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German Pages 246 Year 2021
Marijana Erstić, Gregor Schuhen, Christian von Tschilschke (Hg.) »Madame Bovary, c'est nous!« – Lektüren eines Jahrhundertromans
Lettre
Marijana Erstić, geb. 1971, ist außerordentliche Professorin für Germanistik/ Literaturwissenschaft an der Universität Split. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Intermedialität. Gregor Schuhen, geb. 1973, ist Professor für Romanistik/Literaturwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der literaturwissenschaftlichen Männlichkeits- und Geschlechterforschung, der Gegenwartsliteratur und im Schelmenroman. Christian von Tschilschke, geb. 1966, ist Professor für Romanische Philologie mit dem Schwerpunkt Spanische Literaturwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sein Forschungsinteresse gilt der Gegenwartsliteratur, der Epoche der Aufklärung und dem romanischen Kino.
Marijana Erstić, Gregor Schuhen, Christian von Tschilschke (Hg.)
»Madame Bovary, c'est nous!« – Lektüren eines Jahrhundertromans
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Inhalt
Madame Bovary, c’est lui! Zweihundert Jahre Flaubert Marijana Erstić / Gregor Schuhen / Christian von Tschilschke | 7 #dichterdran Flaubert im Rausch der Jahre Walburga Hülk | 17 Bovarymania Barbara Vinken | 35 Nochmals über die Liebe von Madame Bovary Karl Heinz Götze | 45 Sind wir nicht alle ein bisschen Emma? Vom Bazillus der Bovarysierung Tanja Schwan | 55 Lektüre und Theatralität Anmerkungen zu Madame Bovary Volker Roloff | 67 Cockhead / Cuckold Anmerkungen zu Monsieur Bovary Gregor Schuhen | 75 Inside Out Die ‚Kutschenszene‘ aus (inter-)medialer Perspektive Christian von Tschilschke | 91 Livia als Emma Luchino Viscontis Film Senso Marijana Erstić | 109
Zwischen Feuillet-Pastiche und Flaubert-Hommage Yvette von Guy de Maupassant, ein Werk voll literarischer Anklänge Anne Geisler-Szmulewicz | 131 Madame Bovary im Echoraum deutschsprachiger Publizistik Vier unbeobachtete Texte (1870–1914) Ursula Renner | 163 Die Republik vom 8. Mai 1980: „Gustave Flaubert: 12. Dezember 1821–8. Mai 1880“ Georg Stanitzek | 193 Galaktischer ennui Ovid S. Crohmălniceanus Doamna Bovary în secolul XXX Dietmar Frenz | 215 Auf der Suche nach Madame Bovary im Französischunterricht Zur Rolle literarischer Texte für den Erwerb von Fremdsprachen Adelheid Schumann | 227
Autoren und Autorinnen | 243
Madame Bovary, c’est lui! Zweihundert Jahre Flaubert M ARIJANA E RSTIĆ /G REGOR S CHUHEN /C HRISTIAN
VON
T SCHILSCHKE
R UNDE G EBURTSTAGE Der 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens sollte im Jahr 2020 in Form eines weltweiten Mega-Events begangen werden: Symphonie-Zyklen, Ausstellungen, Performances, prominent besetzte Biopics, Gesamteinspielungen der Klaviersonaten, mehrere neue Biografien und Fidelio, wohin das Opernprogramm-Auge blickte – Beethoven around the World. In Beethovens Geburtsstadt Bonn wurde schon im Sommer 2016 die Beethoven Jubiläums GmbH gegründet, um den runden Geburtstag des Meisters adäquat zu würdigen und möglichst gewinnbringend ein ganzes Jahr lang auszukosten. Eine großformatige Ausstellung in der Bonner Kunsthalle unter dem Motto Beethoven Welt.Bürger.Musik bildete Ende Dezember 2019 den Auftakt zum Beethoven-Jahr, eine Neuinszenierung des Fidelio folgte am 1. Januar. Mitte März zwang dann plötzlich ein bis dato unbekanntes, neuartiges Corona-Virus namens SARS-CoV-2 sämtliche Kultureinrichtungen zur Schließung und bereitete den groß angelegten Feierlichkeiten ein jähes Ende. 2021 steht mit Gustave Flaubert, der vor zweihundert Jahren, genau gesagt am 12. Dezember 1821, in Rouen das Licht der Welt erblickte, ein weiterer runder Geburtstag an. Auch das französische Kulturministerium hat in Kooperation mit der Région Normandie unter der Domain flaubert21.fr allerhand Feierlichkeiten und kulturelle Veranstaltungen angekündigt, die ab April vor allem in Flauberts Heimatgegend stattfinden sollen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann jedoch kaum eine Prognose abgegeben werden, ob diese Festivitäten nicht dasselbe Schicksal ereilen wird wie zuvor im Falle Beethoven.
