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German Pages 375 [378] Year 2016
Olivia Spiridon (Hg.)
Textfronten Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg im südöstlichen Europa
Geschichte Franz Steiner Verlag
Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde
Textfronten
Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Band 21
Sammelbände – Bd. 4
Olivia Spiridon (Hg.)
Textfronten Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg im südöstlichen Europa
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11194-2 (Print) ISBN 978-3-515-11197-3 (E-Book)
INHALTSÜBERSICHT Olivia Spiridon Textfronten des Ersten Weltkriegs....................................................................9 Außenperspektiven Bernd Hüppauf Eine dritte Front – der kulturelle Diskurs zum Ersten Weltkrieg auf dem Balkan...............................................................................................25 Reinhard Johler Soldatensprache. Fund und Erfindung des Großen Krieges ...........................55 Florian Keisinger Politische Fronten. Kriege in Südosteuropa und ihre Wahrnehmung im Westen vor dem Ersten Weltkrieg .............................................................81 Innenperspektiven Konstruktion und Reorganisation von Identität im Umfeld des Ersten Weltkriegs Deniza Petrova Wahrnehmung und Darstellung von Raum und Grenzen. Die Dobrudscha in bulgarischen literarischen Texten über den Ersten Weltkrieg ..............................................................................93 Filip Krčmar Der Erste Weltkrieg am Beispiel von Gedichten aus serbischen Schulbüchern........................................................................109 Romaniţa Constantinescu Der Erste Weltkrieg in der rumänischen Literatur: das Problem des Antisemitismus. Eine Analyse am Beispiel von Liviu Rebreanus Erzählung Itzig Struhl, Deserteur.................................................................125
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Inhaltsübersicht
Zsolt K. Lengyel Der regionale Gedanke im ungarischen Kulturleben Siebenbürgens vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Betrachtungen zur Entwicklungs geschichte des Transsilvanismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts .....................................................................................141 Olivia Spiridon Sinnräume. Der Banater Schriftsteller Adam Müller-Guttenbrunn im Umfeld des Ersten Weltkriegs .................................................................171 Bernhard Böttcher Kriegerdenkmäler – Sinngebung gegen Sprachlosigkeit? ...........................198 Der Krieg in den Medien Mária Rózsa Die ungarische Zeitungslandschaft 1914–1920 ...........................................219 Zsuzsa Bognár Kriegswahrnehmung im Feuilletonteil des Pester Lloyd im ersten Halbjahr des Ersten Weltkriegs ....................................................231 Franz Heinz Pflicht und Gewissen. Die Belgrader Nachrichten – eine andere Soldatenzeitung im Ersten Weltkrieg ........................................253 Walter Engel Parallelen: Banater Regionalliteratur und Literatur im deutschen Sprachraum. Literarische Beiträge in den Kriegsjahrgängen der Temeswarer Zeitschrift Von der Heide (1914–1918) .............................263 Persönliche Kriegszeugnisse Peter Varga Das Kriegstagebuch von Robert Jánosi Engel. Einblicke in das großbürgerlich-jüdische Milieu aus dem Süden der Habsburgermonarchie ...........................................................................281 Horst Schuller Spiegel und Selbstgespräch. Die Kriegstagebücher des Siebenbürgers Otto Folberth (1896–1991) ............................................295
Inhaltsübersicht
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Der Krieg als Reflexionsgegenstand zeitgenössischer Schriftsteller Walter Klier Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Bericht über einen Roman ......................333 Alida Bremer Bedeutung des Attentats von Sarajevo für Autorinnen und Autoren aus dem ehemaligen Jugoslawien. Eine Umfrage der Zeitschrift Beton International...............................................................343 Autorenverzeichnis .............................................................................................365 Personenregister ..................................................................................................367
TEXTFRONTEN DES ERSTEN WELTKRIEGS Kurz vor Kriegsbeginn fand Heinrich Mann in der Gestalt eines Papierfabrikanten das bezeichnende Symbol für den Geist seiner Zeit: „Die Papierfabrikanten maßen sich heutzutage eine Rolle an, für die sie nicht fabriziert wurden. Zischen wir sie aus.“1 Bitter und auch hilflos klingt seine Aufforderung aus dem Roman Der Untertan, dessen Entstehung und Veröffentlichung den Ersten Weltkrieg mit wunderlicher Symbolkraft umrahmt. 1914 fertiggestellt und 1918 veröffentlicht, ist Der Untertan als Satire über die Sinnkrise des Wilhelminismus gelesen worden, über eine Gesellschaft, die sich an Begriffen wie Patriotismus und Nation berauschte. Mit dem Aufstieg des Kollektivismus im Vorfeld des Krieges hat Heinrich Mann ein europäisches Phänomen angesprochen, das mit dem Inflationären zusammenhängt. Die Fabrikation von Texten durch Deutungseliten überschwemmte die öffentliche Meinung mit dem Ziel, durch Praktiken der Exklusion Gemeinschaften zu formen und für einen Krieg zu begeistern, der Kollektive gegeneinanderhetzte. Die öffentliche Meinung zeigt sich ab und zu in diesen Textfluten, zeugt aber meistens von eher geringer Kriegsbegeisterung. Überdeutlich sichtbar bleiben aber die fabrizierten Textfronten. Heinrich Manns Untertan zirkulierte während des Krieges in nur zehn Exemplaren, nachdem sein Vorabdruck unterbrochen worden war. Eins dieser Exemplare erhielt Karl Kraus,2 und über Textbrücken wird der Dialog zwischen den beiden sichtbar: Der nach vorne gerichtete Blick Heinrich Manns erhält durch Karl Kraus’ Rückblick einige Jahre später eine Antwort. Nicht zufällig beginnen alle fünf Akte von Karl Kraus’ Monumentaltheater Die letzten Tage der Menschheit mit Zurufen der Zeitungsverkäufer: Die Lenkung der öffentlichen Meinung wird an prominenter Stelle sichtbar gemacht. Der Papierfabrikant agiert auch hier im Hintergrund. „Am Anfang war die Presse und dann entstand die Welt“, so Karl Kraus an anderer Stelle. Der Krieg als Diskurs, als realitätsfabrizierende Macht – verwiesen sei damit auf den Beitrag von Bernd Hüppauf in diesem Band –, rückt die Bedeutung der Textfronten in einer Konfrontationssituation von Gesellschaften in den Fokus. Die Beiträge dieses Bandes befassen sich mit dem Ersten Weltkrieg im sudöstlichen Europa, mit der Art und Weise, wie er in Texten verschiedenster Art ausgetragen wurde. Im Mittelpunkt stehen Texte aus verschiedenen Regionen, die sich aus der Kriegssituation heraus mit ihren Lebensräumen auseinandersetzen, dabei die Reorganisation von Identitäten durch das Kriegserlebnis aufzeigen und Problemlösungen versuchen. 1 2
Mann, Heinrich: Der Untertan. Gesammelte Werke in Einzelbänden, IV. Hg. v. Peter-Paul Schneider. Frankfurt a. M. 1995, 239. Schuhmacher, Klaus: Heinrich Mann. Der andere Repräsentant oder die Kritik des Krieges aus dem Geist der Enthüllung. In: Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Hg. v. Uwe Schneider/Andreas Schumann. Würzburg 2000, 121–136, 121.
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Zum Ersten Weltkrieg gibt es Quellen von unterschiedlichen Seiten. Zahlreiche Staaten haben offizielle Editionen von diplomatischen Akten herausgegeben, es wurden Memoiren von Politikern, militärischen Befehlshabern und anderen Entscheidungsträgern veröffentlicht. Man hat es hier mit ausufernden Quellen zu tun, die sich gegenseitig widersprechen und Frontstellungen beziehen, sodass zentrale Aspekte des Krieges sich weiterhin dem Verständnis entziehen. Daher gilt es noch, Lücken zu schließen. Dazu geht die Forschung in mehrere Richtungen. Eine Reihe von Publikationen sammelt zu einer möglichst umfassenden Darstellung der Krieges Beiträge internationaler Fachleute zu den wichtigsten am Krieg beteiligten Staaten, sozialen Gruppen, zur Chronologie, dem Forschungsstand und den Spezifika der Weltkriegsforschung.3 Die Ereignisgeschichte wurde vielfach aufgerollt, politische Entscheidungen und militärische Aktionen in ihrem wechselseitigen Zusammenhang betrachtet, wobei gerade auch die Verflechtungen des Kriegs mit dem Sozialen und Kulturellen zunehmend berücksichtigt werden. Die Forschungsdichte mit Bezug auf Westeuropa und die Westfront ist verhältnismäßig zum Osten sehr hoch: Aufzuzählen sind Untersuchungen zur Massenkommunikation und ihrer Rolle in den verschiedenen Kriegsgesellschaften aus vergleichender Perspektive,4 die Langzeitfolgen des Ersten Weltkriegs auf Politik, Ökonomie, Demographie und den Wertehaushalt der Kriegsteilnehmer,5 die Darstellung des Krieges in Museen6 sowie die Untersuchung von Kriegssammlungen.7 Die Formung, Pflege und Instrumentalisierung des Gedächtnisses an den Krieg, die Darstellung der unterschiedlichen Rolle, die der Erste Weltkrieg in der kollektiven Erinnerung der einst beteiligten Nationen in der Gegenwart spielt, die interdisziplinär, aus kultur-, literatur- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive untersuchten Erinnerungskulturen sind Gegenstand weiterer Studien.8 Die in den 3
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Hervorzuheben ist die Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Aktualisierte und erweiterte Studienausgabe. Hg. v. Gerhard Hirschfeld/Gerd Krummeich/Irina Renz. Paderborn u. a. 2009; Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert. Hamburg 2002, zuerst erschienen unter dem Titel The Great War and the Twentieth Century. Yale University 2000; The Legacy of the Great War. Hg. v. Jay Winter. London 2009; State, Society, and Mobilisation in Europe during the First World War. Hg. v. John Horne. Cambridge 1997. Rosenberger, Bernhard: Zeitungen als Kriegstreiber? Die Rolle der Presse im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Köln-Wien-Weimar 1998. März, Peter: Nach der Urkatastrophe. Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg. KölnWeimar-Wien 2014. Thiermeyer, Thomas: Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die beiden Weltkriege im Museum. Paderborn-München-Wien-Zürich 2010. Eine Bestandsaufnahme der Kriegssammlungen in Bibliotheken, Archiven und Museen der ehemaligen Mittelmächte legte 2014 Julia Freifrau Hiller von Gaertringen mit dem Band Kriegssammlungen 1914–1918 vor. Winter, Jay: Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History. Cambridge 1995; Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur. Hg. v. Barbara Korte/Sylvia Paletschek/Wolfgang Hochbruck. Essen 2008; „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Hg. v. Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz. Frankfurt/M. 1996; Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen. Hg. v. Horst Carl/Hans-Henning Kortüm/Dieter Langewiesche/ Friedrich Lenger. Berlin 2004.
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Vor-, Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften sich entwickelnden Formen der Gewalt werden auch im Zusammenhang mit kollektiven Gedächtnissen und ihrer sichtbaren Seite, den Erinnerungskulturen, beleuchtet. Die Kommentare des Historikers stehen neben einer Vielzahl an Bildern, die aus Archiven mit dem Ziel selektiert wurden, einen Blick „von unten“ auf die verschiedenen Fronten zu gewährleisten.9 Im Zuge der geringeren Beachtung von Kriegschronologie und Ereignisgeschichte hat sich die Forschung zunehmend sozialhistorischen, kulturgeschichtlichen und regionalen Studien gewidmet, sodass der Fokus auf die im Alltag Handelnden die Ebene der politischen und militärischen Eliten etwas in den Hintergrund gerückt hat. Ein gewandeltes Verständnis von der Totalität der Darstellung führt dazu, dass nicht nur die Mobilisierung von Nationen in großen Panoramabildern gezeichnet wird, sondern auch durch nahes Heranzoomen Bürger, Arbeiter, Künstler, Wissenschaftler, Intellektuelle, Minderheiten, politische Debatten, Literatur, Bilder und ihre Leistung ins Blickfeld geraten.10 Eine eigene Perspektive nimmt Markus Osterrieder in seiner fast 1700 Seiten starken Untersuchung ein, indem er auf die Ebene hinter den Staatshandlungen blickt und bei besonderer Berücksichtigung der Haltung Rudolf Steiners auf die Langzeitwirkungen geistiger Fehlentwicklungen hinweist.11 Zahlreiche Projekte und Publikationen entstanden im Rahmen des im Zeitraum 1999–2008 an der Eberhard Karls Universität Tübingen eingerichteten Sonderforschungsbereichs 437 Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit, der zum einen das Interesse für Kriegsgeschichte in den Geistes- und Kulturwissenschaften und zum anderen den Erfahrungsbegriff als kulturwissenschaftliche Leitkategorie zusammenführt. Kriegserfahrung als Praxis während des Ersten Weltkriegs, aber auch als Nährboden für Sinnstiftung in Kommunikationsprozessen in den Vor- und Nachkriegsjahren schlug sich in einer Vielzahl von Untersuchungen nieder: zu Formen des Krieges, Religion und Krieg, Aberglauben im Krieg, Mythenbildung, zur Kriegssprache – hier sind vor allem die Veröffentlichungen von Aribert Reimann zu nennen –, zu Minderheitenpolitik, Vertreibungen als Ausdruck aggressiver Staatspolitik, zur Darstellung des Ersten Weltkriegs in der Kunst, der Politisierung der invaliden Soldatenkörper nach Ende des Ersten Weltkriegs, zu medialen Konstruktionen des Ersten Weltkriegs und ihren Auswirkungen auf kollektive Gedächtnisse.12 Thematische Schwerpunkte auf den Ersten Weltkrieg setzen unter anderem auch Untersuchungen zur Nationsbildung und Nationalismus 9
So die reich bebilderte Ausgabe von Manfred Rauchensteiner: Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg 1914–1918. Eine Publikation des Heeresgeschichtlichen Museums/Militärhistorisches Institut und des Österreichischen Staatsarchivs/Kriegsarchiv. Graz 1998. 10 Piper, Ernst: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin 2013. Zu erwähnen sind auch die Sammlungen von Feldpostbriefen, unter anderen: Ulrich, Bernd: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933. Essen 1997; Feldpostbriefe jüdischer Soldaten 1914–1918. Hg. v. Sabine Hank/Hermann Simon, Bd. 1. Berlin 2002. 11 Osterrieder, Markus: Welt im Umbruch: Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 2014. 12 Beispielsweise die Veröffentlichungen von Barbara Korte zur Darstellung des Ersten Weltkriegs in Film, Literatur und populärer Erinnerungskultur, sowie die Publikationen von Ralf
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– an prominenter Stelle steht die reichhaltige Publikationsliste zu diesen Themen von Dieter Langewiesche –, des Weiteren zu Erziehungsmodellen und Männlichkeitsidealen sowie zu Kriegserfahrung in Selbstzeugnissen. Mit der Universität Tübingen, dem dort ansässigen Sonderforschungsbereich Kriegserfahrungen, aber auch mit dem Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde zusammenhängend, sind die Veröffentlichungen von Reinhard Johler13 und Mathias Beer14 zu nennen, die mit Schwerpunktsetzungen auf die Zeit des Ersten Weltkriegs und die Folgejahre eine gesamteuropäische Perspektive anstreben. Die Ausweitung des untersuchten Raums äußert sich in der Verlagerung des Forschungsinteresses: War vor allem die Westfront in der Forschung präsent, interessiert sie sich nun vermehrt auch für die Ostfront, und zunehmend auch für den Balkan und für Schauplätze außerhalb Europas, wobei die Perspektiven vielfältig und kaum auf einen Nenner zu bringen sind.15 Parallel zur räumlichen Ausweitung wird der Blick fürs Detail geschärft und auf einzelne Ereignisse mit Berücksichtigung komplexer Sinnbildungen gerichtet.16 Der südöstliche Teil Europas erscheint dabei im Vergleich vernachlässigt, er taucht aber hin und wieder auf, so am Rande von grenzüberschreitend angelegten Studien zu Österreich und dem HabsburgiSchneider, Claudia Sternberg und Horst Tonn. Siehe auch: http://www.uni-tuebingen.de/ SFB437/T.htm (15.06.2015). 13 Anthropology in Wartime and Warzones. World War I and the Cultural Sciences in Europe. Hg. v. Reinhard Johler/Christian Marchetti/Monique Scheer. Bielefeld 2001; Zwischen Krieg und Frieden. Die Konstruktion des Feindes. Eine deutsch-französische Tagung. Hg. v. Reinhard Johler/Freddy Raphael/Claudia Schlager u. a. Tübingen 2009, darin der Aufsatz Der Krieg, der Feind und die Volkskunde, 37–68; Johler, Reinhard: Konjunktur und Krise des (volkskundlichen) Primitiven. Warburg Weltkrieg Wien. In: Kasten 117: Aby Warburg und der Aberglaube im Ersten Weltkrieg. Hg. v. Gottfried Korff. Tübingen 2007, 165–179; ders.: Kriegserfahrungen in den Humanwissenschaften. Die Volkskunde und der Große Krieg. In: Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Hg. v. Georg Schild/Anton Schindling. Paderborn 2009, 179–196. 14 Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Mathias Beer. Tübingen 22007; Deutschsein als Grenzerfahrung: Minderheitenpolitik in Europa zwischen 1914 und 1950. Hg. v. Dems./Dietrich Beyrau/Cornelia Rauh. Essen 2009. 15 So zielt das Heft 40 (2014) von Geschichte und Gesellschaft hg. von Oliver Janz auf eine globale Perspektive auf den Ersten Weltkrieg; Auf den Vorderen Orient blickt Alexander Will: Kein Griff nach der Weltmacht. Geheime Dienste und Propaganda im deutsch-österreichischtürkischen Bündnis 1914–1918. Köln-Weimar-Wien 2012. Christopher Clark widmet sich intensiver dem Balkan zu und insbesondere Serbien, um die komplexen Kausalitäten, Kriegsausbruch, -verlauf und –folgen offenzulegen, auch wenn sein Buch eine anspruchsvolle Totalität der Darstellung anstrebt: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. München 2013, 3. Auflage; Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa. Hg. v. Alfred Eisfeld/Guido Hausmann/Dietmar Neutatz. Im Auftrag der Wissenschaftlichen Kommission für die Deutschen in Russland und in der GUS. Essen 2013; Die Lage der Minderheiten in den USA während des Krieges untersucht Jörg Nagler: Nationale Minoritäten im Krieg. „Feindliche Ausländer“ und die amerikanische Heimatfront während des Ersten Weltkriegs. Hamburg 2000. 16 Marchetti, Christian: Balkanexpedition. Die Kriegserfahrung der österreichischen Volkskunde – eine historisch-ethnographische Erkundung. Tübingen 2013.
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schen Raum.17 Hier findet auch die kroatische und ungarische Literatur Beachtung oder das in der Literatur sich widerspiegelnde Verhältnis Österreichs zu Serbien. Welcher Front lässt sich wohl der südosteuropäische Raum subsummieren? Ins Gespräch kommen Formulierungen wie die „vergessene Front“18, die „andere Front“19 oder die „dritte Front“,20 wobei Letztere bezeichnenderweise für andere Räume etabliert war, wie beispielsweise für die italienische Front neben der West- und der Ostfront.21 Der Krieg im östlichen und südöstlichen Europa öffnet ein weites Untersuchungsfeld. In seinen Publikationen widmet sich Vejas Gabriel Liulevicius den unterschiedlichen an der Ostfront auf Gebieten des heutigen Litauen bis hin zu Weißrussland gemachten Kriegserfahrungen im Vergleich zu jenen an der Westfront, den Unterschieden in der Besatzungspolitik sowie den Wandlungen des Bildes vom Osten.22 Eine Klammer um verschiedene methodologische Zugänge zum Balkanraum präsentiert ein Sammelband, der als Ergebnis einer Balkan-Tagung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes erschien. Darin wird der Krieg nicht nur als kulturelles oder soziales Phänomen untersucht, sondern auch unter politischdiplomatischen und militärgeschichtlichen Gesichtspunkten.23 Der osteuropäische Raum in den Nachkriegsjahren ist unter dem Aspekt der Identitätsbildung untersucht worden.24 17 Österreich und der Große Krieg. Die andere Seite der Geschichte. Hg. von Klaus Amann/Hubert Lengauer. Wien 1989; Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich. Hg. v. Wolfram Dornik/Julia Walleczek-Fritz/Stefan Wedrac. Wien-Köln-Weimar 2014. 18 Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Hg. v. Gerhard P. Gross. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Paderborn-München-WienZürich 2006. Auch hier wird die Ostfront als Erinnerungslücke beklagt und vor allem Russland, Polen, das Verhältnis zu den Mittelmächten, die gegenseitige Perzeption und ihre Auswirkungen u. a. in den Fokus genommen. 19 Holzer, Anton: Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Mit unveröffentlichten Originalaufnahmen aus dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Darmstadt 2007. Ziel war, durch Herausgabe von in westlichen Archiven lagernden Bildern der „Westverschiebung“ sowie der „seltsame(n) Teilung Europas“ entgegenzusteuern. In den Band wurden zahlreiche Bilder von der ostgalizischen und serbischen Front aufgenommen. 20 Siehe dazu den Beitrag von Bernd Hüppauf in diesem Band. 21 Rauchensteiner, Manfred: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. Wien-Köln-Weimar 2013, 399–429. 22 War Land on the Eastern Front. Culture, National Identity and German Occupation in World War I. Cambridge 2000; Kriegsland im Osten: Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2002. Zu erwähnen ist auch seine 1994 vorgelegte Dissertation War Land. Peoples, Lands, and National Identity on the Eastern Front in Word War I. 23 Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Jürgen Angelow unter Mitarbeit von Gundula Gahlen und Oliver Stein. Berlin 2011. 24 Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg. Hg. v. Beate Störtkuhl/Jens Stüben/Tobias Weger. München 2010. Siehe darin die Beiträge von Zoran Janjetović: The Making of the German Minority in Yugoslavia 1918–1929, 403– 420, und von Stefan Sienerth: Ästhetische Orientierungen und politische Loyalitätsoptionen. Siebenbürgisch-deutsche Autoren im Einflussbereich des Ersten Weltkriegs, 421–431; Kollektive und individuelle Identität in Österreich und Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg. Hg. v. Helga Mitterbauer/Szilvia Ritz. Wien 2007.
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Auch die in den Regionen aktuell veröffentlichten Studien zum Ersten Weltkrieg bestätigen den Trend zur Zusammenführung von dokumentativ-archivistischen und memorialistischen Quellen zur Gewährleistung eines umfassenden Blickes auf die Kriegsgesellschaften. Diese Entwicklung illustrieren beispielhaft Untersuchungen zum Banat, einer Region, die nach dem Ersten Weltkrieg geteilt wurde und an Rumänien, Serbien und Ungarn fiel. Neben historischen Abhandlungen zu dieser Region verzeichnet man ein steigendes Interesse für die Veröffentlichung von Fotosammlungen und Memoiren sowie von Studien zum Vorfeld des Ersten Weltkriegs.25 Eine besondere Perspektive auf den Ersten Weltkrieg präsentiert der Historiker Lucian Boia, der 2009 eine Bestandsaufnahme der deutschlandfreundlichen rumänischen Intellektuellen mit Berücksichtigung der Kontexte und der gegen sie nach dem Krieg getroffenen Strafmaßnahmen vorgelegt hat.26 Hervorzuheben ist unter den zahlreichen Publikationen aus Rumänien der 2015 veröffentlichte Band mit Beiträgen in rumänischer und englischer Sprache, der aus einer an der Universität Cluj/Klausenburg veranstalteten Tagung zum Ersten Weltkrieg aus historischer und historiographischer Perspektive hervorgegangen ist.27 Projektionen der Front durch verschiedensprachige literarische Texte bündelt ein Beitrag, in dem faktische und fiktionale Aspekte literarischer Texte sowie ihre Rolle in der Darstellung von Vergangenheit diskutiert werden.28 Spiegelungen des Ersten Weltkriegs in der Literatur wurden Gegenstand von literarischen Fallstudien, epochengeschichtlichen Untersuchungen, vergleichenden Analysen und auch von als Textsammlungen angelegten und kommentierten Bänden. Die Untersuchung des Verhältnisses von Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern zum Krieg rückt die Eliten und ihre in Text und Bild sichtbaren Reaktionsformen in den verschiedenen Kriegsgesellschaften in den Vordergrund. Es entstanden Textsammlungen, die Hypostasen der Dichtung im Kriegsverlauf aufzeigen, beginnend mit der Euphorie des Jahres 1914, die dem Hunger nach Vitalität, Aben25
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Dudaş, Vasile: Banatul în anii primei mari conflagraţii mondiale [Das Banat während des Ersten Weltkriegs]. Timişoara 2014; Carol Bereczky: Album cu fotografii din Primul Război Mondial. Abum mit Fotos aus dem Ersten Weltkrieg. Elsö-Világháborús fénykép-albuma. World War I. Photos Album. Hg. v. Demokratischen Forum der Deutschen aus dem Kreis Caraş-Severin. Reşiţa 2014; Marele Război în memoria bănăţeană 1914–1919 [Der Große Krieg im Banater Gedächtnis], Bd. 1 und 2. Hg. v. Valeriu Leu/Nicolae Bocşan/Mihaela Bedecean. Cluj 2012 und 2013; Deutsches Kulturleben im Banat am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Der Beitrag von kleineren Städten und Großgemeinden. Hg. von Walter Engel/Walter Tonţa. Stuttgart 2013. Boia, Lucian, „Germanofilii“. Elita intelectuală românească în anii Primului Război Mondial [„Die Germanophilen“. Die rumänische intellektuelle Elite in den Jahren des Ersten Weltkriegs]. Bucureşti 2009. Primul Război Mondial. Perspectivă istorică şi istoriografică. World War I. A Historical and Historiographical Perspective. Hg. v. Ioan Bolovan/Gheorghe Cojocaru/Oana Mihaela Tămaş. Cluj-Napoca 2015. Crohmălniceanu, Ovid S.: Berichte deutscher und rumänischer Schriftsteller von der rumänischen Front im Ersten Weltkrieg. In: Rumänisch-deutsche Interferenzen. Hg. v. Klaus Heitmann. Heidelberg 1986, 129–146.
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teuer, dem Auflehnen gegen Langeweile und zivilisatorischen Komfort Ausdruck gab. Die Anthologie Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914–1918 liefert Textbelege für die manichäische Zeichnung von Fronten im Fahrwasser nationaler Mythenbildung, die ausufernden chauvinistischen und rassistischen Ausfälle gegen den Feind bis hin zu den ab 1916 sich vermehrenden kriegskritischen Stimmen.29 Mittlerweile liegen weitere Untersuchungen und Anthologien vor.30 Der Krieg als Verwirklichung des Traums vom aktiven Einwirken auf die Gesellschaft, als Chance für die Ermächtigung von Intellektuellen, die an die vorderste (Text-)Front, Seite an Seite mit Politik und Militär drängten, schlug sich auch in der Flut von Propagandaliteratur sowie von graphischer Propaganda nieder. Diese ist im Band Jeder Schuss ein Russ’, jeder Stoß ein Franzos eindrucksvoll dokumentiert.31 Zu einer umfassenden Beleuchtung der Rolle von Eliten in historischen Prozessen bündelt der Sammelband Kultur und Krieg Beiträge von Sozialwissenschaftlern, Historikern, Kunsthistorikern und Literaturwissenschaftlern.32 Anhand von Fallstudien wird die Literarisierung des Krieges in der deutschen Literatur illustriert, der Krieg als Anlass für ästhetisierende Selbstbeobachtungsprozesse von Künstlern, wodurch eine breite Palette an Haltungen diskutiert wird, die den Zusammenhang zwischen Krieg und Kultur und die Rolle der kulturellen Agenten darin beleuchten.33 In der zweiteiligen Monographie von Helmut Fries wird ein Versuch unternommen, literarische Strömungen ab Ende des 19. Jahrhunderts als Seismographen für gesellschaftlichen Wandel und die Literatur als Akteur in einer Gesellschaft auf dem Weg zum Krieg und im Krieg zu präsentieren.34 Eine literarische Epoche nimmt der Band von Hermann Korte in den Fokus, in dem er einen Bogen über die expressionistisch codierten Stimmungslagen von 1914 bis 1918
29 Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914–1918. Hg. v. Thomas Anz/Joseph Vogl. München-Wien 1982. 30 Darunter auch: Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg. Hg. v. Nicolas Detering/Michael Fischer/Aibe-Marlene Gerdes. Münster 2013; In Dornbüschen hat Zeit sich schwer verfangen. Expressionismus in den deutschsprachigen Literaturen Rumäniens. Hg. von Michael Markel. Regensburg 2015. 31 Jeder Schuss ein Russ’, jeder Stoß eine Franzos. Literarische und graphische Kriegspropaganda in Deutschland und Österreich 1914–1918. Hg. v. Hans Weigel/Walter Lukan/Max Demeter Peyfuss. Wien 1983. 32 Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hg. v. Wolfgang J. Mommsen unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner. München 1996. Weitere Veröffentlichungen zu diesem Thema: Flasch, Kurt: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin 2000; Musen an die Front! Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda 1914–1918. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung. Hg. v. Jozo Džambo im Auftrag des Adalbert Stifter Vereins. München 2003. 33 Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Hg. v. Uwe Schneider/Andreas Schumann. Würzburg 2000. 34 Fries, Helmut: Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Denker. Band 1: Die Kriegsbegeisterung von 1914. Ursprünge – Denkweisen – Auflösung. Band 2: Euphorie – Entsetzen – Widerspruch. Die Schriftsteller 1914–1918. Konstanz 1994 und 1995.
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schlägt.35 Wurde anfangs der Krieg als Aufbruch, als im Sinne der nationalen Einheit harmonisierender Zustand erlebt, als sinnvolle kollektive Ordnung, mündete die affirmative Phase in eine Antikriegsstimmung, für die die zeitgenössische Rezeption wenig Verständnis zeigte. Aus dem englischsprachigen Raum kommen ausgiebige Vermessungen europäischer Stimmungslagen aus der Zeit vor, während und nach dem Krieg sowie Untersuchungen zur nachträglichen Umgestaltung der Erinnerungen an den Krieg und der damit verbundenen nationalen Sinnkonstruktion.36 Vergleichende Studien zu Kriegserfahrungen und ihrer Literarisierung erfolgten mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen. Im Zentrum eines 1980 von Klaus Vondung herausgegebenen Bandes37 steht das Kriegserlebnis, seine Gestaltung und Deutung in verschiedenen Milieus der kriegsführenden Gesellschaften sowie in unterschiedlichen Textsorten, von literarischen Texten und bis hin zu Tagebüchern, Predigten und Fotos. Propagandaliteratur sowie Texte mit propagandistischer Funktion, die außerhalb des Einflusses von Propagandainstitutionen entstanden sind, weisen auf besondere Motivationsmechanismen und bereits im Vorfeld des Krieges aktivierte Prädispositionen hin sowie auf Faktoren, die bei der Herausbildung nationaler Kommunikationsräume mitgewirkt haben. Die schnelle Erosion der Kriegseuphorie und ihrer Reflexionen sind auf Erfahrungen zurückzuführen, deren Auswirkungen auf verschiedene Kriegsgesellschaften Gegenstand der Betrachtung waren. In einer vergleichenden Perspektive stellt der Sammelband Ansichten vom Krieg38 Deutschland und Australien gegenüber. Gerade der Vergleich zwischen – aus europäischer Perspektive – Zentrum und Peripherie bringt überraschende Einsichten über Gemeinsamkeiten in Mythenbildungsprozessen und Mechanismen zur Konstruktion nationaler Eigenbilder sowie in der Formung von Mentalitäten. Das in Briefen, Reden oder literarischen Texten enthaltene persönliche Erlebnis des Krieges interessiert, nachdem es durch vielfältige Deutungsprozesse in soziales Handeln übersetzt wurde, als Grundlage für kulturgeschichtlich relevante Entwicklungen. Die Wahl der Quellen ist zudem symptomatisch für die Abkehr von der Ebene der militärischen und politischen Entscheidungsträger und Deutungseliten, deren bevorzugte Betrachtung über die Existenz von gesellschaftlichen Mustern im Erleben des Krieges hinweggetäuscht hatte. An Wichtigkeit gewinnen hingegen Fragen nach der Beschaffenheit und den Folgen des Ersten Weltkriegs als Einschnitt in die Lebenswirklichkeit der Einzelnen. Aktuelle Studien bemühen sich um neue Fragestellungen und eine Ausweitung der Betrachtung. Mathias Mayer untersucht, ausgehend von dem in literarischen 35
Korte, Hermann: Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Studien zur Evolution eines literarischen Themas. Bonn: Bouvier 1981. 36 Beispielsweise Eksteins, Modris: Tanz über Gräbern: Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg. Reinbek b. Hamburg 1990, zuerst erschienen unter dem Titel Rites of Spring. The Great War and the Birth of the Modern Age. Boston 1989; Mosse, George: Fallen Soldiers: Reshaping the Memory of the Word Wars: New York-Oxford 1991. 37 Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Hg. v. Klaus Vondung. Göttingen 1980. 38 Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft. Hg. v. Bernd Hüppauf. Königstein/Ts. 1984.
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Bewältigungsversuchen des Krieges greifbar werdenden „Wert-Vakuum“, die spezifische literarische Ethik in einer Zeit moralischer Orientierungslosigkeit und die damit im Zusammenhang stehenden Mechanismen der Rechtfertigung eines Werterelativismus. Den Krieg betrachtet er als Zeichen einer Sinn- und Wertekrise und er sieht den in Deutschland in der Nachkriegszeit sich entfaltenden Totalitarismus als Folge der Diskreditierung des Ethischen.39 In seiner Grundlegung einer Kulturgeschichte des Krieges beteiligt sich Bernd Hüppauf an der jüngeren Debatte über die Fragen „Was ist Krieg?“ und „Wie funktioniert Gesellschaft?“ durch theoretische Fundierung, methodische Diskussion und Präsentation von Kriegspraxis beginnend mit den archaischen Kriegen bis zu den Drohnenkriegen und den „unblutigen Kriegen“ im Cyberspace.40 Er plädiert für eine Trennung der Episteme der Militär- und Kulturgeschichte und sieht Letztere als einen weniger reduktionistischen, Widersprüche integrierenden Ansatz, in dem Kampf sowie Kriegsdiskurs von Bedeutung sind. Im Diskurs wird der Krieg vorbereitet, vorgestellt und bewertet, die Gesellschaft hängt in seinem Netz, sie wird von ihm erzeugt, wodurch der Krieg nicht einfach Gewalt zwischen Gruppen, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Zustand ist. Dabei stellt er Fragen nach dem Zusammenhang von Krieg und Kultur, nach der vom Krieg geschaffenen, im Rahmen von Kultur existierenden Ordnung und der sich dabei herausbildenden Kommunikation. Im 100. Gedenkjahr steht der Erste Weltkrieg im Fokus zahlreicher Tagungen, die Fragen an die mit dem Krieg verbundenen Erfahrungen, Vorstellungen und Ordnungen richten. Vorfeld und Folgen, Zusammenhänge zwischen Ideologie und Gewalt, Kriegsgesellschaft und Wirtschaft wurden interdisziplinär und unter internationaler Beteiligung untersucht. Die Formulierung der Fragestellungen legt die Absicht offen, das Blickfeld auch auf periphere Kriegsschauplätze zu erweitern. Dem Detail wird auch in regional angelegten Tagungskonzepten Vorzug gegeben.41 Dies geschieht auch in Ausstellungen, die das Kriegserlebnis und seine Folgen in 39
Mayer, Mathias: Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und Systematische Perspektiven. München 2010. 40 Hüppauf, Bernd: Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs. Bielefeld 2013. 41 Einige Beispiele für Tagungen, die sich mit von Deutschen bewohnten Regionen im südöstlichen Europa befassten: die 2012 und 2013 im Haus der Donauschwaben in Sindelfingen organisierten Tagungen zur politischen Lage und kulturellen Entwicklung der deutschen Bevölkerung des Banats am Vorabend des Ersten Weltkriegs, deren Ergebnisse mittlerweile veröffentlicht wurden, sowie die Tagung Die Banater Schwaben und der Erste Weltkrieg. Kriegsgeschehen und Auswirkungen auf das Banat (23–24.11.2013). Des Weiteren fanden im Mai 2013 in Freiburg der Thementag Die Dobrudschadeutschen und der Erste Weltkrieg in Selbst- und Fremdbildern statt und in Graz die Tagung Siebenbürgen und der Erste Weltkrieg (5–7.09.2014). Den Blick auf die Praxis der Nationalstaaten richtete die Tagung Nationalstaat und ethnische Homogenisierung. Ungarn und Rumänien im Vergleich (1867–1914) und auf das erste Kriegsjahr die Tagung Herbst 1914. Ost(mittel)europäische Gesellschaften auf dem Weg in den Krieg, die vom Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde mit veranstaltet wurden. Das Wie der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, regionale Ausprägungen sowie die Frage nach der Kurz- oder Langlebigkeit der Erinnerung an dieses einschneidende Ereignis waren Thema der Tagung Gedenken und (k)ein Ende – Was bleibt vom Jahr 2014 (Wien, 10.– 12.12.2014). Einen scharfen thematischen Fokus in einer vergleichenden Sicht wählte die Ta-
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historisch gewachsenen Regionen präsentieren und vor allem auch mittels materieller Zeugnisse „von unten“ beleuchten. Der vorliegende Sammelband nimmt das südöstliche Europa in den Fokus, was im Vorfeld einer genaueren Spezifizierung des anvisierten Raums bedarf. Denn spricht man über Raum, so meint man mit den gleichen Begriffen Unterschiedliches oder man macht sich mit unterschiedlichen Begriffen an ähnliche räumliche Koordinaten heran. So ist auch der im Visier dieses Bandes stehende Raum aus verschiedenen, teilweise überlappten Raumvorstellungen und Begriffen zusammengesetzt: der Balkan und Südosteuropa – wie auch anhand der einzelnen Beiträge des Bandes ersichtlich wird. Die Bezeichnung Balkan begann sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu stabilisieren und setzte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endgültig durch. Im Verlauf seiner Karriere wurde dieser Ersatzbegriff für staatlich-politische Bezeichnungen wie „Europäische Türkei“, denen durch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte Änderungen die Grundlage entzogen war, wegen der pejorativen Konnotation mit beträchtlichen Abgrenzungsproblemen vor allem im Norden und Nordwesten konfrontiert.42 Die Save-Donau-Linie als Nordgrenze ist weiterhin Gegenstand andauernder Diskussionen.43 Reichliche Polemik bietet auch die Argumentation von Maria Todorova gegen die in den 1980erJahren sich intensivierende, durch „exzessiven Reduktionismus“ und mit einer „indirekten politischen Botschaft“ eingesetzte Abtrennung des Balkans von „Ostzentraleuropa“ oder „Zentraleuropa“, wobei es im Grunde um die „Inklusivität oder Exklusivität Europas“ gehe.44 Der Balkan ist in der Auffassung des Schriftstellers Richard Wagner das Produkt westlicher Imagination, doch auch – und das sei seine unsichtbare Seite – das Ergebnis der Imagination der Balkanvölker von sich selbst. Die Zugehörigkeit zum Balkan werde oft geleugnet – so die Beispiele Kroatien und Slowenien durch Berufung auf eine mitteleuropäische Prägung, durch Zugehörigkeit zu Katholizismus und Habsburg.45 Wagner sieht den Balkan als Ergebnis der Abgrenzungen, die Habsburg zum Schutz gegen die Osmanen unternahm und in der von Dalmatien und bis zu den Karpaten reichenden Militärgrenze ihren Ausdruck fand. Die mitteleuropäische Prägung innerhalb dieser Demarkation stellt er den in der Einflusssphäre des Osmanischen Reiches verbliebenen Regionen gegenüber, wo sich die gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen verzögert herausbildeten, die für die Entfaltung der Moderne unabdingbar waren.46 Die Zeitgeschichte aktualisiere und deaktiviere räumliche Begriffe, argumentiert Richard Wagner in
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gung Radikalisierung des Antisemitismus während des Ersten Weltkriegs? Antisemitische Akteure und jüdische Kriegserfahrungen im europäischen Vergleich (Berlin, 18.–20.03.2015). Kaser, Karl: Südosteuropäische Geschichte und Geschichtswissenschaft. Wien-Köln-Weimar 2002, 21. Helmedach, Andreas: Historische Raumbegriffe. In: Studienhandbuch östliches Europa. Band 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas. Hg. v. Harald Roth. Köln-Weimar-Wien 2009, 3–7, 5. Todorova, Maria: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Aus dem Englischen übersetzt von Uli Twelker. Darmstadt 1999, 204–210. Wagner, Richard: Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan. Berlin 2003, 24–26. Ebd., 117–121.
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der 2014 erschienenen Essaysammlung zum Thema Habsburg. In diesem Zusammenhang interpretiert er die erneute Aktualisierung des Begriffs Mitteleuropa, so wie er im Kontext des Ersten Weltkriegs diskutiert wurde, als Reaktion des östlichen Teils Mitteleuropas, der „von der Sowjetunion in den Stillstand getrieben“ wurde,47 aber auch als Zeichen für die Distanzierung vom Balkan-Konzept. So geht es in einem Teil der hier gesammelten Beiträge um den Balkan – wie beispielsweise im einleitenden Text von Bernd Hüppauf – während die Mehrheit der Beiträge von einem mittelosteuropäischen oder südosteuropäischen räumlichen Selbstverständnis Zeugnis ablegt. Der Südosteuropa-Begriff, der bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, gewann mit der im Jahr 1918 veränderten politischen Situation als zunächst „wertneutraler, unpolitischer und unideologischer Begriff“ immer mehr an Bedeutung. Er hob die „nunmehr gegenstandslose Dichotomie zwischen der Donaumonarchie und dem osmanischen Balkan“ auf.48 Das Nebeneinander und Miteinander dieser Begriffe im vorliegenden Band gehört nicht zu seinem thematischen Gegenstand, sondern zeugt lediglich von der unterschiedlichen Perspektive und Herangehensweise an mit Bedeutung geladene Räume. Festzuhalten sei, dass diese Raumkonstruktionen Vorstellungen von hegemonialen Ordnungen widerspiegeln, die wiederum mit einschneidenden Erfahrungen der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und auch des Ersten Weltkriegs in Verbindung stehen: eine schrumpfende „Europäische Türkei“, ein Balkan und daneben Randlagen der k. u. k. Monarchie, die bis zum Ersten Weltkrieg nur punktuell durch Eigenbezeichnungen aus dem habsburgischen Kontext herausgelöst werden wollten und sich in der Folgezeit des Krieges in der Klammerkonstruktion des Südosteuropäischen besser aufgehoben fühlten. Da Südosteuropa auch keine historische Geschehenseinheit darstellt, wird in der Titelformulierung dieses Bandes mit der Argumentation Karl Kasers die Bezeichnung südöstliches Europa bevorzugt, weil sie keine Definition und Abgrenzung erfordert und je nach wissenschaftlicher Fragestellung klein- oder großräumigen Betrachtungen sowie gelegentlich notwendigen Grenzüberschreitungen nicht im Wege steht. Zudem löst dieser Begriff die Beschränkungen der nationalgeschichtlichen Vorgehensweise.49 Karl Kaser folgt auch die Beobachtung, dass Europadarstellungen – unabhängig vom spezifischen disziplinären oder auch interdisziplinären Blickwinkel – Westeuropadarstellungen sind. Dieses Bild wurde auch durch den kurzen Überblick auf die kaum noch übersichtliche Literatur zum Ersten Weltkrieg vermittelt – es soll nun auch durch weitere Einblicke in den Südosten in diesem Band ergänzt werden.
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Wagner, Richard: Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt. Hamburg 2014, 113–114. Kaser, Südosteuropäische Geschichte, 22. Kaser zählt zum Territorium Südosteuropas die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Moldawien, Bulgarien, Griechenland, Albanien, Jugoslawien, Makedonien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Slowenien und den europäischen Teil der Türkei. Der Slowakei, Ungarn und Slowenien sagt er aufgrund ihres gegenwärtigen „Zentral- oder Mitteleuropa-Selbstverständnisses“ eine Art Zwischenstellung zu. Ebd., 23–24. Ebd., 22–23.
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Der Sammelband Textfronten ist aus einer Tagung zum Ersten Weltkrieg im südöstlichen Europa hervorgegangen, die im Oktober 2010 in Tübingen stattgefunden hat. Ausgehend von Texten, die Kriegswelten und die Menschen darin reflektieren, wurden Schwerpunkte auf Kriegserfahrung, Wahrnehmung von Grenzen und Zugehörigkeitsräumen sowie auch auf die Konstruktion und Reorganisation von Identität gesetzt. Allerdings ist die Zusammensetzung des Bandes nicht deckungsgleich mit dem auf der Tagung Vorgetragenen. Nicht alle Teilnehmer haben ihre Vortragstexte überarbeitet und zur Verfügung gestellt, andere Beiträge hingegen konnten für den Sammelband gewonnen werden. Textualität im weitesten Sinne des Wortes als sekundäre Modellierung der Wirklichkeit und als Sinn transportierendes und produzierendes Medium steht im Mittelpunkt dieses Bandes. Dabei wurde auf die Vielfalt der Textsorten besonderen Wert gelegt, sodass der Blickwinkel von nur literarischen auf „Kulturtexte“ ausgeweitet wurde, zu denen in den Untersuchungen dieses Bandes essayistische, journalistische Texte, Tagebücher oder die Sprache der Denkmäler gezählt werden können. Sie nehmen auf die außertextuelle Wirklichkeit aus einer gewollt subjektiven Sicht Bezug oder werden als objektiv legitimiert und präsentieren eine Vielzahl an Problemlösungen sowie an Bemühungen um die Auslegung der Welt sowohl während des Krieges als auch in seinem Umfeld. Literarische und essayistische Aushandlungen des Krieges ermöglichen Einblicke in Frontbildungen dies- und jenseits der als Kriegspropaganda eingesetzten Literatur: Jasager, seltene Zustimmungsverweigerer und Nuancen der Zurückhaltung sind zu beobachten. In Untersuchungen zu literarischen Texten werden die darin wirksamen Kategorien des „Schönen“, der „Fiktionalität“ und der „Polyvalenz“50 auf ihre Leistungen zur Sinngebung des Kriegserlebnisses und seiner identitätskonstituierenden Intentionalität geprüft. Die Freiheit des Rückzugs im Fiktionalen und Imaginären ermöglicht sowohl auf der Produktions- als auch der Rezeptionsseite Teilhabe an der Sinnkonstitution, denn gerade die Leerstellen im Werk wirken als Reflexionsantrieb.51 Der Rezipient wird freigesetzt, er soll Alternativen zum jeweils historisch akzeptierten Wirklichkeitsmodell und Gesellschaftssystem in einem höheren Maße erkennen, als ihm unter den Bedingungen der immer schon festgelegten Alltagspraxis möglich ist. Einige Beiträge befassen sich mit der Rolle journalistischer Texte im Krieg aus zwei verschiedenen Perspektiven. Zum einen hat man es mit einem Außenblick auf das südöstliche Europa zu tun, was vergleichend westeuropäische Selbstverständnisse miteinbezieht. Zum anderen bieten Tageszeitungen sowie literarische Zeitschriften Innenperspektiven aus den einzelnen südosteuropäischen Regionen oder von der Front. Sie alle machen unterschiedliche Formen der Beteiligung am Krieg durch journalistische, essayistische Beiträge sowie durch kriegsbejahende mobilisierende Lyrik sichtbar. Sie waren in die Legitimierung des Krieges involviert und boten Spiegelungen der Kriegserfahrung und Varianten der Sinnbildung. 50 51
Brenner, Peter J.: Was ist Literatur? In: Literaturwissenschaft – Kultulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Opladen 1996, 11–47, hier 14–25. Iser, Wolfgang: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Bekett. München 1972, 71.
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Mit den Tagebüchern, die meistens in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Geschehen angefertigt wurden, liegt eine besondere Quelle vor. Diese Selbstzeugnisse sind nicht durch spätere Ereignisse und Erkenntnis überformt und unterliegen zumeist auch nicht dem Primat der Öffentlichkeit. Sie fokussieren auf vertraute Themen des täglichen Lebens, verweisen auch auf Zielsetzungen und das Selbstverständnis des Soldaten hin, der den Krieg teilweise als Expedition in ein unbekanntes Land wahrnimmt und ihn mit dem Blick des Abenteurers auf das Exotische verfolgt. Aspekte der kulturellen Praxis beleuchten Untersuchungen zu Texten aus Lehrwerken für Literatur und Geschichte sowie zu Inschriften auf Denkmälern, die Anschlussstellen zwischen dem Einzelnen und seinem Umfeld sichtbar machen. Der Blick auf den Krieg im südöstlichen Europa richtet sich zunächst aus einem westeuropäischen Blickwinkel. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Prinzipien des aufgeklärten Westens – Separieren, Demokratie, Konsens und Ausgleich der Interessen – beschreibt Bernd Hüppauf den Balkanraum als eine Region der Differenzen, in der ungelöste Antagonismen in einer Balance koexistierten. Aus der Perspektive der Kulturgeschichte, den Maßstab des Westens für die Lösung von Konflikten vor Augen, unterbreitet er mehrere Thesen zur Deutung dieser „dritten“ Front, für die es gilt, aus dem Vergessen befreit zu werden. In seinem Plädoyer für eine europäische Literaturgeschichte des Krieges gesteht er der Konfliktordnung des Balkans zur Überwindung nationaler Perspektiven eine zukunftsweisende Rolle zu. Reinhard Johler schafft in seinem Beitrag eine Übersicht über österreichische, deutsche und internationale volkskundliche Sammelaktionen von Soldatenbriefen und Soldatenliedern beginnend mit den Kriegsjahren bis hin zu ihrem Verschwinden aus der Wissenschaftslandschaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Mobilisierung der Sprache – es wurden bis zu 28 Milliarden Feldpostsendungen verschickt und mehrere Millionen Gedichte produziert – durch den Krieg, aber auch den Krieg als Gelegenheit der Begegnung mit dem Fremden sieht er in einem Verzahnungsprozess mit dem Aufschwung der „sammelnden Wissenschaften“, die in ihm schöpferisches Potential zu erkennen glaubten. Florian Keisinger sondiert in seinem Beitrag das Vorfeld des Ersten Weltkriegs und befasst sich mit der Wahrnehmung der Balkankriege in westeuropäischen Medien als Mustergeber für zukünftige Kriege, die auf die Realisierung von Nationalstaatsprojekten abzielten. Nicht nur die Gewaltsamkeit dieser Kriege wurde in englisch- und deutschsprachigen Medien rezipiert, sondern auch etwas von der Faszination der Unterordnung von Einzelnen unter die größere Einheit des Staates im Kontext seiner Etablierung als Träger ethnischer Gewalt. Beiträge, die aus der Innenperspektive des südosteuropäischen Raums heraus den Krieg reflektieren, wurden unter mehrere thematische Schwerpunkte zusammengefasst. Zum ersten werden Identitätsentwürfe anhand von literarischen Texten, Essayistik sowie von Lehrbuchtexten und Inschriften auf Denkmälern analysiert. Deniza Petrova beschreibt anhand von bulgarischen literarischen Texten über eine umkämpfte Region – die Dobrudscha – die Formung eines in den Dienst der Nation gesetzten kollektiven Gedächtnisses und die damit verbundene Sinngebung des Krieges. Im Rahmen des breiteren Themas „Einfluss des Krieges auf die serbi-
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sche Literatur“ geht Filip Krčmar anhand von Gedichten über den Ersten Weltkrieg der Migration von literarischen Texten in serbische Schullesebücher und auch in Lehrbücher für Geschichte nach und untersucht ihre Rolle in der nationalen Erziehung durch Ausformung und Konsolidierung von kollektiven Identitäten. Die 1920 erschienene Novelle Itzig Struhl, Deserteur des rumänischen Schriftstellers Liviu Rebreanu wird von Romaniţa Constantinescu zum Anlass genommen, den rumänischen Antisemitismus in einem historischen Längsschnitt und mit besonderem Fokus auf die Rechtslage der Juden im rumänischen Altreich zu beleuchten. Die Thematisierung der üblen Behandlung jüdischer Soldaten in der rumänischen Armee in Rebreanus Novelle wirft ein erhellendes Licht nicht nur auf die Befindlichkeit der jüdischen Minderheit im Umfeld des Ersten Weltkriegs, sondern auch auf die Art und Weise, wie diese Thematik in der rumänischen Gesellschaft ausgehandelt wurde. Identitäten im Umbruch untersucht Zsolt K. Lengyel am Beispiel der Magyaren aus Siebenbürgen und des „Transsilvanismus“ als Ideensystem und Ausdruck der siebenbürgischen Andersartigkeit. Angesichts der Grenzverschiebungen, des Wechsels der politischen Machtzentren und des andauernden Spannungsverhältnisses zwischen Nation und Region werden Versuche der Lösungsfindung aufgezeigt, die in verschiedenen Textsorten ausgetragen werden. Die erstaunliche Flexibilität in der Darstellung von Zugehörigkeitsräumen mittels literarischer und essayistischer Texte wird am Beispiel der während und nach dem Krieg entstandenen Texte des Banater Schriftstellers Adam Müller-Guttenbrunn illustriert. Als prominenter Vertreter der im Süden der Habsburgermonarchie lebenden „Schwaben“ imaginiert er eine kollektive emotionale Wirklichkeit dieser deutschen Minderheit, macht wandelnde Identitäten in Umbruchzeiten sichtbar und prägt damit auch ihre weitere Entwicklung. Die Rolle der Denkmäler als identitätsstiftende Räume sowohl im persönlichen Gedenken als auch im kollektiven Gedächtnis der Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen ist Thema des Beitrags von Bernhard Böttcher. Ihre Gestaltung sowie die damit zusammenhängende Sinngebung des Krieges ermöglicht Rückschlüsse auf die Identitätspolitik der deutschen Minderheiten, die nach dem Krieg in Rumänien lebten, aber auch auf die rumänische Erinnerungspolitik. Einen zweiten Themenkreis bildet der Krieg in den Medien. Maria Rózsa bietet einen Überblick über die ungarischsprachige Zeitungslandschaft während des Ersten Weltkriegs und ihre Entwicklung in den ersten Nachkriegsjahren. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Kriegsende und den Zeitungen als Seismographen der letzten Kriegsjahre. Als Pendant zu den Zeitungen in ungarischer Sprache illustriert sie anhand der Leitartikel des Pester Lloyd die Reflexion des Kriegsendes in der größten deutschsprachigen Zeitung Ungarns. Der Kriegsanfang im Feuilletonteil des Pester Lloyd ist Gegenstand des Beitrags von Zsuzsa Bognár, in dem der Kriegsdiskurs im Zusammenhang mit Chronologie, Thematik und den Profilen der wichtigsten Feuilletonisten untersucht wird. Nach der Besetzung Belgrads erschien im selben Jahr 1915 im Auftrag der Militärverwaltung die Zeitung Belgrader Nachrichten, der Ausgaben in serbischer und ungarischer Sprache folgten. Sie steht im Mittelpunkt des Beitrags von Franz Heinz. Das Selbstverständnis dieses Blattes jenseits der engen Definition einer Frontzeitung ist nicht zuletzt auf die Professionalität ihrer Redakteure zurückzuführen, darunter der Banater Schriftsteller Otto
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Alscher. Selbst aus einem multiethnischen Mileu stammend und in der Nachbarschaft von Serben aufgewachsen, legte er Feingefühl gegenüber den Adessaten der Zeitung an den Tag. Walter Engel präsentiert Spiegelungen des Ersten Weltkriegs in der Zeitschrift Von der Heide, der ersten illustrierten Monatsschrift für Kultur und Leben der Banater Deutschen, mit einem vergleichenden Blick auf die Literatur aus Deutschland und Österreich, und auch mit dem Ziel, die in den Kriegsjahrgängen der Zeitschrift zum Ausdruck gebrachte Stimmung von der südöstlichen Peripherie Habsburgs einzufangen. Eine weitere Sektion des Bandes ist den persönlichen Kriegszeugnissen gewidmet, repräsentiert von Untersuchungen zu den noch nicht veröffentlichten Tagebuchnotizen des k. u. k. Offiziers Robert Jánosi Engel, eines Vertreters des emanzipierten jüdischen Bürgertums aus Pécs (Péter Varga), sowie auch zu den Tagebüchern des Siebenbürgers Otto Folberth (Horst Schuller). Durch die Tagebücher werden biografische Innenräume beleuchtet, die Auskunft über die Integrationsmöglichkeiten des Kriegserlebnisses in die Lebenswelten der Akteure geben. Der Krieg als Reflexionsgegenstand zeitgenössischer Schriftsteller beschließt den Band mit zwei Beiträgen, die nach Österreich und in den südslawischen Raum führen. Walter Klier beschreibt den Weg von einem mehrere hundert Seiten umfassenden Konvolut, das sein Großvater hinterlassen hatte, bis hin zum umfangreichen, aus Tagebüchern, Postkarten, Briefen und Zeitungsausschnitten zusammengesetzten Roman. Leutnannt Pepi zieht in den Krieg: das Tagebuch des Josef Prochaska erschien 2009, der Autor las im Rahmen der Tagung daraus. Aus der von Alida Bremer und Saša Ilić herausgegebenen Zeitschrift Beton International, deren erste Nummer aus dem Jahr 2014 dem Attentat von Sarajevo gewidmet ist, wurden einige Essays von Literaten aus dem südslawischen Raum ausgewählt, die auf dieses vielfach gedeutete Ereignis einen Blick aus dem vertrauten Raum und teilweise aus der eigenen Familiengeschichte heraus werfen. Zur Sprache kommen die Schriftstellerin, Übersetzerin und Herausgeberin Alida Bremer mit einleitenden Worten zur Zeitschrift und der Thematik der ersten Nummer, die Autorin des Romans Unterstadt, Ivana Šojat-Kuči, der Literaturwissenschaftler Filip Hameršak, Mitglied der Kommission der Regierung der Republik Kroatien zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs, der Schauspieler, Dramaturg und Journalist Davor Korić sowie der Schriftsteller Selvedin Avdić. Eine flächendeckende Auseinandersetzung mit dem Krieg im südosteuropäischen Raum ist in dem gegebenen Rahmen selbstverständlich nicht möglich. Die im Folgenden veröffentlichten Beiträge stellen entweder wegweisende Analysen dar, denen weitere Untersuchungen nachzufolgen haben, oder präsentieren Fallstudien, die für einzelne Regionen und Kontexte repräsentativ sind. Gerade in der Folge des Ersten Weltkriegs gingen aus dem südosteuropäischen Raum Nationalliteraturen hervor, die sich – durch besondere Berücksichtigung nationaler Desiderate und damit verbundener Gedächtniskonstruktionen und Erinnerungskulturen – bereits in der Zeit zwischen den Weltkriegen stark auseinanderentwickelten. Sie alle sind in einzelnen Studien nicht zu überblicken, jedoch werden in diesem Band gerade durch das Nebeneinander verschiedener Perspektiven die Vielfalt und Komplexität
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dieses Raumes, Überschneidungen und Ähnlichkeiten mit dem Kriegserlebnis in Westeuropa sowie seine Andersartigkeit im Südosten sichtbar. Der Band versteht sich als vorläufiges Zwischenergebnis auf dem Weg zu einem Forschungsdesiderat zum Ersten Weltkrieg im südöstlichen Europa: eine Literatur- und Kulturgeschichte des Krieges in dieser Großregion, die als Teil einer globalen Kulturgeschichte des Krieges zu verstehen ist. Damit sei auf den Beitrag von Bernd Hüppauf in diesem Band hingewiesen. Olivia Spiridon
EINE DRITTE FRONT – DER KULTURELLE DISKURS ZUM ERSTEN WELTKRIEG AUF DEM BALKAN Bernd Hüppauf „Wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen“ Goethe, Faust, Erster Teil
KRIEG UND DISKURS Krieg gibt es nicht ohne Diskurs. Der Erste Weltkrieg war, wie alle Kriege der Moderne, eine komplexe Kombination aus militärischem Kampf und Diskurs. Während des Kriegs war der Diskurs durch Zensur und politische Institutionen der Steuerung politisch konform, sodass die immanenten Spannungen verdeckt blieben. Nach 1918 wurde der Kriegsdiskurs so intensiv und umfassend geführt wie nie zuvor in der europäischen Geschichte. Er war allerdings nicht gleichmäßig auf den ganzen Krieg gerichtet, sondern auf die Westfront fokussiert. Sie wurde, vor allem durch das Bild der Massenschlachten seit 1916 mit der unvorstellbaren Masse von Material und Beteiligung von Industrie und Technologie, paradigmatisch. Der Krieg im Osten, nicht weniger verlustreich und groß dimensioniert, trat demgegenüber zurück. Dieses Ungleichgewicht erhielt sich bis ans Ende des 20. Jahrhunderts. Dann wurde der Krieg im Osten „entdeckt“, zu einer Zeit als sich eine Kulturgeschichte des Kriegs entwickelte, die das Augenmerk von den Kämpfen auf den Krieg der Vorstellung und die Diskurse verlegte. WESTFRONT Der Erste Weltkrieg ging als Krieg der Moderne in das kulturelle Gedächtnis ein, und das heißt als ein Krieg der hoch entwickelten und zentralisierten Nationalstaaten, die alle ihre Ressourcen mobilisieren. Seine überragende, wenn nicht einmalige Bedeutung für das kollektive Gedächtnis des 20. Jahrhunderts stammte aus der Identifikation des Kriegs mit der instrumentellen Vernunft und dem Fortschrittsdenken, praktiziert in den westlichen Industrienationen, und ihrer Krise. Kriegserinnerung als Krisentheorie und Zivilisationskritik führte zu einem Bruch im Eigenbild, das Europa seit dem 17. Jahrhundert von sich gepflegt hatte. George Kennans immer wieder zitierter Satz über den Ersten Weltkrieg als der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, „the great seminal catastrophe of this centu-
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ry“,1 brachte die Einschätzung des Kriegs auf eine einprägsame Formel: der Krieg am Beginn des Jahrhunderts und als Katastrophe. Diese Charakterisierung ist nicht die Feststellung eines Historikers sine ira et studio, sondern ein Werturteil aus einer spezifischen Perspektive. Sie spricht von einem Verlust, interpretiert diesen Krieg als Omen und versteht das von ihm eröffnete Jahrhundert als einen Schicksalszusammenhang. Worin bestand die Jahrhundertkatastrophe? Europa hatte beinahe 10 Millionen junger Männer in den gewaltsamen Tod geschickt, doppelt so viele Invaliden geschaffen und unvorstellbares Leid über sich gebracht. Diese Zahlen bedeuteten einen Schock. Verdun, die Somme und andere Schlachtfelder, auf denen die Toten in Tausenden pro Stunde gerechnet wurden, wurden immer wieder beschworen. Sie sind noch heute schockierend. Aber darin lag nicht die Katastrophe. Sie wurde darin gesehen, dass das Eigenbild Europas, das als Vorbild für die Welt dienen sollte, zerbrochen war. Der Verlust des europäischen Zivilisationsgedankens und der weltweiten Hegemonie des universalistischen Bildes vom Menschen bedeutete für Kennan und nicht nur für ihn, wie die Häufigkeit, mit der dieser Satz zitiert wird, belegt, eine Katastrophe. Die universalen Ideale, die Ideen von Fortschritt und Zivilisation, mit denen Europa sich zweihundert Jahre identifiziert hatte und auf denen sein Stolz beruhte, waren auf den Schlachtfeldern untergegangen, auf den Schlachtfeldern im Westen. Dieser Untergang bestätigte sich in den folgenden Jahrzehnten, da sich kein Friede einstellte, sondern die Nachkriegszeit in Orgien von Gewalt scheiterte. Das Urteil der Jahrhundert-Katastrophe konnte erst aus dem Rückblick einer Zeit gesprochen werden, als der Zweite Weltkrieg, die Kriege der Dekolonisierung und die Massaker an Zivilisten bereits zu historischen Erfahrungen geworden waren. Erst im Rückblick wurde der Erste Weltkrieg zur Urkatastrophe des Jahrhunderts und veränderte sich im Nachhinein, diesem Urteil entsprechend. Es war allerdings in Teilen des Kriegsdiskurses seit 1918 vorbereitet. Dieses Urteil ist nur partiell zutreffend. Es verstellt den Blick auf den Ersten Weltkrieg. Der Krieg im Osten ist kein Teil dieses Kriegsbildes. Die Perspektive einer Urkatastrophe nimmt ihm noch einmal, auf der Metaebene, den Platz im Kriegsbild. Er wurde vergessen. Denn er war eine Störung des Globalurteils. Der Einschluss des Kriegs im Osten hätte den Diskurs Moderne und ihre Krise fragwürdig gemacht. OSTFRONT. ZENTRUM UND PERIPHERIE Was ist mit Vergessen des Kriegs 1914–1918 im Osten gemeint? Kann ein Krieg mit Millionen Toten und tiefgreifenden Konsequenzen für die Politik und Einzelschicksale vergessen werden? – vergessen von wem, von Historikern oder von Zeitzeugen und deren Kindern? Eine Militärgeschichte des Kriegs im Osten hat 1
Kennan, George Frost: Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französischrussische Annäherung 1875–1890. Frankfurt 1981, 12.
Eine dritte Front – der kulturelle Diskurs zum Ersten Weltkrieg auf dem Balkan
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es immer gegeben. Es war nicht gerechtfertigt, den Krieg im Osten als einen militärisch unbehandelten Krieg zu bezeichnen, wie andere Kriege der Zeit (etwa der Amerikanisch-Spanische Krieg von 1898). Vergessen bezog sich nicht auf die Militärgeschichte, sondern ging von einer Trennung von Krieg und Kriegsdiskurs aus. Es gibt seit langem keine Augenzeugen des Kriegs im Osten mehr, die wir nach ihren Erinnerungen fragen könnten. Haben sie in früheren Jahren die Erinnerung an diesen Krieg gepflegt? Diese Frage wird man, denkt man an die Intensität des Kriegsdiskurses der Westfront, nur eingeschränkt mit „ja“ beantworten. Zu einem öffentlichen Kriegsdiskurs und einer Erfahrungsgeschichte hat dieser Krieg nicht geführt und eine kulturelle Erinnerung hat sich nicht entwickelt. Quellen (auch für die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes) müssen gesucht, ausgegraben und aus lokalen Kontexten gelöst werden. Am öffentlichen Diskurs war der Krieg im Osten nicht beteiligt – wo lagen die Gründe? Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan unterschied sich in zweierlei Hinsichten: Er kannte nicht die Schlachten der modernen Technologie mit Flugzeugen, Luftaufklärung, Panzern, tagelangem Trommelfeuer und anderen Errungenschaften von Wissenschaft und Technologie. Gemessen am Stand der Technik und Logistik war er ein retardierter Krieg. Er war zweitens ein Krieg mit verworrenen Frontlinien und geteilten Loyalitäten. Das unterschied ihn vom modernen Krieg, in dem die komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse vereinfacht und auf ein Freund-Feind, Wir-Sie Schema reduziert werden. Der Krieg auf dem Balkan schloss einen Krieg ein, in dem ein Feind in den eigenen Reihen attackiert wurde. Zu diesen verworrenen Fronten gehörte auch ein Krieg im Krieg, der Krieg gegen eine alternative politisch-gesellschaftliche Ordnung. Dieser Krieg war daher für den Gedanken eines vom Weltkrieg eingeleiteten Jahrhunderts der Katastrophe ungeeignet. Das Ende des Denkens der Kontinuitätslinie kann für den Balkan bedeuten, dass er unter seinen eigenen Bedingungen erinnert werden und ein eigenes Profil entwickeln kann. Europa kam nach 1918/19 nicht zur Ruhe, aber für die großen Nachkriegskonflikte hatte die Erinnerung an den Krieg im Osten keine Bedeutung, wie auch umgekehrt die Katastrophenthese für die Erinnerung an den Krieg im Osten ohne Bedeutung war. Aus der Perspektive der Zentren, London, Paris, Berlin, konnte der Krieg im Osten als marginal erscheinen, Ereignisse an der Peripherie, die man aus dem Augenwinkel wahrnahm. Kein Beobachter ging davon aus, dass Europas innerer Zusammenhang, seine Identität und Weltgeltung durch den Krieg im Osten bedroht oder überhaupt berührt worden wären. Eher im Gegenteil. Auf dem Weg in ein neues Europa aus dem Geist der Aufklärung schien vielen Beobachtern der Krieg gegen Russland unvermeidlich. Die Revolution von 1917 verschob die Koordinaten und lenkte die Aufmerksamkeit vom Krieg selbst noch weiter ab. Der Krieg im Osten blieb peripher. Als vor ca. 30 Jahren die zeitgenössische Kulturgeschichte des Kriegs aus der Taufe gehoben wurde, entsprach sie einem breiten Interesse an Erinnerung und wurde rasch populär. Die neuen Einsichten in die Frage: „Was ist Krieg?“ wurden an der Westfront gewonnen. Der Osten war abwesend. Das hatte Gründe. Zunächst kamen die Väter dieses Paradigmenwechsels, Fussell, Leed und Keegan, aus Ländern der Entente, für die der Osten traditionell ein blinder Fleck war und allenfalls
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nach militärischen und politischen Bündnispartnern und strategischer Entlastung der Westfront betrachtet wurde. Die Charakterisierung des Kriegs als Krise der zivilisierten Welt entstand nicht aus der nationalen Perspektive, sondern aus der Sicht des globalen Mittelpunkts der Moderne, für den sich Europa hielt.2 Die Differenzen wie die Gemeinsamkeiten der Krisentheorie waren übernational, aber auf Westeuropa, England und seine abhängigen Verbündeten, weniger die USA, beschränkt. Die späte Entdeckung der Ostfront stieß auf Resonanz, die Forschung gewann aber nicht so recht an Fahrt.3 Seit 2004 haben Tagungen zu dem Thema stattgefunden und einige Publikationen sind erschienen. Aber dass die Ostfront dem kollektiven Vergessen entrissen würde, lässt sich nicht belegen. Unter einem gesamteuropäischen Gesichtspunkt bedeutend war ein konzeptioneller Grund, den Osten aus der Forschung über Kriegserlebnis und Kriegserinnerung auszuschließen. Er bildete keine Herausforderung für das Eigenbild der Gesellschaft. Der Krieg im Osten hat kein Problem grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Der Orientalismusdebatte verlieh ihre Sprengkraft, dass über die Konfrontation mit dem Orient die eigene Identität in Frage gestellt wurde. Eine vergleichbare Herausforderung hat die Forschung über die Ostfront des Ersten Weltkriegs bisher vermissen lassen. Kann der Krieg auf dem Balkan eine solche Herausforderung liefern? Der Blick auf den fernen Krieg lehrt, dass dort etwas anderes auf dem Spiel stand als der Weg in die Moderne der Demokratie und des Kapitalismus. Dieser Krieg beendete ein kulturelles Modell, das ich die Balance der Antagonismen nennen möchte. Damit will ich ein Problem benennen, das noch immer nicht gelöst ist, wie gegenwärtige Gesellschaftstheorien belegen, die das Problem der innergesellschaftlichen Konflikte unter dem Begriff des Antagonistischen aufnehmen.4 Im Krieg auf dem Balkan wird eine entlegene Seite des Projekts Europa sichtbar. Was aus der Sicht der Rationalisten als das ewige Banditentum des Balkans abgewertet wurde und in den Worten des Propheten der Planung, Zentralisierung und Teleologie, Karl 2
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Larry Wolf belegt, dass die West-Ost-Dichotomie im 18. Jahrhundert als Element der Selbststilisierung Europas durch die Aufklärung entstand und den bis dahin vorherrschenden Nord-Süd Gegensatz verdrängte. Wolf, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Map of Enlightenment. Stanford (SUP) 1994. Eine Tagung, die das Militärgeschichtliche Forschungsamt und das Deutsche Historische Museum im Mai 2004 in Berlin durchführte, hatte das Ziel, die Ostfront des Ersten Weltkrieges „dem kollektiven Vergessen zu entreißen.“ Die Beiträge finden sich in: Zeitalter der Weltkriege 1. Die vergessene Front. Der Osten 1914/15: Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Hg. v. Gerhard P. Gross. Paderborn 2005. Vgl. auch die Berichte von: Magnus Pahl, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam (MGFA) und Gundula Gahlen, Historisches Institut, Universität Potsdam: Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfeld militärischer Gewalt. 49. Internationale Tagung für Militärgeschichte. 15.09.2008–17.09.2008, Potsdam. Veranstalter: Bernhard Chiari, Gerhard P. Groß, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam (MGFA); Erster Weltkrieg in der südosteuropäischen Literatur: Heeresgeschichtliches Museum Wien, Landesverteidigungsakademie, Wien, 12.10.2009–14.12.2009. Lauclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien 1991, 2. Aufl. 2000 (zuerst: Hegemony and socialist strategy, London-New York 1985).
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Marx, „ethnischer Abfall“ hieß, war in Wahrheit ein Modell gesellschaftlicher Organisation, das aus der Identität Europas ausgegrenzt werden sollte, das aber, will ich argumentieren, eine ernsthafte Alternative zum dominanten Entwurf von Gesellschaft und Krieg bildete. Der Blick auf diesen Krieg enthüllt im Nachhinein, dass dort etwas vom Projekt des europäischen Gesellschaftsentwurfs der Moderne verloren ging. KRIEG AUF DEM BALKAN Die Wende zur Kulturgeschichte am Ende des 20. Jahrhunderts war bezeichnend für eine Veränderung in der Konzeption des Kriegs: weg von der Militärgeschichte und hin zu Fragen der Psychologie, Ethnologie, Anthropologie und der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit (um einen Titel von Berger/Luckmann aufzugreifen). Kulturgeschichte stützt sich auf Quellentypen, denen in der Vergangenheit wenig Bedeutung zugemessen wurde wie Fotografie, Denkmäler, Alltagsdokumente und Literatur.5 Das alles bot eine gute Voraussetzung für eine Wendung zum Krieg im Südosten. Denn der Krieg auf dem Balkan war nicht kriegsentscheidend und unter strategischen Gesichtspunkten marginal. Die Lösung von der Zentrierung auf die Westfront kam aber nur langsam in Gang und steckt noch immer in den Kinderschuhen. Der Balkan wurde nicht einbezogen. Das Thema macht noch immer Pionierarbeit nötig. Aber die Zeit ist reif, den Krieg im Südosten aus der Perspektive der Kulturgeschichte zu erzählen und reflektieren. Denn aus einer anderen als der militärischen Perspektive betrachtet, wird dieser Krieg aufschlussreich und kann zum Verständnis der Beziehung des Kriegs und der Gesellschaftsgeschichte Europas einen Beitrag leisten. Die Kulturgeschichte des Kriegs auf dem Balkan sieht sich vor einer methodischen Herausforderung, die die Geschichte der Westfront nicht stellt. An ihr kämpften die Europäer unter sich. Kann man für die Westfront von einer weitgehenden Identität der europäischen Teilnehmer auf beiden Seiten der Front ausgehen (von den Kolonialtruppen sehe ich ab), so muss für den Balkan ein Unterschied angenommen werden, der die Perspektive der Soldaten des Westens von der der Soldaten und den Zivilisten des Ostens unterscheidet. Die hegemonialen Gesellschaften Europas, ihre Lebens- und Denkformen, die Mentalitäten und Werte ihrer Hauptstädte determinierten den Krieg und sein Bild. An der Westfront gehörten beide Seiten zum Zentrum und führten einen Kampf auf Augenhöhe miteinander. Das war auf dem Balkan anders. Dort wurde ein Feind bekämpft, dem, anders als französischen oder englischen Soldaten, der Gleichheitsstatus nicht zugestanden wurde. Die Spannung lässt sich als eine zwischen Periphe5
Stone, Norman: The Eastern Front 1914–1917. London 1998; auch: Stone, Norman: Ostfront. In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Hg. v. Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz. Paderborn 2003, 762–764; Liulevicius, Vejas Gabriel: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg 1914–1918. Hamburg 2002; Fussel, Paul: The Great War and Modern Memory. Oxford 1975; Holzer, Anton: Der andere Krieg. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Darmstadt 2012, 3. Auflage.
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rie, die ins Fremde übergeht, und Zentrum der Identität verstehen. Der Balkan war der Übergang zum Anderen, das Ende Europas und damit der Beginn einer fremden Welt, des Orients. Das beeinflusste den Kampf und den Kriegsdiskurs. Dort wurde im äußeren Feind das Andere des Selbst, Subalternität in Europa bekämpft. Dieser Unterschied trennt das Kriegserlebnis und das Bild dieser Front von dem der Westfront. Die englische Kriegspropaganda benutzte das negative Stereotyp des Ostens und diffamierte die Mittelmächte als Hunnen und Barbaren. Darin liegt nur für den oberflächlichen Blick ein Widerspruch. Bei genauerem Hinsehen bestätigt sie die Unterscheidung zwischen Europa mit dem Einschluss von Deutschland als dem Zentrum der Weltzivilisation, und dem Rest der Welt, dem Süden und dem Osten, dem der deutsche Gegner aus propagandistischen Gründen zugeschlagen wurde. DER BALKAN: INNENPERSPEKTIVE – AUSSENPERSPEKTIVE Gibt es den Balkan? Was ist das Balkanische am Balkan?6 Die Antwort hängt von der Perspektive des Beobachters ab, und es gilt zunächst zu fragen: Wer spricht? Zwischen einer Erste-Person- und einer Dritte-Person-Perspektive, also zwischen Innen- und Außenperspektive ist zu unterscheiden. Die Innenperspektive hat die Vor- und Nachteile der Introspektion: Niemand kann so direkten Zugang zum Innen haben, wie das betroffene Subjekt. Es hat, wenn es nach innen sieht, ein Objekt vor sich, von dem es berichten kann, und bleibt doch jederzeit als Subjekt beteiligt. Das Problem ist offensichtlich: Die Subjektivität der Erste-Person-Perspektive macht Beobachtungen nur eingeschränkt brauchbar für die Erkenntnis des Objekts. Die Innenperspektive braucht, um vor Willkür geschützt zu sein und akzeptiert zu werden, zusätzliche Beglaubigung. Wie gewinnt der Balkandiskurs des Balkans eine Authentifizierung? Die Außenperspektive ist distanziert, was nicht nur dem Ideal der Objektivität Raum gibt und zu größerer Glaubwürdigkeit führt, sondern die Gefahr des Missverständnisses und der Fehlinterpretation durch mangelnde Empathie birgt. Der Balkan entzieht sich der Wesensbestimmung. Sie ist, soweit ich sehe, aus der Innenperspektive selten gesucht worden. Die geographischen Grenzen waren stets unfest. Schlossen sie auch die Walachei ein? Die Frage, ob Ungarn oder Rumänien dazugehören, war und ist kontrovers. Eine besondere Schwierigkeit bildete Griechenland. Aserbaidschan gehört im geographischen Verständnis nicht zum Balkan. Denken wir aber an die Literatur aus Baku, ist es gewiss, dass der kulturelle Diskurs das Land in den Balkan einbezieht. Außer Bulgarien gibt es offenbar kein Land, das sich die Zuschreibung Balkan vorbehaltlos zu eigen machen würde. Wir können uns also nicht auf eine Innensicht beziehen, den Namen nicht dadurch rechtfertigen, dass sich die Bewohner der Region durch diese generelle Zuschreibung selbst bezeichnen. 6
Vgl. Todorova, Maria: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt 1999 (zuerst: Imagining the Balkans, Oxford University Press 1997).
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Wenn wir die Region als Treffpunkt von Okzident und Orient bestimmen: Wissen wir, was Orient bedeutet? Wir können seine Grenzen nicht bestimmen und wissen nur, dass er im Osten liegt. Der Osten ist eine ebenso luftige Wortschöpfung, die aber von hoher emotionaler und suggestiver Kraft ist. Der Osten, der auf dem Balkan begann, war der Mittlere oder der Nahe Osten, Vorderasien, Kleinasien und Teile Arabiens, die Türkei gehörte dazu, die wir als das muslimische Reich der Osmanen denken, aber auch mit Byzanz, also über die Idee von Ostrom mit Europa und dem Christentum verbinden – allerdings mit einem Christentum, das sich von dem Westeuropas grundlegend unterschied, sodass sich die Opposition von Christentum und Islam in die Beziehung von Katholizismus, Orthodoxie und Islam in seinen Varianten wandelte. Balkan ist eine von außen an die Region herangetragene Bezeichnung. Sie hat aber eine signifikative Kraft, wie sich an Versuchen über andere, nahe gelegene Regionen ohne klare geographische Grenzen zeigt. Rostovzeff spricht über eine benachbarte Region, das südliche Russland, als einer einzigartigen geographischen und kulturellen Einheit, die er nicht über ein essentielles Wesen bestimmt, sondern über Bewegung und eine lange Geschichte beständigen Wandels. Die anhaltenden Einflüsse seien die des Orients und des Südens gewesen, über den Kaukasus und Griechenland, sowie die des Westens über die Donau, aus denen sich MischKulturen gebildet hätten, „the formation […] of mixed civilizations, very curious and very interesting.“7 Das lässt sich mit derselben Berechtigung über den Balkan sagen. Was diese Region der ständigen Veränderungen very curious und very interesting machte, war ihre immanente Mobilität und Vielfalt, die Einflüsse des Osmanischen Reichs wie des Habsburger Reichs, der Magyaren, Rumänen, Juden und Zigeuner verarbeitete. Macht war in dieser Region nicht zentriert, sondern regional verteilt, gleichsam in ethnischen Mischungen aufgelöst und auf lokale Mikrozentren verteilt. Nicht die Nation, sondern kleine und überschaubare Einheiten gaben ihr den Rahmen. Neil Ascherson, um ein weiteres Beispiel anzufügen, schreibt in einer umfassenden Studie über das Schwarze Meer als einer geographischen Region ohne klare Grenzen, in der kein Teil ohne Verlust für das Ganze von anderen separiert werden könne. Es sei nie ein stabiler, ewiger Ort gewesen. Die Völker der Region hätten in beständigem Wandel miteinander gelebt und doch zu einer Einheit gehört, die sich durch Vielfalt und Überraschung auszeichnete und die Voraussetzung für Freiheit und farbige Biografien schuf.8 Selbst in einer Publikation in einer Reihe über Kriegsschauplätze widmet der Autor ungewöhnlich viel Platz den historischen und ethnographischen Voraussetzungen der Einheit in der Mannigfaltigkeit, um Armenien und Mesopotamien zu einem zusammenhängenden Kriegsschauplatz zu verbinden.9 Nicht friedlich waren diese Regionen, sondern stets von Ausbrüchen der 7 8 9
Rostovzeff, Mikhael: Iranians and Greeks in South Russia. Oxford 1922, 7. Ascherson, Neil: Black Sea. The Birthplace of Civilisation and Barbarism. Vintage 2007, XIV (zuerst London 1995). Frech, Fritz: Der Kriegsschauplatz in Armenien und Mesopotamien, Bd. 5 Die Kriegsschauplätze. Leipzig und Berlin 1916. Frech ist ein ausgewiesener Kenner der Region. Seine Arbeit
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Albanische Stammeskrieger 1915. Wiki commons
Gewalt geschüttelt, unter der Menschen zu leiden hatten, die aber das Lokale nicht überschritten und die Existenz der mixed civilization nicht bedrohten. Ähnlich lässt sich der Zusammenhang des Balkans bestimmen. Aus der Außenperspektive entstand das Bild des Balkans aus einer Opposition von Zivilisation und Archaik. In der hegemonialen Sicht war diese Opposition ungleich gewichtet, und der Balkan war das Archaische und Subalterne. Der absolute Vorrang der Zivilisation, das Ideal des europäischen Eigenbildes, war unbezweifelt. Inzwischen sind die politischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen geschaffen, um diese Bewertung zu überwinden und den Krieg in Europas Südosten in den Kriegsdiskurs, in dem er bisher vernachlässigt wurde, einzubeziehen. Den Zusammenhang des Balkans mit Europa will ich aus dem Gegensatz von Mannigfaltigkeit und intrinsischem Konflikt einerseits und den Idealen der Kommunikation, des konsensualen Interessenausgleichs und der Zentralisierung des Machtmonopols im Europa der Aufklärung andererseits entwickeln. Die Peripherie im Südosten stand in einem Gegensatz zur machtstaatlichen Politik der Zentren. Die Ordnung durch Zentralisierung der Nationalstaaten bildete seit dem 17. Jahrhundert die anhaltende Tendenz in Europa, hatte sich aber auf dem Balkan nicht durchgesetzt. Für die politischen und kulturellen Leitbegriffe kommt es darauf an, wer sie definiert. Wer die Diskurshoheit hat, bestimmt die Parameter, entscheidet über Kategorien und setzt das Maß für Wertung. Die Forderung nach leidet aber unter einem ungebrochenen Paternalismus gegenüber den Völkern und einer kolonialistischen Herablassung aus der Position des Zentrums.
