweite, kleinformatige Zeichnung am linken unteren Rand des Manuskriptblattes, auf dem Flaubert einen groben Schreibplan vom Beginn jenes zweiten Teils des Romans entwirft, der mit dieser Landschaftsbeschreibung einsetzt, reduziert Yonville zu einem ovalen Marktplatz, um den herum sich lediglich drei Gebäude anordnen: Die Apotheke von Homais, das Haus der Bovary und die Kirche. Dieser zweite Entwurf, der als graphische Quintessenz der Raumkonzeption in Madame Bovary gelesen werden kann, ist von dem Rechteck der Halles markiert wie vom Abdruck eines Stempels. Diese Markthalle weist Yonville als Ort des Textilhandels aus und initiiert damit den Gegenpart eines Außen, das heißt einen offenen (Handels-)Raum, der jedoch die Geschlossenheit Yonvilles umso eindrücklicher herausarbeitet. Es ist der reisende Stoffhändler Lheureux, dem von Beginn an die Halles als Ort zugewiesen werden. Als personifiziertes »Glück« dringt er mit den textilen Objekten, die er darreicht, Unterpfände dieses »Außen«, in Emmas Inklusorium ein und äfft in seiner ewig gebeugten Haltung den Gruß des Verkündigungsengels vor der Jungfrau Maria nach. Dieser grundlegenden Konzeption des Städtchens folgend, die Flaubert in seiner ersten Zeichnung bereits en détail ausarbeitet und in den Raum der Normandie einfügt, leitet der Text den Leser als imaginären Reisenden nach Yonville hinein, hinein in einen im Verlauf der zurückgelegten Wegstrecke immer enger werdenden Raum bis an die Stadtgrenze, bis an einen Lattenzaun. Dieser Zaun umschließt eine kleine Wiese und darauf eine Amorstatue; es ist das Haus des Notars, das letzte Haus außerhalb der Stadt. Innerhalb des Städtchens semantisiert die Chronologie der histoire die Gebäude in ihrer poetologischen Wichtigkeit im Roman: erst die Kirche und dann die Markthallen – noch vor Homais’ Apotheke oder gar dem Haus der Bovary. Dessen Beschreibung wird erst durch den Apotheker nach der Ankunft des Ehepaares in Yonville gegen Ende des zweiten Kapitels dieses zweiten Teiles nachgereicht. Dementsprechend sind in der kleinen Zeichnung von Yonville, die die Anordnung der Gebäude endgültig festlegt, die Bezeichnungen »Halles« und »Eglise« ausgeschrieben und die beiden weiteren Gebäude lediglich durch Abkürzungen markiert. So artikuliert sich in dieser minimalen Legende bereits die Verbindung von zwei Diskursen, die das Raumkonzept und den Ort Yonville prägen, eine Verbindung, wie sie in Emmas Motto im Kloster klar formuliert ist: religiöser Diskurs als Heilsversprechen, der im ökonomischen Diskurs der

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»consommation« des Herzens profaniert wird und somit das Tal als »glücklichem Lustort« zu einem locus terribilis umbesetzt.139 Der kräftige Strich des Ovals, das den Stadtplatz umreißt, schließt das Kürzel »Ph.« (die pharmacie von Homais) und das mit »Halles« beschriftete Rechteck ein, das in seiner fetten Umgrenzung die Skizze dominiert. Wie es der edierte Text unterstreichen wird, nimmt dieses Rechteck bereits in dieser Zeichnung recht genau die Hälfte der ovalen Fläche ein: »Les halles […] occupent à elles seules la moitié environ de la grande place d’Yonville.«140 Die drei anderen Gebäude befinden sich nicht innerhalb, sondern außerhalb des Ovals, das sich oberhalb der Beschriftung »Eglise« auf eine durch ein »R.« als rue ausgewiesene Zugangsstraße öffnet. Vom Rechteck der »Halles« aus führt ein schwungvoller Strich über das Kürzel »D’or« (Lion d’or) zu dem Haus der Bovary (»Bov.Hot«)141 und endet vor der Kirche (»Eglise«). Über dem Wort »Eglise« öffnet sich das Oval erneut; daneben setzen zwei ebenfalls offen bleibende parallele Striche an, die durch das Kürzel »R.« für rue zwischen ihnen die zweite Zugangsstraße nach Yonville bezeichnen. In der detaillierten, großen Zeichnung von Yonville gibt es diese Öffnungen nicht: Ein dicker Strich umrahmt das Städtchen zu einem als geschlossen konzipierten Ort. Die mit einzelnen Großbuchstaben gekennzeichneten Gebäude befinden sich noch innerhalb und nicht (wie in der groben Skizze) außerhalb des Ovals des Marktplatzes, das als Rechteck dargestellt ist. Das ganze Städtchen präsentiert sich als Ort in einer Landschaft. Als langer Schlauch, dessen Enden nun durch die beiden Ovale der »cote« abgeschlossen werden, teilt das Städtchen wie eine Achse die mit den Markierungen »prairie« und »champs« als Landschaft ausgewiesene Fläche in eine rechte und eine linke Seite auf. Dies Achse wird von dem an ihr entlang laufenden und den Stadtschlauch kreuzenden schmalen Band des »rivière« gedoppelt. Auch hier figuriert das dominante Rechteck der »Halles«, das in der kleinen Skizze auftaucht. Der Gaststätte Lion d’or, dem Haus der Bovary, der Kirche, der Apotheke von Homais und den zwei Straßen ist ein präziser Ort zugewiesen, säuberlich 139 »Il fallait qu’elle pût retirer des choses une sorte de profit personnel; et elle rejetait comme inutile tout ce qui ne contribuait pas à la consommation immédiate de son cœur.« MB, S. 181. 140 MB, S. 212. 141 In seiner Transkription »Bov.Hot*« markiert Leclerc die Beschriftung mit einem Stern als ungeklärt. Plans et scénarios, folio 14v/ Séquence 435: détail du folio 14v: croquis de la place.

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markiert mit nur einem oder zwei Großbuchstaben. Hinzu kommen alle anderen Gebäude und Orte des Städtchens, wie das Haus des Notars Guillaumin und der Friedhof sowie die Richtungsangaben der Straßen. Die Legende rechts neben der Zeichnung listet die dargestellten Elemente untereinander in folgender Reihenfolge auf: L’heureux / Halles / Homais / LO Lion d’or / B. Bovary / G. Guillaumin / C. Chaussée / tr chaussée. Fünf Spiegelstriche, bei denen es sich um Platzhalter handelt, sollen gemäß der Skizze die erste mit C. abgekürzte Chaussée weiter definieren; die einzigen Details, die bereits aufgeführt sind, lauten »maisonnettes et cours« und »trembles au bord de l’eau«. Zwei schwungvolle Kreuze markieren auf der linken Seite des Stadtschlauches den Verlauf der neu gebauten Zugangsstraße; beide Schriftzeichen schließen die Anmerkung »route neuve continue jusque là« zwischen sich ein, und »jusque là« bedeutet in der Skizze definitiv außerhalb. Während die Straßen in der späteren, kleinen Zeichnung als Öffnung des Ovals oder durch offene, parallele Striche angedeutet sind, bleibt die Straße hier eine im Zug der Feder Richtung Städtchen geführte Aneinanderreihung von Wörtern  eine Straße aus nebeneinander gesetzten Zeichen, die das Städtchen selbst im als Kreuz markierten »là« dennoch nicht erreicht und seine kräftige Umrahmung nicht öffnet. Die in dieser Zeichnung gegebene Information von Richtungsangaben, die den dargestellten Raum ergänzen und ausweiten, definiert sich zum einen mit der Beschriftung »route neuve continue jusque là« als Hinweis, dass eine Straße irgendwo außerhalb des dargestellten Raumes beginnt und von links, das heißt über die »prairie«, kommend »bis hier hin« führt, nämlich vor die Mauern des Städtchens. Zum anderen führen zwei Straßen unterhalb der obersten Begrenzung durch die »cote« nach rechts, also in Richtung »champs«, aus dem Städtchen hinaus. Die eine verläuft in Richtung »l’enfant«, das heißt zur Amme Rolet; die andere ist der von Westen kommenden »route neuve« als nach Osten laufende »mauvaise route« entgegen gestellt. Die Darstellung der Straße wird hier als schmaler Schlauch zweimal wiederholt. Auch hier zeigt sich deren Öffnung von den Beschriftungen »mauvaise route« wie auch vom »l« der Angabe »l’enfant« verschlossen. Diese beiden Zeichnungen zur Hand, schreibt Flaubert seinen Text wie einen Reisebericht, oder vielmehr: wie eine Reiseanleitung. Er imaginiert einen Reisenden, der von Süden kommt und ganz gemäß der Zeichnung von dem unteren »cote«-Oval (im Text die Côte des Leux) in seiner Route aufgehalten wird. Von dort oben entdeckt der Reisende das Tal, das sich wie ein Mantel vor ihm ausbreitet.

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On quitte la grande route à la Boissière et l’on continue à plat jusqu’au haut de la côte des Leux, d’où l’on découvre la vallée. La rivière qui la traverse en fait comme deux régions de physionomie distincte : tout ce qui est à gauche est en herbage, tout ce qui est à droite est en labour. La prairie s’allonge sous un bourrelet de collines basses pour se rattacher par derrière aux pâturages du pays de Bray, tandis que, du côté de l’est, la plaine, montant doucement, va s’élargissant et étale à perte de vue ses blondes pièces de blé. L’eau qui court au bord de l’herbe sépare d’une raie blanche la couleur des prés et celle des sillons, et la campagne ainsi ressemble à un grand manteau déplié qui a un collet de velours vert, bordé d’un galon d’argent.142

Die doppelte Achse, welche in Flauberts Zeichnung in Form des Stadtschlauches Yonville und dem schmalen Schlauch des Flusses die Fläche in zwei Seiten trennt (links die »prairie« und rechts die »champs«), taucht im Text eindrücklich wieder auf. Nicht nur die Begriffe »gauche« anstatt Westen und »droite« anstatt Osten, mit denen Flaubert eindeutig auf seine graphische Darstellung referiert, machen deutlich, in welchem Maße diese Landschaftsbeschreibung auf ihre zweidimensionale Vorlage Bezug nimmt. Die beschriebene Landschaft, »la vallée«, wirkt zuweilen eigentümlich zweidimensional, wie eine farbige Landkarte, die der Fluss wie ein aufgemalter, weißer Streifen in einen linken, grünen Teil (»prairie«, »prés«, »en herbage«) und in einen rechten, gelben Teil (»champs«, »sillons«, »blondes pièces de blé«) teilt.143 Die Verschiedenfarbigkeit der Fläche verstärkt den Eindruck von einer zerschneidenden Bildachse, die bereits in der Zeichnung hervortritt. Das Flussband der Zeichnung wird im graphischen Bild der »raie blanche« wortwörtlich wiederholt; und wie das Flussband in der Zeichnung den Stadtschlauch von Yonville doppelt, so doppelt die »raie blanche« die textile Metapher der silbernen Mantelborte. Das Bild, das Flaubert im Kopf hat, ist das eines Umhangs mit breitem, die Schultern bedeckenden Kragen, das heißt eines Reisemantels, der ausgebreitet die Flächenform eines Trapezes annimmt. Erst in der Imagination eines Reisenden entsteht aus der zweidimensionalen Zeichnung die Dreidimensionalität der normannischen Landschaft.144 »On se promène immobile dans des pays que l’on croit voir«,145 so wird Léon Emma

142 MB, S. 210. 143 MB, S. 210. 144 Vgl. De Certeaus Verbindung von carte und parcours, von voir und aller und seine These vom Gehen als Raum schaffende Praxis par excellence. Certeau, Arts de faire, S. 170 ff. (Anm. 93). 145 MB, S. 222.