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Auch wenn der Normanne Flaubert mit seinem Freund Maxime du Camp den Vorderen Orient bereiste und im kosmopolitischen Paris Zugang zu den elitärsten Salons des Second Empire hatte, würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, in Flaubert einen ausgesprochenen „Weltbürger“ zu sehen. Auch kann es der Franzose mit gerade mal drei vollendeten Romanen und drei Erzählungen in Sachen Produktivität kaum mit dem enormen Œuvre seines deutschen Komponistenkollegen aufnehmen. Zuletzt dürfte es eher unwahrscheinlich sein, dass Flauberts bicentenaire außerhalb des Hexagons mit einer vergleichbaren Aufmerksamkeit bedacht wird, wie sie Beethoven zuteilwurde – und das nicht nur anlässlich von runden Geburtstagen. Gleichwohl zeichnet sich auch hierzulande eine Würdigung Flauberts wenigstens in Form von Buchpublikationen ab. So erschien bereits im September 2020 im Hanser-Verlag unter dem viel diskutierten Titel Lehrjahre der Männlichkeit die Neuübersetzung der Éducation sentimentale von Elisabeth Edl, die schon zuvor die Trois Contes (2017) sowie Madame Bovary (2012) neu übersetzt hatte. Im Mai erscheint ebenfalls bei Hanser die Übersetzung von Michel Winocks viel beachteter Flaubert-Biografie aus dem Jahr 2013. Wenn nun auch der vorliegende Band im ‚Flaubert-Jahr‘ auf den Markt kommt, so handelt es sich bei dieser Koinzidenz eher um eine glückliche Fügung als um editorisches Kalkül. Die meisten der hier versammelten Beiträge gehen zurück auf das gleichnamige Kolloquium, das im Herbst 2019 zu Ehren der Siegener Romanistin Walburga Hülk stattfand. Jede/r der Teilnehmer/innen war dazu angehalten, im Rahmen dieser Veranstaltung seine/ihre ganz eigene Lektüre von Flauberts Opus magnum Madame Bovary. Mœurs de province (1857) vorzustellen, jenes Jahrhundertromans, den Walburga Hülk selbst in zahlreichen Publikationen und Lehrveranstaltungen immer wieder neu gelesen hat und der sie seit der Erstlektüre im Jahr 1971 in einem Bischöflichen Mädchengymnasium stets begleitete, wie ein vertrauter und doch immer wieder überraschend neuer Weggefährte. Ebenfalls 1971 würdigt der österreichische Schriftsteller Jean Améry anlässlich des 150. Geburtstags den Franzosen als „Meister der Bovary“1, als der Flaubert auch jenseits rein akademischer Milieus immer noch gilt. Madame Bovary gehört, so scheint es, zu Flaubert wie die blonden Haare zu Marylin Monroe oder der Eiffelturm zu Paris. Mit keinem seiner anderen Werke wird Flaubert so oft in einem Atemzug genannt wie mit seinem Erstling. Dabei schien es lange so, als ob der berühmteste aller Ehebruchsromane der Weltliteratur niemals fertig wer-
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Vgl. Jean Améry: „Die Stunde des Romans. Zum 150. Geburtstag des ‚Meisters der Bovary‘“, in: Süddeutsche Zeitung vom 11. / 12.12.1971. Wiederabgedruckt in: Ders.: Charles Bovary, Landarzt, hrsg. v. Hanjo Kesting, Stuttgart 2006, S. 225–237.
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den sollte. Der mühsame, rund fünf Jahre andauernde Entstehungsprozess ist dank Flauberts freizügiger Korrespondenz bestens dokumentiert und ebenso legendär: „Er litt vor allem und über alle Maßen an den Martern des Stils.“2 Auch die Rezeptionsgeschichte verläuft nicht ohne dramatische Begleittöne, beginnt sie doch mit einem juristischen Paukenschlag, einer Anklage wegen Verstoßes gegen die guten Sitten, die den Roman und seinen Schöpfer ad hoc berühmt machte. Das Erscheinungsjahr 1857 kann ohne Übertreibung auch als „Gründungsjahr der radikal neuen Literatur“3 interpretiert worden, da Flauberts schriftstellerische Exerzitien in der klösterlichen Zurückgezogenheit seines Landsitzes in Croisset in der Nähe von Rouen zur Geburt eines neuartigen modernen Stils geführt haben, der die Literatur bis heute nachhaltig geprägt hat.
V OM ‚I CH ‘
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Unter den zahlreichen Topoi, die sich im Laufe der mittlerweile zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte von Flauberts bekanntestem Roman herausgebildet haben, dürfte der apokryphe Ausspruch des Schriftstellers „Madame Bovary, c’est moi!“ ein Spitzenkandidat für die posthume Aufnahme in das Wörterbuch der Gemeinplätze sein, an dem Flaubert zeitlebens arbeitete und das unvollendet blieb. In der Tat kommen wohl nur wenige Monografien über den Autor und sein Werk ohne die Erwähnung und die mehr oder weniger ausführliche Kommentierung dieses Satzes aus.4 Ein schriftlicher Beleg, aus dem seine Authentizität hervorginge, existiert aber bekanntlich nicht. Flaubert, der zwischen der Zurückweisung jeglicher Involviertheit in sein Werk und dem mimetischen Verlangen, mit seiner Heldin zu verschmelzen, schwankte, soll sich lediglich einmal gesprächsweise so geäußert haben. Das zumindest behauptete René Descharmes (1881–1925), ein Flaubert-Spezialist der ersten Stunde, in seiner Studie Flaubert, sa vie, son caractère et ses idées en 1857 (1909). Damit war die Anekdote ein für allemal in der Welt. Seither hat sie die unterschiedlichsten Auslegungen erfahren und ist zur universalen Chiffre des letztlich unauslotbaren Verhältnisses eines Autors zu den von ihm geschaffenen Figuren geworden. Selbst wenn sie nicht stimmt, ist sie also wenigstens gut erfunden.
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Walburga Hülk: Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand, Hamburg 2019, S. 80.
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Ebd., S. 139. Vgl. dazu das Kapitel „Madame Bovary, c’est qui?“ in: Pierre-Marc de Biasi: Gustave Flaubert. Une manière spéciale de vivre, Paris 2009, S. 157–174.