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temporaler Ordnung, nach Gleichzeitigkeit und rationalem Ausgleich der Differenzen hat das hegemoniale Denken über die soziale Ordnung des Balkans geleitet. Die nationalstaatlich organisierten europäischen Zentren befanden, dass an der Peripherie eine multipolare Unordnung in einem ungegliederten Raum herrsche. Die Zentren lagen in geographischen Großräumen, aber der Balkan bestand aus unverbundenen Inseln, und die europäische Perspektive identifizierte daher über mehr als ein Jahrhundert hinweg den Südosten Europas mit dem Vormodernen. Das Moderne waren Kapitalismus, Urbanität und Rationalität, repräsentiert durch die politischen und kulturellen Zentren, Berlin und Wien. Der ethnisch homogene Nationalstaat als erstrebte Wirklichkeit entstand nicht vor dem Ersten Weltkrieg,10 und er blieb eine artifizielle und fremde Konstruktion, die nie auch nur den Anschein des Natürlichen gewann. Wenn auf dem Balkan die Ungleichheit herrschte, sollte Reziprozität einziehen: Gleichheit statt Freiheit. Gewalt, die als das Archaische des Balkans interpretiert wurde, sollte abgeschafft werden. Der Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie bedeutete eine zeitliche Verschiebung: Der Balkan war nicht zeitgleich mit dem Zentrum, hinkte hinter der Gegenwart her, war zurückgeblieben. Dem Balkan fehlte: Produktivität, Markt, Demokratie. Die Balkanmenschen waren keine Zeitgenossen, sondern lebten in einer anderen Zeit. Ihre Lebensformen wurden nicht als eine Herausforderung angenommen, sondern als rückständig zurückgewiesen. Gegen die Ideale verstießen der Balkan und das Balkanische, und das Eigenbild, das der Balkan von sich entwarf, war (soweit die Quellen ein Bild ermöglichen) inkompatibel. Wenn der ethnisch homogene Nationalstaat im Westen Europas seit dem 18. Jahrhundert ein Ideal war, auf das die Politik beständig hinarbeitete, praktizierte der Balkan das Gegenteil: eine Mixtur aus Ethnien, Religionen und kulturellen Traditionen. Der bekannteste Roman, der die Mixtur aus Slaven, Magyaren, Juden, Türken, Deutschen und Sinti beschreibt, ist Die Brücke über die Drina von Ivo Andrić. Andere, etwa Kurban Saids Ali und Nino, tragen zu diesem Eigenbild bei. Auch die Bedeutung der Städte und des Urbanen bezeichnete den Unterschied. Der einfallsreiche Architekt Bogdan Bogdanović hat vor einigen Jahren den Bosnienkrieg mit einem Angriff auf die Stadt assoziiert.11 Damit traf er einen bis ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Unterschied zu Westeuropa, die Tendenz gegen die große Stadt, gegen die hegemonialen politischen, kommerziellen und kulturellen Zentren. Der Balkan war orientalisch, insofern er keine Entsprechung zur Zentralisierung des Denkens und der Lebensstile, die von den Metropolen in Westeuropa ausging, kannte. Land und Landschaften, Kleinstädte und dörfliche Siedlungen schufen dezentralisierte und diffus strukturierte Lebensräume. Sie fanden sich an der Peripherie Europas. 10 11
Vgl. Kruse, Volker: Transnationale Vergesellschaftungen, Weltkriege und Container-Nationalstaat. In: Ästhetik und Kommunikation 152/153, 42 Jg.: Kriegsvergessenheit und Mediengesellschaft, Frühjahr/Sommer 2011, 131–138. Bogdanović, Bogdan: Vom Glück in den Städten (aus dem Serbischen von Barbara Antkowiak). Wien 2002.
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Das orientalische Caféhaus kann als sein allegorischer Ort gesehen werden. Das Caféhaus der kleinen Städte war der Ort der Kommunikation und zeugte von einer anderen gesellschaftlichen Ordnung, da es vom lebensweltlichen Nebeneinander lebt. Es ist der Ort des Politischen und nicht der der Politik. Dort werden die Probleme der Zeit und die Differenzen der Religionen nicht gelöst. Die Kommunikation setzt voraus, dass sie unlösbar sind. Aber sie können besprochen werden und verlieren dadurch viel von ihrer Bedrohlichkeit. Das Eigenbild sprach vom Stolz auf die eigene Tradition, die älter war als die Westeuropas. Aber es war ambivalent. Die Peripherie hinterließ ihre Spuren, und aus dem Unterlegenheitsgefühl entstand eine Identifikation mit dem Zentrum, verbunden mit einer Minderung des eigenen Ichs. Maria Todorova bezeichnet es als „geradezu axiomatisch, dass im Großen und Ganzen eine negative Eigenwahrnehmung über dem Balkan schwebt. Neben einer extrem ablehnenden und diskriminierenden Fremdwahrnehmung.“12 Sie beschreibt kenntnisreich, wie über einen langen Zeitraum hinweg die pejorative „Fremdwahrnehmung des Balkans in der Region selbst internalisiert wurde.“ Der Balkan übernahm die ihm zugeschriebenen Eigenschaften des Subalternen. DER BALKAN ALS REGION DER DIFFERENZ Wir wissen seit Nietzsche nicht nur, mit wie viel Tücke das Gedächtnis arbeitet und zu Fehlerinnerungen verleitet, sondern auch, dass das Vergessen eine Kunst ist. Von der Kunst, sich von der Vergangenheit nicht beherrschen zu lassen, sondern sich von ihr durch Vergessen zu befreien, ist hier nicht die Rede. Im Gegenteil: Denke ich an den Krieg auf dem Balkan, spreche ich vom Vergessen als einem Verlust. Im Nachhinein wissen wir, dass durch den Ersten Weltkrieg sich nicht nur die Habsburgermonarchie auflöste und die Gründung nationaler Staaten möglich wurde, sondern ein geschichtlicher Verlust zu beklagen war. Der Verlust war nicht die Monarchie, sondern der Vielvölkerstaat. Dieser Verlust ist mit unterschiedlichen Motiven beklagt worden. Eine eindrucksvolle Klage hat Joseph Roth in wunderbaten Romanen und Erzählungen formuliert. „Aber wir Schriftsteller jüdischer Herkunft sind, Gott sei gedankt, vor jeder Versuchung, uns der Seite der Barbaren anzunähern, geschützt. […] Selbst wenn sich in unseren Reihen ein Verräter befände, der aus Ehrgeiz, Dummheit und Blindheit mit den Zerstörern Europas einen schändlichen Frieden schließen wollte, – er könnte es nicht! Das ‚asiatische‘ und ‚orientalische‘ Blut, das uns die gegenwärtigen Machthaber des Deutschen Reiches vorwerfen, gestattet uns mit Bestimmtheit nicht, aus den noblen Reihen der europäischen Armee zu desertieren.“13 Andere, wie Claudio Magris, haben diesen Mythos weitergesponnen. Für den Balkan galt dieser Verlust nur sehr eingeschränkt. Der übergreifende Bogen, den Roth zum Himmel der Donaumonarchie über Ost-Mitteleuropa, Un12 Todorova, Erfindung des Balkans, 63. 13 Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger. Hg. v. Michael Bienert. Köln 1996, 246.
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garn, Galizien, Böhmen und Mähren, die Bukowina, verklärte, wölbte sich nicht über der Region zwischen Slowenien und Griechenland, Kroatien, Aserbaidschan und den türkischen Teilen Südosteuropas. Diese Region, ohne die verbindende Klammer aus österreichischer Verwaltung und Militär, war durch andere Gemeinsamkeiten ausgezeichnet. Das entscheidende Charakteristikum der Region sieht Richard Wagner in ihrer Marginalität, die „eine Probebühne“ für die Konflikte Europas zuließ.14 Aber das Stück, das auf der Probebühne aufgeführt wurde, kam nicht ins große Haus des Theaters. Drei Grundideen, die den Unterschied zwischen dem europäischen Westen, der sich seit dem 17. Jahrhundert als das (Welt-)Zentrum definierte, und der Peripherie kennzeichnen, waren der Nationalstaat, das Fortschrittsdenken und das Gleichheitsideal. Sie waren konstitutiv für das Selbstbild, und die europäischen Nationen nahmen sie offensiv für sich in Anspruch. In das Eigenbild des südöstlichen Europa sind sie nicht eingedrungen. Die gesellschaftlichen Prinzipien des aufgeklärten Westens: Separieren, Demokratie, Konsens und Ausgleich der Interessen waren dem Balkan fremd. Das Ideal einer Gliederung und Separation durch Nationalstaaten war auf den Balkan nicht vorgedrungen. Handeln und Diskurs wurden bis ins 20. Jahrhundert auf andere Weise konstituiert. Fehden und eine Tradition der kleinen Kämpfe erhielten sich. Der Balkan war nicht durch die Politik, die durch die Metropolen definiert wurde, bestimmt, sondern lebte das Politische als dezentralisierte Antagonismen. Über Jahrhunderte war der Balkan eine Region der dezentrierten Differenzen, politisch, kulturell und ethnisch. „Zu keiner Zeit, aber am wenigsten während der letzten zwei Jahrhunderte, war das osmanische Reich ein Land mit starkem sozialem Zusammenhalt oder einem hohen Grad sozialer Integration.“15 In dieser Hinsicht war der überwiegend christliche Balkan osmanisch. Vielfalt war über lange Zeiträume hinweg die natürliche Verfassung des Südostens. Er war die Region der Differenzen, die sich in Konflikten ebenso wie in Übergängen zeigten: Orient und Okzident, Christentum und Islam, atavistische Herrschaft und ungezügelte Freiheit bekämpften sich und koexistierten. Die innere Widersprüchlichkeit der Gesellschaft und der lokale oder regionale Streit unterlagen keinem Rationalitätsgebot und konnten ohne schlechtes Gewissen ausgetragen werden. Der Balkan hatte etwas anzubieten, das über gewaltsame Konfrontation, mit der das verbreitete Vorurteil die Region identifizierte, ebenso wie über das Toleranzideal des Westens hinausging: weder systemischer Krieg noch aufgeklärte Toleranz, sondern eine Mannigfaltigkeit, eine Gleichzeitigkeit von Alternativen und die Akzeptanz von Widersprüchen, die nicht auszugleichen sind. Was aus der Sicht der Rationalisten und Modernisierer abgewertet wurde und der Erinnerung nicht wert war, lässt sich als einen kulturellen Raum beschreiben, in dem ein alternatives Modell, mit Konflikten umzugehen, praktiziert wurde. Das westliche Europa nahm davon keine Kenntnis, aber wertete es im Vergleich mit 14 15
Wagner, Richard: Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan. Berlin 2003, 24. Todorova, Erfindung des Balkans, 232.
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The Times (London), 17. Juli 1913. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart
dem eigenen Ideal ab. Das gesellschaftliche Prinzip des Balkans wurde aus der Außenperspektive als der Feind des Aufklärungsmodells von Staat, Politik und Gesellschaft verstanden. Der Blick in die Kulturgeschichte findet zwei Metaphern, die aus der Fremdperspektive den Balkan charakterisieren: Brücke und Pulverfass. Beide bilden einen sprachlichen Nukleus für ein vielfältiges Netz an Beziehungen, die für das Bild der Region fundierend sind. Aber wir kennen das Signifikat dieser Signifikanten nicht. Was ist das Europa und was der Orient, die sich auf der Brücke begegnen oder gar mischen oder in der Begegnung explodieren? Mit Brücke führen wir eine Opposition ein und sprechen von der Vermittlung zwischen den beiden Elementen. Es geht um die Funktion der Region als einem Übergang vom Osten in den Westen, Orient zum Okzident, vom Islam zum Christentum, vom Osmanischen Reich nach Europa. Südosteuropa und Kleinasien gehören zusammen, ist immer wieder festgestellt worden. Sie bilden eine „Kulturbrücke von eminenter Wichtigkeit seit der Entstehung der ältesten Hochkulturen.“ (Valjavec) Die andere Metapher für die Region, Pulverfass, bezeichnete aus der Sicht der Europäer eine permanente Gefahr. Sie nahmen eine Region der Konflikte wahr, und Lösungen für die Konflikte waren nicht abzusehen. Die beiden Metaphern scheinen sich auszuschließen. Das ist nicht der Fall. Der Balkan führte über Jahrhunderte hinweg vor, wie beides, Brücke der Begegnung und Pulverfass der Explosion zugleich gelebt werden konnte. Das Nebeneinander der Gegensätze und Miteinander der Kulturen, durch das verharmlosende Bild der Brücke veranschaulicht, waren stets bedroht und die Brücke einsturzgefährdet. Aber sie hielt seit dem ersten Türkensturm auf Wien (1529).
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Diese Kombination trug zum Reichtum Europas bei. Das Argument wurde selten ausgesprochen. Ob Brücke oder Pulverfass, Übergang in die muslimische Welt und den Vorderen Orient oder Sprengsatz für Europa: In den stereotypen Wahrnehmungen war das Bild vom Balkan negativ und ermöglichte, die Überlegenheit des Zentrums über die Peripherie zu demonstrieren. Allerdings war das Verhältnis von Peripherie und Zentrum nie das eines einfachen Gegensatzes. Im Balkandiskurs wirkte Ambivalenz. Politik und Kultur der Zentren, Paris, Wien, London, wurden von der Peripherie imitiert, kleine, regionale Zentren bildeten sich dort, hatten aber keine Macht und strahlten nicht ins Zentrum zurück. Andererseits wurde der Balkan als orientalisch und als die imaginierte Alternativwelt Europas entworfen, als das Böse einer unchristlichen Welt, die seit Luthers Türkenpredigten immer wieder belebt und um 1900 als das in Europa verlorene aber unbewusst ersehnte Wilde gesucht wurde. Er wurde als eine Region libidinöser Bindungen phantasiert. Auch diese Verbindung kann man bis in Luthers Schrift zur Belagerung Wiens (1529) zurückverfolgen. Die Ambivalenz lässt sich auf geschichtliche Phasen zurückführen: zunächst die Türken vor Wien, als das Osmanische Reich eine militärische Bedrohung bildete, die aber durch gesteigerten Kontakt begleitet war. Die Ambivalenz zeigt sich bis heute im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien. Aus der Türkenbeute, die auch in Museen im Reich ausgestellt wurde, sehen wir kunstvolle Pferdeschweife, Handgranaten aus Glas und Bronze, Rüstungen, Kleidung, Seide, Uhren, eine silberne Kalenderuhr und ähnliche Exponate, die vom Staunen über die Kunst und Lebensart des Orients zeugen. Kürzlich erinnerte eine Ausstellung von Münzen und Medaillen (auch durch Karikaturen) an die entwickelte Zivilisation im Osmanischen Reich.16 Die Kriegsgeschichte ist auch eine Geschichte der Kontakte, und die Region der Kontakte war der Balkan bis an seine nördliche Grenze, Wien. Die Furcht des 17. Jahrhunderts vor dem Osten verlor sich im 19. Jahrhundert. An die Stelle von Bedrohung trat ein Exotismus der Ethnologen und der Literatur, beginnend mit Goethes Persien, zur Malerei und Dichtung des 19. Jahrhunderts, Heinrich Heines Romanzero, Victor Hugos Orientales, Gauthier, Coleridge und bis in die Kunst und Literatur des Fin de siècle. In Kunst und Literatur hatte sich seit dem 19. Jahrhundert eine verhüllte und gelegentlich (Karl May) auch offene Idealisierung gezeigt. Vom Balkan ging eine Suggestion aus. Seit dem Ersten Weltkrieg und Werner Sombarts berühmtem Titel teilten die Konservativen die Nationen in die der Helden und die der Händler.17 Die Balkanvölker waren solche der Helden. Zur Ambivalenz gehört eine negative Seite. Der Umgang der Region mit Konflikt und Gewalt wurde als eine archaische Form der Vergesellschaftung abgewertet. Aber an diesem Rand Europas vollzog sich eine Form der Vergesellschaftung, die die Identität Europas betraf.
16 Vgl. den Ausstellungskatalog: Die Türken vor Wien. Europa und die Entscheidung an der Donau 1683. Wien (Museen der Stadt Wien) 1983. 17 Sombart, Werner: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München-Leipzig 1915.
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DIE POLITIK UND DAS POLITISCHE Eine Kulturgeschichte des Kriegs darf das Politische nicht außer Acht lassen. Für die Kriege seit dem späten 19. Jahrhundert, als eine öffentliche Meinung entstand und Gewicht bekam, ist es hilfreich, das Politische von der Politik zu trennen und die Politik der Militärgeschichte und das Politische der Mentalitätsgeschichte zuzuordnen. Wenn Macht und Herrschaft in den westlichen Zentren durch universale Werte begründet wurden, gab es im Balkan diesen Rekurs nicht. Ordnung war nicht durch transzendentale Prinzipien, die seit der Aufklärung in Westeuropa wirkten, begründet. Der Ort der Macht war in den westlichen Nationalstaaten demonstrativ besetzt, und sie inszenierte sich im urbanen Milieu der Hauptstädte öffentlich. Nach der Politik, die von Institutionen und Regierungen gemacht wird und auf objektivierte Quellen zurückgeführt werden kann, fragt die reduktionistische Militärgeschichte. Das Politische ist ein subtilerer aber auch unschärferer Begriff. Der zentrale Ort der Herrschaft war auf dem Balkan vakant. Dezentralisierung, spontane Konflikte, Partikularismus und Fortschrittsresistenz machten das Politische aus. Das kulturgeschichtliche Paradigma führt zu einem Verständnis des Politischen, das auf einer elementaren Ebene liegt und das eminent Politische des kollektiv Imaginären, des Wahrnehmens und Beurteilens reflektiert. In den Formen von Wahrnehmung und deren Bewertung – nicht in den strategischen Entscheidungen der militärischen Führung oder der Kriegspolitik der Regierung – konstituiert sich das Politische des Kriegs der Kulturgeschichte. Dieses Verständnis des Politischen nimmt den reduktionistischen Arbeiten über Innen- und Außenpolitik ebenso wie über die Psychologie des Kriegs viel von ihrer Überzeugungskraft. Die einen sprechen von Politik und ihren Institutionen, und die anderen bauen den Krieg in die Konzeption eines veränderungslosen Menschen ein, die sie, wie van Creveld schreibt, als eine ewige Achse verstehen, „um die sich die ganze menschliche Existenz dreht und das dem ganzen Dasein eine Bedeutung verleiht.“18 Hinter dieser verengten psychologischen Aufklärung über den Krieg versteckt sich eine Verklärung und Mystifizierung des Hegemonialen als Gewaltpolitik und anthropologische Konstante und damit ein Missverständnis des Politischen. Das anthropologische und psychologische Kriegsverständnis der Kulturgeschichte, die das Politische als einen beweglichen Prozess versteht, bezieht sich nicht auf Konstanten wie die aggressive Natur des Menschen oder seine auf die Urhorde zurückgeführte Gewaltsamkeit. Das Politische ist, wie der Diskurs in dem es entsteht, beweglich und wandelt sich. Es gibt keinen Raum für eine teleologische Geschichtskonzeption mit dem Telos einer Gesellschaft im ewigen Frieden. Nicht Hegels Konzeption des Staates und seines absoluten Vorrechts, sondern Herders Idee der Vielfalt lag der Konstruktion des Politischen zugrunde.19 Ethik und moralische Normen spielten keine wichtige Rolle. Ein „endemisches Misstrauen gegenüber dem Staat“20 war die Regel, der die 18 19 20
Creveld, Martin van: Die Zukunft des Krieges. München 1998, 318. Einen Überblick liefert Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. München 2002; auch ders.: Geschichte des Balkans. München 2004, 55–61. Todorova, Erfindung des Balkans, 224.
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unausgesprochene Überzeugung einer Permanenz des Konflikts entsprach. Konflikt, als Element der Lebenswelt, hielt den Balkan über Jahrhunderte in einer Balance. Das Regionale und Lokale sind das Übersichtliche für die Beteiligten, von außen aber gerade das Unübersichtliche und Verwirrende. Für die Konstruktion des Politischen dieser Region können sie kaum überschätzt werden. Sie sind die Grundlage für eine Freiheit, die nicht mit dem Freiheitsbergriff der Politik seit der Französischen Revolution übereinstimmt. DAS ANTAGONISTISCHE Als gesellschaftlichen Antagonismus bezeichne ich Streit. Den Balkan dieser Epoche kann man als einen mentalen Raum verstehen, in dem Streit in symbolische soziale Beziehungen eingebaut, zu Bindemitteln transformiert und nur gelegentlich auf gewaltsame Weise ausgetragen wurde.21 Kant verstand Antagonismus als den Hang der Menschen, „in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher die Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist.“22 Er betont das Produktive am Streit, der in die Natur gehöre und ihr dazu diene, alle Anlagen der Menschen zu entwickeln. Antagonismus sei, Schiller pflichtet bei, ein Mittel, aus der Natur die Differenz und mit ihr die Kultur entstehen zu lassen. Nicht immer ist die produktive Dimension des Antagonismus so klar betont worden, und im Marxismus wird seine Unlösbarkeit hervorgehoben, um ihn als das Gegenteil der Dialektik zu definieren. Der Begriff trifft die Formen der Vergesellschaftung auf dem Balkan. Er erhielt sich im Antagonistischen die Vielfalt. Im gesellschaftlichen Anti-System des Antagonismus wirkte nicht der aufklärerische Gedanke der Toleranz, die auf rational begründete wechselseitige Anerkennung gründet, sondern die Praxis unauflösbarer Konflikte schuf den Existenzraum für jeden. Der Position des Gegners wurde als je eigener legitimer Widerspruch der für die Entwicklung nötige physische und symbolische Raum zugestanden. Aber nicht jeder war gleichberechtigt an dieser Praxis beteiligt. Sie ermöglichte ein hohes Maß an Freiheit, aber keine Gleichheit. Der Balkandiskurs verband das Antagonistische mit einem Hauch von Nihilismus und übersetzte es aus der Archaik in die Moderne. Konflikte wurden nicht zweckrational auf ein Ende hin behandelt. Sie waren stets latent anwesend und erforderten beständige Neuansätze. Diese Praxis ermöglichte einen hohen Grad an Beteiligung aller. Die labile Ordnung ließ Handlungsräume un-determiniert und öffnete sie damit dem Bedürfnis nach affektiver Bindung. Sie stellte Autonomie ohne Überblick und zentrale Steuerung her. Das Anti-System der Balance der Antagonismen schuf Räume der Identifikation, sodass jeder irgendwie mitmischen konnte. Der Sultan war weit. 21 22
Said, Kurban: Ali und Nino. Berlin 2010 (zuerst Wien-Leipzig 1937). Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Immanuel Kant. Werke in 10 Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 9, Erster Teil. Wiesbaden 1983, 37 (AA, 392).
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Die dezentrale und multipolare Ordnung mit hoher Partizipation war nur an der Peripherie Europas möglich. Sie gab die Freiheit zum Sozialexperiment und war aus der Sicht der Zentren die reine Ordnungslosigkeit. Sie wurde in den Mythen, die sich der Balkan von sich selbst erzählte und die im Westen wenige Außenseiter über den Balkan erzählten, bestätigt und bewertet. Antagonismen werden nicht in Konsensstrukturen von Demokratien überwunden, sondern fordern ein Miteinander der Widersprüche ohne die Hoffnung auf Ausgleich. Sie sind mit dem Hegemonialdenken repräsentativer Demokratie und dauerhaften politischen Institutionen nicht vereinbar. Wenn man für Politik und Gesellschaft die „Untilgbarkeit des Antagonismus“ postuliert, zugleich aber die Idealisierung von Feindschaft und Gewalt, symptomatisch für anti-demokratische Theoretiker wie Carl Schmitt und seine zahlreichen, meist versteckten Nachfolger, vermeiden will, muss man die „Möglichkeit eines demokratischen Pluralismus“ annehmen.23 Mouffe führt die hilfreiche Unterscheidung von gesellschaftlichem Antagonismus und einer „agonistischen“ Gesellschaftsverfassung ein.24 Auf agonistischen Foren können die gesellschaftlichen Antagonismen verhandelt werden. Durch diese Doppelbestimmung öffnete sich das Politische des Balkans für die Idee der pluralistischen Gesellschaft. Die Balance der Antagonismen entstand in der gelebten politischen und gesellschaftlichen Praxis. Sie war ohne transzendentale Grundlegung und hatte keinen Bezug zu universalen Prinzipien. Das Gleichgewicht lässt sich mit Herders Begriff der Kultur beschreiben und mit einer Formel aus der Scholastik (die in der neuen Physik auflebte) als „contraria sunt complementa“ bezeichnen: Gegensätze gehören zusammen und ergänzen sich und zwar, das ist das Wichtige an der Formel: ohne aufgelöst zu werden. Ein Modus vivendi hatte sich auf dem Balkan entwickelt, um mit Antagonismen zu leben, ohne das Beziehungsnetz der Völker und Religionen ernsthaft zu gefährden. Damit die Antagonismen im Gleichgewicht bleiben können, ist ein lokaler Grundkonsens erfordert. Das Recht der anderen auf Dissens anzuerkennen, setzt Gemeinsamkeiten und das Interesse am Erhalten der Balance voraus. Obwohl oder gerade weil sie in einem beständigen latenten Konflikt leben, nehmen sie sich und die anderen, nehmen die Christen die Moslems und die Moslems die Juden als Teile einer gemeinsamen Lebenswelt wahr. Sinti gehörten oft nicht in das Beziehungsnetz. Gewaltsame Ausbrüche der Konflikte waren so lange unwahrscheinlich, wie die Lebenswelt Kanäle für die Äußerungen von Dissens bereithielt. Wurden sie blockiert, führte Dissens zu Gewaltausbrüchen und die Caféhäuser blieben leer. Die Balance der Antagonismen konnte jederzeit aus der Balance geraten, und das empfand das rationalistische Europa als Gefährdung. Über diese Angst war die Peripherie mit den Zentren verbunden. Das labile Gleichgewicht, das ohne transzendentales Subjekt sich durchwurstelte, erschien aus der Sicht der europäischen Zentren als gefährlicher Mangel. Die seit dem späten 19. Jahrhundert verbreitete 23 24
Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, 28; vgl. auch Mouffe, Chantal: The Democratic Paradox. London 2000. Mouffe, Chantal: Über das Politische. Frankfurt a. M. 2006, 10, 69–70.
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Rede vom Balkan als dem „Pulverfass Europas“25 hatte hier ihren Ursprung. Die Intention ist offensichtlich. Der Balkan war in diesen Kollektivvorstellungen eine geographische Region der Gefahr, Korruption, Stammesfehden, und des politischen Chaos, eine Region, in der sich die Vernunft, seit dem 18. Jahrhundert das einigende Ideal der europäischen Zivilisation, nicht durchgesetzt, sondern die sich durch Un-Vernunft etwas explosiv Wildes bewahrt hatte. Nur eine Minorität nahm die Vielfalt und Balance der Antagonismen als etwas Positives wahr, ein Aufstand des Unbewussten gegen die Vernunft des Über-Ichs. Wie jeder Aufstand war auch dieser von Lust begleitet. Das gilt es neu zu bewerten. Die Innenperspektive und die Skepsis am Modernisierungsideal sind dafür hilfreich. Für gegenwärtige Theorien, die das Politische als die Sphäre der Antagonismen zu rehabilitieren versuchen, kann der Balkan ein ideales Beobachtungsfeld bilden. KRIEG GEGEN DAS ANTAGONISTISCHE Denken wir an den Ersten Weltkrieg und seine Folgen, können wir davon ausgehen, dass er gegen diese kulturelle Verfasstheit des Balkans gerichtet war. Der Blick auf diese Front zeigt nicht nur ein regionales Ereignis, sondern den Sieg des Zentrums, seiner Ordnungsstrukturen und Mentalität, die das Antagonistische nicht zuließ. Der Krieg auf dem Balkan wurde nicht nur gegen Serbien, Russland und seine Verbündeten geführt, sondern gegen die Region als Lebensform, als geistiger Raum, gegen das Balkanische am Balkan. Dort fand ein Krieg im Namen der nationalen Ordnung, Zentralisierung und Übersichtlichkeit der Lebensverhältnisse statt, für eine Politik, die das Prinzip des Widerspruchs aus dem Politischen auszutreiben suchte und sich weigerte, die balkanischen Verhältnisse der gelebten Widersprüche als legitim für das Politische anzuerkennen. Die Befreiung der kleinen oder, wie sie aus der hegemonialen Perspektive der Zentren oft genannt wurden, der geschichtslosen Völker folgte dem Ideal der Selbstbestimmung durch Nationenbildung. „Keine Parole des frühen 20. Jahrhunderts hat für mehr Enthusiasmus und Hoffnung – aber auch Konfusion – gesorgt als die der ‚nationalen Selbstbestimmung‘.“26 Die Neuordnung des Balkans nach 1918 auf der Grundlage von Egalität durch das Recht der „kleinen Völker“ trug dazu bei, den Verlust, von dem ich spreche, und damit die europäische Dimension des Endes vom Balkan, wie er Jahrhunderte bestanden hatte, zu verdecken.
25
26
Herm, Gerhard: Der Balkan. Das Pulverfass Europas. Düsseldorf-Wien-New York-Moskau 1993. – Veichtlbauer, Judith: Das innere Ausland. Der Balkan als Hinterhof Europas. In: Pulverfass Balkan. Mythos oder Realität. Internationales Symposium Rousse, Oktober 1998. Hg. v. Penka Angelova/Judith Veichtlbauer, Bd.3 (Schriftenreihe der Elias Canetti Gesellschaft). St Ingbert 2001, 125–150. Den Ursprung der Bezeichnung konnte ich nicht ermitteln. Osterhammel, Jürgen: Staat und Nation nach dem Ersten Weltkrieg. In: Der Weltkrieg 1914– 1918. Ereignis und Erinnerung. Hg. v. Rainer Rother. Berlin 2004, 82–89, hier 82.
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Die Entente, nicht anders als Deutschland, ging gegenüber dem Balkan von der Vorstellung aus, dass ihre Perspektive auf das Gesellschaftliche und Politische mit der der Menschheit zusammenfalle. Dieser Universalismus rechtfertigte die Position in den Pariser Vorortverträgen. Sie fand unter den Politikern des Balkans (und Ost-Mittel-Europas) Verbündete, die diese Position übernommen hatten. Mit der nationalstaatlichen Entwicklung war das Ende des Balkans, das als Folge des Ersten Weltkriegs (nach einer Vorgeschichte im späten 19. Jahrhundert) einsetzte, einen entscheidenden Schritt näher gerückt. Der Abbau der Konfliktkultur war vom guten Willen der Aufklärungsphilosophie getragen. Konflikt und Gewalt des Balkans wurden als Rest einer archaischen Welt verachtet. Der Balkan bildete nicht nur einen Rand und Übergang zu einer anderen und als ordnungslos empfundenen Welt, sondern war der Feind der Moderne. Diese Anti-Ordnung galt es zu eliminieren, um durch das Verdrängen des Osmanischen das ganze Europa in die Moderne zu katapultieren. Europäische Raumkonzepte wurden in den Raum ohne feste Grenzen getragen. Der territoriale Flächenstaat entsprach den Idealen des westlichen Europas. Seine Ordnung sollte den Südosten für die Interessen der großen Politik, etwa für Bündnissysteme, zubereiten. Aber er war für den Balkan unpassend und widersprach den Vorstellungen, die die Balkanbewohner von sich und ihrem Lebensraum hatten. Mit ihrer Tradition war diese Ordnung nicht zu verbinden und die Nationalstaaten zerstörten sie. Die konservativen Raumkonzeptionen in Deutschland (Friedrich Ratzel) gingen von einem andauernden Kampf um den Raum aus. Davon unterschieden sich die Konzeptionen der Entente nur unwesentlich. Sie setzten sich 1918 durch. Diese Verwestlichung basierte auf einer Prämisse, die die Funktion von Konflikten verkannte. Ihr lag die Fehleinschätzung zugrunde, die durch Identifikation mit Kleingruppen mobilisierte affektive Bindung gering zu achten und der Erwartung der Aufklärung zu vertrauen, die „vermeintlich archaischen Leidenschaften müssten mit dem Erstarken des Individualismus und dem Fortschritt der Rationalität verschwinden.“27 Die Verwestlichung hat ihr Ziel nicht erreicht, sondern das Gegenteil der Befriedung erzielt: Hass und Gewalt im großen Maßstab, Verschärfung der Konflikte in eine Größenordnung, die in der Konstruktion der Region vor 1918 gar nicht möglich war. Sobald das osmanische Erbe verloren ging, setzte das Ende der Balance der Antagonismen ein. Das eine Ende der Brücke war weggebrochen. Die Modernisierung des Balkans durch Segregation, durch die Ordnung der Nationalstaaten und Verdrängung des gesellschaftlichen Prinzips Antagonismus verkannte die Bedeutung von Konflikten für das Politische und das gesellschaftliche Leben und schuf die Voraussetzungen für eine Verschärfung der kriegerischen Konflikte. Die Opposition von richtig und falsch lag nach dem Ersten Weltkrieg dem Bewertungsmaßstab zugrunde. Die militärischen und politischen Sieger waren überzeugt zu wissen, welche Ordnung allen anderen denkbaren Ordnungen überlegen sei: die ihre aus der Kombination von Aufklärung und Technologie. Die unklare 27
Mouffe, Über das Politische, 12.
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Die Erstürmung von Nisch durch die Bulgaren. Illustration von Ernst Zimmer. Kalender des Siebenbürger Volksfreundes für das Jahr 1917, Seite 168. Bibliothek des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa), Stuttgart
Ordnung der Fehden und regionalen Konflikte und des Antagonismus als zivile Ordnung gehörten demnach in die abgelebte Welt von gestern. In der Periode der Internationalisierung, für die der Weltkrieg ein Symptom bildete, könne das vom 18. Jahrhundert gedachte Projekt einer kosmopolitischen Kultur verwirklicht werden. Die Erwartungen der Kriegssoziologen des späten 19. Jahrhunderts, Herbert Spencer, Auguste Comte, konnten nun verwirklicht werden: Gesellschaftliche Gewalt und immanente Widersprüche würden durch pragmatisch verstandenes Eigeninteresse bewältigt und der Krieg absterben.28 Damit war das Modell Balkan verabschiedet. Die Wellen der nationalen Begeisterung schlugen nach 1918 hoch, und so war die Zeit für eine skeptisch-realistische Einschätzung der politischen Zukunft der Region sehr ungünstig. Nur in den Staaten, die sich durch die neue territoriale Ordnung benachteiligt fühlten, rebellierte es gegen die Neuordnung. Die Neuordnung des Balkans durch die Politik ließ übersehen, dass dort, an der Peripherie, etwas anderes auf dem Spiel stand als die Zukunft dieser kleinen Region oder der militärische Sieg einer Hegemonialmacht, nämlich eine andere Seite des Projekts Europa, die ich die Balance der Antagonismen nenne: eine gesellschaftliche Ordnung der Gleichzeitigkeit von Widersprüchen, die nicht auszugleichen sind 28 Militär, Krieg, Gesellschaft. Texte zur Militärsoziologie. Hg. v. Günther Wachtler. Frankfurt a. M. 1983.
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und die Stelle von demokratischen Ausgleichsprozessen und einer abstrakten Politik des Konsensus in den Zentralmächten einnehmen. Das Anti-System der Antagonismen war nicht der Atavismus einer archaischen Vergangenheit, die endlich durch die Ideale der Aufklärung ersetzt wurde. Die Politik der Fortschrittsideologie verhinderte aber, die Folgen für das Politische der Gesellschaften angemessen zu beurteilen. Das Ziel der Pariser Friedensverhandlungen, eine Ordnung einzuführen, die zur Befriedung führen würde, wurde nicht erreicht. Bedeutender ist, was die spätere Perspektive sichtbar macht: dass das Programm der eigenen Idee von Ausgleich und Versöhnung folgte, die Verhältnisse auf dem Balkan verfehlte und der Region eine ungeeignete Ordnung überstülpte. Der Glaube an die Richtigkeit der neuen politisch-nationalen Ordnung hinderte die Beobachter daran, die für die Zukunft wichtigen Beobachtungen in der Region zu machen. DIE NEUORDNUNG SCHEITERT Die Geschichte dieser Region wurde durch den Nationalismus und endgültig durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Durch die Bildung von Nationalstaaten wurden, meint Wagner, die vielfältigen Beziehungen zwischen Ethnien und Kulturen gekappt. Der Balkan entstand neu aus der Zerfallsmasse der Vorkriegsordnung. Die Neuordnung des Balkans brachte das Ende der mixed civilizations und eine „Entorientalisierung“ und „Entosmanisierung“. Das osmanische Erbe sei mit der Nationenbildung abgerissen, schreibt Todorova. Sie erläutert die „Entosmanisierung“ als einen Prozess, um den Gegensätzen zu entkommen, das Osmanisch- (oder Orientalisch-) Sein zu überwinden und auf eine stetige Verwestlichung oder Modernisierung der Gesellschaft hinzustreben. Dies sollte eine neue Art der Beziehungen schaffen, die für das Öffentliche wie das private Leben gelten sollte, um Verwestlichung „sowohl in die Familie als auch in die Gesellschaft hineinzubringen, gestützt auf Individualität und Rationalität, eine völlig andere Stellung der Frau, eine revidierte Rolle für Kinder und die Kindererziehung, eine neue Arbeitsethik.“29 Die Entosmanisierung war „im Ganzen gegen Ende des Ersten Welt kriegs vollendet.“30 Den Krieg 1914–18 könnte man dann als Katastrophe des Balkans bezeichnen. Todorova meint: „Die Schaffung von autonomen und unabhängigen Balkanstaaten war nicht nur ein Bruch, sondern auch eine Ablehnung der politischen Vergangenheit.“31 Die Mischung aus Vielfalt und Konflikt fiel einer Europäisierung zum Opfer, und der Begriff Balkan sei nicht nur „in seiner europäischen Außenrezeption negativ besetzt. Auch in den Ländern, die mit ihm zu tun haben, freut man sich recht selten über den Standort und seine Konnotationen: Unterentwicklung, Chaos, Korruption, Stagnation.“32 29 30 31 32
Todorova, Die Erfindung des Balkans, 256. Ebd., 257. Ebd., 242. Wagner, Der leere Himmel, 28.
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Es spricht einiges dafür, die brutalen Kriege der Region im späteren 20. Jahrhundert als eine Implikation der nationalistischen Modernisierung des Balkans zu verstehen. In einer vernichtenden Kritik des Nationalismus vertritt Mario Vargas Llosa diese These. Er versteht die Kriege im zerfallenen Jugoslawien als Folge des Nationalismus und nicht aus der Kontinuität einer erblichen Balkanmentalität.33 Sollte es zutreffen, dass katastrophale Konflikte aufbrechen, sobald die Kanäle fehlen, „über die sie in agonistischer Form‘“ ausgetragen werden können, und der Gegner dann „als zu vernichtender Feind wahrgenommen“ wird,34 wären die Grausamkeiten der Konflikte im 20. Jahrhundert nicht als Kontinuität zu verstehen. Die grausamen Kämpfe im zerfallenden Jugoslawien am Ende des 20. Jahrhunderts wären symptomatisch für die Folgen der Entosmanisierung. Wenn man die jüngsten Kriege als die Folge der Nationenbildung nach dem Ersten Weltkrieg versteht, stehen sie nicht in der Traditionslinie von Pulverfass und Brücke, sondern sind die Folgen einer Diskontinuität, die der Region an der Peripherie im 20. Jahrhundert durch die politischen Folgen des Weltkriegs von den politischen Hegemonialmächten aufgezwungen wurde. Ein alternatives Modell des Politischen, in dem ethnische, religiöse und mentale Konflikte als konstitutiv verstanden werden, wurde nach 1991 ebensowenig gedacht wie nach 1918. Im anhaltenden Glauben an die politische Theorie des Ausgleichs, der idealen Kommunikation und der Richtigkeit des nationalstaatlichen Ordnungsprinzips gilt die Balance der Antagonismen noch immer als archaisches Prinzip. Antagonismen stellten eine Aufgabe, die von Politik und Diplomatie und notfalls durch das Militär gelöst werden könne. Dass die Ideale der Moderation und des Ausgleichs, die dem Frieden von Trianon zugrunde lagen, sich 70 Jahre nach der Befreiung der kleinen Völker noch immer nicht durchgesetzt hatten, machte die Hegemonialmächte hilflos gegenüber diesem Ausbruch an Gewalt. Sie sahen im Modell des Nationalstaats keine Fehleinschätzung, sondern hielten an der Vernunftidee der Politik fest. Darin lässt sich ein Grund dafür vermuten, dass die europäischen Mächte nach 1989 so schlecht auf die im früheren Jugoslawien ausbrechenden Konflikte vorbereitet waren. EINE DRITTE FRONT Zurück zur Ausgangsfrage. Die Balkanfront wird unter die Ostfront subsumiert. Das ist militärgeschichtlich gerechtfertigt, nicht aber für die Kulturgeschichte. Der Krieg im Südosten Europas muss von der Ostfront unterschieden werden. Er bildete eine dritte Front, die sich von der West- und der Ostfront unterschied. Auf dem Balkan wurde weder die eindeutige Konfrontation der westlichen technologischen Schlachtfelder noch der Zivilisations-Schock erlebt. Wenn der Krieg dort traumatisch wirkte, dann aus einem anderen Grund. Es ist Zeit, das Besondere der dritten Front herauszuarbeiten. Die Beschäftigung mit ihr ist gerechtfertigt, gerade weil dieser Krieg nicht in dem Sinn modern war wie die Westfront und weil er 33 34
Vargas Llosa, Mario: Nationalismus als neue Bedrohung. Frankfurt 2000, bes. 8–9. Mouffe, Über das Politische, 12.
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sich nicht unter die Katastrophe der westeuropäischen „Wertegemeinschaft“ – wie es in der gegenwärtigen verschleiernden Terminologie heißt – subsumieren lässt. Die Intention, die vergessene Ostfront dem Vergessen zu entreißen, geht mit dem Verblassen des Werturteils, für das Kennans Satz symptomatisch ist, einher. Sie zeugt vom Zerfall der verbindenden Klammer der Jahrhunderterzählung über Fortschritt und Zivilisation und des Paradigmas Bedeutung Europas für die Welt. Die Katastrophenrhetorik verlor ihre Überzeugungskraft. Das Ende der europäischen Hegemonie und des Universalismusanspruchs wird nicht mehr als Katastrophe empfunden. Lässt sich vom Balkan lernen? KRIEG GEGEN EINEN INNEREN FEIND Der Erste Weltkrieg wird als der erste Krieg genannt, in dem die Trennung zwischen Kombattanten und Zivilisten verwischt und die Zivilbevölkerung in das Kriegsgeschehen einbezogen wurde. Das war die Zivilbevölkerung des Feindes. Auf dem Balkan gab es aber einen Krieg, der gegen die eigene Bevölkerung geführt wurde. In die Front zum Feind schob sich eine andere Front: Ein Feind wurde in den eigenen Reihen entdeckt. Dem wurde zwar der Krieg nicht erklärt, aber er wurde mit einer Gewalt behandelt, die den Krieg gegen den äußeren Feind im Inneren fortsetzte. Von dieser Front berichten autochthone Beobachter des Kriegs, zum Beispiel Miroslav Krležas deprimierende Erzählungen in Der kroatische Gott Mars.35 Das Balkanische des Balkans wurde auf der anderen Seite einer inneren Front geortet. Innerhalb des militärischen Kampfes wurde ein Krieg gegen eine mentale Einstellung zu Konflikt und Streit gefochten. Der Krieg gegen Haltungen, Einstellungen und Ideen wurde gegen deren Vertreter geführt. Sie, die Menschen, die nach den Prinzipien des Balkans lebten, mussten bekriegt werden. Ein Beobachter, der nicht zum Balkan gehörte, sondern in das Machtzentrum Wien, und der dennoch dieses innere Schlachtfeld Balkan mit Aufmerksamkeit beobachtete und Empathie mit den Opfern zeigte, war Karl Kraus. Die letzten Tage der Menschheit entwerfen ein Panorama des Kriegs, in dem die klare Ordnung, die Krieg herstellt, indem er die Welt in Freund und Feind aufteilt, aufgelöst wird und kriegerische Gewalt sich auch nach innen richtet. Auf dem Balkan wurde ein innerer Krieg geführt, ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Diese andere Seite des unordentlichen Durcheinanders zeigen die grauenhaften Fotos der lachenden Henker, die schon Karl Kraus‘ Empörung und Verachtung auslösten und die es schwer machen, Anton Holzers Fotosammlung zu betrachten.36 Fotos, Tausende Fotos der Amateure und der offiziellen Kriegsfotografen vermitteln die drastische Anschauung von dieser inneren Front. Holzer hat viele ausgegraben und stellt sie als Dokumente eines tödlichen Terrors in den Zusammenhang 35 36
Krleža, Miroslav: Der Tod des Franjo Kadaver. In: Ders.: Der kroatische Gott Mars: Kriegsnovellen. Klagenfurt 2009 (zuerst 1922, erweitert 1933); die Erzählung hat einen biographischen Hintergrund in Erfahrungen im Militärhospital 1916. Holzer, Anton: Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918. Darmstadt 2008.
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eines erbarmungslosen Kriegs gegen die Zivilbevölkerung. Diese innere Front war nicht mit dem Balkan identisch, sondern sehr viel weiter. Holzers Sammlung umfasst auch Fotos von der Front gegen Italien und der nördlichen Front in Galizien und der Ukraine. Dennoch: Die ethnischen, religiösen und politischen Verhältnisse auf dem Balkan waren so gebaut oder wurden auf eine Weise wahrgenommen, dass sie wie nirgendwo sonst die Grundlage für einen Krieg schufen, der gegen einen als andersartig definierten Feind im Inneren geführt wurde. Jeder nicht-deutsche Bewohner dieser Region war verdächtig, konnte zum Feind erklärt, verfolgt und ebenso straflos wie ein feindlicher Soldat getötet werden – mit der demonstrativen Zustimmung des autoritätsgläubigen Plebs. Fotos zeigen spektakuläre und oft für die Kameras inszenierte Brutalitäten des Gesindels, des Lumpenproletariats, das als willfährige Handlanger der Macht handelte. Der Plebs reißt sich stets darum, als Vollstrecker der Macht handeln zu dürfen. Aber die Motivation für diesen Krieg nach innen lag tiefer. Er wurde um Grundsätzliches geführt. Er betraf das Eigenbild, mit dem sich die Beteiligten desto heftiger identifizierten, je mehr sie spürten, dass sie selbst nur geduldet waren und stets in der Gefahr schwebten, aus dem Bild hinauszufallen. Das Grinsen der Henker spricht von der Genugtuung, in einer zweigeteilten Welt auf der richtigen Seite zu stehen und den Störern aus den eigenen Reihen die verdiente Lektion erteilt zu haben. Die Opfer waren Zivilisten. Sie kamen nicht während der Kriegshandlungen ums Leben, sondern wurden hinter der Frontlinie Opfer von willkürlichen Übergriffen des Militärs. […] Wie viele Opfer dieser Krieg, der sich im Schatten des ‚großen Kriegs‘ abspielte, forderte, ist bis heute nicht bekannt. Schätzungen sprechen von 11400 bis 36000 Zivilisten, die allein in den ersten Kriegsmonaten am Galgen hingerichtet wurden.37
LITERATUR UND KULTURGESCHICHTE DES KRIEGS War dieser Krieg in der Militärgeschichte marginal, so setzte sich die Geringschätzung in der Kulturgeschichte ungerechtfertigt fort.38 Nach einer Geschichte des Ersten Weltkriegs auf dem Balkan in der Literatur und den Medien sucht man vergebens. Es gibt sie nicht. Eine Literaturgeschichte des Ersten Weltkriegs ist in derselben Weise vergessen, wie die Ostfront des Ersten Weltkriegs, oder ist es an der Zeit zu sagen: war? Wenn die militärische Ostfront vor wenigen Jahren für die his-
37 38
Holzer, Das Lächeln, 18–19. Zum wilden Krieg (im Unterschied zum rauen Krieg der durch Technologie ausgelösten Grausamkeit der Westfront) gibt es verstreute Andeutungen, vgl. etwa Geyer, Michael: Gewalt und Gewalterfahrung im 20. Jahrhundert. Der Erste Weltkrieg. In: Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Hg. v. Rolf Spilker/Bernd Ulrich. Bramsche 1988, 241– 257. Einige Gründe für die Abwesenheit des Kriegs im Osten nennt: Holzer, Anton: Den Krieg sehen. Zur Bildgeschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs. In: Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie. Hg. v. Anton Holzer. Marburg 2003, 57–70, hier 63–65.
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torische Forschung entdeckt wurde, ist es an der Zeit, das Bild zu vervollständigen und den Kriegsdiskurs aus dem Vergessen zu befreien.39 Der Balkankrieg muss aus dem Rahmen der Erinnerung an die existenzielle Konfrontation, in der die Gegner an der Westfront befangen waren, befreit werden. Die scheinbar einfache Frage: „Wer, teurer Mehmed Haidar, ist der äußere Feind?“ war nicht zu beantworten, nicht nur weil der Gefragte in diesem fiktiven Dialog intellektuell beschränkt ist,40 sondern weil es den äußeren Feind an dieser dritten Front im strengen Sinn der Westfront nicht gab. Es konnten die Deutschen und Österreicher, Türken, Perser, Russen sein und auch ein Feind im Inneren. Löst man den Krieg auf dem Balkan aus dem Freund-Feind-Denken, gewinnt er eine eigene Bedeutung für das Verhältnis von Krieg und Gesellschaft. In der Analyse der Kriegsdiskurse wird das Erkenntnisinteresse einer Kulturgeschichte dieses Kriegs tätig. Ich will drei Fragenkomplexe formulieren, die für eine Geschichte des Kriegs aus einer Balkan-Mentalität grundlegend sind. (a) Gibt es eine autochthone Erinnerung an den Krieg auf dem Balkan? Und wenn ja: Wer waren oder sind die Subjekte dieser Erinnerung und auf welche Weise wird er erinnert? (b) Gibt es in der dominanten Erinnerungskultur Europas Spuren dieses Kriegs und die Vorkriegszeit? (c) Wenn wir heute, nach einem weiteren Weltkrieg, nach der Befreiung von kommunistischen Regierungen und vier brutalen Kriegen der jüngsten Vergangenheit im früheren Jugoslawien nach dem Krieg von 1914–1918 fragen: Aus welcher Perspektive blicken wir auf ihn und wie ist heute das Verhältnis von westeuropäischer zur autochthonen Erinnerung zu bestimmen? Daraus folgend: Sehen wir einen Zusammenhang zwischen der vom Ersten Weltkrieg unterbrochenen Kulturgeschichte des Balkans und der Gegenwart? Um den Ersten Weltkrieg auf dem Balkan und seine Literatur zu verstehen, benötigen wir einen Bezugsrahmen, aus dem sich Fragen ableiten lassen, die einen Zugang zu einzelnen Werken bahnen, aus dem die Lektüre Sinn produzieren kann. Wir müssen wissen, wovon wir sprechen wollen, bevor wir beginnen können zu sprechen. Ich komme noch einmal auf Kennan zurück, auf einen anderen Text, der jedoch von demselben Kontinuitätsdenken getragen ist wie seine Katastrophenthese. Er spricht aus Anlass der jüngsten Kriege auf dem Balkan von der Gewaltbereitschaft der Gegend und sieht die Ursache in einem aggressiven Nationalismus, und der gehe auf „tiefere, ererbte Charakterzüge, vermutlich aus ferner Stammesvergangenheit, zurück […], und so ist es auch heute noch.“ Kennan beklagt, dass auf diese Weise der Keil einer nicht-europäischen Kultur sich in den Südosten Europas gedrängt habe, der bis in die Gegenwart seine un-europäischen Eigenschaften be-
39 Auf die Literatur zum Krieg in Russland konzentriert sich: Horn, Eva: Im Osten nichts Neues. Deutsche Literatur und die Ostfront des Ersten Weltkriegs. In: Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis – Wirkung – Nachwirkung. Hg. v. Gerhard Gross. München 2005, 217– 230; Mick, Christoph: Der vergessene Krieg. Die schwierige Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Osteuropa. In: Der Weltkrieg 1914–1918. Ereignis und Erinnerung. Hg. v. Rainer Rother. Berlin 2004, 74–81. 40 Said, Ali und Nino, 78.
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wahre und als Störung wirke.41 Mir scheint: das Gegenteil trifft zu. Sollte es den Keil gegeben haben, so sollte ihm unsere besondere Aufmerksamkeit gelten. Was rechtfertigt es, ihn mit nicht-europäischer Kultur zu assoziieren? Bei allen nicht zu bestreitenden Ähnlichkeiten der kriegerischen Gewalt auf dem Balkan und einem unübersehbaren un-englischen Temperament der Menschen, auf das Stammesvergangenheit wohl anspielt, lassen sich die neueren Kriege – soweit Krieg überhaupt zu verstehen ist – nur unter der Annahme von Diskontinuität verstehen. Eine ungebrochene Linie, die von Stammesfehden oder auch nur von den Balkankriegen 1912/13 bis 1991 führt, zu konstruieren und den Ersten Weltkrieg in sie einzubauen, ist die Folge einer vorurteilsgeladenen Perspektive. ERINNERUNGEN AUS DER AUSSENPERSPEKTIVE Lesen wir die Tagebücher, Briefe, Berichte deutscher und österreichischer Soldaten und Offiziere und die Romane und anderen Veröffentlichungen des Westens oder lesen wir die Texte der autochthonen Autoren und Kriegsteilnehmer, der Bulgaren, Kroaten, Mazedonier, Rumänen, Serben? Das macht einen grundlegenden Unterschied. Es ist nicht so, dass sich diese Quellen gegenseitig ergänzen würden. Wir müssen, im Gegenteil, davon ausgehen, dass in ihnen unterschiedliche Kriege entstehen. Die Unterschiede sind konstitutiv und unterscheiden die Erinnerung des Balkankriegs grundsätzlich von der an die Westfront. Ich füge hinzu, dass diese Opposition notwendig aber zugleich künstlich ist und nicht aufrechterhalten werden kann. Denn die autochthone Perspektive ist stets durch die des Zentrums beeinflusst. Die wilden Freiheitskämpfer des Balkans hatten nur zu oft in Paris oder Berlin studiert und die Ideen Voltaires oder Herders in den Kaukasus mitgebracht, wo sie dann von Reisenden aus Paris oder Berlin als typisch balkanisch entdeckt wurden. Diese Verschmelzungen setzten sich in den Ersten Weltkrieg hinein fort. Auf dem Balkan endete Europa und der Orient begann: Er war eine Region des Fremden, und dies Fremde war mit Phantasiebildern besetzt. Wie sah dieses Konstrukt des Orients in der Region des Übergangs von Europa nach Asien in Zeiten des Kriegs aus? Aus Texten der deutsch-österreichischen Kriegsteilnehmer spricht eine Fremdheit, ein Staunen über die Länder und Menschen, die sie in Südosteuropa kennenlernen. Den Balkan erfuhren sie als ein Durcheinander, das Spannungen auslöst, und eine Bereitschaft zur Gewalt, verbunden mit einem Mangel an Zentralisierung und staatlicher Kontrolle des Gewaltpotentials, was ich als Prinzip des Antagonistischen beschrieben habe. Texte der Dritte-Person-Perspektive lassen das Gespür dafür vermissen. Angesichts der Ansichten des Anderen, das in keine der vertrauten Kategorien des Politischen eingefügt werden konnte, stellten die westlichen Kriegsteilnehmer nicht die mitgebrachten Ordnungsschemata in Frage, sondern immunisierten sich vor der Einsicht, dass ihre Beobachtungen sich ihren 41
The Other Balkan Wars. A 1913 Carnegie Endowment Inquiry in Retrospect with a New Introduction and Reflections on the Present Conflict by George F. Kennan. Hg. v. Carnegie Endowment for International Peace. Washington 1993, 4, 6, 11.
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Erklärungsmustern nicht nur entzogen, sondern sie in Frage stellten. Sie ließen die Einsicht nicht zu, dass diese Wirklichkeit legitim sein könnte und verklärten sie ins Phantastische oder erklärten sie als Pathologie. Auf einer Tagung in Potsdam entwickelte ein Referat das deutsche Bulgarienbild der Kriegsjahre.42 Oliver Stein stellte auf der Grundlage von Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen deutscher Offiziere deren Wahrnehmungen des bulgarischen Bundesgenossen im Ersten Weltkrieg vor und fragte nach dem Wissen und den Erwartungen der deutschen Offiziere vor dem ersten Kontakt sowie dem Erfahrungswandel im Laufe der Beteiligung am Krieg. Die kulturellen Prägungen und die in Deutschland geformten Erwartungen und Wahrnehmungsmuster ebenso wie die individuellen Biographien blieben für das Bild Bulgariens und der Bulgaren bestimmend. Gundula Gahlen referierte über die Erfahrungen deutscher Kriegsteilnehmer in Rumänien. Sie empfanden Siebenbürgen 1916 als „Kulturschock“, und auf die einheimische Bevölkerung reagierten sie mit einem Überlegenheitsgefühl, das sie mitbrachten und nicht überwanden. Sie drangen in einen unbekannten Raum vor und sprachen von ihm in einer an der Westfront undenkbaren Bewertung. Zahlreiche Dokumente zeigen, wie westliche Städter in Uniform diesen Raum zu einem ursprünglichen von Natur und Menschen machten. Für diese Kriegsteilnehmer hatte der Krieg einen Zug des Abenteuertourismus. Immer wieder berichtet Leutnant Pepi, wie er fotografiert: Landschaften, Orte, Kirchen, und andere Sehenswürdigkeiten. Er bewundert Wald, riesige Bäume, Flüsse, Sumpfgegenden. „Die Uferschutzdämme besetzten wir sogleich. Am Tage darauf ging ich bis zum Flusse vor um alles Interessante zu fotografieren.“43 – „Ich machte im Innern einige Aufnahmen und ging dann nach Hause, wo ich mit Staunen sah, welche prachtvollen Fische unsere Leute im nahen Schlossteich gefangen hatten.“44 Nach einem Bad im Fluss: „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in einem fließenden Gewässer gebadet habe. Nie werde ich den schönen Anblick des breiten Flusses und die abgebrannten, noch rauchenden Reste der Brücke und der Uferfaschinen vergessen. Ich machte ebenfalls Aufnahmen.“45 Dem Exotischen der Landschaft korrespondierte im Blick von außen ein natürlicher Adel der Menschen, der jungen Frauen, deren Physiognomie Carossa einmal so beschreibt: Diese sind ein stattlicher Schlag mit leichtem, freiem, brüstestolzem Gang, gesunde Rundgesichter, vom Geist der Rasse schön beherrscht, so dass immer eins das andere bestätigt. Man denkt zuerst an Italien; aber es ist noch etwas anderes darin, etwas tierhaft Geschmeidiges, dazu etwas Verschlossenes, nach innen Horchendes, wilder alter Adel, der nach Asien weist. Die unechten städtischen Kostüme, die wir noch gestern sahen, sind verschwunden; die Weiber scheinen hier nur am Leibe zu tragen, was sie selber hergestellt haben, statt eines Rockes ein dunkles buntgestreiftes Tuch, das einfach übereinander geschlagen wird, so dass man beim 42 43 44 45
Vgl. Anmerkung 3. Klier, Walter: Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Das Tagebuch des Josef Prochaska. Innsbruck 2009, 309. Ebd., 311. Ebd., 304.
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Gehen die Beine sieht, die in engen weißwollenen Hosen stecken, um die Brust Pelzwesten, das Fell einwärts, das weiße, kunstreich bestickte Leder nach außen gewendet, schwarzes Kopftuch, spitze Schnabelschuhe. Wenn Truppen vorbeimarschieren, bleibt keine stehen, um zu gaffen, wie sonstwo Landleute tun; man spürt eine Gegend beginnen, wo die Menschen hart und sich selber genug sind und wo sich Schicksale schnell und klar erfüllen.46
Dies Staunen schlug leicht in die gegenteilige Bewertung um. Eine Wahrnehmung durch Stereotype war oft nicht von Staunen, sondern von Abstoßung und Paternalismus durchdrungen. Der Balkan wurde dann zu einem chaotischen und unreinen Raum. Abstoßung und Faszination berührten sich. Soldaten entdeckten eine Welt der Hingabe an den Augenblick und Naturschönheit oder von Armut, Schmutz und abergläubischer Rückständigkeit. Es blieb ein Raum der Fremde. Diese subjektiven Erlebnisse lassen sich aber auch als das lesen, was aus dem Eigenbild verbannt wurde. Das Untergründige des Selbst, die dunkle Unterseite eines Europas der modernen Zivilisation ballte sich in den Vorstellungen des Balkans zusammen. Das Obskure wurde nicht als eine andere Ordnung wahrgenommen, sondern als das Ideale entwirklicht oder, häufiger, als das Mangelhafte und Abnorme zurückgewiesen. Bezeichnend ist die Gegenüberstellung des Kriegs in Frankreich und auf dem Balkan. „Kein Wunder, dass man viel schläft und viel träumt in dem Winterwaldzwielicht [des Ostens]. Wehrt man sich dagegen, so wird es nur schlimmer. In Frankreich […] war aller Traum nur Träumerei; locker und sinnlos fand ich mich unter Frauen und Freunde verspielt; kein Traum wusste etwas vom andern.“47 An dieser Front lebte sich das Prinzip des Subalternen der Marginalität aus: Sie führte an einen Rand, nicht ohne die Gefahr des Absturzes und der Erniedrigung des alter ego oder gar von Hass. INNENPERSPEKTIVE Dem gegenüber berichten autochthone Quellen von einem anderen Balkan, wo die Mannigfaltigkeit gelebt wird. Wir lesen von einem anderen Krieg, einem der Opfer, die Solidarität zeigen, der Liebe zum Land und Dorf und den Frauen, von der Wärme der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Roman Ali und Nino spielt während des Ersten Weltkriegs in Georgien, Berg Karabach und der Stadt Baku, also ein wenig entfernt vom Balkan. In den Schilderungen des Romans wirkt diese Gegend wie eine Verlängerung des Balkans in den Norden und repräsentiert die Idee des Balkanischen. In dem Gemisch am Rand Europas stehen sich gegenüber: Muslime und Christen, Sunniten und Schiiten, Russland und die Türkei, Persien und die Ukraine, Fortschritt und Tradition: „Kann man ein guter Mohammedaner sein und (doch) auf Betten schlafen und mit Messer und Gabel essen?“48 Ja, ist die Antwort, man kann, denn in dieser Region kann man den Widerspruch leben, 46 47 48
Carossa, Hans: Rumänisches Tagebuch. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1. Frankfurt 1962, 454 und 466 (zuerst: Tagebuch im Kriege. Rumänisches Tagebuch, Leipzig 1943), 466. Ebd., 454. Said, Ali und Nino.
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die westliche Zivilisation praktizieren und zugleich in einer Ordnung jenseits des Westens leben. Krležas Geschichten berichten dagegen von harten, und anti-urbanen Männern, stumpfe Crétains, deren Dilemma durch die politischen Verhältnisse verschärft wird. Aber er zeichnet sie mit Empathie. Diese Soldaten kämpfen gegen ihren Willen, wie die Soldaten in anderen pazifistischen Texten, in einem sinnlosen Krieg, nicht anders als die Proletarier in Romanen von Barbusse, Arnold Zweig, Scharrer und anderer Autoren mit Anti-Kriegs Haltung und Neigung zum Sozialismus, aber hier verschärft durch eine eigene Dimension: die politische Sinnlosigkeit, die Soldaten empfinden, die auf der Seite der Mittelmächte kämpfen, aber zugleich die Niederlage Österreichs erhoffen. Dem entspricht eine Identifikation mit den Werten und dem technisch-zivilisatorischen Fortschritt des Westens durch die Bewohner des zurückgebliebenen Balkans. Vor allem die politisch links engagierten Autoren lassen sich von westeuropäischen Ideen der Emanzipation leiten. WARUM KRIEGSLITERATUR HEUTE? Das sind, denke ich, Grundfragen zum Thema Kriegsdiskurs und Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Südosteuropa. Die Komplexität darf nicht reduziert werden. Historische Neugier ist legitim. Wir wollen verstehen, was in diesem Krieg im Osten, der die Region einschließt, in der dieser Krieg ausgelöst wurde, geschah. Aber das bloße Interesse an den Ereignissen und ihren Erinnerungsbildern nach 1918 ist keine zureichende Begründung. Wir wollen nicht nach einem enzyklopädischen Wissen über den Krieg streben. Was also ließe sich als Begründung für eine zu schreibende Geschichte anführen? Aus diesen unordentlichen Erinnerungen wäre das unterdrückte Erbe eines anderen Umgangs mit Konflikten zu heben, eines Umgangs, der die Kraft hat, Widersprüche auszuhalten und statt auf Lösungen zu hoffen, das Nebeneinander von sich ausschließenden Positionen akzeptiert. In dem entfernten Krieg, „hinten“ und „unten“, wie es Goethe mit einem satirischen Seitenhieb auf die Philister im Zentrum ausdrückt, ging etwas von Europa verloren, ein Teil der Europäischen Identität, der sich seit dem ersten Sturm der Türken auf Wien in dieser Randregion entwickelt hatte. Der Erste Weltkrieg führte zum Ende des Modells Balance der Antagonismen. Die Gegenwart legt die Frage nahe, ob es unter der Neuordnung Europas 1919/20 endgültig begraben wurde. Die Auseinandersetzung mit dem Diskurs des unübersichtlichen „anderen Kriegs“ auf dem Balkan scheint mir die Legitimation dafür zu liefern, von einer dritten Front zu sprechen, die es wert ist, dem Vergessen entrissen zu werden. Neugier auf Vergangenheit mischt sich mit Problemen, die noch immer nicht gelöst sind. Er hilft, Fragen an uns selbst zu stellen und hat Erstaunliches anzubieten. Der Blick auf diesen Krieg zeigt nicht nur das Ende einer kleinen Welt der Peripherie, sondern enthüllt im Nachhinein, dass auch dort Europa sein Wesen trieb, bis an die
Eine dritte Front – der kulturelle Diskurs zum Ersten Weltkrieg auf dem Balkan
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Subalternität entstellt, sodass es Schwierigkeiten hat, sich wiederzuerkennen und das Positive wahrzunehmen. Das Projekt einer europäischen Literaturgeschichte des Kriegs ist bisher nicht in Angriff genommen worden.49 Es erfordert, die nationalen Perspektiven zu überwinden und stattdessen Fragen nach Europa im Krieg zu stellen. Für diesen transnationalen Rahmen einer Kulturgeschichte des Kriegs bietet die Konfliktordnung des Balkans eine zukunftweisende Frage. Es ist unsicher, ob in einer Welt, die voller neuer Probleme ist, diese 100 Jahre zurückliegenden Geschichten belebt werden können. Kann es gelingen, in dieser Vergangenheit ein Problem der Europäischen Konflikt- und Friedenstheorien der Gegenwart wahrzunehmen und das Ende einer Jahrhunderte alten Lebenspraxis als eine Herausforderung für die Zukunft zu begreifen?
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Corneli ßen, Christoph/Klinkhammer, Lutz/Schwentker, Wolfgang: Nationale Erinnerungskulturen seit 1945 im Vergleich. In: Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. Hg. v. Christoph Cornelißen/Lutz Klinkhammer/Wolfgang Schwentker. Frankfurt a. M. 2003; Diktatur, Krieg, Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Hg. v. Christoph Corneli ßen/Roman Holec/Jiri Pesek. Essen 2005.
SOLDATENSPRACHE Fund und Erfindung des Großen Krieges Reinhard Johler Ferenc (Franz) Molnár, der ungarische Schriftsteller und Dramaturg, gehörte neben Egon Erwin Kisch, Robert Musil, Franz Werfel und Roda-Roda zu den berühmtesten Mitgliedern des am 28. Juli 1914 gegründeten k. u. k. Kriegspressequartiers. Von Generalmajor Maximilian Ritter von Hoen als Abteilung des Armeekommandos geleitet, bestand dessen Aufgabe in einer umfassenden Presseinformation, aber auch in einer intensiven Propagandatätigkeit. Dafür unternahm die Kriegsberichterstattergruppe – zum Kriegspressequartier gehörte etwa auch eine eigene Kunstgruppe – vielfach Reisen an die Front. Ihre Berichte waren in Wahrheit aber oft vom Hörensagen und den Einschränkungen einer allgegenwärtigen Zensur geprägt. Und nicht selten galten die in einer Zwitterstellung zwischen Zivil und Militär positionierten Schriftsteller sogar als Drückeberger.1 1916 hatte Molnár zunächst in Ungarisch seine vom November 1914 bis November 1915 reichenden „Erinnerungen eines Kriegsberichterstatters“ (Egy haditudósitó emlékei)2 veröffentlicht, die im selben Jahr auch in deutscher Sprache in Berlin unter dem Titel Kriegsfahrten eines Ungarn erschienen waren. In diesen schilderte er das soldatische Alltagsleben von Ungarn, Banatern und Siebenbürger Sachsen im Schützengraben, aber mit viel Sympathie und Anteilnahme wurden auch die zahlreichen russischen Kriegsgefangenen dargestellt: Sie aßen dasselbe Gulasch wie die ungarischen Soldaten, sie teilten mit diesen dasselbe bäuerliche Interesse für die Ernte, und sie sangen zu Weihnachten ihre wehmütigen Lieder. Nach den großen Kämpfen entwickelte Molnár beim Besuch der Schlachtfelder zudem ein besonderes Interesse für Briefe, die aus den Taschen der eigenen und gegnerischen Gefallenen gerutscht waren: „In nüchternen Zeiten las ich in Kriegsberichten oft von Briefen, die man auf dem Schlachtfelde gefunden hatte und aus denen Zitate und einzelne Sätze abgedruckt waren. Mir waren das ärgerliche, sentimentale Lügen. Jetzt sah ich es anders.“3
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Dzambo, Josef: Armis et litteris – Kriegsberichterstattung, Kriegspropaganda und Kriegsdokumentation in der k. u. k. Armee 1914–1918. In: Musen an die Front! Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda 1914–1918, 1. Teil: Beiträge. Hg. v. Adalbert Stifter Verein. München 2003, 10–37; Broucek, Peter: Das Kriegspressequartier und die literarische Gruppe im Kriegsarchiv. In: Österreich und der Große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Geschichte. Hg. v. Klaus Amann/Hubert Lengauer. Wien 1989, 132–138. Molnár, Ferenc: Egy haditudósitó emlékei 1914 november – 1915 november [Erinnerungen eines Kriegsberichterstatters November 1914 – November 1915]. Budapest 1916. Molnar, Franz: Kriegsfahrten eines Ungarn. Berlin 1916, 16.
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Im selben Jahr, 1916, verfasste Molnár auch die Einleitung für die von Gyula Biringer in Ungarisch aufnotierten „Märchen aus dem Schützengraben“. Biringer – er hatte Rechtswissenschaft studiert und war im Krieg in das III. Bataillon des im transdanubischen Kaposvár stationierten k. u. k. Infanterieregiments Nr. 44 Erzherzog Albrecht eingezogen worden – hatte seinen berühmten Landsmann an der galizischen Front kennen gelernt und dort auch mythisch-patriotische Erzählungen festgehalten. Zu diesen schrieb Molnár eine kurze Einleitung – und wiederum relativierte er seine Perspektive auf den Krieg. „Niemand“, so erläutert er, „darf sich in dem Glauben wiegen, dass er jetzt über den Krieg schreibt. Den Krieg kann man jetzt nicht niederschreiben. Man kann Material zusammentragen, Dokumente des Leids kann man kritzeln, Zeugenberichte kann man stottern […] der Rest ist nicht unsere Sache. Es werden glücklichere Menschen kommen, die das alles nicht gesehen haben. Die dürfen es dann aufschreiben.“4 Die damit von Molnár angesprochene Vorläufigkeit seiner Darstellung des Krieges deckte sich aus gutem Grund mit Eindrücken vieler seiner Berichterstatterkollegen. Denn die Schilderungen (und deren Sammlungen) waren zum einen als Zeugnisse und Denkmäler der Gegenwart gedacht und sollten den Opfer-, später auch den Durchhaltewillen der Soldaten im Krieg belegen; zum anderen aber sollte das in den Schützengräben Beschriebene und Zusammengetragene als Quelle für die erst nach dem Sieg zu verfassende Geschichte dienen. Dass dies zumindest in einer heroischen Version angesichts der Niederlage nicht geschehen konnte, ist – wie Richard A. Bermann aufgezeigt hat – ein weiteres Charakteristikum der österreichisch-ungarischen Kriegsdarstellung. Der in Wien geborene Bermann hatte vor dem Krieg unter dem Pseudonym Arnold Höllriegel beim Berliner Tageblatt gearbeitet, war mit Kriegsbeginn nach Österreich zurückgekehrt und sofort in das Kriegspressequartier eingezogen worden. Von ihm stammt – in der Autobiographie rückblickend verfasst – eine kritische Einschätzung der journalistisch-literarischen Arbeitsweise von Ferenc Molnár. Dieser habe im Krieg „eine Menge kleiner Geschichten aus dem Leben der Soldaten, meist ernste und rührende“ gesammelt und mit dem „Charme seines schönen Talentes“ zu eindringlichen Texten ausgearbeitet. Trotzdem aber sei Molnár – wie im Übrigen alle anderen Schriftsteller im Kriegspressequartier auch – keiner, der „diese Hölle, den Krieg, in eherne Stanzen hätte fassen“ können: Ich muß heute mit Beschämung gestehen, daß keiner von uns Schriftstellern im österreichischen Kriegspressequartier aus unserem großen gemeinsamen Erlebnis während des Krieges oder danach ein Buch gemacht hat, das irgend Dauer hätte haben können. Während wir, uns redlich mühend, bessere oder schlechtere Kriegsfeuilletons an unsere Blätter schickten, saß daheim in Wien unser abgesagter Feind, der Satiriker Karl Kraus, und schrieb jenes zornige Buch, das allein vielleicht den Literaturhistorikern als ein Denkmal des österreichischen Krieges bemerkenswert erscheinen wird: ‚Die letzten Tage der Menschheit‘.5
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Biringer, Gyula: Mesék a lövészárokból. Molnár Ferenc bevezető írásával és a szerző sajátkezű rajzaival [Märchen aus dem Schützengraben. Mit einer Einleitung von Ferenc Molnár und mit eigenhändigen Zeichnungen des Autors]. Budapest 1916, 5–7. Bermann, Richard A. alias Arnold Höllriegel: Die Fahrt auf dem Katarakt. Eine Autobiogra-
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Diese ernüchternde Bilanz zielt zunächst auf die Tätigkeit des (nach Kriegsende aufgelösten) Kriegspressequartiers im Besonderen, sie betrifft aber ebenso das Schrei ben im Krieg als Ganzes. Denn der Krieg, der zu Beginn eine wahre „Explosion des Schreibens“6 mit sich brachte, überforderte schnell Literaten und Dilettanten in ihrer poetischen Darstellungskraft und machte sie unglaubwürdig.7 An ihre Stelle traten an den „literarischen Fronten“ nicht selten das direkt Erlebte und Erlittene von im Krieg dienenden Schriftstellern8 und einfachen Soldaten. Ihre Darstellungen beinhalteten für die Zeitgenossen keine Schönfärberei und Propaganda mehr, sondern versprachen Authentizität und Augenzeugenschaft. Kein Wunder daher, dass Soldatenlieder und Soldatenbriefe, wie überhaupt die Soldatensprache – und damit die diese sammelnden Wissenschaften9 – zunehmend in den Vordergrund der Kriegsdarstellung gerückt sind. DEUTSCHES IM KÖNIGREICH UNGARN 1916 hat Adolf Höhr in Wien ein Buch mit dem Titel über die Siebenbürger Sachsen im Weltkrieg herausgegeben. Dessen Untertitel Feldbriefe und Kriegsskizzen verweist auf den Inhalt dieser Veröffentlichung. Höhr – er war 1869 in Schäßburg geboren worden und wirkte dort nach seinem Studium in Jena, Klausenburg und auch Tübingen als Gymnasiallehrer und als Schriftleiter der Schäßburger Zeitung – wollte darin beweisen, wie sehr gerade „die sächsische Feder an dem großen Weltkrieg“ teilnehme und so ihre treue „sächsische Gesinnung“ und ihre „Begeisterung“ für den Krieg nach außen bezeuge. Als Quellen für diese patriotische Gesinnung dienten ihm zum einen kleinere, in siebenbürgischen Tages- und Wochenzeitungen bereits erschienene Aufsätze und Beschreibungen, die als „charakteristische literarische Produkte“ ihm geeignet schienen, in typisch sächsischer Manier, „die großen und kleinsten Erlebnisse“ des Krieges zu schildern. Zum anderen druckte er auch die „Legionen von Feldpostbriefen“ noch einmal ab, die zum größten Teil von „Handwerker- und Bauernsöhnen“ geschrieben, in „schlichter, ungekünstelter Schreibweise“ bereits in den regionalen Zeitungen erschienen waren und seiner Meinung nach eine „ruhige, ernste und sachliche Auffassung der Geschehnisse“ – des Weltkrieges – geben würden.10
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phie ohne einen Helden. Hg. v. Hans-Harald Müller mit einem Beitrag von Brita Eckert. Wien 1998, 187. Ovenden, Richard/ Poirot, Albert/Raulff, Ulrich: Grußwort. In: August 1914. Literatur und Krieg. Eine Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne – Deutsches Literaturarchiv Marbach. Marbach am Neckar 2013, 41–45. Detering, Nicolas: Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg – Germanistische Perspektiven. In: Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg. Hg. v. Dems./Michael Fischer/Aibe-Marlene Gerdes. Münster 2013, 9–40. 1914. La mort des poètes. Hg. v. Julien Collonges/Jérome Schweitzer/Tatiana Victoroff. Strasbourg 2014. Hüppauf, Bernd: Kriegsliteratur. In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Hg. v. Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz. Paderborn-München-Wien-Zürich 2009, 177–190. Höhr, Adolf: Siebenbürger Sachsen im Weltkrieg. Feldbriefe und Kriegsskizzen. Mit einem
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Ein Jahr später, 1917, erschien in Wien und Leipzig ein Buch mit einer auf den ersten Blick recht ähnlichen Intention. Es stammte von Sil-Vara – dem 1876 in Werschetz im Banat geborenen Geza Silberer, der es in Wien nach der Jahrhundertwende zu einiger Berühmtheit gebracht hatte.11 Sil-Vara war in das k. u. k. Kriegspressequartier eingezogen worden und war schon 1915 mit seinen KriegstagebuchAufzeichnungen aus Galizien in die Öffentlichkeit getreten.12 Seine zwei Jahre später veröffentlichten Briefe aus der Gefangenschaft hatten eine besondere karitative Funktion, war doch die Publikation „zugunsten der Oesterreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuze ‚für die österreichischen Kriegsgefangenen in Russland und Sibirien‘ und des Kriegs-Hilfsbüros des k. k. Ministeriums des Innern“ angelegt. Doch ebenso wichtig ist deren originäre inhaltliche Ausrichtung. „Die Literatur, die der Krieg gezeitigt“ habe, sei, so Sil-Vara, nämlich „über alle Maßen groß“. Es gebe daher auch genug Berichte von der Front und aus dem Hinterland, die detailliert aufzeigen würden, „wie der Krieg im Großen und Kleinen geführt wird, wie ihn der Feldherr und wie ihn der Frontsoldat erlebt, vom Tage des Ausmarschierens an bis zur letzten Stunde auf dem Felde oder im Lazarett, ist jedes Geschehnis, beinahe jede seelische Regung zerlegt und beschrieben worden.“ Dagegen fehle aber – schon angesichts der langen Kriegsdauer – „eine Schilderung, ein menschliches Bekenntnis“, das die „Daseinsform der Gefangenschaft“ zum Thema habe. Und insoweit gab Sil-Vara auch zum ersten Mal eine kleine „Auslese“ von „Millionen Briefen aus der Gefangenschaft“. Diese seien zwar durch die Zensur gegangen, würden aber oft zu Hause „wie Reliquien“ aufbewahrt. Denn für alle Beteiligten eröffneten die Briefe aus der Gefangenschaft eine „nie wiederkehrende Gelegenheit“.13 Die in den Briefen eingenommene Zeugenperspektive, aber auch die karitativ-patriotische Intention zu Gunsten des Vereins „Pro Transsylvania“ findet sich schließlich auch in der 1917 vom Kriegsfreiwilligen und k. u. k. Leutnant der Reserve Richard Huß herausgegebenen Sammlung Hände weg! Deutsch-ungarländische Kriegsgedichte aus dem Weltkrieg 1914–1917. Darin hatte Huß – er war 1885 in Bistritz geboren und war nach seinem Studium in Wien, Straßburg und Klausenburg 1914 zum Professor an die Universität Debreczen berufen worden – die im Krieg erst entstandene „deutsche Kriegspoesie in Ungarn“ (also „Kriegsgedichte“ und „Kriegslieder“ aus Feld und Heimat) zusammengestellt. Wegen dieser ungarländisch-deutschen Konzentration aber, so fügte Huß hinzu, „konnten Fragen, wie sie z. B. John Meier (Universitätsprofessor in Freiburg i. Br.) an die deutsche Armee richtete: ‚Was singt der deutsche Soldat im Felde?‘ (Das deutsche Soldatenlied im Felde. 1915) hier keine Berücksichtigung finden“.14 Geleitwort von Geheimrat Prof. Dr. Rudolf Eucken in Jena. Wien 1916, 1–12. Milleker, Felix: Sil-Vara. Sein Leben und seine Dichtungen. Wrschatz 1923. Silberer, Geza: Ein Wiener Landsturmmann. Kriegstagebuch-Aufzeichnungen aus Galizien. München 1915. 13 Briefe aus der Gefangenschaft zugunsten der Oesterreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuze „für die österreichischen Kriegsgefangenen in Russland und Sibirien“ und des KriegsHilfsbüros des k. k. Ministeriums des Innern. Hg. v. Sil-Vara. Leipzig-Wien 1917. 14 Hände weg! Deutsch-ungarländische Kriegsgedichte aus dem Weltkrieg 1914–17. Gesammelt 11 12
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DIE MOBILISIERUNG DER SPRACHE IM KRIEG Gerade das letzte Zitat zeigt, dass man in den deutsch- bzw. gemischtsprachigen Gebieten des Königreichs Ungarn Kenntnis von den großen volkskundlichen Sammelaktionen – von diesen wird später noch ausführlich die Rede sein – hatte, an diesen – an den ungarischen, österreichischen und deutschen – auch teilnahm, auf alle Fälle aber in den eigenen Kriegsaktivitäten motiviert wurde.15 John Meier etwa, der Leiter des 1914 knapp vor Kriegsbeginn begründeten Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg im Breisgau, hatte in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde seine Aufrufe zur Sammlung des deutschen Soldatenliedes und der deutschen Soldatensprache veröffentlicht und dezidiert um Einsendungen auch aus der Monarchie gebeten.16 Dagegen hatte Meier seinen 1916 publizierten Aufruf zur Sammlung deutscher Soldatenbriefe aus gutem Grund nur an den engeren Kreis der Mitglieder der Badischen Heimat gerichtet und mit dem besonderen kulturwissenschaftlichen Zugang begründet: Die Soldatenbriefe würden nämlich über das „rein Geschichtliche“ vielfach hinausgehen und „Spiegelungen des großen Weltkrieges in der Volksseele“ plastisch aufzeigen.17 Mit dieser Begründung versuchte Meier einerseits den volkskundlichen Zugang zu illustrieren, gleichzeitig aber auch der überwältigenden Sammelkonkurrenz entgegenzutreten. Denn es sammelten Soldatenbriefe etwa – nur um einen kleinen Ausschnitt der Breite der Sammelnden aufzuzeigen – der stellvertretende Große Generalstab der deutschen Armee18, die Zentralstelle zur Sammlung von Feldpostbriefen im Märkischen Museum zu Berlin19, aber etwa in Wien auch die Illustrierte Kronen-Zeitung, die freilich bald ihre Bestände an die k. u. k. Hofbibliothek weiterreichte. Dieses Interesse an Soldatenbriefen hatte im deutsch-französischen Krieg 1870/71 einen ersten Höhepunkt erlebt.20 In dessen Folge hatte 1891 der franzöund zu Gunsten des Vereins ‚Pro Transsylvania‘ herausgegeben von Kriegsfreiw. Dr. Richard Huss k. u. k. Leutnant d. R. Debreczen 1917, 7–16. 15 Meier, John: Das Volkslied im jetzigen Kriege (Fragebogen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde). In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25 (1915), 392. 16 Ders.: Das Volkslied im Krieg. In: Zeitschrift des Vereins für österreichische Volkskunde 21/22 (1915/16), 94; Sammlungen zur deutschen Soldatensprache. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 21/22 (1915/16), 199–201. 17 Sammelt Soldatenbriefe! In: Mein Heimatland 3 (1916), 103–104. 18 Wir Kämpfer im Weltkrieg. Feldzugsbriefe und Kriegstagebücher von Frontkämpfern aus dem Material des Reichsarchivs. Hg. v. Wolfgang Foerster. Berlin 1929. 19 Briefe aus dem Felde 1914/15. Für das deutsche Volk im Auftrage der Zentralstelle zur Sammlung von Feldpostbriefen im Märkischen Museum zu Berlin herausgegeben von Professor Dr. O. Pniower, Kustos des Märkischen Museums, Geheimer Archivrat Dr. G. Schuster, Königlicher Hausarchivar, Universitätsprofessor Dr. R. Sternfeld, L. E. Dillinger und Frau v. Ostrowski. Oldenburg 1916. 20 Hettling, Manfred/Jeismann, Michael: Der Weltkrieg als Epos. Philipp Witkops „Kriegsbriefe gefallener Soldaten“. In: „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch …“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Hg. v. Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz. Frankfurt/M. 1996, 205–234.