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nach ihrer Anreise im Lion d’or beschreiben, was eben hier passiert: Flaubert setzt den literarischen Gemeinplatz des Lesens als Reisen um,146 sodass sich die Landschaft im Blick des Betrachters wie ein Bild erheben und damit seine Intertexte preisgeben kann. »On l’aperçoit«147 so imaginiert der Text als Itinerar den Blick eines Reisenden, der sich auf den Weg nach Yonville macht. Er nimmt somit Emmas Reiseeindrücke vorweg, denn sie ist es, die, während die Gegend beschrieben wird, eigentlich in der Kutsche sitzt und anreist.148 Diese Reise der Bovary  zuvor im Text noch als unumgänglicher, beinahe überlebensnotwendiger Umzug semantisiert 149 wird jedoch als Loch in der Kontinuität der Erzählung zugunsten dieses Bildes ausgespart, das Flaubert nicht nur vom Lebensraum seiner Heldin gibt, sondern gleichzeitig von der eigenen visuellen Poetologie als intermedialem Verfahren. Nach der Beschreibung, wie man ins Städtchen gelangt und was man auf seiner Reise dorthin sehen wird, setzt Emmas Geschichte erst wieder mit der Aufregung der Einwohner über die ankommende Kutsche ein und mit ihrem Eintreffen im Lion d’or: »[J]’aime à changer de place« ist so auch das erste, was Emma in ihrem neuen Gartenraum von sich gibt, 150 mit der anschließenden Frage: »Avez-vous du moins quelques promenades dans les environs? «. »Oh ! fort peu«151, antwortet Léon und versichert damit den ewig geschlossenen Raum der Heldin in dem Moment, als diese in ihrer neuen Heimat ankommt. Derweil war sie ja gerade auf Grund von »quelque influence locale« umgezogen und hatte sich wie auch ihr Mann nun eine Veränderung erhofft.152 Raum konstituiert sich daher dem Figurenkommentar Léons zufolge, der ja selbst nicht über diese Yonville abschottende Anhöhe hinauskommt, in der einzigen Möglichkeit der Lektüre als visueller Praktik: »On se promène immobile dans des pays que l’on croit voir«.153 Mit diesen Worten seiner Figur entlarvt Flaubert den eigenen Kunstkniff als Spiel mit einer romantischen idée reçue in direktem Anschluss an

146 Vgl. hierzu z. B. Pelz, »Reisen im eigenen Interieur« und »Gehäusefahrten«, S. 46−67 und 68−77 (Anm. 135), und Michel Foucault: »La bibliothèque fantastique«, in: Raymonde Debray-Genette (Hrsg.): Travail de Flaubert, Paris: Editions du Seuil, 11983, S. 103–122. 147 MB, S. 211. Gemeint ist « le bourg « 148 Zu solchen »Gehäusefahrten« vgl. Pelz, S. 68−77 (Anm. 135). 149 MB, S. 208. 150 MB, S. 220. 151 MB, S. 221. 152 MB, S. 208. 153 MB, S. 221.

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Balzacs Motto des »intra muros et extra«: Raum konstituiert sich dort genau so, wie Léon erklärt, nämlich vom weichen Lektüresessel aus  in Flauberts textimmanenter Version der Lektüresessel der eingesperrten, lesenden Sedes Sapientiae Emma Bovary. Lesen ist in Flauberts Text tatsächlich Anreisen: »On quitte la grande route à la Boissière et l’on continue à plat jusqu’au haut de la côte des Leux, d’où l’on découvre la vallée.« Zwar scheint das Personalpronomen »on« auf eine Erzählerstimme zu referieren, die wie im Père Goriot einen implizierten Leser adressiert. Doch handelt es sich hier nicht wie bei Balzac um die Stimme des Erzählers, sondern um die Stimme einer Reiseanleitung, die ein Reisender samt topographischer Karte in den Händen hält, als er da oben auf der Les Leux-Anhöhe stehen bleibt und ins Tal hinab blickt. In einer mise en abyme lässt Flaubert den Leser beim Lesen die Stimme einer von einer heterodiegetischen Figur gelesenen Reiseanleitung hören. Die Unmittelbarkeit des Textes, die durch die Personalpronomina gebrochen scheint, ist hier absolut. Flaubert schiebt in seine Schilderung von Yonville damit die Lektüre jener Karte ein, mit der sein Gartenraum entstand: seine große Zeichnung von Yonville. Der eigenartige Wechsel zwischen Zweidimensionalität und Dreidimensionalität der beschriebenen Landschaft im Text resultiert aus dem alternierenden Blick auf Karte und Landschaft. Der Reiseanleitung »[o]n quitte la grande route à la Boissière et l’on continue à plat jusqu’au haut de la côte des Leux, d’où l’on découvre la vallée« gefolgt, steht der Reisende nun dort oben auf der Anhöhe und sieht hinunter. Zwei Dinge fallen ihm auf: Das Land sieht aus wie ein Mantel und das Städtchen selbst wie ein darauf schlafender Kuhhirte. Er sieht den Fluss und »deux régions de physionomie distincte«. Die Karte erklärt »tout ce qui est à gauche est en herbage, tout ce qui est à droite est en labour«, der Reisende blickt auf und sieht jetzt nicht nach rechts, sondern nach Osten, er sieht, wie die Fläche der Karte sich nun in einen Raum transformiert, er sieht die Felder, die sich über die Hügel hinweg in den Raum hinein verlängern, die ansteigende Ebene, die sich bis zum Horizont weitet, »à perte de vue«. La prairie s’allonge sous un bourrelet de collines basses pour se rattacher par-derrière aux pâturages du pays de Bray, tandis que, du côté de l’est, la plaine, montant doucement, va s’élargissant et étale à perte de vue ses blondes pièces de blé. 154

Von der Les Leux-Anhöhe steigt er nun hinab und überschreitet die Brücke über den Fluss,155 an den sich das Städtchen schmiegt. Hier beginnt eine Chaussée,

154 MB, S. 210.

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ähnlich der in Tostes, wie man sie von Emmas Spaziergang im Gartenpark kennt, »une chaussée plantée de jeunes trembles, qui vous mène en droite ligne jusqu’au premières maisons du pays.« Diese ersten Häuser verraten dem Ankommenden – und damit schließlich Emma – bereits den Charakter des ewigen Gartens, als der sich auch Yonville für sie erweisen wird: »Elles sont encloses de haies«. Emma zieht hier förmlich in das Bild des Hortus conclusus ein. Ausgestattet mit Obstbäumen, Tieren, umrahmenden Hecken und sogar mit Fenstern, erinnert Yonville hier an die Darstellungen des Paradiesgärtlein wie auch insbesondere an Barthélemy van Eycks in einer Garten- und Fensterszene stickende Emilia.156 Die Höfe sind markiert von »arbres touffus« in ihrer Frühlingsgrüne (es ist Ende März, der Verkündigungsmonat), das heißt von Obstbäumen, an denen bereits Erntegeräte wie Leitern und Stangen lehnen. An den Gipsmauern »s’accroche parfois quelque maigre poirier«. Diese Fenster, »basses, dont les gros verres bombés sont garnis d’un nœud dans le milieu, à la façon des culs de bouteilles«, deren dicke Scheiben also den Blick trüben und verzerren, sind von den Dächern halb verdeckt und begrenzen den Blick zusätzlich wie ins Gesicht gezogene Mützen (»comme des bonnets de fourrure rabattus sur des yeux«). Auch die Schwelle ist inszeniert: »sur le seuil« picken Hühner Brotkrumen auf.157 Der Raum verengt sich nun zunehmend. Wagen verstellen den Weg; und während die Hecken zunächst verschwinden, endet man an einem Lattenzaun und damit auf Amors Rasen: Cependant les cours se font plus étroites, les habitations se rapprochent, les haies disparaissent ; un fagot de fougères se balance sous une fenêtre au bout d’un manche à balai ; il y a la forge d’un maréchal et ensuite un charron avec deux ou trois charrettes neuves, en dehors, qui empiètent sur la route. Puis, à travers une claire-voie, apparaît une maison blanche au-delà d’un rond de gazon que décore un Amour, le doigt posé sur la bouche ; deux vases en fonte sont à chaque bout du perron ; des panonceaux brillent à la porte ; c’est la maison du notaire, et la plus belle du pays.

Das erste Haus in der Enge des Städtchens umschließt mit seinem Zaun dieses Rasenrondell, auf dem der Gott der Liebe, oder vielmehr: des sich Verliebens, thront und den Finger an seine Lippen führt. Als Gartennippes verweist er zurück auf Emmas Garten in Tostes und dem dort in seinem Stundenbuch lesenden Gipspfarrer als sonderbarem Gartenzwerg. Es handelt sich um eine Anspielung

155 »après le pont«, MB, S. 211. 156 Vgl. das Kapitel zum Bürgfräulein. 157 MB, S. 211.