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Zusätzliche Attraktivität erhält die Formel dadurch, dass sich mit der Ineinssetzung von (männlichem) Autor und (weiblicher) Hauptfigur auch die Geschlechter auf die schillerndste Weise überkreuzen. Charles Baudelaire und Jean-Paul Sartre haben dieses Spannungsverhältnis jeder auf seine Art interpretiert. Während Baudelaire in seiner hymnischen Rezension des Romans, die am 18. Oktober 1857 in der Wochenzeitschrift L’Artiste erschien, Emma Bovary eine männliche Seele und das Auftreten eines Dandys attestierte, arbeitete Sartre in seiner monumentalen Flaubert-Studie L’idiot de la famille (1971) die weiblichen Züge ihres Schöpfers heraus.5 Immer wieder haben sich in der Folge Schriftsteller in Bezug auf das Verhältnis zu ihrem eigenen Werk mit Flauberts angeblichem Bekenntnis und dessen vielfältigen Implikationen identifiziert. So berichtet etwa Peter Handke im Rückblick auf die Arbeit an seiner Erzählung Wunschloses Unglück (1972) über das Leben und den Tod seiner Mutter Maria, die durch Suizid starb: „Gegen Schluss war ich so ein bisschen wie Flaubert in Madame Bovary, wo man sagt, Flaubert war Madame Bovary, ich bin sozusagen der Doppelgänger, als die Mutter ins Sterben kommt.“6 Die Geschichte der Produktivität der Formel „Madame Bovary, c’est moi!“ erstreckt sich natürlich auch auf die zahlreichen Abwandlungen, die sie erfahren hat. Darunter ist die Transposition in die erste Person Plural eine der beliebtesten: „Madame Bovary, c’est nous!“. Deren genaue Herkunft lässt sich freilich ebenso wenig eruieren wie das Vorbild, von dem sie sich ableitet. Fest steht immerhin, dass der renommierte US-amerikanische Literaturwissenschaftler und Komparatist Harry Levin (1912–1994) in seinem seinerzeit vielgelesenen Werk The Gates of Horn. A Study of Five French Realists (1963) zu Emma Bovary als literarischer Figur Folgendes zu Bedenken gibt: „[W]e cannot pretend to judge her, any more than we can judge ourselves. But, guided by Flaubert, perhaps we can understand her: Madame Bovary c’est nous.“7 Bei Levin markiert der Satz folglich eine Verstehensleistung, die über Zeiten, Kulturen, Geschlechterunterschiede und sonstige Grenzen hinweg zustande kommen kann. Dass Madame Bovary diese Möglichkeit tatsächlich eröffnet, steht außer Zweifel, auch wenn
5
Vgl. Dominick LaCapra: Madame Bovary on Trail, Ithaca/London 1982, S. 179.
6
Corinna Belz: Peter Handke – Bin im Wald, kann sein, dass ich mich verspäte, Do-
7
Harry Levin: The Gates of Horn. A Study of Five French Realists, New York 1966,
kumentarfilm, Deutschland 2016 (01:22:00–01:22:13). S. 263 (Hervorhebung im Original). Michel Winock wendet in den Kapitelüberschriften seiner Flaubert-Biografie beide Formeln auch auf Flauberts Roman L’éducation sentimentale an: „Frédéric, ce n’est pas moi“ und „Frédéric, c’est nous“.
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die Erklärungen dafür unterschiedlich ausfallen mögen Man kann in diesem Zusammenhang auf die Zeitlosigkeit und ewige Gegenwärtigkeit der ästhetischen Erfahrung verweisen, an die örtliche und zeitliche Bindungen transzendierende, stetige Aktualisierbarkeit der Romanhandlung und ihrer Figuren in der Lektüre. Oder man erinnert an das, was nach Hans-Georg Gadamers kanonischer Definition den Kern eines Klassikers ausmacht: „Eben das sagt das Wort ‚klassisch‘, „daß die Fortdauer der unmittelbaren Sagkraft eines Werks grundsätzlich unbegrenzt ist.“8 Ein solcher Klassiker hat bei der Lektüre – der ersten, zweiten oder x-ten – jeder und jedem immer wieder von neuem etwas zu sagen, und noch dazu so, als sei es eigens ihr und ihm selbst gesagt. Dabei sind es gerade die Klassiker, und Madame Bovary ist dafür ein exzellentes Beispiel, deren „Sagkraft“ besonders gerne auf ihre Gegenwartstauglichkeit überprüft wird. Bevorzugt werden sie auch speziellen Belastungsproben in Gestalt von Fortsetzungen, alternativen Entwürfen oder Transpositionen in andere Medien (Filme, Comics, Graphic Novels etc.), Zeiten und Kulturen unterzogen. Zum Paradox eines Klassikers vom Rang Madame Bovarys gehört nicht zuletzt auch, dass man bei einem Blick in die Forschung schnell den einschüchternden Eindruck gewinnt, als sei über Flaubert und insbesondere über diesen herausragenden Roman nun wirklich schon alles gesagt – und beinahe auch von allen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Allein in den Jahren 2016 und 2017, das heißt also noch im Vorfeld des nahenden Jubiläums, sind fast gleichzeitig drei große Wörterbücher zu Flaubert erschienen mit jeweils 800, 1300 und 1800 Seiten, in denen buchstäblich jedes einzelne Wort des ‚Eremiten von Croisset‘ umgedreht wird.9
D AS S PEKTRUM DER B EITRÄGE Wir freuen uns, dass wir mit der Themenwahl dieses Bandes Lektürevorschläge anregen konnten, die sich ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit in einem gemeinsamen Spannungsfeld bewegen: zwischen der von allen geteilten Lektüre von Flauberts Roman und dem Bezug auf die je eigenen Forschungsinteressen und
8
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Bd. 1, Tübingen 1990, S. 295.