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sische Romanist Charles Bonnier eine Studie über Lettres de Soldat verfasst.21 In der deutschen Wissenschaft – und dort insbesondere in der Germanistik und der Volkskunde – wurde das Thema 1907 mit der Übersetzung einer dänischen Soldatenbriefsammlung aus dem deutsch-dänischen Krieg 1863/6422 ausgesprochen populär. Deren Herausgeber, der Schriftsteller Karl Larsen, hatte in Vorträgen in Paris, Wien und Berlin derart erfolgreich die „Werbetrommel“ gerührt, dass „Die Sammlung alter Soldatenbriefe und Tagebuchaufzeichnungen“ zu einem Tagesordnungspunkt bei der dritten Tagung des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde im September 1909 gemacht wurde. Der Verband empfahl dabei nachdrücklich eine Sammlung; und auch wenn dafür keine einheitlichen Grundsätze entwickelt wurden – dafür wäre neben Larsen der Leipziger Germanist Eugen Mogk zuständig gewesen23 –, wurde Soldatenbriefen doch eine besondere Augenzeugenschaft und damit ein hoher Quellenwert zugeschrieben.24 Mit Kriegsbeginn sollte diese Bewertung noch einen weiteren Auftrieb erfahren – und dies nicht zuletzt darum, weil die Zahl der Feldpostzusendungen schnell ins Gigantische wuchs. So ist geschätzt worden, dass allein im deutschen Heer im ersten Kriegsjahr von den Soldaten pro Tag 6 Millionen Briefe an ihre Angehörigen und Freunde verschickt wurden; von zu Hause wiederum erhielten die Soldaten ihrerseits geschätzte 8,5 Millionen Briefe. Hochgerechnet auf den gesamten Kriegsverlauf hat es daher 28 Milliarden Feldpostzusendungen im Krieg gegeben.25 Nimmt man diese Zahl und fügt die eineinhalb Millionen Gedichte hinzu, die der Dramatiker und Theaterkritiker Julius Bab26 alleine für die ersten Kriegsmonate geschätzt hat, dann wird einerseits das wissenschaftlich-patriotische Bedürfnis nach deren Sammlung nachvollziehbar; andererseits aber wird auch erkennbar, wie sehr es im Ersten Weltkrieg flächendeckend zu einer Mobilisierung der gesprochenen, gesungenen und geschriebenen Sprache gekommen ist – was in schneller Folge auch eine Mobilisierung von Schriftstellern und Künstlern, aber ebenso von Wissenschaftlern (von Germanisten, Romanisten, Anglisten, Volkskundlern, Musikwissenschaftlern und Anthropologen) ausgelöst hat. Was aber suchten diese im Krieg? Der Große Krieg, so lautet die vom Wiener Soziologen und Historiker Friedrich Hertz in seinem 1915 erschienenen Buch Rasse und Kultur gegebene Antwort, war selbst zum „größten Rassen- und Kulturmischer“27 geworden – und dies im 21
Bonnier, Charles: Lettres de Soldat. Étude sur le mélange entre le patois et le français. In: Zeitschrift für Romanische Philologie 25 (1891), 375–428. 22 Larsen, Karl: Ein modernes Volk im Kriege. In Auszügen aus dänischen Briefen und Tagebüchern 1863/64. Kiel 1907. 23 M(ogk), E(ugen): Sammlung alter Soldatenbriefe und Tagebuchaufzeichnungen aus Kriegszeiten. In: Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde 9 (1909), 3–4. 24 Ulrich, Bernd: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933. Essen 1997, 22. 25 Feldpostbriefe jüdischer Soldaten 1914–1918. Hg. v. Sabine Hank/Hermann Simon, Bd. 1. Berlin 2002, 5. 26 Bab, Julius: Die deutsche Kriegslyrik 1914–1918. Eine kritische Bibliographie. Stettin 1920. 27 Hertz, Friedrich: Rasse und Kultur. Eine kritische Untersuchung der Rassentheorien. Zweite, neubearbeitete und vermehrte Auflage von „Moderne Rassentheorien“. Leipzig 1915, 91.
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doppelten Sinn: Mit seinen territorialen Eroberungen und seinen Millionen von Kriegsgefangenen förderte er zum einen das Zusammentreffen unterschiedlich ster Kulturen und schuf damit die „einzigartige Gelegenheit“ einer ethnographischanthropologischen-musikwissenschaftlichen Untersuchung eben dieser kulturell „Fremden“. Denn der vom Militär gewährte Zutritt zu den Kriegsgefangenenlagern ersparte den Anthropologen in der Kriegszeit die beschwerliche Reise in fernabgelegene Gebiete. Zum anderen – und das war eine von den Volkskundlern immer wieder beschworene „nie wiederkehrende Gelegenheit“ – ließ der Krieg, wie vielfach beobachtet, einen Blick auf den Prozess kultureller Schöpfung zu und glich deswegen einem „Laboratorium“. Denn der Krieg schob für die Forscher den Vorhang der modernen Zivilisation beiseite und ließ damit nicht nur das alte und somit „gesunde Seelenleben des Volkes“28 in Augenschein nehmen, sondern er förderte – so die Annahme der Forscher weiter – dieses „im Felde“ auch wieder deutlich wahrnehmbar (und somit dokumentierbar) zu Tage. Was dort als aktuelle kulturelle Schöpfungen des Krieges – also Soldatensprache und Soldatenlied, Kriegsaberglauben usw. – festgehalten werden konnte, lenkte den Blick der deutschen Forscher in die weite Vergangenheit einer deutsch gedachten „Volksseele“; ihre französischen Kollegen dagegen glaubten prälogisches Denken und entsprechend eine „âme populaire“29 zu erkennen. Aber alle interessierten sich im Krieg für kulturelle survivals und revivals. Denn das volkskundliche Interesse war ausgesprochen gegenwartsorientiert. So sehr die Zerstörungskraft des Krieges nämlich gesehen wurde, so deutlich wurde doch auch beobachtet, dass der Krieg selbst Neues schuf. Soldatenlieder etwa würden sich, wie der „Kriegsvolkskundler“ John Meier zu hören glaubte, als „Schöpfungen des Krieges“ zu einer „neuen Einheit […] amalgamieren“.30 Der Krieg hatte für ihn daher das Potential nicht nur für eine Revitalisierung von Überkommenem, sondern auch für eine Neuschöpfung von Kultur, die es sofort zu sammeln galt. Denn – so ergänzte Meier – zur „Leichtigkeit des Entstehens“ komme bei Kriegsende ebenso schnell die „Leichtigkeit des Verschwindens“.31 Sie zu sammeln, war daher wissenschaftlich geboten, aber die mit viel Energie zusammengetragene Sprache des Krieges war nicht nur ein tatsächlicher „Fund“, sondern in vielem eine volkskundliche „Erfindung“.32 ÖSTERREICH-UNGARN Im Königreich Ungarn war die Soldatensprache im Ersten Weltkrieg durchaus ein Thema, wissenschaftlich dokumentiert und erforscht wurde sie dagegen in dieser Zeit nur wenig. Von József Balassa, dem Leiter des Phongramm-Archivs 28 29 30 31 32
Bächtold, Hanns: Deutscher Soldatenbrauch und Soldatenglaube. Straßburg 1917, 2. Zu den französischen Forschungen vgl. Winkle, Ralph: „Connaître à fond l’âme du soldat“. Französische Aberglaubensforschung während des Ersten Weltkriegs. In: Alliierte im Himmel. Populare Religiosität und Kriegserfahrung. Hg. v. Gottfried Korff. Tübingen 2006, 349–370. Meier, John: Das deutsche Soldatenlied im Felde. Straßburg 1916, 5. Meier, John: Deutsche Soldatensprache. Karlsruhe 1917, 12. Klusen, Ernst: Volkslied. Fund und Erfindung. Köln 1969.
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der kgl. ungarisch-orientalischen Handels-Akademie in Budapest, stammt ein kleiner, 1918 publizierter Aufsatz über „Deutsche Elemente in der ungarischen Soldatensprache“.33 Und auch die 1938 von Ediltrud Felszeghy veröffentlichte Studie über die „k. u. k. Heeressprache in Ungarn“ bestätigt diesen Eindruck. Felszeghy erwähnt die großen Sammlungen zur Soldatensprache in Deutschland und der Schweiz, betont die Eigenheiten der ehemaligen gemeinsamen Armeesprache mit ihren vielen deutschen Begriffen, vergisst aber abschließend nicht darauf hinzuweisen, dass das 1931 „erschienene Reglement der neuen ungarischen Nationalen Armee, Hondvédség, vom Einfluss der deutschen Sprache bereits völlig befreit“ worden sei.34 Damit aber sprach sie eine Besonderheit der Armee-Sprache in der multi-nationalen Habsburgermonarchie an. Denn während die Kommandosprache Deutsch war, bestimmte die Mannschaftszusammensetzung die jeweilige Regimentssprache. In ihr also die „Tiefen der Soldatenseele“35 zu erkennen, war das eine; das andere war es, die verschiedenen Sprachen – um deren Autonomie ja in der Gesellschaft schon lange gestritten wurde – gleichberechtigt zu untersuchen. Dementsprechend blieben auch die Untersuchungen der Soldatensprache im österreichischen Monarchieteil bescheiden. In geringem Umfang beteiligten sich österreichische Volkskundler an der – später noch auszuführenden – Münchner Sammlung zur Soldatensprache36, aber richtig ist, was der Prager Volkskundler Gustav Jungbauer im Vorwort zu der 1943 von Eugen Rippl herausgegebenen – in ihrer Ausrichtung höchst problematischen – Untersuchung Die Soldatensprache der Deutschen im ehemaligen tschecho-slowakischen Heer festgehalten hat. Man habe es „in Österreich versäumt, die deutsche Soldatensprache in so großzügiger Weise zu sammeln, wie dies im Deutschen Reiche auf Anregung des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde durch die Wörterbuchkommission der bayerischen Akademie der Wissenschaften in München geschehen“37 sei. Nicht zuletzt deswegen ist auch die von Hans Commenda noch im Frühherbst 1918 durchgeführte Erhebung der Deutschen Soldatensprache der K. u. K. Armee in hektographierter Form erst 1949 in kleiner Auflage verteilt worden.38 Und nicht anders war die Situation etwa bei Tschechen oder Ukrainern in der Monarchie: So hat etwa 1916 der ukrainische Folklorist Volodymyr Hnjatuk die großen Sammlungen zu Soldatenlied und Sol33
Balassa, Josef: Deutsche Elemente in der ungarischen Soldatensprache. In: Die neueren Sprachen 26, H. 7/8, (1918/19), 359–360. 34 Felszeghy, Ediltrud: A császári és királyi hadsereg nyelve Magyarországon [Arbeiten zur deutschen Sprachwissenschaft II: Die K. u. K. Heeressprache in Ungarn]. Budapest 1938, 100– 101. 35 Weinkopf, Eduard: Von unserer Soldatensprache. In: Österreichische Rundschau 55 (1918), 180–182. 36 Bericht über die Sammlung soldatischer Volkskunde erstattet vom Verband deutscher Vereine für Volkskunde. Freiburg im Breisgau 1918. 37 Jungbauer, Gustav: Vorwort. In: Rippl, Eugen: Die Soldatensprache der Deutschen im ehemaligen tschecho-slowakischen Heer. Mit einem Vorwort von Gustav Jungbauer. Nur zum wissenschaftlichen Gebrauch. Reichenberg-Leipzig 1943, XIII–XVIII. 38 Die deutsche Soldatensprache der K. u. K. Armee. Ein erster Versuch der Darstellung auf Grund eigener vielfältiger Aufzeichnungen im Felde, in der Etappe wie im Hinterlande gemacht von Dr. Hans Commenda, Landsturmleutnant (o. O., 1949).
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datensprache erwähnt und zu eigenen Forschungen über die mündliche Kultur der Soldaten aufgefordert.39 Der Prager Slawist Jiří Polívka hat in seinem 1917 erschienenen Überblick über Die Volkskunde im und über den Krieg40 diese Vorschläge mit Nachdruck wiederholt – größere Sammlungen sind nach meinem Kenntnisstand diesen Aufrufen allerdings nicht gefolgt. Tatsächlich bestand das primäre Interesse der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest und der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien an – freilich getrennt geplanten und durchgeführten – Untersuchungen in den besetzten südosteuropäischen, vornehmlich albanischen Gebieten. Erstere etwa beschloss 1916 die offene Ausschreibung von geologischen, volkskundlichen, wirtschaftlichen und sprachkundlichen Untersuchungen auf der Balkanhalbinsel und plante auch die Herausgabe von Wörterbüchern der dortigen Sprachen. Zudem wurden wissenschaftliche Exkursionen nach Albanien durchgeführt.41 Dort fanden sich auch österreichische Volkskundler und Sprachwissenschaftler, die sich im Krieg an den vom k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht ins Leben gerufenen und von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien entsandten „kunsthistorisch-archäologisch-ethnographisch-linguistischen Balkanexpeditionen“ beteiligten.42 Da die Sammlung der Soldatenlieder der k. u. k. Armee vom k. u. k. Kriegsministerium angeregt worden war, wurde sie in Österreich und Ungarn 1914 bis 1916 gemeinsam durchgeführt. Mit der Aufnahme in ausgewählten Regimentern wurde das Phonogramm-Archiv der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien beauftragt, zur Erhebung herangezogen wurde aber auch – und für die Übersetzung der Liedtexte ausgesprochen wichtig – József Balassa, der Leiter des Phonogramm-Archivs der königl. ungarisch-orientalischen Handels-Akademie in Budapest.43 Das Ziel dieser Sammlung war, wie Leo Hajek in einem abschließenden Bericht 1916 festgehalten hat, die soldatischen „Schöpfungen einer großen Zeit von historischem Wert der Nachwelt“ zu erhalten.44 Gleichzeitig aber beabsichtigte man mit dem Abdruck von Soldatenliederheftchen die Hebung der eigenen militärischen Kampfkraft zu erreichen. Diese Zielsetzungen haben Ende 1915/Anfang 1916 auch zur Gründung der Musikhistorischen Zentrale beim k. u. k. Kriegsmi39
Hnatjuk, Volodymyr: Viyna s narodna poezia [Krieg und Volksdichtung]. In: Kalendarik dlya ukrainskih sičovih stril’civ s žovniriv ukrainskih na 1917 roku. Viden [Wien] 1916, 69–84. 40 Polívka, J.: Lidověda ve válce a válečná lidověda [Die Volkskunde im und über den Krieg]. In: Národopisný věstník českoslovanský 12 (1917), 276–281. 41 Csiki Ernő állattani kutatásai Albaniában/Explorationes zoologicae ab E. Csiki in Albania peractae. Hg. v. Ernő Csiki /Baron G. J. v. Fejérváry. Budapest 1923. Das Buch ist Teil einer zwischen 1922 und 1940 erschienenen Reihe: A Magyar Tudományos Akadémia balkán-kutatásainak tudományos eredményei [Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Balkan-Forschungen der Ungarischen Akademie der Wissenschaften]. 42 Marchetti, Christian: Balkanexpedition. Die Kriegserfahrung der österreichischen Volkskunde – eine historisch-ethnographische Erkundung. Wien 2013. 43 Balassa, József: Egyveleg. A bécsi Phonogramm-Archiv felvételei [Die Aufnahmen des Wiener Phonogramm-Archivs]. In: Magyar Nyelvőr 45 (1916), 414–415. 44 Hajek, Leo: Bericht über die Ergebnisse der auf Anregung des k. u. k. Kriegsministeriums durchgeführten Sammlung von Soldatenliedern aus dem Kriege 1914–1916. Wien 1916.
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nisterium45 geführt. Mit ihrer Leitung wurde Bernhard Paumgartner beauftragt. Ab April 1917 war die Musikhistorische Zentrale der Kunstgruppe des Kriegspressequartiers zugeordnet. Wegen dieser organisatorischen Zugehörigkeit war sie – als eine der wenigen Sammelinstitutionen des Gesamtstaates – sowohl für den cis- als auch den transleithanischen Monarchieteil zuständig, was insbesondere in Ungarn erhebliche Probleme verursachte. Ihre Aufgabe bestand in einer besseren Koordination bereits bestehender, noch mehr aber in der Durchführung einer eigenen, großen Soldatenliedersammlung. Nur als „Nebenaufgabe“ dagegen war die Sammlung von „kulturhistorisch interessanten Äußerungen des Soldatengeistes“ projektiert, „welche mit den Soldatenliedern eng verknüpft sind (Aberglauben, Soldatensprache, Scherze, Reime, Rätsel etc.).“46 Zu den Mitarbeitern der Musikhistorischen Zentrale gehörten einige wichtige österreichische Volkskundler, aber auch so berühmte Komponisten wie etwa Zoltán Kodály und Béla Bartok,47 der umfangreiche Erhebungen bei den Ersatzbataillonen in der Slowakei, in Rumänien und in Siebenbürgen durchgeführt hat. Neben der schnell wachsenden multi-nationalen Soldatenliedsammlung hatte die Musikhistorische Zentrale auch die Ausgabe von kleinen Liederbüchern zur Aufgabe, die in großer Zahl an die Front geschickt wurden. Und zudem organisierte sie mit kriegspropagandistischer Intention im Jahr 1918 mit zusammengetragenen historischen und gegenwärtigen Soldatenliedern der Völker der Monarchie mehrere große Konzerte – etwa in Wien, Brünn, Budapest und Salzburg.48 Diese Sammlung von Soldatenliedern in der multi-nationalen k. u. k. Armee wurde begleitet von einer zweiten – vom Anthropologen Rudolf Pöch angeregten49 – großen Sammlung, die der Musikwissenschaftler Robert Lach im Auftrag des Phonogramm-Archivs der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften ab 1916 durchführte und die Aufzeichnung der „Gesänge russischer Kriegsgefangener“ zum Ziel hatte.50 Diese ist im Kontext der von der Anthropologischen Gesellschaft in 45 Vgl. zusammenfassend: Hois, Eva-Maria: Die Musikhistorische Zentrale – ein Kultur- und Zeitdokument ersten Ranges. Die Soldatenliedersammlung beim k. u. k. Kriegsministerium im Ersten Weltkrieg. Geschichte, Dokumente, Lieder. Wien 2012. 46 Paumgartner, Bernhard: Das Soldatenvolkslied und seine Aufsammlung in der Musikhistorischen Zentrale des k. u. k. Kriegsministeriums. In: Historisches Konzert am 12. Jänner 1918 im großen Saale des Wiener Konzerthauses veranstaltet von der Musikhistorischen Zentrale des k. u. k. Kriegsministeriums zu Gunsten der Witwen und Waisen österr. u. ungar. Soldaten. Künstler. Leitung: Dr. Bernhard Paumgartner. Wien (1918), 21–31. 47 Dille, Denis: Bartók und das historische Konzert am 12. Januar 1918. In: Documenta Bartókiana 4 (1970), 43–69. 48 Historisches Konzert am 12. Jänner 1918 im großen Saale des Wiener Konzerthauses, wie Anm. 46. 49 Pöch, Rudolf: Phonographische Aufnahmen in den k. u. k. Kriegsgefangenenlagern. In: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Abt. III., 124–125 (1916), 21–26. 50 Lach, Robert: Vorläufiger Bericht über die im Auftrage der Kais. Akademie der Wissenschaften erfolgte Aufnahme der Gesänge russischer Kriegsgefangener im August und September 1916. Wien 1917; Ders.: Vorläufiger Bericht über die im Auftrage der Kais. Akademie der Wissenschaften erfolgte Aufnahme der Gesänge russischer Kriegsgefangener im August 1917. Wien 1918.
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Wien 1915 initiierten und von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften unterstützten großen anthropologischen „Studien“ und „Aufnahmen“ in den k. u. k. Kriegsgefangenenlagern – aber auch im Zusammenhang mit ähnlichen deutschen und ungarischen Sammlungen – zu sehen. Die Untersuchungen in den österreichischen Kriegsgefangenenlagern wurden von dem Anthropologen Rudolf Pöch im Rahmen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien initiiert. Deren Präsident Carl Toldt hatte im Juni 1915 die „außerordentliche Forschungsgelegenheit“ erkannt und in einem Schreiben an das k. u. k. Kriegsministerium darauf hingewiesen, dass durch die Kriegsgefangenenlager „eine nicht wiederkehrende Forschungsgelegenheit“ gegeben sei. Das Kriegsministerium genehmigte daraufhin die von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften geförderten und von Rudolf Pöch und seinen Mitarbeitern durchgeführten Erhebungen. Diese fanden in mehrwöchigen Aufenthalten zwischen 1915 und 1918 in zahlreichen österreichisch-ungarischen (etwa Eger, Reichenberg, Theresienstadt, Bruck, Budapest) sowie reichsdeutschen oder in Rumänien gelegenen Kriegsgefangenenlagern (Turnu Măgurele) statt. Dabei konzentrierten sich die anfänglichen Erhebungen auf die sogenannten „Randvölker“ des Zarenreichs. Gemeint waren damit in ethnographischer Kategorisierung neben den baltischen (Letten, Litauer) und finnischen (etwa Esten, Karelier, Mordwinen, Tscheremissen) „Völkern“ auch die „Turk-“ (etwa Baschkiren, Krimtataren, Tschuwaschen) und „Kaukasusvölker“ (etwa Ost- und Westgeorgier). Diese Auswahl wurde im Zuge der Untersuchungen zunächst um „Groß-, Klein- und Weißrussen“ erweitert und gegen Ende des Kriegs noch durch „Balkanvölker“ (Albaner, Montenegriner, Serben) sowie durch „nordafrikanische Araber, westafrikanische Neger und Eingeborene Vorderindiens“ vervollständigt. Die Erhebungen hatten drei Schwerpunkte: anthropologische Untersuchungen sowie phonographische und kinematographische Aufnahmen. Im anthropologischen Teil wurden dabei neben einer genauen Erhebung der Personaldaten v. a. somatometrische und somatoskopische Untersuchungen angestellt; zudem wurden die Kriegsgefangenen fotografiert und von manchen wurden KopfGipsabdrücke verfertigt. Bei den gleichfalls durchgeführten phonographischen Aufnahmen standen erzählte Zeugnisse der mündlichen Kultur (etwa Märchen oder Volkslieder) im Vordergrund. Und zuletzt wurden auch Holzschnitzarbeiten, Tänze, Gesänge u. ä. filmisch dokumentiert.51 Der quantitative Ertrag dieser Aufnahmen war enorm: So umfasst allein das von Rudolf Pöch gesammelte Material – Pöch und seiner Mitarbeiter untersuchten mehr als 7000 Kriegsgefangene – 7000 Messblätter, 5000 Lichtbilder, 90 Platten phonographische Aufnahmen, 600 Meter kinematograpische Aufnahmen, 299 Gipsformen und 50 Haarproben. Darüber hinaus veröffentlichte Robert Lach in zahlreichen Bänden bis 1952 seine im Weltkrieg aufgenommenen Gesänge russischer Kriegsgefangener.52 Trotz der immer wieder in Angriff genommenen Sprachaufnahmen dominierte in der Habsburgermonarchie – mit Ausnahme der von den ungarischen 51 Dazu ausführlich: Lange, Britta: Die Wiener Forschungen an Kriegsgefangenen 1915–1918. Anthropologische und ethnographische Verfahren im Lager. Wien 2013. 52 Lach, Robert: Gesänge russischer Kriegsgefangener, Bd. 1–3 (I. Finnisch-ugrische Völker; II. Turktatarische Völker; III. Kaukasusvölker). Wien 1926–1952.
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Forschern betriebenen Erhebungen in den Kriegsgefangenenlagern – daher insgesamt das Interesse an Soldatenliedern deutlich. Dies mag einen einfachen Grund gehabt haben: Soldatenlieder betonten die Vielfalt der Armee und somit der Monarchie – die Soldatensprache dagegen zeigte an vielen Stellen ihre Brüchigkeit auf. DIE SPRACHE DER KRIEGSGEFANGENEN In den österreichischen Kriegsgefangenenlagern dominierten die von Rudolf Pöch durchgeführten anthropologischen Untersuchungen. Dagegen hatten die sprachkundlichen Erhebungen kaum eine Bedeutung und wurden nach Kriegsende auch nicht weiter bearbeitet. Davon unterschieden sich die Forschungen in deutschen Kriegsgefangenenlagern deutlich: Dort spielten die von Felix von Luschan angestoßenen anthropologischen Untersuchungen keine große Rolle, wohingegen die von der 1915 gegründeten Königlichen Preußischen Phonographischen Kommission in den Kriegsgefangenenlagern gemachten Aufnahmen zentral für die Erhebungen waren. Bis zum Ende des Krieges wurden etwa 2500 Tonträger mit Stimmen von (russischen bzw. außereuropäischen) Kriegsgefangenen aufgenommen.53 Damit waren die Stimmen selber, der Wortschatz, die Aussprache und die Grammatik in den österreichischen bzw. deutschen Spracherhebungen in den Kriegsgefangenenlagern wichtig. Was die Gefangenen biographisch zu erzählen hatten, interessierte die Forscher – wegen ihres theoretischen Ansatzes, oft aber auch wegen mangelnder Sprachkenntnisse – freilich ebenso wenig wie deren oft schrecklichen Kriegserfahrungen. Die im Königreich Ungarn durchgeführten Untersuchungen in Kriegsgefangenenlagern unterschieden sich davon aus guten Gründen gleich mehrfach. Dort hatte die Ungarische Akademie der Wissenschaften bereits am 14. Dezember 1914 beschlossen, wissenschaftliche Forschungen in Kriegsgefangenenlagern durchzuführen. Da die Anthropologie in Ungarn noch wenig etabliert war, beschloss man, den sprachwissenschaftlichen Ausschuss mit Spracherhebungen und phonetischen Aufnahmen in den Kriegsgefangenenlagern Kenyérmezö, Esztergom, Eger und Komárom zu betrauen. Dabei konzentrierten sich ungarische Forscher wie auch ihre österreichischen Kollegen auf die sogenannten „russischen Randvölker“, trafen dabei aber in ihren 1915 beginnenden Erhebungen eine besondere Auswahl: Unter den Kriegsgefangenen des Zarenreichs vermuteten die ungarischen Sprachwissenschaftler – ganz in ihrer turanischen Tradition – auch Völker, mit denen man sich sprachlich verwandt sah und die sonst nur durch mühsame Expeditionen zu erreichen gewesen waren: Bernát Munkácsi untersuchte Wotjaken und Osseten, Ödon Beke Tscheremissen, Dávid R. Fuchs Syrjänen, Ignácz Kunos Tataren und Béla Vikar Awaren.54 53
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Scheer, Monique: Captive Voices: Phonographic Recordings in the German and Austrian Prisoner-of-War Camps of World War I. In: Anthropology in Wartime and Warzones. World War I and the Cultural Sciences in Europe. Hg. v. Reinhard Johler/Christian Marchetti/Monique Scheer. Bielefeld 2001, 279–309. Beke, Ödon: Finnisch-ugrische Sprachstudien in ungarischen Kriegsgefangenenlagern. In: Suomalais-Urgilaisen Seuran Aikakauskirja (1937–38), 3–16.
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Da die Untersuchten als zu bedauernde ethnisch-sprachliche „Verwandte“ angesehen wurden, kritisierte man nicht nur ihr tristes Leben in den Kriegsgefangenenlagern, sondern es konnte auch – und unterstützt von sehr guten Sprachkenntnissen – ein vollkommen anderer Blick auf die Kriegsgefangenen geworfen werden. Davon zeugt etwa ein Bericht des Turkologen Ignácz Kúnos. Kúnos hatte bei seinen Untersuchungen mehrere Lager mit muslimischen Tataren besucht. Im Lager Eger beschrieb er zwar recht nüchtern das „Menschenmaterial“, das nun der „Forschung zur Verfügung“ stehen würde, aber er wies gleichzeitig auch auf viele intensive Kontakte zu den Gefangenen hin. Deren Unterlagen – etwa zur Verfügung gestellte Tagebücher – würden nicht nur literarische Darstellungen des Krieges bzw. Überlegungen zu europäischer und russischer Kultur enthalten, sondern sie würden es dem Forscher auch ermöglichen, „zu den Seelen der Menschen vorzudringen.“55 Tatsächlich sollte man dieses Anliegen – und die sich dadurch eröffnenden wissenschaftliche Chancen – nicht unterschätzen. Der Krieg mobilisierte die Intellektuellen56 und eröffnete gerade für Sprachwissenschaftler ungeahnte Forschungsmöglichkeiten. Ihre Stunde begann tatsächlich in den Kriegsgefangenenlagern zu schlagen – und zwar in der Forschung, aber auch in der Zensur. So hatte etwa der in den deutschen Kriegsgefangenenlagern Golzern und Chemnitz eingesetzte Militärdolmetscher Willy Hunger jene dreiviertel Million Briefe französischer Kriegsgefangener, die durch seine Hände gegangen waren, dazu genutzt, um 1917 ein Buch über Argot. Soldaten-Ausdrücke und volkstümliche Redensarten der französischen Sprache herauszugeben. Dieses wollte als „praktisches Zensor-Nachschlagwerk“ dienen, aber es sollte auch, wie in den Dankesworten des Königlich Preußischen Kriegsministeriums ausgeführt wurde, „eine gerechte Zensur“ gewährleisten. Für den Autor war es mit Sicherheit darüber hinaus eine wissenschaftliche Publikation.57 Solche Erwartungen und Vorstellungen übertraf, wie Gustav Spann in seiner herausragenden Dissertation bereits 1972 festgehalten hatte, die österreichischungarische Briefzensur im Ersten Weltkrieg deutlich. Diese hatte Zensur frühzeitig als Kriegsinstrument entdeckt und ihre Agenda im Gemeinsamen Nachweisbureau zentralisiert. Dessen Aufgabe war es u. a., die Korrespondenz der Kriegsgefangenen, und zwar sowohl der feindlichen mit ihrer Heimat, als auch der eigenen, in feindliche Gefangenschaft geratenen Soldaten mit ihren Angehörigen zu Hause, zu zensieren. Zwar herrschte dauerhaft Mangel an fähigen, motivierten, vor allem sprachkundigen Mitarbeitern,58 aber insgesamt waren im Gemeinsamen Nachweis55 56
57 58
Kúnos, Ignácz: Tatár Foglyok [Im Lager der tatarischen Kriegsgefangenen]. In: Budapest Szemle 469/470 (1916), 209–227. Zur Rolle der Intellektuellen vgl. v.a. Mommsen, Wolfgang: Einleitung: Die deutschen Eliten im Ersten Weltkrieg. In: Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hg. v. Wolfgang Mommsen unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner. München 1996, 1–15; Flasch, Kurt: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin 2000. Hunger, Willy: Soldaten-Ausdrücke und volkstümliche Redensarten der französischen Sprache. Leipzig 1917. Spann, Gustav: Zensur in Österreich während des I. Weltkrieges 1914–1918. Phil. Diss. (Universität Wien 1972), 120–172.
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bureau in der Sprach- und Bildzensur ausgesprochen fähige Zensoren tätig. Zu diesen gehörte auf alle Fälle der 1887 in Wien geborene und an der dortigen Universität zum Romanisten ausgebildete Leo Spitzer,59 dessen Sprachuntersuchungen in österreichischen Kriegsgefangenenlagern mit guten Gründen als Geburtsstunde der Diskursanalyse gesehen werden können.60 Leo Spitzer war für die Zensur der Briefe der italienischen Kriegsgefangenen zuständig. Dabei hatte er ab September 1915 mit sprachwissenschaftlicher Akribie – im militärischen Dienst, aber ohne wirklichen Auftrag – in diesen Briefen jene Umschreibungen für Hunger analysiert, die von den Kriegsgefangenen verwendet wurden, um an der Zensur vorbei Lebensmittelpakete von zu Hause erbitten zu können. Dies führte ihn in einem weiteren inhaltlichen Schritt zur Darstellung der „Schablonenhaftigkeit“ dieser „volkstümlichen Briefschaften“ und damit schließlich zu einem ersten wissenschaftlichen Überblick zur italienischen Umgangssprache überhaupt. In schneller Reihenfolge publizierte Spitzer nach dem Ersten Weltkrieg seine Zensurerhebungen: 1920 erschien in Halle/Saale das Buch Die Umschreibungen des Begriffes ‚Hunger‘ im Italienischen. Stilistisch-onomasiologische Studie auf Grund von unveröffentlichtem Zensurmaterial61, 1921 in Bonn die Arbeit über Italienische Kriegsgefangenenbriefe. Materialien zu einer Charakteristik der volkstümlichen italienischen Korrespondenz62 und 1922 in Bonn und Leipzig als zusammenfassende Synthese das Buch Italienische Umgangssprache.63 DER KAMPF GEGEN FREMDWÖRTER Die „results are worth considering“, so hat der in Oxford lehrende Romanist Cesare Foligno 1922 seine Rezension über das Buch Die Umschreibungen des Begriffes ‚Hunger‘ im Italienischen eingeleitet; aber es sei doch gleichzeitig auch das Werk eines „self-satisfied ‚intellectual‘ censors“, der die bittere Not der Gefangenen für den eigenen wissenschaftlichen Vorteil genutzt habe: „and if ever a mother was kept waiting a day longer than necessary for news of her son in order that this book could be written, that was a crime for which this book or ten such books, however interesting and learned, would fail to be extenuating circumstances.“64 Die fehlenden mildernden Umstände bezogen sich auf das Leiden der Soldaten, aber auch auf eine Wissenschaft, die deren katastrophalen Lebensbedingungen in den Kriegsgefangenenlagern – ohne es freilich selber wirklich verändern zu können 59 60 61 62 63 64
Zu Person und Werk vgl. auch Hurch, Bernhard: Der Kontext. In: Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Hg. v. Dems. Berlin 2006, VII–LV. Hurch, Bernhard: [[Die Suche nach dem Stil] als Text]. Diskursanalytisches zu Gumbrechts Spitzer-Buch. In: Romanische Forschungen 118 (2006), 341–355. Spitzer, Leo: Die Umschreibungen des Begriffes „Hunger“ im Italienischen. Stilistisch-onomasiologische Studie auf Grund von unveröffentlichtem Zensurmaterial. Halle a. S. 1920. Ders.: Italienische Kriegsgefangenenbriefe. Materialien zu einer Charakteristik der volkstümlichen italienischen Korrespondenz. Bonn 1921. Ders.: Italienische Umgangssprache. Bonn-Leipzig 1922. Foligno, C.: Die Umschreibungen des Begriffes ‚Hunger‘ im Italienischen. Stilistisch-onomasiologische Studie. Von Leo Spitzer. In: The modern Language Review XVI (1922), 197–201.
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– für eigene Untersuchungen nutzte und so die Zensurabteilung neben aller immer wieder beklagten Stupidität der Tätigkeit zu einem Ort produktiver und originärer Wissenschaftlichkeit machte. Eine ähnlich problematische Nähe von (Sprach) Wissenschaft und Krieg ergab sich im schnell einsetzenden, an mehreren Fronten geschlagenen und von Armee, Gesellschaft und Wissenschaft mit verschiedenen Waffen ausgefochtenen Kampf gegen die Sprachen der Feindstaaten.65 Diese sollten boykottiert und Fremdwörter – systematisch unterstützt durch ein erst noch zu gründendes Reichsamt für Sprachgestaltung – durch deutsche Begriffe ersetzt werden. Leo Spitzer, der sprachsensible Zensor, trat in einer 1918 erschienenen Streitschrift Fremdwörterhatz und Fremdvölkerhaß wortgewaltig gegen diese Sprachreinigung an. Denn er sah, wie die propagandistische „Fremdwörterhatz“ zum nationalen „Fremdvölkerhaß“ geführt hatte. Mit anderen Worten: Spitzer erkannte, dass der Kampf gegen die Fremdwörter zur „nationalen Verhetzung, zum Lügenkrieg – zum Krieg“ selbst beitrug. Dieser Kampf wurde primär vom Allgemeinen Deutschen Sprachverein geführt, doch war es offensichtlich, dass auch viele Gelehrte – Spitzer nennt etwa die angesehene Wiener Romanistin Elise Richter und deren Buch „Fremdwortkunde“66 – ihren Beitrag dazu leisteten. So gebe es eine „Bundesgenossenschaft von Chauvinismus und Philologie“, die Ausdruck eines durch den Krieg veränderten Selbstverständnisses der Wissenschaftler sei: „mit Ausbruch des Krieges sind die einen ‚umgefallen‘, die anderen hatten stets im Chauvinismus ‚gemacht‘ und fühlten sich in ihrer Richtung bestärkt, die wenigsten bleiben der internationalen Richtung der Wissenschaft treu.“ Doch Leo Spitzer erkannte ebenso scharfsinnig, dass dieses unterschiedliche Gebaren in der neuen Bedeutung von Wissenschaft im Krieg als Ganzes begründet lag: Wenn die tierischen Instinkte des Menschen einen wissenschaftlichen Vorwand vorschützen können, sind sie am gefährlichsten: denn nichts imponiert der menschlichen Bestie mehr als die ‚Wissenschaft‘. Wir sind ja im Kriege längst gewohnt, jegliches schreiende Unrecht durch wissenschaftliche Sanktion zum höchsten Recht stilisiert zu sehen, für jeden unberechtigten Anspruch findet sich ein Historiker, der beweist: ‚schon im Jahre…‘, für jede volkswirtschaftlich drückende Maßregel ruft man staatlich bezahlte Bonzen herbei, die mit der Bassstimme wissenschaftlicher Priesterlichkeit ‚Ergebnisse neuester Forschung‘ herdeklamieren.67
Wie die Sprachwissenschaft – dann aber auch die Volkskunde – sich am Krieg beteiligt hat, kann mit einer Überlegung des Freiburger Germanisten Alfred Götze aufgezeigt werden. Götze sah bereits 1915 den „deutschen Krieg“ ursächlich mit der „deutschen Sprache“ verbunden: „Nicht nur Deutsche kämpfen gegen Franzosen und Engländer, auch Deutsch kämpft gegen Französisch und Englisch“.68 65 66 67 68
Becher, Peter: Literatur in Kriegszeiten. In: Musen an die Front! Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda 1914–1918, 1. Teil: Beiträge. Hg. v. Adalbert Stifter Verein. München 2003, 38–58. Richter, Elise: Fremdwortkunde. Leipzig 1919. Spitzer, Leo: Fremdwörterhatz und Fremdvölkerhaß. Eine Streitschrift gegen die Sprachreinigung. Wien 1918. Götze, Alfred: Deutscher Krieg und Deutsche Sprache. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und Literatur und für Pädagogik 35 (1915), 146–157.
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Der Leipziger Professor für Nordische Philologie und Vorsitzende des Vereins für Sächsische Volkskunde Eugen Mogk entwickelte diesen Gedanken im März 1915 in einem in den Mitteilungen des Vereins für sächsische Volkskunde erschienenen Aufsatz Volkskunde und der Krieg noch weiter. „Neidische Feinde“ hätten die „Kriegsfackel in unser Land“ geschmissen und damit eine gedeihliche weitere Vereinsarbeit aufs Erste unmöglich gemacht. Aber der Krieg habe gleichzeitig in den „breitesten Schichten der Bevölkerung“ einen „Haß gegen alles fremde Sprachgut auflodern“ und stattdessen „eine neue Zeit volkstümlicher Bestrebungen“ entstehen lassen, die wie „keine andere Zeit“ den Blick „in die Seele des Volkes“ ermögliche. Es war daher für Mogk „Erntezeit“ und dies schuf die Notwendigkeit, eine „Sammelstelle für Nachrichten aus dem Kriege“ zu errichten, die das Leben „von unseren wackern Kriegern im Felde“ dokumentieren würde.69 Kein Wunder, dass die Soldatensprache in dieser Lesart – schloss sie doch vermeintlich die authentisch heroische Kriegserfahrung von Millionen von Soldaten an der Front mit ein – schnell zu der deutschen Sprache geworden ist. Sie zu sammeln, war daher wichtiges wissenschaftliches Anliegen. Aber darüber hinaus wurde die deutsche Soldatensprache im Weltkrieg schnell zu einem Teil dessen, was in der Wahrnehmung der Zeitgenossen ein „Krieg der Kulturen“ war. Die von der deutschen Volkskunde im Krieg betriebene Feindbeobachtung70 nahm daher die eigene Soldatensprache, aber auch die der Kriegsgegner in ihr wissenschaftliches Visier: Die deutsche Soldatensprache belegte etwa für John Meier hohe „sittliche Qualitäten unserer Soldaten“, die ihren Gegnern völlig fehlen würden.71 Und gleichzeitig sei sie, wie beispielsweise Sigmund Feist beobachtet hatte, im Unterschied zur französischen Soldatensprache, frei von Wortübernahmen vom Feind geblieben, was als Zeichen der Stärke im Krieg gedeutet wurde.72 INTERNATIONALE SAMMLUNGEN Der Erste Weltkrieg hat vielfältige Formen von als vormodern, wenn nicht sogar längst überlebt geglaubter Kultur – Kriegsaberglauben, Prophezeiungen, Schutzamulette, primitive Volkskunst – wieder in die Öffentlichkeit gerückt. Und gleichzeitig sind in einer originären Form kriegsbedingter Mobilisierung von Sprache unzählige Soldatenwitze, dilettantische Kriegsgedichte, heroische Soldatenlieder, siegessichere Schlachtfeldsagen und neue Soldatenwörter entstanden bzw. Berichte über patriotische Eisenbahnwaggon-Aufschriften, bald aber auch über gereimte 69 70 71 72
Mogk, Eugen: Volkskunde und der Krieg. In: Mitteilungen des Vereins für sächsische Volkskunde 6 (1915), 211–212. Johler, Reinhard: Der Krieg, der Feind und die Volkskunde. In: Zwischen Krieg und Frieden. Die Konstruktion des Feindes. Hg. v. Dems./Freddy Raphaël/Claudia Schlager/Patrick Schmoll. Tübingen 2009, 37–68. Meier, John: Deutsche Soldatensprache. Karlsruhe 1917, 12. Feist, Sigmund: Französische Wortschöpfung und französischer Sprachgebrauch im gegenwärtigen Kriege. In: Die Neueren Sprachen. Zeitschrift für den neusprachlichen Unterricht 23 (1915), 105–112.
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Todesanzeigen gefallener Soldaten erschienen. Der Krieg war derart für Sprachforscher und Volkskundler tatsächlich eine „nie wiederkehrende Gelegenheit“ – und dies über die Schützengräben und Frontlinien hinweg. Denn schnell entwickelte sich eine „Kriegsvolkskunde“, eine „folklore de guerre“, eine „folklore di guerra“.73 Der eben angesprochene John Meier hat 1917 in einer Broschüre die Deutsche Soldatensprache behandelt und dabei einen Überblick über die internationalen Sammlungen gegegeben: Im Auslande hat man die Wichtigkeit einer Sammlung der Soldatensprache auch schon erkannt: mehr oder minder offiziell sind in Frankreich Lazare Sainéan und Albert Dauzat, in Italien Raffaele Corso, in England andere Forscher tätig. In der neutralen Schweiz wird mit direkter Förderung und auf Befehl der Heeresleitung die schweizerische Soldatensprache gesammelt, und daneben her geht eine Sammlung bei den Internierten der verschiedenen Nationalitäten. In Österreich beschäftigt sich die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften damit, und für Deutschland hat der Verband deutscher Vereine für Volkskunde die Sache in die Hand genommen und wird dabei von verschiedenen Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften unterstützt.74
Dieser knappe Forschungsüberblick wollte mit Sicherheit die Stellung der deutschen Volkskunde im Wettstreit der Wissenschaften im Krieg stärken, doch ebenso wichtig ist die Darstellung der Sammlungsgenese selbst. Denn der entscheidende Impuls ging tatsächlich vom Basler Volkskundler Eduard Hoffmann-Krayer zu Beginn des Jahres 1915 aus, der in der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung in einem Aufsatz über Volkskundliches aus dem Soldatenleben eine „Anregung“ zu dessen Erforschung gab.75 Die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde hat diese Idee noch im selben Jahr in die Tat umgesetzt und mit Unterstützung des Militärs einen detaillierten Fragebogen an die Soldaten – später auch an die deutschen und französischen Gefangenen – verteilt und so eine große und vorbildgebende Sammlung zur „soldatischen Volkskunde“ (bzw. im französischen Landesteil einer „folklore militaire“) ins Leben gerufen.76 Dank der Übersetzungen der Fragebögen ins Französische bzw. Italienische wurde die Sammlungsinitiative sofort in Frankreich und Italien aufgegriffen – wie überhaupt die Schweizer Volkskunde im Krieg den weitgehend zum Stillstand gekommenen wissenschaftlichen Austausch über die Front hinweg noch so gut es ging am Leben erhielt. Der schweizerische „Fragebogen zur Erhebung soldatischer Volkskunde“ war ausgesprochen umfangreich, enthielt Rekrutierungsbräuche, medizinische Volksmittel und Soldatenlieder, aber ein deutlicher Schwerpunkt lag doch in der Dokumentation der Soldatensprache, zu der Hanns Bächtold 1916 in seiner Publikation Aus Leben und Sprache des Schweizer Soldaten. Proben aus den Einsendungen 73 74 75 76
Johler, Reinhard: Kriegserfahrungen in den Humanwissenschaften. Die Volkskunde und der Große Krieg. In: Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Hg. v. Georg Schild/Anton Schindling. Paderborn 2009, 179–196. Meier, John: Deutsche Soldatensprache. Karlsruhe 1917, 12. Hoffmann-Krayer, Eduard: Volkskundliches aus dem Soldatenleben. Eine Anregung. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung 16/17 (1915), 123–125, 131–135. Bächtold, Hanns: Volkskundliche Mitteilungen aus dem schweizerischen Soldatenleben. Proben aus den Einsendungen schweizerischer Wehrmänner. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 19 (1915), 201–264.
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schweizerischer Wehrmänner eine erste ausführliche Zusammenfassung gegeben hatte.77 In der italienischen „folklore di guerra“78 erschienen dagegen zwar kleinere Studien zur Soldatensprache, doch war das dominante Interesse der italienischen Forscher auf psychologische Fragestellungen und Erscheinungen der Volksreligiosität im Krieg ausgerichtet. Wie überhaupt: So sehr die „Kriegsvolkskunden“ über die Frontlinien miteinander durch das gemeinsame Sammeln verbunden waren, waren ihre Sammlungsziele und ihre theoretischen Ansätze doch verschieden ausgerichtet. Dies hing zum einen mit der unterschiedlichen disziplinären Entwicklung von Volkskunde/folklore/demologia/ethnologie79 in Europa zusammen und war zum anderen in der konkreten Organisation der Sammlung begründet. In Großbritannien etwa war das Interesse an der „war folklore“ insgesamt gering und auf wenige Forscher und Sammler beschränkt.80 Erst mit Kriegsende kam es im Umfeld des Imperial War Museums zu einer großen Sammlung des „british war slangs“, die 1925 von Edward Fraser und John Gibbons unter dem Titel Soldier and sailor words and phrases herausgegeben wurde.81 Ähnlich lexikalisch war die von John Brophy und Eric Patridge edierte und ausführlich eingeleitete Sammlung Songs and Slang of the British Soldier, die in mehreren Auflagen in den 1930erJahren erschienen ist.82 Dagegen stand die Sprache der Frontsoldaten – der „Argot des Poilus“83 – von Anfang an im Zentrum einer Handvoll französischer Forscher. Diese waren an Folklore interessierte Sprachwissenschaftler, die ihren Blick auf den „Argot“ – eine Art Sondersprache des Französischen – richteten und ihre Studien damit an einen fortgeschrittenen wissenschaftlichen Diskurs anschließen konnten: 1915 veröffentlichte der Romanist Lazare Sainéan seine Untersuchung über L‘argot des tranchées84, 1917 – im selben Jahr wie in Deutschland Willy Hunger – der Übersetzer René Delcourt seine Expressions d‘argot allemand et autrichien.85 Mit Sicherheit am bedeutendsten aber war die vom Romanisten Albert Dauzat 77
Ders.: Aus Leben und Sprache des Schweizer Soldaten. Proben aus den Einsendungen schweizerischer Wehrmänner. Basel 1916. 78 De Simonis, Paolo/Dei, Fabio: Wartime Folklore. Italian Anthropology and the First World War. In: Anthropology in Wartime and Warzones, 75–95. 79 Vgl. dazu in komparativer Perspektive: Anthropology in Wartime and Warzones. World War I and the Cultural Sciences in Europe. Hg. v. Reinhard Johler/Christian Marchetti/Monique Scheer. Bielefeld 2001. 80 Johler, Reinhard: Im Krieg den Krieg sammeln. Zu Genese und Funktion anthropologischer und volkskundlicher Sammlungen im Ersten Weltkrieg. In: Erinnern an den Ersten Weltkrieg. Archivische Überlieferungsbildung und Sammlungsaktivitäten in der Weimarer Republik. Hg. v. Rainer Hering/Robert Kretzschmar/Wolfgang Zimmermann. Stuttgart 2015 (im Druck). 81 Fraser, Edward/Gibbons, John: Soldier and Sailor Words and Phrases. Including Slang of the Trenches and the Air Force. London 1925. 82 Songs and Slang of the British Soldier: 1914–1918. Hg. v. John Brophy/Eric Patridge. London 31932. 83 Déchelette, François: L’argot des poilus. Dictionnaire humoristique et philologique du langage des soldats de la Grande Guerre de 1914. Argots spéciaux des aviateurs, aérostiers automobilistes, etc. Paris 1918. 84 Sainéan, Lazare: L’argot des tranchées d’après les lettres de poilus et les journaux du front. Paris 1915. 85 Delcourt, René: Expressions d’argot allemand et autrichien. Paris 1917.
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1918 publizierte Untersuchung zum L‘argot de Guerre. In dieser wertete er die Antworten auf eine Umfrage aus, die er an Offiziere und Soldaten gerichtet hatte. In Verbindung mit anderen schriftlichen Quellen – etwa Soldatenbriefen sowie Armee- bzw. Gefangenenzeitschriften – kam Dauzat zu einer plausiblen Zusammenfassung: Während sich in Staaten ohne stehendes Heer (wie etwa in Großbritannien oder der Schweiz) eine neue Soldatensprache herausgebildet habe, sei der „Argot de Guerre“ in Ländern wie Frankreich, Deutschland und Italien (mit ihren stehenden Heeren) nur weiter entwickelt worden.86 DIE DEUTSCHE SOLDATENSPRACHE Verglichen mit den geschilderten Bemühungen in Österreich-Ungarn, Italien, Frankreich und Großbritannien wies die Sammlung der Soldatensprache im Deutschen Kaiserreich mehrere Besonderheiten auf: Sie wurde von Anfang an mit einem großen – von Dilettanten wesentlich inspirierten – Enthusiasmus betrieben. Während des Krieges ist eine zunehmende Professionalisierung der Sammlung zu beobachten. Dabei dominierte ein philologisch-volkskundliches Interesse, das im Zuge einer vereinsgebundenen wissenschaftlichen Organisation mit direkter Unterstützung des Heeres große Sammlungen entstehen ließ. Wie bei den Soldatenbriefen setzte auch die Sammlung der Soldatensprache sofort mit Kriegsbeginn ein. Dabei kam es schnell zu einem Nebeneinander unterschiedlichster – auch miteinander konkurrierender – Sammlungsmotive und -ziele. So gab etwa der jüdische Schriftsteller und Redakteur der in Berlin erscheinenden Lustigen Blätter Gustav Hochstetter im Jahr 1916 unter dem Titel Der feldgraue Büchmann eine Sammlung Geflügelte(r) Kraftworte aus der Soldatensprache heraus, die die „treffenden, markigen, humorvollen Worte aus dem Munde und aus der Feder unserer Feldgrauen“87 beinhaltete. Recht ähnlich – und wiederum den Humor der deutschen Soldatensprache in das Zentrum rückend – war das 1917 vom Dortmunder Lehrer Theodor Imme herausgegebene Buch Die deutsche Soldatensprache in der Gegenwart und ihr Humor.88 Dieses (und auch das von Hochstetter) wurde 1917 vom Volkskundler Fritz Boehm in einer Besprechung mit einer scharfen Kritik überzogen: Beide Bücher seien als ein „Unfug zu bezeichnen, den die Wissenschaft mit Nichtbeachtung strafen sollte.“89 Als positive Gegenbeispiele nannte Boehm nicht ohne Grund die Veröffentlichungen von Karl Bergmann90, vor allem aber Otto Maußers 1917 erschienene 86 87 88 89 90
Dauzat, Albert: L’argot de guerre. D’après une enquête auprès des officiers et soldats. Paris 21919. Hochstetter, Gustav: Der feldgraue Büchmann. Geflügelte Kraftworte aus der Soldatensprache. Berlin 1916, 4–7. Imme, Theodor: Die deutsche Soldatensprache in der Gegenwart und ihr Humor. Dortmund 1917. Boehm, Fritz: Besprechung von Theodor Imme: Die deutsche Soldatensprache und Otto Maußer: Deutsche Soldatensprache. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 27 (1917), 266–267. Bergmann, Karl: Wie der Feldgraue spricht. Scherz und Ernst in der neuesten Soldatenspra-
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Studie über die Deutsche Soldatensprache, war doch die deutsche Volkskunde ab Kriegsbeginn mit allen Mitteln gegen diese dilettantischen und wenig zusammenhängenden Bestrebungen aufgetreten und versuchte so, die Sammlungsbemühungen – auch mit Unterstützung der Heeresleitung – auf das eigene Forschungsgebiet zu konzentrieren. Die Gründe dafür waren einleuchtend: Man gab vor nachzuholen, was man im Krieg 1870/71 zu sammeln versäumt hatte und man stützte sich dabei zum einen auf Überlegungen, die der Straßburger Professor für Orientalistik Paul Horn 1899 in einem Buch über Die deutsche Soldatensprache91 festgehalten hatte; zum anderen war der 1909 gefällte – und hier schon erwähnte – Beschluss des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde zur Sammlung von Soldatenbriefen besonders hilfreich, das Feld der Soldatensprache auf sich beschränken zu können (bzw. es nur mit der Germanistik teilen zu müssen). Von besonderer Bedeutung aber war mit Sicherheit auch das im Mai 1914 in Freiburg im Breisgau von John Meier gegründete Deutsche Volksliedarchiv. Dieses hatte seine Tätigkeit mit einem im Juli bekannt gemachten „Aufruf zur Sammlung deutscher Volkslieder“ begonnen. Aber schon am 12. August 1914 – also nur wenige Tage nach Kriegsbeginn – änderte das Archiv seine Agenda und beauftragte das Berliner Literarische Büro mit der systematischen Sammlung von „Zeitungsausschnitten betreffend Kriegslieder“.92 Damit wollte John Meier die schnell anwachsende Produktion von Kriegslyrik dokumentieren. Doch deutlich wichtiger als diese Sammlung zur Kriegspoesie sollte die vom Volksliedausschuss des Verbandes Deutscher Vereine für Volkskunde beschlossene Umfrage über das „gesungene Soldatenlied im jetzigen Krieg“ werden, mit der das Deutsche Volksliedarchiv beauftragt wurde.93 Für die Sammlung wurde zunächst der von Friedrich Panzer angeregte Fragebogen, ab 1916 die von John Meier erweiterte und nun 15 Fragen umfassende Version verwendet. Mit Unterstützung der Heeresleitung wurde der Fragebogen in zahlreichen Feldzeitungen abgedruckt, aber auch in großer Zahl direkt an die Front verschickt. Die Zahl der Antworten war in den ersten beiden Kriegsjahren erstaunlich hoch. So konnte Meier in einer 1916 erschienenen Broschüre über Das deutsche Soldatenlied im Feld 94 bereits 142 Einsendungen auswerten. Zumal auch dieses Druckwerk sofort an der Front, in der Etappe und in den Lazaretten verteilt wurde, konnte das Deutsche Volksliedarchiv eine erstaunliche Sammelpräsenz entwickeln. Kein Wunder daher, dass bei der vom 30. September bis zum 1. Oktober 1916 in Frankfurt am Main stattgefundenen Abgeordnetenversammlung des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde deren „Kriegsarbeit“ inhaltlich noch erheblich erweitert wurde: Zur „Sammlung des deutschen Soldaten-
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che. Gießen 1916; Ders.: Die deutsche Soldatensprache im gegenwärtigen Krieg. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 29 (1915), 464–468. Horn, Paul: Die deutsche Soldatensprache. Gießen 21905. Gerdes, Aibe-Marlene: Populäre Kriegslyrik als Sammlungsgegenstand. Die Weltkriegssammlungen im Deutschen Volksliedarchiv. In: Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg, 97–119. Fischer, Michael: Jedes Deutschen Ehrenpflicht. Die Sammeltätigkeit des Deutschen Volksliedarchivs als patriotische Aufgabe. In: Kriegssammlungen 1914–1918. Hg. v. Julia Freifrau Hiller von Gaertringen. Frankfurt/M. 2014, 217–226. Meier, John: Das deutsche Soldatenlied im Felde. Straßburg 1916.
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Kriegsflugblätter 1-40. Jena: Eugen Diederich Verlag 1914, Seite 4. Universitätsbibliothek Tübingen
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liedes“ kam die „Sammlung des deutschen Soldatenbrauchs und Soldatenglaubens“ hinzu, mit der die Kommission für die Sammlung der Segen- und Zauberformeln beauftragt wurde, sowie die „Sammlung der deutschen Soldatensprache“.95 Die mit dieser Sammlung verbundenen inhaltlichen Erwartungen waren enorm hoch. Einem philologisch-volkskundlichen Erkenntniszweck96 folgend, standen linguistische, aber auch psychologische und soziologische Fragestellungen im Vordergrund. Denn während Sprachwissenschaftler an der Sprachentwicklung interessiert waren, glaubten Volkskundler, dass die Soldatensprache nicht nur einen Einblick in die Psyche des Soldaten gewährte, sondern auch einen Blick in die „Volksseele“ werfen ließe. Mit anderen Worten: Die sprachschöpferische Kraft des Krieges zeigte sich ihnen in alter, an den aktuellen Krieg angepasster und in neuer, aus dem Krieg heraus entstandener Soldatensprache. Diese galt somit durchaus als Fortführung einer überlieferten, soldatischen Standessprache. Durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, noch mehr aber durch das im Weltkrieg zusammengerufene „Volksheer“ kamen Volkskundler und Sprachwissenschaftler freilich auch zur Überzeugung, dass eine neue Sondersprache – eben die deutsche Soldatensprache – im Entstehen begriffen sei.97 Dieser Soldatensprache wurden drei in haltliche Merkmale zugeschrieben, die sie erst originär „deutsch“ machte: ihr Humor, ihre patriotische Kraft und ihre „hohe sittliche Stellung“.98 Getragen von diesen Überlegungen begann die 1916 beim Bayerischen Wörterbucharchiv der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München eingesetzte Kommission mit der „Sammlung der deutschen Soldatensprache“. Zu ihrem Vorsitzenden wurde Otto Maußer bestimmt, als Mitglieder wirkten Hanns Bächtold, Alfred Götze, Walter Heynen, August Miller und Hermann Tardel. Die Kommission arbeitete unverzüglich zwei Fragebögen – einen umfangreichen, 36-seitigen sowie einen kleinen, 8-seitigen – aus. Vorgesehen war zudem die Erhebung der Flieger- und der Marinesprache. Mit Unterstützung der Heeresleitung sind diese Fragebögen in großer Zahl an die Front verschickt, von den Soldaten ausgefüllt retourniert und zum Teil auch ausgewertet worden. Die Tatkraft der Kommission, so war im Frühjahr 1918 in einem Bericht zu lesen, „lässt uns mit Zuversicht dem weiteren Verlauf der Erhebungen entgegensehen“.99 Deren Abschluss war mit dem Kriegsende geplant und mit dem erhofften Sieg sollte auch sofort die Auswertung der großen Soldatensprachen-Sammlung erfolgen.
95 Bericht des Vorsitzenden. In: Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde 24 (1916), 4–20. 96 Mausser, Otto: Deutsche Soldatensprache. Ihr Aufbau und ihre Probleme. Straßburg 1917. 97 Meier, John: Deutsche Soldatensprache. Karlsruhe 1917. 98 Vgl. zur Soldatensprache und zu deren Sammlung v. a. Olt, Reinhard: Krieg und Sprache. Untersuchungen zu deutschen Soldatenliedern des Ersten Weltkriegs. Gießen 1981. 99 Bericht über die Sammlung soldatischer Volkskunde erstattet vom Verband deutscher Vereine für Volkskunde. Freiburg i. Br. 1918.
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NACH DER NIEDERLAGE Die Besiegten, so hat Reinhart Kosseleck einmal formuliert, hätten weiterreichende Einsichten in die Geschichte zu nehmen als die Sieger.100 Diese Beobachtung kann problemlos auf das weitere Schicksal der hier behandelten Sammlungen zur Soldatensprache im Krieg übertragen werden. Diese haben – mit Ausnahme Großbritanniens – mit dem Friedensschluss ein schnelles Ende gefunden. Manche Sammlungen sind in der Folge sogar verloren gegangen. Und auch die im Krieg angekündigten Veröffentlichungen erschienen nur in Frankreich und in England. Bei den Kriegsverlierern hingegen war – sieht man von einer Reihe von Dissertationen ehemaliger Soldaten ab101 – die Publikationsfreude nahezu ganz zum Erliegen gekommen. Das fehlende Publikationsinteresse im deutschsprachigen Raum hatte politische, aber auch wissenschaftliche Gründe. Letztere wurden vornehmlich von Germanisten vorgetragen und zielten auf volkskundliche Grundannahmen: Arthur Hübner etwa äußerte 1921 deutliche Kritik an der Konzeption der Sammlungen, denn die Soldatensprache sei keine „Standessprache“ gewesen, sondern eine „Sprache des Krieges“. Als solche sei sie „heute schon wieder tot“.102 Und auch der Frankfurter Germanist Carl Wesle hatte seine Antrittsvorlesung über „Die deutsche Soldatensprache im Kriege“ dazu genützt, um seine Skepsis wortgewaltig zu äußern. Denn viel zu sehr sei eine „rosenrotmalende Feldgrauenromantik“ vertreten worden, viel zu stark sei in der Soldatensprache der Humor und in der Kriegspoesie das Heldentum propagiert worden, um zu erkennen, dass dieser Krieg zu neuen kulturellen Formen geführt habe, die nicht erhoben worden seien.103 Seine ehemaligen alliierten Kriegsgegner John Brophy und Eric Patridge haben dies Anfang der 1930er-Jahre ähnlich gesehen. Der Erste Weltkrieg war in ihren Augen trotz der millionenhaften Abschlachterei noch ein „epischer Krieg“. An dessen Ende aber – und dies symbolisierte für sie der Panzer – stand bereits ein anderer, mit völlig neuen Mitteln auszufechtender Krieg: We are in a bad way if we are compelled to slaughter in millions in order to discover the excitement and the richness of life. But the War was certainly the last epical war – for epics are adventures of the human spirit. 1914–18 saw the repulse by the European spirit of its own
100 Zit. n. Lenger, Friedrich: Eine Wurzel fachlicher Innovation? Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die „Volksgeschichte“ in Deutschland – Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte. In: Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen. Hg. v. Horst Carl/Hans-Henning Kortüm/Dieter Langewiesche/ Friedrich Lenger. Berlin 2004, 41–55. 101 In Auswahl: Greifelt, Rolf: Der Slang des englischen Soldaten im Weltkrieg 1914–1918. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Philipps-Universität zu Marburg. Marburg-Lahn 1937; Hiddemann, Herbert: Der Slang des englischen Soldaten im Weltkrieg 1914–1918. Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg. Marburg-Lahn 1937. 102 Hübner, Arthur: Zur Charakteristik der Soldatensprache. In: Die Neueren Sprachen. Zeitschrift für den neusprachlichen Unterricht 28 (1921), 152–164. 103 Wesle, Carl: Die deutsche Soldatensprache im Kriege. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 9 (1921), 108–117.
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Reinhard Johler creation. The next war will be a war between such engines. Certainly, 1914–18 was unique, as these songs are unique. They will never be repeated.104
DAS ENDE Gegen eine derart nüchterne Interpretation ist in Deutschland mit der nationalsozialistischen Machtübernahme – nach Jahren des erlahmten Interesses an der Soldatensprache – Einspruch erhoben worden.105 Das nun wieder schnell wachsende Interesse an einer „deutschen Soldatenkunde“ hat im Zweiten Weltkrieg zu erneuten Sammlungen geführt. Dabei ist die Kontinuität der Akteure, der Institutionen und des sammelnden Vorgehens erstaunlich: Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit erheblichen Mitteln unterstützte Sammlung der deutschen Soldatensprache wurde von einer zehnköpfigen Kommission geleitet und von Oberleutnant a. D. Miller, der bereits im Ersten Weltkrieg ein bedeutender Sammler war, in der Münchner Arbeitsstelle der Soldatensprache in der Wehrkreisbücherei VII durchgeführt.106 Miller verschickte dafür mit Unterstützung der Wehrmacht einen umfangreichen Fragebogen. Und recht ähnlich gestaltete sich unter Leitung von John Meier die vom Verband deutscher Vereine für Volkskunde wieder aufgenommene und vom Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg realisierte Sammlung des deutschen Soldatenliedes. Miller hat die Sammlung der deutschen Soldatensprache mit viel Energie und Geschick vorangetrieben und auch bei der Verzettelung große Fortschritte gemacht, als seine Arbeitsstelle am 17. Dezember 1944 einen Volltreffer erlitten hat und erhebliche Bestände vernichtet worden sind. Mit Kriegsende hat die Sammlung der deutschen Soldatensprache ihren institutionellen und finanziellen Rückhalt verloren und ist, wie Klaas-Hinrich Ehlers trocken festgestellt hat, „ohne noch öffentlich sichtbare Spuren zu hinterlassen, aus der deutschen Wissenschaftslandschaft einfach verschwunden.“107 Dieses Verschwinden einer Sammlung und der sie anleitenden Überlegungen kann mit dem Wiener Kulturhistoriker Egon Friedell verstanden werden, der in seinem 1932 erschienenen dritten Band der Kulturgeschichte der Neuzeit das Ende des Ersten Weltkriegs folgendermaßen beschrieben hat:
104 Songs and Slang of the British Soldier: 1914–1918. Hg. v. John Brophy/Eric Patridge. London 31932, 19. 105 Mausser, Otto: Die deutsche Soldatensprache. In: Die Deutsche Soldatenkunde, 1.Bd. Hg. v. Bernhard Schwertfeger/Erich Otto Volkmann. Leipzig 1933, 400–425. 106 Ehlers, Klaas-Hinrich: Verzettelt – wie die Arbeitsstelle für die Sammlung der deutschen Soldatensprache versuchte den Krieg einzuholen. In: SOWIE. Das Journal für Geschichte, Politik, Wirtschaft und Kultur 4 (2004), 44–56. 107 Bericht über die Tätigkeit des Verbandes. In: Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde 54 (1940), 8–40; Bericht über die Tätigkeit des Verbandes. In: Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde 55 (1941), 7–41.
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Und nun fällt die schwarze Wolke über Europa; und wenn sie sich wieder teilt, wird der Mensch der Neuzeit dahingegangen sein; weggeweht in die Nacht des Gewesenen, in die Tiefe der Ewigkeit; eine dunkle Sage, ein dumpfes Gerücht, eine bleiche Erinnerung. Eine der zahllosen Spielarten des menschlichen Geschlechts hat ihr Ziel erreicht und ist unsterblich: zum Bilde geworden.108
108 Friedell, Egon: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele. Von der schwarzen Pest bis zum Weltkrieg, Bd. 3: Romantik und Liberalismus/Imperialismus und Impressionismus. München 1932, 545.
POLITISCHE FRONTEN: KRIEGE IN SÜDOSTEUROPA UND IHRE WAHRNEHMUNG IM WESTEN VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG Florian Keisinger SÜDOSTEUROPA – DER „VERGESSENE“ ODER DER „ALTERITÄRE“ TEIL EUROPAS? Die Balkanhalbinsel beflügelt seit jeher die Phantasien des Westens, sowohl in literarischer als auch in politischer Hinsicht.1 Das galt für die Vergangenheit und es gilt auch noch heute. Folgende „Horrorszenarien“ zur aktuellen politischen Lage in Südosteuropa schickte die renommierte Nachrichtenagentur dpa am 21. April 2011 als mögliche Optionen für die weiteren Entwicklungen im Südosten Europas über die Ticker: Bosnien könnte sich als Staat auflösen, der serbische Nordkosovo sich abspalten. Das albanische Südserbien schlösse sich dem Kosovo an. Das albanisch besiedelte Westmazedonien würde sich mit dem Kosovo vereinen. Kroatien verleibte sich die bosnischen Teile ein, wo kroatische Landsleute leben. Nachdem windige russische Oligarchen die Küste des kleinen Montenegro aufgekauft haben, würde dieser Staat an der südlichen Adria, so eines dieser Szenarien, zu einer russischen Kolonie.
Zusammenfassend wird darauf hingewiesen, dass sich auf dem Balkan „im Schatten der großen Weltkrisenherde“ viele ungelöste Probleme „zu einer explosiven Mischung [zusammen]brauen“. Ein neuerlicher Ausbruch von Gewalt im Südosten Europas sei – „nach den vielen Bürgerkriegen in den 90er Jahren“ – nicht ausgeschlossen.2 Hier stellt sich nun die Frage, über die in der Südosteuropa-Forschung seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert wird: Handelt es sich beim Balkan um eine kognitive Landkarte Europas, eine sogenannte Mental Map, deren Existenz dazu beiträgt, dass sämtliche Berichte über Südosteuropa im Westen negativ konnotiert sind? Diese Ansicht vertritt unter anderem Maria Todorova, die argumentiert, dass der westliche Balkandiskurs (den sie „balkanism“ nennt) spätestens seit dem 18. Jahrhundert eindeutig pejorative Züge aufweise. Seine endgültige Gestalt habe das Negativbild vom Balkan mit den Balkankriegen 1912/13 und dem Ersten Weltkrieg angenommen – und daran habe sich, abgesehen von einer diskursiven Verhärtung 1 2
Vgl. Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York/Oxford 1997; Goldsworthy, Vesna: Inventing Ruritania. The Imperialism of the Imagination. New Haven/London 1998; Garde, Paul: Le discourse balkanique. Des mots et des homes. Paris 2004. Brey, Thomas: Der Balkan wird wieder zum Problemfall Europas. dpa-Meldung vom 21.04. 2011.
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und Instrumentalisierung, bis in die Gegenwart nichts verändert. Deutlich geworden sei dies in der Berichterstattung zum Jugoslawien-Krieg der 1990er-Jahre, den die westlichen Medien (siehe die oben zitierte dpa-Meldung) der Öffentlichkeit zu Unrecht als einen neuerlichen Balkankrieg präsentiert hätten. Entsprechend handle es sich bei der Negativdarstellung des Balkans um eine der hartnäckigsten kognitiven Schablonen des Westens, mit der stets eine Herabsetzung und Negativwahrnehmung der gesamten Region einhergehe.3 Andere wiederum sehen dies ganz anders, etwa der Berliner Südosteuropa-Historiker Holm Sundhaussen. Seiner Meinung nach handelt es sich beim Balkan nicht um den „alteritären“, sondern um den „vergessenen“ und daher weitgehend „unbekannten“ Teil Europas. Von einer durchweg negativen westlichen Wahrnehmung der Region könne schon deswegen keine Rede sein, da das Interesse des Westens am Südosten Europas seit jeher zu gering gewesen sei. Ebenso gut könne man, so Sundhaussen, bei ähnlich selektiver Quellenauswahl wie derjenigen Todorovas eine „Europaphobie“ der Balkanstaaten konstruieren.4 Wenn Sundhaussen von einem geringen Interesse des Westens am Balkan ausgeht, liegt er damit zumindest für das 19. und frühe 20. Jahrhundert falsch. Das verdeutlicht ein Blick in die Presse jener Zeit, die ausführlich – wenngleich fast immer im Kontext von Kriegen und Gewalttaten – über die Balkanregion berichtete. Egal ob während des serbisch-türkischen Krieges 1876, der russisch-türkischen Auseinandersetzung 1877/78, im serbisch-bulgarischen Disput 1885/86 oder beim Krieg zwischen Griechenland und der Türkei 1897 um Kreta – die Aufmerksamkeit der westlichen Medien war stets mit großer Spannung auf die südöstliche Peripherie Europas gerichtet. Vom europäischen Krisenjahr 1908 und den Balkankriegen 1912/13 ganz zu schweigen. Die Kommentare und Berichte, die in (west)europäischen Zeitungen und Zeitschriften zu den Entwicklungen auf dem Balkan zwischen dem Berliner Kongress (1878) und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschienen sind, gehen in die Tausende und würden ein ganzes Bücherregal ausfüllen. Alleine während der Balkankriege 1912/13 veröffentlichte die renommierte Londoner Times mindestens 158 Leitartikel, die sich dezidiert mit den Kriegen auf dem Balkan befassten.5 Und selbst in vermeintlich peripheren Regionen, wie etwa in Irland, wurde ausführlich über die Ereignisse und Entwicklungen in Südosteuropa berich3 4
5
Todorova, Balkans, 19; vgl. auch Todorova, Maria: Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit. In: Geschichte und Gesellschaft 28, Heft 3 (2002), 470–492, hier 471–472. Sundhaussen, Holm: Der Balkan: Ein Plädoyer für Differenz. In: Geschichte und Gesellschaft 29, Heft 4 (2003), 642–658. Zur Kritik an Todorova vgl. auch Sundhaussen, Holm: Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum. In: Geschichte und Gesellschaft 25, Heft 4 (1999), 626–653. Keisinger, Florian: Unzivilisierte Kriege im zivilisierten Europa? Die Balkankriege und die öffentliche Meinung in Deutschland, England und Irland 1876–1913. Paderborn 2008, 44. Die Anzahl von 158 Leitartikeln wurde mit Hilfe des Times Digital Archiv recherchiert. Die tatsächliche Zahl dürfte sogar noch höher ausfallen, da vermutlich nicht alle veröffentlichten Texte mit den gewählten Suchclustern erfasst wurden. Die genannten 158 Kommentare sind das Ergebnis der Recherche für den Zeitraum 1. Oktober 1912 bis 31. August 1913, mit folgenden Suchkombinationen (ohne Überschneidungen): „Balkan(s)+war(s)“, „Bulgaria+war“, „Serbia+war“, „Montenegro+war“, „Turkey+war“, „Greece+war“.
Kriege in Südosteuropa und ihre Wahrnehmung im Westen
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tet: Die beiden größten irischen Tageszeitungen, das (nationalistische) Freeman’s Journal und die (unionistische) Irish Times entsandten sogar eigene Korrespondenten in die Region.6 Gleichwohl – auch das zeigt ein Blick in die Presse – hat Todorova unrecht, wenn sie für das 19. und 20. Jahrhundert von einer durchweg negativen Balkanwahrnehmung im Westen ausgeht. Anders als Todorova annimmt, war der Balkandiskurs westlicher Medien nämlich weder homogen noch einseitig pejorativ, sondern im Gegenteil, außergewöhnlich facettenreich und vielgestaltig. Es war die Positionierung in der sogenannten „orientalischen Frage“, also das Problem, wie mit dem untergehenden Osmanischen Reich politisch verfahren werden sollte, die das Balkanbild Europas im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich prägte. Während Konservative den Bestand der politischen und territorialen Integrität der Türkei in Europa einforderten, unterstützten Liberale die nationalen Bewegungen in der Region und setzten sich für die Etablierung unabhängiger Nationalstaaten in Südosteuropa ein. Das dahinterstehende politische Motiv war auf beiden Seiten dasselbe: die Wahrung des politischen Gleichgewichts auf dem Balkan und damit des Friedens in Europa. Holm Sundhaussen hat demnach mit seiner These vom Balkan als dem „vergessenen“ Teil Europas insoweit recht, als dass es beim europäischen Interesse am Balkan nicht sui generis um die Region ging, sondern vielmehr um die Auswirkungen, die mit einer Eskalation der Konflikte für das übrige Europa befürchtet wurden. KRIEGE IN EUROPA UND SÜDOSTEUROPA In einem weiteren Punkt ist Holm Sundhaussen ohne Einschränkungen zuzustimmen, nämlich wenn er kritisiert, „dass die Geschichte des Balkanraumes in das Prokrustesbett der ‚Allgemeinen‘, d. h. der ‚westlichen‘ Geschichte gezwängt wird.“ Vielmehr sei „die Geschichte des Balkanraumes etwas anderes und weit mehr als eine verspätete, durch das ‚osmanische Erbe‘ verfälschte und im 19./20. Jahrhundert zeitlich gestraffte Variante der ‚Europäischen Geschichte‘.“7 Damit ist freilich nicht gemeint, dass die Historie des Balkanraumes nicht Bestandteil einer europäischen Geschichte sei; gleichwohl plädiert Sundhaussen für die Anerkennung von Differenz: Die Geschichte der unterschiedlichen Regionen Europas solle nicht einseitig mit der Entwicklung im Nordwesten verglichen werden, zumal dies die Geschichte der Balkanregion (und nicht nur diese) zu einer „Defizitgeschichte“ reduziere.8 Besonders deutlich zeigt sich dies beim Blick auf die südosteuropäische Kriegs- und Gewaltgeschichte. Denn Krieg und Gewalt gehörten – daran besteht kein Zweifel – zu den entscheidenden Prägkräften Südosteuropas im langen 19. Jahrhundert. Inner- wie auch zwischenstaatlich war die Gewaltintensität auf dem 6 7 8
Keisinger, Unzivilisierte Kriege, 141–171. Sundhaussen, Holm: Europa-Osteuropa-Balkan oder der ‚kleine‘ historische Unterschied. In: Berliner Osteuropa info 18 (2002), 5–7. Vgl. Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag. Hg. v. Ulf Brunnbauer/Andreas Helmedach/ Stefan Troebst. München 2007, 9–10.