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auf die im Louvre befindliche Statue L’Amour menaçant von Étienne-Maurice Falconet (1757), dessen Reproduktion Flaubert im Gemüsegarten des Château de Grigneuseville in der Nähe von Saint-Victor-L’Abbaye gesehen hat. Der als Kind dargestellte Amor verlangt mit seiner Handgeste die Stille für seinen Schuss, während er verschmitzt einen Pfeil aus seinem Köcher zieht; zu seinen Füßen liegt eine Rose.158 Die »Bedrohung« des Amors wird sich für Emma erfüllen, die sich in Yonville nun in Léon verliebt; gleichzeitig verweist sie bereits auf den Heilsdiskurs der Maria. So ist auch das zweite Gebäude des Städtchens, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, die Kirche. Wie Yonville auf den Ruinen der Abtei, wurde auch die zerstörte Kirche wieder neu gebaut, befindet sich jedoch bereits wieder im Verfall: Die himmelblaue Holzdecke hat begonnen, zu verrotten. Die Kirche passt damit zu den anderen Ruinen im Roman: dem Pavillon, der Emmas Gartenpark in Tostes das Bild für ihren geschlossenen Raum vor Augen führte; die verrottende Bank im Garten von Yonville und das Städtchen selbst als Abtei, deren Ruinen nicht einmal mehr existieren. L’église est de l’autre côté de la rue, vingt pas plus loin, à l’entrée de la place. Le petit cimetière qui l’entoure, clos d’un mur à hauteur d’appui, est si bien rempli de tombeaux, que les vieilles pierres à ras du sol font un dallage continu, où l’herbe a dessiné de soi-même des carrés verts réguliers. L’église a été rebâtie à neuf dans les dernières années du règne de Charles X. La voûte en bois commence à se pourrir par le haut, et, de place en place, a des enfonçures noires dans sa couleur bleue. Au-dessus de la porte, où seraient les orgues, se tient un jubé pour les hommes, avec un escalier tournant qui retentit sous les sabots. Le grand jour, arrivant par les vitraux tout unis, éclaire obliquement les bancs rangés en travers de la muraille, que tapisse çà et là quelque paillasson cloué, ayant au-dessous de lui ces mots en grosses lettres : BANC DE M. UN TEL. Plus loin, à l’endroit où le vaisseau se rétrécit, le confessionnal fait pendant à une statuette de la Vierge, vêtue d’une robe de satin, coiffée d’un voile de tulle semé d’étoiles d’argent, et tout empourprée aux pommettes comme une idole des îles Sandwich ; enfin une copie de la Sainte Famille, envoi du ministre de l’intérieur, dominant le maître-autel entre quatre chandeliers, termine au fond la perspective. Les stalles du chœur, en bois de sapin, sont restées sans être peintes.159

158 MB, S. 211 212; sh. Madame Bovary, Édition par T. Laget, 2001, S. 480, Anm. 1 (Anm. 74). Étienne-Maurice Falconet: L’Amour menaçant, Marmor, 48 cm x 34 cm x 22 cm, Louvre, Paris, 1757. 159 MB, S. 212.

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Eine Mauer umzäunt den Friedhof, das Gras, das grüne Fliesen nachahmt und damit an die Fliesenböden der Hortus conclusus-Darstellungen erinnert, und die Kirche, die von einer verkitschten Muttergottes mit knallroten Backen markiert wird. Diese Kitschmadonna stellt mit ihrem Sternenschleier Mariä Empfängnis dar; ihre roten »pommettes« spielen an die verbotene Frucht Edens an, jenen Apfel, der Maria in der Ikonographie oftmals in die Hand gegeben wird.160 Als Paradiesgarten, in dem der Apfel zu pflücken ist, wird hier weniger der Bibeltext selbst, als vor allem der tropische Gartenraum der Südsee-Insel von Paul et Virginie aufgerufen. In dieser Konsequenz rangiert auch das Gemälde der Heiligen Familie, das Flaubert selbst im Text kursiv markiert, hinter der InselMadonna: Es wird, obwohl es auch noch ein Geschenk des Innenministers ist, mit »enfin« lapidar nachgereicht und tritt hinter der Marienstatue bis zur Unwichtigkeit zurück. Die dritte Architektur im Städtchen schließlich sind die Markthallen. Mit ihnen schließt nun nach dem Diskurs der zwei Lieben,161 nämlich der geistigen Liebe Marias und der erotischen Liebe Amors bzw. Psyches, direkt der ökonomische Diskurs an. Beide Statuen lässt der Anreisende hinter sich um auf dem Marktplatz anzukommen, der Yonville textil markiert. Les halles, c’est-à-dire un toit de tuiles supporté par une vingtaine de poteaux, occupent à elles seules la moitié environ de la grande place d’Yonville.162

Jeden Mittwoch ist Markttag, und der Platz füllt sich mit textilen Handelswaren.

160 Zu verschiedenen Interpretationsansätzen dieser Madonna vgl. Peter Séraphin Rogers: The mystery play in Madame Bovary. Moeurs de province, Amsterdam: Rodopi, 12009 (Chiasma, 26), S. 41−42: »The veil of stars around Mary’s head refers to a specific representation of the Virgin, that of the Immaculate Conception. Murillo’s Immaculada Concepción is perhaps one of the best known. Acquired by the Louvre in May of 1852, this painting was one that copyists frequently reproduced at the time.« Rogers weist ebenso auf die Ungewöhnlichkeit des Ausdrucks »pommettes« hin: »The word ›pommettes‹ plays with the word ›statuette‹ in its own diminutiveness and sets off an object frequently associated with the Virgin, the »pomme« the apple of the story and its meaning, later given, in Bouvard et Pécuchet: ›Quand on songe que le christianisme a pour base un homme!‹« 161 Vgl. zu den zwei Lieben bei Flaubert Beryl Schlossman: Objects of Desire. The Madonnas of Modernism, Ithaca: Cornell University Press, 11999. 162 MB, S. 212.

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[M]ercredi […] était jour de marché à Yonville. La Place, dès le matin, était encombrée par une file de charrettes qui, toutes à cul et les brancards en l’air, s’étendaient le long des maisons depuis l’église jusqu’à l’auberge. De l’autre côté, il y avait des baraques de toile où l’on vendait des cotonnades, des couvertures et des bas de laine, avec des licous pour les chevaux et des paquets de rubans bleus, qui par le bout s’envolaient au vent.163

Die Halles sind der Ort des Stoffhändlers Lheureux. Mit der Geschichte, wie dieser Madame Lefrançois’ Konkurrenten Tellier finanziell ruiniert hat, wird Lheureux nun (wie es sich bereits bei seinem ersten Besuch bei Madame Bovary andeutete) nachdrücklich als ruinöse Figur etabliert. Die Konzeption dieser Figur vollendet sich im Roman durch den Figurenkommentar dieser Klatschtante, die Lheureux nicht nur die Markthallen als Ort zuweist, sondern dabei gleich noch im Gruß, den sie beobachtet, sein nächstes Opfer vorstellt: Emma. L’hôtesse donc se mit à lui raconter cette histoire, qu’elle savait par Théodore, le domestique de M. Guillaumin, et, bien qu’elle exécrât Tellier, elle blâmait Lheureux. C’était un enjôleur, un rampant. — Ah ! tenez, dit-elle, le voilà sous les halles ; il salue Mme Bovary, qui a un chapeau vert.164

Wenn der Wucherer Lheureux, der als einziger im Roman mit seinem Textilhandel und damit mit seinem Transportwesen einen einmaligen Aufstieg hinlegt, Emma Bovary als Marienfigur wie ein diabolischer Engel grüßt, so stellt diese Grußszene unter den Halles aus, was der Text bis hierhin in Bildern entwickelt hat: Lheureux ist im Gartenraum die allegorische Figur des Glückes – und nicht Emma. Hatte der Text in aufeinander folgenden Bildern vom Hortus conclusus über Emma als verkehrte Sedes Sapientiae bishin zu den Gartenräumen der Idylle, des locus amoenus und Amors Tal mehrere Geschichten des Glücks in der Inszenierung der Protagonistin erzählt, so endet dieses Gesamtbild vom glücklichen, geschlossenen Gartenraum unter den Halles mit einem ironisch grüßenden Textilhändler, der mit seinem monopolisierten Transportwegen den geschlossenen Raum nach Emmas Tod öffnet. Wie es beide Zeichnungen Flauberts veranschaulichen, sind die Halles der Kern dieses Gartenraumes. Sie führen die Semantiken aller Bilder in einem ruinösen, ökonomischen Diskurs zusammen: der marianische Diskurs als Konsum des Herzens und der Diskurs erotischer Liebe zwischen Psyche und Amor als Prostitution, wenn Emma beim

163 MB, S. 261. 164 MB, S. 269.

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Notar, dem das Haus mit dem Rasen und der Amorstatue darauf gehört, vergeblich um finanzielle Unterstützung bittet, um sich vor dem Ruin durch Lheureux in letzter Minute zu retten (»Je suis à plaindre, mais pas à vendre!«).165 Diese Überblendung von Bildvorlagen zum großen, geschlossenen Gartenraum in Yonville funktioniert in Madame Bovary nur, indem zu Beginn in der Inszenierung der textilen Handarbeit der Protagonistin deren Ankerbild zur Schau gestellt wird, nämlich das Bild von weiblicher Tugend und einem geschlossenen Raum, das sowohl auf literarische Traditionen wie auch auf die Marienikonographie anspielt. In diesem Ankerbild ist bereits vorgeführt, wie der Text im Folgenden über viele Seiten hinweg vorgeht: Er erschafft Raum mithilfe eines intermedialen Verfahrens, das sich als überlagernde Bilderpraktik entlarvt, die die Grenzen von Text und Bild, lesen und sehen konsequent als kopierende, nachahmende Praktik verwischt: Die Wiederholung von Text und Bild ist bei Flaubert eine Lektüreweise, die mit seiner Heldin als bürgerliche idée reçue figuriert, ironisiert wird und in eine raumkonstitutive Praktik mündet. Flauberts Bilderpraktik funktioniert ausschließlich über jene dritte Ebene, auf der auch der ironische Diskurs zu verorten ist: außerhalb des Textes. Sie verlässt sich auf ein Text- und Bilderwissen, das Mitte des 19. Jahrhunderts, als Madame Bovary entsteht, bereits zu Konversationskonvention, zu Gemeinplätzen verstaubt ist: Marienikonographie und Epinalbildchen, Illustrationen und Abbildungen in Romanen und Keepsakes, aber auch all jene Beschreibungen von Räumen, die aus Texttraditionen stammen, aus der Antike, der Bukolik, schließlich der Romantik, und die zuhauf von textil beschäftigten Heldinnen erzählen und damit von einer Zeit des Wartens und der Wiederholung. Daher zoomen die Texte stets auf die Hände der Handarbeiterinnen, die Nadel und Faden halten. In diesen Händen ist die textile Beschäftigung und sind ihre traditionellen Semantiken angezeigt und als Körperzeichen im ›romantischen‹ Stich mit der Nadel in den Finger markiert. Es soll nun abschließend um die Handgeste gehen, die Nadel und Faden führt und als deiktische Geste beschreibbar ist. Ich werde argumentieren, dass Flauberts Bild von seiner textilen Handarbeiterin insofern allegorisch ist, als es vom Erzählen selbst kündet, nämlich  und so hat es Gustave Flaubert für seine Poetologie selbst in textilen Begriffen gefasst  vom Erzählen als textile Praktik.