9
Vgl. Jean-Benoît Guinot (Hrsg.): Dictionnaire Flaubert, Paris 2016; Éric Le Calvez (Hrsg.): Dictionnaire Gustave Flaubert, Paris 2017 und Gisèle Séginger (Hrsg.): Dictionnaire Flaubert, Paris 2017.
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zwischen einem Verständnis des Titels, das entweder stärker auf die Hauptfigur Madame Bovary oder eher auf das Werk Madame Bovary insgesamt abzielt. So ergeben sich auf zwanglose Weise verschiedene Schwerpunkte. Den Auftakt macht der leicht veränderte Text der am 10. Oktober 2019 an der Universität Siegen gehaltenen Abschiedsvorlesung Walburga Hülks. Unter dem Titel „#dichterdran. Flaubert im Rausch der Jahre“, dessen erster Teil einen erfolgreichen Hashtag zitiert, beschäftigt sich Hülk mit verschiedenen Formen der Inszenierungen von Schriftstellerexistenzen im Literaturbetrieb und dem öffentlichen Interesse an der Figur des Schriftstellers einst und heute. Nach Zwischenstationen in den 1950er Jahren (Roland Barthes, Mythologies, 1957) und der Gegenwart (Sally Rooney, Conversations With Friends, 2017), begibt sie sich über die ‚literarische Hintertreppe‘ auf Hausbesuch bei den Titanen des Zweiten Kaiserreichs Victor Hugo und Gustave Flaubert. Mit Barbara Vinkens Überlegungen zur „Bovarymania“, die sich am Leitgedanken der Imitatio orientieren, beginnt eine Serie von Beiträgen, die sich auf die Titelfigur konzentrieren. Ausgehend von der schockierenden Beschreibung von Emma Bovarys Leichnam charakterisiert Vinken Flauberts Heldin als unerlöstes Opfer einer pervertierten imitatio Christi, deren Tod als tragische Konsequenz ihres falschen Selbstbildes („Bovarysmus“) erscheint. Anhand verschiedener Beispiele aus der jüngeren Rezeptionsgeschichte – Roger Greniers Erzählung „Normandie“ (1988), Mieke Bals/Michelle Gamakers Film Madame B (2013), Posy Simmonds Comic Gemma Bovery (1999) und dessen Verfilmung durch Anne Fontaine (2014) – belegt sie, dass der Roman noch in der Gegenwart zu einer „imitatio Emmae“ anregt. Karl Heinz Götze denkt, wie er schon im Titel seines Beitrags ankündigt, „Nochmals über die Liebe von Madame Bovary“ nach. Noch einmal stellt er die ganz grundsätzlichen Fragen, ob man Emma Bovary lieben kann, was sie in der Liebe sucht und woran sie scheitert. Dabei ergeben sich Seitenblicke auf Goethe, Fontane und Houellebecq. Argumentative Schützenhilfe kommt von der Psychoanalyse (Sigmund Freud), der Sozialphilosophie (Axel Honneth) und der Soziologie (Eva Illouz). Am Ende steht das Gedankenspiel, wie Emmas Schicksal wohl unter heutigen Bedingungen aussehen würde. In „Sind wir nicht alle ein bisschen Emma? Vom Bazillus der Bovarysierung“ zeichnet Tanja Schwan die für die Hauptfigur typische und bald geradezu sprichwörtlich gewordene Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit nach. Wie Schwan schrittweise verdeutlicht, prägt dieser Prozess jedoch nicht nur die Wahrnehmung Emma Bovarys und anderer Romanfiguren, sondern macht diese, und allen voran die Protagonistin, in den Augen der Rezipienten auch selbst als
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„Papierwesen“ und Produkte der Schrift lesbar – jenseits einer rein mimetischen Lektüre des Textes. Volker Roloff knüpft ebenfalls an das Lektüreverhalten Madame Bovarys an. Allerdings legt er in „Lektüre und Theatralität. Anmerkungen zu Madame Bovary“ den Akzent nicht so sehr auf Madame Bovary als Lektüreroman und auch nicht auf die dunklen, gefährlichen Seiten des Lesens. Stattdessen hebt er die kreativen, theatralischen Aspekte der Lektüre hervor, die Emma in die – gleichwohl immer ironisch gebrochene – Nähe zu ihrem Autor Flaubert rücken. An einer Reihe von Schlüsselszenen des Romans arbeitet Roloff heraus, wie Emma zur selbstbestimmten Regisseurin ihres eigenen Lebens wird, die lustvoll ihre Phantasien und Wünsche inszeniert. Nach den Anmerkungen Volker Roloffs zu Madame Bovary wendet sich Gregor Schuhen ihrem Ehemann zu. In „Cockhead / Cuckold. Anmerkungen zu Monsieur Bovary“ wird die männliche Hauptfigur aus der Perspektive der literaturwissenschaftlichen Masculinity Studies in den Blick genommen. Mithilfe – unter anderem – des österreichischen Schriftstellers Jean Améry und dessen Romanexperiment Charles Bovary, Landarzt: Porträt eines einfachen Mannes (1978) wird hier gewissermaßen die Rehabilitation des schlichten Mediziners versucht. Immerhin trägt der Roman Madame Bovary seinen Namen, beginnt mit ihm, erreicht seinen Höhepunkt mit ihm und endet auch mit ihm. Es ist mithin vor allem seine Passionsgeschichte, die der ausgeklügelten Gesamtkomposition die wesentlichen Strukturelemente hinzufügt. Die nächsten beiden Aufsätze bringen auf unterschiedliche Weise den Film ins Spiel. Christian von Tschilschke setzt sich in „Inside Out: die ‚Kutschenszene‘ aus (inter-)medialer Perspektive“ mit einer der emblematischsten und meist kommentierten Passagen des Romans auseinander, die auch einen der Hauptgründe für die juristische Verfolgung Flauberts lieferte. Die sogenannte ‚Kutschenszene‘ wird