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Balkan in dieser Zeit außergewöhnlich hoch.9 Edgar Hösch nennt die „exzessive Gewalt und beispiellose Grausamkeit“ sogar ein Strukturmerkmal des Balkans und spricht der Region ein Urheberrecht auf das Phänomen der „ethischen Säuberungen“ zu.10 Zwar relativiert Höpken diesen drastischen Befund, indem er auf die Gewaltexzesse des Nationalsozialismus, des Spanischen Bürgerkrieges und nicht zuletzt des Ersten Weltkrieges verweist, gleichwohl haben auch andere Autoren die balkanischen Kriege des 19. Jahrhunderts aufgrund ihrer Gewaltintensität aus der Tradition des europäischen Krieges herausgenommen.11 Zurecht: Der Erste Weltkrieg stand tatsächlich am Ende eines Jahrhunderts, zu dessen großen, wenngleich bislang kaum gewürdigten Leistungen zählt, dass in ihm die weitgehende Trennung von Militär und Zivilbevölkerung – und damit die Verregelung des Krieges – gelungen war. „Die rousseausche Idee des republikanischen Krieges, der keine Privatheit kennt und deshalb auch keine Nichtkombattanten“, so der Historiker Dieter Langewiesche, „hatte in den nationalen Öffentlichkeiten Europas zwar Hochkonjunktur, doch die europäischen Kriege des 19. Jahrhunderts folgten dieser Idee nicht. Sie zielten im Gegenteil darauf, kämpfende Truppen und Zivilbevölkerung zu separieren.“12 Immer ist dies zwar nicht gelungen, wie etwa die zweite Phase des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 verdeutlicht, verglichen jedoch mit dem 17. und 18. Jahrhundert sowie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm sich die Zeit zwischen dem Wiener Kongress (1815) und dem Beginn des Ersten Weltkrieges geradezu friedlich aus. Das galt freilich nur für diejenigen Kriege, die im westlichen Europa ausgetragen wurden, nicht für die außereuropäischen und erst recht nicht für die kolonialen Kriege.13 Eine weitere Ausnahme waren die Kriege im östlichen und südöstlichen Europa. Vor allem die Kriege im Umfeld der südosteuropäischen Nationswerdung nahmen aufgrund ihrer außergewöhnlich hohen Opferzahlen sowie der Art und Weise, wie sie ausgetragen wurden, nicht nur eine Sonderstellung in Europa ein, sondern zugleich die Vernichtungskraft des Ersten Weltkrieges vorweg. Was war es, das die Kriege in Südosteuropa im 19. Jahrhundert so außergewöhnlich machte? Und wie wurden sie von den Zeitgenossen im Westen wahrgenommen? Ein Charakteristikum dieser Kriege war es, dass sich der Staat im Zeichen des Nationalstaatsprojekts zum Träger ethnischer Gewalt aufschwang. Damit unterscheiden sie sich fundamental von zeitgleichen Kriegen im westlichen Europa, 9
Vgl. u.a. Höpken, Wolfgang: ‚Blockierte Zivilisierung‘? Staatsbildung, Modernisierung und ethnische Gewalt auf dem Balkan (19./20. Jahrhundert). In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 4 (1997), 518–538. 10 HÖSCH, Edgar: Die Entstehung des Nationalstaats in Südosteuropa. In: Der ruhelose Balkan. Hg. v. Michael Weithmann, München 1993, 9. 11 Vgl. u.a. Diner, Dan: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalgeschichtliche Deutung. Neuwied 1999, 33. 12 Langewiesche, Dieter: Eskalierte die Kriegsgewalt im Laufe der Geschichte? In: Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert. Hg. v. Jörg BARBEROWSKI. Göttingen 2006, 12–36, hier 27–28. 13 Vgl. u.a. Hochgeschwender, Michael: Kolonialkriege als Experimentierstätte des Vernichtungskrieges. In: Formen des Krieges von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dieter Langewiesche. Paderborn 2007, 269–290.
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in denen die kriegführenden Staaten – fast immer erfolgreich – auf eine Separierung von Kombattanten und Zivilisten setzten. Obwohl zumeist als Staatenkriege ausgefochten, handelte es sich bei Balkankriegen de facto um Volkskriege, in denen die Vertreibung oder gar Vernichtung des Gegners anvisiert wurde; ihr Ziel war der ethnisch homogene Nationalstaat. „Ganz im Sinne des angestrebten ethnischen Nationalstaats stand das Ziel der ethnischen Homogenisierung im Zentrum der Gewaltlogik“, heißt es dazu bei Höpken. „Massaker, oft auch absichtlich verbreitete Gerüchte über Massaker, sollten die Bevölkerung einer Region zur Flucht veranlassen, das Abbrennen der Dörfer ihre Rückkehr unmöglich machen.“14 Zu fließenden Grenzen zwischen Zivilbevölkerung und Militär trugen auch die unzähligen irregulären Truppenverbände bei, die in allen südosteuropäischen Kriegen des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielten. Reguläre Einheiten wurden häufig von Freischärlerbanden begleitet, die sich entweder bei Kriegsausbruch formiert hatten oder als Teil eines auf der Halbinsel verbreiteten Bandenwesens auch über den Krieg hinaus ein paramilitärisches Eigenleben führten.15 Über die Existenz dieser Banden war man in den Regierungen der Balkanstaaten durchaus im Bilde; sie wurden als nützliche Unterstützung akzeptiert, zum Teil auch aktiv mit Waffen und sonstigem Kriegsmaterial versorgt.16 Auch die Türkei verfügte mit den sogenannten „Bashi Bazouks“ über irreguläre Truppenteile. Es wäre jedoch zu einfach, sämtliche Gräueltaten und Gewaltexzesse, die im Verlauf von Kriegen auf dem Balkan aufgetreten sind, den irregulären Banden anzulasten. Vielmehr flossen reguläre und irreguläre, staatliche und nicht-staatliche Gewalt ineinander, was dazu führte, dass „für die Betroffenen die Grenze zwischen einem kalkulierbaren, gewaltfreien Raum und den Zonen der Kriegsgewalt völlig aufweichte.“17 Gräueltaten waren damit ein wesensprägendes Kennzeichen der Kriege auf dem Balkan in den Jahren vor 1914. Zu dieser Schlussfolgerung kommt auch der Bericht der 1910 gegründeten Carnegie Gesellschaft für internationalen Frieden (Carnegie Endowment for International Peace), die im Sommer 1913 die Ursachen sowie den Verlauf der gerade beendeten Balkankriege (1912/13) von einer internationalen Expertenkommission vor Ort untersuchen ließ. Das Ergebnis des Berichts: Sämtliche am Krieg beteiligten Staaten seien für die begangenen Gräueltaten gleichermaßen verantwortlich.18
14 15
Höpken, ‚Blockierte Zivilisierung‘, 525. Vgl. Perry, Duncan M.: The politics of terror: the Macedonian liberation movement, 1893– 1903. London 1988. 16 Vgl. u.a. Koliopoulos, John S.: Brigandage and Irredentism in Nineteenth-Century Greece. In: Modern Greece: Nationalism and Nationality. Hg. v. Martin Blinkhorn/Thanos Veremis. Athens 1990, 103–141. Vgl. auch Adanir, Fikret: Heiduckentum und Osmanische Herrschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte der Diskussion um das frühneuzeitliche Räuberwesen in Südosteuropa. In: Südosteuropa-Forschung 41 (1982), 43–116. 17 Höpken, ‚Blockierte Zivilisierung‘, 530. 18 Report of the International Commission to Inquire into the Causes and the Conduct of the Balkan Wars. Hg. v. Carnegie Endowment for International Peace. Division of Intercourse and Education, Publication No. 4. Washington D. C. 1914.
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KRIEG UND GEWALT AUF DEM BALKAN – DIE WAHRNEHMUNG IM WESTEN Dass sich die Kriege auf dem Balkan von denen im übrigen Europa grundlegend unterschieden, das bezweifelte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg im westlichen Teil Europas niemand. Seit mittlerweile fast 40 Jahren befindet sich die Balkanhalbinsel in einem mehr oder minder permanenten Kriegszustand, schrieb die Londoner Tageszeitung The Times im Juli 1913. Ein Kennzeichen dieser Kriege sei es, so das Blatt, dass in ihnen traditionell jeder gegen jeden kämpfe.19 Die Art und Weise, wie die Kriege dort geführt würden, erinnerte die Times eher an das dunkelste Mittelalter als an „normal European warfare“, wobei selbst das europäische Mittelalter, wie das Blatt betonte, nicht an die in den Kriegen auf dem Balkan verübten Gräueltaten („savagery“) heranreiche.20 Allenfalls könne der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) herangezogen werden, wenn es darum gehe, einen angemessenen Vergleich für die Ereignisse in Südosteuropa seit dem Berliner Kongress (1878) – „a period of chronic warfare“, wie der britische Daily Telegraph die Zeitspanne nannte21 – zu finden.22 Wenngleich in der Öffentlichkeit Konsens bestand, dass die balkanischen Kriege nicht mit denen im westlichen Europa zu vergleichen waren, gab es doch bemerkenswerte Unterschiede, was die Frage anbelangte, wem die Verantwortung für die Kriege und die in ihnen verübten Gräueltaten angelastet wurde. Entscheidend war, wie bereits eingangs erwähnt, welche politische und territoriale Entwicklungsperspektive den Balkanstaaten zugestanden wurde. Liberale setzten auf die Nationen, während für Konservative die Wahrung des Status quo im Vordergrund stand. Im Fall der deutschen Regierung war die Sorge um die offenkundige Schwäche der Türkei so groß, dass ab den 1880er-Jahren deutsche Offiziere an den Bosporus entsandt wurden, um den türkischen Bündnispartner bei den dringend notwendigen Militärreformen zu unterstützen. Dass dieses Engagement nicht ohne Auswirkungen auf das Südosteuropa-Bild einer konservativen deutschen Öffentlichkeit blieb, ist kaum überraschend; allen voran offiziöse Zeitungen wie die Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) oder auch die auflagenstarke Kölnische Zeitung bemühten sich in Kriegszeiten intensiv darum, dem türkischen Verbündeten mediale Schützenhilfe zukommen zu lassen. Die Verquickungen gingen soweit, dass während der Balkankriege 1912/13 der deutsche Generalleutnant von Görtz, der eigentlich als Ausbilder ins osmanische Heer abkommandiert worden war, zugleich auch als Kriegskorrespondent der Kreuzzeitung fungierte.23 Gleichwohl gab es in der deut19 20 21 22 23
The Times, 16. Juli 1913. The Times, 9. Dezember 1913. Daily Telegraph, 3. Juli 1913. Vgl. u.a. Vossische Zeitung, 18. November 1912; The Times, 27. August 1877: „The appalling savagery which disgraces the conflict now raging in Eastern Europe, and for which we must go back to the Thirty Years War to find a parallel […].“ Keisinger, Unzivilisierte Kriege, 40. Ausführlich zu den deutsch-türkischen Militärbeziehungen vor dem Ersten Weltkrieg sowie der Berichterstattung in der deutschen Presse vgl. Alkan, Necmettin: Die deutsche Weltpolitik und die Konkurrenz der Mächte um das osmanische Erbe. Die deutsch-osmanischen Beziehungen in der deutschen Presse 1890–1909. Münster 2003.
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schen und – mehr noch – in der britischen Presse auch Stimmen, die dafür plädierten, die Türkei endgültig aus Südosteuropa zurückzudrängen und durch unabhängige Nationalstaaten in der Region zu ersetzen. Zu denen, die eine konsequente Durchsetzung des Nationalstaatsprinzips in Südosteuropa einforderten, zählte in Deutschland unter anderem das literarische Wochenjournal Die Gartenlaube sowie auf englischer Seite die viel gelesenen Tageszeitungen Manchester Guardian und Daily Chronicle, die in der „orientalischen Frage“ die Position der Liberalen Partei vertraten.24 Deutlich wurden die unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster unter anderem in der divergierenden Deutung der Gräuel und Gewaltexzesse. Einig war man sich lediglich darin, dass die Kriege im Südosten nicht den Regeln einer „zivilisierten“ – sprich: europäischen – Kriegsführung entsprachen.25 Auch dass irreguläre Gewaltformen, das heißt organisierte Banden, bei der Kriegsführung eine zentrale Rolle spielten, wurde nicht bestritten. Während jedoch in konservativen Zeitungen und Journalen die Lesart dominierte, die balkanischen Irregulären mit Banditen und Kriminellen gleichzusetzen und ihr Auftreten sowie ihre personelle und materielle Ausstattung den Regierungen der Balkanstaaten anzulasten, schlossen sich Liberale dieser Deutung nicht an. Die Banden waren für sie das natürliche Resultat fortgesetzter türkischer Unterdrückung, die Regierungen der Balkanstaaten hätten keinen Einfluss auf sie. Darüber hinaus tendierten liberale Blätter dazu, die Aktivitäten der paramilitärischen Verbände herunterzuspielen: „Their insurrections“, schrieb der Guardian im Sommer 1903, „were to avoid encounters with the Turks, and only to fight on the defensive. Sometimes, indeed, the bands took the aggressive, but usually […] their aim appeared to be rather to startle Europe or to provoke the Turks than to strike a serious blow for the emancipation of their country.“26 Weit weniger empathisch was die vermeintlichen Befindlichkeiten der Balkanstaaten anbelangte, war die Berichterstattung der Kreuzzeitung. Sie machte während der Balkankriege 1912/13, wie viele andere auch, vor allem Bulgarien für die Gewaltexzesse verantwortlich.27 Den Bulgaren wurde vorgeworfen, „geradezu bestialische Mittel“ anzuwenden, die „an die schlimmsten Zeiten hunnischer und tatarischer Einfälle“ erinnerten.28 Wenige Tage später hieß es dann: „Es war ein blutiger und abscheulicher Krieg, in dem bulgarischerseits Unmenschlichkeiten begangen worden sind, die eine Schande des 20. Jahrhunderts bleiben werden, und nur in den Gräueln eine Parallele finden, die von den tatarischen Horden verübt wurden.“29 In Übereinstimmung mit dem wenige Monate später veröffentlichten Carnegie-Bericht, der besagte, dass alle Beteiligten für Gräueltaten verantwortlich seien, stellte auch eine 24 Ausführlich dazu vgl. Keisinger, Unzivilisierte Kriege, 77–107. 25 McCarthy, Justin: The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims 1821–1922. Princeton 1995, 62–64. „Wars in the Balkans have never been fought according to the laws of ‘civilized warfare‘“. 26 Manchester Guardian, 10. August 1903. 27 Insbesondere im Ersten Balkankrieg 1912/13 war Bulgarien die dominierende Kraft in der Allianz der Balkanstaaten gewesen. 28 Kreuzzeitung, 7. August 1913. 29 Kreuzzeitung, 13. August 1913.
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liberale Öffentlichkeit die Grausamkeit der Balkankriege 1912/13 nicht in Abrede. Gleichwohl unterschied sich die Lesart dort maßgeblich von der in konservativen Blättern. So verwahrte sich der britische Daily Chronicle ausdrücklich gegen den Vorwurf der konservativen Presse, die Balkanstaaten würden sich systematisch an den muslimischen Bevölkerungen in Makedonien und Albanien vergehen. Zwar könne man nicht ausschließen, dass es vereinzelt zu solchen Übergriffen gekommen sei, so das Blatt, schließlich zögen die Balkanvölker „with the memory of 500 years of outrage and cruelty behind them“ in den Krieg. Kategorisch zurückgewiesen wurde jedoch der Vorwurf, dass die bulgarische Armee damit etwas zu schaffen habe: „Nothing, however, could be a more grotesque travesty of the facts than to represent either Bulgaria or its army as waging a war of atrocities and cruelties.“30 Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie vielgestaltig die westliche Wahrnehmung der Kriege in der Balkanregion war, lieferte das Jahr 1877, als während des russisch-türkischen Krieges Truppen des Zaren rund 200 Kilometer nordöstlich von Sofia auf osmanischem Territorium anlandeten. Während ein Teil der europäischen Presse die russische Donauüberquerung als eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Befreiung der Balkanstaaten bewertete, erblickten konservative Kreise in ihr einen Beleg für das russische Expansionsstreben. Und wie so oft wurden auch hier vermeintliche Kriegsgräuel herangezogen, um die jeweils eigene Position zu untermauern. So berichtete der konservative Daily Telegraph Ende Juli 1877 ausführlich von den Gewaltexzessen, die von russischen und bulgarischen Truppen an muslimischen Zivilisten und Soldaten verübt worden seien. Das Fazit: „Styx and Phlegethon – rivers of hell – never ran through scenes of ghastlier horror than those witnessed on the bosom and the banks of the Danube.“ Und weiter hieß es: „It is tolerably easy to see what will happen next. Those victorious missionaries, the Cossacks, will advance from point to point, gloriously butchering our old allies.“31 Ein gänzlich anderes Szenario aus Bulgarien bekam hingegen präsentiert, wer in diesen Tagen die liberale Presse studierte. So berichtete der Guardian Mitte August 1877 über schreckliche türkische Gräueltaten, begangen an der bulgarischen Zivilbevölkerung im Umfeld der Landung russischer Truppen in Bulgarien. Wenn man der russischen Seite etwas vorwerfen könne, so die Zeitung, dann allenfalls, dass 30 31
Daily Chronicle, 4. April 1913. Daily Telegraph, 30. Juli 1877. Ausführlich hieß es in dem Leitartikel: „The van of the ‚Christian‘ Emperor’s armies of ‚liberation‘ in Bulgaria has marked its way with atrocities. Styx and Phlegethon – rivers of hell – never ran through scenes of ghastlier horror than those witnessed on the bosom and the banks of the Danube. We remit to another place the military estimation of the ferocious attack and the vigorous defense, merely pausing to note the fact that the worst scenes of the Middle Ages never furnished a more cruel illustration of the religion of Christ glorified by human gore and vindicated by massacre. Nor are soldiers alone the victims of this crusade, for, according to the latest information, Christianity is vindicating itself by the perpetration of cruel outrages on non-combatants, which, we suppose, we must not call ‚atrocities‘, because the objects of them are only Moslems. […] by striking down the Empire of Turkey the Russian Government is destroying a Constitutional Power. […] It is tolerably easy to see what will happen next. Those victorious missionaries, the Cossacks, will advance from point to point, gloriously butchering our old allies. […] Russia cannot be allowed to enter Constantinople. Such is the plain statement which England must forthwith make and act upon!“
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sie in den auf ihrem Vormarsch eroberten Gebieten zu schnell die Verwaltung in die Hände der Bulgaren übergebe, was dazu führe, dass sich der Hass der Türken auf die Zivilbevölkerung ins unermessliche steigere; die Folge seien türkische Gewaltexzesse an bulgarischen Zivilisten.32 DIE BALKANKRIEGE – EIN VORBILD FÜR DEN EUROPÄISCHEN KRIEG DER ZUKUNFT? Kein Zweifel: Die Kriege auf dem Balkan vor dem Ersten Weltkrieg waren anders als die im übrigen Europa. Aufgrund ihrer Grausamkeiten sowie der bewussten Vermengung von kämpfender Truppe und Zivilisten fällt ihnen eine Sonderrolle in der europäischen Geschichte des Krieges im 19. Jahrhundert zu. Das sahen auch die Zeitgenossen so, wenngleich (einmal mehr) auffällt, dass die häufig nicht minder grausamen Kolonialkriege der europäischen Mächte, etwa auf dem afrikanischen Kontinent, für die westlichen Kommentatoren praktisch keine Rolle spielten; in der Berichterstattung über die Balkankriege wurde auf sie allenfalls in der nationalistischen irischen Öffentlichkeit hingewiesen.33 Wem jedoch im Westen Europas das Gros der auf dem Balkan begangenen Gräueltaten angelastet wurde, den Osmanen oder den um nationale Unabhängigkeit ringenden Balkanstaaten, hing davon ab, welche Antwort dem Betrachter auf die „orientalische Frage“ vorschwebte – die Durchsetzung des Nationalitätenprinzips in Südosteuropa oder der Status quo und damit die Fortsetzung der Osmanenherrschaft über den Balkan. Aber auch wenn westliche Zeitungen immer wieder darauf hinwiesen, dass Europa die balkanische Form der Kriegsführung seit langer Zeit hinter sich gelassen habe,34 ging dennoch eine Faszination von den dortigen Kriegen aus; sie äußerte sich unter anderem in der Bewunderung des Opfermutes der beteiligten Soldaten und Zivilisten, und reichte mitunter soweit, dass den Balkankriegen mancherorts eine regelrechte Vorbildfunktion für künftige europäische Kriege beigemessen wurde. Dies geschah etwa in Teilen der irischen Öffentlichkeit, was jedoch auf32 Vgl. Manchester Guardian, 16. August 1877. „There is an overwhelming amount of evidence to the horrible extent of the atrocities committed by the Turkish hordes in Bulgaria. […] The Russians are somewhat to blame for, and that is their over-haste in political organization. Wherever they have taken possession of an important town since they entered Bulgaria they have at once proceeded to establish a local civil administration, as on the assumption that its permanent acquisition has been secured. The poor Bulgarian people responded to it eagerly, as well from a desire to please the Russians as from the delight of being freed from their old tyrants; and when presently a turn in the tide of fortune brings the Turks back again, it is not very surprising that they should be treated as spies and traitors. After the cruel excesses of reaction which have been witnessed, the Russians – we may hope – will probably become wiser. […] In the interest of humanity the war should be speedily brought to an end […] far short of the absolute and unconditional triumph of the Russian arms.“ 33 Keisinger, Unzivilisierte Kriege, 141–171. 34 Vgl. etwa The Times, 29. August 1877. „We are not as the Turks or the Russians are. Over Bulgarians, Circassians, Cossacks, Kurds, and all the tribes, we may claim an infinite superiority.“
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The Times (London), 17.10.1912. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart
grund der historischen und politischen Hintergründe nicht allzu sehr überraschen mag. Wie die Balkanstaaten kämpfte Irland nämlich im 19. Jahrhundert um seine nationalstaatliche Unabhängigkeit.35 So wurde beispielsweise der Umstand, dass im Oktober 1912 ausgerechnet das kleine Montenegro – „with a population much less than that of the single county Cork, and very little larger in area“36 – den Krieg gegen die scheinbar übermächtige Türkei eröffnete, in der nationalistischen irischen Presse ausführlich kommentiert. Das Freeman’s Journal, die zum damaligen Zeitpunkt auflagenstärkste irische Tageszeitung, würdigte den Schritt der Montenegriner als ein „glorious and inspiring example“, und betonte, dass keine Nation in Knechtschaft leben müsse, wenn sie nur den Mut aufbringe, sich gegen die Unterdrücker zu erheben.37 Wie der Weg in die Freiheit aussehen sollte, davon hatte das Monatsjournal Irish Freedom eine recht klare Vorstellung: Mit dem Schwert in der Hand! Zwar werde der Kampf gegen die britischen Besatzer für die Iren ein blu35 Vgl. Boyce, David George: Nationalism in Ireland. London/New York ³1995. 36 Freeman’s Journal, 9. Oktober 1912. 37 Freeman’s Journal, 12. Oktober 1912. „Can anyone think that any nation need remain slaves or helots, if only they have the brave hearts?“
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tiger und verlustreicher werden, die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass am Ende der Sieg stehe, sei hoch, zumal man die militärischen Fähigkeiten der Briten geringer einstufte als die der Türkei („Her strength is naval, and her navy would be of no use against us“). Voraussetzung für den Sieg sei jedoch, so das Blatt weiter, dass sich die gesamte irische Nation für den Freiheitskampf rüste: „Every young Irishman should train his body and mind for war. We have always insisted it can be done; and Bulgaria is a heavy reinforcement to that opinion.“38 Doch nicht nur in der westlichen Peripherie vermochte man den Balkankriegen etwas Positives abzugewinnen; auch in Deutschland und Großbritannien gab es Stimmen, die auf die Vorzüge der balkanischen Kriegsführung hinwiesen, zumal etliche der Betrachter in ihr den europäischen Krieg der Zukunft vorweggenommen sahen. So war bei Ausbruch des Balkankrieges 1912 nicht nur die konservative Kreuzzeitung von der Kriegsbegeisterung der Menschen in der Region angetan,39 auch die liberale Gartenlaube konnte nicht umhin, dem „Opfermut und der Selbstverleugnung“ der Balkanvölker „höchste Bewunderung“ zu zollen.40 Etwas „gewaltig Packendes“ glaubte die Kölnische Zeitung der auf dem Balkan praktizierten „grenzenlosen Unterordnung des einzelnen unter die größere Einheit des Staates“ zu erkennen; für die Menschen dort sei „der jetzige Krieg ein echter Volkskrieg, ein Krieg der nationalen Pflicht und Ehre“, auf den sie sich lange vorbereitet hätten und in den sie nun „wie zu einer Feier [ziehen], ohne einen Augenblick an dem Endergebnis zu zweifeln.“41 Noch Monate später beharrt die Kölnische Zeitung darauf, dass die Balkanvölker „mit Freude“ in den Kampf gezogen seien, was den Krieg – trotz seiner zahlreichen Übel – zu einem „herrlichen“ gemacht habe.42 Ein vergleichbares „Draufgängertum“, darin war man sich in Deutschland milieuübergreifend einig, existiere unter deutschen Soldaten schon lange nicht mehr. Das jedoch werde sich, so die düstere Prophezeiung des Kommentators der Allgemeinen Zeitung, in kommenden Kriegen bitter rächen: In einem Krieg, wie Deutschland ihn einst wird ausfechten müssen, muss bei jedem Einzelnen der Gedanke hinzukommen: Die Leute, die da drüben liegen und schießen, sind samt und sonders Hallunken, hassenswert und verächtlich zugleich; wir müssen sie ausrotten! Das mag weder christlich, noch moralisch, noch vor allem ‚humanitär‘ sein, aber es wird zum Sieg führen. Dies ist, was man die ‚Ethik des Chauvinismus‘ nennen könnte. Machen auch wir sie uns zu eigen!43
Und auch in Großbritannien war man durchaus fasziniert davon, wie sich auf dem Balkan ganze Nationen in den Krieg stürzten.44 Anders als in Deutschland jedoch 38 Irish Freedom Nr. 26, Dezember 1912. 39 Kreuzzeitung, 10. Oktober 1912. „Das Volk bringt bis in die ärmsten Schichten Opfer, die vielfach weit über die Verhältnisse des einzelnen gehen.“ 40 Gartenlaube, No. 48, 1912. 41 Kölnische Zeitung, 11. November 1912. Und an anderer Stelle, am 29. Oktober, heißt es: „Da sieht man, wie Väter und Söhne zusammen in den Krieg gehen, grau mit rissigem Ledergesicht der Alte, rotbraun mit frisch blickenden Augen die Jungen, aber alle hager und stramm, die echten Söhne der Balkanberge. […] alles was Waffen tragen kann, [ist] eingerückt.“ 42 Kölnische Zeitung, 2. Februar 1913. 43 Allgemeine Zeitung, 16. November 1912. 44 Vgl. etwa The Times, 17. Oktober 1912. „Whole nations marching forth to battle, leaving be-
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forderten selbst konservative britische Zeitungen keine neue „Ethik des Chauvinismus“, sondern – ganz praktisch – eine Intensivierung der britischen Rüstungsanstrengungen. Genau das habe die Türkei in den vergangenen Jahren versäumt, die Folgen könne man nun auf dem Balkan besichtigen. England sei gerade dabei, im Gegensatz zu den anderen Großmächten, allen voran Deutschland, denselben Fehler wie die Türkei zu begehen. Dabei habe der Krieg auf dem Balkan eines ganz klar vor Augen geführt: It is doubtless a deplorable necessity that in the twentieth century the appeal should be made to material organization and downright physical force. […] [Therefore] these blood-stained pages of history are written for our example. When a strong man armed keeps his house, his goods are at peace.45
Eine verstärkte Ideologisierung – man könnte auch Fanatisierung dazu sagen – der eigenen Truppen sowie eine signifikante Steigerung der Rüstungsanstrengungen, das waren die Schlussfolgerungen, die man in der deutschen und englischen Öffentlichkeit aus den Erfahrungen der Balkankriege 1912/13 zog. Als schließlich wenige Monate später mit der österreichischen Kriegserklärung an Serbien der „Dritte Balkankrieg“ vom Zaun gebrochen wurde, der sich binnen kurzer Zeit zu einem europäischen Landkrieg und schließlich zum Weltkrieg ausweitete, stand beides offenbar in ausreichendem Umfang zur Verfügung. Auch wenn es die Zeitgenossen im Sommer 1914 noch nicht wissen konnten – in den Balkankriegen der vorangegangenen rund 40 Jahre hatte sich die Kriegswirklichkeit des 20. Jahrhunderts angekündigt. QUELLEN Allgemeine Zeitung (Augsburg/München) Daily Chronicle (London) Daily Telegraph (London) Freeman’s Journal (Dublin) Gartenlaube (Leipzig/Berlin) Irish Freedom (Dublin) Kölnische Zeitung (Köln) Manchester Guardian (Manchester) Neue Preußische Zeitung / Kreuzzeitung (Berlin) The Times (London) Vossische Zeitung (Berlin)
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hind them only the women and children and the old men.“ Wenige Tage später, am 8. November 1912, hieß es dann wiederum in der Times: „They fought like heroes. They violated many maxims of war; they had never heard of the dictum that the bayonet is obsolete. But such is the spirit of a nation in arms […].“ Daily Telegraph, 8. November 1912. Zu diesem Resultat kam am 5. März 1913 auch die Times: „Every other great European nation has reached the conclusion that its own necessities require an increase if its armed strength. Great Britain alone, while fully conscious of this situation, still shrinks from deciding to face the new requirements and to meet them.“
WAHRNEHMUNG UND DARSTELLUNG VON RAUM UND GRENZEN Die Dobrudscha in bulgarischen literarischen Texten über den Ersten Weltkrieg Deniza Petrova Literatur und Kunst in Bulgarien bildeten in der Epoche der sogenannten „bulgarischen Wiedergeburt“ (18.–19. Jh.) wichtige Projektionsflächen für aufklärerische Bildungsideen und national-revolutionäres Gedankengut. Schriftsteller und Dichter setzten sich für die Propaganda nationaler Ideale ein und wirkten aktiv in der Unabhängigkeitsbewegung Bulgariens. Die Nähe zum Ideal einer unabhängigen Nation wurde zum Qualitätsmaßstab für publizistische und literarische Tätigkeit und zum entscheidenden Orientierungskriterium für die folgenden Künstlergenerationen. Eine von den Geboten dieser Zeit abgekoppelte Literatur, welche nicht nationale Musterbilder prägte und sich dem patriotischen Diskurs entzog, war nahezu undenkbar. Nach der Etablierung des bulgarischen Nationalstaates (1877/78) setzte sich diese Tendenz fort, da literarische Diskurse angesichts verspürter innerer und äußerer Gefahren für den jungen Staat dessen Konsolidierung unterstützten. Literatur und Publizistik dienten weiterhin der Aufrechterhaltung und Popularisierung nationaler Ideen und wurden in Kriegs- und Krisenzeiten zum wichtigsten Instrument patriotisch gefärbter Kommunikationspolitik mit einem enorm effektiven und sehr breiten Wirkungsgrad. Um den Entstehungskontext und die Vorprägungen der bulgarischen Literatur und Erinnerungskultur in Bezug auf den Ersten Weltkrieg zu verdeutlichen, ist ein Blick auf die historische Entwicklung des Landes an der Schwelle zum 20. Jahrhundert eine wesentliche Voraussetzung. Der Balkan – ein Grenzraum zwischen Orient und Okzident – war im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Arena zahlreicher Gewaltkonflikte.1 Die ethnisch stark zerklüftete Region barg gewaltiges Krisenpotenzial und erwies sich als ruheloser Spannungsherd – stets im Blickfeld der Großmächte, deren Interessen- und Machtpolitik häufig zum Katalysator kriegerischer Auseinandersetzungen wurde.
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Boeckh, Katrin: Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan. München 1996. – Höpken, Wolfgang: Archaische Gewalt oder Vorboten des »totalen Krieges«? Die Balkankriege 1912/13 in der europäischen Kriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag. Hg. v. Ulf Brunnbauer. München 2007, 245–260.
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Die zum Ersten Weltkrieg noch sehr kurze Existenz2 eines unabhängigen bulgarischen Staates wurde von starken patriotischen Tendenzen geprägt. Nationale Ideen besaßen hohe Popularität und ein hohes Wirkungspotenzial in breiten Schichten der Bevölkerung und wurden von den politischen, militärischen und intellektuellen Eliten des Landes getragen und weitertransportiert. Allerdings bildeten Großreichträume in diesem Zeitkontext nicht allein auf dem Balkan ein historisches Phänomen: Ethnisch-religiöse Ausgrenzung und Gewalt zeichnen die gesamteuropäische Nationengeschichte dieser Zeit aus, so Claudia Weber in ihrer 2006 erschienenen Dissertationsschrift über bulgarische Erinnerungskultur.3 Durch eine rasche Entwicklung, flankiert von drei Kriegen4, wurde das bulgarische Militär zu einer etablierten, gesellschaftlich angesehenen Stütze des Staates und darüber hinaus zu einem populären Instrument des sozialen Aufstiegs. Militärische Stärke und Erfolge standen für nationale Souveränität und Prosperität. Zu den Konstrukteuren der nationalen Identität zählten im Wesentlichen zwei „Trägergruppen“:5 zum einen die politischen Entrepreneurs, und zum anderen die den kulturellen Pol repräsentierenden akademischen Eliten. Einerseits wurde das Militär in Bulgarien zu einer Brutstätte politischer Akteure, andererseits bezog die bulgarische Intelligenz ihre Erfahrungen aus dem Bereich des Militärischen. Für Letztere fungierte es zudem als Projektionsfläche für ihre vertretenen nationalen Ideen, welche ihren Ursprung in der Zeit der „bulgarischen Wiedergeburt“ hatten. Bei einer Bevölkerung von knapp über 4 Millionen hatte Bulgarien zum Kriegsende 1918 ca. 860 000 Soldaten mobilisiert.6 Ein Drittel davon fiel oder wurde schwer verwundet, Tausende gerieten in jahrelange Gefangenschaft.7 Neben dem wirtschaftlichen Desaster, das diese für die Ressourcen des Landes ungeheure Anstrengung auslöste, blieben nur wenige Familien von Verlusten von Angehörigen 2 3 4
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1908 erklärte Bulgarien seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich und wurde zum Zarenreich. Seit 1878 war es tributpflichtiges Fürstentum. Weber, Claudia: Suche nach der Nation. Erinnerungskultur in Bulgarien von 1878–1944 . In: Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas (Kultur und Gesellschaft Südosteuropas, Bd 2). Hg. v. Wolfgang Höpken/Holm Sundhausen. Berlin 2006, 388. Vor dem Ersten Weltkrieg: 1885 gegen Serbien, Balkankriege 1912 und 1913. Seit seiner Unabhängigkeit 1878 (Russisch-Türkischer Krieg) nahm Bulgarien bis 1918 an vier Kriegen teil. Vgl. Crampton, Richard: Bulgaria 1878–1918. A History. New York 1983. – Ders.: Bulgaria. Oxford 2007. – East European Society in World War I. Hg. v. Béla K. Király/Nanor F. Dreisziger. Boulder 1985. – Boeckh, Katrin: Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan. München 1996. – Hall, Ri chard: Bulgarias Road to the First World War. New York 1996. – Ders.: Balkan Wars 1912– 1913: Prelude to the First World War. London 2000. Eisenstadt, Schmuel Noah: Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive. In: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit. Hg. v. Bernd Giesen. Frankfurt am Main 1991, 2. Aufl., 21–38, 37. Auskunft der Mobilisationsabteilung des bulgarischen Generalstabes vom 10.1.1919 über die bulgarischen Verluste für die Kriegsjahre 1915 bis 1918, In: DVIA [Dǎržaven voennoistoričeski arhiv] fond 42 M, op.1, a. e. 46, list 68. Auskunft des Sanitätsdienstes der Mobilisationsabteilung des bulgarischen Generalstabes vom 20.1.1919 über die Mobilisationszahlen für die Kriegsjahre 1915 bis 1918, in: CVA, fond 42 M, op.1, a. e. 46, list 69.
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verschont. So erhielt die Erinnerung an den Krieg eine überdauernde, große Bedeutung für die Bevölkerung und wurde auch für spätere Generationen zum identitätsstiftenden Deutungsangebot und zur Projektionsfläche politischen Denkens sowie in der Form der privaten oder öffentlichen Trauerbewältigung verarbeitet. Ein Jahrzehnt, überschattet von der Gewalt und dem Elend mehrerer Kriegsjahre, prägte das Kulturleben und somit die Entwicklung und die Themenfelder der bulgarischen Literatur weit über diese bewegte Zeit hinaus. Während des Ersten Weltkrieges und in den Nachkriegsjahren entstanden und etablierten sich neue Gattungen in der bulgarischen Literatur, wie das Kriegstagebuch und die Kriegserinnerungen. Unter den Verfassern einer ganzen Reihe dem Krieg gewidmeter Schriften, die in erheblichem Umfang Publizität erfuhren, befinden sich Politiker, hohe Militärs, Kriegsberichterstatter und Frontkorrespondenten, Schriftsteller, aber auch Unteroffiziere, Soldaten oder Bürger von besonders stark umkämpften Städten. Die sozialen Hintergründe der Autoren sowie deren schriftstellerische Begabung divergieren stark. Ebenso unterschiedlich fallen deren Beweggründe für das Verfassen und die Veröffentlichung von Kriegsmemoiren oder Tagebüchern aus. Einige Veröffentlichungen entstanden als Auftragsarbeit zum konkreten Anlass, z. B. dem Jahrestag einer Schlacht oder dem Gedenktag gefallener Soldaten. Als Auftraggeber fungierten Staatsinstitutionen wie das Kriegs- oder das Kulturministerium. Häufig initiierten und finanzierten auch Reservistenvereine, Bürgerinitiativen oder Angehörige von Gefallenen das Publizieren der Manuskripte von Kriegsteilnehmern oder Zivilisten. Ein Großteil der Veröffentlichungen erschien bereits während des Krieges oder unmittelbar nach Kriegsende, nicht selten mit dem Anspruch, das Andenken an militärische Siege und Heldentaten vor dem schmerzlichen Hintergrund der Kriegsniederlage aufrechtzuerhalten. Diesen Texten ist ein hoher Grad an patriotischem Pathos und Selbstzensur eigen. Sie sind, wie auch die offizielle Geschichtsschreibung8, um die Konstruktion einer fiktiven, heroisierenden Darstellung des Kriegsgeschehens bemüht und stützen sich dabei auf tradierte Muster und feste Sprachformeln. In anderen Fällen handelt es sich wiederum um späte Veröffentlichungen, welche zwar nicht infolge eines institutionellen Auftrags entstanden oder der Propa8
Hierzu kann an die vor allem in jüngster Zeit entstandenen Studien zur Rolle der Geschichtsschreibung in Südosteuropa angeknüpft werden. Vgl. Dogo, Marco: Historians, Nation-Building, Perceptions. In: The Balkans. National Identities in a Historical Perspective. Ravenna 1998, 21–31. – Historians as Nation-Builders. Central and South-East Europe. Hg. v. Dennis Deletant/Harry Hanak. Basingstoke/London 1988. – Hausleitner, Mariana: Nationalismus in der postkommunistischen Geschichtsschreibung Rumäniens, der Moldaurepublik und Ukraine. In: Umbruch im östlichen Europa. Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis. Hg. v. Andrei Corbea-Hoişie/Rudolf Jaworski/Monika Sommer. Innsbruck u. a. 2004, 109–124. – Jaworski, Rudolf: Geschichtsdenken im Umbruch. Osteuropäische Vergangenheitsdiskurse im Vergleich. In: Umbruch im östlichen Europa, 27–44. – Krzoska, Markus/ Maner, Hans-Christian: Einleitung. In: Beruf und Berufung. Geschichtswissenschaft und Nationsbildung in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Dens. Münster 2005, 7–17.
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ganda der Nationalidee dienen sollten, wohl aber von Intentionen geprägt sind, die in einem emotional hochgradig beladenen national-politischen Diskurs wurzeln. Territoriale Verluste sowie die Wiedereingliederung von bulgarisch besiedelten Gebieten infolge von kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Nachbarstaaten prägten stets die thematische Ausrichtung solcher Werke. Diese Thematik spiegelt sich auch in literarischen Darstellungen der Dobrudscha in den Jahren der Balkankriege 1912/13, des Ersten Weltkrieges und in den Jahrzehnten danach wider. Diese Region, die heute Teil von Bulgarien und Rumänien ist, war vor und im Ersten Weltkrieg Schauplatz zahlreicher bewaffneter Konflikte. Der Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern in diesem Gebiet veränderte sich zwischen 1913 und 1919 dreimal drastisch, bis er 1940 endgültig geregelt wurde.9 Kriegserlebnisse, Verlust von Heim und Familie, Trennung und Leid bilden den Mittelpunkt der der Dobrudscha gewidmeten literarischen Texte, die bereits während des Krieges oder in den Nachkriegsjahren entstanden. Die Region als Raum – gekennzeichnet von Gewalt, willkürlich geteilt, ein Ort, wo die Grenzen die Harmonie des Daseins zerstören – bildet die landschaftliche Komponente im Handlungsrahmen von Erzählungen, Novellen und Kriegstagebüchern. Unter den Autoren befinden sich namhafte Schriftsteller wie Jordan Jovkov10 und Dora Gabe11, aber auch Kriegsteilnehmer12, die ihre Erfahrungen aus der Sicht des einfachen Soldaten niederschrieben. Anhand ausgewählter Texte wird im Folgenden der Frage nach der Wahrnehmung und der literarischen Darstellung der Dobrudscha und ihrer Grenzen nachgegangen, die sowohl für die Literatur- als auch für die Geschichtswissenschaft von Interesse ist. Literaturgeschichte, Militärgeschichte und Historiographie bedienen sich der Kriegsmemoiren und Kriegstagebücher als Forschungsquellen. Eine solche Quelle sind die Kriegserinnerungen von Georgi Georgiev mit dem Titel Edin ot pǎrva divizija. Spomeni na učastnik [Einer aus der Ersten Division. Erinnerungen eines Kriegsteilnehmers], die 1935 veröffentlicht wurden. Das Werk erfreute sich hoher Popularität, erlebte fünf Auflagen in den folgenden sieben Jahren und konnte ein breites Publikum erreichen, bis das Buch nach der kommunistischen Machtübernahme durch die Zensur 1944 verboten wurde. 9
Unter dem Druck der Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges gelang es, auf diplomatischem Wege die Rückgabe der Süddobrudscha von Rumänien zu erreichen. Mit dem Vertrag von Craiova (bulg. „Krajovska spogodba“) vom 7. September 1940 gliederte Bulgarien die Süddobrudscha in die Grenzen von 1913 wieder ein. 10 Jordan Jovkov (1880–1937) ist ein bulgarischer Schriftsteller, der als Meister der Erzählung gilt. Bis 1912 lebte er in der Dobrudscha, wo er als Dorflehrer arbeitete. Seine Verbundenheit mit der Region spiegelt sich in vielen seiner Werke wider. Exemplarisch vgl. Jovkov, Jordan: Večeri v Antimovskija han [Abende im Wirtshaus von Antimovo]. In: Dems.: Sǎbrani sǎčinenija [Gesammelte Werke], Bd. 2. Sofia 1976. 11 Dora Gabe (1886–1983) war eine berühmte bulgarische Dichterin und Schriftstellerin. Sie stammt aus der Dobrudscha und hat in ihren Werken auch über den Krieg und das Leid in der Region geschrieben. Vgl. z.B. Gabe, Dora: Sled sraženijata. Pǎtepis [Nach den Kämpfen. Ein Reisebericht]. In: Otečestvo [Vaterland], Heft 10, Sofia 1917/18. 12 So findet man in den in Sammelbänden herausgegebenen Regimentsgeschichten eine bedeutende Zahl privater Kriegserinnerungen, welche die Kampfhandlungen in der Dobrudscha thematisieren.
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Der Autor Georgi Georgiev13 nahm kaum zwanzigjährig als junger Offizier während des Ersten Weltkrieges an dem Rumänienfeldzug 1916/17 als Kompaniechef teil. Er wurde bei der Offensive der Mittelmächte vor Kubadin in Rumänien14 schwer verwundet, zum Kriegsende geriet er in Gefangenschaft, konnte jedoch fliehen und wurde mit den höchsten Kriegsorden ausgezeichnet. In den Nachkriegsjahren setzte er seinen Militärdienst fort, betätigte sich aber auch als Journalist und veröffentlichte seine Kriegserinnerungen spät, fast zwei Jahrzehnte nach den im Buch geschilderten Ereignissen. Subjektive Betrachtungen und operationsgeschichtliche Abhandlungen sind in seinen Memoiren untrennbar ineinander verflochten, die Sprache ist stark emotional gefärbt und der patriotische Duktus dominiert. Das Buch genoss zunächst enorme Popularität. In der bulgarischen Presse wurde es mit Remarques Im Westen nichts Neues verglichen und als „Literaturmythos“ bezeichnet. Tatsächlich entspricht der Text dem tiefen Bedürfnis der Gesellschaft nach Wiederfindung von Idealen und Identitäten infolge der militärischen Niederlage, die nicht nur eine politische und wirtschaftliche, sondern auch eine tiefe mentale Krise auslöste. Die deklarierte Intention des Verfassers, den Gefallenen ein verbales Denkmal zu setzen15, beleuchtet einen Wesenszug der bulgarischen Erinnerungskultur der Nachkriegszeit, die eine Art literarischen Erinnerungsort für die Kriegshelden im kollektiven Gedächtnis16 zu erschaffen suchte.17 Der Erzähler nennt seine Darstellung „eine Beichte“18 und suggeriert hiermit zugleich mit der Leserschaft geteilte Intimität sowie Teilhabe seiner Erzählung am Sakralen. Er stellt sich nämlich die Aufgabe, „die Erinnerung an die Kameraden 13 Georgi Georgiev (1896–1980) war ein bulgarischer Offizier, Jurist, Schriftsteller und Journalist. 1935 veröffentlichte er seine Kriegserinnerungen, die schnell populär wurden. 14 September/Oktober 1916 durchbrechen bulgarische, deutsche und türkische Truppen der Mittelmächte die rumänischen Verteidigungslinien bei Cobadin in Rumänien und erobern die Hafenstadt Constanţa am Schwarzen Meer. 15 Georgiev, Georgi: Edin ot pǎrva divizija. Spomeni na učastnik [Einer aus der Ersten Division. Erinnerungen eines Kriegsteilnehmers]. Sofia 1935, 29. 16 Zum Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ vgl. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. v. Jan Assmann/Tonio Hölscher. Frankfurt am Main 1988, 9–19. – Burke, Peter: Geschichte als soziales Gedächtnis. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen kultureller Erinnerung. Hg. v. Aleida Assmann/Dietrich Harth. Frankfurt am Main 1991, 289–304. – Commemorating War. The Politics of Memory. Hg. v. Timothy G. Ashplant/Graham Dawson/Michael Roper. New Brunswick 2004. – Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2005. – Mehrdeutigkeit. Die Ambivalenz von Gedächtnis und Erinnerung. Hg. v. Moritz Csáky/Peter Stachel. Wien 2003. – Umbruch im östlichen Europa. Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis. Hg. v. Andrei Corbea-Hoisie/Rudolf Jaworski/Monika Sommer. Innsbruck u. a. 2004, 11–26. – Winter, Jay M.: Sites of Memory, Sites of Mourning. The First World War in European Cultural History. Cambridge 1995. – Wischermann, Clemens: Kollektive versus »eigene« Vergangenheit. In: Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft. Hg. v. Dems. Stuttgart 1996, 9–17. 17 Ausführlich zur Erinnerung an die Gefallenen in schriftlichen Kriegerdenkmälern am Beispiel des italienischen Gefallenenkultes siehe JANZ, Oliver: Das symbolische Kapital der Trauer. Nation, Religion und Familie im italienischen Gefallenenkult des Ersten Weltkriegs. Tübingen 2009. 18 Vgl. Georgiev, Edin ot pǎrva divizija, 29.
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auferstehen zu lassen“19, um für die Gefallenen eine Art Unsterblichkeit im kollektiven Gedächtnis der Nation zu erreichen. Er beansprucht Authentizität für sich und appelliert an das Auditorium, ihn als „einen aus der Menge, einen aus der Ersten Division“20 zu betrachten. So garantiert er dem Publikum einen vermeintlich hohen Wahrheitsgrad der Heldenerzählung und tritt zugleich bescheiden in den Hintergrund, um die von ihm erschaffene Bühne den tatsächlichen Helden zu überlassen. Sein zweites Kapitel, betitelt Napred po zlatna Dobrudža! [Vorwärts in die goldene Dobrudscha!]21, ist dem Kriegsgeschehen in dieser Region gewidmet. Ihr wird bereits im Titel eine durch die attributive Nennung des Edelmetalls betonte Sonderstellung zugesprochen. „Golden“ wirkt sie durch ihre Fruchtbarkeit, aber auch durch den hohen Preis, den die Kämpfenden für ihre Wiedererlangung zahlen. Im Text dominieren eine militärisch gefärbte Sprache und kurze, prägnante Sätze. Die Dobrudscha wird einerseits als Schlachtfeld, andererseits als Raum der Alltäglichkeit dargestellt, wo die Soldaten rasten, essen, sich unterhalten oder unterwegs sind. Die Bezeichnung „goldene Dobrudscha“ entspricht der Wahrnehmung der Region als „Kornkammer“ Bulgariens, aber auch dem historischen Mythos, der sie als „Wiege des Bulgarentums“ überhöht, als Ort, wo Fruchtbarkeit und Fülle herrschen, als Ort der Lebensentstehung, der Genese eines Volkes, als Heimat. Es gibt im Bulgarischen das Wort für Vaterland „Otetschestvo“ – das Land der Väter, viel häufiger aber wird die Heimat in literarischen Texten weiblich konnotiert, als die „Rodina“ – die Mutter Bulgariens, das Land, das einen geboren hat. Georgievs Bild von der Dobrudscha als Teil der Heimat entstammt und entspricht gänzlich dem in der bulgarischen Literatur tradierten Konzept vom Land als „Ur- oder Übermutter“. Darin gehen die Kämpfenden als ihre Söhne eine „geheiligte Allianz“ ein, eine Verbindung, die der Tod im Felde nur ehren kann und muss. 22 Die Fruchtbarkeit, die Lebensfülle des Landes, stehen im Text nicht im Kontrast zum Schlachtfeld, wo getötet und gestorben wird. Im Gegenteil – den Tod, „et in Arcadia ego“, gibt es gerade in dieser paradiesischen Landschaft, viel mehr – er ist der Schlüssel zu ihr, das Geheimnis ihrer Fruchtbarkeit. Das Blutopfer wird hier als der einzige Weg zur Vereinigung mit ihr und zugleich als ein Tribut an das Mutter-Land gedacht. Die Bereitschaft, auf dem Schlachtfeld zu sterben, wird im Text zu einer Art Initiation, die durch den „Kuss der Kriegsgöttin besiegelt wird“ und in den Stand der „wahren Söhne“ des Mutter-Landes erhebt.23 Die Landschaft erscheint dem Erzähler unbeschreiblich schön, man „bereut es, nicht zum Maler geboren zu sein“, alles ist „erfüllt von Poesie“24. Grandiose Bilder der Schlacht und des – hier ästhetisierten, nahezu majestätischen – Sterbens präsentieren sich vor einem wunderschönen, mystisch angehauchten Hintergrund 19 20 21 22 23 24
Ebd. Ebd. Ebd., 21. Vergleichend zur Trauersymbolik der Kriegserinnerung siehe JANZ, Oliver: 14. Der große Krieg. Frankfurt am Main 2013, 355–357. Ebd., 23 Ebd.
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als „purpurnes Gemälde, das uns von den letzten Strahlen der sterbenden Sonne vererbt wurde“.25 Das, was der deutsche Verbindungsoffizier Ulrich von Henning auf Schönhoff,26 selbst Teilnehmer am Rumänienfeldzug 1916/17, in seinen Kriegserinnerungen lapidar als „wasserarme Steppe“27 schildert, wird in Georgievs Buch zum Heldenpantheon, ein zeit- und grenzenloser Raum, wo die ewige Schönheit der Natur die epische Kulisse einer ebenso der Ewigkeit würdigen Heldenerinnerung darstellt. Die Konstruktion der Dobrudscha als Ur-Raum, als Geburtswiege des Bulgarentums, erscheint auch in den frühen Werken eines anderen Autors, der sich später auch im Ausland einen Namen als Schriftsteller machen wird – Jordan Jovkov. Er wurde 1915 eingezogen und schrieb als Kriegskorrespondent eine Reihe essayistisch-literarischer Skizzen, Impressionen und kurzer Erzählungen aus dem Frontalltag, die in diversen militärischen Zeitungen veröffentlicht wurden. Noch im Kriegsjahr 1917 entstand ein Sammelband mit dem Titel Te pobediha [Sie haben gesiegt], welcher mehrere der Dobrudscha gewidmete Texte umfasst. Jovkovs Darstellung, ebenso wie die Georgievs, erinnert stark an das Bild einer Arcadia, einer paradiesischen, ewig schönen und ewig fruchtbaren Landschaft. Sie ist im Vergleich zu Georgievs Schilderung etwas greifbarer, plastischer dargestellt, mit einer Farbpalette, die dem Kolorit des dörflichen Idylls entspringt. Anders als die überdimensionalen Kulissen der Heldenerinnerung kennt sie eine Grenze. In Jovkovs Kurzgeschichten und fast impressionistisch wirkenden literarischen Skizzen kehrt das Motiv der alten und der neuen Grenze immer wieder. 1914, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Balkankrieges, nach dem Bulgarien Teile der Dobrudscha an Rumänien verlor, veröffentlichte er Na starata granica [An der alten Grenze]. Der Autor vergleicht die Landschaft mit einem Meer, die Grenze mit einer felsigen Küstenlinie. Sie bildet „eine scharfe Linie, an der ein Land endet und ein anderes, unbekannt, fremd, seinen Anfang hat“.28 Die Grenze trennt, ist aber zugleich durchlässig: […] an der Grenze, in die eigene Lebensart, in die bekannten Sitten sickert in tausenden dünnen Rinnsalen die Lebensweise und die Kultur eines fremden Volkes. Und so wird das Leben bunter und reicher. Die Meeresküste und die Grenze sind riesige Fenster… durch die man in eine andere Welt blicken kann.29
Das Subjekt in Jovkovs Text kennt jede Kurve dieser Trennlinie zwischen den zwei Welten, die keine Grenze mehr darstellt, da sie bereits durch eine neue ersetzt worden ist. Grenzen sind in Jovkovs Welt wandelbar: Sie werden stets neu gezogen, 25 Ebd., 24. 26 Der deutsche Verbindungsoffizier bei der bulgarischen III. Armee, Major Ulrich von Henning auf Schönhoff, hat ein Kriegstagebuch sowie Kriegserinnerungen hinterlassen. 1916/17 wurde er in der Dobrudscha eingesetzt. Henning auf Schönhoff, Ulrich von: Kriegserinnerungen „Erleben, Denken und Wirken im Weltkriege 1914–18“. In : Bundesarchiv-Militärarchiv (BAMA), N440. 27 Ebd. 28 Jovkov, Jordan: Na starata graniza [An der alten Grenze]. In: Zveno, Vol. I., Heft 2/3,1914, 140–142, hier 140. 29 Ebd., 140.
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umkämpft und schmerzlich erfahren, denn „an der alten Grenze ist der Schmerz um das verlorene Vaterland am stärksten“.30 An dieser alten Grenze taucht aus der Erinnerung des Erzählers die Figur eines alten Schäfers auf, ein Zeuge dieser Wandlung, der den Verlust des Vaterlandes betrauert und vor dem Vergessen mahnt. Eine Figur, entsprungen einer zutiefst patriarchalen Welt, mit biblischen Zügen, ein zeitloser Greis. Wie ein schuldloser Ahasver wandert er durch mehrere Textpassagen – heimatlos und zugleich ein letzter Teil der alten Heimat, Träger der Trauer und der Erinnerung an sie. Jenseits der Grenze liegt eine entrückte Welt: […] das eigene, schöne Land. Die Luft ist da ganz anders, die Sonne scheint heller, der Himmel ist blauer. Jedes Stück Erde ist ein Garten mit Blumen und Liedern, die Menschen sind glücklicher da […] es ist ein wunderbares Land, ein Paradies. Einst war es auch hier so, jetzt scheint das nie gewesen zu sein, wie ein Traum.31
Die zwei Welten, erschaffen durch die Grenze, sind kaum vereinbar, das Leben in dem „ent-eigneten“ Raum scheint welk, erloschen, nur ein Schatten früherer Zeiten. Vor diesem utopischen, prächtigen „Früher“, vor dieser Ur-Zeit, in der die Welt des Erzählers noch heil, noch ungeteilt, im unberührten Zustand eines biblischen Paradieses war, rückt das schmerzvolle Jetzt ins Jenseits, in das Reich der Erinnerungen und Träume: Es wirkt blass und unwirklich. Das Bild der Dobrudscha in ihrer wahren, ursprünglichen Vorkriegserscheinung wird vom Autor immer wieder heraufbeschworen, so auch in den Skizzen und Kurzgeschichten Otvǎd granicata [Jenseits der Grenze],32 Dobritsch,33 Mogilite [Die Grabhügel],34 Krǎstopǎt [Die Kreuzung].35 In Otvǎd granicata [Jenseits der Grenze] wird die Dobrudscha als „ein endloses Meer aus goldenen Ackern“ beschrieben, wo „die Liebe zur Erde mit der Religion verschmelzt, sie sogar nahezu ablöst“.36 Träger dieses „neuen Glaubens“ ist die jenseits der Grenze – nunmehr in der Fremde – gebliebene Bevölkerung, welche die Wiedervereinigung mit dem Vaterland wie ein religiöses Fest erwartet. Zu dessen Vorboten wird ein Grenzgänger, ein Buchhändler, der heimlich die von den rumänischen Behörden verbotenen Schulbücher in Muttersprache aus der alten Heimat mitbringt. In der Impression Dobritsch wird die gleichnamige Stadt zum „pulsierenden Herzen der Dobrudscha“37 erklärt, welches die „paradiesische Landschaft“ mit Le30 Ebd., 142. 31 Ebd., 141. 32 Erste Veröffentlichung in der Zeitung des bulgarischen Generalstabes Voenni izvestija [Kriegsnachrichten] vom 2. September 1916. 33 Erste Veröffentlichung in der Zeitung des bulgarischen Generalstabes Voenni izvestija vom 3. Oktober 1916. 34 Erste Veröffentlichung in der Zeitung des bulgarischen Generalstabes Voenni izvestija vom 18. September 1916 unter dem Titel Vekovni pametnici [Uralte Denkmäler]. 35 Erste Veröffentlichung in der Zeitung des bulgarischen Generalstabes Voenni izvestija vom 16. Dezember 1916. 36 Vgl. Jovkov, Jordan: Otvǎd granicata [Jenseits der Grenze]. In: Jordan Jovkov. Sǎbrani sǎčinenija [Gesammelte Werke], Bd. 1. Sofia 1976, 478. 37 Vgl. Jovkov, Jordan: Dobritsch. In: Jordan Jovkov. Sǎbrani sǎčinenija, Bd. 1. Sofia 1976,
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ben erfüllt. Das Bild ist farblich dominiert von „dem Grün der Weizenfelder und dem Blau des Himmels“; es zeichnet sich aus durch „die mystische Schönheit von dem, was riesig und unendlich ist“.38 Das Feld ist noch nicht zum Schlachtfeld geworden, noch ist es ein fruchtbarer Acker, von dem „die Freude einer glücklichen Mutterschaft strömt, die Frucht reift, umgeben von dem Glanz und der üppigen Schönheit der Natur“.39 Nahezu religiöse Verehrung löst das Bild beim Erzähler aus, er möchte sich verbeugen vor dieser „kolossalen Leistung“ der Natur. Dann schließt sich der Kreislauf des Daseins. Riesige Scharen Arbeiter versammeln sich, um die Ernte einzufahren, „als ob eine gigantische Armee sich sammelt und vorbereitet zum wichtigen, heiligen Feldzug … Die Zeit der Ernte ist gekommen.“40 Die Symbolik des Todes – die Ernte, die Schnitter – bildet hier den logischen Rahmen des Textes und suggeriert die harmonische Balance zwischen dem Anfang und Ende in der Natur und im menschlichen Leben. Es herrscht eine ernste, fast festliche Stimmung, nicht fröhlich wie in der Zeit der Geburt und der Reifung, sondern durchdrungen von der Erkenntnis, dass es die ewigen Gesetze der Schöpfung sind, die den Puls, den unentrinnbaren, harmonischen, ewigen Kreislauf der Existenz bestimmen. Es ist ein friedliches Bild, das alle Dobrudschaner, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, vereint: Das Fest der Arbeit wird in allen Seelen gefeiert. Wie in den antiken Religionen werden die Freude und das Feiern zum notwendigen und natürlichen Ritual in diesen Tagen, in denen die Gaben der Schöpfung gepriesen werden. Und wahrlich – diese Menschen verstehen es zu feiern, unbändig, herzlich, großzügig. Um die Musikanten, um das Wandertheater, vor allen möglichen Unterhaltungsdarbietungen tummeln sich riesige Menschenmengen – eine unvorstellbar bunte Trachtensammlung, eine seltsame Sprachmusik. Die Mehrheit ist, natürlich, Bulgaren – offene Gesichter, breite Schultern […]. Hier sieht man auch die Türken aus dem Deliorman, flegmatische, schweigsame Kolosse; die schlauen und geschickten Tataren, den etwas saloppen Ukrainer, den ernsten und tugendhaften Deutschen, Aussiedler aus Russland.41
Die Erzählung erschien am 3. Oktober 1916 in einer bulgarischen Militärzeitung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die ersten verlustreichen Schlachten des Ersten Weltkrieges in der Dobrudscha bereits angefangen und die Bevölkerung in Freund und Feind geteilt. Der Kriegsberichterstatter Jovkov schildert zwar die verletzliche Schönheit des friedlichen Miteinanders, stellt aber Arbeit und Kampf, Feiern und Trauern nicht als Gegensätze dar, sondern als einen natürlichen Part des ewigen Werdens und Vergehens. Auf demselben Feld, wo der Fruchtbarkeit gehuldigt wird, wird im Krieg eine der größten und mit mehreren Tausend Toten eine der verlustreichsten Schlachten des Rumänienfeldzuges geschlagen. Diese „Ernte“ in der Menschenwelt muss genauso vollzogen und später gefeiert werden wie vom Lebenszyklus in der Natur vorgegeben. Für den Erzähler erreicht sie die gleichen Dimensionen und hat die gleiche Bedeutung wie das nahezu sakrale Ritual der Ernte auf dem Feld. Einswer38 39 40 41
483–484. Ebd., 484. Ebd., 484–485. Ebd., 486. Ebd., 486.
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den mit der Natur, mit dem Land, mit dem Vaterland – das ist sein ultimatives Gebot für ein erfülltes, harmonisches Dasein. Die Impression Ustrem [Sturm]42 bedient sich ähnlicher Metaphern, um deutlich mehr Platz dem Krieg und der Gewalt zu bieten. Auch hier ist der Kampf notwendig, er ist gleichgestellt mit der Naturgewalt, ästhetisch und furchteinflößend zugleich. „Die Felder der Dobrudscha sind wie geschaffen für einen Kavallerieangriff“,43 betont der Erzähler, und wieder fügt sich das menschliche Tun in den großen Bilderrahmen der Natur und schmilzt mit ihr zusammen. Das Bild der Kavallerieattacke ist das Bild eines tobenden Sturmes, die Sprache wird dynamischer, expressiver, die Menschen- und Tiermassen verwandeln sich in „schnelle Wellen“, „dunkle Wolken“, die Waffen sind „Blitze“, die Bewegung gleich „Wind“, ein „stürmisches Tosen“ übertönt alles.44 Ähnlich und trotzdem ganz anders wirkt der Raum in den Erinnerungen von Ulrich von Henning: Der Teil der Dobrudscha zwischen den Linien Dobritsch-Silistra und Konstanza-Cernavoda und noch wenig nördlich derselben ist Steppe, Steppe, Steppe. Kein Baum, kein Strauch, keine Hecke, kein Graben bietet Abwechslung. Ein herrliches Reitergelände …45
Der neutrale Ton der Betrachtung, die Nüchternheit der militärischen Sprache bei der Beschreibung der gleichen Landschaft findet sich derart dominierend nur bei dem deutschen Offizier. Die beiden bulgarischen Autoren, ebenfalls Berufssoldaten, verfolgten eine andere Wirkungsintention und zeichnen sich durch eine hoch emotionale, patriotisch geprägte Wahrnehmung aus, die sich in ihren Texten widerspiegelt. So berichtet der deutsche Verbindungsoffizier an einer anderen Stelle von „merkwürdigen Hügeln, rund, etwa 2 Meter hoch. Ich hielt sie für römische Signalhügel, andere für Gräber. Jedenfalls waren sie die geborenen Feldherren-Hügel oder auch Artillerie-Beobachtungs-Stände.“46 Der römische Ursprung der Hügel wird ebenfalls in der Impression Mogilite [Die Grabhügel]47 von Jovkov thematisiert. Der Autor verortet sie aber in einer anderen mentalen Kategorie und verleiht ihnen eine völlig neue Bedeutung – die Heldengräber der Vergangenheit werden zu „ewigen Denkmälern“ des soldatischen Ruhmes, der alles überdauern soll; die „neuen“ Heldentaten betrachtet er im Einklang mit der ruhmreichen Historie dieses jahrhundertealten Schlachtfeldes.48 Die Grabhügel werden hier zu Wahr- und Orientierungszeichen für den Beobachter, sie stehen zugleich für das „memento mori“ des Daseins und für die Imperative des soldatischen Ehrenkodexes.
42 Erste Veröffentlichung in der Zeitung des bulgarischen Generalstabes Voenni izvestija vom 11. September 1916. 43 Ebd., 2. 44 Ebd., 3. 45 Henning auf Schönhoff: Kriegserinnerungen. In: Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), N 440/3 fol. 41, 6–7. 46 Ebd. 47 Erste Veröffentlichung in der Zeitung des bulgarischen Generalstabes Voenni izvestija [Kriegsnachrichten] vom 18. September 1916. 48 Jovkov, Jordan: Mogilite [Die Grabhügel]. In: Jordan Jovkov. Sǎbrani sǎčinenija, Bd. 1. Sofia 1976, 488.
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Die Wirkung von Krieg und Gewalt als formende Kräfte, als gewaltige „Landschaftsarchitekten“, wird in weiteren Werken Jovkovs thematisiert. So formt der Krieg den Raum, er stellt dort die Weichen, wird zum Wegweiser für den Menschen – an einem Ort, wo „sieben Wege aufeinander treffen und sieben Völker, sieben Sprachen, sieben Glauben miteinander gekämpft haben“.49 In der Impression Krǎstopǎt [Die Kreuzung]50 machen die Wegweiser den vom Krieg gezeichneten Raum auch für Fremde zum eigenen: Auf hohen Stäben, in den Boden gerammt, sind Schilder in verschiedenen Sprachen angebracht: bulgarisch, deutsch, türkisch, russisch… Sie sind alle knapp und sagen trotzdem viel.51
Eine Sprache, die vielbedeutend ist, deren tieferen Sinn jedoch nur einem bestimmten Auditorium vorbehalten bleibt, für „diejenigen, die mit dem Krieg näher vertraut sind und mit ihm schon oft Wanderer in fremde Länder wurden […]“.52 In Jovkovs Texten verändert der Krieg den Raum, er spricht eine eigene Sprache und vereint Vertreter verschiedener Nationen in einem Kriegsvolk, sein Rhythmus ist der Rhythmus der Natur, er ist omnipräsent und omnipotent. Jedoch fehlen in der Welt des Erzählers Bilder des Tötens, des Sterbens und des Grauens. Dies ist der Wirkungsintention des Autors geschuldet: die Ästhetisierung, die Glorifizierung des Todes für das Vaterland – eine Strategie, die ihre tiefen Wurzeln in Jahrtausenden menschlicher Kulturgeschichte hat. Seinen Skizzen und Kurzgeschichten ist zwar kein unmittelbarer Auftrag seitens staatlicher Propagandastellen vorausgegangen, als Kriegskorrespondent publiziert er jedoch ausschließlich in militärischen Zeitungen und Zeitschriften. Sein Auditorium bilden Frontsoldaten, denen ein Ausgleich für das Opfer des eigenen Lebens angeboten werden muss. Nach der Logik solcher Publikationen darf der Hässlichkeit des Todes sowie der Brutalität der Gewalt kein Platz eingeräumt werden, sodass die Autoren ihre impliziten Botschaften nach der berühmten Sentenz von Horaz „Dulce et decorum est pro patria mori: süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben“ ausrichten. Jovkov spannt oft den Bogen zu Entstehungsmythen der Antike, die für die Schilderung der Dobrudscha in der Impression Dobrudža njakoga [Die Dobrudscha, wie sie einst war] als Modell dienen.53 Er erschafft das Bild einer Landschaft wie aus dem Goldenen Zeitalter der alten Götter – überdimensional, übermenschlich, heil, fruchtbar, ohne Makel, wo alles erblüht und gedeiht und noch nicht gekennzeichnet ist von Zerfall und Verderb. Diese Landschaft ist bevölkert von Fauna und Flora von ebenso ungewöhnlicher Schönheit, die Menschen sind den antiken Schäfern und Viehzüchtern ähnlich, nah an der Natur, ein Teil von ihr und genauso überlebensgroß. 49
Jovkov, Jordan: V Kubadin [In Cobadin]. In: Jordan Jovkov. Sǎbrani sǎčinenija, Bd. 1. Sofia 1976, 495. 50 Erste Veröffentlichung in der Zeitung des bulgarischen Generalstabes Voenni izvestija vom 16. Dezember 1916. 51 Jovkov, Jordan: Krǎstopǎt [Die Kreuzung]. In: Jordan Jovkov. Sǎbrani sǎčinenija, Bd. 1. Sofia 1976, 497. 52 Ebd. 53 Jovkov, Jordan: Dobrudža njakoga [Die Dobrudscha, wie sie einst war]. In: Jordan Jovkov. Sǎbrani sǎčinenija, Bd. 1. Sofia 1976, 505.
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Meldung über die Einnahme der Stadt Tutrakan am bulgarischen Donauufer. In: Schwäbischer Merkur (Stuttgart), 7. September 1917, Seite 1. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart
Trotzdem entziehen sich Jovkovs Texte nicht gänzlich dem menschlichen Leid. In der erst 1936 veröffentlichten Erzählung Vǎlkadin govori s boga [Vǎlkadin spricht zu Gott]54 kehrt er wieder zum Motiv der heilen patriarchalen Welt der Dobrudscha zurück, diesmal, um deren Zerfall in den Mittelpunkt zu stellen. Die in mehreren Texten Jovkovs symbolträchtige Figur des weisen Greises trägt hier den Namen Vǎlkadin. Nach der Tradition der alten völkischen Namensgebung, die einen rituellen Charakter aufwies, soll er wie ein Segen wirken und bedeutet „der, dem die Wölfe nicht schaden sollen“. Der Segensspruch bewahrheitet sich nicht, in der Erzählung wird die Welt des Helden von den „Wölfen“ Krieg und Besatzung verwüstet: Immer, wenn er sich erinnerte, wie das Unheil über sein Haus kam, dachte er an jenen Abend im August […] Er arbeitete allein, mit seinen Schwiegertöchtern und den Kindern, da seine 54 Erste Veröffentlichung: Jovkov, Jordan: Vǎlkadin govori s boga [Vǎlkadin spricht zu Gott]. In: Žensko sǎrce. Sofia 1936. o. S.
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Söhne noch an der Front waren. […] Sie hatten fleißig gearbeitet, er entspannte sich und bat Milena zu singen […] Er mochte das Lied, denn wie in ihm hieß seine Schwiegertochter Milena und sein Sohn, ihr Mann – Milen. Während er zuhörte, schaute er liebevoll seine Schwiegertochter an, und wurde zugleich betrübt, denn sein Sohn, wie seine beiden Brüder auch, war in den Krieg gezogen, und es war ungewiss, ob sie […] lebend zurückkehren würden. Was danach geschah? Seine Söhne kehrten unversehrt heim, er erkannte sie aber nicht wieder. In ihren Seelen herrschte Unruhe, sie schauten grimmig, waren jähzornig und böse wie gejagte Wölfe. Es kamen schwere Zeiten […].55
Der Patriarch Vǎlkadin teilt nach der Rückkehr seiner Söhne das ihm gehörende Ackerland unter ihren Familien auf. Für die damaligen Verhältnisse war es ungewöhnlich, dass der Vater noch zu Lebzeiten den Erben ihren Anteil überließ. Der Protagonist wünscht jedoch einen neuen Anfang für seine Kinder: „Ich werde euch alles geben, ich brauche nichts. Es reicht mir, solange ich lebe, euch hin und wieder zu besuchen.“56 Der Wunsch soll unerfüllt bleiben, denn in der Dobrudscha werden neue Grenzen gezogen. Der Erste Weltkrieg endet für Bulgarien mit einer Niederlage und somit werden 1919 in dem von Bulgaren und Rumänen bitter umkämpften Gebiet die Grenzlinien von 1913 wiederhergestellt. Nicht nur Bulgaren, sondern auch Rumänen, Dobrudscha-Deutsche, Türken, Tataren, Russen, die in der Dobrudscha siedeln, erfahren dasselbe Schicksal wie Jovkovs Figuren: Die Rumänen kamen zurück und zogen die Grenze dort, wo sie auch früher verlief, just vor den Häusern. Das Dorf blieb auf der einen, das Ackerland auf der anderen Seite.57
Der Patriarch Vălkadin muss zusehen, wie seine Familie, wie auch die heile, unzertrennbare Welt der Vergangenheit, zerfällt: Er hielt sein Wort und verteilte das Land unter seinen Söhnen. Aber was nützte es? Es war nicht gegeben, dass ihnen Gutes widerfährt. Sein zweiter Sohn […] wurde krank […] und erhob sich nicht mehr. Sein Ältester […] ein tapferer, schöner Mann, auf den er sich immer so freute, wenn er mal im Urlaub kam, als Feldwebel, unzählige Orden an der Brust […] wurde Bürgermeister. Er war streng, hielt für Recht und Gesetz, aber wen kümmert das, wer will schon gerade Wege gehen? Eines Abends […] schoss man ihn tot. […] Noch eine Witwe, noch ein schwarzes Tuch auf dem Weg vom Dorf zum Friedhof. […] Es blieb nun der jüngste, Milen, übrig. Ihm fielen die Äcker drüben zu, in Rumänien, und er lebte dort – in einem fremden Dorf, in einem fremden Königreich. Kaum einen Schritt entfernt – aber weder konnte er kommen, noch durfte der Greis zu ihm […]58
Die neue Grenze, die nach dem Krieg das Dorf zerteilt, trennt den Protagonisten von seinem Lieblingskind, seinem dritten Sohn und seinen Enkeln. Wiederholt taucht die biblische Symbolik auf – der All-Vater, der seinen Landbesitz pflegt, der seine drei Söhne und deren Familien um sich geschart weiß, wird zum Zentrum des dörflichen Universums. Die Grenze zerstört diese friedliche, harmonische Welt, die Söhne sterben an Seuchen und Gewalt, selbst der Friedhof bleibt jenseits der
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Vgl. Jokov, Jordan: Vǎlkadin govori s boga [Vǎlkadin spricht zu Gott]. In: Jordan Jovkov: Sǎbrani sǎčinenija, Bd. 3. Sofia 1970, 93–94. Ebd., 93. Ebd., 94. Ebd., 94–95.
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Grenze und der greise Vater – beraubt der Möglichkeit, seine Verstorbenen zu betrauern. Im Text erhält die Grenze selbst Macht über das Reich der Toten. Die Figur des greisen Patriarchen fungiert nicht wie in früheren Werken Jovkovs als der passiv Mahnende, als Erinnerungsträger. Sie wird aktiv, tritt in einen verzweifelten Dialog mit dem Schöpfer selbst. Die Frage nach dem Warum, nach dem Sinn des sinnlosen Leidens tritt in den Vordergrund. Anders als der biblische Hiob stellt der Alte den Himmel zur Rede: Wer sind die, die über die Menschen urteilen und die Geschicke dieser Welt regeln, wer gibt ihnen diese Macht, gibt es einen Gott? Sind sie denn nicht wie alle von einer Frau geboren worden, und werden sie denn nicht wie alle sterben? Wie kann eine Grenze einfach so gezogen werden, wie es der Zufall will – auf dass die Friedhöfe in einem Staat und die Familien der Toten in einem anderen bleiben? Und wenn du dich auf den Weg begibst zu deinem Bruder, zu deinem Sohn – so wird dir ein fremder Soldat begegnen […] und wird sein Gewehr gegen dich richten und rufen: „Zurück!“ Aus deinem Zuhause wird man dich verjagen. Wie ist das möglich, Gott, wie? Wer wirft den Bruder gegen den Bruder, den Sohn gegen den Vater? Warum ist das Gute verschwunden und das Böse breitet sich aus? Es gibt keine Gnade, kein liebes Wort, keine Achtung mehr unter den Menschen. Warum, Herrgott, warum? Wenn sie Handel treiben oder was verkaufen, schauen die Leute immer auf die Waage. Und warum kümmert es keinen, wenn ein Menschenleben am Faden hängt? Warum tötet man den Unschuldigen und quält den Armen? Das Land ist so fruchtbar wie früher, warum gibt es dann Hungernde, ohne Habe und Bleibe? Warum versteckst du dich, Herrgott, in diesen harten Zeiten?59
Zwanzig Jahre nach dem Rumänienfeldzug ist das Kriegspathos aus den Texten Jovkovs verschwunden, es bleibt das Bild der verwundeten Schönheit eines Niemandslandes und der endlosen Trauer um die zerstörte Harmonie des Daseins. Der Krieg ist kein natürlicher Teil des großen Lebenskreislaufs mehr, sondern ein übermächtiges, grauenhaftes Desaster. Sogar nach seinem Ende bewirken die neuen Grenzen in der zerteilten Welt ein allgegenwärtiges, unaufhörliches, unaufhaltbares Schwinden der Menschlichkeit, der Hoffnung, des Guten. Davor erscheint selbst die Schöpfung stumm und machtlos. Zum Schluss einige Zeilen über das Schicksal der in diesem Beitrag vorgestellten Texte und Autoren: Georgi Georgiev erlebte die 1940 erfolgte Rückgabe der Süd-Dobrudscha an Bulgarien, aber auch die politische Katastrophe vier Jahre später, die das Wertesystem, die politischen Visionen und den Geist seiner Generation brutal vernichten sollte. Für Jovkov, der 1937 einen frühen Tod starb, änderte sich die Grenze nicht mehr. Während das Buch Georgievs, von den kommunistischen Machthabern 1944 verboten, in Vergessenheit geraten musste und er – nach jahrelangem Arbeitsverbot 1980 verarmt und einsam starb, wurden die Werke Jovkovs unabhängig von ihrem tatsächlich hohen literarischen Wert von denselben Parteifunktionären zur „progressiven Bauernliteratur“ erklärt und von diesem entstellenden Klischee bis zum Zusammenbruch des autoritären Regimes 1989 begleitet. Das lateinische Sprichwort „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“ [Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben die Bücher ihre Schicksale] könnte man hier 59
Ebd., 97–98.
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auch so interpretieren: Das Werk teilt das Schicksal seines Verfassers, abhängig vom geistigen Horizont der Leserschaft und des politischen Systems.
DER ERSTE WELTKRIEG AM BEISPIEL VON GEDICHTEN AUS SERBISCHEN SCHULBÜCHERN Filip Krčmar EINFÜHRUNG Mit schweren Verlusten, von etwa 1.000.000 Einwohnern, einem Drittel der Gesamt- und 60 % der männlichen Bevölkerung, hat Serbien seine Beteiligung am „Großen Krieg“ teuer bezahlt. Nach den erschöpfenden Balkanischen Kriegen 1912–1913 prägte „die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ das serbische Nationalbewusstsein entscheidend und determinierte die Geschichte Serbiens im letzten Jahrhundert. Durch diese Ereignisse wurden im serbischen Raum zahlreiche literarische Werke verfasst, die den Ersten Weltkrieg thematisieren.1 In serbischen Schulbüchern sind heute jedoch nur noch zwei Gedichte zu finden: Das blaue Grab von Milutin Bojić und Ein Mensch singt nach dem Krieg von Dušan Vasiljev. Auch sind zwei Auszüge aus dem Roman Die Zeit des Todes von Dobrica Ćosić zu erwähnen (Die Feuertaufe und Die Soldatenbriefe), die sich in serbischen Schulbüchern befinden.2 Die Analyse und die Interpretation der zwei erwähnten Gedichte, wovon eines während, das andere nach dem Krieg verfasst wurde, zeigen deutlich, wie ihre Autoren, die durch ihre tragischen Schicksale einander ähnlich waren, von den gleichen traumatischen Erfahrungen inspiriert wurden, jedoch zwei vollkommen unterschiedliche Darstellungen des gleichen Ereignisses hinterlassen haben. Der Literatur-Nobelpreisträger Ivo Andrić bemerkte Folgendes über den Einfluss des Krieges auf die serbokroatische Literatur: Die Kriegsauswirkungen auf unsere Literatur waren, insbesondere in den ersten drei Kriegsjahren, ausschließlich destruktiv. Es war in einer Zeit, als die Volksseele verstummte, weswegen es verständlich ist, dass Literatur, als unmittelbarster Ausdruck dieser Seele, auch schwieg. In diesen Jahren ereignete sich ein historisches Kapitel, das mit seiner Furchtbarkeit und seinem 1
2
Einen detallierten Überblick dieser Werke findet man in: Manojlović, Olga: Umetničke (re)vizije rata: Prvi svetski rat kao fenomen u srpskoj književnosti [Künstlerische Kriegs(re) visionen: Der Erste Weltkrieg als ein Phänomen in der serbischen Literatur]. In: Tokovi istorije 3–4. Beograd 1997, 118–129. – Frajnd, Marta: Istorija u drami – drama u istoriji: Ogledi o srpskoj istoričkoj drami [Geschichte im Drama – das Drama in der Geschichte: Untersuchungen zum serbischen historischen Drama]. Novi Sad-Beograd 1996, 221–226. Beide befinden sich im Schulbuch für serbische Sprache und Literatur für die 4. Klasse des Gymnasiums. Dieser vierbändige Roman von Ćosić, Vreme smrti [Die Zeit des Todes], wurde von der einheimischen Kritik als „serbischer ‚Krieg und Frieden‘“ bezeichnet. Đorđević, Časlav/Lučić, Predrag: Kniževnost i srpski jezik. Priručnik za učenike gimnazije i srednjih škola, 4. [Die serbische Literatur und Sprache 4. Ein Handbuch für Gymnasiasten und Realschüler]. Novi Sad 2002, 149.