165 MB, S. 416−418.

Textiles Erzählen What do walking, weaving, observing, singing, storytelling, drawing and writing have in common? The answer is that they all proceed along lines of one kind or another. TIM INGOLD1

B ILDERGESCHICHTEN

ALS

G EWEBE

Im berühmten Lektürekapitel über die medialen Lehrjahre der Madame Bovary ausgerechnet im Kloster (Teil eins, Kapitel sechs) finden sich Bildergeschichten als gerahmtes Potpourri in Emmas Keepsakes: Motive aus den Geschichten der Romantik, Exotik und dem Abenteuerroman, die nicht zusammen passen, sind in einem Bild (das heißt in diesem Fall einer Illustration, einer Abbildung) zu einem Raum zusammengefügt, »le tout encadré d’une forêt vierge bien nettoyé«.2 An die Beschreibung dieser ineinander geschachtelten romanhaft-romantischen Bildinhalte schließt in Flauberts Text unmittelbar die Szene einer laterna magica an, wenn es über Emmas Wohnstatt im Kloster heißt: Et l’abat-jour du quinquet, accroché dans la muraille au-dessus de la tête d’Emma, éclairait tous ces tableaux du monde, qui passaient devant elle les uns après les autres, dans le silence du dortoir et au bruit lointain de quelque fiacre attardé qui roulait encore sur les boulevards.3

1

Tim Ingold: Lines. A brief history, London: Routledge, 12007, S. 1.

2

MB, S. 183.

3

Ebd.

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Das sinnlose Zusammenfügen sinnloser Inhalte (als bêtise) zu einem Bild und die serielle Bilderpraktik der Heldin4 stehen also in unmittelbarem Bezug zueinander, und zwar im Diskurs eines Außen- und Innenraumes. Sie veranschaulichen eine Bilderpraktik als poetologisches Verfahren Flauberts, die also gerade nicht vereint, sondern Bildabfolgen überlagert und ineinander blendet. Im Gewand einer Bildergeschichte über die Unvereinbarkeit von Welten erweist sich der Konflikt der Bovary in diesem Lektürekapitel von Beginn an als ein fatales mediales Problem, das schließlich zu ihrer Selbsttötung führen wird. Die (emotionale) Intensität dieses Konflikts erreicht der Text jedoch nicht allein durch die Beschreibung jener geschlossener (Garten-)Räume, die die Bovary in ihren räumlichen Empfindungen des Eingeengt-Seins wiederholt. Sie entsteht ebenso aus einer Unvereinbarkeit von Zeiten, die in diese Bilder von Räumen miteingetragen ist: Mit den idyllischen Gartenräumen, die in Madame Bovary Eingang finden, wird eine zyklische Zeit der Wiederholungen in die zyklische Alltagszeit miteingebunden, die Michail Bachtin dem zentralen Chronotopos des Realismus, dem Provinzstädtchen, zuweist.5 Die räumlich stark begrenzte, abgeschottete und stabile Idylle, die Bachtin zufolge in keinem Bezug zu anderen Räumen steht,6 erlangt bei Flaubert jedoch gerade durch die intertextuelle Praktik, das heißt als intermediales Bezugssystem zu anderen Räumen, Bedeutung. Daraus resultiert eine spezifische, zyklische Zeitlichkeit: eine spiralförmige Zeit, die sich kreisförmig und vertikal bewegt. Der horizontale Vektor, mit dem Zeit im Raum sichtbar wird und ihn damit allererst konstituiert (Certeau), fehlt dem idyllischen Raum; im Certeau’schen Sinne wäre er daher streng genommen ein sich durch Stabilität auszeichnender Ort (lieu und eben nicht espace), an dem sich Zeitschichten überlagern. Il y a espace dès qu’on prend en considération des vecteurs de direction, des quantités de vitesse et la variable du temps. L’espace est un croisement de mobiles. […] L’espace serait au lieu de ce que devient le mot quand il est parlé, c’est-à-dire quand il est saisi dans l’ambiguïté d’une effectuation, mué en un terme relevant de multiples conventions, posé

4

Zur »paradigmatische[n] Anlage ganzer Serien einander ähnlicher Elemente« in Madame Bovary als webendes Erzählen vgl. Hans Staub: »Der Weber und sein Text«, in: Gerhard Buhr (Hrsg.): Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser, Würzburg: Königshausen & Neumann, 11990, S. 533–553. Hier: S. 544.

5

Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hrsg. v. Edwald Kowalski und Michael Wegner, Frankfurt a.M.: Fischer, 11989, S. 170 198.

6

Ebd., S. 171.

T EXTILES E RZÄHLEN

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comme l’acte d’un présent (ou d’un temps), et modifié par les transformations dues à des voisinages successifs. A la différence du lieu, il n’a donc ni l’univocité ni la stabilité d’un »propre«. 7

Von Generation zu Generation verändert sich in der Idylle nichts; so ist auch das Städtchen Yonville und damit der Flaubert’sche Gartenraum als ewiger Garten der Heldin »stationnaire«.8 Bachtin beschreibt dies für die Idylle so: »Die Zeit ist hier ereignislos, so daß es scheint, sie sei fast gänzlich stehengeblieben«.9 Diese zyklische Zeit der Idylle offenbart sich bei Flaubert im negativsten Sinne, nämlich als eine in Emmas Herzwinkeln »spinnende« Langeweile.10 Raum in Madame Bovary entsteht daher auch nicht aus der Bewegung der Heldin heraus; Yonville selbst ist über Straßen nicht »praktikabel«,11 wie es die konzeptionellen Zeichnungen Flauberts veranschaulichen. Er konstituiert sich ausschließlich statisch: Bilder von Räumen werden zu einem einzigen Raum überlagert, wie es im ersten Teil und zu Beginn des zweiten Teils des Romans entwickelt wird und wie es die Kutschfahrt durch Rouen noch einmal eindrücklich vorführt. Als Parcours erzählt, erschafft sie dennoch nur eine weitere Raumbildvariation, die ihrerseits zu den anderen Bildern des Gartenraumes in Bezug steht: einer Stadtkarte.12 Flauberts Coup besteht nun darin, die Idylle anhand dieser Bilderpraktik als Raumbildvariation und damit anhand der Bilderpraktik der Heldin mit der Abenteuerzeit zu kombinieren und den medialen Weltenclash als Zeitproblem vorzuführen. Die Abenteuerzeit bestimmt einen der Idylle entgegengesetzten Raum, der in der Gegenüberstellung von Weite und Ferne seine Bedeutung erringt, ansonsten aber kein eigenes Charakteristikum aufweist und überall gelegen sein kann,13 wie auch Yonville als Schwellenland ein »paysage sans caractère« darstellt.14 Wie Bachtin erklärt, braucht das Abenteuer »um sich zu entfalten, Raum, viel Raum«, und so findet die Abenteuerzeit ihm zufolge als Weg zwischen

7

Michel de Certeau: L’invention du quotidien. 1 Arts de faire, nouvelle Édition, établie et présentée par Luce Girard, Paris: Gallimard, 21990, S. 173.

8

MB, S. 211.

9

Bachtin, Formen der Zeit im Roman, S. 198 (Anm. 5).

10 »[…] l'ennui, araignée silencieuse, filait sa toile dans l'ombre à tous les coins de son cœur.« MB, S. 188. 11 »il n’y avait point de route pratiquable«, MB, S. 211. 12 Vgl. das Kapitel »Locus amoenus und Apuleius’ Amor und Psyche«. 13 Bachtin, Formen der Zeit im Roman, S. 25 26 (Anm. 5). 14 MB, S. 211.

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verschiedenen Stationen statt.15 Wege sind jedoch in Emmas Gartenraum versperrt oder schlichtweg inexistent. Der Chronotopos als intertextuelles Instrument, das Räume und Zeiten als Charakteristika literarischer Traditionen zusammendenkt, veranschaulicht, dass Räume in Madame Bovary nicht zusammen passen können, da mit ihnen ›falsche‹ Zeiten kombiniert sind. Die Abenteuerzeit, mit der Emma die Idylle ihres »éternel jardin« auffüllt, bezieht sie konsequenter Weise ebenso aus Bildvorlagen, und zwar dem Chronotopos des Weges entsprechend in und von Abenteuergeschichten über reisende Liebhaber, »die ihre Pferde auf jeder Seite zutode reiten«.16 Die Raumpraktik der Protagonistin ist daher von ihrer Zeitpraktik nicht zu trennen und deren logische Konsequenz: Die Abenteuerzeit verlangt Wege, die Öffnung des Raumes. Ihr unterstehen die Fluchtpläne der Heldin, die allesamt scheitern und ihren geschlossenen Raum mit der ihn begleitenden zyklischen Zeit ein weiteres Mal markieren. Nun ist im Bild von der textilen Handarbeit im Hortus conclusus zusammen mit der Vorstellung von einem schützenden, geschlossenen Raum die marianische Zeit des Heils mit eingetragen. Wenn Flaubert durch die Inszenierung seiner Heldin als textile Handarbeiterin den Schutzcharakter dieses Raumes in ein unheilvolles Inklusorium wendet, so wird die marianische Zeit in eine Zeit der Langeweile, des ewigen Wartens und schließlich des Ruins überführt. Die zyklische Zeit dieser lang-weiligen Wiederholungen wird, so meine These, insbesondere in der textilen Geste sichtbar. Es ist auffällig, wie systematisch jene Texte, die von der textilen Beschäftigung und damit vom Warten auf den heilvollen Ehemann erzählen, ein Schlaglicht gerade auf den Entstehungsprozess des Textils werfen. Die Handgeste und damit der Verlauf des Fadens bindet die Zeit im entstandenen Textil. So zeigt es die Geschichte von Penelope, die Jahre damit zubringt, ihr Gewebe immerfort anzufertigen und wieder aufzutrennen, um Zeit zu schinden; die Geschichte von Maria, deren eigenhändig gewobener Tempelvorhang in dem Moment zerreißt, als das Heilsversprechen durch Jesu Tod eingelöst ist; von Lady Shalott, die Tag und Nacht webt, um einem Fluch zu ent-

15 Bachtin, Formen der Zeit im Roman, S. 24 (Anm. 5). 16 »Ce n'étaient qu'amours, amants, amantes, dames persécutées s'évanouissant dans des pavillons solitaires, postillons qu'on tue à tous les relais, chevaux qu'on crève à toutes les pages«. MB, S. 181.