in dreifacher Hinsicht beleuchtet: als exemplarischer Beleg für Flauberts visuelle Poetik, als Prüfstein für die seinen Romanen vielfach nachgesagte ‚filmische Schreibweise‘ und als besondere Herausforderung für die zahlreichen Verfilmungen des Romans, von denen die drei bekanntesten (Jean Renoir, Vincente Minnelli und Claude Chabrol) genauer in Augenschein genommen werden. Marijana Erstić analysiert in ihrem Aufsatz „Livia als Emma. Luchino Viscontis Film Senso“ den genannten Film als italienischen Beitrag zu den großen Gesellschafts- und Ehebruchsnarrativen des 19. Jahrhunderts. Gerade die Texte Gustave Flauberts werden in diversen Filmen Viscontis immer wieder zitiert – das lässt sich ebenso an der ironischen Distanziertheit zum Geschehen und den Figuren beobachten wie auch anhand der Bemühung um einen Realismus des
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Details. So wird im Film Senso die gleichnamige Novelle des italienischen Dichters Camillo Boito nicht nur erweitert, sondern auch in einen Dialog mit dem Roman Madame Bovary und der Theater-, Kunst- und Musikgeschichte des italienischen Risorgimento gebracht. Die vier folgenden Beiträge sind den Spuren und Spiegelungen Flauberts in der französischen, deutschen und rumänischen Literatur gewidmet. Anne Geisler-Szmulewicz zeichnet in „Zwischen Feuillet-Pastiche und Flaubert-Hommage. Yvette von Guy de Maupassant, ein Werk voll literarischer Anklänge“ das literarische Nachleben von Flauberts Madame Bovary im Werk seines Schülers Guy de Maupassant nach. Minutiös deckt sie die intertextuellen Spuren in der Novelle Yvette (1884) auf, in der sie ein raffiniert komponiertes Mosaik aus Flaubert-Anleihen und Pastiches des längst vergessenen Erfolgsautors Octave Feuillet erkennt, dessen Werk der kurzlebigen Strömung des Idealismus zugeordnet wird. In ihren Ausführungen zu „Madame Bovary im Echoraum deutschsprachiger Publizistik. Vier unbeobachtete Texte (1870–1914)“ erläutert Ursula Renner an ausgewählten, wenig bekannten Beispielen aus der Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, wie Flauberts Roman, dessen erste Übersetzung ins Deutsche bereits im Jahr 1858 erschien, von der deutschsprachigen Literaturkritik rezipiert wurde. Im Einzelnen präsentiert und anschließend im Wortlaut dokumentiert werden Artikel von Julian Schmidt (1871), Ferry Bératons (1896), Max Brod (1910) und Raoul Auernheimer (1914). Im Mittelpunkt steht dabei jeweils die zeitgeschichtlich aufschlussreiche Frage nach der Bewertung des Verhältnisses von Ästhetik und Moral. Mit einer originellen Form der Rezeptionsgeschichte von Madame Bovary in Deutschland beschäftigt sich Georg Stanitzek in seinem Beitrag „Die Republik vom 8. Mai 1980: ‚Gustave Flaubert: 12. Dezember 1821–8. Mai 1880‘“. Sein Interesse gilt den ästhetischen und kulturbetriebskritischen Implikationen der Zitat-, Kopier- und Montagetechniken, die in dem zum hundertsten Todestag Flauberts erschienenen Band „Gustave Flaubert“ der Zeitschrift Die Republik (1976– 2008) zur Anwendung kommen. Der Herausgeber Uwe Nettelbeck arrangiert darin in der für ihn charakteristischen Arbeitsweise weitgehend unkommentiert ausgewählte Passagen aus Flauberts Werken, darunter auch verschiedene Übersetzungen Madame Bovarys, und Auszüge aus der Literatur über Flaubert. Ungewöhnlich, ja „kurios“ ist auch der Gegenstand, den Dietmar Frenz gewählt hat. In seinem Aufsatz „Galaktischer ennui. Ovid S. Crohmălniceanus Doamna Bovary în secolul XXX“ stellt er eine Science-Fiction-Version von Madame Bovary vor, die der rumänische Kritiker, Literaturhistoriker und Schriftsteller Ovid S. Crohmălniceanus unter dem Titel Doamna Bovary în secolul XXX in ei-
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nem 1980 veröffentlichten Band mit Erzählungen herausbrachte. Der Text, der vorgibt, ein Auszug oder eine Leseprobe zu sein, bezieht sich auf das neunte und letzte Kapitel des ersten Teils von Madame Bovary. In seiner satirischparodistischen Machart erlaubt er unterschiedliche Lektüren: von der literarischen Spielerei bis zu philosophischen und politischen Interpretationsversuchen. Der Band schließt mit einer historischen Überblicksdarstellung aus der Perspektive der Fachdidaktik: „Auf der Suche nach Madame Bovary im Französischunterricht. Zur Rolle literarischer Texte für den Erwerb von Fremdsprachen“. Adelheid Schumann schlägt darin einen Bogen von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart und zeigt an zahlreichen Beispielen, wie sich der Umgang mit Flauberts Roman im Französischunterricht in Deutschland unter dem Einfluss wechselnder Lehrmethoden und Lernziele kontinuierlich veränderte. Der Abdruck der vielfältigen Lektüren wäre nicht ohne tatkräftige Unterstützung möglich gewesen. Ein besonders herzlicher Dank gilt Lars Henk für die Übertragung des Beitrags von Anne Geisler-Szmulewicz ins Deutsche. Ferner danken die Herausgeber und die Herausgeberin Mara Behle, Jan Paul Theis und Anna Isabell Wörsdörfer für sorgfältiges Korrekturlesen.