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Filip Krčmar Ausmaß den fernsten Generationen einen künstlerisch-literarischen Stoff zur Verfügung stellen wird […].“3
Allerdings gab es während des Krieges punktuelle Versuche, Literatur zu schaffen, sodass Andrićs Bemerkung „inter arma silent Musae“ („wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen“) nur teilweise richtig ist.4 Die prägnante Erfahrung des Ersten Weltkriegs setzte eine Demarkationslinie in der serbischen literarischen Produktion. Sie wurde damit endgültig in „Vor-“ und „Nachkriegsliteratur“ eingeteilt, wofür die Gedichte von Milutin Bojić und Dušan Vasiljev bespielhaft sind. SERBISCHE VORKRIEGSLITERATUR Die serbische Vorkriegsliteratur wurde von zwei Hauptautoritäten, Bogdan Popović und Jovan Skerlić, geprägt, die sich um die Festlegung eines Wertesystems der Literatur bemüht hatten. Bogdan Popović (1863–1944) war Literaturkritiker und jahrzehntelang Professor an der Belgrader Universität, des Weiteren Begründer und Schriftleiter der Zeitschrift Srpski književni glasnik (Serbischer Literatur-Bote), wodurch er Einfluss auf das kulturelle Leben in Serbien ausübte.5 Jovan Skerlić (1877–1914)6 gehörte ebenfalls zu den bedeutendsten serbischen Literaturkritikern. Er war Publizist und Professor für französische und serbische Literatur an der Belgrader Universität, Redaktionsmitglied des Serbischen Literatur-Boten und Abgeordneter im serbischen Parlament. In seinen Werken bot er einen Überblick über die serbische Literatur von ihren Anfängen bis in seine Gegenwart. Das erste Kriegsjahr fiel mit dem Tod Skerlićs zusammen, wodurch 1914 als Trennlinie, als Ende einer alten und Anfang einer neuen Epoche, zusätzlich in den Vordergrund rückte. Das Vorwort von Popovićs bedeutendstem Werk Anthologie der neueren serbischen Literatur (1911) beschrieb ästhetische Regeln, die als Programm der Vorkriegsliteratur galten. Diesem Programm zufolge sollte „ein Gedicht […] schöne und reine 3 4
5 6
Andrić, Ivo: Naša književnost i rat [Unsere Literatur und der Krieg]. In: Književnokritički i estetički radovi [Literaturkritische und ästhetische Studien]. Hg. v. Vojislav Maksimović/Franc Cegle/Arif Tanović. Sarajevo 1983, 23. Auf Korfu, wohin die serbische Regierung mit ihrem Sitz flüchtete, hat sich ein vielfältiges kulturelles Leben entwickelt. Die literarische Zeitschrift Krfski zabavnik [Korfuer Kalender] wurde ins Leben gerufen. Mitarbeiter waren berühmte serbische (Jovan Dučić, Ivo Ćipiko, Stanislav Vinaver, Dragoljub Filipović, Milosav Jelić) sowie auch kroatische Dichter (Tin Ujević, V. Čerin, Josip Kosor). Siehe auch: Deretić, Jovan: Istorija srpske književnosti [Geschichte der serbischen Literatur]. Beograd 1983, 490. Werke von Popović: Antologija novije srpske lirike [Anthologie neuerer serbischer Lyrik], 1911; Ogledi iz književnosti i umetnosti, I–II [Dichterische und künstlerische Untersuchungen], Bd. I–II, 1914,1927. Werke von Skerlić: Pisci i knjige I–IX [Dichter und Bücher I–IX], Francusko javno mnjenje prema političkoj i socialnoj poeziji 1830–1848 [Die französische öffentliche Meinung anhand der politischen und sozialen Poesie von 1830 bis 1848], Omladina i njena književnost [Vereinigte serbische Jugend und ihre Literatur], Srpska književnost u XVIII veku [Serbische Literatur des XVIII. Jahrhunderts], Istorija novije srpske književnosti [Geschichte der neueren serbischen Literatur]. Informationen zu beiden Kritikern: Deretić, Jovan: Istorija srpske književnosti, 433–438.
Der Erste Weltkrieg am Beispiel von Gedichten aus serbischen Schulbüchern
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Gefühle enthalten und erwecken; ein Gedicht muss klar sein, um seiner Aussage nicht zu schaden; es soll in seiner Ganzheit schön sein, ohne schwache Anfänge und Enden“.7 Serbische Dichter strebten die Befolgung dieser ästhetischen Regeln an und kopierten damalige französische Schriftsteller, wie die literarische Bewegung der Parnassiens sowie die Dichtung der Symbolisten. Dem Zeitgeist kam auch die Anforderung an die Dichtung entgegen, patriotische Gefühle zu vermitteln, was die damalige geistige Stimmung der Serben widerspiegelte. Im Rahmen dieses literarischen Kanons, der für die Literatur vor dem Ersten Weltkrieg galt, ist das Gedicht Das blaue Grab von Milutin Bojić einzuordnen und zu analysieren. MILUTIN BOJIĆ. DAS BLAUE GRAB Milutin Bojić wurde 1892 in Belgrad geboren.8 Bis zum Ersten Weltkrieg hatte er durch seine Liebeslyrik und Dramatik die Aufmerksamkeit der Literaturkritik auf sich gezogen. Seine literarische Entwicklung zeichnet sich durch eine breitere formalthematische Palette im Vergleich zu anderen serbischen Schriftstellern seiner Generation aus, was auch auf seine vielfältigen literarischen Vorlagen zurückzuführen ist. Als literarische Modelle fungierten nicht nur französische Dichter, die von allen kopiert wurden, sondern er interessierte sich auch für deutsche, englische, sogar japanische Dichtung. Zudem war er ein ausgezeichneter Bibelkenner, was in seinem dichterischen Werk zum Ausdruck kommt. Mit seinem Markenzeichen, ein eruptiver, starker zwölfsilbiger Vers, galt er als die große Hoffnung der serbischen Poesie und war Jovan Skerlićs Liebling unter den jungen Poeten. Zwischen 1912 und 1913 nahm Bojić an den Balkanischen Kriegen teil, die sich als äußerst verlustreich erwiesen: an die 100.000 serbische Soldaten kamen dabei ums Leben.9 Aus nächster Nähe lernte er damals die Schrecken des Krieges kennen. Nach der militärischen Niederlage Serbiens 1915 zog er sich zusammen mit der serbischen Armee nach Albanien zurück, wo ungefähr 150.000 Menschen aufgrund von Winter, Hunger, Erschöpfung oder Angriffen von albanischen Raubtruppen starben.10 Dieser Rückzug gilt heute als eine der größten Tragödien in der 7 8
9 10
Zitiert nach: Đorđević, Časlav/Lučić, Predrag: Kniževnost i srpski jezik 3. Prirečnik za učenike gimnazije i srednjih stručnih škola [Literatur und serbische Sprache 3. Ein Handbuch für Gymnasiums- und mittlere Fachschüler]. Beograd 2000, 59. Literatur zu Milutin Bojić: Nešić, Staniša/Knežević, Radoje L: Milutin Bojić, pesnik Srbije. [Milutin Bojić, ein Dichter Serbiens]. Beograd 2004. – Bojić, Milutin: Pesme bola i ponosa [Gedichte des Schmerzes und Stolzes]. Beograd 1920. – Skrelić, Jovan: Ogledi o srpskim pesnicima [Studien zu serbischen Dichtern]. Beograd 1975. – Pavlović, Miodrag: Eseji o srpskim pesnicima [Essays über serbische Dichter]. Beograd 1981 (21992). – Lalić, Ivana: O poeziji dvanaest pesnika [Über die Dichtung von zwölf Dichtern]. Beograd 1980. – Den deutschen Lesern wurde Bojić im Rahmen einer neueren Anthologie zur serbischen Literatur vorgestellt: Jähnichen, Manfred: Das Lied öffnet die Berge. Eine Anthologie der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts. Novi Sad 2004. Nach: Gledovič, Bogdan u. a.: Prvi svetski rat. I. Srbija i Crna Gora [Der Erste Weltkrieg. I. Serbien und Montenegro], Bd. 1. Cetinje 1975, 23. Mitrović, Andrej u. a.: Istorija srpskog naroda [Geschichte des serbischen Volkes], Bd. VI-2.
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serbischen Geschichte und wurde im serbischen Bewusstsein als „Albanisches Golgatha“ geprägt. Das Jahr 1915 war besonders tragisch: Während dieses Rückzugs starben über 380.000 serbische Soldaten, Offiziere und Unteroffiziere durch Verletzungen, Krankheiten, Kälte oder Erschöpfung.11 Von der albanischen Küste wurden Serben auf die griechischen Inseln Korfu und Vido evakuiert, wo das Massensterben nicht aufhörte.12 Dort wurde Bojić Zeuge von furchtbaren Todesszenen. Die Friedhöfe auf Korfu erwiesen sich als zu klein, um alle Verstorbenen beizusetzen. Unter diesen Umständen wurden die Leichen in Begleitung von Trauermusik von alliierten Schiffen aus im Meer beigesetzt. Vom Erlebten tief erschüttert, wurde Bojić zu einem Gedicht inspiriert, das sich als eines der berühmtesten der serbischen Literatur über den Ersten Weltkrieg erweisen sollte. Zusammen mit 30 anderen Gedichten wurde es 1917 im schmalen Band Gedichte des Schmerzes und Stolzes in Saloniki herausgegeben. Bojić überlebte den Krieg nicht – er starb im selben Jahr an Tuberkulose in einem Krankenhaus in Saloniki. Von allen seinen Werken blieb Das blaue Grab das berühmteste. Das blaue Grab ist ein in festlichem Ton verfasstes patriotisches Gedicht, worin der Autor die kollektive Tragödie seines Volkes zum Ausdruck bringt.13 Es umfasst insgesamt 14 Strophen in Kreuzreim, wovon die erste, die an den feierlichen, mobilisierenden Ton der antiken Dichtung erinnert, von zentraler Bedeutung ist. Seine Verse haben wechselweise 14 und 7 Silben. Diese metrische Struktur wiederholt sich auch in der 6., 10. und 14. Strophe, während die anderen Strophen, auch wenn sie eine regelmäßige und symmetrische Form aufweisen, aus 12-silbigen Versen gebildet sind, die übrigens Bojićs Markenzeichen darstellen. Das Gedicht erfüllt die für die serbische Literatur von Popović festgelegten Kriterien in jeder Hinsicht. Der Sprecher bringt in einem emotionalen Ton gleich zu Beginn seine Absicht zum Ausdruck, ein Requiem für die Gefallenen anzustimmen, und fordert den Leser zu Stille und innerer Ruhe auf. Er berichtet ergriffen vom Ruhm und Märtyrertum seiner Waffen-Kameraden, die auf dem Meeresboden beigesetzt sind, in einem thanatischen Raum, „wo hohl die Muschel ruht“ und der Tod „welke Algen holt“. Personifiziert, bringt sich auch das Meer im dichterischen Monolog ein, es ist von der Trauer des Sprechers bewegt, was in einer konkreten Geste deutlich wird: Es „schleicht besorgt landauf“. Der Raum teilt sich: Über der Wasseroberfläche befindet sich die Welt der Lebenden, während unter Wasser der heroische Raum der Verstorbenen verortet ist. Das Meer ist nicht nur Grab, sondern auch stiller, endloser, dunkler, auch rätselhafter Tempel für die auf dem Meeresgrund BeigesetzBeograd 1994, 101. Gledovič, Prvi svetski rat I. Srbija i Crna Gora [Der Erste Weltkrieg I. Serbien und Montenegro], 236; um ein besseres Bild über den Umfang dieser Katastrophe zu bekommen, sei erwähnt, dass Serbien vor dem Krieg 4.129.638 Einwohner hatte; Mitrović, Istorija srpskog naroda [Geschichte des serbischen Volkes], VI-2, 101; Opačić, Petar: Salunski front [Die Thessaloniki-Front]. Beograd 1978. 12 Auf Korfu und Vido starben also nach der Evakuierung ungefähr 5.400 Personen. Mitrović u. a.: Istorija srpskog naroda, 101. 13 Đorđević, Književnost i srpski jezik 3. Priručnik za učenike gimnazije i srednjih stručnih škola [Literatur und serbische Sprache 3. Ein Handbuch für Gymnasiums- und mittlere Fachschüler], 166–168. 11
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ten. Durch das dichterische Wort über Heldentaten und Ruhm, vor allem durch das „Epos voller Pein“ wird die tragische Geschichte als Inspiration für die folgenden Generationen bedeutsam, für die das Grab gleichzeitig eine Wiege darstellt. Die „Wiege, die künftige Zeiten ahnt“ wird politisch semantisiert und rückt die Gewissheit über eine bessere Zukunft im neugeschaffenen gemeinsamen südslawischen Staat in den Vordergrund, für den mit dem Blutzoll der Opfer bezahlt wurde.14 Im Blauen Grab transportiert Bojić die feierliche Rhetorik der nationalen Apotheose über die kathartische Erfahrung des gestillten Leids in blauen Seetiefen. Im Leiden ist keine Niederlage, sondern nationale Erfüllung zu sehen, und die erfahrene Not wird auf eine tragische, heroische und mythische Ebene erhoben.15 Das Gedicht wurde als Ausdruck des Bedürfnisses nach Nationsbildung interpretiert, und damit im Zusammenhang steht auch seine außerordentliche Popularität. Neben den Gedichten Tamo daleko [Dort weit weg] und Kreće se lađa francuska [Das französische Schiff segelt], die auch vertont wurden, stellt Das blaue Grab das berühmteste serbische Gedicht über den Ersten Weltkrieg dar. SERBISCHE LITERATUR DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Nach 1918 fängt eine neue Zeit in der serbisch/jugoslawischen Literatur an, die durch eine noch nie dagewesene Dynamik gekennzeichnet ist. Nur wenige Schriftsteller führten die Traditionen der Vorkriegsliteratur fort und glorifizierten den Krieg als den bedeutendsten Abschnitt der serbischen Geschichte. Sie beklagten zwar den hohen Blutzoll, sahen aber die Opfer im Kontext des serbischen Einsatzes im Kampf für südslawische Befreiung und Vereinigung. So wie bei Bojić zielt dieses Schrifttum auf den Ausdruck von Stolz und Patriotismus sowie der festlichen und siegreichen Stimmung in Verbindung mit der jüngsten Kriegserfahrung. Gleichzeitig dominieren die Begriffe „Märtyrertum“, „Golgatha“, „Kreuzigung Serbiens“, „Wiederauferstehung Serbiens“, „Epos“, „Tragödie“ im dichterischen Vokabular der Zeit.16 Der Krieg wurde auch in Kurzgeschichten und Erzählungen größeren Ausmaßes thematisch aufgegriffen, während er in der Dramatik der Zwischen-
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Jähnichen, Das Lied öffnet die Berge. Eine Anthologie der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts, 14. 15 Bojić wurde vom Ersten Weltkrieg stark inspiriert. In ihm sah er den Höhepunkt und das berühmteste Ereignis der serbischen Geschichte. Dies geht aus der Korrespondenz, die er mit seiner Familie während des Krieges geführt hatte, sowie aus einigen in dieser Zeit veröffentlichten Artikeln hervor. Er plante ein gigantisches Epos mit 15000 Versen, das den Großen Krieg thematisierte. Der geplante Titel war Večna straža [Die ewige Wacht]. Sein früher Tod hat ihn von diesem Vorhaben abgehalten. Nešić, Staniša/Kneževič, Radoje: Milutin Bojić, pesnik Srbije [Milutin Bojić, ein Dichter Serbiens]. Beograd 2000, 319–320. 16 Einige Beispiele dafür: Ave Serbia [Es lebe Serbien], Pobednička himna [Siegreiche Hymne] von J. Dučić, Raspeče Srbije. Epopeja muka i stradanja srpskog naroda [Die Kreuzigung Serbiens. Epos über die Not und das Leiden des serbischen Volkes], Raspeče i vaskrs Srbije [Die Kreuzigung und Wiederauferstehung Serbiens], Epopeja Beograda [Belgrader Epos] von M. Stefanović usw.
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kriegszeit weitaus weniger repräsentiert war.17 Zwischen 1918 bis 1941 wurden insgesamt 17 Romane über den Ersten Weltkrieg verfasst, wovon die bedeutendsten Srpska trilogija [Serbische Trilogie] von Stevan Jakovljević und Teška vremena [Die harten Zeiten] von Miroslav Golubović waren.18 Die Autoren dieser Romane gehörten nicht zu den berühmtesten serbischen Schriftstellern – diese widmeten sich dem Ersten Weltkrieg in Gedichtform, wie im Fall der angesehenen serbischen Schriftsteller Jovan Dučić19 und Vojislav Ilić der Jüngere20. Beide sind heutzutage in serbischen Schulbüchern vertreten, jedoch nicht mit ihrer Kriegsliteratur. Die bisher aufgezählten Dichter und ihre Werke repräsentieren eine Minderheit im Rahmen der serbischen Literatur der Zwischenkriegszeit, die auf der einen Seite von einer kompromisslosen Antikriegsstimmung geprägt war und auf der anderen der literarischen Normierung, so wie sie in der Vorkriegszeit festgelegt wurde, den Rücken kehrte. Serbische Dichter kehrten desillusioniert und verstört aus dem Krieg zurück, so wie das bei ihren Berufskollegen aus dem westlichen Europa der Fall war, die brutale Kriegsjahre erlebt hatten. Aus diesem Erfahrungshintergrund entwickelten sich neue Bewegungen auch in der serbischen Literatur, die man auf der europäischen Karte großflächig findet, der Expressionismus, der Surrealismus und die sozial engagierte Literatur.21
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Frajnd, Marta: Istorija u drami – drama u istoriji, 213. Die Serbische Trilogie von Jakovljević umfasste die Romane: Neunzehnhundertvierzehn (1934), Unter dem Kreuz (1935) und Die Pforte der Freiheit (1936). Diese wurden äußerst erfolgreich fürs Theater adaptiert. Die Trilogie von Golubović umfasste: Fragmenta tragediae belli (1931), Friedhöfe ohne Kreuze (1935), Fürs Verdienst (1938). Fragmenta tragediae belli erreichte eine Auflage von 10 000 Exemplaren und erlebte vier Auflagen. Manojlović, Olga: Umetničke (re)vizije rata, 126–127. 19 Jovan Dučić (1871–1943), Dichter, Kritiker und Diplomat, wurde in Trebinje geboren und studierte in der Schweiz und in Frankreich. Er wurde vom französischen Parnassismus entscheidend beeinflusst und war einer der bedeutendsten Vertreter der „L‘ art pour l‘ art“ – Bewegung in der serbischen Literatur. Vor dem Ersten Weltkrieg erfreute er sich großer Beliebtheit, doch in der Zwischenkriegszeit büßte er an Popularität ein. 20 Vojislav Ilić der Jüngere (1877–1944), Dichter und Übersetzer, war vor dem Krieg sehr populär. In der Zwischenkriegszeit schrieb er vom Krieg inspirierte Gedichte, aber auch Gelegenheitslyrik zu militärischen Anlässen (Jubiläumsfeiern, Soldatenbegräbnissen), des Weiteren widmete er der Königsfamilie Karađjorđjević Gedichte, verfasste Epitaphe usw. Seine vielleicht berühmtesten Kriegsverse wurden über dem Eingang des serbischen Militärfriedhofs in Thessaloniki eingraviert: „Unbekannter Fremder! Wenn du an diesen heiligen Gemeinschaftsgräbern vorbeigehst,/Wisse! dass die größten Helden unserer Zeit/hier ihren Platz für die Ewigkeit gefunden haben […] Sie fielen durch Kugeln, Hunger und Durst/Auf dem Kreuz Golgathas wurden sie gekreuzigt/Aber ihren festen Glauben an den Endsieg/Nie haben sie ihn, kein bisschen, verloren.“ (Übersetzt von F. K.) 21 Zu neuen Tendenzen in der serbischen Literatur der Zwischenkriegszeit: Đorđević/Lučić: Književnost i srpski jezik. Priručnik za učenike gimnazije i srednjih stručnih škola 3 [Literatur und serbische Sprache 3. Ein Handbuch für Gymnasiums- und mittlere Fachschüler], 143–153; Marković, Slobodan Ž.: Književni pokreti i tokovi između dva svetska rata [Literarische Bewegungen und Strömungen der Zwischenkriegszeit]. Beograd 1970; Marković, Slobodan Ž.: Srpska književnost između dva svetska rata. Pojave, pisci i dela [Serbische Dichtung der Zwi-
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Serbische Expressionisten verabscheuten den Krieg und verachteten die Tradition. Sie vernichteten das als literarisches Korsett empfundene Vorkriegsregelwerk und lehnten das Wertesystem von Popović und Skerlić entschieden ab. Vielmehr hoben sie bisher Unerwünschtes und Nicht-Tradiertes auf ihr Wertepodest. Mit Begeisterung und Trotz führten sie eine neue, unharmonische Sprache der Poesie ein, die Verse wurden frei und holprig und die auf Regelmäßigkeit beruhende Formschönheit wurde für absichtlich unregelmäßige, unvollendete dichterische Formen aufgegeben. Die Postulate der neuen Dichtung machten sich schon 1919 im Buch Itaka eines der berühmtesten serbischen Schriftsteller, Miloš Crnjanski, bemerkbar. Zusammen mit Stanislav Vinaver, Rastko Petrović und Todor Manojlović war Miloš Crnjanski der bedeutendste Vertreter neuer Tendenzen in der serbischen Literatur der Zwischenkriegszeit.22 Seine Worte beschreiben die Stimmung in jenen Jahren des künstlerischen Umbruchs am treffendsten: „Wir haben mit der Tradition gebrochen, und wir werfen uns kopfüber in die Zukunft.“23 DUŠAN VASILJEV. EIN MENSCH SINGT NACH DEM KRIEG Zu dieser Gruppe gehörte auch Dušan Vasiljev (1900–1924), dessen Dichtung vom Protest gegen den Krieg und der Verweigerung der Nachkriegsrealität geprägt war.24 Dušan Vasiljev wurde 1900 in Gross-Kikinda im Banat geboren und besuchte Grundschule und Gymnasium in seinem Heimatort und in Temeswar. Er sprach ausgezeichnet Ungarisch, Rumänisch und Deutsch und lernte später auch Französisch und Russisch. Während seiner schweren Kindheit las er die Werke des ungarischen Dichters Ady Endre und wurde von ihm stark beeinflusst. Während schenkriegszeit: Erscheinungen, Dichter und Werke]. Beograd 2004. – Deretič, Jovan: Istorija srpske književnosti [Geschichte der serbischen Literatur], 491–496. 22 Miloš Crnjanski (1892–1977), einer der berühmtesten serbischen Dichter, bot in seinen Werken Dnevnik o Čarnojeviću [Tagebuch über Čarnojević] und Lirika Itake [Lyrik von Ithaka] eine tiefgründige Sondierung der Kriegserfahrung in der serbischen Literatur dar. Einerseits sind in seiner Dichtung die Erschöpfung und Erniedrigung des Geistes auszumachen, andererseits glaubt man zumindest ansatzweise den Glauben an die Zukunft zu erkennen. Crnjanski ist vom Krieg enttäuscht, von der Dichtung über das „hungrige und blutige serbische Volk“ und das „verfälschte Bild von seiner glorreichen Vergangenheit“. Marković, Olga: Umetničke (re)vizije rata [Künstlerische Kriegs(re)visionen],120–121. Als Soldat der k. u. k. Armee während des Krieges erlebte Crnjanski „Krankheiten, Massensterben, Lazarette, Schützengräben, Hunger und Verzweiflung“; es war eine Realität, die später zum Gegenstand seiner Dichtung wurde, ausgehend vom Entschluss, gegen den Krieg und gegen jede Form von Leiden vorzugehen, „gegen Vergangenheit, Heiligenscheinen und Mythen“. Đorđević/Lučić: Književnost i srpski jezik [Literatur und serbische Sprache 3], 180. 23 Jähnichen, Das Lied öffnet die Berge. Eine Anthologie der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts, 15. 24 Über Dušan Vasiljev s.: Vasiljev, Spasoje: Dušan Vasiljev. (o. O.) 1929. – Milisavac, Živan: Pesnik poraza – studija o Dušanu Vasiljevu [Dichter der Niederlage – eine Studie über Dušan Vasiljev]. Novi Sad 1952. – Vućković, Radovan: Vojvođanska književna avangarda [Dichterische Avantgarde in der Wojwodina]. Zrenjanin 2006, 327–353, 377. – Jähnichen, Das Lied öffnet die Berge. Eine Anthologie der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts, passim.
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des Ersten Weltkriegs kämpfte er, geplagt vom Zwiespalt zwischen den persönlichen Gefühlen und der Untertanenpflicht, gegen seine serbischen Volksgenossen auf österreichisch-ungarischer Seite. 1918 verbrachte er sieben Monate an der italienischen Front und wurde Zeuge blutiger Kriegsszenen. Dort erkrankte er an Sumpffieber und später auch an Tuberkulose. Nach dem Krieg zog er sich nach Temeswar zurück, musste jedoch die Stadt verlassen, als die Region Rumänien angegliedert wurde. Nach einem kurzen Aufenthalt in Belgrad übersiedelte er nach Čenej (deutsch Tschene, rum. Cenei), ein kleines Dorf an der jugoslawisch-rumänischen Grenze, wo er als Lehrer tätig war. Unzufrieden und depressiv fühlte er sich auch gegenüber der Weltkriegserfahrung, die ihn nicht mehr losließ, machtlos und brachte seine Verzweiflung am Verfall der moralischen Werte zum Ausdruck. An die Nachkriegswelt konnte er sich nicht mehr anpassen. An Tuberkulose erkrankt, starb Vasiljev im März 1924 mit nur 24 Jahren. Seine Verbitterung, psychische Überlastung und die Auflehnung gegen die Wertewelt der Nachkriegsjahre drückte er in religionskritischen Gedichten und in seiner Antikriegslyrik aus. Sein berühmtestes Gedicht veröffentlichte er 1920 in der literarischen Zeitschrift Misao [Der Gedanke] unter dem Titel Ein Mensch singt nach dem Krieg. Vasiljevs Versuche, eigene Gedichtbände zu veröffentlichen, blieben erfolglos, was seine Verzweiflung intensivierte. Schon der Titel des Gedichts macht den Rückblick auf Erfahrungen sichtbar, die junge Schriftsteller erlebt und literarisch verarbeitet hatten: Sie alle waren aus Schützengräben, Gefangenschaft oder aus der Emigration nach Hause zurückgekehrt und brachten die fehlende Geborgenheit angesichts des jüngst Erlebten und der wirren Gegenwart zum Ausdruck. „Ein Mensch singt nach dem Kriege wurde eine Art Kultgesang seiner Generation.“25 Nach Form und Inhalt steht Ein Mensch singt nach dem Krieg in scharfem Kontrast zu Bojićs Blauen Grab. Es hat vier unterschiedlich lange Strophen, einen unregelmäßigen Rhythmus und weist kein einheitliches Reimschema auf. Der Sprecher in Ich-Form bringt immer wieder seine Handlungen, Intentionen und Gefühle zur Sprache: „Gestapft bin ich…“, „Gelacht hab ich…“, „ich begehr kein Beutegut…“ usw. Sowohl als Agent als auch als Beobachter der beschriebenen Handlungen sieht er überall nur Leid. Er zeigt keine Freude über das Ende des Krieges, keinen Überschwang über die Freiheit und das neue Leben. Stattdessen spricht er das Leid des abgesunkenen Menschen aus, sowie ein Gefühl des vergeblichen Lebens. Er bietet dem Leser hässliche Bilder der gesellschaftlichen Realität nach dem Krieg und die Erkenntnis des ethischen Verfalls und beklagt die Abwesenheit wahrer Menschlichkeit. Im Gedicht werden zwei Zeiten betont: die nähere Vergangenheit („bis gestern“) und die Gegenwart („heute“). Der Dichter lebt zwar in der Gegenwart, aber gedanklich lässt ihn die Vergangenheit nicht ruhen, er fristet seine Existenz als Zeuge des erlebten Leidens und Schreckens. Seine nähere Vergangenheit umfasst den Krieg, der von Entsetzen geprägt ist („Gestapft bin ich bis zu den Knien in Blut“) und vom Wahnsinn wegen der Hasspropaganda und der menschlich ge25
Ebd., 15.
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triebenen Vernichtungsmaschinerie („Dem Bruder fluchte ich, gelobte Todfeindschaft“). Nachdem der Sprecher sich in sein Schicksal ergeben und sich am Krieg beteiligt hat („Bis gestern beugt ich mich ergeben /und liebte zügellos die Schand“), äußert er den Wunsch nach Befreiung aus dem Zustand geistiger Umnachtung („O mich verlangt nach Licht!“), der aber unerfüllt bleibt. Statt Erlösung aber kommt die Erkenntnis, dass in der Nachkriegsgesellschaft keine Wiedergutmachung mehr möglich ist. Während des Krieges wurde alles Heilige zerstört („Meine Schwester warf für Geld sich weg/und meiner Mutter schoren sie das Haupt, so grau“), und die Welt kommt ihm als „ein trübes Meer aus Hurerei und Dreck“ vor, gekennzeichnet von Brutalität, Gier und Rücksichtslosigkeit („ein schmieriger Krämer die ersehnte Frau an sich rückt“), die ihm keinen Halt mehr gibt („alles aus den Händen gleitet mir“). Lebensmüde und passiv, verabscheut er nicht nur mögliche Gewinne („Begehr kein Beutegut“) als auch jeden Wunsch nach Rache. Er wünscht sich ein Mindestmaß an innerem Frieden, der ihm das Leben erträglich machen soll, elementare Bedürfnisse, die mit den Wörtern „Licht“, „Milch“ und „Morgentau“ ausgedrückt werden. Die Gegenüberstellung gestern – heute in den letzten Versen rückt schließlich die Erkenntnis der sinnlos gewordenen Existenz in den Vordergrund, jedoch zu einem Zeitpunkt, zu dem keine Kehrtwende mehr möglich ist. VERGLEICH Die Gedichte von Milutin Bojić Das blaue Grab und von Dušan Vasiljev Ein Mensch singt nach dem Krieg präsentieren zwei vollkommen gegensätzliche Darstellungen von Kriegserfahrung. Dieser Unterschied zeigt sich sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene. Während Bojić auf Formvollendung achtet und sein Gedicht Regelmäßigkeiten in Strophengestaltung, Reim und Rhythmus aufweist, geht Vasilijev bewusst gegen Vorgaben der traditionellen Lyrik vor. Der Ton des ersten Gedichts ist zeremoniös und erhaben, wo der Krieg als „Epos“, als ruhmreiches Ereignis und als Mut- und Bewährungsprobe dargestellt wird. Das Gedicht von Vasiljev hingegen liest sich als Lamento eines Kriegsteilnehmers, der dem Krieg im Rückblick nichts Erhabenes abgewinnen kann, sondern ihn als blutiges Gemetzel präsentiert. Bojić betont den einzigartigen Charakter des Krieges, der im Gedächtnis künftiger Generationen einen zentralen Platz beansprucht. Bojićs Ermahnung gegen das Vergessen ist bei Vasiljev nicht anzutreffen. Dieser verweist auf den Krieg als kollektiven Irrsinn und Psychose, der sich im Nachhinein als eine Erfahrung der Sinnlosigkeit erweist. Der krasse Gegensatz zwischen diesen Gedichten schlägt sich auch auf ihre Rezeption nieder: Spätere Kritiker haben den Bojić als „Dichter Serbiens“26 und „Dichter des Schmerzes und Stolzes“, Vasiljev hingegen aber als „Dichter der Niederlage“27 bezeichnet. 26 27
Bojić, Radivoje: Milutin Bojić, pesnik Srbije [Milutin Bojić, Dichter Serbiens]. (o. O.) 1968. – Milutin Bojić, pesnik Srbije [Milutin Bojić, Dichter Serbiens]. Hg. v. Staniša Nešić/Radoje L. Knežević. Beograd 2004. Milisavac, Živan: Pesnik poraza. Studija o Dušanu Vasiljevu [Dichter der Niederlage. Eine Untersuchung über Dušan Vasiljev]. Novi Sad 1952.
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Darstellung des Ersten Weltkriegs in der serbischen Dichtung anhand eines Vergleichs der Gedichte von Bojić und Vasiljev: Milutin Bojić (1892–1917)
Dušan Vasiljev (1900–1924)
Kriegsteilnahme
Königreich Serbien
Österreich-Ungarn
Gedichte
Das blaue Grab
Ein Mensch singt nach dem Krieg
Stichwörter
Epos Ruhm Helden Heiligkeit
Blut Gemetzel Verderben
Form
hymnisch, zeremoniös regelmäßiger Strophenaufbau und Reim
Ich-Sprecher unregelmäßige Form und Verse
Einflüsse
serbische Vorkriegsdichtung Traditionalismus
Expressionismus
Gefühle
Trauer Festlichkeit Seelenruhe Stolz
Verzweiflung Enttäuschung psychische Erschöpfung Pessimismus
Andere Beispiele
Gedichte des Schmerzes und Stolzes (Gedichtsammlung)
Das Weinen der Menschenmutter
Bezeichnung seitens der Literaturkritik
Dichter Serbiens Dichter des Schmerzes und Stolzes
Dichter der Niederlage
BOJIĆ UND VASILJEV IN SERBISCHEN SCHULBÜCHERN Gedichte von Bojić und Vasiljev werden in der 3. Klasse an Gymnasien und mittleren Schulen innerhalb des Fachs Serbische Sprache und Literatur durchgenommen. Ein Vergleich der Lehrpläne aus verschiedenen Zeiträumen zeigt, dass beide erst lange nach dem Ersten Weltkrieg in die Schulbücher aufgenommen wurden.28 Obwohl Bojić in der Zwischenkriegszeit sehr populär war und seine Gedichte in verschiedenen Anthologien veröffentlicht wurden, ist Das blaue Grab nicht in damaligen Lehr- und Schulplänen zu finden. Dagegen blieb Dušan Vasiljev bis 1952 unbekannt, bis der Literaturhistoriker Živan Milisavac, Sekretär der Matica Srpska, 28 Hier wurden die Lehrpläne aus den Jahren 1936 (Königreich Jugoslawien) und 1956 (SFRJ) verglichen. In beiden fehlen die Gedichte von Bojić und Vasiljev. Programi i metodska uputstva za rad u srednjim školama [Lehrprogramme und didaktischer Leitfaden für die Arbeit an mittleren Schulen]. Beograd 1936. – Nastavni plan i program za srednje opšteobrazovne škole (gimnazije) [Lehrplan und -programm für die mittlere allgemeine Schule (Gymnasien)]. Beograd 1956.
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ihm eine Studie widmete.29 Erst Ende der 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahre wurden beide Gedichte in die Schulbücher aufgenommen.30 Für das Fach Serbische Sprache und Literatur sind normalerweise zwei Schulbücher vorgesehen. Das erste ist die sogenannte „Čitanka“ („Lesebuch“, von „čitati“ – lesen), die ausgewählte literarische Texte beinhaltet (Gedichte, Erzählungen, Auszüge aus Romanen, Dramen usw.). Beim zweiten Lehrwerk handelt es sich um eine Literaturgeschichte für Schüler, die den Unterricht mit Hintergrundwissen unterstützt. Beide Gedichte findet man im „Lesebuch“ („Čitanka“) und werden im Rahmen des Themenschwerpunkts „Literatur der Kriegs- und Zwischenkriegszeit“ behandelt. Zwei weitere Gedichte dieser Autoren wurden in die „Čitanka“ aufgenommen – Zemlja oluje [Das Sturmland] von Bojić und Plač matere čovekove [Das Weinen der Menschenmutter] von Vasiljev – vermutlich mit der Absicht, das entgegengesetzte Profil der beiden Schriftsteller sowie der literarischen Epochen, die sie repräsentieren, zu schärfen. Das Sturmland ist ein patriotisches Gedicht über das historische Schicksal des serbischen Volkes, wohingegen Das Weinen der Menschenmutter einen antireligiösen Charakter aufweist und die Gestalt der Mutter als Sinnbild des unsichtbaren Kriegsopfers aufgreift. Die Bearbeitung dieser Texte im Unterricht umfasst drei didaktische Schritte: Lesen, Interpretation sowie Aufgaben im Zusammenhang mit dem Thema. Nach dem Leseverstehen erfolgt die Interpretation des Gedichts von Bojić anhand von Leitfragen und durch Vermittlung von Hintergrundwissen. In diesem Zusammenhang wird der historische Kontext, in dem das Gedicht zu verorten ist, erläutert, des Weiteren richten sich Fragen an den emotionalen Gehalt des Textes sowie die Bedeutung dieser Kriegsepisode für die nachkommenden Generationen. Abschließend werden die für den feierlichen Grundton des Gedichts relevanten poetischen Mittel diskutiert. Eine freiwillige Aufgabe besteht darin, das Gedicht auswendig zu lernen. Zum Vergleich wird darüber hinaus ein kurzes patriotisches Gedicht von Bojić zur Analyse angeboten. Die an das Gedicht Ein Mensch singt nach dem Krieg von Dušan Vasiljev gerichteten Fragen betreffen die Rezeption des Gedichts in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sowie seine Vertonung, des Weiteren die Rolle der Kriegs- und Nachkriegserfahrung für die Autoreninstanz sowie die Gründe für die im Gedicht allgegenwärtige resignative Stimmung. Detailfragen betreffen die Symbole „Licht“, „Milch“ und „Morgentau“ und deren poetischen Gehalt sowie die Bedeutung der „heiligen Erkenntnis“, von der der Dichter in der letzten Versgruppe spricht. Auch hier ist eine Interpretation zweier Gedichte im Vergleich vorgesehen: Dušan Va29
30
Milisavac, Pesnik poraza. Studija o Dušanu Vasiljevu [Dichter der Niederlage: eine Untersuchung über Dušan Vasiljev]. Von Milisavac stammt die Bezeichnung Vasiljevs als „Dichter der Niederlage“. Vor ihm hatte der Bruder des Dichters, Spasoje Vasiljev, eine kurze Biographie verfasst, die aber weitestgehend wenig Beachtung fand. Program obrazovanja i vaspitanja za II, III i IV razred gimnazie. Srpsko-hrvatski jezik i književnost [Unterrichts- und Erziehungsprogramm für die II., III. und IV. Klasse an Gymnasien: serbokroatische Sprache und Literatur]. In: Službeni glasnis SRS – Prosvetni glasnik [Amtsblatt der Sozialistischen Republik Serbien – Amtsblatt für den Unterricht], Nr. 5, 16. August 1990.
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siljevs und Miloš Crnjanskis Texte fallen vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung im Krieg als Soldaten in der k.u.k Armee durch ihren ähnlichen emotionalen Gehalt auf, Pessimismus, Erschöpfung und Enttäuschung, so die intendierte Schlussfolgerung in der Konzeption dieser Unterrichtseinheit. DER EINSATZ DER GESCHICHTSDICHTUNG IN LEHRWERKEN FÜR GESCHICHTE Der Lehrstoff zum Ersten Weltkrieg ist in serbischen Geschichtsbüchern in sieben Lektionen gegliedert – die intensive Behandlung des Themas im Schulunterricht deutet auf seine Wichtigkeit hin. Der Verlauf des Krieges wird dabei zunächst in einem europäischen Kontext behandelt, und erst in den letzten drei Sitzungen richtet sich das Augenmerk auf regionale Entwicklungen: 1) Der Anfang des Weltkrieges; 2) Der Krieg in Europa; 3) Das Ende des Zarenreiches und die Geburt des Kommunismus in Russland; 4) Die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg; 5) Serbien und Montenegro zu Beginn des Krieges; 6) Die „Albanische Golgatha“, die SalonikiFront und die Befreiung des Landes 1915–1918; 7) Das serbische Volk während der Besatzung.31 Das Gedicht von Milutin Bojić macht das Phänomen der Migration literarischer Texte in historische Abhandlungen sichtbar, wie im Folgenden anhand eines Beispiels aufgezeigt werden soll. Die Übernahme hochemotionaler literarischer Vergangenheitsdarstellungen in Vergangenheitsnarrative mit hohem Wahrheitsanspruch, zu denen auch Lehrwerke für Geschichte gehören, ist auf das Wissen um ihre intensive Wirkung auf kollektive Gedächtnisse und Identitäten zurückzuführen. Formulierungen, die in Bojićs Gedicht Das blaue Grab geprägt wurden, findet man im Geschichtslehrwerk bereits auf Überschriftenebene – schon der Untertitel Das „Albanische Golgatha“, die Saloniki-Front und die Befreiung des Landes 1915–1918 deutet darauf hin. Der historische Text im Geschichtsbuch bedient sich des bekannten literarischen Textes, das kollektive Vorstellungen dieses historischen Ereignisses und das daraus folgende serbische Selbstverständnis entscheidend mitgeprägt hat. Dass auf Bezugnahme zum Gedicht Bojićs hingearbeitet wird, macht sich im bereits erwähnten Unterkapitel bemerkbar, in dem auf Bilder und Formulierungen aus Das blaue Grab zurückgegriffen wird. Damit arbeiten Lehrwerktexte an der Ausformung kollektiver Vorstellungen von Geschichte weiter, und der Geschichtsunterricht wird zum Medium der Konsolidierung bereits existierender kollektiver Identitäten – nicht zufällig wird gerade das Narrativ des Rückzugs über Albanien, wie ihn Bojićs literarisch verarbeitet hat, in einem wissenschaftlichen Text ins Gedächtnis gerufen: 31
Nikolić, Kosta/Žutić, Nikola/Pavlović, Momčilo/Špadijer, Zorica: Istorija za III razred gimnazije prirodno-matematičkog smera i IV razred gimnazije opšteg i društveno-jezičkog smera [Geschichte für die III. Klasse der naturwissenschaftlich ausgerichteten und der IV. Klasse der allgemeinen und geisteswissenschaftlich ausgerichteten Gymnasien]. Beograd 2005, 89–118.
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…Die Evakuierung der serbischen Armee fing am 6. Januar 1916 in Dyrrachium [Durrës] an. Die ersten Truppen haben am 15. Jänner auf Korfu übergesetzt und die Regierung traf drei Tage später ein. Vielen serbischen Soldaten ist es nicht gelungen, auf diese Erlösungsinsel zu kommen. Verwundete und Kranke, die die Reise nicht überleben konnten, wurden nach alter Tradition in den Wellen des Meeres, im sogenannten „blauen Grab“ beigesetzt, über das Milutin Bojić die schönsten Verse verfasste.32
Der literarische Text emotionalisiert den wissenschaftlichen historischen Text und trägt damit zu einer effektiveren Verankerung im Gedächtnis bei. Zudem dient der Verweis auf eine bekannte Textvorlage der semantischen Verdichtung des Zieltextes, wobei der intertextuelle Bezug sich auf narrativer Ebene als äußerst sparsam erweist. Auffallend ist dabei, dass die Mischung von fiktionalen und non-fiktionalen Texten völlig kommentarlos erfolgt und dass die Nähte zwischen den Texten sorgfältig vertuscht werden, sodass dem Leser die semantische Aufwertung des historischen Textes mit Objektivitätsanspruch durch eine Quelle aus dem Bereich des Fiktionalen nicht auffällt. Die Gleichsetzung des Meeres mit der Metapher des „blauen Grabs“ erfolgt durch die Apposition äußerst diskret, sodass bereits durch die syntaktische Konstruktion des Satzes das Bestreben deutlich wird, den Schein der objektiven historischen Berichterstattung zu bewahren. Die Gedichte von Bojić und Vasiljev wurden in Lehrbücher für serbische Literatur aufgenommen, um verschiedene Facetten der literarischen Verarbeitung von Kriegserfahrung aufzuzeigen. Mit seiner Appellfunktion an ein als Nation gedachtes Kollektiv ist Das blaue Grab ein patriotisches Gedicht, das in formvollendeter Gestalt eine tragische Episode der serbischen Geschichte thematisiert. Es rüttelt am historischen Bewusstsein des Lesers und ist gleichzeitig an seiner Formung beteiligt. Das Gedicht von Vasiljev hingegen gestaltet sich als Zeugnis eines Einzelnen und drückt nach der Erfahrung des Krieges im Rückblick sein Entsetzen über die Sinnlosigkeit des Krieges aus und auch über seine ungebrochene Zerstörungskraft in der Sprechgegenwart. Darüber hinaus werden im Literaturunterricht anhand dieser Gedichte der Umgang mit literarischen Traditionen bzw. die Abwendung von gültigen literarischen Systemen in der Vorkriegs- und Nachkriegsliteratur illustriert, so wie sie anhand von formalthematischen Merkmalen aufgezeigt wurden. Ihre Aufnahme in Lehrwerken für Geschichte bzw. ihre Abwesenheit in Geschichtsbüchern ist symptomatisch für die Beschaffenheit des historischen Diskurses in diesen Medien der nationalen Erziehung. Eignet sich das Gedicht von Milutin Bojić für die Montage in historischen Texten mit Objektivitätsanspruch, so sucht man vergeblich nach Fragmenten aus dem Gedicht Ein Mensch singt nach dem Krieg von Vasiljev in Lehrwerken für Geschichte: Als ein individuelles Zeugnis über Kriegserfahrung in der Form eines Lamentos über Kriegs- und Nachkriegsrealitäten hat es keine patriotische Appellfunktion und ist im Sinne der Aktivierung und Festigung kollektiver Identitäten weniger instrumentalisierbar.
32 Ebd., 111.
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ANHANG (GEDICHTE) Das blaue Grab von Milutin Bojić (übersetzt von Brigitte Struzyk) Gebt acht, Galeeren, wacht, das Steuer festgemacht, Auf Zehenspitzen geht Ich singe stolz den Tod im Widerschein der Nacht, Die heilig Schwarzes übers Wasser weht. Da unten liegen sie, wo hohl die Muschel ruht Und welke Algen holt der Tod. Ein Bruder bei dem andern, Helden voller Mut, Prometheus-Hoffnungsbrüder, Jünger unsrer Not. Und spürt ihr nicht das Meer, es schleicht besorgt landauf, Um nicht der Brüder Totenruhe zu zerstören. Aus tiefem Abgrund steigt der Schlummer stets herauf, Und lässig schickt der Mond sein Licht spazieren. Das ist der Rätseltempel, ist die Trauergruft Für einen Riesentod, unendlich, wie Verstand wir missen, So leise wie die Nacht des Südens Inseln sucht, So dunkel und so kalt verzweifeltes Gewissen. Spürt ihr denn nicht, wie steil und klar aus blauen Tiefen Die Frömmigkeit erwächst, steigt mit des Wassers Lauf, Wie auf der Luft obskure Pantomimen liefen? Die große Seele Tod, sie tritt verstohlen auf. Gebt acht, wacht, nehmt aus dem Grab der Brüder Das schwarze Tuch um die Trompeten, stillt den Klang! Es sollen Wächter singen die Totenlieder wieder Dort, wo die Wogenküsse ersticken in dem Tang. Vergehen wird die Zeit, Jahrhunderte wie Schaum, Der gischtet auf dem Meer und ohne Zeichen geht, Denn kommen wird der Tag, da aufersteht der Traum Vom Glanz der Welt, der nun auf Muschelschalen steht. Und dieses Grab im Meer, wo unbestattet mahnt Ein Epos voller Pein, voll ungelöschter Glut, Die Wiege wird es sein, die künftige Zeiten ahnt Für Geist, der suchend folgt dem Koryphäenmut. Begraben liegt nun hier, die Kränze abgezogen, Das längst entflohne Glück des einzigen Geschlechts, Und somit liegt das Grab im Schatten dieser Wogen Dem Herz der Erde nah und dicht beim Himmelszelt.
Der Erste Weltkrieg am Beispiel von Gedichten aus serbischen Schulbüchern Gebt acht, Galeeren, wacht, die Fackeln löscht nun bang! Das Ruder geht zu Grund mit höllischem Gestöhn, Und wenn die Stimme schweigt im Totenliedersang Dann gleitet in die Nacht, fromm, stillgefasst und schön. Denn so sieht aus mein Wunsch, die Stille ungeheuer, Im Brüllen jener Schlacht soll zu den Toten gehen, Die Kinder jauchzen hell im Schutz der hohen Feier, Und heiß wallt auf ihr Blut im grausigen Geschehen. Und dort vergräbt sich tief das Schlachtfeld unterm Meer In diesem gleichen Blute, das nun zur Ruhe fand; So wie im Vater schweigt die Ruhe ewig schwer, Ereignet sich Geschichte für seinen Sohn an Land. Ich wünsche Ruhe mir, wenn stumm mein Singen weint, Das Wort, die Träne stockt, der weiche Seufzer strömt, Im Atem im Geruch von Thymian Staub vereint Der Trommeln Tosen still von weither tönt. Gebt acht, Galeeren, wacht! Bewegt euch sacht beschwert! Die Andacht sei bewusst den Toten zum Geleit. Ich stimme an den Ton zum Himmel unerhört In dieser Heiligkeit des Wassers hier und heut. Ein Mensch singt nach dem Krieg von Dušan Vasiljev (übersetzt von Holger Siegel) Gestapft bin ich bis zu den Knien in Blut, Und habe keine Träume mehr. Meine Schwester warf für Geld sich weg, Und meiner Mutter schoren sie das Haupt, so grau. Und ich in diesem trüben Meer von Hurerei und Dreck Begehr kein Beutegut; O mich verlangt nach Licht! Und Milch! Und hellem Morgentau! Gelacht hab ich, bis zu den Knien in Blut, Und habe nicht gefragt: warum? Dem Bruder fluchte ich, gelobte Todfeindschaft, Und jauchzte, wenn bei Nacht nach vorne ward gerückt, Und dann zum Teufel flogen Gott und Mensch und Schützengräben! Heut sehe ich gelassen zu, wie die ersehnte Frau Ein schmieriger Krämer an sich drückt, Und wie mir alles aus den Händen gleitet; – Um mich an ihm zu rächen, fehlt es mir an Willen – oder Kraft. Bis gestern beugt ich mich ergeben Und liebte zügellos die Schand. Bis gestern kannt ich nicht mein wahres Leben – Heute jedoch hab ichs erkannt!
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Bedaure nicht, dass ich bis zu den Knien gestapft in Blut Um durch der roten Jahre Schlächtereien zu gelangen Und diese heilige Erkenntnis zu empfangen Die mir Verderben hat gebracht. Und ich begehr kein Beutegut: Ach, gebt mir nur ein wenig Licht Und etwas hellen Morgentau – Das Übrige sei euch vermacht!
DER ERSTE WELTKRIEG IN DER RUMÄNISCHEN LITERATUR: DAS PROBLEM DES ANTISEMITISMUS Eine Analyse am Beispiel von Liviu Rebreanus Erzählung Itzig Struhl, Deserteur Romaniţa Constantinescu Der bekannteste rumänische Literaturkritiker der Zwischenkriegszeit, Eugen Lovinescu, berücksichtigte in seiner Geschichte der zeitgenössischen rumänischen Literatur (Bd. 3, 1929) lediglich die 1920 erschienene Novelle Itzig Struhl, Deserteur,1 obwohl der renommierte Schriftsteller Liviu Rebreanu einiges vorzuweisen hatte, unter anderem den von der Kritik einstimmig gepriesenen ersten Roman Ion (1920), für welchen der Autor mit dem Preis der Rumänischen Akademie ausgezeichnet wurde. In seiner Literaturgeschichte betrachtet Eugen Lovinescu diese Novelle als „die einzige, die uns eines Schriftstellers versichert, von ihm kündet“.2 Die Novelle wurde 1921 in einem Band mit zwei weiteren Kriegserzählungen, Catastrofa [Die Katastrophe] und Hora morţii [Totentanz]3 veröffentlicht. Sie wurde 19244 und 19325 erneut aufgelegt. Das Interesse an einer Übersetzung ins Deutsche zeigte sich sofort. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen Spovedanii [Bekenntnisse] von 1932 schreibt Rebreanu: Ein Gymnasiallehrer aus der Moldau hat mich heute zu Hause aufgesucht, um die Erlaubnis einzuholen, die Novelle ‚Itzig Struhl, der Deserteur‘ in irgendeiner Zeitung aus Czernowitz in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen … Er zeigte mir den übersetzten Text. ‚Eine erste Fassung‘, sagt er, ‚die noch gründlich gekämmt wird.‘ Ich habe bloß eine Seite gelesen und ihn gebeten, es bleiben zu lassen. Die Übersetzung ist korrekt, ja noch viel zu korrekt, aber kein Kämmen wird ihr Seele schenken können. […] Ich bin sicher, meinen freundlichen Übersetzer nicht überzeugt zu haben. Er hat mir verunsichert gestanden, daß er Professor für Deutsch und 1 2 3
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Die Novelle erscheint in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben der von Eugen Lovinescu geleiteten Zeitschrift Sburătorul I/45 und 46, am 21. Februar und am 27. März 1920, 445–451 und 461–467. Lovinescu, Eugen: Istoria literaturii române contemporane [Geschichte der zeitgenössischen rumänischen Literatur], Bd. 3. Bukarest 1981, 242. Wo nicht anders vermerkt, handelt es sich um eine Übersetzung der Verfasserin. Im Band Catastrofa (Trei nuvele) [Die Katastrophe (Drei Novellen)], erschienen im Verlag Cartea Românească in Bukarest; im selben Jahr wurde sie in den Band Norocul (Schiţe şi nuvele) [Das Glück (Skizzen und Novellen)] aufgenommen, der in der Reihe „Biblioteca universală“ des Bukarester Verlages Alcalay und Calafeteanu erschien. Trei nuvele [Drei Novellen], Bukarest 1924. Iţic Ştrul, dezertor. Mit 30 Holzschnitten von P. K. Honich. Bukarest 1932.
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Romaniţa Constantinescu Jude ist, daß er deutsche Schulen besucht und mit leidenschatlicher Hingabe und absolut uneigennützig gearbeitet habe, bloß weil die Novelle ihm sehr gut gefällt und er gewünscht hätte, daß sie von deutschen Lesern gekannt werde, die anspruchsvolle Literatur lieben usw. Übrigens ist der Professor nicht der erste deutsche Übersetzer dieser Novelle. Wenigstens fünf sind ihm vorangegangen.6
Konrad Richter veröffentlichte als Erster seine Übersetzung im Feuilleton in der „Kronstädter Zeitung“ (Nr. 35, 36, 37 und 38/1929). Demselben ist auch die deutsche Übertragung des Romans Ion zu verdanken, die 1941 unter dem Titel Die Erde, die trunken macht in der Wiener Verlagsgesellschaft (Wien/Leipzig) erschien. Weitere Übersetzungen folgten erst nach dem Krieg.7 Die Novelle thematisiert die üble Behandlung jüdischer Soldaten in der rumänischen Armee zur Zeit des Ersten Weltkriegs, sodass ihre intensive Rezeption in deutschsprachigen jüdischen Intellektuellenkreisen der Bukowina nicht weiter überrascht. Wie ich des Weiteren zu zeigen versuche, identifizierten sich jedoch auch siebenbürgische Rumänen vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen als Minderheit in der k. u. k. Monarchie und später in gewissem Sinne auch im neuen Königreich Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Schicksal der jüdischen Minderheit im Altreich. Im Rezeptionskontext der Novelle in den 1930er-Jahren ist die letzte vor dem Zweiten Weltkrieg erschienene rumänische Ausgabe in zweierlei Hinsicht von besonderem Interesse: erstens, weil der Band aus dem Jahre 1932 den Titel der von der Kritik am besten aufgenommenen Novelle trägt: Iţic Ştrul, dezertor [Itzig Struhl, Deserteur], und zweitens, weil Liviu Rebreanu bei der Realisierung dieser schönen Ausgabe mit dem jüdischstämmigen rumänischen Künstler Paul Konrad Hönich zusammengearbeitet hat. Versehen mit 30 von dem jungen Graphiker signierten Holzschnitten, erscheint der Band Itzig Struhl, Deserteur im Verlag Cartea 6
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Rebreanu, Liviu: Jurnal [Tagebücher], Bd. 1. Bukarest 1984, 322–323. Ich habe hier die deutsche Übersetzung von Professor Horst Schuller Anger verwendet, dem ich sämtliche Informationen zur Übertragung der Werke Liviu Rebreanus ins Deutsche verdanke. Siehe auch: Schuller Anger, Horst: Liviu Rebreanu in deutscher Übersetzung. In: Volk und Kultur, 12, 1985, 14–17; ders.: Vorgelebte Einheit des Gewissens. Zum 100. Geburtstag von Liviu Rebreanu. In: Karpatenrundschau, 48, 29.11.1985, 4–5. Ich möchte Prof. Dr. Horst Schuller auf diesem Wege herzlich danken. Unter dem Titel Itzig Strul, Deserteur und ohne Angabe des Übersetzers wurde Rebreanus Erzählung erst 1958 in der Zeitschrift Rumänische Rundschau erneut veröffentlicht. Sie wurde dann in den folgenden Bänden aufgenommen: Alltägliche Geschichten (aus dem Rumänischen von Egon Weigl, Bukarest 1960), Die Waage der Gerechtigkeit (übertragen von Lieselotte Losano und Egon Weigl, Leipzig 1963, 1977), Der Tod der Möwe. Rumänische Erzählungen des kritischen Realismus (ins Deutsche übertragen von Ludwig Zenker. Hg. v. J. P. Molin. Nachwort und biographische Notizen von Irina Weigl, Berlin 1963), Die schwarze Truhe und andere rumänische Erzählungen (Auswahl und Redaktion Edith Horowitz-Silbermann und Michael Rehs [Übersetzer von Itzig Struhl, Deserteur: Egon Weigl], Tübingen und Basel 1970. Die Übersetzung, aus der ich in dieser Arbeit zitiere, stammt von Egon Weigl. Unter dem Titel Itzig Struhl, Deserteur erschien die Novelle im Band Alltägliche Geschichten, Bukarest 1960, und wurde in den Band Die Waage der Gerechtigkeit (Novellen), Leipzig 1977 unter dem Titel Iţic Ştrul, der Deserteur erneut aufgenommen.
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Românească in Bukarest. Der einflussreiche Literaturhistoriker George Călinescu bezieht sich in negativer Art auf Rebreanus Zusammenarbeit mit Hönich, dem er Verbundenheit mit der jüdischen Sache vorwirft. Hönich übertreibe in seinem Eifer, die Novelle zu illustrieren, indem er eine „erfundene“ Szene ohne Textentsprechung hinzufüge, in welcher ein Offizier einen jüdischen Soldaten auspeitscht. Hönich illustriert jedoch Rebreanus Novelle getreu, und es ist seltsam, dass Călinescu die Stelle ignoriert, in der sich Itzig beklagt, von dem neuen Vorgesetzten mit der Reitpeitsche geschlagen worden zu sein.8 Nach Auffassung Călinescus „konnte sich etwas derart Unerhörtes nicht ereignen, und wenn es doch so war, dann ist es der pathologische Fall des entsprechenden Offiziers, welcher der Analyse bedarf“.9 Călinescus scharfe Kritik an Hönichs Arbeit in Rebreanus Band erscheint 1941 opportunistisch und ist schwer nachvollziehbar. Paul Konrad Hönich (auch: Honich, Hoenich, 1907–1997) wurde, wie auch Liviu Rebreanu, in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie geboren und studierte in Wien, Florenz und Paris. 1934 illustrierte er den Gedichtband Înfrîngeri [Niederlagen] des linksorientierten Journalisten, Übersetzers und Schrift stellers George Silviu (höchstwahrscheinlich Pseudonym von Silvius Iancu Guliger oder Goliger, 1901–1971). 1935 emmigrierte Hönich nach Eretz Yisrael, um sich dann in Haifa niederzulassen, wo er in einem eigenen Atelier (teaching art studio) Zeichnen, Malerei und Gravierkunst lehrte. Seine Karriere nach der Emigration ist in Rumänien unbekannt, und einstweilen brachte niemand den Namen des Illustrators von Rebreanu mit jenem des experimentellen Künstlers in Verbindung, der seine graphischen und zeichnerischen Arbeiten mit dem Pseudonym PeKA signierte. Hönich sollte Professor für Zeichnen, Farbenlehre und experimentelle Kunst an der Technion’s Faculty of Architecture and Town Planning in Haifa werden. Zwischen 1960 und 1980 hat er sich in der sogenannten Sonnenmalerei (Sun-painting) versucht, einem von Reflexion und Brechung des Lichtes inspirierten Design. Heute trägt die Galerie der Fakultät für Architektur und Städteplanung in Haifa seinen Namen: Paul Konrad Hoenich Center for Art, Science and Technology. Der Umstand, dass Rebreanu für die Ausgabe von 1932 mit dem noch sehr jungen Hönich zusammenarbeitete, lädt geradezu ein, sein Werk, das die Kritik seiner Zeit als „humanitär“ und fundamental antichauvinistisch einschätzte, in einem komplexeren Kontext zu erschließen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Tätigkeit Liviu Rebreanus als Generaldirektor des Nationaltheaters in Bukarest, der in einer Zeit antisemitischer Verfolgungen unter dem Regime von Marschall Ion Antonescu das Weiterbestehen 8
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Der inkriminierte Holzschnitt befindet sich auf Seite 28 und illustriert die unmittelbare Textstelle auf Seite 27 (Rebreanu, Liviu: Iţic Ştrul, dezertor. Mit 30 Holzschnitten von P. K. Honich. Bukarest 1932). In deutscher Übersetzung lautet die Stelle: „Aber Itzigs Hoffnungen verflogen, als ein anderer Kompanieführer kam. Der neue Oberleutnant hatte ihm in zwei Wochen nicht ein gutes Wort gesagt. Er beschimpfte ihn ohne irgendeinen Grund, ranzte ihn dauernd an, und vorgestern hatte er ihn sogar mit der Reitpeitsche auf den Kopf geschlagen.“ Rebreanu, Liviu: Itzig Struhl, Deserteur. In: Die Waage der Gerechtigkeit. Liviu Rebreanu. Übersetzt von Egon Weigl. Leipzig 1977, 48. Aufzeichnung im Tagebuch vom 2. Januar 1930. Jurnal, Bd. I, 109–110.
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des jüdischen Theaters „Baraseum“ genehmigte und ferner die jüdischstämmige Schauspielerin Lenny Caler vor antijüdischen Übergriffen schützte. Diese wurde während ihrer Auftritte von Angehörigen der rechtsradikalen Legion des Erzengels Michael (Legiunea Arhanghelului Mihail), die sich im Publikum befanden, angepöbelt. Unmittelbar danach erhielt Rebreanu einen Brief, in dem ihm die Verwüstung seines Hauses und seine Erschießung angedroht wurden; außerdem riskierte er damit den Verlust seiner Stelle. Von diesen Vorkommnissen wurde auch in der ausländischen Presse berichtet. Das Stück wurde jedoch weiterhin in der Originalbesetzung aufgeführt, zu der Lenny Caler gehörte, – auf Wunsch des Theaterdirektors in Anwesenheit der Polizei im Saal. Rebreanus Haltung gegenüber der rechtsradikalen Bewegung kam auch am Begräbnis des von den Legionären ermordeten Historikers und Premierministers Nicolae Iorga zum Ausdruck, als aus einschlägigen Gründen kaum mehr als zehn Mitglieder der Rumänischen Akademie erschienen – Liviu Rebreanu gehörte zu den Wenigen. Als die Bücher des Schriftstellers Mihail Sadoveanu öffentlich verbrannt wurden, der mittlerweile der Linken angehörte, führte der Name Rebreanus die in der Zeitung Dimineaţa [Der Morgen] am 1. April 1937 veröffentlichte Liste der Intellektuellen an, die eine derartige Manifestation der Intoleranz verurteilten. All dies sind öffentliche Akte, die man bei der Bewertung der Haltung Rebreanus gegenüber der extremen Rechten schwerlich übersehen kann. ZWEIFEL UND KRITIK. LIVIU REBREANU ENDE DER 30ER- UND ANFANG DER 40ER-JAHRE Leider halten sich bis heute noch gewisse ungerechtfertigte Gerüchte hinsichtlich des Autors von Itzig Struhl, Deserteur. Den Grund hierfür liefert eine voreingenommene Lesart des Romans Der Gorilla (1938), einer damals gewagten politischen Chronik des Aufstiegs der rechtsextremen Bewegung und der schleichenden Verbreitung der faschistischen Ideologie in den intellektuellen Kreisen Rumäniens, an der Rebreanu schon seit 1933 arbeitete.10 Die politischen Vorstellungen, welche Rebreanu geteilt und gefördert hat, sind in einem Interview nachzulesen, das er der 10
Gheran, Niculae: Confluenţe. In: Opere. Hg. v. Liviu Rebreanu, Bd. 9. Bukarest 1978, 578. Eine Aufzeichnung aus dem Tagebuch vom 30. November 1930 belegt, dass Rebreanu daran dachte, einen Roman zu schreiben, in dessen Mittelpunkt der Journalist Pamfil Şeicaru stehen sollte, der Direktor der rechten, bisweilen rechtsextremen Zeitung Curentul, der als der einflussreichste, versierteste, aber auch wankelmütigste rumänische Journalist der Zwischenkriegszeit galt. Nachdem er Rumänien 1944 verlassen hatte, wurde er vom kommunistischen Regime in Abwesenheit zum Tode verurteilt, 1966 aber begnadigt, nachdem er sich aus dem Exil Nicolae Ceauşescu zur Verfügung gestellt hatte, um mittels Artikel in der ausländischen Presse dessen Politik des Abrückens von Moskau zu unterstützen. Rebreanus Figur, der Journalist Toma Pahonţu, ähnelt außerdem in einigen Hinsichten dem Journalisten Mihail Stelescu, einem Anhänger der rechtsextremen Legionäre, der allerdings in Konflikt mit Corneliu ZeleaCodreanu, dem Anführer der Bewegung, geriet. Er wurde am 24. September 1934 im Rahmen einer politischen Fehde von Legionären ermordet, wie bezeichnenderweise auch die Figur Rebreanus.
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Zeitung Dimineaţa im Jahre 1935 gab11 (in der Zeit also, als er an dem Roman Gorilla schrieb), worin er den „Irrtum des Antisemitismus“ explizit anprangerte. Der Roman erschien vier Monate, nachdem König Karl II die Regierung entlassen, und die sogenannte „Königsdiktatur“ eingesetzt hatte, um den Mitgliedern der Eisernen Garde, die mit 15,58 % der Stimmen aus den Wahlen von 1937 hervorgegangen waren, den Zugang zur Regierung zu verwehren.12 Es war die Zeit einer virulenten Kampagne gegen die rechtsextreme Legionärsbewegung und zugunsten des Königs. Folglich entging das Buch anfänglich der Zensur, weil es zur Bekämpfung rechtsradikaler Vorstellungen eingesetzt werden konnte. Das Ende des Romans ist eindeutig: Der Protagonist – der Journalist Toma Pahonţu – wird auf der Straße von Legionären brutal ermordet. Da die Romanfiguren die Causa Totalitarismus vs. Demokratie offen diskutieren, was dem Regime der persönlichen Diktatur des Königs Karl II. nicht passte, nimmt es nicht weiter wunder, dass die Verantwortlichen für die angekündigte Publizierung dennoch Strafe zu gewärtigen hatten.13 Ist die „Botschaft“ des Buches nicht ausreichend explizit? Beschreibt Rebrea nu die geistige Verirrung junger Intellektueller, der Anhänger der sogenannten „Kreuzbrüder“14, derart realistisch, dass das Buch als Legitimierung derer Taten erscheinen konnte und gar als solche wahrgenommen wurde? Und dennoch endet eine Figur wie der Student Ion Ionescu (ein sehr gewöhnlicher rumänischer Name), der keine Gelegenheit versäumt auszurufen: „Die Politiker und die Juden sind unseres Volkes Unglück“,15 als Mörder des unbeständigen Journalisten Toma Pahonţu auf der Anklagebank. Irrtierend könnte die Hauptfigur des Journalisten Toma Pahonţu auf den Leser wirken. Denn Pahonţu ist kein Held im Kampf gegen Fanatismus, sondern lediglich ein Opfer. Pahonţu selbst ist ein „Desorientierter“, der sich nach dem Krieg gewissen Illusionen hingibt, die ihn das Leben kosten sollen: Er hatte sich auf ein normales Leben in einer vernünftigen Welt vorbereitet, die nun jedoch mit ihren sozialen Elementen zu Bruch gegangen ist und sich mit ihren auf den Kopf gestellten Wertvorstellungen am Boden wand. Auf den Ruinen dieser Welt erwartete die Menge derer, die gekämpft und sich gequält hatten, mit leidzerfressenen Seelen die Inthronisierung der Herrschaft des Rechtes für alle. Das revolutionäre Schauern der universellen Verbrüderung war überall im Land zu spüren. Nach den Jahren des Blutvergießens und des Todes schlugen die Herzen im Glauben an den ewigen Frieden höher. Fanatisch ersehnte man eine neue, reine, idyllische Welt. Die alten Führer hatten ihren öffentlichen Kredit verspielt. Es gründeten sich neue Parteien mit simplen Losungen anstelle eines Programms: Ehre und Recht! Reformatoren, 11
Lascăr, Sebastian: De vorbă cu Liviu Rebreanu [Im Gespräch mit Liviu Rebreanu]. In: Dimineaţa, XXXI, 10402, 9.12.1935, 3. 12 Da keine Partei auf mehr als 40 % gekommen war, löste Karl II. die politischen Parteien auf und schuf die demokratische Verfassung von 1923 ab, um seine Macht zu festigen. Er griff hart gegen die Eiserne Garde durch, und auf seinen Befehl hin wurden im November 1938 der Anführer der Bewegung, Corneliu Zelea-Codreanu, sowie 13 weitere Legionäre ermordet. 13 Anmerkung im Tagebuch Liviu Rebreanus vom 24. Februar 1941: Die Strafe hätte 4000 Lei betragen. 14 Mit den „Kreuzbrüdern“ („Fraţii de cruce“) ist die Legion des Erzengels Mihail gemeint, die später in Eiserne Garde und Alles fürs Vaterland umgetauft wurde. 15 Rebreanu, Liviu: Gorila. In: Opere X. Ders. Bukarest: 1981, 41.
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Romaniţa Constantinescu Retter und Neuerer fanden sich an jeder Ecke und fanden Gehör und Anhänger… Es war das goldene Zeitalter der Demagogie sowie der Geschäftsleute.16
Pahonţu ist auch ein an seiner Bereicherung „Desinteressierter“ (nicht jedoch an seinem Emporkommen), was ihn in der Hartnäckigkeit, mit der er seine Ideen verfolgt, umso gefährlicher macht. Er wird der Rhetorik seiner Zeit Tribut zollen, ist ein Verehrer des Faschismus, aber kein Antisemit. In seiner Obsession, sozial und intellektuell aufzusteigen, verhält er sich skrupellos und vertritt Meinungen, die ihm im Grunde zuwider sind. Er begreift, jedoch zu spät, dass sich seine eigenen Ideen, besonders der von ihm vertretene und inzwischen radikalisierte Nationalismus, gegen ihn wenden und ihm den Garaus machen. Der Roman Gorilla ist kein Propagandawerk, die Figuren sind nicht karikaturistisch, und dem damaligen Leser wird das Angebot unterbreitet, sich teilweise mit dem Protagonisten, dem Journalisten Pahonţu, zu identifizieren. Durch die Besetzung von Nebenrollen durch radikalisierte Figuren, wie den Studenten Ionescu, wird jedoch Distanz geschaffen, und der Romanheld kann im Spiegel der Perspektiven kritisch betrachtet werden. Rebreanu betreibt hier eine Archäologie der rechtsextremen Ideen der Nachkriegsgeneration, indem er die Gründe und Unterstützer dieser Vorstellungen in den Reihen der Teilnehmer am Ersten Weltkrieg aufdeckt. Die Romanrezensenten hatten keinerlei Schwierigkeiten hinsichtlich der Rezeption seiner Botschaft. Die literaturgeschichtliche Studie von Nicolae Gheran, welche die Wiederauflage des Romans nach dem Krieg ergänzt, zitiert eine vorteilhafte Rezension in Vremea [Die Zeit]: „Im Roman Der Gorilla ist sein Autor nirgends gegenwärtig, dieser lässt das Leben seiner Helden sich natürlich vor unseren Augen entfalten, und dennoch spüren wir sein Urteil durchgängig präsent, durchdringend, luzide, unerbittlich.“17 Eine weitere Rezension erscheint in Revista scriitoarelor şi scriitorilor români [Zeitschrift der rumänischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller]: „Der Gorilla scheint – wie alle wahrhaft großen Werke – auf interessante Weise dazu bestimmt, den Leser im Geiste wahrhaftiger Menschlichkeit zu erziehen.“18 Ein weiterer Rezensent bemerkt: „Der Roman scheint kein Ende zu haben, denn er endet in dem Moment, als die Richter zu beraten beginnen. Im Grunde überlässt der Autor uns die Aufgabe, ein angemessenes Strafmaß auszuloten.“19 Ein offenes Ende hat auch die Novelle „Itzig Struhl, Deserteur“ – es wird von dieser Lösung, wie ein Ende zu gestalten wäre, später noch die Rede sein. Auch George Călinescu schätzt, obschon er den von ihm als zweitrangig im Schaffen Rebreanus eingestuften Roman nicht mag, den Umstand, dass der Autor seine Haltung nicht verhüllt, sondern „objektiv“ bzw. neutral bleibt und es dem Leser freistellt, sich seine Meinung zu bilden.20 16 Ebd., 31. 17 Av.A: (…). In: Vremea, XI, 546, 17.6.1938, 6. Zit. nach Gheran in Liviu Rebreanu, Opere, Bd. 9, 479. 18 Scarlat, Theodor: Liviu Rebreanu: Gorila – roman. In: Revista scriitoarelor şi scriitorilor români, XII, 7–8, Juli-August 1938, 28–30. 19 Luca, Dumitru: Liviu Rebreanu: Gorila. In: Revista literară a Colegiului Naţional S-tul Sava, XIII, 3–4, Januar-Februar 1939, 37. Zit. nach Gheran in Liviu Rebreanu, Opere, Bd. 9, 483. 20 Călinescu, George: Istoria literaturii române de la origini până în prezent [Die Geschichte der
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Nach Abdankung des Königs und der Ausrufung des sogenannten „Nationallegionären Regimes“ am 14. September 1940 durch die Machtergreifung der Legionäre wird das Buch nicht mehr gedruckt, und jegliche Erwähnung wird vermieden. Diese Situation bleibt auch nach der Entmachtung der Legion in der Zeit der Militärdiktatur unter Marschall Ion Antonescu bestehen.21 Gedruckt zu einem Zeitpunkt politischer Wirren, betrachtete man den Roman als eine Gratwanderung. Einige Politiker beeilten sich, in dem Buch ein vom Karlismus diktiertes polit-konjunkturelles Erzeugnis zu sehen; Vertraute des Königs hingegen lasen das Buch als verschleierte Kritik an der Autokratie; von gewissen demokratischen Anschauungen in Bewegung gesetzt, konnte es als Favorisierung des parlamentarischen Regimes interpretiert werden; andere politische Gegner (darunter die Mitglieder der Eisernen Garde) waren wegen des Romantitels Der Gorilla außerordentlich irritiert“,22 in dem sie sich portraitiert sahen. Die Kommunisten schließlich waren mit dem Lobgesang auf die bürgerliche parlamentarische Demokratie nicht einverstanden und enttäuscht, dass für sie im Roman keine positive Rolle abgefallen war. Die neuerliche Akzeptanz des Romans in der Ausgabe Opere [Werke] zur Zeit des Kommunismus folgte dem Gedanken, der Autor habe nicht die Absicht gehegt, eine politische Chronik zu verfassen, sondern ein fiktionales Werk. In den reichhaltigen literatur- und rezeptionsgeschichtlichen Studien und Anmerkungen, die den zehnten Band der Werke ergänzen, kommt dem Herausgeber Niculae Gheran das unschätzbare Verdienst der Beseitigung des zu simplen und gründlich mystifizierenden Etiketts zu, mit dem man den Roman Gorilla versehen hatte. Und dennoch, in einem sehr wichtigen, den Entgleisungen der rumänischen intellektuellen Elite vor und nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmeten Buch hält der Historiker Lucian Boia Liviu Rebreanu Fehler bei der Einschätzung der wahren Natur der Ende der 30er- und Beginn der 40er-Jahre in Rumänien rasch aufeinanderfolgenden politischen Regime vor. Das moralische Urteil des Historikers basiert auf den Aufzeichnungen im Tagebuch Liviu Rebreanus. Im Sommer 1941 setzte Rebreanu Hoffnung in Marschall Ion Antonescu, nachdem es diesem gelungen war, die Legionäre zu beseitigen und das ein Jahr zuvor von den Sowjets besetzte Bessarabien zurückzuerobern. Anlass für Lucian Boias Feststellung: „Es ist ganz erstaunlich und entmutigend, wie dumm die Menschen sein können!“23 Für Rebreanu stellte Ion Antonescu das kleinere Übel dar, so wie viele weitere Linke im Sommer demselben Irrtum verfielen. Es war ein Zeitpunkt, zu dem Rebreanu die Zukunft Rumäniens ohnehin zu Recht als „katastrophal“ bezeichnete.24
rumänischen Literatur von ihren Ursprüngen bis zur Gegenwart]. Bukarest 1982, 736. 21 Zum Schicksal der Romanausgaben: Gheran, Niculae: Introducere [Einführung] und Romanul romanului [Der Roman des Romans]. In: Opere 10. Liviu Rebreanu. Bukarest 1981. V– XLIII, 387–440, 441–455. 22 Gheran, Roman romanului, 389. 23 Boia, Lucian: Capcanele istoriei. Elita intelectuală românească între 1930 şi 1950 [Die Fallen der Geschichte. Die rumänische intellektuelle Elite von 1930 bis 1950]. Bukarest 2011, 210. 24 Anmerkungen im Tagebuch Liviu Rebreanus vom 28. November 1940 und 3. Dezember 1940.
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In den Aufzeichnungen im Tagebuch Rebreanus stößt man oft auf Momente der Selbsttäuschung und von unberechtigten Hoffnungen. Als geradliniger Mensch war Rebreanu allzu schnell bereit, der neuen Macht eine Gnadenfrist zu gewähren und einen Blankoscheck für Regierungen auszustellen, die in seinen Augen und unter den gegebenen Umständen „das kleinere Übel“ darstellten. Aus diesem Grunde gleicht der Rebreanu aus dem Jurnal in hohem Maße seiner literarischen Figur Toma Pahonţu. Er scheint sich selbst im Roman für seine eigene „Desorientierung“ zu bestrafen, indem er Pahonţu zu einem Opfer des Faschismus macht. Für nur einen Moment hatte Rebreanu wohlwollend auf die Legionäre geblickt, verführt von deren Programm der nationalen Emanzipation und der sozialen Fürsorge. Sie sind ihm aber dann rasch zuwider: Es besteht kein Zweifel, dass die Legionäre heute einen Fremdkörper inmitten des Volkes darstellen, wie eine Art fanariotischer Besetzer, die nichts als ihre Bereicherung mit allen Mitteln, wie schändlich diese auch seien, verfolgen. Deshalb graust es dem Volk vor den Legionären, und lediglich aus Angst schweigt es.25
Er setzte seine Hoffnung in Karl II., soll aber enttäuscht werden: In zehnjähriger Politik ist es dem König gelungen, den Staatsapparat komplett zu desorganisieren, alle Führungspersönlichkeiten ihres Wertes zu berauben, ohne andere an deren Stelle hervorzubringen oder auszuwählen, sodass heute die Führung von gänzlich Unbekannten gestellt wird, die im öffentlichen Bewusstsein nicht verwurzelt sind und über keinerlei Führungsqualitäten verfügen […] Der König hat alle Personen mit Charakter beseitigt, indem er sich nur mit Höflingen umgibt.26
Lucian Boia begrüßt den „opportunen“ Tod Rebreanus am 23. August 1944.27 Denn trotz all seiner riskanten öffentlichen Akte und seiner vom Einfluss rechtsextremer Ideologie freien Schriften, trotz der Freundschaft und Sympathien, die ihn mit vielen Linken verbanden, war Rebreanu weder Ideologe noch Kollaborateur. Er wäre vom neuen kommunistischen Regime beseitigt worden:28 „Der bedeutendste rumänische Romancier hat so vermieden, aus den Reihen der Schriftsteller ausgeschlossen zu werden.“29 Auch die Novelle Itzig Struhl, Derserteur hätte ihm nicht allzu viel geholfen – ist doch die schwammige Haltung der rumänischen Kommunisten gegenüber den Juden hinlänglich bekannt. 1944 beispielsweise wurde die Wiederaufnahme der 1940 ausgeschlossenen jüdischen Schriftsteller in den rumänischen Schriftstellerverband beschlossen. Als man die Aufnahme des jüdischen Autors Felix Aderca in den Vorstand des Verbandes vorschlug, wurde dies vom Präsidenten 25 Anmerkungen im Tagebuch Liviu Rebreanus vom 22. Januar 1941. 26 Siehe auch Gheran, Romanul romanului, 436–439. 27 Der Tag, an dem Rumänien die Fronten wechselte und der in der rumänischen Erinnerungskultur der Nachkriegszeit als ein symbolischer Zeitpunkt galt, ab dem Rumänien in die Einflusssphäre der Sowjetunion gelangte. 28 Wobei es vielen ehemaligen Ideologen der Rechten, wie Mihail Sadoveanu, gelungen ist, bei den Linken Fuß zu fassen, andere werden zumindest eine Zeit lang toleriert; ein notorischer Fall ist jener Mircea Eliades. 29 Boia, Capcanele istoriei, 263. Der rumänische Schriftstellerverband überprüfte im September 1944 seine Mitglieder, entließ die schwer Belasteten und sprach sich für die Plattform der Kommunistischen Partei aus.