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kommen, der sie dennoch ereilt, als sie die Welt und Lanzelot durchs Fenster sieht und das eigene Gewebe sich daraufhin gegen sie wendet.17 Textile Handarbeit eignet sich recht gut zur Verbildlichung dieser Zeit des Wartens, denn sie ist grundsätzlich eine Tätigkeit der Dauer. Als zyklischhorizontale Geste beim Weben, als zyklisch-vertikale jedoch bei der Nadelarbeit wie Nähen, Sticken und Stopfen wird sie in einem fort wiederholt: Die rechte Hand vollzieht eine Kreisbewegung, wenn sie immer wieder die Nadel zuerst ins Gewebe sticht, das die Linke hält, und daraufhin den Faden anzieht. In dieser wiederholenden Bewegung wird die zyklische Zeit jenes geschlossenen Raumes sichtbar, in dem textile Handarbeiten statthaben. Als immer gleiche Zeit der Dauer und Wiederholungen wird sie im Textil fixiert und in der Handgeste nachgeahmt. Wenn Maria in Rossettis Gemälde und Emma in Flauberts Roman zudem ein Gartenmotiv sticken, wenn Arachne und Minerva ihre Bildergeschichten schmückend mit Gartenmotiven umrahmen, verbindet die textile Geste Zeit und Raum zu jenem Bild vom Gartenraum, in dem die stickenden und webenden Figuren inszeniert werden (die Ovid’schen Figuren weben unter freiem Himmel an einem Ort, der durch die herbei eilenden Nymphen ebenso als Idylle ausgewiesen ist). Die Handgeste, die Zeit nicht nur sichtbar macht, sondern in den Raum einträgt, zeigt die Entstehung eines (textilen) Bildes an und damit die Entstehung einer Geschichte: Das Bild von textiler Handarbeit ist ein Bild vom Erzählen. In Perraults Märchen wie auch in Tennysons Lady of Shalott wird die textile Handarbeit als Erzählung einer Bedrohung und Einlösung eines Fluches zu einem Ereignis erhoben. Die beiden Feen, die Junge und »l’ancienne«, die bei Dornröschens Verwünschung am Werk sind, stehen bei Perrault für das Erzählen von alten und neuen Geschichten. Die junge Fee tritt nicht zufällig hinter einem Wandteppich, einem alten Gewebe eben, hervor, um den tödlichen Fluch ihrer Vorgängerin zu wenden; sie vermag jene alte Geschichte, die sie, hinter diesem Gewebe versteckt, gehört hat, neu und anders zu erzählen und günstig zu verändern: Dornröschen soll nun nach dem Stich in den Finger nicht tot umfallen, sondern nur hundert Jahre schlafen, bis sie ein Prinz erweckt.18 Diese neue Variante der Verwünschung sorgt schließlich im Märchen für eine ganze Menge

17 Interessanterweise ändert sich in allen drei Beispielen mit dem Aussetzen der Geste bzw. der Auflösung des Textils die zeitliche Ordnung: Die zyklische Zeit wird unterbrochen, die Erzählung wird aufgelöst. 18 Charles Perrault: La belle au bois dormant (1697), in: C.P.: Contes, présentation, notes et dossier par Fabrice Fajeau, Paris: Flammarion, 12013, S. 31–46. Hier: S. 33.

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Abenteuer, neue Geschichten, die der Prinz erlebt, dem der Leser folgt (wie etwa der Kampf gegen eine Ogresse). So erscheint auch das uralte Metier der Spinnerinnen dem jungen Dornröschen neu und aufregend, als sie sich im Turm des Mütterchens selbst im Spinnen üben möchte, unerfahren sich sticht und den Fluch einlöst, von dem sie der Prinz erretten wird. Tennyson dagegen lässt seine Lady in eindeutiger Anspielung an die zu ihrem Schutz unausgesetzt webende Penelope und die in allen Farben des Regenbogens darstellende Arachne ein magisches Gewebe aus bunten Fäden erstellen, um sich ihrerseits vor einem Fluch zu schützen, den sie (wie das spinnende Dornröschen) nicht kennt. THERE she weaves by night and day A magic web with colours gay. She has heard a whisper say, A curse is on her if she stay To look down to Camelot. She knows not what the ›curse‹ may be, And so she weaveth steadily, And little other care hath she, The Lady of Shalott. […] And sometimes thro’ the mirror blue The knights come riding two and two: She hath no loyal knight and true, The lady of Shalott. But in her web she still delights To weave the mirror’s magic sights For often thro’ the silent nights A funeral with plumes and lights And music, went to Camelot: Or when the moon was overhead, Came two young lovers stately wed; »I am half sick of shadows«, said The lady of Shalott.19

19 Alfred Tennyson: »The lady of Shalott« (1842), in: Hallam Tennyson (Hrsg.): The Works of Tennyson: Ballads and other poems, New York: AMS Press, 11970 (9 Bde, I. Poems), S. 114−121. Hier: S. 115−118.

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Der Fluch der Lady Shalott löst sich ein und offenbart seinen Inhalt in dem Moment, als die äußere Welt ungebrochen, ungespiegelt, unwiederholt erblickt wird und ihr gefährliches Potenzial entfalten darf: Sie bildet sich zwar seit jeher im Spiegel ab, und die magischen Bilder, die dieser zeigt, überträgt und wiederholt die Lady in ihrer webenden Beschäftigung als Bilder in einem ebenso magischen Gewebe. Doch der Blick auf die reale Welt, als sie dem schönen Lanzelot durchs Fenster hinterher sieht, ist für sie nicht zu überleben – und diese Welt daher auch nicht darstellbar: Kaum hat sie Lanzelot und seinen Weg nach Camelot erblickt, verlässt die Lady nicht nur den Webrahmen, sondern gar den schützenden Turm und die schützende Insel und stirbt auf ihrer Reise.20 In Camelot kommt sie als Tote an; dort findet allein Lancelot, dessen Schönheit der Grund für den fatalen Blick der Lady war, in der schockierten Stille des Hofes für dieses Drama Worte: »God in his mercy lend her grace«.21 Tennysons Ballade, die (vor allem in England) großen Eindruck machte und selbst unzählige Male in Kunst und Literatur wiederholt und ausgelegt wurde, übersetzt die Wiederholung von alten Geschichten als bereits einmal gespiegelte Abbilder der Außenwelt ins Textil: Das magische, genuin bewahrende Gewebe aus frohen Farben, das aus diesen Abbildern offenbar glückliche Geschichten von der wiederholten Welt darstellt, entfaltet sich mit dem ungeschützten Blick auf die Welt als frei im Raum schwebende Geschichte (»out flew the web and floated wide«), die bisher noch nicht erzählt wurde, wie es in den Platzhaltern der Anführungszeichen im Text markiert ist: »She knows not what the ›curse‹ may be«.22

20 Dieser Aspekt des Medienwechsels schlägt den Bogen zurück zu Flaubert und Emma Bovarys Bildpraktiken, insbesondere zur laterna magica-Szene: Auch das Schicksal der Lady ist letztendlich in einem fundamentalen medialen Problem begründet (nämlich Fenster vs. Spiegel); der Blick in den Spiegel wird durch den fatalen Fensterblick abgelöst, der zum Einbruch des Realen (der unvermittelte Fensterblick) in das Imaginäre (die Spiegelbilder als imaginär vermittelte Bilder) führt. 21 Ebd., S. 121. 22 Ebd., S. 116. Paradoxer Weise ist ein Fluch per definitionem ja eine Geschichte, die schon einmal erzählt wurde (so auch bei Dornröschen). Das Spannende dabei aber ist die Situation der diskrepanten Informiertheit, also dass die Protagonistinnen wie auch der Leser den Fluch eben gerade nicht kennen und es darauf ankommt, ob und wie er sich denn am Ende einlöst. In diesem Sinne ist mit diesem Fluch stets die Frage nach der Erzählung, nach histoire und discours gestellt.

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She left the web, she left the loom; She made three paces thro’ the room, She saw the water-lily bloom, She saw the helmet and the plume, She look’d down to Camelot. Out flew the web and floated wide; The mirror crack’d from side to side; »The curse is come upon me,« cried The Lady of Shalott.23

Das Gewebe, das wiederholte Geschichten in Bildern zeigt, wendet sich nun gegen seine Schöpferin. Die Macht der undarstellbaren, realen Welt überträgt sich in der Macht des sich erhebenden Gewebes als Medium des tödlichen Fluches auf die Lady, die (so stellt es William Hunt in seinem Holzschnitt dar) nun von dessen losen Fäden und Kettfäden umschlungen wird: Es ist dies das Bild von der fatalen Macht einer neuen Geschichte, die mit dem Zerbrechen des Spiegels bei Tennyson fortan jeden Versuch des webenden Darstellens als Wiederholung von Bildern für unmöglich erklärt und sich als eine alte Geschichte gleichsam in seine Bestandteile, in lose Fäden, auflöst. Auch Emma Bovary überlebt den Fluch der Lady Shalott nicht. Auch sie kann nur durch die Wiederholung von Abbildern von der Welt überleben. Flauberts Heldin jedoch ist vor die Wahl gestellt, die reale Welt mit ihrer fiktionalen Welterfahrung abzugleichen, die sie dennoch immerfort aus ihren Romanlektüren und damit ihren Bildlektüren beschwört. Die Konsequenz hieraus ist ein grandioses, ein fatales Scheitern: Emma verschlingt am Ende des Romans ein Gift, Arsen, das den als (Bilder-)Geschichten verschlungenen Text ihrer Lektüren buchstäblich aus ihrem Körper herauslöst: Post mortem erbricht sie ihn in Form von schwarzer Flüssigkeit auf das Hochzeitskleid, das ihr nach dem Tode angezogen wird. Emma ist nun tatsächlich eine Braut Gottes geworden wie Maria in der Vereinigung mit Gott; den innigsten Liebeskuss, den sie in ihrem Leben gibt, drückt sie in der Stunde ihres Todes auf den Körper des ›göttlichen Mannes‹, das Kruzifix (»[…] collant ses lèvres sur le corps de l’Homme-Dieu, elle y déposa de toute sa force expirante le plus grand baiser d’amour qu’elle eût jamais donné«).24 So inszeniert selbst ihr Tod die Heldin abermals in einem textilen Diskurs: Wie die aufgelösten Fäden des Gewebes der Lady Shalott, ist es im Wortspiel

23 Ebd., S. 118 119. 24 MB, S. 436.

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des Französischen [langue; frz. Zunge, Sprache] die Sprache selbst, die zum Rohmaterial ihrer Darstellung aufgelöst wird und als schwarze Flüssigkeit das weiße Textil befleckt, in das die Protagonistin gehüllt ist. Im Todeskampf tritt Emma zunächst die Zunge/Sprache aus dem Mund (»La langue tout entière lui sortit hors de la bouche«);25 nach ihrem Tod »un flot de liquides noirs sortit, comme un vomissement, de sa bouche«.26 Der Text zeigt die Verstorbene gar zweimal durch einen Betrachterblick und verbindet dabei in Anspielung auf den Arachnemythos webende Beschäftigung und Erzählen in einem visuellen Diskurs: Zuerst als Charles die Vorhänge des Bettes zurückzieht und sich dem Anblick seiner toten Frau stellt; und anschließend, als die drei Frauen, die der Toten ihr Hochzeitskleid anziehen und sie zum letzten Mal betrachten, sie mit dem weißen Schleier vollständig bedecken. Charles entra, et, s’avançant vers le lit, il tira lentement les rideaux. Emma avait la tête penchée sur l’épaule droite. Le coin de sa bouche, qui se tenait ouverte, faisait comme un trou noir au bas de son visage ; les deux pouces restaient infléchis dans la paume des mains ; une sorte de poussière blanche lui parsemait les cils, et ses yeux commençaient à disparaître dans une pâleur visqueuse qui ressemblait à une toile mince, comme si des araignées avaient filé dessus. Le drap se creusait depuis ses seins jusqu’à ses genoux, se relevant ensuite à la pointe des orteils ; et il semblait à Charles que des masses infinies, qu’un poids énorme pesait sur elle.27 [La domestique, Mme Lefrançois et la mère Bovary] abaissèrent le long voile raide, qui la recouvrit jusqu’à ses souliers de satin. […] − Regardez-la, disait en soupirant l’aubergiste, comme elle est mignonne encore ! Si l’on ne jurerait pas qu’elle va se lever tout à l’heure. Puis elles se penchèrent, pour lui mettre sa couronne. Il fallut soulever un peu la tête, et alors un flot de liquides noirs sortit, comme un vomissement, de sa bouche. − Ah ! mon Dieu ! la robe, prenez-garde ! s’écria Mme Lefrançois.28