#dichterdran Flaubert im Rausch der Jahre1 W ALBURGA H ÜLK
Lange habe ich im 19. Jahrhundert gelebt und gehe jetzt noch einmal dorthin, genauerhin in den „Rausch der Jahre“ 1850 bis 1870 und zu Gustave Flaubert, wohin ohnehin alle meine Wege und Umwege führen, wie lästerliche Zungen behaupten. Sie haben im übrigen Recht. Es soll, in der gebotenen Kürze, um Schreiben, Selbstinszenierung und Alltägliches gehen, um Sublimes und Banales, das in einem Dichterleben ebenso vorkommt wie in jedem anderen Leben und das in seiner ganzen Palette schon lange, ob wir wollen oder nicht, eine erhebliche Rolle im Literaturbetrieb spielt. Um zu Flaubert zu kommen, gehe ich zwei Umwege: den ersten über Roland Barthes’ Mythen des Alltags aus dem Jahr 1957, den zweiten über einen Hashtag von heute, der in die Social Media führt. Kümmert es uns, wer spricht und schreibt? Diese Frage haben wir uns bestimmt schon alle gestellt und wahrscheinlich, wenn wir uns als postmoderne Literaturwissenschaftler sahen, verneint. Und damit komme ich zu meinem ersten Umweg. 1957 erschien unter dem Titel Mythologies eine Serie von Zeitungskolumnen des Zeichentheoretikers, Philosophen und Schriftstellers Roland Barthes, die 1964 als Mythen des Alltags teilweise, aber erst 2010 vollständig übersetzt erschienen. Wie Barthes im theoretischen Nachwort schreibt, fielen ihm, nicht zuletzt beim Friseur, Bilder und Texte, Werbung und Reportagen in Magazinen und Frauenzeitschriften auf, die Tugenden und Normen der französischen Gesellschaft der Nachkriegszeit konstruierten und stabilisierten: Autos mit der Aura
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Der hier abgedruckte Text ist die gekürzte und geringfügig veränderte Abschiedsvorlesung, die die Verf. am 10. Oktober 2019 an der Universität Siegen gehalten hat.
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von Kathedralen, der Eleganz von Französinnen und der Gemütlichkeit des heimischen Sofas; Waschpulver, das am weißesten wäscht und in Frankreich nicht „Persil“ heißt, weil das schon der Name für Petersilie ist; das Steak bleu als Leibspeise französischer Blutsbrüder; die Tour de France als Heldenepos und kolonialistische Mythen der Grande Nation. Meistens überlesen, findet sich unter diesen augenblicklich reizvollen und provozierenden Geschichten auch der Essay „Der Schriftsteller in Ferien“. Barthes kommentiert hier ein Foto aus dem Figaro, das den Schriftsteller André Gide zeigt, wie er, vertieft in die Lektüre des klassischen Autors und Kanzelredners Bossuet, den Kongo hinabfährt. Warum dieses Bild, alternativ auch ein Sommerinterview oder ein Hausbesuch? Weil, so Barthes, das Lesepublikum seinen Autoren am liebsten bis in die entlegensten und privatesten Räume ihres Lebens folgt. Hier der Autor in den Ferien, wie er liest, oder: in sein Notizbuch schreibt und Fahnen korrigiert; dort, wie er in seinem alten Landhaus sitzt, in dem er das Gleiche tut wie zuhause, nämlich lesen, schreiben, korrigieren, und vielleicht von der Vorliebe für savoyischen Reblochon erzählt, Shorts trägt und möglicherweise sogar einen blauen Pyjama. Anstatt jedoch Vertraulichkeit und Nähe herzustellen, vertiefe sich durch die privaten Bilder die Distanz zu dem Schriftsteller, der zum Star („vedette“) wird und in den Augen seines Publikums immerzu und überall, geradezu besessen, seiner ‚Berufung‘ nachgeht. Denn da der Autor im Alltag nicht arbeite wie andere Menschen, mache er in Zeiten des generalisierten Urlaubs auch keine Ferien.2 Hinzufügen ließe sich, dass der Schriftsteller selbstredend auch keinen Ruhestand kennt. Ist also, wie Roland Barthes in seinem frühen Text argwöhnt, alles falsch am Verhältnis von Autor und Publikum? Dem jüngeren Roland Barthes schien es so. Seine Kritik richtete sich, wie zehn Jahre später in seinem berühmten Text „Der Tod des Autors“, gegen die psychologisierende Literaturkritik, die vor allem in Frankreich noch immer der Devise des Kritikerpapstes der 1840-1860er Jahre, Sainte-Beuve, folgte: „Wie der Baum, so die Frucht“. Sie richtete sich zugleich gegen das bürgerliche Publikum, das seine „Schriftsteller ins Schaufenster stellt“ und die Tiefen und Untiefen dieser Ausnahmemenschen, ihre Erscheinung, ihr Privatleben und ihren Lifestyle interessanter findet als ihr Werk, gerade so, als könne das ganze Drumherum dieses erklären. Ob oder was Autoren und Künstler durch Selbstinszenierungen zu ihrem Image beitragen, fragte Barthes an dieser Stelle nicht, während wir vertrackterweise dieses Bild einfach nicht aus dem Kopf kriegen, wie er selbst
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Roland Barthes: „L’écrivain en vacances“, in: Ders.: Mythologies, Paris 1957, S. 30– 33. „Der Schriftsteller in Ferien“, in: Mythen des Alltags, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Berlin 2010, S. 37–40.