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der Schriftstellervereinigung mit den Worten abgelehnt, die der Schriftsteller Mihail Sebastian in seinem Tagebuch zitiert: „Aber wozu denn? Er soll zufrieden sein, dass wir sie wieder aufnehmen.“30 „ITZIG STRUHL, DESERTEUR“: EIN EXERZITIUM DES IDENTIFIZIERENS. DAS PORTRAIT DES AUTORS IM WERK Schon Anfang der 1920er-Jahre bringt Rebreanu mit der Novelle Itzig Struhl, Deserteur das schwierige Thema des Antisemitismus in einer Art und Weise zum Ausdruck, die sofort Ion Luca Caragiales 1899 erschienenes Meisterwerk O făclie de Paşti [Eine Fackel zu Ostern] in Erinnerung ruft. Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass Itzig Struhl, Deserteur eine zentrale Stelle im Schaffen Rebreanus einnimmt und dass die Kenntnis dieser Novelle für das Verständnis des Werkes und der Haltung des Schriftstellers unabdingbar ist. Die Novelle trägt jene Verfolgungen in die öffentliche Diskussion, denen die Soldaten jüdischer Herkunft in der rumänischen Armee ausgesetzt waren. Dies betraf sowohl diejenigen, welche die rumänische Staatsbürgerschaft besaßen, als auch diejenigen, die auf rumänischem Territorium geboren, aber als Fremde betrachtet wurden und dennoch während des Krieges ihren Militärdienst ableisteten. Der Soldat Itzig31 kämpft in der rumänischen Armee an der Front und stellt eine Tapferkeit unter Beweis, von der er selbst nichts geahnt hatte. Dabei ist er ein gesetzter Mann, ein Gastwirt mit vier Kindern, der nichts anderes im Sinne hat, als unversehrt nach Hause zurückzukehren. Er ist stolz, mit Korporal Ghioagă, den er seit zehn Jahren aus dem gemeinsamen Heimatort Fălticeni kennt, auf Patrouille geschickt zu werden,32 und ahnt nicht, was er bei diesem Auftrag zu erwarten hat. Denn Itzig weiß nicht, dass Ghioagă vom neuen Kommandanten der Brigade den Befehl erhalten hat, ihn zu erschießen; schon bevor sie aufbrechen, erklärt ihn die Brigade zum Deserteur. Ghioagă bringt Itzig bis kurz vor die feindlichen Linien, in der Hoffnung, dieser könne wirklich desertieren und zum Feind überlaufen. Allein zwischen den Fronten zurückgeblieben, erhängt sich der Soldat Itzig. Die Novelle Itzig Struhl, Deserteur ist nicht die einzige aus dem Werk Rebreanus, die den Umgang der staatlichen Behörden mit Juden thematisiert. In Die Waage der Gerechtigkeit (1923) hat ein erfolgreicher rumänischer Anwalt in einem Provinznest keine Eile, seinem alten jüdischen Gashändler das ihm geschuldete Geld zu bezahlen, mehr noch, er verabreicht ihm sogar Prügel, denn ein Jude habe 30 31
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Sebastian, Mihail: Jurnal 1935–1944. Bucureşti 1996, 563. Notiz des Schriftstellers vom 12. September 1944. Itzig (Itzik) steht als Personenname für einen vormals häufigen aschkenasischen Vornamen als jiddische Variante des Namens Isaak und als veraltetes antisemitisches Kollektivum für Juden. Itzig Struhl ist im Rumänischen der generische Name des Juden in den Witzen zu seinen Gunsten, einige davon antisemitischen Charakters. Auf Rumänisch ist Ghioagă ein sprechender Name („Streitkolben“, „Keule“) und versinnbildlicht somit die brutale Gewalt.
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sich unterwürfig zu benehmen und keinen Anspruch, seine „Rechte“ einzufordern. Der Alte bezieht sowohl von seinem Verteidiger vor Gericht als auch vom Gerichtsdiener Prügel und landet beinahe hinter Gittern, da er das Rechtsverständnis des Richters mit seinem gleichsam unangemessenen Verlangen nach Gerechtigkeit verletzt. Die Ironie gipfelt in der Rettung durch den Anwalt, der ihn zuerst geschlagen hatte und den der Alte nun aus Dankbarkeit weiterhin auf Pump mit Gas versorgt. Jüdische Figuren erscheinen auch in den Romanen Ion, Răscoala [Der Aufstand] und Pădurea spânzuraţilor [Der Wald der Gehängten], wie auch in Theaterstü cken. Rebreanu beschäftigen die verborgenen Triebfedern des Antisemitismus: „Mit seiner bemerkenswerten Intuition identifiziert der Schriftsteller in der ethnischen Diskriminierung eine Diversion.“33 Itzig Struhl, Deserteur beinhaltet jedoch auch ein autobiographisches Element, das für das Verständnis der Implikationsmechanismen des Lesers in der Novelle bedeutend ist. Von einer autobiographischen Triebfeder hat man besonders in Zusammenhang mit der Novelle Die Katastrophe gesprochen, deren Thema Rebreanu im Roman Der Wald der Gehängten wieder aufnimmt. Es ist hinlänglich bekannt, dass Rebreanu beide Werke vor dem Hintergrund der Tragödie des eigenen Bruders verfasst hatte, des siebenbürgischen Unterleutnants in der österreichisch-ungarischen Armee Emil Rebreanu, der am 14. Mai 1914 im Alter von 26 Jahren zum Tode durch Erhängen verurteilt wurde, weil er, an die rumänische Front versetzt, versucht hatte, zu den Rumänen überzulaufen, um nicht gegen seinesgleichen kämpfen zu müssen. Liviu Rebreanu, ältester Bruder in einer rumänischen Familie mit vierzehn Kindern, geboren im Dorf Târlişua (im ehemaligen Komitat Solnoc Dăbâca, heute Bistriţa-Năsăud/Bistritz), befand sich in Rumänien schon seit fünf Jahren, als Rumänien ihn 1910 auf Gesuch der Regierung in Budapest auslieferte. Er wurde im Gefängnis Văcăreşti, später in Gyula inhaftiert. Nach der Entlassung kehrte Rebreanu aber zurück nach Bukarest und verzichtete 1915 auf die sogenannte österreichisch-ungarische fremde Protektion. Freilich wurde Rebreanu durch das Gesetz zur Ausländerkontrolle vom 19. März 1915 zu diesem Verzicht gezwungen – er wäre sonst wieder des Landes verwiesen worden. Allerdings erhielt er nicht automatisch die rumänische Staatsbürgerschaft, denn die Einbürgerungsgesuche der siebenbürgischen Rumänen hatten minimale Aussichten auf Erfolg. Dieser Umstand ist auf einen 1883 unter größter Geheimhaltung in Wien von der rumänisch-österreichisch-ungarischen Allianz geschlossenen Vertrag zurückzuführen, der 1892, 1902 und 1913 erneuert wurde und auch nach dem Eintritt Rumäniens in den Krieg gegen die Mittelmächte in Kraft blieb. Rebreanus Gesuch, als Freiwilliger in der rumänischen Armee zu dienen, wurde abgelehnt, obwohl seine Qualifikation als ehemaliger Offizier in der kaiserlich-königlichen Armee die Aufnahme hätte begünstigen sollen. Er geriet zunehmend zwischen die Fronten: Bukarest wurde nach den verlorenen Schlachten von Neajlov (16./29. November 1916) und Argeş (20. November/3. Dezember 1916) von den Deutschen besetzt, und wenn der ehemalige österreichisch-ungarische Untertan den rumänischen Behörden des Königreichs suspekt war, so hielten ihn die 33
Gheran, Niculae: Tânărul Rebreanu [Der junge Rebreanu], Bukarest 1986, 397.
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Besatzer für einen Verräter: Rebreanu drohte daher die Anklage wegen Desertierens. Unter abenteuerlichen Umständen gelang ihm die Flucht nach Iaşi, doch auch da wurde er angefeindet und für einen „österreichischen Spion“ gehalten, sodass sein Leidensweg kein Ende nahm. In Bukarest verbreitete sich das Gerücht, er sei beim Versuch, die Demarkationslinie zu überschreiten, von den deutschen Behörden gefasst worden, was seine Familie und auch seine Bukarester Freunde, den Maler Jean Alexandru Steriadi und den jüdischen Rechtsanwalt Marco Barasch, in Sorge versetzte. Das Leiden des zwischen den Fronten gefangenen Schriftstellers spiegelt sich in der Erzählung Calvarul [Der Leidensweg, 1919] wider – sie hat den Wert eines dokumentarischen Tagebuches. Der Protagonist, der siebenbürgische Dichter und Journalist Remus Lunceanu (übrigens ein Quasi-Anagramm) begeht schließlich Selbstmord. Calvarul geht Itzig Struhl, Deserteur voraus, doch die Ähnlichkeiten der beiden Protagonisten sind offensichtlich. Gewiss ist die Situation der Juden, denen der rumänische Staat keinen rechtlichen Schutz gewährte und sie grundsätzlich verdächtigte, eine andere, doch der Akt der Identifikation des Rumänen aus Siebenbürgen mit dem Juden aus dem alten Königreich büßt dadurch nichts von seiner Schärfe ein. In Itzig Struhl, Deserteur werden nicht die Motive rekonstruiert, die den Soldaten Itzig für die rumänische Armee unerwünscht werden lassen. Wichtige Hinweise fehlen: Der Leser erfährt aus dem Text nicht, weshalb in der rumänischen Armee zur Zeit des Ersten Weltkriegs derartige Akte des Verrates an Soldaten jüdischer Herkunft begangen wurden – er mag es immerhin aus anderen Quellen wissen. Diese historische Rekonstruktion fehlt deshalb, weil solche Ereignisse dem Leser von 1920 vermutlich bekannt waren. Er war mit der Atmosphäre jener Zeit, in der diese Informationen zirkulierten, vertraut: Man hatte Angst vor der möglichen Sympathie für den Bolschewismus unter den moldauischen und besonders den bessarabischen Juden, ferner vor der Immigration der Juden aus der neu gegründeten Sowjetrepublik nach Bessarabien und einem eventuellen ideologischen Import, was im Falle der vor der Revolution geflohenen Immigranten höchst unwahrscheinlich war. Außerdem erfahren wir aus der Novelle nicht, ob der Jude Itzig bereits rumänischer Staatsbürger ist oder auf die Einbürgerung hofft. Die Erzählung vom Soldaten Itzig hat einen geschichtlichen Hintergrund. Die Ersten, die sich der rumänischen Staatsbürgerschaft erfreuen konnten, waren jene 883 Juden, die dieses Recht als Teilnehmer am Unabhängigkeitskrieg (1877) erworben hatten.34 Unter dem Druck des Berliner Kongresses mit dem am 1./13. Juli von Russland, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und dem Osmanischen Reich unterzeichneten Vertrag wurde am 1. Oktober 1878 Artikel 7 der rumänischen Verfassung von 1866 geändert, der die Restriktion der Einbürgerung aufgrund religiöser Kriterien betraf: „Die rumänische Staatsbürgerschaft erwirbt, bewahrt und verliert man entsprechend den durch die Zivilgesetzgebung festgelegten Regeln. Nur Ausländer des christlichen Ritus können eingebürgert werden.“35 Durch die 34
Iancu, Carol: Evreii din România (1866–1919). De la excludere la emancipare [Die Juden in Rumänien (1866–1919). Von der Ausgrenzung zur Emanzipation]. Bukarest 1996, 171, 191. 35 Constituţiunea şi legea electorală [Die Verfassung und das Wahlgesetz]. Bukarest 1866. – Iancu, Evreii din România, 72.
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Änderung des 1866 verabschiedeten Gesetzes zur Einbürgerung verpflichtete sich der rumänische Staat zur Achtung der konfessionellen Gleichheit, was in der Formulierung des Artikels 44 des Vertrages zum Ausdruck gebracht wurde: In Rumänien darf der Unterschied des religiösen Glaubens und der Bekenntnisse niemandem gegenüber geltend gemacht werden als ein Grund der Ausschließung oder der Unfähigkeit bezüglich des Genusses der bürgerlichen und politischen Rechte, der Zulassung zu öffentlichen Diensten, Aemtern und Ehren oder der Ausübung der verschiedenen Berufs- und Gewerbszweige, an welchem Orte es auch sei.36
Gemäß den Verfassungsveränderungen wurde die rumänische Staatsangehörigkeit sofort und in kollektiver Weise allen Juden gewährt, die am Unabhängigkeitskrieg teilgenommen hatten, – die anderen mussten ein Gesuch zur Einbürgerung einreichen, das die Abstimmung im Parlament voraussetzte, welches jedoch die Zustimmung systematisch verweigerte. Bis 1913 waren die Auswirkungen des Gesetzes noch einigen hundert Staatsbürgern der mosaischen Religion zugute gekommen.37 Während des Balkankrieges von 1913 wurden ca. 25.000 Juden mobilisiert.38 Doch trotz ihres Engagements und der damit verbundenen Erwartungen hat man ihnen die rumänische Staatsangehörigkeit nicht zugestanden. Obschon in ihrer Mehrheit keine rumänischen Staatsbürger, traten 23.000 rumänische oder als staatenlos betrachtete, im alten Königreich geborene Bürger mosaischen Glaubens während des Ersten Weltkrieges in die rumänische Armee ein. Entsprechend den im Amtsblatt veröffentlichten Daten wurden 882 auf dem Schlachtfeld Gefallene verzeichnet, 740 Verletzte, 449 Gefangene und 3.043 Verschollene. Für Heldentaten an der Front wurden 825 jüdische Soldaten und Offiziere (darunter 220 Ärzte) ausgezeichnet.39 Die Erzählung vom Soldaten Itzig illustriert einen Fall aus der statistisch überwältigenden Kategorie der «Verschollenen», die man kaum für Deserteure halten mag, hatten sie sich doch nach dem Präzedenzfall von 1878 mit dem Ziel freiwillig gemeldet, die rumänische Staatsbürgerschaft leichter zu erhalten. Und tatsächlich, der am 28. Mai 1919 veröffentlichte Gesetzeserlass Nr. 2685 bot allen im Lande geborenen jüdischen Bewohnern des Alten Königreichs gegen eine schlichte Willenserklärung die rumänische Staatsangehörigkeit an. Seine Bestimmungen wurden in der neuen Verfassung von 1923 im Artikel 133 bestätigt, respektiert aber nur bis 1938, als die Regierung Goga-Cuza das Gesetz zur Revision der Staatsbürgerschaft 36 Vertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland und der Türkei. Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1878, Nr. 31, 307–345. Volltext: http://de.wikisource.org/wiki/Vertrag_zwischen_Deutschland,_Österreich-Ungarn,_Frankreich,_Großbritannien,_Italien,_Rußland_und_der_Türkei._(Berliner_Vertrag) (Februar 2014) 37 Iancu, Evreii din România, 212–213. Die genaue Zahl beträgt 529 Personen. 38 Ebd., 304. 39 Hîncu, Dumitru: Evreii din România în războiul de reîntregire a ţării: 1916–1919 [Juden in Rumänien während des Krieges für die Wiedervereinigung des Landes: 1916–1919]. Bukarest 1996, Anhang 163–329 nach Dr. Fildermann, Wilhelm: Adevărul asupra problemei evreieşti din România [Die Wahrheit über das jüdische Problem in Rumänien]. Bukarest 1925. Vgl. auch: Felan, Ada: Evreii din România în secolul XX, 1900–1920: Fast şi nefast într-un răstimp istoric [Die Juden in Rumänien im 20. Jahrhundert. 1900–1920: Dies fasti et nefasti in jener Zeit]. Bukarest 2003.
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sämtlicher jüdischer Bewohner des Landes verabschiedete, wodurch über 220.000 Juden ihre Staatsangehörigkeit verloren.40 Wie ich schon gezeigt habe, fehlen die extratextuellen Hinweise auf diese Wirklichkeit in Rebreanus Text. Lediglich der Name des Protagonisten identifiziert seine ethnische Zugehörigkeit, Itzig lebt jedoch diese Identität nicht explizit aus, und auch Ghioagă hält sie ihm nicht vor. Das negative Stereotyp des Juden aus dem Rumänien der Vor- und Zwischenkriegszeit ist im Text präsent, dem gemäß der Jude Itzig nicht anders sein kann als ängstlich: „Itzig Struhl war von Geburt aus keineswegs ein Held, vielmehr war er furchtsam und misstrauisch. Wenn ein Kind ihn grob anfuhr, begann ihm das Kinn zu zittern und das Herz zu klopfen. In Fălticeni hatte man ihm den Spitznamen ‚Hase‘ gegeben.“41 Wenn man nicht weiß, dass Itzig Struhl der generische Name des Juden in der rumänischen Folklore ist, dann ist die Figur ein gewöhnlicher Angsthase, ein kränklicher, gewiss, aber auch ein geselliger Mensch und einer, der sich aufs natürlichste, wie jeder Mensch, vor dem Krieg fürchtet. Itzig kämpft aber gegen dieses äußerliche, doch auch verinnerlichte Bild des Hasen (er selbst nimmt dieses Stereotyp ernst) und schafft es, darüber hinwegzuschreiten, sowohl in seinem Inneren als auch vor den anderen. Der Major lobt ihn, der General, Kommandant der Brigade, fragt nach seinem Namen und beglückwünscht ihn, den Juden aus Fălticeni, als emsigen Soldaten in der rumänischen Armee. Ghioagă jedoch, auf ihrem angeblichen Patrouillengang, aktualisiert erneut die stereotypische Wahrnehmung und enthüllt ihm den eigentlichen Grund der Verurteilung: „Wovor man Angst hat, dem entgeht man nun einmal nicht!“42 Dabei befürchtet Itzig, ihm könne gerade unter Bekannten etwas zustoßen, und nicht an der Front, wo er sich zu beherrschen weiß. Auf dem Markt in Fălticeni hat er Angst, so wie jetzt neben Ghioagă, und zwar aus dem einzigen Grund, weil er Jude ist und sich als Jude zu fürchten hat. Durch die semnifikative Auslassung der extratextuellen Hinweise deutet Rebreanu darauf hin, dass jedwede (politische, strategische, militärische) Erklärung für eine derartige Tat, wie sie das Verbrechen an einem Kameraden oder das Hineintreiben dieses Kameraden in den Selbstmord darstellt, null und nichtig ist: Sie ist ein erschreckendes Unrecht und, mehr noch, diesem Unrecht kann jeder zum Opfer fallen, so loyal er dem Staat gegenüber auch sein mag, trotz übernommener und erfüllter Verpflichtungen und ungeachtet aller Sicherheitsgarantien. Als Rebreanu seine Novelle publizierte, wendete er sich an ein Publikum, das der Einbürgerung der Juden gegenüber zurückhaltend, wenn nicht gar feindlich gesonnen war. Die Juden aus dem Alten Königreich wurden auf äußeren Druck hin eingebürgert, so wie das auch bei den ethnischen Rumänen aus Siebenbürgen, der Bukowina und Bessarabien vor 1918 der Fall war – und Rebreanu kannte den langwierigen Prozess zur Erlangung der rumänischen Staatsbürgerschaft aus eigener Erfahrung. Der Disput betraf aber weiterhin die rechtlos gebliebenen Juden aus den 40 41 42
Iancu, Carol: Evreii din România 1919–1938. De la emancipare la marginalizare [Die Juden aus Rumänien 1919–1938. Von Emanzipation zur Marginalisierung]. Bukarest 2000, 263. Die genaue Zahl beträgt 225.222 Personen. Rebreanu, Liviu: Itzig Struhl, Deserteur. In: Die Waage der Gerechtigkeit. Liviu Rebreanu. Übersetzt von Egon Weigl. Leipzig 1977, 56. Ebd., 56.
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neuen Gebieten. Das neue Königreich war auch gegenüber den anderen Fremden, sogar den christlichen Minderheiten misstrauisch: Ungarn, Ruthenen, Russen, Bulgaren etc. Deshalb setzt Rebreanu in der Novelle auf den Identifikationsmechanismus zwischen jenem „Mehrheitsleser“, dem die Fremden verdächtig sind, und dem Schicksal des Protagonisten sowie auf die Öffnung des Textes durch den Kontext. Dieser Text baut in höherem Maße als die anderen auf ein Jenseits des Textes, welches den Ort der Literaur aus der Bibliothek in die Sphäre täglicher Entscheidungen versetzt, und macht aus einer Fiktion ein unbequemes Zeugnis der Geschichte. Das Ende der Novelle wirft Fragen auf, auf die der Text keine Antwort zu geben weiß. In der rumänischen Literatur der Zwischenkriegszeit wird das offene, mehrdeutige Ende entdeckt, das den Text ins Imaginäre projiziert, so, wie es auch der Fall in Rebreanus Text ist: „Jene letzte Zeile muss leicht verwirrend sein, den Eindruck hinterlassen, die Handlung liefe weiter, und den Leser auch nach der Lektüre des Buches in ihren Bann ziehen.“43 Dadurch kommt in der Literatur des Ersten Weltkrieges die Unentschiedenheit des Geschehenen und die Unerzählbarkeit grausamer Ereignisse zum Ausdruck. Man betrachte die letzte Passage der Novelle Itzig Struhl, Deserteur: Der Morgen dämmerte spät und die Gewehrschüsse wurden immer häufiger. Der Schneefall hatte aufgehört. Die Sonne brach durch einen Wolkenspalt und ließ auf den verschneiten Feldern Tausende von Regenbogen aufleuchten. Itzig hing an dem unbeweglichen Ast wie ein tapferer Soldat, in vorschriftsmäßiger Haltung. Nur daß er statt seines Käppis eine Schicht frischgefallenen Schnees auf dem zerzausten Haar trug und seine Stiefel wohl zwei Handbreit vom Erdboden entfernt waren. Seine geschwollenen und aus den Höhlen getretenen Augen blickten auch jetzt erschrocken in die Ferne zu den Schützengräben der Kompanie. Aber das weiße Licht küßte sein bläuliches Antlitz, wischte die Spuren der Leiden fort und glättete die vorwurfsvollen Falten.44
Der Ausgang in der narrativen Reihenfolge ist klar, trotzdem steht noch eine Frage im Raum: Wessen Blick entdeckt Itzigs vom Wind gebeutelten und im Strick hängenden Körper am Morgen, der dem Spaziergang mit Korporal Ghioagă zwischen den Fronten folgt? Man könnte glauben, es sei der Blick der Kameraden oder der Feinde, welche ihn im Zuge der geringfügigen Frontverschiebung nach den Scharmützeln des vorangegangenen Tages entdecken, obschon nicht erzählt wird, was auf den Tod Itzigs folgte. Könnte es der Blick Ghioagăs sein, gepeinigt von Gewissensbissen, obwohl man nicht weiß, wie dieser zu den Seinen zurückgekehrt ist? Handelt es sich dabei um eine Art posthumer Eindrücke des Opfers im eigenen testamentarischen Diskurs? Derartige Fragen drängen sich mit der Erzählung jenseits des Epiloges auf. Doch so, wie der Epilog die „Leerstelle“ par excellence ist, die Schwelle zum Unbestimmten, ein privilegierter Ort der Begegnung zwischen Text und Leser, mobilisieren wir hier das Referenzfeld des Textes, d. h. alle Kenntnisse und die vom Text aktualisierten Urteile, sowie dessen Modus, sich zu diesen in Beziehung zu setzen, um auf eigene Rechnung ein Problem der Sinnkonstruktion zu lösen. Der Epilog zwingt den Leser dazu, in der durch den Text bestimmten Art und Weise aus dem Text hinauszutreten. Das kann sogar die „Neuschreibung“ des 43 44
Holban, Anton: Testament literar [Literarisches Testament]. Bukarest: 1985, 12. Rebreanu, Itzig Struhl, 59.
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Endes bedeuten sowie die Fortsetzung des Textes über die vom Autor gezogenen Schranken hinaus, da der Mechanismus seiner Generierung dem Leser gestattet, seine Umlaufbahn zu verlassen. Schließlich ermöglicht der Epilog als narrativer Kniff, intensive Eindrücke als unmittelbar erlebte Erfahrungen abzuspeichern. Vielleicht sind alle oben angeführten und an das Ende von Rebreanus Novelle gerichteten Fragen ungerechtfertigt, doch zusammen genommen drängen sie den Leser dazu, eine Perspektive für sich zu erdenken, die dem Inneren der fiktiven Welt entspringt. Diese Perspektive fällt nicht mit irgendeiner der schon im Text vorhandenen Perspektiven der Figuren oder der Perspektive des Erzählers zusammen. Es ist der Epilog, welcher in der Novelle Rebreanus das Vorhandensein einer Position des Lesers hervorhebt, das Phantasma des Lesers als abwesender Zeuge des Geschehens. Derjenige schließlich, unter dessen Augen sich die Erzählung entfaltet, ist der Leser. Die Anwesenheit des Lesers im Text stellt dieser durch Strategien zur Konstruktion der enthaltenen Perspektiven sicher, unter denen die wichtigste jene des Erzählers ist. Welche Sichtweise ist dem Erzähler im Text eigen? Es handelt sich, technisch ausgedrückt, um keine „externe Fokalisierung“, denn der Erzähler ist mit den Figuren unterwegs, scheinbar ohne allwissend zu sein und ohne verständlich werden zu lassen, wie deren Ende aussieht. Er steht dem Epilog plötzlich genauso hilflos gegenüber wie der Leser. Es ist auch keine „interne Fokalisierung“, keine Perspektive, die mit der Perspektive des Protagonisten Itzig zusammenfällt. Und dies deshalb, weil sich weder der Erzähler noch der implizite Leser in die Perspektive des Protagonisten hineinversetzen können. Ghioagă ist derjenige, welcher einen durch Itzig auf der Stelle sanktionierten Versuch unternimmt, sich nicht etwa in diesen hineinzuversetzen, sondern beider Situation zu vergleichen („Weh unserer Seelen“,45 sagt er, der gleichermaßen für sich und Itzig Mitleid empfand.) In einer Grenzsituation wie jener, in der Itzig sich befindet, ist die Identifikation mit der Figur unauthentisch und inopportun. Man kann nicht einmal mit seinen Augen sehen, weil man die Position des Opfers nicht usurpieren kann. Der Erzähler gibt auf Schritt und Tritt zu verstehen, dass man nicht wissen kann, was in der Seele des Opfers vorgeht. Er beobachtet die geringfügigen Veränderungen in der Physiognomie der Figuren und versucht zu sehen, wie jeder der beiden, der Korporal Ghioagă und der Soldat Itzig, den jeweils anderen wahrnimmt. Selbst Itzigs Entscheidung, sich zu erhängen, bleibt für Erzähler und Leser undurchsichtig, keiner kann ihn so weit begleiten. Das, was Itzig widerfährt, muss dergestalt erzählt werden, dass es vorstellbar wird. Mit fortschreitender Lektüre verstehen wir zunehmend, dass jene Katastrophe, an welche die Geschichte uns gewöhnt hat, sich ereignen muss. Der Weg, den Erzähler und Leser gemeinsam mit Itzig zurücklegen, ist jener Weg des Vorausahnens der Katastrophe und der Vorstellung eines hoffnungslosen Endes. Zum Zeuge der Tragödie eines anderen gemacht, nimmt der Leser im Voraus an seiner eigenen teil, die er wittern kann, ohne zu wissen, wie sie zu vermeiden ist: Seine Welt wird eine offene, exponierte Welt, die keine Geborgenheit bietet. Das Gefühl des Unbehagens und des Ausgeliefertseins wird 45
Rebreanu, Itzig Struhl, 57.
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vom Unvermögen des Lesers genährt, sich einen Ausweg aus einer ausweglosen Situation vorzustellen, deren Zeuge er ist. Die eigene Furcht vor Wiederholbarkeit ist nicht zu mildern. Sein Gefühl des Vorhersehens wird nicht von der Einzigartigkeit des tragischen Schicksals besänftigt, wie es in der Literatur der griechischen Antike geschieht, wo, bei dem ganzen Exerzitium der Identifikation, niemand Achilles oder Ödipus oder Ajax von Salamis ist. Hier ist die Identifikation mit den Protagonisten untersagt, doch das Vorgefühl der Wiederholbarkeit büßt nichts von seiner Intensität ein und flaut nicht ab. Der intendierte Effekt des Textes auf den Leser hebt die tragische Katharsis auf, welche auf dem Prinzip der Einmaligkeit exemplarischer Schicksale und der tragischen Unvergleichbarkeit beruht. Wir befinden uns innerhalb einer anti-aristotelischen Logik, in der die kathartischen Elemente, sprich das Mitleid (eleos) und die Furcht (phobos), keinen therapeutischen Wert haben, sondern die Entladung und Sublimierung der Affekte verhindern. Sie kehren gegen den Leser gerichtet zurück als Selbstmitleid und Furcht um sich selbst. Die Fiktion springt über ihren Schatten und versetzt die Strukturen des Imaginären in Unruhe: Der fiktive oder wiedererinnerte Gräuel dokumentiert das reale, vergangene und präsente Trauma, das sich zu wiederholen droht. Die Fiktion verletzt die Imagination des Lesers. Das Prozedere, dessen Rebreanu sich bedient, ähnelt in hohem Maße dem von Brecht, der gleichfalls dagegen ankämpft, was Mäßigung verheißt, erst recht gegen die Aufhebung des Effektes der Fiktion auf den Leser/Zuschauer mittels kathartischer Entladung. Genauso erklärt sich auch der Effekt der Entfremdung, ein brechtscher Verfremdungseffekt, am Ende der Novelle, das in der Inszenierung jenes unnatürlichen, auf Itzigs an einem Ast baumelnden Leib fallenden Blickes besteht, der im Grunde niemandes Blick sein kann. Dieser Effekt macht die ästhetisierend-teilnehmende, besänftigt-mitleidende Lektüre am Ende der Novelle für den Leser unmöglich. Zurück bleiben Verfremdung, Verstörtsein, Erschrecken. Auf der Homepage des Paul Konrad Hoenich Center for Art, Sciene and Technology, Technion, Haifa, unter dem Link: http://tx.technion.ac.il/~gallery/english/e_ c1.html findet man zwei Illustrationen von Paul Konrad Hönich aus dem Band von Liviu Rebreanu Iṭic Ṣtrul, dezertor [Itzig Struhl, Deserteur], erschienen 1932 in Bukarest.
DER REGIONALE GEDANKE IM UNGARISCHEN KULTURLEBEN SIEBENBÜRGENS VOR UND NACH DEM ERSTEN WELTKRIEG Betrachtungen zur Entwicklungsgeschichte des Transsilvanismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Zsolt K. Lengyel 1. ZUM ALTTRANSSILVANISTISCHEN VORLAUF: VERSELBSTÄNDIGUNGSVERSUCHE EINER REGION UNTER DER HERRSCHAFT EINES POLITISCHEN ZENTRUMS 1.1. Im österreichisch-ungarischen Dualismus sahen sich ungarische Führungsgruppen in Siebenbürgen zunehmend veranlasst, gegen die zentralistische Politik Budapests das Wort zu ergreifen. Ihre weltanschaulich uneinheitliche Oppositionsbewegung für den Schutz und die Stärkung des ungarischen Siebenbürgen überlebte den Zusammenbruch der Doppelmonarchie, drehte sich aber nach 1920 einem neuen politischen Zentrum, nämlich Bukarest zu, behielt aber Budapest im Auge. Im Transsilvanismus waren vor und nach dem Ersten Weltkrieg vielfach dieselben Persönlichkeiten am Werk, das seine tiefere Antriebskraft aus dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen nationaler und regionaler Identität bezog. Der Alttranssilvanismus gliederte sich mit seinen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Inhalten in zwei Teilströmungen auf, zwischen denen die Grenzen fließend waren. Sie strebten zwei Arten der regionalen Verselbständigung an: eine von oben, maßgeblich aus dem Staatszentrum durchzuführende Dekonzentration, die im Umfeld der adligen und bürgerlichen Grundbesitzer, Staatsbeamten und konservativen Intelligenz dem Vorsatz der „Rekonstruktion“1 entsprach, und eine von unten, eine kulturelle Dezentralisierung, die sich vor allem Literaten aus dem bürgerlichen Mittelstand für eine „gründliche Revision der alten Ordnung“2 auf die Fahnen schrieben. Den ersten Versuch, sie als ideologiegeschichtlichen Vorlauf zur Autonomiebewegung der 1920 zur Minderheit gewordenen Siebenbürger 1 2
Arthur P. Vákár an den Vorstand des Siebenbürgischen Verbands. Marosvásárhely, 10. November 1917. Országos Széchényi Könyvtár, Kézirattár [Széchényi Nationalbibliothek, Handschriftenabteilung], Budapest. Nachlass István Apáthy. Quart. Hung. 2456, 2. Szentimrei, Jenő: Az elfogultság ellen [Gegen die Voreingenommenheit]. In: Új Erdély Nr. 10, 23.03.1918, 145–148, hier 148.
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Magyaren zu verorten, unternahm die vor zwei Jahrzehnten veröffentlichte Monographie des Autors über den frühen Transsilvanismus 1918–1928.3 Nachfolgend seien deren ausgewählte Thesen anhand von neuen oder noch nicht ausgewerteten Quellen und im Lichte jüngerer Forschungsergebnisse überprüft, erläutert und mit Ausblick auf die 1930er- und frühen 1940er-Jahre gleichsam fortgeschrieben. 1.2. Ein Jahrzehnt nach der Monographie erschienen erste Arbeiten, die unsere Kenntnisse über die alttranssilvanistische Strömung, vor allem über deren konservativen Teil vermehrt beziehungsweise auf breitere Quellengrundlagen gestellt haben. Petra Balaton rückte die soziale Lage des agrarischen Szeklerlandes in den Vordergrund, die sich infolge der merkantilistisch-liberalen Industrie- und Handelspolitik der dualistischen Regierungen Ungarns verschlechterte und eine Auswanderungswelle sowohl nach Übersee als auch nach Altrumänien auslöste. Der 1904 gegründete Verband der Szekler-Gesellschaften (Székely Társaságok Szövetsége) forderte unter anderem eine auf die Bedürfnisse Ost- und Mittelsiebenbürgens abgestimmte staatliche Eisenbahn- und Bevölkerungspolitik.4 Im Zusammenhang mit diesen entwicklungspolitischen Forderungen waren die szeklerischen Initiativen mit zwei bedeutenden ungarischen Kultureinrichtungen in der Region, dem SiebenbürgischUngarischen Bildungsverein (Erdélyi Magyar Közművelődési Egyesület) und der Siebenbürgischen Literarischen Gesellschaft (Erdélyi Irodalmi Társaság) vernetzt. Es war der Vorsitzende der letzteren Einrichtung, Endre Dózsa (1857–1944), der – nach heutigem Kenntnisstand – 1910 als erster den Begriff „Transsilvanismus“5 im Sinne der Bestrebung verwendete, „den verlorenen Gemeingeist Siebenbürgens wiederzuerlangen“, der „sich noch mit den abgeworfenen Krümeln des Budapester Lebens ernährt“, obwohl er zugleich die „vereinheitlichende nationale Kraft“ darstelle: Er schaffe „eine Gedankenwelt, in der in einer größeren Einheit sämtliche kleinere Individuen die gleiche Richtung einschlagen und sich mehr und mehr 3 4
5
Lengyel, Zsolt K.: Auf der Suche nach dem Kompromiß. Ursprünge und Gestalten des frühen Transsilvanismus 1918–1928. München 1993, 33–61. Balaton, Petra: A székelyföldi (erdélyrészi) kirendeltség tevékenységéről (1902–1920) [Über die Tätigkeit der Niederlassung im Szeklerland (Siebenbürgen)]. In: Magyar Kisebbség Nr. 2–3, Jg. 8 (2003), 82–92; Dies.: A Székely Akció története, 1902–1914. Állami szerepvállalás Székelyföld felzárkoztatására [Die Geschichte der Szekler-Aktion 1902–1914. Der staatliche Beitrag zur Förderung des Szeklerlandes]. Debrecen 2006 (http://www.cartofil.hu/ phd_1psw.pdf, 30.03.2013); Dies.: A székely társadalom önszerveződése: a székely társaságok. Törekvések Székelyföld felzárkóztatására a 20. század elején [Die Selbstorga nisierung der Szekler Gesellschaft: die Szekler Verbände. Bestrebungen zur För derung des Szeklerlandes zu Beginn des 20. Jahrhunderts], I-II. In: Korunk Nr. 1, Jg. 21 (2010), 78–84; Nr. 2, 71–77. Dózsa, Endre: Transsylvanismus. Elnöki megnyitó [Transsilvanismus. Grußwort des Vorsitzenden], I–II. In: Erdélyi Lapok Nr. 2, Jg. 3 (1910), 32–33; Nr. 4, 89–91. Vgl. im gleichen Sinn Ders.: Céljaink – útaink [Unsere Ziele – unsere Wege]. In: Erdélyi Lapok Jg. 3 (1910), 601–602. Ders.: Az erdélyi társadalom feladatai. Elnöki megnyitó [Die Aufgaben der siebenbürgischen Gesellschaft. Grußwort des Vorsitzenden]. In: Erdélyi Lapok Jg. 3 (1910), 665–666.
Der regionale Gedanke im ungarischen Kulturleben Siebenbürgens
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vereinigen“ und dabei „die ungarische Nation zu bilden in der Lage sind“.6 Balatons Untersuchungen bestätigen die frühere Erkenntnis über den engen sozialökonomischen Zusammenhang der alttranssilvanistischen Ideologie, die in ihrer eben zitierten Variante das politische Nationsbild vom Hungarus unter Einbeziehung des rumänischen und sächsischen Volkselements auf die siebenbürgische Region übertrug.7 Ebenso wenig neu ist die Feststellung über die maßgebliche Rolle des 1913 gegründeten und 1917 neu aufgestellten Siebenbürgischen Verbands (Erdélyi Szövetség) bei der versuchten Wahrung großungarischer Interessen innerhalb der Region und entlang ihrer inzwischen vom Osten und Süden her militärisch bedrohten Grenzen.8 Sein Arbeitsprogramm stellte Nándor Bárdi zehn Jahre nach Erscheinen der Monographie den ungarischen Lesern zuerst mit einer ausführlich erläuterten Quellenpublikation vor.9 Diese Studie floss dann in seine Dissertation ein, die auf seinen gesammelten einschlägigen Aufsätzen beruht. Hier vertritt er die Meinung, dass der Siebenbürgische Verband zwar eine markante Regionalpolitik betrieb, der siebenbürgische „Abspaltungsvorgang“10 innerhalb der ungarischen politischen und kulturellen Elite aber erst nach Weltkriegsende in bedeutenderem Maße stattgefunden habe. Dieser Befund erklärt sich daraus, dass Bárdi den konservativen Alttranssilvanismus behandelt. So übergeht er den – zuvor wenigstens gestreiften11 – progressiven Gegenpol der Dezentralisierungsbewegung, die der Schreiber dieser Zeilen in seiner Monographie und seinen übrigen einschlägigen Studien nicht als Wortführerin einer Abspaltung im staatsrechtlichen Sinn, sondern als Verfechterin einer grundlegenden Neuordnung der Beziehungen zwischen ungarischem Staatszentrum und siebenbürgischer Region schildert.12 Immerhin räumt Bárdi ein, dass die spätere Autonomiebewegung der Siebenbürger Magyaren ideologiegeschichtlich im Alttranssilvanismus wurzelte, dessen obige Typisierung er zustimmend vermerkt.13 Ebenso äußert sich zu dieser Kontinuitätslinie Gábor Egry 6 7 8 9
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Dózsa, Transsylvanismus, 89, 91. Lengyel, Auf der Suche, 33–47. Ebd., 42–47. Bárdi, Nándor: Az erdélyi magyar (és regionális) érdekek megjelenítése az 1910-es években. Az Erdélyi Szövetség programváltozatai [Die Thematisierung der siebenbürgisch-ungarischen (und regionalen) Interessen in den 1910er-Jahren. Die Programmfassungen des Siebenbürgischen Verbands]. In: Magyar Kisebbség Nr. 2–3, Jg. 8 (2003), 93–114. Bárdi, Nándor: Otthon és haza. Tanulmányok a romániai magyar kisebbség történetéről [Heim und Heimat. Abhandlungen zur Geschichte der ungarischen Minderheit in Rumänien]. Jyväskylä/Pécs 2013, 24. Bárdi, Az erdélyi magyar (és regionális) érdekek megjelenítése, 94. Lengyel, Auf der Suche, 47–61; Ders., A meghiúsult kompromisszum. A transzszilvanizmus eredete és alakjai az 1920-as években [Der missglückte Kompromiss. Ursprünge und Gestalten des Transsilvanismus in den 1920er-Jahren]. In: Ders.: A kompromisszum keresése. Tanulmányok a 20. századi transzszilvanizmus korai történetéhez [Auf der Suche nach dem Kompromiss. Studien zur frühen Geschichte des Transsilvanismus im 20. Jahrhundert]. Csíkszereda 2007, 217–263, hier 220-222. Bárdi, Az erdélyi magyar (és regionális) érdekek megjelenítése, 94; Ders., Otthon és haza, 21–24.
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in einer parteigeschichtlichen Studie14 und jüngst in einer Abhandlung über den Siebenbürgischen Verband, „a precursor of later Transylvanism“.15 Darin stellt er fest, dass in dessen beiden grundlegenden Beziehungssystemen, jenem gegenüber dem ungarischen Staat und der rumänischen Nationalität in Siebenbürgen, bis 1918 jeweils eine „Vergrößerung des Abstands“ zu beobachten ist.16 1.3. Ein gehöriger Abstand einerseits von Budapest, andererseits von den Rumänen in Siebenbürgen zeichnete das illustrierte Wochenblatt Kalotaszeg bereits 1912 aus. Károly Kós (1883–1977) war an seinem Wohnsitz in der gleichnamigen ethnographischen Unterregion westlich von Klausenburg sein Herausgeber, Redakteur und regelmäßiger Verfasser. Der junge Architekt wertete in seinen – wie er Jahrzehnte später in seiner Autobiographie befand – „ersten, typisch transsilvanistischen politischen Artikeln“17 den wirtschaftlichen Raumgewinn der Rumänen als eine Gefahr für den ungarischen Staat, die Budapest nicht wahrnehme. Zugleich forderte er einen beherzten Umgang mit den innerungarischen Gegensätzen in Politik, Wirtschaft und Kultur: Siebenbürgen gibt es nur im politischen Sinne nicht, es existiert aber sehr wohl geographisch, historisch, ja sogar rechtlich, und, was am wichtigsten ist, im allgemeinen Bewusstsein, wo es so lange bestehen wird, bis sich die Ansicht der ungarländischen und insbesondere der öffentlichen Meinung in Pest über uns nicht ändert. Wenn aber die öffentliche Meinung so bleibt, wie sie jetzt ist, dann wird in uns das Bewusstsein des eigenständigen Siebenbürgertums zeitlos leben.18
Das Wochenblatt war sowohl bei Mitarbeitern als auch Lesern beliebt, stellte aber ihr Erscheinen ein, um den Weg einer siebenbürgenübergreifenden Berichterstattung frei zu machen.19 Es fusionierte mit den Erdélyi Lapok [Siebenbürgische Blätter], die unter der Federführung von Miklós Graf Bánffy (1873–1950) von der Sie14
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Egry, Gábor: Az erdélyiség „színeváltozása“. Kísérlet az Erdélyi Párt ideológiájának és identitáspolitikájának az értelmezésére 1940–1944 [Wandlungen des Siebenbürgertums. Versuch zur Interpretation der Ideologie und der Identitätspolitik der Siebenbürgischen Partei 1940– 1944]. Budapest 2008, 173–174. Egry, Gábor: Regionalizmus, erdélyiség, szupremácia. Az Erdélyi Szövetség és Erdély jövője [Regionalismus, Siebenbürgertum, Suprematie. Der Siebenbürgische Verband und die Zukunft Siebenbürgens], 1913–1918. In: Századok Jg. 147 (2013), 3–31, hier 30. Ebd. Kós, Károly: Életrajz [Lebenslauf]. Hg. v. Samu Benkő. Bukarest/Budapest 1991, 120. [Kós, Károly] SK.: Erdély és a pesti közvélemény [Siebenbürgen und die Pester Öffentlichkeit]. In: Kalotaszeg Nr. 2, 14.01.1912, 1–5; Nr. 3, 21.01.1912, 1–5; Nr. 4, 28.01.1912, 1–5, hier 2, 4. Olvasóinkhoz [An unsere Leser]. In: Kalotaszeg Nr. 12, 26.03.1912, 1–3; Kós, Károly: Lármalángok [Lärm-Feuer]. In: Erdélyi Lapok Nr. 1, Jg. 5 (1912), 7–8; Das Repertorium der Zeitschrift: Saliga, Irén: A Kalotaszeg c. folyóirat repertóriuma [Repertorium der Zeitschrift Kalotaszeg]. In: Acta Historiae Litterarum Hungaricarum Jg. 26 (1990), 217–240. Zu ihr ausführlicher Lengyel, Auf der Suche, 49–53; Ders.: Kós Károly és a Kalotaszeg 1912. A 20. századi transzszilvanizmus kezdeteihez [Károly Kós und die Kalotaszeg 1912. Zu den Anfängen des Transsilvanismus im 20. Jahrhundert]. In: Ders.: A kompromisszum keresése, 33–71.
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benbürgischen Literarischen Gesellschaft herausgegeben wurde.20 Ihr Name war Programm, ihr Programm war aber bei allem Siebenbürgertum ein ungarisches. Eine ihrer Schlagzeilen lautete: „Für den ungarischen Boden. Bewegung für die Rettung des ungarischen Bodens (In den letzten fünf Jahren sind 166 Tausend Joch in rumänischen Besitz übergegangen).“21 An anderer Stelle gab sie bekannt: „Der Bau der Eisenbahn in Mezőség hat begonnen.“22 Die Redaktion wünschte 1912 eine „lebendige Grundstückspolitik“ herbei,23 verwies auf „Siebenbürgens Eisenbahnmängel“24 und berichtete vom Szekler Kongress.25 Ein Jahr später ging die Zeitschrift Erdélyi Lapok nach sechs Jahrgängen ein.26 Doch 1915 erschien die Kolozsvári Szemle [Klausenburger Rundschau], die sich ein Jahr später bezeichnenderweise in Erdélyi Szemle [Siebenbürgische Rundschau] umbenannte. Sie ließ sich von der Kriegsbegeisterung anstecken, wie auch Károly Kós, der Anfang jenes Jahres den „siegreichen Krieg“ wünschte, „damit der Triumph des Ungartums komme, auch hier, innerhalb des Landes“.27 Die Zeitschrift bereitete aber auch einer verständnisvollen Rezeption der Moderne um Endre Ady (1877–1919) und den Kreis der Budapester Zeitschrift Nyugat [Westen]28 den Weg, deren künstlerische Propaganda gegen den Krieg auch im Osten des Landes auf fruchtbaren Boden fiel. Nach einhelliger Meinung ihres ersten Redakteurs, László Sütő-Nagy (1894–1978), und der heutigen literaturhistorischen Forschung war es das besondere Verdienst der Erdélyi Szemle, den Gedanken der personellen und institutionellen Stärkung des regionalen Literaturlebens formuliert und verbreitet zu haben.29 Der Grad ihres Erfolgs lässt sich anhand der recht langen Liste jener ihrer Autoren ermessen, die im Kulturleben der Siebenbürger Magyaren auch nach 1920 20 21
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Ihr Repertorium: Saliga, Lászlóné: Erdélyi Lapok. Repertórium 1908–1913. Szeged 1987. A magyar földért. Mozgalom a magyar föld megmentéséért (Az utolsó 5 évben 166 ezer hold került román kézre) [Für den ungarischen Boden. Bewegung für die Rettung des ungarischen Bodens (In den letzten fünf Jahren sind 166 Tausend Joch in rumänischen Besitz übergegangen)]. In: Erdélyi Lapok Nr. 31, Jg. 5 (1912), 560–561. Megkezdték a mezőségi vasút építését [Der Bau der Eisenbahn in Mezőség hat begonnen]. In: Erdélyi Lapok Nr. 25, Jg. 5 (1912), 446–447. Élő birtokpolitika. Bethlen István beszéde a magyar birtokpolitikáról a magyar gazdák siófoki ülésén [Lebendige Grundstückspolitik. Rede von István Bethlen über die ungarische Grundstückspolitik bei der Versammlung der ungarischen Landwirte in Siófok]. In: Erdélyi Lapok Nr. 11, Jg. 5 (1912), 203–204. Erdélyi vasúthiányok [Siebenbürgens Eisenbahnmängel]. In: Erdélyi Lapok Nr. 20, Jg. 5 (1912), 363–364. A székelyek. Székely Kongresszus Csíkban [Die Szekler. Szekler Kongress in Csík]. In: Erdélyi Lapok Nr. 23, Jg. 5 (1912), 410-412. Saliga, Erdélyi Lapok, passim. Károly Kós an Zsigmond Móricz. Sztána, 1.01.1915. In: Kós Károly levelezése [Der Briefwechsel von Károly Kós]. Hg. v. Péter Sas. Budapest 2003, 98–99, hier 99, Faksimile ebd., 131, sowie in: Kós Károly képeskönyv [Károly-Kós-Bilderbuch]. Hg. v. Péter Sas. Budapest [o. J., 1985], 43. Vgl. Nyugat und sein Kreis 1908–1941. Anhang: Magyar Csillag 1942–1944. Hg. v. Aranka Ugrin /Kálmán Vargha. Leipzig 1989. Sütő-Nagy, László: Az Erdélyi Szemle történetéből [Aus der Geschichte der Siebenbürgischen Rundschau]. In: Irodalomtörténeti Közlemények 75 (1971), 503–502. Eine jüngere positivistische Darstellung: Palotai, Mária: A Pásztortűz elődje: az Erdélyi Szemle [Das Vorgän-
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eine Rolle spielen sollten.30 Bei einer ihrer Lesungen in Klausenburg im Frühjahr 1918 traten die Dichter János Bartalis (1893–1976) und Sándor Reményik (18901941) auf.31 Bartalis gehörte zu jenen wenigen jungen siebenbürgischen Literaten, denen es gelang, landesweit auf sich aufmerksam zu machen. Im Sommer 1916 verwundet und auf Fronturlaub in Budapest, übergab er einige seiner Gedichte der Redaktion des Nyugat, die sie im November jenes Jahres abdruckte,32 beinahe zweieinhalb Jahre nach seiner ersten Publikation in einer Klausenburger Zeitung.33 Reményik, von Anbeginn Mitarbeiter der Erdélyi Szemle34, versah 1917–1918 seinen Militärdienst in einem Schreibbüro, wo er Gelegenheit fand, an seinen ersten Gedichtbänden zu arbeiten, die er 1918 und 1920 in Klausenburg und in Budapest herausbrachte.35 Beide entschlossen sich in den letzten Tagen des Weltkriegs, ihren Wohnsitz in Siebenbürgen zu nehmen. Kós tat es ihnen gleich, ebenso weitere Literaten, die sich im letzten Kriegsjahr noch im alten staatlichen Rahmen ein Diskussionsforum für die neue Generation schufen: das Új Erdély [Neues Siebenbürgen]. Die Klausenburger Wochenschrift erschien in der Redaktion des Dichters und Publizisten Jenő Szentimrei (1891–1959) von Januar bis Mai 1918 im Dienste des „geistig“ – nicht etwa staatsrechtlich – „unabhängigen Landesteils“, dessen „Talente, Produkte allesamt das Merkmal des neuen Siebenbürgen tragen“ sollten.36 Zu ihren nach 1920 in Siebenbürgen bekannt gewordenen Autoren gehörten – neben dem Redakteur und dem schon erwähnten Reményik sowie anderen – Lajos Áprily (1887–1967), Mária Berde (1889–1949) und Ernő Ligeti (1891–1945).37 Die beiden letztgenannten hatten sich 1909 an der Anthologie Auf gemeinsamen
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gerblatt der Hirtenfeuer: die Siebenbürgische Rundschau]. In: Kisebbségkutatás Nr. 1, Jg. 12 (2003), 182–185. Es waren – nach Palotai, A Pásztortűz elődje, 183 – Lajos Áprily, Oszkár Bárd, Mária Berde, Zoltán Franyó, Imre Kádár, Károly Kós, Sándor Makkai, József Nyírő, Lajos Olosz, Sándor Reményik, Domokos Sipos, Jenő Szentimrei, István Szombati-Szabó und Sándor Tavaszy. Zu den Biographien: Romániai magyar irodalmi lexikon. Szépirodalom, közírás, tudományos irodalom, művelődés [Lexikon der ungarischen Literatur in Rumänien. Belletristik, Publizistik, wissenschaftliche Literatur, Bildung], I–II. Hg. v. Edgár Bálogh. Bukarest 1981, 1991; III-V. Hg. v. Gyula Dávid. Bukarest 1994, Kolozsvár/Bukarest 2002, 2010. Bartalis, János: Az, aki én voltam. Önéletrajzi visszaemlékezés [Jener, der ich war. Autobiographische Erinnerung], I. Bukarest 1972, 169–171. Bartalis, Az, aki én voltam, 130-137. Zu seiner Begegnung mit der hochverehrten Redaktion in Budapest: Bartalis, János: Nyugat-emlékeim [Meine Erinnerungen an den Nyugat]. In: Petőfi Irodalmi Múzeum: Virtuális Nyugat-kiállítás [Literarisches Museum Petőfi: Virtuelle Nyugat-Ausstellung]. file:///D:/T%C3%BCbingen%202010/Bartalis%20Nyugat-eml%C3% A9kek.htm (04.04.2013). Bartalis, Az, aki én voltam, 74, 141. Palotai, A Pásztortűz elődje, 183. Sándor Reményik an Lajos Olosz. Kolozsvár, 4.09.1918. In: Félig élt élet. Olosz Lajos és Reményik Sándor levelezése 1912–1940 [Halb gelebtes Leben. Der Briefwechsel zwischen Lajos Olosz und Sándor Reményik 1912–1940]. Hg. v. Klára Kis Olosz. Kolozsvár 2003, 127–129, hier 128. Vgl. Reményik, Sándor: Fagyöngyök [Misteln]. Kolozsvár 1918; Ders.: Csak így. Versek 1918–20 [Nur so. Gedichte 1918–20]. [o. O., Budapest] 1920. Új Erdély Nr. 13, 13.04.1918, programmatisches Stichwort auf der Innenumschlagseite. Zur Zeitschrift ausführlicher: Lengyel, Auf der Suche, 54–57. Ihr Repertorium: Mózes, Huba: Az Új Erdély (repertórium) [Das Neue Siebenbürgen (Repertorium)]. In: Ders.: Sajtó,
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Weg mit ersten Produkten ihres dichterischen Schaffens beteiligt.38 Vier Jahre später erschien Ligetis erster Gedichtband im ungarischen Großwardein (Nagyvárad/ Oradea).39 Gute zwei Jahrzehnte später sollte er als Publizist und Verleger im rumänischen Großwardein die Anthologie als ersten nennenswerten Beitrag zur Dezentralisierung der siebenbürgisch-ungarischen Literatur bezeichnen.40 Die Zeitschrift Új Erdély war bürgerlich-radikal orientiert, gab aber auch nationalbetonten Ansichten aus dem Lager der Unabhängigkeitspolitiker Raum, etwa jenen von István Apáthy (1863–1922), der als Zoologe an der örtlichen Universität und im Rahmen des Siebenbürgischen Museum-Vereins (Erdélyi Múzeum-Egyesület) eine der tonangebenden Gestalten des Siebenbürgischen Verbandes war.41 Das Blatt stellte – nach einer seiner „redaktionellen Botschaften“ – seine von mehreren Seiten und unter verschiedenen Gesichtspunkten geführten Diskussionen in den Dienst einer „Rekonstruktion Siebenbürgens“42 und forderte die Vertretung Siebenbürgens in der Regierung Ungarns,43 was nach Gábor Egry zu den Kardinalpunkten des vor Jahresfrist wiederbelebten Siebenbürgischen Verbandes gehörte.44 Letztlich vermischte das Új Erdély Elemente beider alttranssilvanistischer Strömungen zum Wunsch nach Verselbständigung der Region innerhalb des ungarischen Staates. Anders als vor zwanzig Jahren gemeint,45 erzielte das Blatt im Wesentlichen einen Gleichklang mit dem Siebenbürgischen Verband im Bestreben, die Angelegenheiten Siebenbürgens in die Hände von Siebenbürgern zu legen. Dieser in der Losung „Siebenbürgen für Siebenbürgen“46 verdichtete Wunsch ging schließlich Anfang Dezember 1918 für wenige Wochen in Erfüllung, als Apáthy von der Budapester Regierung zum Leiter des gerade eingerichteten Oberregierungskommissariats für Ostungarn (Keletmagyarországi Főkormánybiztosság)
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kritika, irodalom. Kísérlet [Presse, Kritik, Literatur. Ein Versuch]. Bukarest 1983, 29–37. Zu den Biographien der genannten Literaten in: Romániai magyar irodalmi lexikon. Közös úton [Auf gemeinsamen Weg]. Hg. v. Attila Orbók. Kolozsvár 1909, 11–16 (Berde), 27–31 (Ligeti). Ligeti, Ernő: Magányosan ezer tavasz közt. Versek [Einsam im tausendfachen Frühling. Gedichte]. Nagyvárad 1913. Ligeti, Ernő: Levél Tamási Áronhoz [Brief an Áron Tamási]. In: Független Újság Nr. 16, Jg. 3 (1936), 1. Zensiert abgedruckt in: Turzai, Mária: A Vásárhelyi Találkozó. „A történelem önmagát gondolta“ [Das Treffen von Neumarkt. „Die Geschichte hat sich selbst gedacht“]. Bukarest 1977, 104–108. Apáthy, István: Erdélyi közműveltség [Siebenbürgische Allgemeinbildung]. In: Új Erdély Nr. 8, 9.03.1918, 113–115. Zu Apáthys politischer und wissenschaftlicher Laufbahn Lengyel, Auf der Suche, 44–46, 88–97; Markó, Bálint: Apáthy István. In: Hivatás és tudomány. Az Erdélyi Múzeum-Egyesület kiemelkedő személyiségei [Berufung und Wissenschaft. Die herausragenden Persönlichkeiten des Siebenbürgischen Museum-Vereins]. Hg. v. Gyöngy Kovács Kiss. Kolozsvár 2009, 9–36. Szerkesztői üzenetek [Redaktionelle Botschaften]. In: Új Erdély Nr. 4, 9.02.1918, 63–64, hier 64. kg.: Glosszák az ,Új Erdély‘ programjához (Az „új“ Erdély) [Glossen zum Programm des Neuen Siebenbürgen]. In: Új Erdély Nr. 12, 6.04.1918, 177–179, hier 179. Egry, Regionalizmus, erdélyiség, szupremácia, 30. Lengyel, Auf der Suche, 56. Mózes, Károly: Az erdélyi városok jövője [Die Zukunft der siebenbürgischen Städte]. In: Új Erdély Nr. 13, 13.04.1918, 193–196, hier 194.
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ernannt wurde. Dieses Amt trat die Nachfolge des Siebenbürgischen Verbandes an, der im Oktober 1918 ein letztes Mal getagt hatte, und bestand bis zur Verhaftung Apáthys durch rumänische Behörden Mitte Januar 1919. Bezeichnenderweise wurden zeitgleich mit diesem letzten verwaltungspolitischen Vorstoß Budapests die von Oszkár Jászi (1875–1957), dem Minister für Nationalitätenfragen erarbeiteten Pläne zur Kantonisierung der jungen Republik Ungarn mit Siebenbürgen bar jeden Zuspruchs von Seiten der Nationalitäten zu den Akten gelegt.47 1.4. Neuere Forschungen haben nachgewiesen, dass das Kulturleben der Magyaren im spätdualistischen Siebenbürgen entwickelter war als früher angenommen.48 Das Pressewesen Klausenburgs stand zwischen 1911 und 1920 mit 35 Druckereien und 125 verschiedenen Titeln nach Budapest an zweiter Stelle im Königreich.49 Angaben über eine lebendige Kaffeehauskultur50 und ein nicht weniger reges Sportleben51 in der Hauptstadt der Region ergänzen dieses Bild. Nehmen wir zusätzlich die Ende 1920 in Klausenburg erschienene repräsentative literarische Anthologie sowie Handbücher zu literarischen Gesellschaften und Zeitschriften in Neumarkt (Marosvásárhely/Târgu Mureş) und in Großwardein zur Hand,52 so lässt sich schwer 47
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Lengyel, Auf der Suche, 87–85. Zu Apáthys kurzer politischer Laufbahn und Prozess teilweise mit neuen Einzelheiten: Mariska, Zoltán: Apáthy István politikai szereplése és pere [Die politische Tätigkeit und der Prozess von István Apáthy]. In: Korunk Nr. 3, Jg. 17 (2006), 77– 89. Zu den letzten Tagen des historischen Ungarn in Siebenbürgen neuerdings Szarka, László: The Break-up of Historical Hungary. In: Minority Hungarian Communities in the Twentieth Century. Hg. v. Nándor Bárdi [u. a.]. Boulder/Colorado 2011, 29–42, hier 34–35; Kartographische Darstellung der für Gesamtungarn erdachten Kantone: The „Switzerland of the East“. Proposal by Oszkár Jászi, Minister without Portfolio (1918). In: Ebd., 811. Vgl. Lengyel, Auf der Suche, 33–37; Pomogáts, Béla: A transzilvánizmus. Az Erdélyi Helikon ideológiája [Der Transsilvanismus. Die Ideologie des Erdélyi Helikon]. Budapest 1983, 10-21. Gyarmati, Zsolt: A kolozsvári hírlapírás jellemzői az első világháború idején [Charakteristika der Publizistik in Klausenburg während des Ersten Weltkriegs]. In: Korunk Nr. 12, Jg. 10 (1999), 79–86, hier 79–80, 85. Gyarmati, Zsolt: A hátország félnyilvánossága. Kolozsvári kávéházak 1914–1918 [Die halbe Öffentlichkeit des Hinterlandes. Kaffeehäuser in Klausenburg 1914–1918]. In: Korunk Nr. 6, Jg. 11 (2000), 106–118. Killyéni, András: Kolozsvár sportélete a kiegyezés időszakában (1867–1918) [Das Sportleben Klausenburgs im Zeitalter des Dualismus 1867–1918], I–II. In: Korunk Nr. 10, Jg. 21 (2010), 101–107; Nr. 11, 81–85; Ders.: „Sporthősök“. A kolozsvári sportélet kibontakozásának időszakában [„Sporthelden“. Im Zeitalter der Entfaltung des Klausenburger Sportlebens]. In: Korunk Nr. 6, Jg. 23 (2012), 101–107. Magyar írók kincsesháza [Schatzkammer ungarischer Schriftsteller]. Hg. v. Domokos Olajos. Cluj/Kolozsvár 1920; Magyar Szó. Tavasz. 1919–1920. Antológia [Ungarisches Wort. Frühling. 1919–1920. Anthologie]. Hg. v. János Kovács. Bukarest 1971; A marosvásárhelyi Kemény Zsigmond Társaság levelesládája. Levelek, iratok, adatok (1876–1948) [Die Brieftruhe der Zsigmond-Kemény-Gesellschaft. Briefe, Schriften, Daten (1876–1948)]. Hg. v. Ildikó Marosi/Gyula Dávid. Bukarest 1973.
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abstreiten, dass die Akteure der Dezentralisierungsbewegung gegen Ende des Weltkrieges ein zumindest in groben Zügen nachvollziehbares Konzept aus einer verhältnismäßig breiten Institutionslandschaft thesenhaft oder sinngemäß vortrugen. Es handelte sich im Kern um den Gedanken, dass sich die Region im Rahmen des ungarischen Staatsverbandes verselbständigen könne, dabei aber auf die Ableitung entsprechender Machtbefugnisse aus dem Budapester Zentrum angewiesen sei. Der Redakteur der 1919–1920 in Großwardein unter Mitarbeit auch von Bartalis, Ligeti und Reményik erschienenen Blätter Magyar Szó [Ungarisches Wort] und Tavasz [Frühling], der Publizist und Romancier Géza Tabéry (1890–1958), kam zehn Jahre später auf diese Zeitspanne regionaler Literaturentwicklung zurück, wobei er mal von ungarischer Literatur in Siebenbürgen, mal von siebenbürgisch-ungarischer Literatur sprach.53 Diese schwankende Begrifflichkeit zeigt stellvertretend für zahlreiche weitere Fälle, dass bereits für den Alttranssilvanismus die Bipolarität von nationaler und regionaler Selbstzuordnung kennzeichnend war. Diese musste sich nach 1920 gegenüber einem zusätzlichen politischen Zentrum bewähren. Die Beklommenheit darüber beschlich János Bartalis auch ein halbes Jahrhundert später, als er den ersten Band seiner Memoiren niederschrieb. Darin hielt er den Augenblick im Herbst 1918 wie folgt fest: „Wer konnte damals so weit in jene Tiefen blicken, in die kaum einige Monate später die bis dahin scheinbar intakte Welt fiel...“54 Sodann fuhr er in gedämpftem Ton weiter: „Wilsons Name leuchtete. Wie ein neuer Erlöser, neuer Christus stand er vor uns, der Frieden und Heil bringt der viel gelittenen Welt. Wilsons vierzehn Punkte schallten, wie die auf dem Sinai-Berg verkündeten Zehn Gebote. Dennoch spürten wir, dass bei diesen Punkten etwas im Argen liegen würde.“55 2. ZUR VERDOPPELUNG DER POLITISCHEN ZENTREN: DIE REGIONALISIERUNG DER UNGARISCHEN MINDERHEITS IDENTITÄT NACH TRIANON 2.1. Unmittelbar nach Unterzeichnung des Trianoner Friedensvertrages am 4. Juni 1920 sowie seiner Ratifizierung durch die ungarische Nationalversammlung am 15. November 1920 erstarkte im siebenbürgisch-ungarischen Kulturleben der überlieferte Geist der Abgrenzung von Budapest. Die siebenbürgisch-ungarische Kultur schien auch unter den Folgen der einstigen Zentralisierung zu leiden, da sie nun einer Fremdherrschaft gegenüberstand, ohne sich vorher verselbständigt zu haben.56 In der Publizistik von Károly Molter (1890–1981) erschienen die Gründungen der 53 54 55 56
Tabéry, Géza: Emlékkönyv [Gedenkbuch]. Kolozsvár 1930, 16–17, 25. Hervorhebungen Zs. K. L. Vgl. Magyar Szó. Tavasz, darin auch die in diesem Aufsatz angeführten János Bartalis, Irén Gulácsy, Ernő Ligeti, Sándor Reményik, Jenő Szentimrei und Géza Tabéry. Bartalis, Az, aki én voltam, 190. Ebd., 191–192. Lengyel, Auf der Suche, 160-175.
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Neumarkter Zeitschriften Zord Idő [Rauhe Zeiten] und Tükör [Spiegel] als später Triumph gegenüber Budapest.57 Der örtliche Gymnasiallehrer meinte 1921, so habe man etwas geschaffen, was es davor „einige Jahrzehnte nicht gab, nun aber existiert: die siebenbürgische Literatur […]“.58 Molter war, wie einer seiner Privatbriefe aus 1915 bezeugt, ebenso wie der oben auch in diesem Sinne zitierte Károly Kós zuversichtlich gewesen, dass die „rumänische Gefahr“ vorbeiziehen werde.59 1922 schrieb er in einem seiner zahllosen Zeitungsartikel bereits, dass wir, Siebenbürgens kleine Schriftsteller, die vergangene Epoche in keiner Weise herbeirufen dürfen. Den Lesern können wir wohl Illusionen vor ihre Augen schmuggeln, […] aber für uns ist die Kriegskatastrophe blutige Wirklichkeit, da haben wir begonnen, die Feder zu führen: Wir sind die einzigen unter den Magyaren Rumäniens, die sich befedert haben, aber auch wir nur so, dass es kaum zu einem illusionslosen Abendessen reicht.60
Dennoch suchte er auch zwei Jahre später das Phänomen zu enträtseln: „Ist denn der Transsilvanismus nicht ein eigenartiger Geschmack, den die Schriften all jener Autoren tragen, die hier geboren sind, ihre Kindheit hier verbrachten, hier erzogen wurden. Er ist kein Stempel, der auf einer Novelle klebt, er ist einfach da, ohne dass man ihn erzwingt.“61 Molter kam in einer schwäbischen Familie in der Batschka auf die Welt, fühlte sich aber nach seiner Übersiedlung 1919 heimisch in Siebenbürgen. Er war eine der angesehensten und einflussreichsten, jenseits und diesseits der Staatsgrenzen anerkannten Gestalten des ungarischen Literaturlebens.62 In den frühen 1920er-Jahren prägte er den Begriff vom „siebenbürgischen Geschmack“, der vor dem Weltkrieg wie das „Eisenbahnnetz im Szeklerland gewesen“ sei: „Er fand schwer Kontakt zur Hauptstadt.“63 Nun fragte er: „Was sollen wir mit unserem siebenbürgischen Geschmack machen? Sollen wir ihn verändern? Kann einer Schriftsteller sein, wenn er den Ton wechselt?“64 Nein – lässt sich die Antwort aus der Tätigkeit Molters und seiner Mitstreiter herauslesen –, er sollte vielmehr für diesen Ton die richtige Stellung finden zwischen nunmehr zwei politischen Zentren: dem ungarischen und dem rumänischen. 57
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Vgl. die Sammlung seiner Artikel aus der Zeitschrift Tükör: Molter, Károly: Buborékharc. Publicisztika [Blasenkampf. Publizistik]. Bukarest 1980. Repertorium der Zord Idő, einer bibliothekarischen Rarität: Kuti, Márta: Zord Idő repertórium 1919–1921 [Rauhe Zeiten. Repertorium 1919–1921]. http://zordido.adatbank.transindex.ro (13.05.2013). Molter, Buborékharc. Publicisztika, 19. Ursprünglich erschienen in der Zeitschrift Tükör, 19.04.1921. Károly Molter an Zsófia Molter. Újverbász, 8.07.1915. In: Molter Károly levelezése [Der Briefwechsel von Károly Molter], I-III. Hg. v. Ildikó Marosi. Budapest/Kolozsvár 1995, 2001, 2006, hier I, 6. Sinngemäß ebenso am gleichen Tag in einem anderen Brief an Zsófia Molter. Újverbász, 8.07.1915. In: Ebd. Molter, Buborékharc, 49. Ursprünglich erschienen in der Zeitschrift Tükör, 8.10.1922. Hervorhebung im Original. Ebd., 125. Zuerst in Tükör, 27.04.1924. Vgl. die vorzüglich gestalteten editorischen Notizen von Ildikó Marosi zu seinem Briefwechsel: Molter Károly levelezése. Molter, Buborékharc, 52. Zuerst in Tükör, 12.11.1922. Ebd., 53.
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Die Verdoppelung der Zentren erhöhte nur die Notwendigkeit der Rückbesinnung auf das alte Ziel, das jetzt gegenüber Bukarest behauptet und erkämpft werden musste. Auch Jenő Szentimrei begab sich, drei-vier Jahre nach seiner Budapest zugewandten Klausenburger Zeitschrift Új Erdély, auf den dornigen Weg zu diesem „Transsilvanismus“ als „Weltanschauung des siebenbürgischen Menschen“,65 die bei aller literarischer Ausdrucksweise Element einer „nur-siebenbürgischen Bewegung“, somit „gewissermaßen eine politische Frage ist“.66 Ihre Kernforderung war nämlich die Autonomie der ungarischen Minderheit, vorzugsweise im Verbund mit weiteren siebenbürgischen Autonomien. Szentimrei lenkte die Aufmerksamkeit gerne auf den „Transsilvanismus in der Literatur“, wobei er aber betonte, dass er „den in andere Richtungen entwickelten […]“, auf einem „anderen Blatt“ geschriebenen „Transsilvanismus“ keineswegs ablehne.67 2.2. Auf diesem anderen Blatt wurde ab Ende 1920 eine Autonomie entworfen, die von der rumänischen Regierung als Gegenleistung für die staatsbürgerliche Loyalität der ungarischen Bevölkerung gewährt werden sollte. Eines der ersten und bekanntesten Dokumente dieses Kompromissvorschlags war die im Spätherbst 1920 aufgesetzte und im Januar 1921 in Klausenburg erschienene dreiteilige Flugschrift Rufendes Wort. Der Weg des Ungartums. Das System der politischen Aktivität, die sowohl für die ungarische Minderheit als auch für Siebenbürgen die Perspektive einer Territorialautonomie aufwies. Verfasst wurde sie von Károly Kós sowie den Juristen Árpád Paál (1880-1944) und István Zágoni (1887–1959), einst führende Mitglieder des Siebenbürgischen Verbandes.68 Alle drei rechneten sich in den parteipolitischen Anläufen der Minderheit der progressiven Richtung zu.69 Im konservativen Lager löste die territorialautonomistische Perspektive teilweise heftige Bedenken aus. Hinter diesen verbarg sich die Angst vor einer Zementierung des Sonderwegs Siebenbürgens, einer Verewigung seiner Abspaltung vom ungarischen Mutterstaat.70 An der internen Diskussion dieses Problems nahmen auf der linken Seite auch die Tageszeitung Keleti Újság [Östliche Zeitung] und die Zweiwochenschrift Napkelet [Sonnenaufgang] teil, die seit Weihnachten 1918 beziehungsweise September 1920 in Klausenburg erschienen. Ihre Mitarbeiter be65 66 67 68 69
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Szentimrei, Jenő: Transzilvánizmus az irodalomban [Transsilvanismus in der Literatur]. In: Napkelet Jg. 2 (1921), 550-553, hier 551. Szentimrei, Jenő: Kultúrák hídján [Auf der Brücke der Kulturen]. In: Napkelet Nr. 11, Jg. 3 (1922), 6–7, hier 7. Szentimrei, Transzilvánizmus az irodalomban, 550. Bárdi, Az erdélyi magyar (és regionális) érdekek megjelenítése, 95; Lengyel, Auf der Suche, 45. Kós, Károly/Paál, Árpád/Zágoni, István: Kiáltó szó. A magyarság útja. A politikai aktivitás rendszere [Rufendes Wort. Der Weg des Ungartums. Das System der politischen Aktivität]. Cluj/Kolozsvár [o. J., 1921] [Nachdruck: Budapest 1988]. Vgl. Lengyel, Auf der Suche, 157– 212. Lengyel, Auf der Suche, 194.
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teuerten, dass eine siebenbürgische Sonderentwicklung der Einheit der ungarischen Literatur und Kultur im Karpaten-Donaubecken auch unter den neuen staatsrechtlichen Verhältnissen keinen Abbruch tue.71 Früh wurde aber klar, dass die Progressiven die „selbständige siebenbürgisch-ungarische Kultur“ in ein „selbständiges Geistesleben Siebenbürgens“ einzubinden trachteten, dies mit Blick auf die kulturellen Aktivitäten der „siebenbürgischen Völker“, etwa 1923 mit dem Plan, eine „siebenbürgische Literaturgeschichte“ zu initiieren.72 Dieser gesamtsiebenbürgische Ansatz deckte in seiner parteipolitischen Dimension den föderalistischen Transsilvanismus ab, der sich auf den Spuren der einstigen Dezentralisierungsbewegung herausgebildet hatte. Die Forschung begreift ihn seit der Monographie des Autors als den ersten Typ der bis 1928 beschreibbaren frühen Strömung.73 Die vor einem Jahrzehnt edierte Korrespondenz von Károly Kós74 und der kurz davor erschienene Nachtragsband zum Briefwechsel von Elek Benedek (1859–1929), seinem 1921 aus Ungarn nach Siebenbürgen umgesiedelten Mentor,75 bieten dazu zahlreiche Aussagen, die durch ihre private Natur besonders aussagekräftig und authentisch wirken. Der als Graphiker, Verleger, Redakteur sowie Autor belletristischer und kulturpolitischer Werke tätige Architekt Kós residierte seit Ende 1918 in Sztána, an seinem 1910 errichteten Wochenenddomizil in der Region Kalotaszeg westlich von Klausenburg sowie in Klausenburg. Er klärte als angehender Chefredakteur der ab November 1921 erscheinenden Klausenburger Wochenzeitung Vasárnap [Sonntag] seine Gesinnungsgenossen zum einen darüber auf, dass das Blatt im Interesse der nationalen und der regionalen Solidarität „sowohl von der weißen als auch von der roten Seuche“ frei zu sein habe.76 Zum anderen hielt er fest, dass die Organisierung der Minderheit begonnen habe, als „die Ratifizierung [des Friedensvertrages von Trianon, Zs. K. L.] hier, in Siebenbürgen, alle ungarischen Träume, alle Hoffnungen zu begraben schien“.77 So habe man „begonnen, diesen in die Welt hinausgeworfenen siebenbürgisch-ungarischen – also nicht ungarischen, sondern siebenbürgischen – Globus zu bewegen“. Aus dieser Aktion sei der Ungarische Verband (Magyar Szövetség) entstanden, der „weder nach rechts noch nach links blicken will“.78 Kós bat hier den Adressaten, Lajos 71 72 73
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Redaktionsmitglied des Napkelet Imre Kádár an Károly Molter. Cluj-Kolozsvár, 1.09.1921. In: Molter Károly levelezése, I, 43–44. Hauptmitarbeiter des Napkelet und der Keleti Újság József Nyírő an Károly Molter. Cluj-Kolozsvár, 21.03.1923. In: Molter Károly levelezése, I, 123–125, hier 124. Lengyel, Auf der Suche, 193–238. Vgl. beispielsweise Bárdi, Otthon és haza, 11–13; Egry, Az erdélyiség „színeváltozása“, 12; Horváth, Franz Sz.: Zwischen Ablehnung und Anpassung. Politische Strategien der ungarischen Minderheitselite in Rumänien 1931–1940. München 2007, 18–20. Kós Károly levelezése. Benedek Elek irodalmi levelezése 1921–1929 [Der literarische Briefwechsel von Elek Benedek 1921–1929]. Hg. v. Zsolt Szabó. I: 1921–1925; II: 1925–1928; III: 1928–1929; IV: Pótkötet [Nachtragsband]. Bukarest 1979, 1984, 1991, 2002. Károly Kós an Vilmos Csutak. Kolozsvár, 26.09.1921. In: Kós Károly levelezése, 112–113, hier 112. Károly Kós an Lajos Áprily. Kolozsvár, 5.10.1921. In: Kós Károly levelezése, 113–114, hier 113. Ebd., 114. Der Ungarische Verband formierte sich im Januar 1921 im personellen und geistigen
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Áprily – 1918, wie oben gesehen, einer der Mitarbeiter des Új Erdély –, er möge Gedichte im Volksblatt publizieren, das sich vorgenommen habe, für eine „siebenbürgische Politik“ zu werben, „die als ihr Endziel das von autonomen Nationen gebildete autonome Siebenbürgen bekundet“.79 Kós war sich zur Zeit der rumänischen Parlamentswahlen 1922 sicher, dass „das Problem Siebenbürgens heute ein bereits derart aktuelles und wichtiges Problem Großrumäniens“ sei, „dass seine wie auch immer geartete Lösung unvermeidlich ist“. Kós zählte auf die innenpolitische Bündnishilfe der noch hauptsächlich siebenbürgischen Rumänischen Nationalpartei (Partidul Naţional Român): „Wir sind heute mit dem siebenbürgischen Rumänentum in einem Lager, und ich glaube, dass wir mit ihnen bald gegen das Regat angehen werden. Was daraus werden wird? Sicher: Siebenbürgen, die Lösung des Urproblems des wahren Siebenbürgen. Wann? Das ist nicht wichtig.“80 Im Sommer 1923 plante Kós einen Volkskalender, in dem unter anderem ein Artikel erscheinen sollte über die „Zukunft: das zukünftige Siebenbürgen wie es uns vorschwebt: das von den drei autonomen Nationen gebildete autonome Siebenbürgen (mit Karte). Das wäre unser politisches Programm!“81 Dieses Programm erwuchs aus der Kernthese jenes Transsilvanismus, die in der Regel – und zu Recht – mit dem Namen von Kós verknüpft wird. Sie findet sich beispielsweise im baugeschichtlichen Bildband Transylvania, das 1927 von Kós gezeichnet und in Lino geschnitzt wurde: Der Ungar, der Sachse und der Romäne bleibt ein Ungar, Sachse und Romäne, behält und entwickelt seine völkische Kultur in seiner Eigenart; wie jedoch der siebenbürgische Ungar sich unterscheidet von dem ungarländischen nicht nur geographisch (sogar auch politisch), sondern auch in der Kultur, so bleibt auch der Sachse kein Deutschländer, der Romäne bleibt kein Anhängsel der Walachei oder der Moldau. Die Bewahrung der inneren Individualität schloss die Gemeinschaft nicht aus, und wenn auch drei Kulturen und drei Rassen diesen Boden erfüllt haben, so sind sie doch alle drei Siebenbürgens Volk und Siebenbürgens Kultur. Daher kommt es, dass jede Kulturproduktion dieses Bodens von seltsamer Eigenart, aber auch jeder Siebenbürger zwei charakteristische Eigenarten hat: die eine, dass er Ungar, ein Romäne oder Sachse ist, aber auch die andere, dass er zugleich Siebenbürger ist. Dies ist jener Widerspruch, welcher Siebenbürgen für jeden ausserhalb Siebenbürgens lebenden Menschen unverständlich macht.82
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Umfeld des vormaligen Siebenbürgischen Verbands als eine der ersten politischen Organisationen der Minderheit. Lengyel, Auf der Suche, 157–159. Károly Kós an Lajos Áprily. Kolozsvár, 5.10.1921. In: Kós Károly levelezése, 113–114, hier 114. Zur Zeitung siehe die Anthologie A kolozsvári Vasárnap és Vasárnapi Újság 1921–1925 [Die Klausenburger Zeitungen Sonntag und Sonntagsblatt 1921–1925]. Hg. v. Zsolt Szabó. Kolozsvár 2006. Károly Kós an Elek Benedek. Kolozsvár, 5.03.1922. In: Benedek Elek levelezése, I, 42–45, hier 43. Die im ersten Band des Briefwechsels 1979 zensierte, hier kursivierte Stelle: ebd., IV, 301. Károly Kós an Elek Benedek. Kolozsvár, 14.08.1923. In: Benedek Elek levelezése, I, 161–163, hier 162. Auch dieser Brief wurde im ersten Band 1979 verstümmelt abgedruckt; die zensierte, hier kursivierte Stelle: ebd., IV, 301. Kós, Karl: Auch Siebenbürgens Steine haben ihre Sprache. In: Transylvania. Kolozsvár 1927,
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2.3. Diese Vorstellung löste allerdings auch bei Magyaren innerhalb Siebenbürgens Unverständnis aus. Sándor Reményik war einer ihrer Kritiker. Wenige Wochen nach Ausbruch des Weltkrieges hatte er einem Dichterfreund geschrieben: „Wieviel hängt von diesem niederträchtigen und unmenschlichen Weltkrieg wohl ab?! Ich fühle auch jetzt keine besonders innige Gemeinschaft mit keiner staatlichen Gemeinschaft und es fällt mir schwer, ein österreichisch-ungarischer Patriot zu sein.“83 Binnen weniger Jahre wandelte er sich aber zu einem ungarischen Patrioten außerhalb Ungarns um. Setzen wir die oben begonnene künstlerische Biographie Reményiks fort: 1919 verschrieb er sich „berufungsmässig“ der Literatur,84 publizierte in Klausenburger, Großwardeiner und Neumarkter Periodika.85 In dieser Zeit entstanden auch seine Gedichte von Végvár, die in Siebenbürgen und in Ungarn unter seinem Pseudonym Végvári verbreitet wurden. Der von der Grenzfestung86 besang in einer kraftvollen Sprache den Glauben an die Überwindbarkeit der nationalen Tragödie, als welche er die Aufteilung Ungarns durchlebte. Vom 20. Dezember 1918 datiert ist sein Gedicht Geh‘, wenn du kannst (Eredj, ha tudsz), in dem er den ersten repatriierenden Magyaren nachruft: Er werde in Siebenbürgen bleiben und dem rumänischen Regime unerbittlichen Widerstand leisten.87 In einem der zeitgenössisch publizierten Stücke dieser Sammlung spornte er sich selbst an: „Der Staat ist nicht mehr...! Aber Magyaren gibt es noch.“88 Die Antwort auf die staatsrechtliche Umwälzung suchte er um diese Zeit auf nationaler, nicht auf regionaler Ebene. Dieser Blickwinkel ist umso bemerkenswerter, als Reményik zugleich der in seiner Generation wohl namhafteste Verfechter des Ausharrens in der abgetrennten Region war. In einem Teil seiner von 1918 bis 1921 verfassten und unter seinem
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unpaginierter Anhang. Die ungarischsprachige Urfassung: Kós, Károly: Beszélnek Erdély kövei is. In: Napkelet Jg. 1 (1920), 135–141. Sándor Reményik an Lajos Olosz. Kolozsvár, 21.09.1914. In: Félig élt élet, 70-72, hier 71. Sándor Reményik an Lajos Olosz. Kolozsvár, 17.12.1919. In: Ebd., 131–132, hier 131. Ebd. Vgl. Magyar Szó. Tavasz; Reményik, Sándor: Hátrahagyott versek [Hinterlassene Gedichte]. Hg. v. Gyula Dávid. Kolozsvár 2002. Das holprig übersetzbare Pseudonym Végvári erinnerte an den Widerstand der ungarischen Burgen entlang der Grenze zum osmanischen Machtbereich im 16. und 17. Jahrhundert. Deren Soldaten wurden „Helden der Grenzfestungen“ (végvári vitézek) genannt. Lengyel, Auf der Suche, 179, Anm. 136. In der digitalisierten Sammlung Végvári-versek (1918–1921). Reményik Sándor álnéven publikált versei [Végvári-Gedichte (1918–1921). Die unter Pseudonym publizierten Gedichte von Sándor Reményik]. http://mek.oszk.hu/01000/01053/01053.htm (11.05.2013). Dieses ist das wohl bekannteste Gedicht Végváris, der darin ankündigte, er werde „mahlender Wurm im fremden Holz“ sein. [Reményik, Sándor] Végvári: Új szövetség [Neues Bündnis]. In: Új Magyar Szemle Jg. 2 (1920), 362–363. Zur Politik-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Végvári-Gedichte: Huszar Vardy, Agnes: Trianon in Transylvanian Hungarian Literature: Sandor Remenyik’s „Vegvari Poems“. In: Essays on World War I: Total War and Peacemaking. A Case Study on Trianon. Hg. v. Bela K. Kiraly [u. a.]. New York 1982, 407–422.