In Anspielung auf die marianische Geschichte29 und den Arachnemythos ist Emmas textile Beschäftigung und ihre Lektüre- und Bilderpraktik noch in ihrem

25 MB, S. 437. 26 MB, S. 442. 27 MB, S. 441. 28 MB, S. 442. Meine Hervorhebung. 29 Charles bekommt nach Emmas Tod den Rat, religiöse Schriften zu lesen, darunter auch Voltaire, Verfasser der französischen Übersetzung des Marienlebens (vgl. das

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Tod angezeigt. Ihr Kopf neigt sich zugunsten eines wie lauschend wirkenden, linken Ohrs, über das Maria in der Ikonographie empfängt, zur rechten Schulter. Die Finger, die Linien auf der Pariser Stadtkarte gezogen, gestopft und gestickt haben, umschließen nun beide Daumen zur Faust. Die Augen, die Bilder wie Texte verschlungen haben, sind unter einem weißen Gewebe verschwunden, als hätten Spinnen sie zugesponnen. Und schließlich treten der Heldin nun all diese Diskurse zu Druckerschwärze aufgelöst aus dem Körper und zwar bezeichnender Weise in dem Moment, als die Frauen sie krönen möchten. In der Ironie des Textes gilt diese Krönung Emmas Erzählen, bei dem es sich stets um den unreflektierten Konsum und die schnöde Wiederholung von Bildern und Texten handelte, die bereits selbst Gemeinplätze waren. Sie gilt aber mit der Bovary ebenso für Flauberts Erzählen als kunstvolles Weben in Bildern, dessen Zurschaustellung der Autor mit dem Tod seiner Heldin nun zuende gebracht hat. Den Effekt dieser Szene, ein finales Bild von Druckerschwärze auf weißem Grund zu geben, stellt der Text im Aufschrei der Nachbarin noch einmal her: Sie weist auf die Gefahr eines Besudelns des weißen Kleides und damit auf die Gefahr(en) von Text und Bild post mortem hin, die nun die Brust der Toten wie ein Stempel schwarz auf weiß markiert. Das Erbrechen von schwarzen Liquiden auf das weiße Textil des Hochzeitskleides ist bei Flaubert die Lösung des medialen Problems der Bovary und als Lösung dieser ihrer Lebensgeschichte gleichsam dénouement der Intrige.30 Verdauter Text wie verdautes Bild kommen in unförmigen schwarzen Spuren auf eine jungfräulich weiße Oberfläche nun sinnentleert, als aufgelöste Symbolordnung, wieder zurück; das Bild dieses Vorher/ Nachher einer unheilvollen Lektürepraktik jedoch bleibt das gleiche: schwarze Spuren auf weißem Gewebe wie Druckerschwärze (»encre«) auf Papier.31

Kaptitel »Die Jungfrau: Das Marienleben des Jakobus«). Allerdings wird dieser natürlich zusammen mit Holbach auch mit der Enzyklopädie in Verbindung gebracht

ein

eigenartiger Lektüretipp für einen Trauernden. »Lisez Voltaire! disait l’un; lisez d’Holbach, lisez L’Encyclopédie!«, MB, S. 441. 30 Bei der Lady of Shalott dagegen ist dénoument das Abreißen des Fadens. Das Gewebe bzw. die Ordnung der Repräsentation wird zwar aufgelöst und der Spiegel zerbrochen; es gibt die Parallele der unheilvollen Lektürepraxis und des fatalen Blickdispositivs; aber statt Sinnentleerung passiert eher ein Sinnüberschuss oder eine Affirmation: Der Fluch bewahrheitet sich und verleiht dem vorherigen Tun der Lady Shalott im Nachhinein Sinn. 31 Kurz nachdem Emma Bovary das Arsen geschluckt hat, äußert sich die Vergiftung bereits als »saveur âcre« und sodann als »affreux goût d’encre«. MB, 425 426. Im

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Im textilen Diskurs als medialem Diskurs stellt Madame Bovary eine Lebensgeschichte des Erzählens in Bildern dar: Das Bild der toten Emma in einem mit schwarzen Spuren markierten weißen Textil verweist direkt auf die Anfangsszene des Romans zurück, die sie vor ihrer Vermählung mit Charles als Jungfrau unter einer von ihr selbst angefertigten Zeichnung zeigt, und damit den intertextuellen Bezug eröffnet zu einer berühmten, alten Geschichte über solch fatale Bildergeschichten: Ovids Metamorphose der Arachne.32 Il y avait, pour décorer l’appartement, accrochée à un clou, au milieu du mur dont la peinture verte s’écaillait sous le salpêtre, une tête de Minerve au crayon noir, encadrée de dorure, et qui portait au bas, écrit en lettres gothiques: »À MON CHER PAPA«.33

Es ist Charles, durch dessen Augen diese erste Beschreibung von Emmas Wohnraum im elterlichen Bauernhof nachgereicht wird, wo seine zukünftige Braut unter seinem begehrenden Blick bereits unmittelbar zuvor initial bei der Nadelarbeit gezeigt wurde. Durch die Zeichnung der Minerva, die den Raum der Heldin im Zeichen des Bildes in den Roman einführt, findet sich Emmas Nadelarbeit bereits in einen genau definierten Diskurs eingeordnet, welcher den Wohnraum, in dem die Heldin figuriert, »ausschmückt« (décorer), so wie Arachne eine Meisterin nicht nur des Webens, sondern auch des schmückenden Stickens ist (»pingebat acu«).34 Emma porträtiert nun aber hier gerade nicht das Menschenmädchen Arachne, das fehlerlos und noch schöner in gewebten Bildern zu erzählen versteht als die

19. Jahrhundert bezeichnet »encre« Tinte und Druckerschwärze und wird in neuen Verfahren nun chemisch hergestellt. Vgl. hierzu das Kapitel in Balzacs Les Illusions perdues, »Les souffrances de l’inventeur«, in dem es um die Herstellung von Almanachen und die Erfindung von neuem Papier, verschiedenen Tinten und neuen Drucktechniken geht. Honoré de Balzac: Les illusions perdues (1837−1843), introduction, notes, chronologie et bibliographie par Philippe Berthier, Paris: Flammarion, 11990, S. 467 477. Barbara Vinken liest diese »schwarzen Flüssigkeiten« in Flauberts Text als »Tinte«; es kann dabei im sous-entendu von Flauberts Text nur um die Druckerschwärze der von Emma verschlungenen Bücher und Almanache gehen, da Emma liest, nicht aber selbst schreibt. Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer, 12009, S. 95. 32 OA, Buch VI, 1 143. Vgl. auch das Kapitel »Madame Bovary, Teil I: Jungfrau, Braut, Klosterschülerin«. 33 MB, S. 162 163. 34 OA, VI, 23.

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göttliche Gegenspielerin. Die Geschichte von Flauberts Heldin untersteht der mächtigen Gottheit, unter der ihre textile Beschäftigung statthat und die mit ihren Kriegsgeschichten gegen die erotischen Geschichten Arachnes verliert. Damit wird das Thema der textilen Handarbeit nicht nur als ein Erzählen in Bildergeschichten ausgewiesen. Mit dem Arachnemythos ist ihm zugleich ein Machtmotiv eingeschrieben.35 Denn Ovids Gottheit bestraft Arachne grausam, indem sie sie nicht tötet, sondern verflucht: Als Spinne muss das Mädchen, das alle Farben, wie auch den kostbaren Purpur, über die Maßen kunstfertig zu verarbeiten weiß, nun immerfort schnöde, blasse, farblose, alte Spinnengewebe (»antiquas […] telas«) mit einem Faden ausführen, den sie aus dem eigenen Körper zu ziehen hat. Minerva sichert sich auf diese Weise für alle Zeiten den Status als weltbeste Weberin und damit als Königin im Erzählen von Bildergeschichten. Nun ist es in Ovids Geschichte jedoch zweifellos so, dass ja Arachne mit ihrem vollkommenen Gewebe über die Göttin den Sieg davon trägt, wenn es ihr auch zur Verwünschung gereicht.36 So ist es am Ende auch das Menschenmädchen, das von der Göttin eigenhändig dazu befähigt wird, das Rohmaterial ihrer Bildergeschichten, den Faden, in und mit ihrem eigenen Körper selbst herzustellen: Zur Spinne degradiert, wird ihr damit gleichwohl das Monopol über die Schöpfung von Geschichten zugesprochen, das Monopol der inventio als unabhängiges, eigenes erzählendes Erschaffen in der Nachahmung jener »alten Geschichten«, die Arachne mit diesem dem eigenen Körper entsprungenen Faden auf immer wiederholt. Inventio und Nachahmung, mimesis, vereinen sich bei Ovid also und schließen einander gerade nicht aus  dies ist auch der clou von Flauberts Bilderpraktik. Mit Arachne ist die wahrhaft kunstfertigste aller Weberinnen zu einem Faden produzierenden Körper geworden; der Faden steht dabei nicht für den Inhalt von Geschichten, der histoire (hierfür steht, wie Ovid es erzählt, das fertige Gewebe), sondern für Stil und discours.

35 Dies gilt in gleichem Maße für Penelope mit ihrem listigen Weben und für die Lady of Shalott mit ihrem magischen Teppich, die beide auf diese Weise die Macht über ein unbehelligtes Leben behalten. 36 Zu einer wunderbaren Interpretation des Arachnemythos vgl. Max Rychner: »Arachne«, in: M.R.: Arachne. Aufsätze zur Literatur, Zürich: Manesse, 11957, S. 5−26. Für Flaubert vgl. Edi Zollinger: Arachnes Rache. Flaubert inszeniert einen Wettkampf im narrativen Weben: Madame Bovary, Notre-Dame de Paris und der Arachne-Mythos, Paderborn: Fink, 12007; Staub, »Der Weber und sein Text« (Anm. 4), und A[?] M[?] Lowe: »Emma Bovary, a modern Arachne«, in: French Studies XXVI, 1 (1972), S. 30–41 (1972).