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beim Friseur sitzt, Illustrierte durchblättert und dabei seine Mythentheorie entwickelt, die er dann zuhause inmitten seiner Bücher und Manuskripte aufschreibt. Abb. 1: René Saint-Paul: Roland Barthes zuhause (1964, Ausschnitt)
Kann es tatsächlich niemanden kümmern, wer spricht und schreibt? Wie alt ein Autor ist und in welcher Verfassung, welche Rituale er pflegt, was ihm gefällt, und wie er sich sieht, was eine Dichterklause oder ein Denkerhaus beherbergt? Im Arbeitszimmer Flauberts ein ausgestopfter Papagei, ein Eisbärenfell und ein Tintenfass in Gestalt einer Kröte, oder die in Mull eingewickelte Rippe Barthes’ in der Schublade seines Schreibtisches – Dinge des Alltags, Schubladen der Seelen, Geschmack und Obsession – sollte ihr Anteil an der Literatur, an der Literatur als Lebensform, gleich null sein?3 Der jüngst mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Peter Handke reagierte auf die Neugier wie folgt: „Ich hab keine Schublade. Ich bin ein lebendes Geheimnis.“4 Auch der ältere Roland Barthes stellt sich diese Frage erneut und beantwortete sie anders als in seinen jungen Jahren.
3
Paul Jandl: „Wie kam die Rippe in Roland Barthes’ Schublade?“, in: Neue Züricher Zeitung vom 28. August 2019, https://www.nzz.ch/feuilleton/schubladen-wie-kam-daroland-barthes-rippe-rein-ld.1504285?reduced=true, letzter Aufruf am 31.3.2020.
4
Zit. nach: Marc Reichwein: „Dürfen Kritiker über das Aussehen von Autorinnen schreiben?“, in: Die Welt vom 10.9.2019, https://www.welt.de/kultur/literarische welt/article200063622/dichterdran-Darf-man-ueber-das-Aussehen-von-Schriftstellerinnen-schreiben.html
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Damit komme ich zu meinem zweiten Umweg zu Flaubert. Während im erneut zu heißen und trockenen Sommer 2019 das große Publikum am Strand, in den Bergen oder auf dem Balkon vor sich hindöste, das Smartphone zur Hand und vielleicht hin und wieder ein Buch, und Autoren das taten, was sie immer tun, nämlich lesen, schreiben, Fahnen korrigieren, wurde der Literaturbetrieb von dem Hashtag dichterdran überrascht. Unter diesem Schlagwort versammelten sich in den sozialen Medien weibliche Stimmen, die aufschrien oder auflachten. Auslöser war die Rezension des Schweizer Kritikers Martin Ebel von Sally Rooneys Buch Conversations With Friends, 2017 erschienen und nun übersetzt, das diesseits und jenseits des Atlantiks als „Fänger im Roggen“ für die Snapchat-Generation gehypt wurde. Der Kritiker fand viele lobende Worte, schrieb jedoch auch, der Roman über die Liebesgespräche von vier jungen Leuten aus der Kreativszene hätte bei Marivaux’ Tändeleien, also im Rokoko, abgeschrieben sein können – er hätte genauso gut sagen können: den Filmen Éric Rohmers abgelauscht. Damit nicht genug. Er fügte hinzu, die junge irische Autorin gleiche auf einem Foto des New Yorker einem „aufgeschreckten Reh mit sinnlichen Lippen“5. Schweizer Literaturkritikerinnen und ebenso Leserinnen der taz, die hier von intertextuellen oder intermedialen Bezügen nichts wissen wollten, empörten sich über diese großväterliche Herablassung und die Sexualisierung der Autorin, posteten aber dennoch, was bei Empörung selten geschieht, unter #dichterdran außerordentlich witzige Beiträge zu lebenden und toten Autoren, darunter die folgenden: Daniel Kehlmanns phantasievolle Romane entführen in entlegenste Psychen. Kaum zu glauben, dass der süße Schmollmund seit einigen Jahren von einer Dozentur zur nächsten gereicht wird. In seiner Familie sei man schon seit vielen Generationen intellektuell. Man kommt nicht umhin anzunehmen, dass Rilke hier vor allem von sich selbst spricht; auch wenn sich die ‚geschmeidig starken Schritte‘ nur schwer mit der zarten Konstitution des Dichters vereinbaren lassen. Botho Strauß zeigt sich auf Autorenbildern gern allein im Wald. Aber gibt es denn keine Frau in seinem Umfeld, die ihm sagen könnte, dass ein einsamer, unrasierter und ungepflegter Typ im Unterholz nicht nachdenklich, sondern creepy wirkt?6
5
Martin Ebel: „Sex, Moral und Political Correctness“, in: Tages-Anzeiger vom 1.8.2019,
https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/sex-moral-und-political-cor-
rectness/story/14130216, letzter Aufruf 31.3.2020. 6
Unter #dichterdran finden sich auf Twitter diese und viele andere Tweets.