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wahren Namen gedruckten oder aus dem Nachlass 2002 edierten Gedichte89 verarbeitete er seine tiefe Enttäuschung über die zahlreichen Repatriierungen, darunter einer Reihe von Intellektuellen, deren Weggang ihn auch als Schriftleiter des Pásztortűz [Hirtenfeuer], des Nachfolgeorgans der Erdélyi Szemle schmerzte.90 Bei einer Feier anlässlich des zweiten Jahrestages der Zeitschrift sagte er: „Wir sind also Magyaren. Und Christen sind wir. Weil wir der Reinheit der christlichen Ideale in Literatur und Kunst dienen wollen. Dies ist kein konfessionelles Christentum. Dies ist das Christentum der Reinheit der Gefühle, der Erhabenheit der Seele.“91 Nach Übernahme und Umbenennung der Zeitschrift Anfang 1921 begann er, Autoren – so auch Károly Molter aus dem progressiven Lager – für „unser Blatt innerhalb der universellen ungarischen Kultur“ anzuwerben, die dazu beitragen, das „ungarische Gefühl, den ungarischen Gedanken zu pflegen“.92 Diese auch öffentlich, etwa im Abschiedsartikel der Erdélyi Szemle93 angekündigte, sich selbst auferlegte Verpflichtung war es, die ihn an Siebenbürgen band. Im Frühling 1921 teilte er mit Hinweis auf erste öffentliche Würdigungen seines dichterischen Werkes einem anderen Briefpartner mit: „Wir haben uns, unsere Werte und Pflichten, hier und jetzt wirklich gefunden. Und deshalb bin ich heute mehr denn je ein Fanatiker des Hierbleibens. – Für mich ist dies keine Frage mehr.“94 Ende 1922 bat er aus Budapest wieder einen anderen Gesinnungsgenossen in Klausenburg, er möge eventuell aufkommende Gerüchte über seine Auswanderung zerstreuen, denn er werde „unbedingt nach Hause gehen, schließlich ist mein Platz zu Hause“.95 Zwei Jahre zuvor trat er, der Dichter von Végvár als Reményik mit einem programmatischen Artikel in die Öffentlichkeit der Siebenbürger Magyaren, um sie nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Trianon auf ein ungarisches Siebenbürgertum einzustimmen, in dem folglich die nationale Identität die regio89 90
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Reményik, Hátrahagyott versek. Vgl. z. B. Sándor Reményik an Lajos Olosz. Kolozsvár, 20.09.1920 und 30.07.1921. In: Félig élt élet, 142–144, hier 142; 160-161, hier 160. Zur Zeitschrift Pásztortűz neuerdings Palotai, Mária: Pásztortűz, 1921–1944. Egy erdélyi irodalmi folyóirat története [Pásztortűz, 1921– 1944. Geschichte einer siebenbürgischen Literaturzeitschrift]. Budapest 2008. Das Repertorium der Zeitschrift: Bokor, Gizella/Bokor-Kiss, Anna: Pásztortűz repertórium 1921–1944. http://pasztortuz.adatbank.transindex.ro/ (31.05.2013). Nach Angaben des ungarischen staatlichen Flüchtlingsamtes wanderten von 1918 bis 1924 insgesamt 197.035 Personen aus Siebenbürgen nach Ungarn aus: Mócsy, István I.: The Effects of World War I. The Uprooted: Hungarian Refugees and their Impact on Hungary’s Domestic Politics 1918–1921. New York 1983, 13. Reményik, Sándor: A mi programunk [1922]. Országos Széchényi Könyvtár, Kézirattár [Széchényi Nationalbibliothek, Handschriftenabteilung]. Budapest. Nachlass Gyula Walter. Fond 256. Sándor Reményik an Károly Molter. Kolozsvár, 14.01.1920. In: Molter Károly levelezése, I, 13. Olvasóinkhoz [An unsere Leser]. In: Erdélyi Szemle Jg. 6 (1920), 623. Reményik an Lajos Olosz. Kolozsvár, 22.03.1921. In: Félig élt élet, 151–153, hier 152. Hervorhebung im Original. Reményik an Gyula Walter. Budapest, 1.12.1922. Országos Széchényi Könyvtár, Kézirattár [Széchényi Nationalbibliothek, Handschriftenabteilung], Budapest. Nachlass Gyula Walter. Fond 256.
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nale überlagerte. Der „Transsilvanismus“, schrieb er im Herbst 1920 noch in der Erdélyi Szemle, dürfe sich nicht „gegen das übrige Ungartum, gegen die Universalität des Ungartums“ richten. Reményik beschwor diejenigen, die „über den Transsilvanismus predigen“, sich darauf zu besinnen, dass „wir vom Rumpf des ungarischen Staates politisch abgefallen sind, aber uns niemand daran hindern kann, uns auch heute als kulturell zum Gesamtungartum gehörig zu erklären“. Da auch das ideologische Gegenlager auf diese Option setzte, nannten die letzten Sätze die Bedingung, unter der das Siebenbürgertum dem Verfasser nicht die Gefahr eines „kulturellen Separatismus“ heraufbeschwor: Und es kann uns keine Machenschaft glauben machen, dass auch nur eines der hier wohnenden fremden Völker uns kulturell näher stehe, als das Ungartum in der Tiefebene, in Nordungarn oder woanders. Eine spezielle siebenbürgische internationale Kultur: Diese gibt es nicht, weil es sie gar nicht geben kann, daher kann es einen Transsilvanismus im kosmopolitischen Sinne auch nicht geben.96
Reményik hat sich mit diesen Zeilen in der Sammlung der Grundtexte zum Transsilvanismus einen festen Platz erobert.97 Nach einer Lesart seines Gesamtwerkes hielt er an der darin widerspiegelten Auffassung zeitlebens fest, welche die Streichung des regionalen Bezugs aus dem Namen seiner Zeitschrift mit erklärt.98 Eine unmittelbar nach seinem Tod erschienene literaturhistorische Bewertung seiner Laufbahn stellte heraus, dass er gegenüber dem im Rumänien der Zwischenkriegszeit vor allem in der Anfangsphase beschworenen ungarisch-rumänischen Kulturaustausch bis zuletzt abgeneigt gewesen sei. Einen Brückenschlag hin zur Mehrheitsnation habe er vor einer Wiedergutmachung der als ungerecht empfundenen Abtrennung Siebenbürgens von Ungarn für unangebracht gehalten.99 Die andere Auslegung ist differenzierter und erhält bei umsichtiger Quellenbehandlung unverhoffte philologische Nachweise. Nach ihr hatte Reményik seine doppelte Identität als politischer Rebell und als Poet von Gottes- und Naturerlebnissen schon als Reményik-Végvári schwer belastet.100 Ausdruckstark war dieser innere Zwist im Gedicht Felsen zutage getreten, das er 1919 im Großwardeiner Magyar Szó als Reményik veröffentlichte: „Das harte Wort lerne nun auch ich,/Aber 96 97
Reményik, Sándor: Transsylvanizmus. In: Erdélyi Szemle Jg. 6 (1920), 609. Jetzt auch in der digitalen Volltextsammlung A népszolgálat és eszmetörténeti háttere Erdélyben 1945-ig [Der geistesgeschichtliche Hintergrund des Dienstes am Volk in Siebenbürgen bis 1945]. http://adatbank.transindex.ro/belso.php?alk=81&k=5 (13.05.2013). 98 Lengyel, Auf der Suche, 179. 99 Jancsó, Elemér: Reményik Sándor élete és költészete [Leben und Dichtung von Sándor Reményik]. Kolozsvár 1942. Wiederabdruck in: Reményik Sándor emlékkönyv [Gedenkband für Sándor Reményik]. Hg. v. Réka Kisgyörgy. Kolozsvár 1998, 77–120, hier 104. Dieser Bewertungsansatz wurde in der nach vier Jahrzehnten zaghaft neu anlaufenden Reményik-Forschung aufgegriffen: Kántor, Lajos: Történelmi vakság ellen (Reményik Sándor lírája, közelről) [Gegen historische Blindheit (Die Lyrik von Sándor Reményik, aus der Nähe betrachtet)]. In: Reményik Sándor: Az építész fia. Versek (1916–1941) [Der Sohn des Architekten. Gedichte (1916–1941)]. Hg. v. Lajos Kántor. Bukarest 1983, 5–45, hier 44. 100 Wie bereits die ältere Forschung mit gutem Gespür erkannte: Kántor, Történelmi vakság ellen, 28–33; Kovács, János: A hőskorszak kezdetén [Am Anfang der Heldenzeit]. In: Magyar Szó. Tavasz, 5–91, 402–418, hier 57–58.
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mein Herz bedauert, was mein Mund ausspricht,/Das Verb auf meinen Lippen ist scharf, wie ein Degen,/Doch im Inneren fragt mich eine Stimme: ‚Wirklich?‘“.101 Die Antwort erteilte der Dichter selbst, indem er sich ab 1922 von seinen VégváriGedichten distanzierte. Vom März 1933 datiert sein Gedicht Warum verstummte Végvári, darin folgende Zeilen: „Er verstummte – weil etwas verkehrt ist:/mit liedlosem Herzen weiter Lieder zu singen./Er verstummte, weil neue Befehle kamen,/ Eine neue Berufung für die heimische Scholle. [...] Das Schicksal rief: schreitet halt zur Wahl: Die Heimat oder das Vaterland?“102 Reményik wählte auch nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 die siebenbürgische Heimat, diesmal aber ohne den kämpferischen Nationalismus sowohl seines einstigen Alter Ego Végvári als auch der sich nun auf Nord- und Ostsiebenbürgen ausbreitenden ungarischen Staatsmacht. Im Mai 1941, fünf Monate vor seinem Tod, verfasste er binnen weniger Tage seine Unzeitgemäßen Gedichte. Gleichzeitig kam in Budapest die erste Version seiner Gesammelten Gedichte heraus, aber ohne seine Végvári-Gedichte, deren Tonfall und Wortwahl er mit seinem gerade entstehenden letzten Zyklus für unvereinbar hielt.103 Bemerkenswerterweise nahm sein durch die Wahrnehmung des Krieges – und nicht zuletzt der nach Siebenbürgen vordringenden ungarischen Armee – ausgereiftes humanistisches Ideal auch die Unterscheidung zwischen Staat und Nation, eben zwischen Vaterland und Heimat in sich auf. Was ist der Ungar? begann er mit folgenden Zeilen: „Magyaren gab es ohne Ungarn,/Magyaren gibt es ohne Ungarn,/ Magyaren wird es ohne Ungarn geben./Weil das Ungartum tiefer ist als der Staat,/ Weil Körper der Staat, Seele das Volk – Rahmen der Staat, und im Staats-Rahmen/ das Ungartum das fürstliche Bild ist“.104 Im Nie nebeneinander? fragte er in Anspielung auf den neuerlichen Imperiumwechsel verbittert: „Muss es denn immer so sein:/Oben der eine, unten der andere?/Machtfragen zwischen Menschen,/Und in der Macht der eine verwildert?“105 Und im Zu einem großen Preis bezeichnete er sich als „unzeitgemäßer und heute schlechter Ungar“, der sich nur noch wundert: „Wer versteht das heute, wer mag es verstehen?/‚Es lebe!‘ klingt sonderbar,/fremd – /Es schmerzt auch, was vollbracht.“106 Ob Reményik mit diesen Versen auch die Unvollkommenheit der territorialpolitischen und staatsrechtlichen Revision zu beklagen wünschte? Sicher ist jeden101 Reményik, Sándor: Sziklák [Felsen] [Magyar Szó, 14.09.1919]. In: Magyar szó. Tavasz, 155 (im Band Ders.: Csak így, 22). 102 Reményik, Sándor: „Miért hallgatott el Végvári?“ [Warum verstummte Végvári?][1933]. In: Erdélyi Helikon 13 (1940), 593. 103 Dávid, Gyula: A kiadásról [Über die Edition]. In: Reményik: Hátrahagyott versek, 357–361, hier 357. Postume Sammlung der Unzeitgemäßen Gedichte in: Egészen. Reményik Sándor hátrahagyott versei [Im Ganzen. Die hinterlassenen Gedichte von Sándor Reményik]. Kolozsvár 1942. Zensierte Auswahl in: Reményik, Az építész fia, 257–267. 104 Aus dem Nachlass herausgegeben: Reményik, Sándor: Mi a magyar? [Was ist der Ungar?] [1941]. In: Erdélyi Helikon Jg. 16 (1943), 12. 105 Reményik, Sándor: Egymás mellett soha? [Nie nebeneinander?] [1941]. In: Ders., Az építész fia, 265–266, hier 265. 106 Reményik, Sándor: Nagy áron [Zu einem großen Preis] [1941]. In: Ders., Az építész fia, 257– 258.
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falls, dass er im erstarkten großungarischen Diskurs eine kritische und selbstkritische Stellung einnahm, wie etwa im Wer hat damit angefangen?: „Und wer mit sich selbst und seiner Nation/Bilanz zu ziehen trachtet,/Der wird als Schwächling und Vaterlandsverräter/Von den vielen hundert ‚Wahrhaftigen‘ verstoßen.“107 Zu einer Neuformulierung seines Transsilvanismus kam Reményik nicht mehr, aus seinen hier zitierten Zeilen wird aber deutlich, dass er auf dem Weg war, ihn auf breitere Grundlagen zu stellen, als es ihm gute zwei Jahrzehnte zuvor gelungen war. Für diese Auslegung spricht sich auch Lajos Kántor aus, der seit geraumer Zeit dafür plädiert, diese von den Zeitgenossen und der Nachwelt wenig beachteten Gedichte zur Neubewertung der künstlerischen Lebensleistung von Reményik heranzuziehen.108 2.4. Einer der bedeutendsten Versuche zur Überwindung – nicht zur Beseitigung – des siebenbürgisch-ungarischen Unrechtsbewusstseins über Trianon war in der Zwischenkriegszeit in die Bemühung eingebettet, das regionale und das nationale Identitätsmodell in universeller Perspektive aufeinander abzustimmen. Wesensbestimmende Elemente dieses Harmonisierungsansatzes waren einerseits der Gedanke einer Verständigung zwischen der konservativen und der progressiven Minderheitselite, andererseits der Ausblick auf und, im idealen Fall, der Austausch mit dem rumänischen und dem sächsischen Geistesleben. Diese Unternehmung beruhte auf drei Pfeilern: –
Die Siebenbürgische Schöngeistige Zunft (Erdélyi Szépmíves Céh) erfüllte mit Sitz in Klausenburg Verlagsfunktionen: Von 1925 bis 1928 gab sie 33 Bände, bis 1944 jährlich 4–10 Titel in 14 Reihen, insgesamt 166 Titel und verschiedene Gelegenheitsschriften heraus; Ende der 1920er-Jahre belieferte sie 1.100 Abonnenten; – Eine gesellschaftliche Rolle übernahm als eine Art literarisches Parlament die nach dem Sitz der Musen in hellenistischer und römischer Zeit benannte Schriftstellergemeinschaft Helikon, die jährlich in der mittelsiebenbürgischen Burg des Schriftstellers János Baron Kemény (1903–1971) in Wetsch (Brâncoveneşti/Marosvécs) zusammentrat; 1926 hatte sie 28, 1944, im letzten Jahr ihres Bestehens, 55 Mitglieder; 107 Reményik, Sándor: Ki kezdte? [Wer hat damit angefangen?] [1941]. In: Ders., Az építész fia, 260-261, hier 261. 108 Kántor, Lajos: Malomkövek közt – álmok szőnyegén. Az ismert és az ismeretlen Reményik [Zwischen Mühlsteinen – auf dem Teppich von Träumen. Der bekannte und der unbekannte Reményik]. In: Kortárs Nr. 12, Jg. 44 (2000), 77–84; Ders.: „Templom és iskola“. A Reményikmítosz és az erdélyi valóság [„Kirche und Schule“. Der Reményik-Mythos und die siebenbürgische Wirklichkeit]. In: Forrás Nr. 6, Jg. 33 (2001), 72–75. http://www.forrasfolyoirat. hu/0106/kantor.html (25.05.2013); Ders.: Reményik-olvasat helikoni tükörben [ReményikLesart im Spiegel des Helikon]. In: Erdélyi Múzeum Nr. 3–4, Jg. 65 (2003), 42–47.
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Die Zeitschrift Erdélyi Helikon [Siebenbürgischer Helikon] war von 1928 bis 1944 der Kommunikationskanal für einen ebenso regionalen wie ungarischen, bei alledem in breiterer europäischer Perspektive positionierten Transsilvanismus. Ihr Herausgeber war Miklós Graf Bánffy, der vor dem Weltkrieg der Zeitschrift Erdélyi Lapok vorgestanden, 1921–1922 das Außenministerium Ungarns geführt hatte, 1926 aber aus persönlichen und aus bisher nicht zweifellos nachgewiesenen politischen Gründen nach Siebenbürgen umzog, auf sein herrschaftliches Anwesen, ein barockes Schloss in Bonisbruck (Bonţida/Bonchida) nördlich von Klausenburg, wo er auch eine Stadtwohnung unterhielt.109
Den nachhaltigen Impuls zur europäischen Synthese des Transsilvanismus lieferte der in Arad geborene Kritiker und Prosaist Aladár Kuncz (1885–1931), der sich schon vor 1914 als Mitarbeiter des Nyugat landesweiten Ruhm in literarischen Kreisen erworben hatte. Bei Kriegsausbruch wurde er in Frankreich, wo er seinen Urlaub verbrachte, als Staatsbürger des feindlichen Österreich-Ungarn festgenommen und für fünf Jahre interniert.110 1919 nach Budapest zurückgekehrt, siedelte er 1923 nach Klausenburg, in die Stadt seiner Gymnasialjahre um. Zu dieser Zeit hing der Nyugat einem zweigeteilten Liberalismus an: Der eine pochte auf der Freiheit der Themen- und Formenwahl, der andere drängte die schreibende Zunft zu einer Einflussnahme auf das gesellschaftliche Leben.111 Kuncz, der beide Prinzipien anwandte, gestand der siebenbürgisch-ungarischen Literatur eine nur institutionelle Sonderstellung zu und forderte von ihr, die künstlerischen Formen mit ethischem Inhalt zu füllen und dabei auch den historischen Erfahrungsschatz der Region zu verwerten.112 Es ging mit auf seinen Ansporn zurück, dass die führenden siebenbürgisch-ungarischen Prosaisten jener Zeit ihre Themen zumeist aus der Geschichte Siebenbürgens bezogen.113 109 Lengyel, Auf der Suche, 299–335. Das Repertorium des Erdélyi Helikon: Galambos, Ferenc: Erdélyi Helikon repertórium. 1928–1944. http://erdelyihelikon.adatbank.transindex.ro/ (30.05. 2013). Unerlässlich bei der Untersuchung seiner Geschichte ist die Korrespondenz des Helikon-Kreises und der Siebenbürgischen Schöngeistigen Zunft: A Helikon és az Erdélyi Szépmíves Céh levelesládája (1924–1944) [Der Briefkasten des Helikon und der Siebenbürgischen Schöngeistigen Zunft (1924–1944)], I-II. Hg. v. Ildikó Marosi. Bukarest 1980. Die in der Fachliteratur seit längerem kursierende Überlegung, Bánffy habe sich in Rumänien niedergelassen, um am königlichen Hof in Bukarest für eine ungarisch-rumänische Personalunion zu werben (vgl. Lengyel, Auf der Suche, 334, Anm. 377), stellt auch Péter Takács: Bánffy Miklós világa [Die Welt des Miklós Bánffy]. Budapest 2006, 131–139, ohne stichhaltige Beweise in den Raum. 110 Seine fünf Haftjahre beschrieb er in seinem berühmtesten Werk: Kuncz, Aladár: Fekete kolostor. Feljegyzések a francia internáltságból [Schwarzes Kloster. Aufzeichnungen aus der französischen Internierung]. Kolozsvár 1931. Französische Ausgabe: Ders.: Le monastère noir. Souvenirs de captivité à la citadelle. Trad. et adapt. du hongrois par Ladislas Gara et Marie Piermont. Paris 11937, Beauvoir-sur-Mere 21999. 111 Vargha, Kálmán: Nyugat und sein Kreis. In: Nyugat und sein Kreis 1908–1941, 10-26. 112 Lengyel, Auf der Suche, 311. 113 Zum hohen Stellenwert der historischen Themen in der zeitgenössischen siebenbürgisch-ungarischen Belletristik: Kántor, Lajos: Vallani és vállalni. Egy irodalmi vita és környéke (1929–1930) [Bezeugen und verantworten. Eine literarische Diskussion und ihr Umfeld
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Zwei Beispiele mögen hier verdeutlichen, dass der siebenbürgisch-ungarische historische Roman sowohl einem regionalen als auch einem nationalen Ansatz folgen konnte. Károly Kós legte 1925 das Grundwerk seiner literarischen Produktion vor. Das Geschlecht der Varju beschrieb das Schicksal von vier Generationen einer Kalotaszeger Familie am Fuße der Westkarpaten zur Zeit des – bei Kós schon in den dreißiger Jahren jenes Jahrhunderts einsetzenden – Verfalls des Fürstentums von 1629 bis 1660. Ihre Geschichte beginnt zu Lebzeiten des Fürsten Gabriel Bethlen (1580–1629), der den inneren Frieden des Kleinstaates gefestigt, und endet mit der Regierungszeit von György II. Rákóczi (1621–1660), der die Selbständigkeit Siebenbürgens aufgeopfert habe. Szenen ungarisch-rumänischer Eintracht im Gebirgsalltag runden diese transsilvanistische Chronik ab, die aus der Gegenüberstellung einer siebenbürgischen und einer ungarländischen Traditionslinie eine über ihre historische Zeit weit hinausreichende Aussage gewann.114 Den anderen Roman legte Irén Gulácsy (1894–1945) vor, die ihre schriftstellerische Laufbahn 1919 mit Novellen in der Großwardeiner Magyar Szó begonnen hatte.115 Ihr Roman Schwarze Bräutigame thematisierte 1927, ein Jahr nach dem 400. Jahrestag der Schlacht bei Mohács 1526, den Zusammenbruch des mittelalterlichen Königreiches Ungarn sowie die von siebenbürgischen Tugenden getragene Suche nach Möglichkeiten des Neubeginns. Gulácsy bewegte sich auf der Wellenlänge des konservativen Transsilvanismus,116 weil sie in einer Zeit, als in der ungarischen Öffentlichkeit jenseits und diesseits der Staatsgrenzen Trianon auf den Rang eines zweiten Mohács117 emporstieg, aus der einstigen militärischen Niederlage sowie den anschließenden innenpolitischen Parteienkämpfen den Ausweg im Sinne einer einheitsstiftenden Nationsidee zeichnete, die weltanschauliche Gegensätze überbrückt. Gulácsy schloss ihren Roman mit dem Satz, dass sich das einstige Siebenbürgen auf den Weg begeben habe in die „Schätze in den Morgen hinüberrettende, die im Tod Leben schwörende ewige Berufung, in die ungarische Zukunft“.118 Selbst solche Botschaften vermochten Zweifel nicht auszuräumen, die hauptsächlich kulturelle Persönlichkeiten in Ungarn an der gesamtungarischen Integrationswilligkeit des siebenbürgisch-ungarischen Literaturbetriebs und Geisteslebens
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(1929–1930)]. Bukarest 1984, 129–148. Die Spezialbibliographie dazu: Mózes, Huba: A romániai magyar regény a két világháború között. Bibliográfia [Der ungarische Roman im Rumänien der Zwischenkriegszeit]. In: Nyelv- és Irodalomtudományi Közlemények Jg. 27 (1983), 65–71. Kós, Károly: Varju-nemzetség. Krónika [Das Geschlecht der Varju. Chronik]. Kolozsvár 1925, 21934, Cluj-Napoca 31977. Magyar szó. Tavasz, 225–254. Vgl. Láng, Gusztáv: Gulácsy Irén. In: Romániai magyar irodalmi lexikon, II, 87–90, hier 89. Dazu Lengyel, Zsolt K.: Die Schlacht bei Mohács 1526. In: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff. Hg. v. Joachim Bahlcke/Stefan Rohdewald/Thomas Wünsch. Berlin 2013, 851–864, hier 855–856. Gulácsy, Irén P.: Fekete vőlegények. Regény három kötetben [Schwarze Bräutigame. Roman in drei Bänden], III. Budapest 1927, 236. Dieser Absatz wurde aus der Budapester Ausgabe von 1985 kommentarlos gestrichen: Dies.: Fekete vőlegények. Budapest 1985, 588.
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hegten. In dem in Budapest angestoßenen Pressedisput über ein vermeintliches „literarisches Schisma“ sah sich 1928 eine Reihe von – ansonsten nicht unbedingt gleichgesinnten – Mitarbeitern des Erdélyi Helikon veranlasst, im Wesentlichen gleichlautend für die ungarische Sprach- und Kultureinheit einzutreten, die mit siebenbürgischen Beiträgen an bereichernder Vielfalt und sinnvoller Geschlossenheit gewinne.119 Ein Jahr später glaubte die Zeitschrift dennoch, auf dieses Thema mit einer abgewandelten Fragestellung zurückkommen zu müssen. Eine Hauptrolle spielte dabei die Schriftstellerin Mária Berde, deren Name hier zuerst bei der Anthologie Auf gemeinsamen Weg 1909 auftaucht. Die 1912 promovierte Germanistin gehörte zu jenen Literaten, die ihre Laufbahn vor dem Weltkrieg begonnen hatten und danach im Fahrwasser der Dezentralisierungsbewegung den Weg nach Siebenbürgen wählten. 1918–1920 publizierte sie Gedichte und Erzählungen im Új Erdély,120 Magyar Szó und Tavasz,121 1919 war sie Mitbegründerin der Zord Idő.122 Károly Molter, ihr Mitstreiter bei diesem geistigen Kraftakt in Neumarkt, würdigte sie 1921, im letzten Jahr der kurzlebigen Zeitschrift mit folgenden Worten: „lassen wir das Gemeininteresse sprechen, das die hier lebenden Schriftsteller seit zwei Jahren ausdrücken. Zentrum und Peripherie, retrograd und progressiv, westliches Denken und Transsilvanismus, ungarische und rumänische Feder haben jede Gelegenheit genutzt, um Berde ihre künstlerische Solidarität spüren zu lassen.“123 Diese Autorität setzte sie in den nachfolgenden Jahren reichlich ein: 1926 war sie Initiatorin der Schriftstellergemeinschaft Helikon, und drei Jahre später schrieb sie – von Aladár Kuncz dazu ermuntert – in deren Zeitschrift den Artikel, der in einer der gehaltvollsten Diskussionen der siebenbürgischungarischen Literatur in der Zwischenkriegszeit den historischen Roman und damit die enge Bindung zur Region auf den Prüfstand stellte. Ist es denn richtig, fragte Berde, „unsere aktuellen Sonderwahrheiten in die Vergangenheit zurückzuschmuggeln?“124 Berde empfahl die Rückkehr in den aktuellen Alltag der Minderheit: „Aus rein literarischer Sicht wäre es nicht nur ehrlicher, aber teilweise auch leichter, das in der Gegenwart pulsierende und sich anbietende Leben zu erfassen.“125
119 Erdélyi írók a magyar irodalom egységéről [Siebenbürgische Schriftsteller über die Einheit der ungarischen Literatur], I–II. In: Erdélyi Helikon 1 (1928), 55–58, 146–150. Näheres bei Lengyel, Auf der Suche, 325. 120 Bibliografische Angaben dazu bei Mózes: Az Új Erdély, 29–31, 33, 37. 121 Magyar szó. Tavasz, 109, 191–221. 122 Dieser Zeitschrift und den zeitgenössischen literarischen Bewegungen gewidmet ist Berde, Mária R.: Szentségvivők. Erdélyi regény [Heilsbringer. Siebenbürgischer Roman]. Nagyvárad 1935, Marosvásárhely 21999. 123 Molter, Buborékharc 20 (Tükör, 23.10.1921). 124 Berde, Mária R.: Vallani és vállalni. Tabéry könyvének utolsó lapjára [Bezeugen und verantworten. Auf das letzte Blatt des Buches von Tabéry]. In: Erdélyi Helikon Jg. 2 (1929), 623–625, hier 624. 125 Ebd., 625. Zur Rolle von Kuncz und Berde beim „bezeugen und verantworten“. Kántor, Vallani és vállalni, 22–23, 53–58, 65–67. Neueste Würdigung des Lebenswerkes von Berde: Takács, Mária Zsuzsanna: Az elfeledett „magyar Burns“ [Der vergessene „ungarische Burns“]. In: Korunk Nr. 4, Jg. 21 (2010), 98–104.
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Lesen wir die Materialien der obigen beiden literarischen Diskussionen mit jenen der weiteren beiden, in den 1930er-Jahren nachfolgenden öffentlichen Auseinandersetzungen der siebenbürgisch-ungarischen Elite126 zusammen, so wird deutlich, dass sie sämtlich unmittelbar oder mittelbar den Widerstreit zwischen Nation und Region zum Gegenstand hatten. Der Erdélyi Helikon war an prominenter Stelle und – nehmen wir es vorweg – durchgängig, bis zu seiner letzten Nummer im Jahre 1944 um seine Entschärfung bemüht. 1929 kam die Paneuropa-Bewegung der weltläufigen Konzeption seines Redakteurs gelegen. Diese ist auch aus dem Artikel Siebenbürgen ist meine Heimat herauszulesen, den Aladár Kuncz im zweiten Jahrgang zum Abschied des nach Ungarn ausgesiedelten Lajos Áprily, des ersten Redakteurs der Zeitschrift, publizierte. Er baute eine Brücke über das Nationale, vor allem das Nationalstaatliche hinweg: Scheint es noch ein Unding, ist es doch eine Tatsache, dass Europa nur auf dem Wege der sich frei entfaltenden Regionalismen zur schöpferischen und fortschrittlichen Zusammenarbeit in Bildungswesen und Politik gelangen kann. Zuerst müssen die künstlichen Einheiten in ihre kleinstmöglichen Teile zerfallen, um von einer neuen und zusammenfassenden geistigen Strömung zu einer wirklichen Einheit erschaffen zu werden.127
Kuncz muss sich zuvor mit dem paneuropäischen Gedanken auseinandergesetzt haben, der anlässlich des in Wien veranstalteten ersten Paneuropa-Kongresses im Oktober 1926 von der siebenbürgisch-ungarischen Presse als wegweisend zur Lösung auch des Minderheitenproblems rezipiert wurde.128 Der neue Redakteur des Erdélyi Helikon schob den „Transsilvanismus“ als „das Regenbogenbild des paneuropäischen Gedankens“129 in den Mittelpunkt seiner Ausführungen, die in folgender Warnung und Aufforderung gipfelten: Unser Regionalismus wäre Selbstmord, würde er die unerläßlichen europäischen Perspektiven vergessen: wenn er in seinen literarischen Schöpfungen nicht die Qualität und die Kunstform suchen würde, die das Europäertum ausmachen, wenn er das Endziel aus den Augen verlieren würde, das sich vom freien Austausch regionaler Ideen und Kulturen eine neue europäische Synthese erhofft.130
126 Vgl. die Dokumentenbände Nem lehet. A kisebbségi sors vitája [Es ist unmöglich. Die Diskussion des Minderheitsschicksals]. Hg. v. Péter Cseke/Gusztáv Molnár. Budapest 1989; Jelszó és mítosz [Losung und Mythos]. Hg. v. Béla Pomogáts. Marosvásárhely 2003. 127 Kuncz, Aladár: Erdély az én hazám. Csendes beszélgetés Áprily Lajossal [Siebenbürgen ist meine Heimat. Leises Gespräch mit Lajos Áprily]. In: Erdélyi Helikon Jg. 2 (1929), 487–492, hier 488. Die kursivierte Stelle wurde in den gesammelten Werken 1973 zensiert: Kuncz, Aladár: Tanulmányok, kritikák [Abhandlungen, Kritiken]. Hg. v. Béla Pomogáts. Bukarest 1973, 246–251, hier 249. 128 Lengyel, Zsolt K.: Páneurópa és transzszilvanizmus. Az 1920-as évek erdélyi magyar külpolitikai gondolkodásának történetéből [Paneuropa und Transsilvanismus. Aus der Geschichte des siebenbürgisch-ungarischen außenpolitischen Denkens in den 1920er-Jahren]. In: Ders.: Emigráció, szórvány, hungarológia. Válogatott írások 1985–2012 [Exil, Diaspora, Hungarologie. Ausgewählte Schriften 1985–2012]. Budapest 2012, 288–312. 129 Kuncz, Erdély az én hazám, 490. Auch diese Stelle fiel 1973 der Zensur zum Opfer: Kuncz, Tanulmányok, 249. 130 Ebd., 489. Diese Passage wurde 1973 ebenfalls gestrichen: Kuncz, Tanulmányok, 249.
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3. ZUR VERDOPPELUNG DER REGION: DIE RÜCKKEHR DES ALTTRANSSILVANISMUS 3.1. „Wir haben hier mit der Vergangenheit abgerechnet, aber ich sehe, dass Ungarn nicht abrechnen will.“ Diese Zeilen schrieb Károly Kós im August 1922 nach Ungarn, an den Schriftstellerfreund Zsigmond Móricz (1879–1942),131 mit dem er schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges korrespondiert hatte.132 Die Bedenken von Kós zum Realitätssinn der mutterstaatlichen Führung verweisen in Verbindung mit dem Wort „Endziel”, das er in einem anderen Brief für die Autonomie Siebenbürgens verwendete,133 auf ein älteres Forschungsproblem, zu dessen Lösung hier nur Anhaltspunkte gesucht seien: War die Selbstverwaltung der Region bloß als Zwischenstufe einer Wiedervereinigung mit Ungarn oder tatsächlich als Endstufe erdacht? Die Annahme, dass der Transsilvanismus als ungarisches Phänomen „mit verschiedenen revisionistischen Konzeptionen in Berührung stehen konnte“134 – er also „revisionistisch sein, aber auch auf der Grundlage des Status Quo stehen konnte“135 –, setzt eine langfristige nationalpolitische Funktion der AutonomieOption mit ungewissem Ausgang voraus, die der Autor in seiner Monographie ebenfalls für diskussionswürdig hält.136 Franz Sz. Horváth setzt die Erforschung der tieferen Absicht in seinem Buch über das Verhältnis der politischen Strategien der ungarischen Minderheit einerseits gegenüber dem Faschismus und dem Nationalsozialismus, andererseits gegenüber dem rumänischen Staat fort. Er fügt die Auffassungen über die staatsrechtliche Neuordnung beziehungsweise Grenzkorrekturen zwischen 1931 und 1940 in einen „zumindest dreistufigen“ Prozess ein, in eine „mentale Bewegung von einem eher utopischen Wunsch (1928–1930) über eine erste Hoffnung (1932/1933) hin zu einem festen Glauben (1937–1940).“137 Die Heidelberger Dissertation verbindet diese eindimensionale Ablehnung des rumänischen Staates mit einer gleichfalls stufenweisen Angleichung: der Rezeption 131 Károly Kós an Zsigmond Móricz. Sztána, 15.08.1922. In: Kós Károly levelezése, 146–149, hier 148. 132 Siehe Anm. 27. 133 Siehe Anm. 79. 134 Romsics, Ignác: Trianon és a magyar politikai gondolkodás [Trianon und das ungarische politische Denken]. In: Emlékkönyv L. Nagy Zsuzsa 70. születésnapjára [Festschrift zum 70. Geburtstag von Zsuzsa L. Nagy]. Hg. v. János Angi/János Barta. Budapest 2000, 411–421, hier 413. 135 Romsics, Ignác: A független vagy autonóm Erdély terve a magyar és a nemzetközi politikában 1919–1945 [Der Plan eines unabhängigen oder autonomen Siebenbürgen in der ungarischen und internationalen Politik]. In: Korunk Nr. 11, Jg. 12 (2001), 90–102, hier 92. Vgl. im gleichen Sinne Balogh, Piroska: Transylvanism: Revision or Regionalism? In: Geopolitics in the Danube Region. Hungarian Reconciliation Efforts, 1848–1998. Hg. v. Ignác Romsics /Béla K. Király. Budapest 1999, 243–262; Romsics, Ignác: Nation and State in Modern Hungarian History. In: The Hungarian Quarterly 42, Winter (2001), 37–60, hier 50–51. 136 Lengyel, Auf der Suche, 383–406. 137 Horváth, Zwischen Ablehnung und Anpassung, 383. Hervorhebungen im Original.
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und theoretischen Umsetzung der Rassentheorie. Der Verfasser findet insbesondere in der ideologischen Radikalisierung von Árpád Paál, in den frühen 1920er-Jahren einer der Wortführer der progressiven Transsilvanisten, Anhaltspunkte dafür, aus den Zielsetzungen der ungarischen Autonomie neben – teilweise statt – der selbständigen Entwicklung der Gesellschaft und Kultur die nationale Isolation zu betonen.138 So stellt er im ersten Nachleben des Transsilvanismus der 1920er-Jahre das ungarische Regional- und Nationalbewusstsein auf den gleichen Wirkungsgrad. Diese Bewertung ist berechtigt, sie muss allerdings mit wesentlichen Ausnahmen rechnen. Sándor Reményik bestritt, wie oben geschildert, den umgekehrten Weg von der nationalen Radikalität hin zur regionalen Humanität; in den 1930erJahren wies er zudem unmissverständlich und öffentlich die um sich greifende Rassentheorie zurück.139 Ein weiteres Beispiel ist Graf Bánffy, der 1938 als angehender Vorsitzender der offiziell im Januar 1939 gegründeten Ungarischen Volksgemeinschaft – der Nachfolgeorganisation der in der Königsdiktatur verbotenen Minderheitspartei – folgende Zeilen zu Papier brachte: „[Der] Transsilvanismus ist eine wichtige und wirksame Kraft. Die Siebenbürger Magyaren sind in erster Linie Siebenbürger. Aus diesem Grunde, und damit der Staat diese Anhänglichkeit verwertet, wäre es notwendig, all das zu beseitigen, was verhindert, dass die Siebenbürger Magyaren sich zu Hause fühlen.“140 Auch hier stand die Heimat vor dem Vaterland, und der enge Bezug auf den Raum drückte nicht eine Abkapselung, sondern, im Gegenteil, ein Gefühl der Zugehörigkeit aus. Siebenbürgen wurde infolge des Zweiten Wiener Schiedsspruches zweigeteilt, anders ausgedrückt: Die Region und die über ihr ausgeübte Macht wurden verdoppelt. Im Norden und Osten kam sie wieder unter ungarische Staatshoheit. Der Vergleich der regionalen und staatsnationalen Bindungen ihrer ungarischen Gesellschaft wirft die Frage nach der Institutionalisierung dieser oder jener Zuneigung auf. Nándor Bárdi und Gábor Egry blicken über die Grenzen des Kulturlebens auf die politische Bühne, auf der es die Siebenbürgische Partei (Erdélyi Párt) bemerkenswerterweise unterließ, ihrem Namen den Zusatz Landespartei anzufügen – der auf Budapest gezeigt hätte –, wie es ihre Vorgängerin zwischen 1922 und 1938, die Ungarische Landespartei (Országos Magyar Párt) in Bukar138 Ebd., 374–377. 139 Vgl. mit Beispielen aus seiner Dichtung und Publizistik: Kántor, Történelmi vakság ellen, 41–45. 140 Dunamelléki Református Egyházkerületi Levéltár. Ráday-Levéltár. Budapest. Bánffy Miklós gróf iratai 1744–1951 [Ráday-Archiv, Budapest. Die Schriften von Miklós Graf Bánffy 1744– 1951], C/6, II. 1. c, 5. Hervorhebung Zs. K. L. Dieses zwölf Seiten umfassende Typoskript, das in seinem Nachlass als „Kopie“, ohne Titel, Unterschrift und Datum aufbewahrt wird, muss im März/April 1938 entstanden sein. Darin bezog sich Bánfy auf die „überaus ehrende Aufforderung, meinen Standpunkt über die Lösung der ungarischen Minderheitsfrage zu unterbreiten“, auf die am 27. Februar 1938 veröffentlichte Verfassung Rumäniens sowie auf den „österreichischen Anschluss“ und schlug Grundprinzipien für den am 4. Mai 1938 und 4. August 1938 verabschiedeten Minderheitenstatuts vor (ebd., 1–2). Zum Dokument Lengyel, Zsolt K.: Betakarítás és kitekintés. Utószó helyett – tallózás a transzszilvanizmus újabb szakirodalmában [Ertrag und Ausblick. Statt eines Nachworts – Nachlese in der jüngeren Fachliteratur zum Transsilvanismus]. In: Ders.: A kompromisszum keresése, 265–305, hier 303, Anm. 149.
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ester Richtung getan hatte.141 Zugleich galt es in ihrem ideologischen Umfeld, die ungarische Suprematie über die Region wiederzuerlangen, zu bewahren und nach Möglichkeit auf das bei Rumänien verbliebene Südsiebenbürgen auszuweiten.142 Dieses Forschungsgebiet zur vierjährigen „kleinen ungarischen Welt“143 weist noch Lücken auf, so insbesondere im Bereich der Ideologiegeschichte, in dem Egry mit seiner Kurzmonographie über die parteipolitische Vertretung der zur Mehrheit gewordenen Minderheit ein neues Kapitel des „Siebenbürgertums“ öffnet und dabei zu Recht Ähnlichkeiten mit dem Alttranssilvanismus feststellt.144 Denn der Diskurs über die Stellung der Region lief jetzt – wie vor 1918 – innerungarisch, und zwar auf der gleichen Traditionslinie der ungarländisch-siebenbürgischen Kluft. Die siebenbürgische Seite baute in ihr Selbstbild nun auch den Aspekt eines überlegenen sozialen Entwicklungsstandes ein, zu dem Binnenungarn im Interesse einer wirklichen Einheit noch aufschließen müsse.145 Wenn nach Trianon die ungarische territoriale Identität sich über die nationale schwang, um sich dann letzterer anzugleichen, dann erlitt sie im Spätsommer 1940 eine vollkommene Niederlage gegenüber der nationalen Identität.146 Diese Hypothese der in das zweite Nachleben des frühen Transsilvanismus hinüberreichenden Analyse ist ergänzungsbedürftig. Die Unvollkommenheit der Wiedervereinigung des ungarischen Nationalstaates konnte nämlich den auf die gesamte Region ausgeweiteten siebenbürgischen Gedanken aufweichen, aber auch wach halten. Die neuere Forschung setzt sich gerne mit dem letzteren Fall auseinander. Jüngst wurde dazu der Ökonom Ernő Graf Teleki (1902–1980) zitiert, der von 1937 bis 1944 Angestellter einer ungarischen Bank war. Er soll nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch an Geheimgesprächen zwischen der ungarischen und der rumä141 Bárdi, Nándor: Az Erdélyi Párt és a regionális politika [Die Siebenbürgische Partei und die Regionalpolitik]. In: Magyar Kisebbség Nr. 2–3, Jg. 8 (2003), 134–162; Ders.: A múlt, mint tapasztalat. A kisebbségből többségbe került erdélyi magyar politika szemléletváltása 1940– 1944 között [Die Vergangenheit als Erfahrung. Die ideelle Umorientierung der aus der Minderheit in die Mehrheit geratenen siebenbürgisch-ungarischen Politik]. In: Limes Nr. 2, Jg. 19 (2006), 43–70; Egry: Az erdélyiség „színeváltozása“. Vgl. Lengyel, Auf der Suche, 275–287. 142 Balogh, Béni L.: A magyar-román viszony és az erdélyi kérdés 1940–1944 között [Das ungarisch-rumänische Verhältnis und die siebenbürgische Frage zwischen 1940 und 1944]. In: Korunk Nr. 2, Jg. 17 (2006), 4–10, hier 5; Bárdi, A múlt, 65. 143 Egry, Az erdélyiség „színeváltozása“, 19. 144 Ebd., 173. Als Einführung in die Quellen und Literatur ist die Volltextdatenbank und Bibliographie hilfreich: „Kis magyar világ“. Észak-Erdély 1940–1944 között [„Kleine ungarische Welt“. Nordsiebenbürgen 1940–1945]. Hg. v. Tamás Sárándi/András Tóth-Bartos. http:// adatbank.transindex.ro/belso.php?alk=66&k=5#top (28.04.2013). Einen guten Einblick in die Sichtweise der Schriftsteller zur Lage Siebenbürgens 1940–1944 gewährt die Anthologie Üdvözlégy, szabadság! Magyar írók Észak-Erdély és a Székelyföld 1940-es visszatéréséről [Willkommen, Freiheit! Ungarische Schriftsteller über die Rückkehr Nordsiebenbürgens und des Szeklerlandes im Jahre 1940]. Hg. v. Béla Pomogáts. Budapest 2008. 145 Egry, Gábor: Erdély-képek és mítoszok [Siebenbürgen-Bilder und Mythen]. In: A magyar jobb oldali hagyomány 1900–1948 [Die ungarische rechtsgerichtete Tradition 1900–1948]. Hg. v. Ignác Romsics. Budapest 2009, 506–533, hier 513, 525, 529–532. 146 Vgl. Bocholier, François: Elitele transilvane, între identitatea regională şi expansiunea sentimentelor naţionale [Die siebenbürgischen Eliten zwischen der regionalen Identität und der Ausweitung nationaler Gefühle]. In: Altera Nr. 25, Jg. 10 (2005), 118–139, hier 132.
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nischen Regierung beteiligt gewesen sein147 und ein selbständiges Siebenbürgen als „eine Art rumänisches Protektorat, aber mit einer Selbstverwaltung“ bevorzugt haben, „in der sich auch die Magyaren zurechtfinden“. Sein Onkel, der ungarische Ministerpräsident Pál Graf Teleki (1879–1941), soll „ebenfalls Anhänger des unabhängigen Siebenbürgen“ gewesen sein und „bereits die Karte der Kantone nach schweizerischem Modell angefertigt“ haben.148 Auf dieser Wellenlänge kommentierte die Zeitschrift Erdélyi Helikon 1941 die Rezeption der Rückkehr Nordsiebenbürgens in der ungarischen Zeitschriftenliteratur auch mal unter Rückgriff auf den vom ungarischen Ministerpräsidenten in einem Zeitungsartikel geprägten Begriff „vom ‚Gleichgewichtsgefühl‘ als ‚immanente Eigenschaft der siebenbürgischen Seele‘. In der Heimat der drei Nationen, vier Nationalitäten und fünf Religionen“, hieß es im Kommentar weiter, „könne man auch heute nicht Gegensätze suchen, und man sucht sie auch nicht. ‚Siebenbürgen lebte ein selbständiges Leben‘, übernahm der Ministerpräsident wieder das Wort, ‚einerseits als Pufferstaat zwischen zwei Großmächten, andererseits als Nationalitätenstaat. Beide mussten die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts entwickeln, das äußere Beziehungsgeflecht und die innere Situation gleichermaßen.‘“149 Die Schriftstellergemeinschaft Helikon nahm auf ihrer Jahrestagung 1942 eine gegenüber der zentralistischen und – vor allem – nationalisierenden Budapester Regierung150 kritische Schlusserklärung an, die unter anderem festhielt, dass der Zweite Wiener Schiedsspruch „das Lebensproblem Siebenbürgens und der Sieben147 Sas, Péter: Múltidéző – Adalékok széki gróf Teleki Ernő (1902–1980) életéhez [Vergangenheitsbelebung – Beiträge zum Leben von Ernő Graf Teleki von Szék (1902–1980)]. In: Szabadság [Klausenburg], 5.11.2011. http://www.szabadsag.ro/szabadsag/servlet/szabadsag/template/article,PArticleScreen.vm/id/65507 (30.05.2013). 148 Ernő Telekis Aussage aus einem 1977 vom rumänischen Geheimdienst erfassten Privatgespräch zitiert von Tibori Szabó, Zoltán: Mit keresett a kommunista a grófnál? [Was suchte der Kommunist beim Grafen?], I. In: Korunk Nr. 7, Jg. 23 (2012), 86–97, hier 93. 149 Teleki, Pál: Erdély visszatért (Híd, 1940/1) [Siebenbürgen ist zurückgekehrt]. Zitiert von Gál, István: A visszatért Erdély a magyar folyóiratirodalomban [Das zurückgekehrte Siebenbürgen in der ungarischen Zeitschriftenliteratur]. In: Erdélyi Helikon Nr. 1, Jg. 14 (1941), 61–77, hier 65. Der ungarische Ministerpräsident erstellte 1940, ein Jahr vor seinem Selbstmord, ein großangelegtes Memorandum über die siebenbürgische Frage, das über diplomatische Kanäle der englischen, französischen und amerikanischen Regierung zuging. Im Londoner Außenministerium wurde es als vernünftiger Plan eingestuft, der aber letztlich mit der Rückkehr des gesamten Siebenbürgen zu Ungarn rechne. Das im Archiv des Londoner Außenministeriums aufbewahrte, im Original englischsprachige Dokument wurde in ungarischer Übersetzung ediert und kommentiert von Ablonczy, Balázs: Teleki Pál ismeretlen memoranduma az erdélyi kérdésről 1940 [Ein unbekanntes Memorandum von Pál Teleki über die siebenbürgische Frage]. In: Pro Minoritate, Herbst-Winter (2004), 64–85. 150 Zu ihren Maßnahmen in den „zurückgekehrten“ Teilen der Region, die dem Ausbau der ungarischen Suprematie dienten: Ablonczy, Balázs: A visszatért Erdély 1940–1944 [Das zurückgekehrte Siebenbürgen 1940–1944]. Budapest 2011. Zur Minderheitenfrage in den ungarisch-rumänischen Beziehungen während der vier Jahre ungarischer Herrschaft in Nord- und Ostsiebenbürgen jüngst Balogh, Béni L.: Küzdelem Erdélyért. A magyar-román viszony és a kisebbségi kérdés 1940–1944 között [Kampf um Siebenbürgen. Das ungarisch-rumänische Verhältnis und die Minderheitenfrage von 1940 bis 1944]. Budapest 2013.
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bürger Magyaren weder beruhigend noch endgültig gelöst“ habe. „Denn Siebenbürgen ist eine gesonderte Landschaft innerhalb der großen ungarischen Landschaft. Es ist eine Einheit, deren Schicksal durch eine Trennung nicht dauerhaft zu lösen ist.“ Daher sei sie, die Zeitschrift, entschlossen, fortan der „geistigen und seelischen Einheit des ganzen Siebenbürgen“ zu dienen, ebenso wie sie zuvor 22 Jahre hindurch für den „einheitlichen ungarischen Geist“ eingetreten war.151 Auch der Erdélyi Helikon strebte das Gleichgewicht innerhalb Siebenbürgens an, wofür ihm vor allem die Einheit der Region notwendig erschien. Kultur-, Literatur- und Gesellschaftshistoriker haben in der nahen Vergangenheit auch an die Rundfrage der Klausenburger Zeitschrift Termés (Ertrag) vom Sommer und Herbst 1943 erinnert, die den Titel Prinzipien, Gedanken (Elvek, gondolatok) trug. Sie stellte frühere Ideen zeitgenössischer Autoren auf die Waagschale, darunter jene von der „gesonderten Persönlichkeit der drei Völker und drei Kulturen, aber bei alledem vom gemeinsamen und von den umgebenden fremden und verwandten Völkern und Kulturen abweichenden” Siebenbürgertum. Auf die Frage, ob dieses „in der Zeit der nationalen Absonderungen” denn noch aktuell sei, antwortete Károly Kós, dass er „das Siebenbürgertum des siebenbürgischen Menschen” keinesfalls für überholt und vom „Ungartum” abweichend, allerdings augenblickblich für undurchsetzbar halte.152 In jüngerer Zeit edierte wissenschaftshistorische Quellen lassen aus dem Transsilvanismus der 1920er-Jahre zwei bekannte Wissenschaftler mit ähnlichem Selbst- und Raumbild zur Sprache kommen: den Literaturwissenschaftler György Kristóf (1878–1965), der in einem Privatbrief aus dem Jahre 1943 ein Buch seines siebenbürgisch-sächsischen Adressaten als Produkt „des sachgerechten Transsilvanismus” bezeichnete,153 und den Verfassungsrechtler Arthur Balogh (1866–1951), der in einer 1941 veröffentlichten Abhandlung über den „siebenbürgischen Geist” Beson151 [Tamási, Áron]: Az írói közösség nyilatkozata [Die Stellungnahme der Schriftstellergemeinschaft]. In: Erdélyi Helikon Nr. 7, Jg. 15 (1942), 596–604, hier 600–601. Jüngste Übersicht zur kritischen Haltung des Erdélyi Helikon gegenüber der Budapester Siebenbürgen-Politik: Dávid, Gyula: Az Erdélyi Helikon a negyvenes években [Der Erdélyi Helikon in den 1940erJahren]. In: Korunk Nr. 12, Jg. 23 (2012), 86–93 (die Identifizierung des hier zitierten Verfassers ebd., 91). 152 Mit Zitaten aus der Rundfrage und der Antwort von Kós: Benkő, Samu: Kós Károly és az alku erkölcse [Károly Kós und die Moral des Feilschens] [1993]. In: Ders.: Újrakezdések. Tanulmányok, előadások, beszélgetések, búcsúztatások 1990–1995 [Neuanfänge. Abhandlungen, Vorträge, Gespräche, Nachrufe 1990–1995]. Csíkszereda 1996, 154–169, hier 163; Kántor, Lajos: Itt valami más van. Erdélyi krónika 1911–1959 [Hier ist es anders. Siebenbürgische Chronik 1911–1959]. Budapest [o. J., 1991], 135–149; Nagy, György: Korszerűtlen példázat a helyzet hatalmáról és a szellem tisztességéről. Kós Károly és a Termés 1943-as ankétja [Unzeitgemäßes Beispiel zur Macht der Situation und zur Redlichkeit des Geistes. Károly Kós und die Rundfrage des Ertrags aus dem Jahre 1943]. In: Szabédi napjai. Emlékezések, tudományos előadások Kolozsvárt 1992–1997 [Szabédis Tage. Erinnerungen, wissenschaftliche Vorträge in Klausenburg 1992–1997]. Hg. v. Péter Cseke. Kolozsvár 1998, 63–83, hier 75–78; Vallasek, Júlia: Elváltozott világ. Az erdélyi magyar irodalom 1940–44 között [Gewandelte Welt. Die siebenbürgisch-ungarische Literatur zwischen 1940 und 1944]. Debrecen 2004, 117–122. 153 György Kristóf an Karl Kurt Klein. Kolozsvár, 16.04.1943. In: Karl Kurt Klein 1897–1997. Corespondenţă [Briefwechsel]. Hg. v. Ioan Dordea. Cluj-Napoca 1997, 538.
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derheiten der regionalen Rechtsentwicklung hervorhob.154 Aus diesem Blickwinkel befasste sich 1943 der erwähnte Ernő Ligeti in seiner geschichtsphilosophischen Abhandlung über den siebenbürgischen Kanzler Miklós Bethlen (1642–1716) mit dem Gedanken eines unabhängigen Siebenbürgen.155 Als vorerst letztes Beispiel sei hier der kalvinistische Pfarrer und Philosoph Sándor Tavaszy (1888–1951) genannt. Auch er bediente sich – im Titel seines Aufsatzes – des Ausdrucks „siebenbürgischer Geist“, mit dem bereits die Alttranssilvanisten eine innerregionale Verbindungskraft bezeichnet hatten.156 Der stellvertretende Bischof im Siebenbürgischen Reformierten Kirchendistrikt begrüßte im September 1940 das wiederkehrende ungarische Regime gleichsam im Namen „Rumpf-Siebenbürgens“157 und schob sogleich seinen Vorschlag nach, wie die gesamte Region betrachtet werden sollte: „Siebenbürgen ist in politischer, geographischer und in vielerlei sonstiger Hinsicht das Abbild des Mutterstaates, ist aber andererseits eine vollkommene und lückenlose Einheit. Es ist eine Einheit, aber nicht in der Gleichartigkeit, sondern in der Vielfalt.“ Sodann folgte die Textstelle, die sich wie eine Warnung an gegenwärtige – und kommende – Mächte über die Region liest: „Hieraus folgt, dass auf dem Boden Siebenbürgens jedes Unternehmen, gesellschaftliches und staatliches Leben früher oder später unsicher wird und schließlich scheitert, welches das Lebensrecht, die gesellschaftlichen, kulturellen und konfessionellen Besonderheiten der verschiedenen Völker nicht in Betracht zieht und nicht achtet.“158 3.2. Dem Transsilvanismus war 1940 mit der teilweisen Rückgliederung Siebenbürgens an Ungarn ein halber Erfolg beschieden, wenn er eine großnationale Revision beabsichtigte. Er erreichte noch weniger, wenn er seine Aufgabe noch immer darin sah, sowohl die ungarische als auch die rumänische Einheitsstaatlichkeit zu überwinden, eine auch in ungarischer Hinsicht kleinnationale Lösung anzupeilen, kurzum: einen gesamtsiebenbürgischen Ausgleich, die Autonomie Siebenbürgens herbeizuführen. Für die Wiedervereinigung der zweigeteilten Region boten sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges entweder eine revisionistische beziehungsweise nationalstaatliche oder eine regionalistische, konkreter: autonomistische Variante an. Die Forschung sollte die Idee von einem Siebenbürgen, das, einem der umliegenden Nationalstaaten angeschlossen, eine Selbstverwaltung aufbaut oder sich verselbständigt und im Inneren föderalisiert, bis zur Unterzeichnung des Pariser Frie154 Balogh, Arthur: Az erdélyi szellem [Der siebenbürgische Geist] [1941]. In: Ders.: Jogállam és kisebbség [Rechtsstaat und Minderheit]. Hg. v. Ernő Fábián. Bukarest/Kolozsvár 1997, 266–276. 155 Ligeti, Ernő: Noé Galambja. Regény [Die Taube von Noe. Roman]. Budapest 1943. 156 Lengyel, Auf der Suche, 23. 157 Tavaszy, Sándor: Az erdélyi szellem új hajnala [Die Morgendämmerung des siebenbürgischen Geistes] [1940]. In: Üdvözlégy szabadság, 296–298, hier 296. 158 Ebd., 297.
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densvertrages vom Februar 1947 verfolgen. Dieser völkerrechtliche Akt brachte die Region wieder unter eine einzige und ihrerseits vereinheitlichende-zentralisierende Macht, jener des rumänischen Staates.159 Die siebenbürgischen Identitäten erlitten erneut eine Niederlage, welche diesmal wahrlich eine vollkommene, weil zweifache war. Die vom Weltkriegsende bis zum Friedensvertrag im Rahmen der ungarisch-rumänischen Beziehungen verhandelten Lösungsmodelle bewegten sich zwischen „Revision oder Autonomie“.160 Der Transsilvanismus sah nun die Zeit der Kompromisslosigkeit von weder Revision noch Autonomie anbrechen. Dieses Scheitern liefert einen besonderen quellenkundlichen und methodischen Anreiz zu seinem eigenen wissenschaftlichen Verständnis: Je gründlicher die Transsilvanismus-Forschung vorgeht, umso eindringlicher wird ihr vor Augen geführt, dass sie sich mit einer Idee auseinandersetzt, die doppelt gescheitert war.
159 Romsics, Ignác: Az 1947-es párizsi békeszerződés [Der Pariser Friedensvertrag von 1947]. Budapest 2006. Mit Hinweisen auf zeitgenössische Denkschriften zur siebenbürgischen Frage und zur neueren Fachliteratur Lengyel, Betakarítás és kitekintés, 304–305. Siehe ergänzend in der kleinstaatlichen Perspektive einer „Östlichen Schweiz“: Szenczei, László: A ma gyarromán kérdés. Történeti és politikai tanulmány [Die ungarisch-rumänische Frage. Eine historisch-politische Abhandlung]. Budapest 1946, 198. 160 Revízió vagy autonómia? Iratok a magyar-román kapcsolatok történetéről (1945–1947) [Revision oder Autonomie? Akten zur Geschichte der ungarisch-rumänischen Beziehungen (1945– 1947)]. Hg. v. Mihály Fülöp/Gábor Vincze. Budapest 1998.
SINNRÄUME Der Banater Schriftsteller Adam Müller-Guttenbrunn im Umfeld des Ersten Weltkriegs Olivia Spiridon Adam Müller-Guttenbrunn gehört zu den repräsentativsten Vertretern der „donauschwäbischen“1 Eliten, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durch minderheitenpolitisches und kulturelles Engagement Versuche zur Aktivierung einer kollektiven Identität der im Südosten der Donaumonarchie lebenden Deutschen unternahmen. Besonders eine Serie von historischen Romanen MüllerGuttenbrunns, die zwischen 1908 und 1921 erschienen ist und gesellschaftliche Panoramabilder der deutschen Siedlungen seiner Herkunftsregion zeichnet, prägte die schwäbische Selbstwahrnehmung in hohem Maße. Diese hat die GuttenbrunnForschung mit Vorzug im Blickpunkt gehabt, andere Texte des Autors hingegen, vor allem diejenigen, die auf das Kriegsgeschehen Bezug nehmen, sind außer Acht geblieben. Doch gerade die Ausweitung des Blicks auf die von Guttenbrunn während des Ersten Weltkriegs verfassten Texte platziert den Schriftsteller in ein Geflecht von Zusammenhängen, die an diesem Beispiel das Befinden der deutschen Minderheit im östlichen Teil der Donaumonarchie im Umfeld des Ersten Weltkriegs illustrieren. Aussagekräftig ist Adam Müller-Guttenbrunn als Repräsentant eines besonderen Schriftstellertyps. Er ist ein Beispiel für einen Wiener Schriftsteller und gleichzeitig einen deutschen Schriftsteller aus dem südöstlichen Teil der Donaumonarchie, der im Vorfeld, während und nach dem Ersten Weltkrieg in Wien als Publizist, Schriftsteller und Herausgeber tätig war und in dieser Umbruchzeit persönliche Dokumente der Orientierung bzw. der Orientierungslosigkeit und Neuorientierung geliefert hat. Gerade durch seine doppelte schriftstellerische Identität eignet sich Adam Müller-Guttenbrunn als Fallbeispiel. Als österreichischer Schriftsteller und als ungarländisch-deutscher Minderheitenautor machte Guttenbrunn während der Kriegsjahre und in der unmittelbaren Nachkriegszeit in essayistischen, literarischen und Kalendertexten verschiedene Vorschläge bezüglich der für ihn als vertraut empfundenen Lebensräume. Diese in verschiedenen Textsorten dargestellten Zugehörigkeitsräume stehen im Mittelpunkt des Beitrags. 1
Die Bezeichnung „Donauschwaben“ wurde 1922 vom Grazer Geographen Robert Sieger mit dem Ziel eingeführt, die deutschsprachigen Siedler in der Habsburgermonarchie von den Schwaben in Deutschland und den nach Amerika ausgewanderten Schwaben abzugrenzen. Gündisch, Konrad: Einleitung. In: Die Donauschwaben. Deutsche Siedlung in Südosteuropa. Sigmaringen 1987, 21.
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Darunter sind historisch und kulturell sowie auch in der Alltagskommunikation gelebte und menschlich erarbeitete sowie als Einheit konstruierte Räume zu verstehen, die in der differenzierenden und identitätsstiftenden Bezugnahme zum „Anderen“ zusätzlich an Profilschärfe gewinnen. Zugehörigkeitsräume, ob als Satisfaktionsraum, Heimat oder engere Geborgenheitsräume bezeichnet, sind im Zusammenhang mit emotionaler Ortsbezogenheit, Regionalismus, Territorialität, Regionalbewusstsein oder regionale Identität zu sehen und sind allgemein den territorialen Bindungen der Menschen zuzuordnen.2 Diese Form der räumlichen Bezogenheit impliziert – im Unterschied zum kognitiven Aspekt des Raumbewusstseins als Wissen über Raum – emotionale Bindung, personale Identifikation oder einen „aktiven Zugehörigkeitswillen“.3 Zu fragen ist mit den während und nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Texten Guttenbrunns, welche Zugehörigkeitsräume im Verlauf des Krieges präsentiert werden, wie sie sich wandeln, welche Rolle die vorgestellten Räume für die anvisierte Leserschaft spielen und worüber dieser Wandel Aufschluss gibt. Zu beantworten wären ferner auch Fragen nach dem Beitrag seiner Texte am Kriegsdiskurs. Sein Streben nach Beteiligung an den Textfluten ab Kriegsbeginn spiegelt sich in der Quantität seiner Veröffentlichungen wider und wird darüber hinaus auch in der unruhigen Suche nach der geeigneten Textsorte für einen möglichst wirksamen öffentlichen Auftritt sichtbar. Von der ereignisgeschichtlichen Determination losgelöst, werden Guttenbrunns Darstellungen von Zugehörigkeitsräumen sowie seine Überlegungen zur Nachkriegsordnung – wie viele andere Texte dieser Zeit auch – in den Jahren nach Ende des Krieges weiter veröffentlicht. Sie geben Aufschluss über Erfahrungen, Denkmuster und Problemlösungen, die im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg stehen. Die den Kriegsanfang begleitenden propagandistischen Aktivitäten stellen auch am Beispiel Müller-Guttenbrunns die Frage nach dem Stellenwert seiner bereits seit 1914 erscheinenden Kriegstexte im Umfeld der Flut an Propagandaliteratur. Diese Wertung wird vom Umstand erschwert, dass unter diesem Stichwort Texte subsumiert werden, die unterschiedliche Entstehungshintergründe haben und verschiedene Zielsetzungen verfolgen. Wurde vonseiten offizieller Institutionen Propaganda betrieben, erfüllten Äußerungen von Personen – Gedichte, Romane, Vorträge, Predigten – durchaus eine propagandistische Funktion, auch wenn sie spontan entstanden und keine Propagandainstitution Einfluss auf ihren Inhalt genommen hatte.4 Dementsprechend ist die Bewertung von Texten als Propagandaliteratur mit einer Reduktion von im Hintergrund stehenden Motivationen und Erfahrungen verbunden, die auch im Fall eines vom Rande der Donaumonarchie stammenden Schriftstellers zur Vorsicht ermahnt. Im Folgenden werden Adam Müller-Guttenbrunn und seine während und nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichten Texte sowie die Rezeption der verschiede2 3 4
Weichhart, Peter: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kog nition und Identifikation. Stuttgart: Franz Steiner 1990, 5. Ebd., 14–15. Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Hg. v. Klaus Vondung. Göttingen 1980, 14–15.
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nen Textgruppen präsentiert. Anschließend stehen die von ihm zu verschiedenen Zeitpunkten, in unterschiedlichen Kontexten sowie Veröffentlichungszusammenhängen dargestellten Zugehörigkeitsräume im Mittelpunkt des Beitrags und werden aus dem Blickwinkel der hier formulierten Fragen beleuchtet. WIENER SCHRIFTSTELLER UND HEIMATDICHTER – ADAM MÜLLER-GUTTENBRUNNS SELBSTVERSTÄNDNIS ALS AUTOR UND SEINE REZEPTION Adam Müller wurde 1852 im Banat in der Gemeinde Guttenbrunn geboren, ging in Temeswar und möglicherweise im Anschluss in Hermannstadt zur Schule und kam als Lehrling nach Wien. Der Autodidakt Müller-Guttenbrunn war Telegraphen-Beamter und Staatsangestellter in Linz, als er, Mitte zwanzig, erste schriftstellerische Versuche unternahm und nach Wien zurückkehrte. Mit dreißig Jahren betätigte er sich hauptberuflich als Feuilletonist, Theaterkritiker und dramatischer Schriftsteller und war zwischen 1893 und 1903 Direktor zweier Wiener Theaterhäuser.5 Mit einer Ausnahme, als er 1896 in Leipzig den Band Deutsche Kulturbilder aus Ungarn und die Novelle Die Magyarin veröffentlichte, blieb er zwei Drittel seiner Schaffenszeit ein Wiener Autor. Mit Mitte fünfzig wandte er sich der heimatlichen Thematik zu. 1908 veröffentlichte er den politischen Roman Götzendämmerung, der gegenwärtige Zustände in Ungarn beschrieb und in dem er gegen die Entnationalisierung der Schwaben in Ungarn ins Feld zog. 1910 erschien die Erzählung Der kleine Schwab, 1911 der Roman Die Glocken der Heimat. Im gleichen Jahr gab er die Anthologie Schwaben im Osten heraus. 1913, 1916 und 1917 erschienen drei historische Epen Guttenbrunns, zusammengefasst in der Trilogie Von Eugenius bis Josephus. 1918 folgt ein im Banater Dorf spielender Roman, Meister Jakob und seine Kinder, 1919–1921 die Lenau-Trilogie Das Dichterherz seiner Zeit: Sein Vaterhaus (1919), Dämonische Jahre (1920) und Auf der Höhe (1921). Diese Schaffensphase, die in seiner Heimat zuerst nicht wahrgenommen wurde,6 brachte ihm einige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, kurz vor seinem Tod, die meiste Anerkennung. Zu seinem 70. Geburtstag im Oktober 1922 erlebte Guttenbrunn einen Höhepunkt an Ehrungen sowohl in Österreich als auch im Banat. Er erhielt den Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät der Wiener Universität und wurde Ehrenbürger 5
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Petri, Anton Peter: Biografisches Lexikon des Banater Deutschtums. Marquartstein 1992, 1317–1318; Stein, Jakob (Franzfeld): Adam Müller-Guttenbrunns Lebenswerk. In: Adam Müller-Guttenbrunn, der Mensch und sein Werk. Festschrift zum 70. Geburtstag des Dichters am 22. Oktober 1922. Hg. v. der Schriftleitung des Deutschen Volksblattes in Novisad – Neusatz durch Bruno Kremling. Neusatz 1922, 14–15. Wie aus seinem Tagebucheintrag vom Dezember 1907 hervorgeht. Müller-Guttenbrunn, Adam: Der Roman meines Lebens. Aus dem Nachlass zusammengestellt von seinem Sohne. Leipzig 1927, 269. Drei Jahre später, in einem Brief von August 1910 notiert er, dass sich die Lage in seiner Heimat nicht verändert hat. Geier, Luzian: Guttenbrunns Kalender. Der schwäbische Hausfreund, zusammengestellt von Vetter Michel. In: Neue Banater Zeitung. 9.02.1973, 4.
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der Gemeinde Weidling bei Wien, wo er lange Zeit gelebt hatte.7 Der Verein der Banater Schwaben und die donauschwäbische akademische Jugend stellten in Wien zu seinem 70. Geburtstag einen Festzug zusammen. Ein Erinnerungsort im Banat wurde durch die Gründung des Guttenbrunn-Hauses gestiftet, außerdem wurde er zum Ehrenbürger seines Herkunftsortes Guttenbrunn ernannt.8 Neben diesen Erinnerungszeugnissen wurden Adam Müller-Guttenbrunn zahlreiche Studien gewidmet. Die ersten Untersuchungen größeren Umfangs entstanden als Festschriften zu seinem 70. Geburtstag 1922.9 Seine Rezeption erlebte mit dem Erscheinen mehrerer Sonderhefte einen weiteren Höhepunkt 1952 zur 100. Gedenkfeier seiner Geburt,10 weitere Studien von Richard Geehr und Hans Weresch entstanden in den 1970er-Jahren.11 Obwohl sich Guttenbrunn zwei Drittel seiner Schaffenszeit als Wiener Schriftsteller artikulierte, wurde er in erster Linie als dichtender Historiker und Heimatdichter rezipiert: „Er ist ein Dichter-Journalist. Das Werk ist gültige Historie. Aber es ist auch Dichtung – durchströmt von den lebendigen Äderchen des kleinen Lebens und facettiert als spannende Erzählung.“12 Auch in späteren Untersuchungen Guttenbrunns bleibt dieses Rezeptionsmuster unverändert bestehen: „Dieses Buch ist ein Dokument zur Geschichte der Donauschwaben um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Es stellt die Verhältnisse dar, wie sie wirklich waren.“13 Die Wahrnehmung Guttenbrunns legt zudem von der lückenhaften Rezeption seines Werkes Zeugnis ab, die die „Wiener“ Schaffenszeit und besonders seine Schriften zur Zeit des Ersten Weltkriegs meistens ausklammert. Beispielsweise wur den Texte, die direkt auf den Kriegsverlauf Bezug nehmen, von Guttenbrunns Exegeten auch in den zeitnah erschienenen Studien (1921 und 1922) nicht wahrgenommen.14 Erstaunlich ist, dass in der späteren Untersuchung von Nikolaus Britz,15 die sich mit seinem feuilletonistischen und literarischen Werk befasst, die Kriegs7
Weresch, Hans: Adam Müller-Guttenbrunn, sein Leben, Denken und Schaffen. Band 2. Freiburg i. Br. 1975, 430. 8 Ebd., 433, 435, 443. 9 Beispielsweise Gruber, Ferdinand Ernst: Adam Müller-Guttenbrunn, der Erzschwab. Leipzig 1921; Milleker, Felix: Adam Müller-Guttenbrunn. Sein Leben und Dichten. Großbetschkerek 1921; Adam Müller-Guttenbrunn. Der Mensch und sein Werk. Hg. v. Bruno Kremling. Festschrift zum 70. Geburtstag. Neusatz 1922. 10 Zur Gedenkfeier Adam Müller-Guttenbrunns 1852–1952, herausgegeben vom Österreichischen Künstlerbund in Linz; die „Fest-Nummer“ der Südostdeutschen Vierteljahresblätter in München, übrigens der erste, von Hans Diplich betreute Jahrgang der Zeitschrift, die sich mit dem Festjahr Guttenbrunn einen besonderen Auftritt verschaffte. 11 Geehr, Richard: Adam Müller-Guttenbrunn and the Aryan Theater of Vienna: 1898–1903. Göppingen 1973; Weresch, Hans: Adam Müller-Guttenbrunn. Sein Leben, Denken und Schaffen (zwei Bände). Freiburg i. Br. 1975. 12 Kienzl, Hermann (Berlin): Adam Müller-Guttenbrunn in der deutschen Literatur. In: Adam Müller-Guttenbrunn. Der Mensch und sein Werk, 7. 13 Weresch, Müller-Guttenbrunn, Bd. 2, 262. 14 Beispielsweise in den Studien von Gruber, Ferdinand Ernst: Adam Müller-Guttenbrunn, der Erzschwab. Leipzig 1921 oder in: Adam Müller-Guttenbrunn. Hg. v. der Schriftleitung des Deutschen Volksblattes in Novisad – Neusatz durch Bruno Kremling. Neusatz 1922. 15 Britz, Nikolaus: Adam Müller-Guttenbrunn und Niederösterreich. Mattersburg 1982.
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tagebücher komplett außer Acht gelassen wurden. Die umfangreichste Darstellung von Guttenbrunns Leben und Werk lieferte Hans Weresch16, und die im ersten Band abgedruckte Inhaltsangabe des zweiten Bandes lässt zunächst auf eine adäquate Rezeption der Kriegsschriften schließen. Doch das Unterkapitel Bücher und Schriften, die unter dem Einfluss des Ersten Weltkrieges entstanden sind fehlt im zweiten Band. ÜBERSICHT ÜBER DIE WERKE GUTTENBRUNNS IM UMFELD DES ERSTEN WELTKRIEGS Adam Müller-Guttenbrunn verstarb am 5. Januar 1923. Während des Ersten Weltkriegs und auch der Jahre danach bis ungefähr 1921, als er schwer erkrankte, war er schriftstellerisch sehr produktiv. Über zwanzig Bände veröffentlichte er in dieser Zeit. Außerdem hat man es mit verschiedenen Textgattungen zu tun: mit kulturhistorischen und kulturpolitischen Schriften, mit politischen Stellungnahmen, mit den in der Kriegszeit beliebten Tagebüchern, mit fiktional-historischen Werken sowie mit einer aktiven Tätigkeit als Herausgeber und Mitwirkender des Temeswarer Kalenders Der Schwäbische Hausfreund.17 Ein Versuch der Systematisierung seiner Texte ab Kriegsausbruch und bis in die Jahre danach ergibt vier Textgruppen. Erstens handelt es sich um Bände, in denen in Wiener Periodika erschienene Beiträge zusammengefasst wurden: AltWiener Wanderungen und Schilderungen (Wien 1916), Wiener Historien (Konstanz 1917), Deutsche Sorgen in Ungarn. Studien und Bekenntnisse (Wien 1918). In den Kriegsjahren beteiligte er sich außerdem an zwei Sammelbänden: Österreichisches Beschwerdebuch (Konstanz 1915) und Ruhmeshalle deutscher Arbeit in der österreichisch-ungarischen Monarchie (Stuttgart und Berlin 1916). Das Kriegsgeschehen begleitete er zunächst in einem enthusiastischen Aufsatz über das Schicksal der Hauptstadt des Habsburgerreiches: Wien nach dem Kriege, der noch 1914 als Broschüre veröffentlicht wurde und der eine zweite Textgruppe einleitet. Guttenbrunn verfasste in den beiden Folgejahren zwei für die Zeit typische Kriegstagebücher Völkerkrieg! Österreichische Eindrücke und Stimmungen (Graz 1915) und Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen. Eindrücke und Stimmungen aus Österreich-Ungarn (Graz 1916), deren Reihe nach 1916 jedoch nicht weiter fortgesetzt wurde. An Kriegsende nahm er in zwei als Broschüren veröffentlichten Aufsätzen auf die Umgestaltung des östlichen Teils der Donaumonarchie aus der Perspektive des letzten Kriegsjahres Bezug: Deutsch-Ungarische Schulstiftung, veröffentlicht 1918,18 und die Flugschrift Wohin geht Westungarn?, die zuerst ano nym und dann mit Namensangabe erschienen ist (Wien: Verlag des Vereins zur Erhaltung des Deutschtums in Ungarn 1919). 16 Weresch, Müller-Guttenbrunn, sein Leben, Denken und Schaffen. 2. Bde. Freiburg i. Br. 1975. 17 Erschienen in Temeswar 1912–1918, 1921–1923. 18 Deutsch-Ungarische Schulstiftung. 8. Bericht. Hg. v. Adam Müller-Guttenbrunn (Schuljahr 1918–1919), November 1918 (ohne Ortsangabe).