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Wenn, wie ich meine, Flaubert in der Figur der sowohl stickenden wie auch stopfenden Emma, die er zum Schluss an Gift sterben lässt, und zwar wie sich herausstellt am Gift des Textes, seine eigene Bilderpraktik zu Schau stellt, so wiederholt er die Konstellation eines Wettbewerbes zwischen einem Menschenmädchen und einer Gottheit. Er erhebt sich selbst zu jener strafenden Minerva, die die Krone für das webende Erzählen in kostbaren Farben für sich beansprucht und zieht wie Arachne den neuen Faden des Stils aus sich selbst.37 Die erotischen Geschichten der Arachne, die sich seine Heldin mit ihren Affären anhand ihrer Text- und Bildlektüren so bunt erzählt und die immerfort unglücklich enden, treten hinter dem kriegerischen, machtvollen, neuen Spiel zurück, das Flaubert als Weber von Bildergeschichten mit ihr und den alten Garten- und Textilgeschichten treibt. Es wird eine konkurrierende Erzählpraktik vorgestellt und eben gerade in der Figur der Bovary, mit der Flaubert sich selbst zeigt, ad absurdum geführt.38 Diese Konkurrenz besteht natürlich nicht zwischen Flaubert und seiner Heldin, sondern in der Dichotomie von alten und neuen Geschichten im Sinne eines Gegensatzes von classique und moderne. Modern sein heißt dabei in seinen Worten: »Il faut montrer aux classiques qu’on est plus classique qu’eux, et faire pâlir les romantiques de rage en dépassant leurs intentions. Je crois la chose faisable, car c’est tout un.«39 Wenn Flaubert von seiner Normandie spricht als dem Heimatland der ›Klassiker‹ wie dem Dramatiker Corneille und dem romantischen Maler Géricault, so behauptet er mit seinem Roman in einem ironischen Schluss, ›klassischer‹ zu sein als die Alten.40

37 Zollinger argumentiert, Flaubert stelle sich mit Madame Bovary in einem angezeigten Wettbewerb des Erzählens als bessere Weberin Arachne der ›Gottheit‹ Victor Hugo. Den aus sich selbst gezogenen Faden setzt er als Schöpfungsakt der Masturbation parallel. Zollinger, Arachnes Rache (Anm. 36). 38 In diesem Sinne sind die Studien von Zollinger (ebd.) zu perspektivieren, denn Flaubert nimmt, so meine ich, im ironischen Diskurs mittels seiner Heldin eine solche Distanz zu Zitatpraktiken ein, auch seiner eigenen, dass der Wettkampfgedanke, den Zollinger zurecht bei ihm ausmacht, eben gerade nicht ernstgenommen, sondern ad absurdum geführt wird. 39 Brief an Louise Colet, 25. Juni 1953. 40 Vgl. das Eingangszitat (»Flauberts images«, Anm. 1): »Je vais aller ces jours-ci dans la campagne faire quelques excursions, et puis, dans 8 jours je crois, nous repartons pour Rouen, ancienne capitale de la Normandie, chef-lieu du département de la SeineInférieure, ville importante par ses manufactures, patrie de Corneille, de Jouvenet […], de Géricault […]. Il s’y fait un grand commerce de cotons filés. Elle a de belles

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Die Anspielung auf den Arachnemythos als Auftakt in Madame Bovary in Form einer Kohlezeichnung führt webendes Erzählen und Darstellen in Bildern als Verfahren des Textes zusammen; als schwarze Linien auf weißem Papier sind Bild, Text und Textil gleich zu Beginn der Geschichte der Bovary als untrennbare Bestandteile einer visuellen Poetologie angezeigt, die die textile und erzählende Tätigkeit, Nadel und Wort, savoir broder und savoir causer in einem Raummodell parallel führt. Diese visuelle Poetologie als Bilderpraktik wird narratologisch durch Flauberts Erfindung eines unmittelbaren Erzählens möglich (showing), die den Leser durch die Augen der Figuren sehen lässt und nicht nur eine Betrachterfigur im Text, sondern eine Betrachterposition außerhalb des Textes erschafft, wo jene Bilder im Abgleich mit Gemälden, Gemeinplätzen und Topoi ihre Bedeutung erlangen.

D IE S PEKTAKULARITÄT

DES

T EXTILEN

Nun figuriert auch in Ovids Version von textiler Handarbeit als einem (hier freilich mittelbaren) Geschichtenerzählen in Bildern der Blick eines Betrachters, der in Arachnes Fall durch die Nymphenfiguren eingetragen wird und mit dem die textile Handarbeit die für sie so typische Spektakularität erhält. Die Nymphen betrachten (»spectare«) nicht nur mit Ergötzen das fertige Textil, sondern auch dessen Entstehung und richten dabei ihren Blick auf die Handbewegungen der Kunstfertigen, die »seu digitis« zunächst den zu verarbeitenden Faden dreht und verwebt und daraufhin das entstandene Gewebe glättet. nec factas solum vestes spectare iuvabat tum quoque, cum fierent (tantus decor adfuit arti), sive rudem primos lanam glomerabat in orbes, seu digitis subigebat opus, repetitaque longo vellera mollibat nebulas aequantia tractu, sive levi teretem versabat pollice fusum, seu pingebat acu; scires a Pallade doctam. [Nicht nur die fertigen Stoffe, nein, auch sie w e r d e n zu sehen, war ein Vergnügen, mit solcher Gefälligkeit übt’ sie ihr Können. Mochte die rohe Wolle zunächst zu Knäulen sie ballen

églises et des habitants stupides, je l’exècre, je la hais […]. Malheur aux murs qui m’ont abrité !« Brief an Ernest Chevalier, Nogent-sur-Seine, 2. September 1843.

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oder sie schlichten darauf mit den Fingern, entfilzen mit langen, oft wiederholten Zügen die wolkengleichenden Flocken, mochte mit leichtem Daumen die glatte Spindel sie drehen, mochte sie wirken in Bunt. − Sie mußte von Pallas belehrt sein.]41

Es ist dies eben jenes Verfahren, das Flaubert selbst für sich beansprucht, wenn er die Elemente seines Textes in eigenen Worten wie »Fäden« in einer »fabrication« als »contexture d’icelles« [de ficelles] miteinander verbindet,42 wobei die textile Handarbeit, die diese Fäden in großer Kunstfertigkeit zu einem »tissu de style«43 (wörtlich: einem Gewebe des Stils, oder auch: Stilgewebe) verarbeitet, zugunsten der Illusion von einer »glatten Oberfläche« im Verborgenen bleiben soll. Flauberts eigene als textile ausgewiesene Tätigkeit lässt er dafür seine Heldin vorführen, die im Text immerfort mit Nadel und Faden beschäftigt ist, wie es Ovid für Arachne beschreibt (»pingebat acu«). Flauberts Text stellt diese textile Handarbeit der Bovary in exemplarischen Inszenierungen vor. So wie es Szenen des Nähens, des Stopfens und des Stickens gibt, so gibt es auch eine Szene, in der mit Blick auf die Finger der Heldin ein Fokus auf das Glätten des Textils gelegt wird, und zwar als Unterbrechung der Nadelarbeit an einer toile in Anspielung an das Weben der Arachne (frz. Leinen; Leinwand; Gemälde, anstatt z. B. étoffe, canvas). Léon beobachtet dies wie folgt: »[E]lle poussait son aiguille, ou, de temps à autre, avec son ongle, fronçait les plis de la toile«.44 Nimmt man die Handarbeitsszenen als poetologische Reflexion Flauberts ernst, so entsteht also jene berühmte surface lisse des Flaubert’schen Textes nicht ganz genau so wie bei Ovid in einem Weben, sondern in einem Zusammennähen von textilen Teilen, die als toiles sowohl solche herrliche Stilgewebe darstellen, wie sie Arachne anfertigt, als auch Küchentücher der bürgerlichen

41 OA, VI, 17−23. 42 Brief in Rabelais-Französisch an Louis Bouilhet, 26. Dezember 1852. 43 Brief an Louise Colet, 28. Oktober 1853. 44 MB, S. 242. Im Roman kommt kein Webrahmen vor, mit Sicherheit aus Gründen der Subtilität einer Geschichte, die seine Intertexte nicht (zumindest nicht allzu offensichtlich) preisgeben soll. Flaubert muss seine Bürgersfrau stopfen, nähen und sticken lassen, um an die textile Geschichte anzuspielen. Ein Webrahmen wäre ein zu ausgefallenes Instrument in einem bürgerlichen Haushalt, die Metaphorik zu platt. Man muss sich vor Augen halten, dass im 19. Jahrhundert Ovids berühmter Mythos wie auch Homers Penelope oder die marianischen Diskurse derartige Gemeinplätze waren, dass sie Flaubert in seinem Roman als bêtise behandelt bzw. ironisch bricht.

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Hausfrau sind, die diese stopft, und zwar vor den Augen eines Verehrers, der in seinen Diskursen für die (zum Gemeinplatz gewordene) Romantik steht. Ist dies das Bild, das Flaubert für sein eigenes textiles, also erzählendes Werk findet? Die alten (romantischen) Vorlagen seien derart miserabel, dass man sie – sehr wohl im Bilde des Ovid’ schen Webens – wie Küchentücher stopfen muss? Bereits der Anfang des Romans steht unter dem Zeichen eines geradezu lächerlichen textilen Zusammenfügens. Charles’ Kappe aus zusammengenähten Fleckchen figuriert daher auch gerade in einer Schule, in der wegen dem Chaos, das diese Mütze im Kollektiv der Schüler anrichtet, gerade gar nichts gelernt wird. Nimmt Flaubert über diese Figur die größte Distanz zu jenen Autoren ein, dessen ›Schüler‹ er sein musste? Charles’ spektakuläre casquette symbolisiert ein missglücktes, primitives narratives Verfahren als wilde, planlose Vernähung von hässlichen, unausgewogenen Teilen zu einem monströsen Ganzen, ein textiles Verfahren als ästhetisches Zuviel, das zur Niederschrift der Lächerlichkeit führt, und zwar gleich zwanzig Mal: ridiculus sum schreibt der Besitzer dieses ridikülen Kopfschmuckes, der später studieren, nichts von diesem Wissen jedoch verstehen und behalten wird. In seinen Briefen, die die Genese von Madame Bovary begleiten, fasst Flaubert sein textiles Erzählen, wie eingangs bereits zur Sprache kam, in der Vorstellung von einer Kahnfahrt, bei der im Verb filer auf die textile Konnotation angespielt und an das Weberschiffchen erinnert ist, das im Französischen navette heißt (von naviger): Es geht um einen präzisen Stil als rhythmisierte Dichtung, als ondulierender Faden, der in der Form von Bildern im Geist auf der Stelle Gestalt annehme:45 J’en conçois pourtant un, moi, un style : un style qui serait beau, que quelqu’un fera quelque jour, dans dix ans ou dans dix siècles, et qui serait rythmé comme le vers, précis comme le langage des sciences, et avec des ondulations, des ronflements de violoncelle, des aigrettes de feu ; un style qui vous entrerait dans l’idée comme un coup de stylet, et où

45 Zur Metapher bei Flaubert vgl. Marcel Proust »A propos du ›style‹ de Flaubert« (1920), in: M.P.: Contre Sainte-Beuve, Édition de Pierre Clarac, Paris: Gallimard, 1

1971 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 586−600; zu Sprachbildern bei Flaubert mit

Überblick über den Forschungsstand seit der Erscheinung von Madame Bovary vgl. Anja Ernst: Formen des Sprachbildes. Bildliche und bildhafte Inszenierungsstrategien in Gustave Flauberts Madame Bovary und Salammbô, Hildesheim: Olms, 12013 (Romanistische Texte und Studien, 8).