F LAUBERT IM R AUSCH DER J AHRE
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Der zuletzt zitierte Eintrag stellt dabei in Rechnung, dass der Autor, der „sich auf Autorenbildern gern allein im Wald zeigt“, diese Darstellung, quasi den Klassiker des romantischen Genies, offenbar ratifiziert hat. Etliche Zeitungsartikel kommentierten die Rezension von Sally Rooneys Roman und den Hashtag. In der Literarischen Welt fragte Marc Reichwein, ob Kritiker sich generell zum Aussehen von Autoren und Autorinnen äußern dürften oder nur dann, wenn diese bei Hugendubel im Morgenmantel – wie Karen Duve – oder als Cover-Boys für Peek & Cloppenburg auftreten – wie Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre. Er führte überdies den feinsinnigen, jüngst verstorbenen Wilhelm Genazino an, der geschrieben hatte, „das Bild des Autors [sei] der Roman des Lesers“7. Im Freitag hatte Mladen Gladić schon vorher angemerkt, dass heute jede Autorschaft, egal welchen Geschlechts, „in Pose geworfen sei“ und die Maskenspiele und Performances nicht erkennen ließen, was Selbstinszenierung, Imagekonstruktion durch Agenten und Verlage oder gar das wahre Wesen sei. Und während das Reh bislang nicht als gängige Autorschaftsallegorie aufgefallen und nun des Sexismus verdächtig war, fragte man sich amüsiert, ob die Gazelle auf dem zarten Cover der deutschen Ausgabe des Romandebuts On Earth We’re Briefly Gorgeous des amerikanischen Autors Ocean Vuong zu einer geschlechterunabhängigen Metapher tauge.8 Bevor ich den aktuellen Literaturbetrieb verlasse und mich in denjenigen des 19. Jahrhunderts und also in Flauberts Welt begebe, gehe ich noch einmal kurz zurück zu Sally Rooney. Als Lauren Collins vom New Yorker sie im westlichsten Irland besuchte, saß diese zusammen mit ihrer Schwester, ihrer Mutter und deren Freund in der Küche ihres Bungalows am Rande einer zweispurigen Straße beim „supper of pork loin, roasted potatoes, green beans, red peppers, and applesauce.“ Auf die amerikanische Journalistin machte die junge Schriftstellerin, anders als ihr Foto auf den Schweizer Kritiker, einen „coolen“ Eindruck, ihre Stimme klinge „bright and crisp“, etwas Herbstliches sei an ihr („There is something autumnal about her.“) Und auch das Buch wirkte auf die Journalistin cool: auf dem leuchtend gelben Cover ein Alex-Katz-Bild von zwei jungen Frauen mit Poker-
7
Reichwein: „Dürfen Kritiker über das Aussehen von Autorinnen schreiben?“
8
Mladen Gladić: „Lies mich, Baby!“, in: Der Freitag 33 (2019), https://www.freitag.de /autoren/mladen-gladic/lies-mich-baby, (zuletzt 14.12.2020).
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Verdis Oper bezieht sich dabei zunächst auf die historischen Komponenten des Risorgimento, die im realen filmischen Aufstand in der Oper komprimiert werden. Im weiteren Handlungsverlauf wird aber auch das lyrische Element der Oper übernommen und ironisch umgewandelt, begleitet dieses doch die Entstehung der Liebschaft der Protagonisten, die, anders als in der Oper von Verdi, eigentlich einen Ehebruch thematisiert. Auch wird im Folgenden die Musik Giuseppe Verdis durch die auf Richard Wagner verweisende Musik Anton Bruckners ausgetauscht. Ein Flirt der beiden Protagonisten entwickelt sich also bereits im Theater und wird während einer weiteren zufälligen Begegnung in der Stadt fortgesetzt: Die angeblich patriotische Livia verbringt infolgedessen eine ganze Nacht mit dem Besatzer Franz auf den Callen des nächtlich funkelnden Venedigs. Unterstrichen wird dieser Spaziergang durch die 7. Symphonie in E-Dur von Anton Bruckner, die im Film auch weiterhin mit Livias Verblendung und Verliebtheit korrespondiert. Beim Einsatz dieser Symphonie sind (kultur-)historische Implikationen bedeutend, entstand sie doch unter dem Einfluss des Sterbens und Todes Richard Wagners und wurde sie doch bei der Nachricht vom Tode Hitlers am 1. Mai 1945 im Reichsrundfunk vermutlich in der Aufnahme unter Wilhelm Furtwängler ausgestrahlt. Im Film werden dabei die ersten beiden Sätze in einer eigens für den Film entstandenen Aufnahme des Orchestra Sinfonica della Radiotelevisione Italiana unter Franco Ferrara verwendet. In der Spaziergangsequenz setzt die Musik Bruckners – der Beginn des Symphonie – zum ersten Mal in dem Moment ein, als sich die anfängliche, gespielte Aversion Livias Franz gegenüber plötzlich in eine offensive Sympathie umwandelt, nämlich in dem Moment, in dem Franz Mahler Livia Serpieri vor einem toten österreichischen Soldaten und der ankommenden österreichischen Patrouille versteckt, also als die ,Gefahr‘ überwunden ist. Der Beginn der geheimnisvollen Affäre wird auch im Farbwechsel von Livias Kleidern, vor allem aber in der Kopfbedeckung – zumeist einem Hut mit einem Schleier – dokumentiert und symbolisiert, die Livia seit der Affäre und bis zur finalen Tragödie im öffentlichen wie im privaten Raum trägt. Doch diese trivial und melodramatisch anmutende Liebessehnsucht und Leidenschaft in der Tradition der Ehebruchromane des 19. Jahrhunderts trägt einen zutiefst dekadenten Charakter. Sie verweist auf den Untergang einer ganzen Epoche. Im Film Senso äußert der am Ende des verhängnisvollen nächtlichen Spazierganges an einem Brunnen vor der Kaserne stehende und mit einem Spiegelsplitter spielende Franz Mahler, er könne an keinem Spiegel vorbeigehen, ohne hineinzuschauen, da er nur in diesem oder in den Augen der Frauen feststellen könne, dass er wirklich er selbst sei und zitiert abschließend ein Liebesgedicht Heinrich Heines (Abb. 2):
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