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votre pensée enfin voguerait sur des surfaces lisses, comme lorsqu’on file dans un canot avec un bon vent arrière.46

Als martialischer »coup de stylet« ist das ›Instrument‹ des Stils bei Flaubert zum Stilett geworden und mit dem Weberschiffchen der kriegerischen Minerva zusammengebracht, die erst das Gewebe Arachnes zerreißt, um sie dann demütigend mit dem Weberschiffchen in die Stirn zu stechen. Dieser martialische Akt verdammt die menschliche Weberin schließlich dazu, den Faden als Spinne in einem autopoetischen Akt der ewigen Wiederholung aus sich selbst zu ziehen. et rupit pictas, caelestia crimina, vestes, utque Cytoriaco radium de monte tenebat, ter quater Idmoniae frontem percussit Arachnes. [und sie zerriß das bunte Geweb, die Schanden des Himmels. Wie in der Hand das Schiffchen vom Holz des Cytorus sie hielt, so stach sie dreimal und viermal mit ihm in die Stirne Arachnen.]47

Der Stich in die Stirn mit dem Weberschiffchen wird bei Flaubert zum stechenden Eindringen des Stils in den Geist (die »idée«), der mit einem Gewässer verglichen wird und auf dessen glatter Oberfläche die Gedanken wie bemannte Boote dahinsausen. Diese recht verwirrende Verbindung von Stil, Geist und Vorstellung in der Metapher des tödlichen Duells als Degenstoß, das in ein müheloses Dahinsegeln auf glatter, ruhiger See überführt wird, scheint mir in einem klaren Bezug zu Ovids Mythos zu stehen, den Flaubert hier in eigenwilliger Metaphorik verschleiert. Die Waffe des Weberschiffchens, das Rohmaterial des Fadens und das glatte Gewebe von sich erhebenden Bildergeschichten, wie es Ovid erzählt, wandelt sich bei Flaubert zur Waffe des ondulierenden Stils auf einer glatten Oberfläche, die ihre darunterliegenden Tiefen nicht preisgibt. Die glatte Oberfläche des Gewebes bei Ovid nun offenbart erst durch den erzählten Blick eines Betrachters jene »altertümlichen Inhalte«, die beide Handarbeiterinnen als Bildgeschichten weben. Diese Oberfläche »glänzt« von Farben (wie man es sich in den Spiegelungen eines ruhigen Gewässers vorstellen kann), auf ihr sind die (Farb-)Übergänge selbst für das geübte Auge kaum zu erkennen:

46 Brief an Louise Colet, 24. April 1852. 47 OA, VI, 131−133; percutere, lat. durchstoßen, schlagen. Mit den »Schanden des Himmels« sind die Verführungsgeschichten der Götter gemeint, die Arachne in frecher Anklage darstellt. Vgl. hierzu auch Rychner, »Arachne« (Anm. 36).

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So kunstreich sind sie verwoben, dass das, was sich ähnlich ist und nah beieinander liegt, kaum unterscheidbar ist, und das, was von einander entfernt ist, im Bezug zueinander und in der Distanz erst seine klare Bedeutung erlangt. Ovid erzählt detailliert, wie solch außergewöhnlich kunstfertig erzählte Bildgeschichten in textilen Gesten entstehen: Haud mora, constituunt diversis partibus ambae et gracili geminas intendunt stamine telas: tela iugo vincta est, stamen secernit harundo; inseritur medium radiis subtemen acutis, quod digiti expediunt, atque inter stamina ductum percusso paviunt insecti pectine dentes. utraque festinant cinctaeque ad pectora vestes bracchia docta movent studio fallente laborem. illic et Tyrium quae purpura sensit aënum texitur et tenues parvi discriminis umbrae, qualis ab imbre solent percussis solibus arcus inficere ingenti longum curvamine caelum; in quo diversi niteant cum mille colores, transitus ipse tamen spectantia lumina fallit: usque adeo, quod tangit idem est; tamen ultima distant. illic et lentum filis inmittitur aurum et vetus in tela deducitur argumentum. [Und schon stehn die zwei an verschiedenen Plätzen vor ihrem Webstuhl und jede spannt die zierlichen Fäden der Kette. Querholz bindet die Pfosten. Es teilt die Kette ein Rohrschaft. Mitten hindurch wird der Einschlag gelenkt durch das spitzige Schiffchen, Finger wickeln ihn ab, und sobald er geführt durch die Kette, drückt der Kamm ihn fest mit den eingeschnittenen Zähnen. Beide bewegen in Eil’, das Gewand unterm Busen gegürtet, flink die geübten Arme, im Eifer die Mühe vergessend. Da wird Purpur verwebt, der in tyrischem Kessel getränkt ward, zartere Schattungen auch, von einander nur wenig verschieden − So wie in mächtiger Wölbung der Bogen die Weite des Himmels färbt, wenn der Regen die Strahlen der scheinenden Sonne gebrochen: Während tausend Farben in ihm verschieden erglänzen, läßt sich vom spähenden Auge nicht fassen der Übergang selbst, so gleich ist, was sich berührt, und doch das Entfernte verschieden.

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Da wird unter die Fäden gewirkt auch schmiegsames Gold und eingewoben dem Stoff die Geschichte aus alten Zeiten.]48

Wenn erzählt wird, wie zunächst der Webstuhl mit den (einfarbigen) Grundfäden bespannt wird (»stamine«), die das Gerüst für jene bunten Fäden bilden, aus denen sich sodann, sobald sie verdichtet sind, jene Bilder erheben und erkennbar werden, welche dem Gewebe erst seinen Sinn, seinen Inhalt geben, handelt es sich um die Darstellung von Syntagma und Paradigma im Bild des Webens, um histoire und discours. Flaubert scheint Ovids Mythos in seinem eigenen textilen Erzählen als intertextuelles, mediales Verfahren umzusetzen, wenn er mit dem Sujet der Ehebrecherin Bovary eine Geschichte »über nichts« erzählt, eine Geschichte in Bildern, durch die man, wie ein Boot in der steifen Brise auf dem Wasser, mühelos hindurchgleitet und deren Primat allein der Stil ist – ein Stil, der sich auf die kaum sichtbaren Übergänge eines textilen Erzählens verlässt, dessen glatte Oberfläche ihre Gemachtheit verbirgt. Erst im ironischen Diskurs, auf einer dritten Ebene außerhalb des Textes (Warning), erlangt dieses Gewebe als sorgfältig enggeführte Verbindung von Fäden intertextuelle Tiefe. Er provoziert den Leser  als »spähendes Auge« (Ovid) eines geistigen Betrachters dieses kunstvollen Gewebes , die im Gewebe sich erhebenden Bilder und damit dessen Tiefensemantik zu entlarven. Ovids Darstellung des webenden Erzählens wird gemeinhin als Darstellung von mimesis verstanden. Diese mimetische Lesart, welche das Erzählen als Nachahmung von »altertümlichen« Geschichten definiert (im Fall von Arachne und Minerva der Nachahmung von Mythengeschichten) und zwar in einer kunstvollen Darstellung, scheint Flaubert als Gipfel der Ironie seines neuen Erzählens als Erzählen in Kopien, in Bildabzügen, mit seiner Protagonistin vorzustellen. Das Ovid’sche »spähende Auge« figuriert bei Flaubert einerseits bereits narratologisch als modus der Erzählung (unmittelbar, angezeigt durch das Tempus des imparfait) und andererseits auf Figurenebene in einem personalen Erzählen, um sodann zum »spähenden Auge« außerhalb des Textes zu werden. Dieses soll Bildinhalte erfassen und abgleichen und damit das Flaubert’sche Verfahren mit Bildkopien als Persiflage sichtbar machen.49 In einer Beziehung von Auge, Hand und Fläche wird dabei mit den textilen Handarbeiten eine Sprache der Hand als Schöpferin von Bildern (in Leroi-Gourhans Sinne des homo

48 OA, VI, 53−69. 49 Wie im Eingangskapitel dieses Buches dargelegt.

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pictor)50 wirksam. Bei allen textilen Techniken überträgt der Körper als Ursprungsort des neu und eigens erschaffenen Fadens (in der Bedeutung Arachnes) diesen über die Geste der Hand als Linie auf ein Blatt Papier oder als verwobenen Faden in das Raster der aufgespannten, weißen Kettfäden. Erst in der stetigen Wiederholung der Handgesten, die Linien und Fäden auf weißem Grund hinterlassen, entsteht eine Erzählung mit ihren Inhalten, wie es Ovids Mythos bezeugt. Erst das fertige Gewebe, Flauberts Text, legt als showing seine Inhalte offen, die sich als Bilder erheben. Anders als Nähen und Stopfen, sind Weben und Sticken, wie auch Flaubert es vorschlägt, dem Erzählen als erlernte Kunstfertigkeit kreativen Charakters, als Kulturtechniken des Darstellens, im ursprünglichsten Sinne also gleich.51 Dass es dabei nicht um einen Bezug des textilen Arbeitens zum Schreiben, sondern zum Erzählen geht, zeigt sich bei Gustave Flaubert über das visuelle Medium, der Zeichnung, des Linien-Entwurfs auf Papier, das er seiner Geschichte über eine textile Handarbeiterin im geschlossenen Raum zugrunde legt  und dabei eben gerade das Problem des Schreibens anspricht. So erklärt er Louise in zwei Briefen: Réfléchis, réfléchis avant d'écrire. Tout dépend de la conception. [...] Dégage toi de plus en plus, en écrivant, de ce qui n’est pas de l'Art pur. Aie en vue le modèle, toujours, et rien autre chose. [...] L’Art est une représentation, nous ne devons penser qu’à représenter. Je voudrais faire des livres où il n’y eût qu’à écrire des phrases (si l’on peut dire cela), comme pour vivre il n’y a qu’à respirer de l’air. Ce qui m’embête, ce sont les malices de

50 André Leroi-Gourhan: La geste et la parole, Paris: Albin Michel, 11964. Vgl. Weiterführend Toni Hildebrandt: »Bild, Geste und Hand. Leroi-Gourhans paläontologische Bildtheorie«, in: IMAGE 14, S. 55−64. 51 Zum Begriff der Kulturtechnik vgl. exemplarisch Erhard Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechnik«, in: Lorenz Engell/Joseph Vogl/Bernhard Siegert (Hrsg.): Archiv für Mediengeschichte 6 (2006), S. 97−110, und »Skill, Deixis, Medien«, in: Christiane Voss/Lorenz Engell (Hrsg.): Mediale Anthropologie, Paderborn: Fink, 12015 (Schriften des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung 3D