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Zu einer dritten Textgruppe gehören fiktional-historische Erzählungen, deren Reihe nach einer Auszeit von drei Jahren 1916 fortgesetzt wurde: die Trilogie Von Eugenius bis Josephus. Ein deutsches Jahrhundert in Österreich, 1913 mit dem Roman Der große Schwabenzug eingeleitet, mit Barmherziger Kaiser! (Leipzig 1916) und Joseph der Deutsche. Ein Staatsroman (Leipzig 1917) fortgesetzt. Eine Sammlung von Fragmenten aus Romanen und Erzählungen veröffentlichte er 1917 unter dem Titel Deutsches Leben in Ungarn, und 1918 erschien der Roman Meister Jakob und seine Kinder. Zwischen 1919 und 1921 publizierte Guttenbrunn die Trilogie Lenau, das Dichterherz der Zeit. Eine Romandreiheit, wie auch alle seine historisch-fiktionalen Werke, bei L. Staackmann in Leipzig. Schließlich wäre Adam Müller-Guttenbrunn als Kalendertextautor und Kalenderherausgeber zu erwähnen. Im Temeswarer Kalender Der Schwäbische Hausfreund, den Guttenbrunn zwischen 1912 und mit einer Pause in den ersten Nachkriegsjahren bis 1923 herausgab, erleben wir den Autor in seinem Bestreben, ein überwiegend ländliches Publikum mit Informations- und Lesestoff zu versorgen. 1914–1916: FRÜHE TEXTE MIT KRIEGSBEZUG Die drei ab 1914 und bis 1916 erschienenen Texte mit direktem Bezug auf den Krieg, der Vortrag Wien nach dem Kriege sowie die Sammelbände Völkerkrieg! Österreichische Eindrücke und Stimmungen (Graz 1915) und Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen. Eindrücke und Stimmungen aus Österreich-Ungarn (Graz 1916) sind bezeichnend für die Begeisterung, mit der Guttenbrunn den Kriegsausbruch begrüßte. Im Fall des 27 Seiten-Bändchens Wien nach dem Kriege handelt es sich um einen Vortrag, den Guttenbrunn am 9. Dezember 1914 im Niederösterreichischen Gewerbeverein gehalten hat und in dem der Krieg als Impuls zur Neugestaltung europäischer städtischer Zentren diskutiert wird. Der im Grazer Verlag von Ulrich Moser herausgegebene Band Völkerkrieg! Österreichische Eindrücke und Stimmungen sammelt 23 Aufsätze Guttenbrunns, die der Kriegschronologie folgen und gleichzeitig verschiedene Themen aufgreifen: Der Mord in Sarajewo, Idyllische Feldpostbriefe, Kriegs-Weihnacht usw. Der ein Jahr später erschienene Band Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen. Eindrücke und Stimmungen aus Österreich-Ungarn kann trotz des flotten Berichtstons über eingetretene Ernüchterungsmomente nicht hinwegtäuschen. Er enthält über fünfzig Aufsätze, die Kriegsgeschehen, aber vor allem den Alltag der zivilen Bevölkerung im Blickfeld behalten. Der kriegsbegeisterte Ton Guttenbrunns mündet in die Flut von Texten, die neben dem Krieg auf den Schlachtfeldern einen „papierenen Krieg“ lieferten und die ins Kriegsgeschehen einen höheren Sinn hineininterpretierten. Die Intellektuellenschar an den verschiedenen Fronten begleitete ihre jeweiligen staatlichen Entscheidungsträger mit einem zustimmenden Chor, überschlugen sich in patriotischen Tiraden und fühlten sich angesichts des ihnen großzügig zur Verfügung gestellten Publikationsraums über Nacht ermächtigt. Der Krieg verlor an allen Textfronten
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„in den Deutungen bald gänzlich seinen Ereignischarakter“.19 Es herrschte Begeisterung, weil „ein bewaffneter Konflikt um hohe Ideale“ ausgebrochen war. Etwa 50.000 Gedichte wurden pro Tag an Zeitungen und Zeitschriften eingesandt. 200 Lyrikbände wurden bis Ende 1914 veröffentlicht.20 Zurückhaltende, begeisterungsunfähige Intellektuelle stellten angesichts der Welle an Essays, Reden, Predigten, Broschüren und umfangreicheren Traktaten eher die Ausnahme dar. Sehr wenige Künstler hielten sich von „Orgien patriotischer Fleißaufgaben“ fern: „Ganz Österreich hatte sich im August 1914 an Deutschland angeschlossen und feierte überschwänglich die sogenannte große Zeit. […] Man drängte sich dazu, andere für das Vaterland sterben zu lassen, während man selbst Protektion suchte, um im Hinterland Stimmung für den Krieg zu machen. […] All diese Gedichte, Aufsätze, Flugschriften, Appelle sind unverdienter Vergessenheit anheimgefallen. Eine Sammlung von Gräueln des patriotischen Kunstgewerbes 1914–1918“, die nicht in Vergessenheit geraten sollten.21 In den kriegsbegleitenden Bänden Müller-Guttenbrunns, Völkerkrieg und Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen, finden sich häufig Beispiele für kriegsbezogene patriotische Affirmationsarbeit. Er kommentiert beispielsweise die Briefe seiner Söhne von der Front in einem auf den 3. Jänner 1915 datierten Eintrag: „Nun kommen die Berichte aus dem Felde über die Weihnachts- und Neujahrsfeier. Sie sind erhebend. […] Die Geschütze wurden vor Zwölf geladen“, die Musikkapelle spielte das „Gott erhalte“. „Dann spielte die Kapelle das Gebet vor der Schlacht. Und jetzt gaben die großen Mörser den gewaltigen Takt zu dieser Musik. In wildem Feuer erstrahlte der Himmel, die Erde zitterte, die Eisdecke der Nida krachte und die Feinde gegenüber haben sich in ihre Eislöcher verkrochen, um diesen Donner, diesen Jubel einer unerschütterlichen Siegeszuversicht nicht zu vernehmen.“ (7) Doch die Darstellung des Krieges bleibt nicht ohne Widersprüche. Zu einer differenzierteren Betrachtung Guttenbrunns muss auch auf seine Warnungen bezüglich der maßlosen „Verrohung“ in den Medien der Zeit hingewiesen werden, die ihn als einen nüchternen Medienanalysten ausweisen: „Seitdem Zeitungen gedruckt werden, sind sie nicht in so niedriger Weise missbraucht worden wie während dieses Krieges.“22 Dabei zitiert er die „beispiellose“ Aggressivität in Wort und Bild (in Form von Karikaturen) aus der englischen, französischen, belgischen und auch amerikanischen Presse23, führt aber auch ein deutsches Beispiel an. Er bezieht sich auf ein „bestialisches Dokument“, das die Saale-Zeitung in Halle ver19
Hüppauf, Bernd: Kriegsdeutungen. In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Aktualisierte und erweiterte Studienausgabe. Hg. v. Gerhard Hirschfeld/Gerd Krummeich/Irina Renz. Paderborn u. a. 2009, 632–635, 633. 20 Ebd., 635–637, 636–637. Hüppauf zitiert hier die Einschätzung von Julius Bab. 21 Weigel, Hans: Auch das war vorgestern. Bestandsaufnahme literarischer Kriegspropaganda in der österreichisch-ungarischen Monarchie und im Deutschen Reich 1914–1918. In: Hans Weigel/Walter Lukan/ Max D. Peyfuss: Jeder Schuss ein Russ’ jeder Stoss ein Franzos. Literarische und graphische Kriegspropaganda in Deutschland und Österreich 1914–1918. Wien 1983, 5–31, 5. 22 Müller-Guttenbrunn, Völkerkrieg! Österreichische Eindrücke und Stimmungen. Allerlei Kriegsmomente. Graz 1915, 69. 23 Ebd., 68.
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öffentlicht hat: „Als große Geschmacklosigkeit in der künstlerischen Ausnützung des Krieges empfinde ich die jetzt gangbare Ankündigung eines Liedes, das den Titel führt: ‚Jeder Schuss – ein Russ!‘ Man kann es sich nicht recht vorstellen, dass es irgendwo ein Publikum geben sollte, das sich den musikalischen Vortrag eines solchen Liedes gefallen ließe.“ Der Titel „ist eine der entsetzlichsten Rohheiten, für die jemals eine Singweise gesucht wurde. […] den Brettldichtern muss man zurufen: Hände weg!“24 Für Guttenbrunn scheint der Krieg insofern „herrlich“25 zu sein, als er ein radikales Mittel der Verteidigung Mitteleuropas als Wertegemeinschaft darstellt. Dieses Ideal, das er als Vertreter der deutschen Minderheit im ungarischen Teil der Monarchie für legitim und moralisch richtig betrachtet, sieht er mit der massenmobilisierenden hasserfüllten Propaganda in Reim, Rhythmus oder den kriegszelebrierenden Tiraden als nicht vereinbar. Seine erste Priorität ist, der Entstehung von Frontlinien und neuen Grenzen inmitten historisch gewachsener Zugehörigkeitsräume diskursiv entgegenzuwirken. Der ihm gut bekannte, durch ethnische und sprachliche Diversität sich kennzeichnende südöstliche Teil der Monarchie, zu dem auch die Siedlungsgebiete der Deutschen gehören, ist mit dem Bild eindeutiger Freund-Feind-Fronten aus der Perspektive gefestigter Konstruktionen von homogenen Nationalstaaten nicht zu vereinbaren. Guttenbrunn spricht die prekäre Grenzlage des Minderheitlers an und signalisiert die Bedrohung der Siedlungsräume der Deutschen durch den Krieg. Die Texte, in denen sich Guttenbrunn in den Jahren 1914–16 dem Krieg direkt widmet, präsentieren Lösungsvorschläge für im Rahmen der Habsburgermonarchie „lebensfähige“ Räume im Südosten Europas. In diesen Texten werden Strategien sichtbar, die auf die Vorbeugung möglicher Risse im als Einheit imaginierten Raum abzielen. Dazu gehört die Neupositionierung Wiens in einer Nachkriegsordnung, die er im Vortrag Wien nach dem Kriege zeichnet. Dafür begibt er sich in den Bereich des Kulturellen. Vor dem Hintergrund verbesserter Veröffentlichungsbedingungen auf einem gemeinsamen Büchermarkt Deutschlands und Österreichs für „belletristische Schriftsteller“, argumentiert Guttenbrunn für die Wiederherstellung des gemeinsamen kulturellen Zugehörigkeitsraums des – wie er es formuliert – „Großdeutschtums“: Einerseits hebt er die Einheit im Kulturellen hervor, andererseits bringt er jedoch auch Formen der wirtschaftlichen und politischen Vereinheitlichung ins Gespräch: „Nicht der politische Gedanke des Großdeutschtums, aber der einer kulturellen und wirtschaftlichen Gemeinschaft dürfte wieder aufleben nach diesem Kriege […].“26 Allerdings bleibt die Konzeption einer kulturellen und wirtschaftlichen Annäherung recht unscharf, denn wenige Seiten später beschreibt er eine Gemeinschaft „in allen kulturellen Angelegenheiten“, die allerdings einer Militär- und Zollgemeinschaft mit dem Deutschen Reich folgen soll.27 Die Vorstellung dieses großdeutschen Raums hat man sich in der Gedankenfolge Guttenbrunns als 24 25 26 27
Ebd., 67. Müller-Guttenbrunn, Völkerkrieg, Schlag auf Schlag, 53. Ders., Wien nach dem Kriege. Vortrag gehalten im Niederösterreichischen Gewerbeverein. Wien 1914, 3. Ebd., 14.
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Föderation zu denken, es handelt sich um eine „Kulturgemeinschaft mit dem Deutschen Reiche“, die so gestaltet werden soll, „als ob wir nicht bloß ein mit Deutschland verbündeter, sondern ein deutscher Bundesstaat wären“.28 Auch im Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen sieht er den „großen Völkerkrieg“ als Chance für eine Annäherung des Deutschen Reichs und der Donaumonarchie.29 In Wien nach dem Kriege interpretiert er den Krieg als Überwindung des Momentes Königgrätz, als der nationale Gedanke in der Form der kleindeutschen Lösung das Deutsche Reich von Österreich distanzierte. Mit erheblichen Konsequenzen: In diesem nun wiederhergestellten Raum würde Wien „das deutsche Paris“30 werden. Neben dem „jungen“ Berlin, der „herrlichen Hauptstadt des Deutschen Reiches“, würde Wien die „alte“, altehrwürdige, „die süddeutsche Hauptstadt des deutschen Volkes“ darstellen.31 Politisches und damit im Zusammenhang stehende Kulturpolitik knüpft Guttenbrunn – auch angesichts seines Publikums aus dem österreichischen Gewerbeverein – in seinem Vortrag an Wirtschaftsinteressen, wie beispielsweise von privater Hand betreute touristische Initiativen in einem nach dem Krieg ins Zentrum Europas gerückte Wien. Die Argumentation hinsichtlich der Neupositionierung Wiens in Europa erfolgt gleichzeitig mit der Konstruktion des Habsburgerraums als Ort des guten Lebens. Zu seinen Werten gehören Kultur, Sitte, Alter bzw. alte Geschichte sowie wirtschaftliche Leistung, für die es sich zu kämpfen lohne. Zu seinen herausragenden Eigenschaften gehört die Toleranz der Mitte gegenüber der ethnischen und kulturellen Vielfalt der Ränder. Die Schönheit Wiens sieht er in seiner menschlichen Vielfalt. Diese wird nicht etwa in einem Völkermuseum konserviert und ausgestellt, sondern sie wird in der Hauptstadt der Monarchie gelebt, „denn es ist ein Museum der lebenden Völker Österreichs“. „Wer erinnert sich nicht an den letzten Wiener Festzug und namentlich an dessen zweiten Teil, den Aufzug sämtlicher Völker der Monarchie […] Das war das große, farbige Österreich, das so viele Kulturen in sich vereinigt und so viele noch entwicklungsfähige Nationen.“32 Das Bild des toleranten Wien konfiguriert er als Gegensatz zu Ungarn, das er als intolerant darstellt, und führt als Beweis den Bau einer Moschee in Wien an: „ein halbes Jahrtausend musste vergehen, ehe das möglich war“.33 In der Argumentation Guttenbrunns addiert sich zu dem Respekt des Zentrums gegenüber seinen Rändern auch deren Chance, die Mitte als Ort nicht nur ihrer Repräsentation, sondern auch des wirklichen Lebens zu wählen, zusätzlich das Vertrauen des politischen und kulturellen Zentrums Wien gegenüber „seinen Völkern“. Damit wird der Mord des Kronprinzen als historischer Betriebsunfall präsentiert, was keine Zweifel über die Lebensfähigkeit des Vielvölkerstaates aufkommen lässt. Seiner Beweisführung dienen Beobachtungen 28 29 30 31 32 33
Ebd., 15. Müller-Guttenbrunn, Adam: Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen. Eindrücke und Stimmungen aus Österreich-Ungarn. Idyllische Feldpostbriefe. Graz 1916, 87–91. Ders., Wien nach dem Kriege, 3. Ebd., 26. Ebd., 20. Müller-Guttenbrunn, Österreichisches Beschwerdebuch. Zeitbücher, Band 30. Konstanz 1915, 63.
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im Wien der ersten Kriegsmonate, er ruft Alltagsszenen aus der Hauptstadt ab, die das Aufleben des Vielvölkerstaates in den Vordergrund rücken. Guttenbrunn hört den „slawischen Gesang“ vorbeiziehender Bataillone, kriegsbereite junge Männer“, die Weihnachtslieder auf Tschechisch singen34, beschreibt bosnische Soldaten „mit ihrem roten Fez auf dem Kopf“35, die Orte von strategischer Wichtigkeit in Wien bewachen: „Verrät es nicht das große Selbstvertrauen des Staates, wenn er in solcher Zeit einem bosnischen Regiment nicht nur die Wache in der Wiener Hofburg, sondern auch das wichtigste Brückenviertel der ganzen Monarchie anheimgibt? Das wird eine gute moralische Wirkung auf diese Truppen ausüben.“36 Den Krieg betrachtet er in diesem Zusammenhang als Katalysator für den inneren Zusammenhalt der Monarchie: „Wie ein Magnetberg zieht Wien alles, was zu ihm gehört, an, man kann nicht fernbleiben, man will mitfühlen und will mitschwingen in dem großen Zauberkreis, der uns heute alle umschließt und wieder zu einem Volke von Brüdern gemacht hat. Nichts ist schöner als solch ein Gesamtgefühl, solch ein Gesamtwille.“37 Stilistisch wird der Eindruck des nicht teilbaren Ganzen durch die Darstellung der Monarchie als Organismus sichtbar. Sie ist „das Herz der alten Welt“38, „der Blutkreislauf der ganzen Monarchie ist ungestört“39, „im kleinsten Ort zittert […] der Nerv des Reiches“40. Um den Rückhalt des Kriegs in der Bevölkerung auszudrücken, werden „schwere Zeichen“ gesetzt, indem Blut ins Spiel gebracht wird: „Das ganze Volk führt diesen Krieg, unser aller Blut steht draußen in Not und Tod und Siegeszuversicht.“41 Als lebendiger Organismus personifiziert, wird die Monarchie zum Adressaten der Sprechinstanz: „So frohgemut wie am ersten Tage erklingen die Lieder im dreizehnten Monat dieses Krieges. Lieb Vaterland, magst ruhig sein!“42 Zusätzlichen Rückhalt über den inneren Zusammenhalt der Habsburgermonarchie verschafft der Rückgriff auf den Bündnispartner Bismarck, der sein Vertrauen über die Lebensfähigkeit des Habsburgerreiches zum Ausdruck bringt. „Ja, das Wort des Fürsten Bismarck gilt in vollem Umfang: ‚Wenn Kaiser Franz Joseph zu Pferde steigt, folgen ihm alle seine Völker.‘ Der Eiserne Kanzler kannte unsere Monarchie und ihre Kraftquellen besser als wir selber.“43 Guttenbrunn plädiert für einen zusammenhängenden mitteleuropäischen Kulturraum unter der Federführung Österreichs und des Deutschen Reichs, der die nationale Vielfalt – er greift auf die Begriffe „Nationen“ und manchmal auch „Nationalitäten“ zurück – nicht übersieht, sondern die Differenz und Vielfalt pflegt. Guttenbrunns unrühmliche Kriegsverherrlichung ist im Zusammenhang mit der Verteidigung eines Zugehörigkeitsraums zu sehen, die wichtige Punkte seines kul34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Ders., Völkerkrieg, Daheim und im Felde, 44. Ebd., Zwischenspiel I., 31. Ebd. Ebd., Mobilisierung in der Sommerfrische, 22. Ebd., Was ist ein Weltkrieg?, 40. Ebd., Kriegs-Weihnacht, 116. Ebd., Mobilisierung in der Sommerfrische, Der Mord in Sarajewo, 25. Ders., Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen, 6. Müller-Guttenbrunn, Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen, Kriegslieder, 203. Ders., Völkerkrieg, Mobilisierung in der Sommerfrische, 26.
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turpolitischen Engagements als Repräsentant der deutschen Minderheit im südöstlichen Europa enthält. Er sieht im Krieg die Chance zum weiteren Bestehen eines Territoriums, das er als Wiedergeburt des Heiligen Römischen Reiches beschreibt und in welchem zwei Jahrhunderte zuvor durch die Migration der sogenannten „Schwaben“ von West nach Ost deutsche Siedlungsgebiete entstanden. Als Garantie ihrer freien Entfaltung betrachtet er die Verteidigung der staatlichen Ordnung Mitteleuropas aus der Vorkriegszeit als sinnvoll. WENDEZEIT Im 1916 erschienenen Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen macht Guttenbrunn immer öfter einen müden Eindruck, er ist ernüchtert und desillusioniert. Die Aufsätze des Bandes führen durch die täglichen Höhen und Tiefen des Krieges, die in Wien in Form von Lebensmittelknappheit und Inflation zu spüren sind. Lebensmittelmangel und Teuerung finden immer öfter den Weg in seine Berichterstattung. Im Aufsatz Was kostet der Weltkrieg? vom 18. Juli 1915 zweifelt er an der Epoche des Aufschwungs, die einem Krieg folgen soll. „Werden die Millionen bienenfleißiger Arbeitshände, die der Menschheit abgeschlagen worden sind, nicht an allen Ecken und Enden fehlen?“ Auch die Lahmlegung der demokratischen politischen Praxis und die Zensur scheinen ihn nach dem anfänglichen Kriegsenthusiasmus immer mehr zu bedrängen: „Unser öffentliches Leben schweigt“, heißt es in einem Bericht vom 5. Februar 1915, Wien im siebenten Kriegsmonat, „kein Reichstag, kein Landtag versammelt sich, aus der Gemeindestube ist alle Politik verbannt, und die Presse hat einen Knebel zwischen ihren Zähnen.“ Er berichtet von Protestaktionen seitens der Zeitungen, die die Einschränkung der Zensur auf die militärischen Angelegenheiten fordert und „die Freigabe der Kritik in allen anderen Belangen“ verlangt.44 Der lange Kriegsverlauf hat Müller-Guttenbrunn zermürbt. Nachdem er sich 1914 und 1915 als österreichischer Schriftsteller artikuliert hat, führt er die Serie der Tagebücher nicht mehr fort und nimmt nach drei Jahren Auszeit erneut heimatlich-schwäbische Themen in Angriff. Es erscheint der zweite Teil der Trilogie Von Eugenus bis Josephus, der Roman Barmherziger Kaiser (1916), ein Jahr später der dritte Teil, Joseph der Deutsche – der erste Teil der Trilogie, Der große Schwabenzug, ist bereits 1913 veröffentlicht worden.
44 Die Einschätzung des Kriegsverlaufs sagt er in seinen später veröffentlichten Tagebuchnotizen vom Dezember 1915 zumindest in einigen Datierungsfragen mit erstaunlicher Präzision voraus: „Dieser erste punische Krieg führt keinesfalls zum Ziel. Man unterschätzt England. Man hat sich gegenseitig unterschätzt und wird sich besser vorsehen für den zweiten – in dreißig Jahren.“ Müller-Guttenbrunn, Adam, Roman meines Lebens, 279.
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DER FIKTIONALE HISTORIENSCHREIBER GUTTENBRUNN Die Darstellung der Deutschen seit ihrer Ansiedlung in Ungarn im 18. Jahrhundert in der Form des historischen Romans ist auf ein Geflecht von Interessen, Beziehungen und Kontexten zurückzuführen, in dem Guttenbrunn im Vorfeld des Ersten Weltkriegs zu betrachten ist und auch außerhalb dieses Fallbeispiels Aussagekraft für die Epoche hat. Guttenbrunns Annäherung zum historischen Roman vollzieht sich in einer Zeit, in der Geschichtsstoffe beim Lesepublikum nachgefragt waren und sich die fiktionalen Erzähler als Geschichtsschreiber betätigten, indem sie breit angelegte historische Fresken imaginierten und mit historisierenden, in Quellen nicht auffindbaren Details ausstatteten. Sie handelten aus dem Bewusstsein heraus, dass die Kompetenzen des narrativen Historikers und des Autors historischer Romane ineinanderfließen. Diese Verflechtung von Geschichte und Geschichten ist auf die Auffassung vom Erzählen vergangener Ereignisse als „Erzählkunst“ und „Geschichtskunst“ zurückzuführen und war von langer Dauer – symptomatisch ist in diesem Zusammenhang die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an einen Historiker, an Theodor Mommsen im Jahr 1902.45 Außerdem pflegte Guttenbrunn enge Beziehungen zu Historikern wie Raimund Friedrich Kaindl und Johann Heinrich Schwicker, die kulturpolitisch engagiert waren, wie Kaindl selbst bezeugt.46 Er interessierte sich für das historische Dokument, was anhand der riesigen Mengen an hinterlassenen Notizen sichtbar ist, mit denen er seine historischen Romane vorbereitete.47 Diese von Guttenbrunn recherchierten Bausteine migrierten aus dem Genre Roman in den Feuilletontext und umgekehrt, wie man anhand der historisch-fiktionalen Texte48 und einzelner Beiträge 45 46
Hinck, Walter: Geschichtsdichtung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, 14. Kaindl, Raimund Friedrich: Mein wertvollstes Buch. In: Adam Müller-Guttenbrunn. Der Mensch und sein Werk. Festschrift zum 70. Geburtstag. Hg. v. der Schriftleitung des Deutschen Volksblattes in Novisad – Neusatz durch Bruno Kremling. Neusatz 1922, 22. 47 Weresch, Müller-Guttenbrunn, Band 2, 215–216 und 251. Weresch macht eine Aufstellung der Werke, die Guttenbrunn als Quelle nutzte und woraus er sich Notizen machte: Prinz Eugen von Savoyen (Wien 1858), Böhm: Geschichte des Temeser Banats (Leipzig 1861), Brilmayer: Rheinhessen in Vergangenheit und Gegenwart (Gießen 1905), Ezörnig: Ethnographie der Österreichischen Monarchie (Wien, 1857), Griselini: Versuch einer politischen und natürlichen Geschichte des Temeswarer Banats (Wien 1780), Haensser: Geschichte der rheinischen Pfalz (Heidelberg 1845), Hauser: Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg (Leipzig 1862), Kaindl: Geschichte der Deutschen in den Karpatenländern (Gotha 1911) und Geschichte der Deutschen in Ungarn (Gotha 1912), V. Löher: Vom Sprach- und Völkerstreit in Ungarn (Augsburg 1973), Lorenz und Scherer: Geschichte des Elsasses (Berlin 1872), Schwicker: Die Deutschen in Ungarn und Siebenbürgen (Wien 1881). Außerdem recherchierte er in den Jahren 1910–1920 im Wiener Hofkammerarchiv, im Wiener Kriegsarchiv und im Wiener Haus-, Hof und Staatsarchiv nach Urkunden über die Besiedlung des Banats, der Batschka und der Schwäbischen Türkei. 48 Beim Titel des Romans Barmherziger Kaiser handele es sich um eine Formulierung aus einer authentischen Bittschrift eines leibeigenen Bauern an Joseph II., notiert der Historiker Kaindl in einer Darstellung Guttenbrunns. Des Weiteren berichtet Kaindl, wie Guttenbrunn nach aus-
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Guttenbrunns aus den Bänden Österreichisches Beschwerdebuch (Konstanz 1915), Alt-Wiener Wanderungen und Schilderungen (Wien 1916), Ruhmeshalle deutscher Arbeit in der österreichisch-ungarischen Monarchie (Stuttgart und Berlin 1916) oder Deutsche Sorgen in Ungarn (Wien 1918) nachvollziehen kann. In den Jahren 1906–1907 stieß der in Wien literarisch und publizistisch tätige Guttenbrunn zu den Kreisen völkisch gesonnener und kulturpolitisch aktiver deutscher Minderheitenpolitiker wie Edmund Steinacker, der, nachdem er 1888/92 aus Parlament und Handelskammer verdrängt worden war, nach Wien umsiedelte. Seit 1898/99 hatte Steinacker Kontakt zum Alldeutschen Verband und schon vorher zum Deutschen Schulverein.49 Im Juni-Juli 1911 notierte Guttenbrunn in seinem Tagebuch, dass er sich an die Spitze des Deutsch-ungarischen Kulturrates stellen ließ. Der Kulturrat, zu dem die Deutsch-ungarische Schulstiftung gehörte, vergab Stipendien mit dem Ziel der Schaffung einer schwäbischen Elite.50 Zudem unterhielt er auch Beziehungen zu den Alldeutschen.51 Darüber hinaus ist Guttenbrunns anti-ungarische Haltung bekannt, die auch in die während des Krieges verfassten historischen Romane hineinfließt. Guttenbrunns Konflikte mit den ungarischen Behörden entfachten beim Erscheinen des politischen Romans Götzendämmerung, der zuerst 1907 anonym erschienen ist und in dem er die Rücksichtslosigkeit Budapests gegenüber der deutschen Minderheit aus dem Südosten der Monarchie ins Zentrum der Kritik rückt.52 Nach einer kurzen Zeit des Burgfriedens mit dem ungarischen Staat in den ersten beiden Kriegsjahren macht Guttenbrunn in Essays und Publizistik seinem Unbehagen wegen des Umgangs mit Minderheiten in Ungarn erneut Luft.53 Wie auch aus den folgenden Ausführungen über die Vorstellung von Zugehörigkeitsräumen in seinen historischen Romanen hervorgeht, kommt die Rolle Ungarns, auch wenn indirekt, zur Sprache. In seinem Tagebuch begründete er die Hinwendung zu historischen Stoffen auch mit dem Versuch, der Zensur zu entkommen, und weist sie als Möglichkeit der sagekräftigen Dokumenten Ausschau hielt und sie in seine Texte einwob: Vorgänge bei der Ansiedlung, „was jeder Kolonist erhielt, die Vorschrift über den Häuserbau, die Mitteilung über die Geräte und den Preis“, ist „den Urkunden entnommen“, so Kaindl. „Noch mehr! Wenn die alte Elisabetha Plessin an ihre Kinder schreibt, so ist der herzrührende Brief durchaus keine freie Erfindung des Dichters, sondern er hat dafür auch einen echten Brief verwendet, den ich mit anderen bei unseren schwäbischen Brüdern in Galizien gefunden habe.“ Kaindl, Raimund Friedrich: Mein wertvollstes Buch. In: Adam Müller-Guttenbrunn, der Mensch und sein Werk, 22. 49 Schödl, Günter: Am Rande des Reiches, am Rande der Nation: Deutsche im Königreich Ungarn (1867–1914/18). In: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land an der Donau. Hg. von Günter Schödl. Berlin 1995, 399. 50 Müller-Guttenbrunn, Roman meines Lebens, 278. 51 Hering, Rainer: Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939. Hamburg 2003, 255. 52 In einem Tagebucheintrag nach Erscheinen des Romans Götzendämmerung im Jahr 1907 erwähnt er den in Ungarn durch das Buch ausgelösten Skandal, aber auch seine positive Aufnahme durch den Thronfolger in Österreich. Müller-Guttenbrunn, Roman meines Lebens, 269. 53 Beispielsweise im Aufsatz Die Schwaben in Südungarn aus dem Band Ruhmeshalle deutscher Arbeit in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Stuttgart und Berlin 1916, 242–253.
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Flucht aus der Wirklichkeit aus. Im Juli 1916 notiert er: „Ich arbeite, und das heißt, ich flüchte aus der Gegenwart. Diese zu behandeln ist fast unmöglich. Die Zensur schnappt jedes wahre Wort. Ist das Geschichte? Was gilt die Überlieferung?“54 In den Romanen Götzendämmerung und Glocken der Heimat sowie in der Erzählung Der kleine Schwab befasst sich Guttenbrunn mit der bis in die Erzählgegenwart gültige Lage der Deutschen in Ungarn. Den Fragen, wie und wann die Schwaben ins Banat, in die Batschka und in die Schwäbische Türkei kamen, geht er in der Romantrilogie Von Eugenius bis Josephus (1913–1917) nach. Darin präsentiert er Ereignisse um die ersten Auswanderergenerationen ab 1720 bis zum Tod Josephs II. 1790. Haupt- und Nebenhandlungen führen den Leser in die Kreise großer Politik, an den Wiener Hof, nach Budapest, Pressburg und bis nach Temeswar. Ein an Alltagsgeschehen interessierter Erzähler führt auch ins Milieu kleiner Leute, die nach Anwerben durch kaiserliche Kommissare den Entschluss zur Auswanderung fassen. Dargestellt wird die staatliche Planungs- und Investitionsarbeit hinsichtlich der Akkumulation an Bildungskapital und an wirtschaftlicher Leistung durch die Einwanderung von Fachleuten aus West nach Ost, sodass ein durch das Heilige Römische Reich zusammengehaltener Raum dargestellt wird, der von zahlreichen Kommunikationskanälen durchzogen ist. Die Wanderung durch riesige Gebiete erfolgt über Verkehrsknotenpunkte und Verkehrswege – über Ulm, Regensburg, die Donau bis nach Ungarn. Der Entwurf von breit angelegten Zugehörigkeitsräumen in den historischen Romanen Guttenbrunns wird zusätzlich durch die Übernahme von Textfragmenten in den von ihm in Temeswar herausgegebenen Kalender Der schwäbische Hausfreund im Banat bekannt gemacht. Auffallend ist dabei die Sorgfalt bei der Selektion von Fragmenten, die selbstständige narrative Einheiten bilden. 1917 publizierte er ein Fragment aus dem Roman Barmherziger Kaiser unter dem Titel Gäste aus dem Banat55 und 1918 ein Fragment aus Joseph der Deutsche unter dem Titel Wandlungen im Banat56. Es scheint Guttenbrunns Strategie zu sein, Herzstücke aus aktuell erschienenen Romanen im Schwäbischen Hausfreund zu veröffentlichen und dem ländlichen Publikum näher zu bringen. Dabei wurden die Romanfragmente so ausgewählt, dass sie einen regionalen Bezug aufwiesen und die Textlänge die Lesegewohnheiten der anvisierten bäuerlichen Leserschaft berücksichtigten. Bereits die Titelwahl von Guttenbrunns Kalender – Der schwäbische Hausfreund – weist auf Johann Peter Hebels Rheinländischen Hausfreund hin, und wie dieser versuchte Guttenbrunn den Textteil seines Kalenders um lehrreiche Geschichten zu erweitern. In seinem Tagebuch schreibt Guttenbrunn von den vorbereitenden Arbeiten an einem Kalender „für die Schwaben, für den der Verein für das Deutschtum im Ausland die Mittel bewilligt hat“. Dabei sieht er sich in einer aufklärenden Funktion als Vermittler von historischem Wissen, aber auch im Dienst der Sprachpflege unter den magyarisierten Schwaben: „Aber was man gern
54 Müller-Guttenbrunn, Roman meines Lebens, 299. 55 Der schwäbische Hausfreund, Jg. 6 (1917), 32–37. 56 Ebd., 36–40.
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tut, dafür findet sich auch Zeit, und seitdem die Jugend in Ungarn kein deutsches Lesebuch mehr in die Hände bekommt, ist solch ein Jahrbuch dringend nötig.“57 Das 1917 im Schwäbischen Hausfreund abgedruckte Fragment Gäste aus dem Banat präsentiert eine der Schlüsselgestalten des Romans, Theresia Pleß, die allerdings bereits aus dem ersten Roman der Trilogie Der große Schwabenzug bekannt ist, wo sie aus Blaubeuren bei Ulm ins Banat zieht. In Barmherziger Kaiser ist sie inzwischen erfolgreiche Wirtin in Temeswar und eine Wandlerin zwischen westund osteuropäischen Welten. Der auktoriale Erzähler bleibt über weite Strecken in ihrer Nähe, jedoch durch Rückblenden und Gegenwartsaufnahmen vor ständig wechselnden Kulissen und in immer neuen Kontexten: während des Aufenthaltes in Wien, im Banater Alltag, in ihren Anfangszeiten in Temeswar, in der Nähe von politischen Größen der Zeit. Die Wirtin beobachtet während ihres Aufenthaltes in der Hauptstadt die sich intensivierenden wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Banat und dem Zentrum der Monarchie – bezeichnenderweise wird jedoch der ungarische Raum dabei völlig ausgeklammert. In ihre Nähe rücken historische Persönlichkeiten, auf deren Bekanntschaft sie großen Wert legt und die sie als „anspruchsvolle Gäste“ aus Wien in ihrem Temeswarer Gasthof erwähnt. (32) Durch die dynamische Erzählperspektive, durch Mittel der Zeitraffung, der Glättung und Tilgung von Lücken wird hier die Lebensgeschichte der Theresia Pleß über breite Räume und als verbindendes Element zwischen West und Ost, die durch Geschichte, Wirtschaftsgeschichte, aber auch durch beispielhafte Biographien als Einheit dargestellt werden. Der dargestellten Zeit und dem Raum wird durch Fiktionalisierung Leben eingehaucht. Die von Hans Robert Jauss erarbeiteten fiktionalen Mittel in narrativen Geschichtstexten am Beispiel Leopold von Ranke und von Johann Peter Hebels Kalenderhistorographie58 führen diesen zu dem Schluss, dass fremde Welten dank der erschließenden Kraft der Fiktion besser verstehbar und kommunizierbar gemacht werden, und er spricht daher von der kommunikativen und kognitiven Funktion der Fiktion. Fiktionale Mittel unterstützen die Rekonstruktion und Vermittlung einer geschichtlichen Tatsache. Zu den wichtigsten zählt Jauss die Illusion des vollständigen Verlaufs, die Tilgung faktischer Lücken und überschüssiger Details, die Illusion eines in sich vollkommenen Ganzen, die Illusion des ersten Anfangs und des definierten Endes und die Illusion eines objektiven Bildes der Vergangenheit.59 Diese lassen sich auch anhand der von Guttenbrunn für seinen Kalender ausgewählten Fragmente veranschaulichen. Guttenbrunn optimiert die realistische Wirkung seiner historischen Romane, wie am Beispiel der Theresia Pleß veranschaulicht, durch die dargestellten Biographien, die, an entscheidenden Stellen mit historischen Details gespickt, die historische Ereignishaftigkeit individualisieren 57 58
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Müller-Guttenbrunn, Roman meines Lebens, 277. Jauss, Hans Robert: Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung von Geschichte. In: Formen der Geschichtsschreibung. Hg. von Reinhart Kosellek/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen. Bd. 4. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. München 1982, 415– 451. Ebd., 422–424.
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und sie durch biographiegebundene zeitliche und räumliche Zäsuren für den Leser greifbarer und verständlicher machen. Die literarischen Texte Guttenbrunns sind in ihrer didaktischen, kritischen, aber auch kompensierenden und antizipierenden Funktion zu lesen.60 Dem Leser wird das Verständnis für historische Abläufe aus dem 18. Jahrhundert anerzogen. Die Geschichte soll lehren, einen Wertemaßstab für gegenwärtige Zustände liefern und den kritischen (also destabilisierenden) Umgang mit der Gegenwart erleichtern. Indem Guttenbrunn in seinen Romanen die deutsche Vergangenheit südosteuropäischer Räume heraufbeschwört, will er ein Gegenbild zum Bestehenden entwerfen. Gleichzeitig werden mögliche positive Entwürfe der Zukunft gezeichnet, gemeinsame kulturelle Zugehörigkeitsräume, die im literarischen Stoff und im Erzählakt imaginierend vergegenwärtigt werden. Ob Didaxe, Kritik, Kompensation oder Vorwegnahme – Guttenbrunns literarisch-historisches Gesellschaftspanorama der vernetzten west- und osteuropäischen Regionen schafft einen einheitlichen kulturellen Zugehörigkeitsraum, der zwar durch die sich immer deutlicher abzeichnende Realität des Kriegsausgangs von Zerfall bedroht wird, an den der Schriftsteller seine Leser aber weiterhin glauben lassen will. RÄUMLICHE ZUGEHÖRIGKEITSENTWÜRFE IN DEN LETZTEN KRIEGSJAHREN UND IN DER NACHKRIEGSZEIT Die Aufgabe kriegsbegeisterter Texte, die Wiederaufnahme der Reihe historischer Romane sowie das Ende des Burgfriedens mit dem ungarischen Staat lassen Guttenbrunn im Jahr 1916 an einem Wendepunkt erscheinen. Er verabschiedet sich nach den ersten beiden Kriegsjahren von seinem Profil als österreichischer Schriftsteller in Sorge um das Schicksal der Monarchie, wie es sich in den in Graz erschienenen Kriegstagebüchern Völkerkrieg! und Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen artikuliert, und beginnt als Essayist, Romancier und Kalenderherausgeber die bisher dargestellten Lebensräume der Deutschen aus Südosteuropa aus der Perspektive des Kriegsendes zu revidieren. Eine entscheidende Rolle spielt dabei seine Haltung Ungarn gegenüber. Dem ungarländisch-deutschen Schriftsteller, der in lautstarken Tiraden die ungarische Madjarisierungspolitik anprangert, wie beispielsweise 1908 im politischen Roman Götzendämmerung, begegnete man in diesen Kriegsbänden von 1915 und 1916 vorerst nicht. Ungarn wird sogar zweimal positiv hervorgehoben.61 1916 gibt er sich durch die Kritik an der Magyarisierungspolitik und dem daraus resultierenden 60
Wild, Rainer: Literatur im Prozess der Zivilisation. Entwurf einer theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1982, 75–78, 119–137. 61 Guttenbrunn lobt die Solidarität der ungarischen Arbeiterschaft mit der Habsburgermonarchie, die sich in der Zeichnung von Kriegsanleihen äußere. Müller-Guttenbrunn, Völkerkrieg, 36. An anderer Stelle merkt Guttenbrunn an, dass in der österreichischen Reichshälfte durch die Schließung des Reichstags das Bild eines absolutistischen Staates entstehe. Ungarn hingegen mache zur gleichen Zeit „einen verfassungsmäßigen Eindruck“. Ebd., 96–97.
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niedrigen Bildungsstand der schwäbischen Bauern als Deutscher aus Ungarn zu erkennen, wie beispielsweise im Aufsatz Die Schwaben in Südungarn aus dem Band Ruhmeshalle deutscher Arbeit in der österreichisch-ungarischen Monarchie.62 Rechtliche Missstände in Ungarn sind darüber hinaus in dem in Temeswar herausgegebenen Kalender Der Schwäbische Hausfreund vor allem nach 1916 präsent, als die verfehlte Minderheitenpolitik und der Schwund deutscher Schulen in Ungarn als beliebte Themen aufgegriffen werden, wenn auch im Ton etwas abgemildert.63 In seinem Tagebuch bekennt er sich allerdings zu einer doppelten Identität, als er sich am 26.12.1915 als „Nationaldeutscher und Deutschungar“ bezeichnet.64 Als Deutschungar präsentiert er sich auch in der Sammlung von Feuilletons, die er 1918 in Wien unter dem Titel Deutsche Sorgen in Ungarn. Studien und Bekenntnisse veröffentlicht. Unter den Aufsätzen, die über die Lage der Deutschen in Ungarn informieren, findet man unter dem Titel Ein unhöflicher Briefwechsel (140–163) eine heftige Auseinandersetzung zwischen Guttenbrunn und dem Bürgermeister Josef Geml aus Temeswar, der Feldmarschall August von Mackensen falsch über die Lage der Deutschen in Ungarn informiert haben soll. Der Schlagabtausch zwischen dem „Madjaronen“ Geml und Guttenbrunn ist auch in den später veröffentlichten Tagebuchnotizen dokumentiert, wo man auf die am 4.5.1916 datierte Notiz stößt: „Ich schrieb dem Madjaronen einen langen Brief, da die Zensur jede öffentliche Antwort unmöglich macht.“65 Nicht zu übersehen sind die an Geml gerichteten problematischen Aussagen Guttenbrunns im Kontext der Entnationalisierung der Schwaben: „Wer nicht fühlt, was es bedeutet, einem Hundertmillionenvolke anzugehören, der sinke ruhig hinab in den Schoß eines kleinen Volkes von acht Millionen, dessen Sprache und Kultur ewig Fremdkörper in Europa bleiben werden.“66 In diesem Beitrag greift er den ungarischen Staat an und nennt ihn ein „politisches Irrenhaus“.67 Gleichzeitig nimmt er Aussagen aus der Anfangszeit des Krieges wieder zurück und bleibt bezüglich der Inkongruenz kultureller und politischer Grenzen nüchtern: „Die geistige Gemeinschaft mit dem Hundertmillionenvolk der Deutschen wird man uns („Deutschungarn“- O. S.) niemals nehmen können, aber eine staatliche Gemeinschaft mit ihm denken zu wollen wäre Irrsinn. Nie gab es einen Mann unter uns, der an so etwas dachte.“68 Bis 1916 imaginiert Guttenbrunn in seinen Texten einen deutsch-österreichischen Kulturraum, zugleich ein stabiles staatliches Gebilde unter der Federführung 62 Stuttgart und Berlin 1916, 242–253. 63 Beispielhaft sind jene Texte, die die ungarische Minderheiten- und Bildungspolitik aufgreifen. Bereits 1916 nimmt Guttenbrunn den Beitrag von Rudolf Brandsch Das ungarische Volkstum und der Weltkrieg in seinen Kalender auf, in dem er Minderheitenrechte für die Deutschen aus Ungarn als „Lohn“ für ihren bedingungslosen Kriegseinsatz fordert. Der schwäbische Hausfreund, Jg. 5 (1916), 31–32. Ähnlich argumentiert Edmund Steinacker in Vaterland und Volkstum oder in Texten, die den Schwund des deutschsprachigen Schulwesens in Ungarn anprangern. Der schwäbische Hausfreund, Jg. 6 (1917), 41–42 bzw. 78–80. 64 Müller-Guttenbrunn, Roman meines Lebens, 279. 65 Ebd., 280. 66 Ders., Deutsche Sorgen in Ungarn. Studien und Bekenntnisse. Wien 1918, 141. 67 Ebd., 163. 68 Ebd., 168–169.
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Österreichs, das die deutschen Ansiedlungsgebiete in Ungarn mit einschließt. Der Kriegsverlauf bremst nach 1916 seinen Optimismus ab, was die Möglichkeit der Realisierung/Wiederherstellung einer mitteleuropäischen Einheit betrifft, wobei seine historisch-fiktionalen Werke aus diesen Jahren, die die Einheit dieses Raumes heraufbeschwören, in ihrem Rückblick auf Vergangenes eine kompensatorische Funktion übernehmen. In diesem Kontext der langsamen Ernüchterung mit Blick auf den weiteren Kriegsverlauf veröffentlicht Guttenbrunn 1918 und 1919 zwei Texte, die ihn in seinem kulturpolitischen Engagement zeigen: Deutsch-ungarische Schulstiftung und die 1919 publizierte Flugschrift Wohin gehört West-Ungarn?. Den auf November 1918 datierten, achten Bericht über das Schuljahr 1918–1919 der Deutsch-Ungarischen Schulstiftung unterschreibt Guttenbrunn als Vorsitzender der Schulstiftung und Obmann des Deutsch-Ungarischen Kulturrats, zu dem die Schulstiftung gehörte. Durch Vergabe von Stipendien an deutsche Schüler aus Ungarn zielte die Schulstiftung auf die Förderung einer Bildungselite unter den Deutschen im Südwesten der Donaumonarchie ab. Vor potenziellen Geldgebern plädiert Guttenbrunn gerade angesichts der wirren Kriegslage – „scheinbar droht ein allgemeiner Zusammenbruch“, wie er einleitend vermerkt (3) – für die Wichtigkeit des Erhalts der Identität unter den Deutschen aus Ungarn. Gerade in „diesen gefährlichen Zeiten“ (1) sei es wichtig, das ungarische Deutschtum, das „führerlos“ und „entnationalisiert“ (1) ist, „durch zähe völkische Arbeit“ auf „eine bessere Zukunft vorzubereiten“ (3). Vorsichtshalber spielt er mögliche Szenarien der europäischen Staatenlandschaft nach Kriegsende durch und unterstreicht in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit dieser Bemühungen: Gerade die Möglichkeit, dass „das Deutschtum Siebenbürgens und Südungarns auf einen madjarischen, einen rumänischen und einen serbischen Staat aufgeteilt“ werden könnte, mache eine erhöhte nationale Arbeit zur Abwendung ihres „völligen Untergangs“ unbedingt erforderlich. Auch wenn er hier scharfe Kritik am Bauplan des ungarischen Staates ausübt, der über Entnationalisierungspolitik einen anhaltenden Homogenisierungsprozess der multiethnischen Bevölkerung bis hin zum völligen Aufgehen in die ungarische Nation anstrebe und Minderheitenrechte missachte, äußert er auch die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage der Deutschen in Ungarn nach Kriegsende durch Bewilligung von deutschen Mittelschulen (3) und kündigt die politische Treue zu Ungarn noch nicht auf. Dies geschieht in der Januar 1919 verfassten Flugschrift Wohin gehört Westungarn?. Hier spricht er sich aus der Perspektive des Deutschen aus Ungarn für die Lostrennung Westungarns von Ungarn aus und bringt vor allem die nicht eingehaltenen Versprechen des ungarischen Staates bezüglich der Minderheitenrechte nach 1867 als Argument ins Feld. Er spricht sich in den Wirren des Nachkriegs für einen Anschluss an Deutschösterreich aus, das sich „an die große deutsche Republik als Bundesstaat anschließen will“ – was einer Heimkehr in die „Urheimat“ nach elfhundert Jahren bedeute. (14) Den Anfang des Krieges gezeichneten Zugehörigkeitsraum der Deutschen in Mittel- bis Südosteuropa gibt er auf und rückt die Ungewissheit über die Zukunft der Deutschen im Rahmen ein und desselben Staates in den Vordergrund: „Wissen wir denn, wohin wir anderen fallen werden?
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Jeder Teil denke jetzt an sich und bette sich, so gut er kann. Die Deutschen allein, die man nie als Einheit gelten ließ, können Ungarn jetzt nicht zusammenhalten.“69 Erstaunliche Flexibilität zeigt Guttenbrunn nach Ende des Ersten Weltkriegs im Rahmen seines Kalenders Der schwäbische Hausfreund, den er nach Kriegsende im rumänischen Banat herausgibt. Die Jahrgänge nach Ende des Weltkriegs (1921–1923) belegen seine schnelle Neupositionierung in der gewandelten politischen Konstellation. Nach 1918 erscheint der ab 1912 herausgegebene Kalender vorerst nicht mehr. Im wieder aufgenommenen Kalender von 1921 drückt Guttenbrunn seine Zuversicht über die Zukunft der Deutschen in Rumänien aus: Nach dem „wüsten Treiben“ der letzten Jahre müsse die „Genesung“ kommen. Auffallend ist die Wiederaufnahme von Personifizierungen, um das „Volk“ als Organismus darzustellen: „Alle Zeichen sprechen dafür, dass wir wieder als ein gesunder, kräftiger Volkskörper dastehen und viel tüchtiges (sic!) leisten werden.“70 Plakativer kommentiert er die Lage seiner Landsleute im Kalender aus dem Jahr 1922. Im einleitenden Vorwort des Vetter Michel beschreibt er die Schwierigkeiten, die er bei der Verbreitung einer „natürlichen Gesinnung“ der Schwaben im ungarischen Staat hatte – Postmeister, Gendarmerie, Notar und Oberstuhlrichter, alle sollen die Verbreitung des deutschsprachigen Kalenders verhindert haben –, und bemüht sich um Gegenüberstellung von Unrecht vs. Recht sowie moralischer Überlegenheit: „Ja, das war ein schwerer Kampf mit ungleichen Waffen. Dort die Macht, die scharfen Geschosse der Gewalt, die Überlegenheit an Mann und Material. Hier das Recht, der Glaube an den Sieg der Ideale, die Kunst der Natürlichkeit. Wir aber trugen den Sieg davon.“ 71 Das in diesem Zusammenhang formulierte Konzept des „Sieges“ stellt eine radikale Umdeutung der traumatischen Kriegs- und Nachkriegsjahre dar, und dies geschieht erstaunlicherweise auch trotz der Tatsache, dass die Vertreter der Deutschen (wie auch der Serben und Ungarn) in den Verhandlungen um das Schicksal des Banats nach Kriegsende nicht beteiligt wurden und ihr Wille nicht ins Gewicht fiel.72 Die Niederlage im Krieg interpretiert Guttenbrunn als Sieg in einem nun regional definierten Zugehörigkeitsraum, mit dem er die Hoffnung auf ausreichenden Minderheitenschutz verbindet. Dass es sich um eine Aufwertung des Regionalen handelt, zeigt auch die fehlende Einbettung der im Aufbau sich befindenden Organisationen der Deutschen in den rumänischen Staatskörper. Dieser wird weitestgehend ausgeblendet. Indirekt kommt es zu einer Gegenüberstellung zu vergangenen Zugehörigkeitsräumen, indem er die nach dem Krieg in den Nachfolgestaaten eingegliederten Regionen der untergegangenen Habsburgermonarchie durch Merkmale wie Recht und Verwirklichung der Ideale der deutschen Selbstbestimmung zum Sinnraum gestaltet. Dieser Sinn soll die emotionale Bindung zur Region festigen, 69
Müller-Guttenbrunn, Adam: Wohin gehört Westungarn? Wien 1919, 14. Hervorhebung im Originaltext. 70 Vorwort des Vetter Michel. Einleitung des Kalenders Der schwäbische Hausfreund, Jg. 9 (1921), ohne Seitenangabe. 71 Der schwäbische Hausfreund, Jg. 10 (1922), ohne Seitenangabe. 72 Hausleitner, Mariana: Die Donauschwaben 1868–1948: ihre Rolle im rumänischen und serbischen Banat. Stuttgart 1914, 80.
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die er zu diesem Zweck nicht etwa dem einheitlichen mitteleuropäischen Raum der Habsburgermonarchie gegenüberstellt, sondern dem von Rechtsunsicherheit geprägten Siedlungsraum der Deutschen aus dem ungarischen Teil der Monarchie. Zur Stabilisierung eines regional kodierten Zugehörigkeitsraumes und zur Konstituierung einer intersubjektiven vergleichbaren Orientierungsbasis für das „Erfassen von Welt“73 hatte Guttenbrunn durch historische Dimensionierung in seinen Heimatromanen gewirkt. Die literarisch-fiktionalen Bemühungen setzen sich fort. Im Schwäbischen Hausfreund werden Texte veröffentlicht, die an die vom ungarischen Nationalismus geprägten Jahre nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich als schwere Prüfsteine im Wege der Bewahrung deutscher Identität erinnern, wie beispielsweise die Erzählung Der schwarz-gelbe Star von Müller-Guttenbrunn74 oder Der Sturz aus dem Himmel von Otto Alscher.75 Hier rückt die in Ungarntreue und Deutschbewusste gespaltene Gemeinschaft der Schwaben trotz des einheitlichen Raums der Habsburgermonarchie in den Vordergrund. Ebenfalls mit dem Ziel der Festigung einer kollektiven Identität der deutschen Minderheit aus dem nun rumänischen Banat erscheinen in den Jahrgängen des Schwäbischen Hausfreunds von 1921 bis zum letzten Jahrgang 1923 immer wieder Berichterstattungen über die Tätigkeit des 1920 gegründeten, völkisch engagierten DeutschSchwäbischen Kulturverbandes, der den Rahmen für minderheitenspezifische Kommunikation bereitstellen soll. Die Realität der Grenzziehung nach Kriegsende hingegen, die Guttenbrunn während des Krieges in düsteren Farben geschildert hatte, erscheint nun zum Erstaunen der Kenner älterer Texte Guttenbrunns im Schwäbischen Hausfreund als Chance zur freien Entfaltung von deutscher Identität im regionalen Rahmen. RAUMVERSCHIEBUNGEN UND SINNDEUTUNGEN Die flexiblen Raumdarstellungen Müller-Guttenbrunns verweisen in mehrere Richtungen: auf veränderte Mentalitäten, politische Sinnsuche und das Ringen nach Problemlösungen in einem Zeitalter der Orientierungslosigkeit. Neben der ständigen Anpassung an gewandelte Kontexte in der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit ist sicherlich auch sein Schwanken in der Deutung der Rolle Österreichs in der europäischen Staatenordnung von Bedeutung. Denn einerseits scheint er Anhänger der sogenannten „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“ zu sein, die die Historiographie der Ersten Republik prägte.76 Die „deutschen Erblande“ galten dabei als Ausgangspunkt der Entwicklung der Habsburgermonarchie und die habsburgische Geschichte wurde als Teil der deutschen (Reichs-)Geschichte 73 74 75 76
Weichhart, Raumbezogene Identität, 46–47. Der schwäbische Hausfreund, Jg. 10 (1922), 35–39. Ebd., 45–49. Suppanz, Werner: Der lange Weg in die Moderne: Narrative der Habsburgermonarchie in der österreichischen Geschichtswissenschaft seit 1918. In: Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa: Repräsentationen imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918. Hg. v. Franz Hadler/Mathias Mesenhöller. Leipzig 2007, 223–244, 225–227.
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gedeutet. Hier findet man Guttenbrunn, der die Schlacht bei Königgrätz 1866 als bedauerlichen Wendepunkt interpretiert, wo sich die Wege des Deutschen Reiches und der Habsburgermonarchie trennten.77 Im Aufsatz Die Pfingsttage von Anno Neun78 geht er einen Schritt weiter, indem er die für die Verflechtung der deutschen mit der österreichischen Geschichte relevanten historischen Ereignisse so selektiert, dass im Verhältnis Österreich – Deutsches Reich nur Vereinigendes, nichts Spaltendes angeführt wird. Zu diesem Zweck verschweigt er den Moment Königgrätz und hebt die Leistung Österreichs für die Entstehung Deutschlands hervor. Dieses Verhalten zeigt er auch in seinem kulturpolitischen Engagement und äußert sich in Guttenbrunns Nähe zu den Alldeutschen. Mitte Juli 1914 wurde in den Alldeutschen Blättern die Einladung zum 20. Verbandstag in Hamburg vom 4. bis 8. September ausgesprochen. In diesem Rahmen hielt er den Vortrag Bedeutung, Lage und Aussichten des Deutschtums in Südosteuropa79. Worin Guttenbrunn jedoch mit der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung nicht übereinstimmt, ist die darin vertretene Vorstellung von der Antiquiertheit des Habsburgerreiches in der Ära der modernen Nationalstaaten. Außerdem distanziert sich Guttenbrunn nie von der Idee eines österreichischen Exzeptionalismus innerhalb des deutschsprachigen Kulturraums. Mit der „österreichisch-vaterländischen Geschichtsauffassung“,80 die mit der „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“ in den Grundannahmen über die österreichische Identität und die Hierarchisierung der Nationen in Zentraleuropa übereinstimmt, verbindet Guttenbrunn die Annahme einer „österreichischen Sendung“ oder „Mission“ als Bollwerk gegen und als Kulturbringer für den Südosten und Osten Europas. Weitere Übereinstimmungen mit dem österreichisch-vaterländischen Lager sind die Anerkennung der Leistung der Habsburgermonarchie als Trägerin des mittelalterlichen Reichsgedankens des Sacra Imperium, die Eroberung Ungarns im Zuge der Türkenkriege als „zunächst keine Machterweiterung, sondern als Kulturaufgabe“.81 Aus der nur teilweisen Übereinstimmung mit diesen beiden Deutungen ist auch Guttenbrunns kurzes politisches Intermezzo zu erklären. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs und in der Zeit danach beobachtet man Guttenbrunn in der Nähe der Deutschnationalen Partei. In seinem Tagebuch gibt er seiner Verwunderung über zwei Anwerbungsversuche Ausdruck, er zögert zunächst, doch „der Reiz, dieser historischen Nationalversammlung anzugehören, war zu groß, und ich sagte schließlich zu“.82 Am 17.02.1919 notiert er, dass er als Kandidat der Deutschnationalen Partei gewählt wurde,83 doch im August 1920, nach nur anderthalb Jahren, zieht er sich wieder zurück. „Ich lege mein Mandat nieder und verzichte auf die Wiederwahl. Der Einfall einiger Herren, die einen ‚Namen‘ suchten für die 77 78 79 80 81 82 83
Müller-Guttenbrunn, Wien nach dem Kriege, 6. Ders., Österreichisches Beschwerdebuch, 87. Hering, Konstruierte Nation, 255. Suppanz, Der lange Weg, 227–230. Ebd., 229. Anmerkung vom 13.11.1919 in Guttenbrunns Tagebuch. Müller-Guttenbrunn, Roman meines Lebens, 304. Ebd., 305.
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Deutschnationale Partei, führte mich in die Politik. Und ich ließ mich überreden. Das taugt nichts. Man muss sich selber seine Lebensziele suchen. Ade!“84 Nach der kurzen Episode als Politiker und bis zu seinem Tod im Januar 1923 verfasste Guttenbrunn einige Novellen und vor allem die Lenau-Romane (1919–1921). Darüber hinaus nahm der gesundheitlich geschwächte Guttenbrunn seine Herausgebertätigkeit am Temeswarer Kalender Der schwäbische Hausfreund wieder auf. In seinen letzten Lebensjahren wurden auf der südosteuropäischen Baustelle der Staatsbildungen von privaten Initiativen und auch staatlicherseits vorangetriebene kollektive Identitätsprojekte mit Adam Müller-Guttenbrunn in Verbindung gebracht. Nicht verwunderlich ist, dass Guttenbrunn auch in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie erinnerungspolitisch aktiviert wurde. Aufgrund seiner in der Publizistik und den fiktionalen Werken gegen den ungarischen Staat gerichteten Angriffe sowie seines schnellen Arrangements mit der staatlichen Nachkriegsordnung in Südosteuropa wurde in Rumänien an Guttenbrunn ausgiebig erinnert. Den Anlass dazu gab 1922 die Feier zu seinem siebzigjährigen Geburtstag, als in der Banater Gemeinde Guttenbrunn an seinem Geburtshaus eine Marmorgedenktafel enthüllt wurde. Im Rahmen der Feierlichkeiten zu Ehren des nun offiziellen banaterdeutschen Heimatdichters hielt der Domherr Franz Blaskovich eine Festrede und „auf Antrag des rumänischen Oberbürgermeisters und des städtischen Magistrats von Temeschwar wurde eine der schönsten Gassen der Stadt auf den Namen Müller-Guttenbrunn getauft“.85 Im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen verhielt es sich ähnlich. Deutschsprachige Zeitungen aus dem serbischen Banat und der Vojvodina berichteten über die Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag, über verschiedene „Guttenbrunnfeiern“, die im rumänischen und serbischen Banat veranstaltet wurden, und veröffentlichten ein Jahr später zahlreiche Nachrufe auf den Wiener-banatschwäbischen Autor.86 Da Guttenbrunn in Ungarn als Legitimationsfigur unbrauchbar war, wurde er zur Persona non grata erklärt und weitestgehend totgeschwiegen.87 Zum Zeitpunkt seines Todes scheint Guttenbrunn als Agent zwischen dem ehemaligen Zentrum Wien und den habsburgischen Peripherien zu wirken. Bezeichnend ist die Rednerliste auf seinem Begräbnis in Wien am 8. Januar 1923. Außer den Wiener Rednern, darunter drei lokale Politiker, ein Vertreter der SchriftstellerGenossenschaft und ein Journalist vom Neuen Wiener Tagblatt, hielt der Minderheitenpolitiker Edmund Steinacker im Namen der Vereinigung der schwäbischen 84 85
Ebd. Hepp, Nikolaus: Adam Müller-Guttenbrunn zur 70. Geburtstagsfeier. In: Die Wacht, 18. Jg., 22.10.1922, 1. 86 Beispielsweise das Deutsche Volksblatt (Novisad), das am 22.10.1922 eine Müller-Guttenbrunn-Sondernummer herausbringt und zahlreiche Beiträge über den Banater Heimatdichter veröffentlicht, die Neue Zeit (Großbecskerek), 18.10.1922; Die Wacht (Palanka) vom 10.10.1922, 22.10.1922; der Werschetzer Gebirgsbote (Werschetz) vom 19.11.1922 und vom 12.01.1923. 87 Tafferner, Anton: Das Bleyer’sche Sonntagsblatt (1921–1935). Ein Kampfblatt des ungarischen Deutschtums. In: Volk und Volkstum im Donauraum. Festgabe für Prof. Dr. Franz Hieronymus Riedl zum 75. Geburtstag. Hg. v. Theodor Veiter. Wien 1981, 101–131, 118.
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Adam Müller-Guttenbrunn: Völkerkrieg! Österreichische Eindrücke und Stimmungen. Graz: K. K. Universitäts-Buchdruckerei Styria 1915. Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen
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Hochschüler eine Rede, gefolgt von einem Vertreter des Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes sowie von einem Repräsentanten der Siebenbürger Sachsen.88 Guttenbrunn scheint – auch gedrängt durch die Misserfolge in Wien als Publizist und Direktor des Raimundtheaters (1893–1896) und anschließend des KaiserJubiläums-Theaters (1898–1903) – verstanden zu haben, dass er als ungarländischdeutscher kulturpolitisch engagierter Schriftsteller mehr Profilschärfe gewinnt angesichts der fehlenden Persönlichkeiten und kulturellen Identifikationsfiguren der im Südosten Ungarns in verstreuten Siedlungsgebieten lebenden Deutschen. Diese Erinnerungsgemeinschaften haben ihn im Gedächtnis behalten. Darüber hinaus passte Guttenbrunn ins erinnerungspolitische Programm der nach dem Krieg neu gestalteten Staaten Rumänien und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen/Königreich Jugoslawien, wo man im Namen der staatlichen Raison auch im kulturellen Bereich nach Pfeilern zur Unterstützung der südosteuropäischen Nachkriegsordnung suchte. Abschließend ist zu fragen, wo Müller-Guttenbrunn als deutscher Minderheitenautor im Rahmen des Kriegsdiskurses verortet werden kann. Eine Übersicht über thematische Schwerpunkte, Darstellungen von Zugehörigkeitsräumen, Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den vom Krieg losgelösten Raumdebatten und Minderheitenfragen in den Texten Guttenbrunns deckt in einem Längsschnitt von 1914 bis zu seinem Tod 1923 Widersprüche auf: Einerseits stimmt der Schriftsteller in den Chor der Kriegsbegeisterten ein und bringt seinen Enthusiasmus über den Kriegsbeginn und seine Siegeszuversicht zum Ausdruck. Andererseits warnt er jedoch vor Hasstiraden mit literarischem Anspruch. Besonders nach 1916 setzen seine Texte im Rahmen des Kriegsdiskurses besondere Akzente, indem sie vermehrt Lebensräume jenseits der schwarz-weißen Frontendarstellung in den Vordergrund rücken. In einer Zeit, in der Propaganda, übermäßig medialisierte Zustimmung für den Krieg und Berichterstattung von den Kriegsschauplätzen den alltäglichen Blick durch Fokussierung auf Siege und Niederlagen einengte, trug Guttenbrunn ein vom Gesamtbild abweichendes Anliegen vor: die Darstellung der deutschen Siedlungsgebiete im Süden und Südosten der Donaumonarchie. Zum einen schreibt er sich durch wiederholte Ermahnungen zur Beachtung des Minderheitenschutzes im Königreich Ungarn die kulturpolitischen Zielsetzungen der Deutschen aus Ungarn auf die Fahne. Zum anderen ist sein Bestreben darin zu sehen, die Lebensräume der deutschen Minderheit mit einer identitätsstiftenden Geschichte zu versehen. Die Beschäftigung Guttenbrunns mit der deutschen Siedlungsgeschichte aus dem 18. und 19. Jahrhundert in den Jahren des Völkerkrieges zielt auf die Schaffung von Wirklichkeit ab, nämlich einer im Zusammenhang mit dem deutschsprachigen Raum konstruierten Identität dieser Gemeinschaften, die Handlungsanweisungen für die alltägliche Praxis enthält und die er als Voraussetzung für ihr Überleben als „Volk“ in Umbruchzeiten sieht. Die Einsicht über die Zielsetzungen Guttenbrunns, die Bildung und Festigung einer deutschen Identität in den Kolonistengesellschaften am Rande des Habsburgerreiches sowie die Prägung von identitätsgeleiteten 88 F. E. G.: Das Leichenbegräbnis Adam Müller-Guttenbrunns. In: Deutsches Volksblatt (Novisad), 13.01.1923, 1–2.
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Praktiken, hebt auch weitere Widersprüche seiner Argumentation auf. Die als Sieg umgedeutete Niederlage ist nämlich nur in Verbindung mit seiner Hoffnung bezüglich der Einhaltung der Minderheitenrechte im rumänischen Banat nach den territorialen Verschiebungen nach Kriegsende zu verstehen. 1921 und 1922 – mit der im Kalender Der schwäbische Hausfreund ausgedrückten Zuversicht bezüglich der Möglichkeit der freien Entfaltung einer deutschen Identität in Rumänien – spricht Guttenbrunn vom Sieg und setzt dadurch dem Krieg ein Ende, das mit der Ereignisgeschichte nicht deckungsgleich ist. Die Deutung des Krieges – so zeigt auch das Beispiel Guttenbrunns – setzt sich auch in den Nachkriegsjahren fort. Als Beispiel für die Sinnsuche des deutschsprachigen Minderheitenautors in einem Prozess der ständigen Revidierung eignet sich Guttenbrunn zur Illustrierung mehrfach abgewandelter Zugehörigkeitsräume. Darüber hinaus gibt die gut nachvollziehbare Rezeption Aufschluss über verschiedene Kontexte: die deutsche Minderheit aus Südosteuropa und ihre Wahrnehmung in Wien sowie die Formung einer Erinnerungskultur in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie aus dem südöstlichen Europa. Seine kriegsbejahende patriotische Haltung zu Kriegsbeginn ist repräsentativ für die Mehrheit der Intellektuellen an allen Fronten des Ersten Weltkriegs. Die pauschale Bewertung seines literarischen und publizistischen Werkes als Propagandaliteratur würde die im Hintergrund stehende Motivation und Erfahrung ausblenden und die Komplexität der Kontexte, in denen er agierte, reduzieren. Als Minderheitenautor inszeniert er sich als Erzieher seines „Volkes“, als „Hüter“ seiner Werte und sieht sich als Freiheitskämpfer moralisch berechtigt, für die Deutschen aus Ungarn das Recht auf ethnische und kulturelle Identität einzufordern. Dies bedeutet nicht, dass der als Kriegspropaganda instrumentalisierbare Teil seiner Werke außer Acht gelassen werden sollte. Es sei dennoch festgehalten, dass er gewaltfreie Zugehörigkeitsräume imaginiert, deren Verwirklichung er nicht in ethnisch homogenen, sondern in multikulturellen Lebensräumen gewährleistet sieht. In seinem Engagement für Minderheitenrechte und im Fehlen einer „nationalisierenden“ Perspektive in der Epoche des Nationalismus und der Nationalstaaten ist ein zentrales Differenzierungsmerkmal Guttenbrunns zu sehen.
KRIEGERDENKMÄLER – SINNGEBUNG GEGEN SPRACHLOSIGKEIT? Bernhard Böttcher Der Erste Weltkrieg war eine Katastrophe – die Zerstörungen, die unzähligen Toten, Verletzten, die Leiden der Angehörigen, Hinterbliebenen und Heimkehrer, dazu die politischen, revolutionären, sozialen, territorialen und zum Teil schon demografischen Folgen. All dies verlangte bereits während des Krieges nach einer Deutung und Sinngebung. Wofür waren die Toten gestorben? Die pathetischen oder propagandistischen Deutungsmuster und Phrasen der Kriegszeit – „Gefallen für das Vaterland“ – hatten nicht nur aufgrund von Regime- und Hoheitswechseln ausgedient. Viel stärker noch war die Sprachlosigkeit angesichts der Opfer auf Seiten der Verlierer des Krieges. Bei den Siegern, so zumindest die staatsoffizielle Deutung, hatte sich der Kampf samt den Opfern gelohnt und ausgezahlt. Doch Länder wie Deutschland mussten den Kriegstoten trotz der Niederlage einen Sinn geben – was sie mit Losungen wie „Ihr seid nicht umsonst gefallen“, „Im Felde unbesiegt“ auch taten. Doch was geschah mit Gruppen und ethnischen Minderheiten, die sich nach dem Krieg in anderen Ländern wiederfanden als vor dem Krieg: Minderheiten in einem neuen Staat, dessen Titularnation, die Mehrheitsbevölkerung, sich zu den Siegern zählte und den Krieg dementsprechend deutete? Welche Möglichkeiten hatten diese Minderheiten, für die der Krieg nicht nur verloren war, sondern für die die neue Situation im Vergleich zur Vorkriegszeit eine zumindest gefühlte Verschlechterung bedeutete? Konnten diese dem Krieg und den Kriegstoten einen anderen Sinn geben als die offizielle Seite? Stießen sie damit weitere Konflikte an oder nutzten sie geschickt Nischen? War die Art, über die Toten zu trauern und dem Krieg einen Sinn zu geben, zugleich ein Beitrag, gar ein bewusstes Mittel, sich in der neuen Nachkriegssituation als eigene Gruppe zu positionieren? Bot sich eventuell die Möglichkeit der Aussöhnung mit den früheren Kriegsgegnern, mit denen man in einem Land lebte? Reinhart Koselleck geht davon aus, dass Verlierer zunächst einmal eine höhere analytische Durchdringung der historischen Zusammenhänge vollziehen als Sieger. Die Niederlage zwingt sie zum Um- und Nachdenken, zur Neupositionierung.1 Martin Clauss, der Niederlagen in der mittelalterlichen Geschichte untersucht hat, kommt zu der Einsicht2, dass Kosellecks These aus mehreren Gründen zu widersprechen sei: Verlierer könne man nicht unbedingt als weitsichtig und voller ana1
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Koselleck, Reinhardt: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze. In: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/Main 2000, 27–77, 67–69. – Clauss, Martin: Kriegsniederlagen im Mittelalter. Darstellung – Deutung – Bewältigung. Paderborn 2010, 10–11. Clauss, Kriegsniederlagen, 149.
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lytischer Einsicht bezeichnen. Die Niederlagen-Erklärungen seien vielmehr Maßnahmen zur Bewahrung bzw. Wiederherstellung der Ehre.3 Wenn die Niederlage endogen, d. h. durch die eigenen Fehler erklärt wird, dann, um für künftige Siege oder Rache zu lernen oder zumindest um sich über den erniedrigenden Augenblick zu trösten. Zuallermeist jedoch wird die Niederlage exogen, d. h. durch äußere Einflüsse erklärt – zahlenmäßige Überlegenheit der Feinde, Feigheit, Verrat oder auch schlechtes Wetter –, sie wird beschönigt, verschwiegen oder in einen größeren Kontext gestellt, wodurch die Bedeutung des Sieges der anderen relativiert wird. Es soll also weniger analysiert als bewältigt werden. Dazu dienen „Masterplots“,4 „Meistererzählungen“ im Sinne François Etiennes und Monika Flackes:5 Die eigenen Protagonisten werden heroisiert,6 die Gefallenen werden zu Märtyrern. Es wird versucht, der Niederlage in der Art einen Sinn zu verleihen, als dass solche Erzählungen helfen, die Situation verständlich zu machen und, noch vielmehr, das Geschehene zu verarbeiten.7 Die gegenwärtige Misere wird dadurch abgemildert, indem an historische Leistungen erinnert wird, was aussagt, dass Potential zu Besserem da ist, und was Hoffnung auf künftige Erfolge gibt. Ziel bleibt, die eigene Gruppe mit der Situation und mit sich selbst zu versöhnen.8 Hier sollen exemplarisch die Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen in Bezug auf ihren Totenkult während der Zwischenkriegszeit untersucht werden. Nach Koselleck, an anderer Stelle, sind gerade Denkmäler ein vorzügliches Mittel, dem Krieg und dem Kriegstod Sinn zu geben,9 bzw. lässt sich umgekehrt an Kriegerdenkmälern die Sinnsuche der Zeitgenossen ablesen,10 da die Toten ihrem Tod keinen Sinn mehr geben konnten. Er nennt Kriegerdenkmäler „Sinnstiftungsdenkmäler“, denn sie vermitteln und fordern Sinn in Form einer teilweise indirekten Aussage, indem sie den Betrachter zum Denken nötigen.11 Kriegerdenkmäler sind als beredter Ausdruck und Mittel der Sinnsuche und Sinngebung angesichts der neuen Situation nach 1918 nicht zu unterschätzen: Zwischen religiösen, nationalen Elementen und Sprache, zwischen Geschriebenem und Beschwiegenem, durch gesellschaftlichen und politischen Kontext bei Entstehung und weiterer Entwicklung, zwischen Konflikten und versöhnenden Gesten ist eine sehr vielschichtige Bandbreite der Deutungs- und Ausdrucksmöglichkeiten erkennbar. Auf viele zu untersuchende Fälle, Denkmäler in Dörfern und Städten, wird ein Frageraster angelegt: Was zeigt und enthält das Denkmal bzw. was sagt es aus? Enthält es eine Deutung der Niederlage oder der neuen Minderheitensituation? Wer 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Ebd., 305. Ebd., 259–260. François, Etienne: Meistererzählungen und Dammbrüche. In: Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Hg. v. Monika Flacke, Bd. I. Berlin 2005, 13–28, 15–16. Clauss, Kriegsniederlagen, 305. Ebd., 272. Ebd., 259. Koselleck, Reinhart: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses. In: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Hg. v. Carsten Dutt. Berlin 2010, 241–253, 251. Koselleck, Reinhart: Archivalien – Quellen Geschichte. In: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin 2010, 68–77, 69. Koselleck, Formen und Traditionen, 252.
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initiierte oder finanzierte? Welche Rolle hat die Kirche, örtliche Politik, Verbände, Staat und das Ausland? Gab es Gegner? Wie verlief die Einweihungsfeier? Wie gestalteten sich Riten, gab es Umdeutungen, gar Zerstörungen? Die Antworten auf diese Fragen ergeben ein Mosaik im großen Gesamtbild über die Mentalität der Banater Schwaben im Rumänien der Zwischenkriegszeit. Gefallenengedenken ist Bestandteil der politischen Kultur.12 Es wird nicht nur gestorben, sondern „für etwas“ gestorben. Der Sinn des „Sterbens für“, wie er auf Denkmälern festgehalten wird, wird von den Überlebenden gestiftet.13 Jede Form verweist dabei auf die politische, soziale und ideengeschichtliche Lage der Entstehungszeit. Man kann, so Koselleck, anhand der Kriegerdenkmäler den Stand der Säkularisierung (1), der Demokratisierung (2) und der Nationalisierung (3) einer Nation bzw. einer Denkmäler bauenden Gruppe ablesen: (1) Wie weit spielt die Religion eine Rolle bzw. liegt der Totenkult allein in der Hand des Staates? (2) Werden einzelne – der Herrscher oder ein Feldherr – besonders geehrt oder sind „alle“ – alle Kriegsteilnehmer, das ganze Volk – erinnerungs- und denkmalswürdig? (3) Wird der Tod im Krieg auf die Nation bezogen und gar nationalistisch übersteigert oder kommt die Deutung noch ohne dieses aus? Für Koselleck stellt der Erste Weltkrieg hinsichtlich der Entwicklung von Kriegerdenkmälern einen Höhepunkt und einen Einschnitt zugleich dar. Elemente des 19. Jahrhunderts wurden aufgegriffen, doch nach 1918, nach der so noch nie gemachten Erfahrung des jahrelangen Materialkrieges mit seinen Millionenverlusten an Menschen, konnte nicht ohne Weiteres an die Sprache des 19. Jahrhunderts angeknüpft werden. Es ist auffällig, dass erst nach einer Phase des hilflosen Schweigens und ohne nationales Pathos ab Mitte der 1920er-Jahre mit der Errichtung von Denkmälern für die Weltkriegstoten begonnen wurde.14 Nach George L. Mosse läßt sich an Kriegerdenkmälern nicht nur der Stand der Nationalisierung, vor allem der Masse im 19./20. Jahrhundert ablesen,15 sondern sie hatten nach dem Ersten Weltkrieg insbesondere in Verliererstaaten wie Deutschland eine bestimmte Funktion und Wirkung: Die allgegenwärtige Präsenz der Trauer symbolisierenden Kriegerdenkmäler sowie der Totenkult vor der Kulisse der Denkmäler bewirkten dann, neben der Trauerarbeit, auch eine politisch-rhetorische „Gegenwart des Krieges“ in der Friedenszeit, gar eine Verlängerung des Krieges.16 In Deutschland z. B. findet man auf Kriegerdenkmälern häufig revanchistisch, aggressiv-nationalistische Aussagen („Im Felde unbesiegt“, „Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen“). Kriegerdenkmäler dienen folglich als Kulisse nicht mehr allein zur Kriegs- bzw. Todesverarbeitung, sondern stehen
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Koselleck, Reinhart: Einleitung. In: Der politische Totenkult. Kriegsdenkmäler in der Moderne. Hg. v. Reinhard Koselleck und Michael Jeismann. München 1994, 9–20, 9. Koselleck: Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden. In: Identität. Hg. v. Odo Marquard. München 1979, 253–276, 257. Koselleck, Kriegerdenkmale, 272. Mosse, George L.: Nationalisierung der Masse. Frankfurt/Main/Berlin/Wien 1975, 62 u. 64– 65. Mosse, George L.: Gefallen für das Vaterland. Stuttgart 1993, 191.
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auch für neue Ideologien, die die gegenwärtige Lage vehement ablehnen und etwas Neues propagieren. Kriegerdenkmäler drücken demnach die Legitimation des Kriegstodes und damit die Einstellung zum (kriegführenden, aus dem Krieg entstandenen) Staat aus. Was geschieht aber bei Differenz zwischen eigenem, d. h. Minderheitendenkmal einerseits und staatlichem Denkmal andererseits? Was, wenn Loyalität zum Staat, der den Totenkult verwaltet bzw. verwalten sollte, nicht bzw. nur gebrochen oder partiell gegeben ist, wenn das offizielle „Vaterland“ mit dem der Minderheiten nicht identisch ist? Werden die Konflikte, die im Zusammenhang dieser gebrochenen Identität entstehen, überwunden und, wenn ja, wie? Im Fall der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen ist zu überprüfen, ob bzw. inwieweit die Denkmäler bzw. das Totengedenken der deutschen Bevölkerungsgruppe demjenigen in Deutschland ähneln. Während Deutschland als Nationalstaat bestehen blieb, änderte sich die Situation für die Völker in der ehemaligen Donaumonarchie oftmals völlig und in fast allen Bereichen des Lebens. Wie werden die Kriegsniederlage und die Veränderung nach 1918 auf Denkmälern verarbeitet und wie steht man zum „neuen Vaterland“ Rumänien, dem früheren Kriegsgegner? Auf die zu untersuchenden Fälle sei ein Raster von Untersuchungskriterien zu legen: 1. Als Voraussetzungen für die Verarbeitungen der Erfahrungen sind die Vorprägungen aus der Vorkriegszeit, die Erfahrungen im Krieg sowie die neue Situation nach dem Krieg zu beachten. 2. Es folgt die eigentliche Analyse und Einordnung der vorhandenen Kriegerdenkmäler und Soldatengräber, wobei der Aufstellungszeitpunkt, Denkmalstypen, Genese, Initiative, Geldgeber, Aufstellungsort, Ikonographie, Einweihungsfeier, weitere Rituale am Denkmal zu untersuchen sind. Dann sind weitere Aspekte ablesbar: der Entwicklungsstand der Säkularisierung (religiöser Bezug, Standort bei der Kirche?), Demokratisierung (alle gleich denkmalswürdig?) und Nationalisierung (Rolle der Nation, der eigenen Gruppe, Stellung zu Dynastie, Obrigkeit, Nation, Heimat, Vaterland etc.), Instrumentalisierung (Raum für Trauer oder politische Sinnstiftung), Vergleich homogener und inhomogener Orte sowie Stadt-Land-Unterschiede, sodass abschließend ein Gesamtbild der Gruppe gegeben werden kann. DIE DENKMÄLER DER BANATER SCHWABEN Totenehrung in Temeswar In der zentralen Metropole des Banats, Temeswar, gab es kein eigenes Denkmal der Banater Schwaben, jedoch eins für sieben verunglückte reichsdeutsche Soldaten aus der Kriegszeit auf dem regulären Friedhof. Dieses 1916 durch Spenden der schwäbischen Bevölkerung Temeswars mitfinanzierte Denkmal stellte einen gut ein Meter hohen Obelisken auf einem Sockel mit einem Adler auf der Spitze
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dar. Dadurch, dass der Adler die Flügel anlegte, gewissermaßen „ruhte“, ferner als Symbol auf der Vorderseite nur ein Lorbeerkranz angedeutet wurde, sowie durch die schlichte Widmung „Dem Andenken …“, kann man von einem gelassenen, keinesfalls martialisch auftrumpfenden, ja bescheidenen Denkmal für die Reichsdeutschen sprechen, das die Nichtdeutschen in der Nachkriegszeit kaum herausgefordert haben dürfte. Dieses Denkmal spielte bei dem Totenkult der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle: Bereits 1920, am orthodoxen Himmelfahrtsfest, wurde seitens der rumänischen Staatsmacht in der Stadt ein „Tag der gefallenen Helden“ angeordnet. Bei dieser Feier sollte die gesamte Bevölkerung teilnehmen. „Die braven Krieger“ seien „die Toten der ganzen Bevölkerung“, so die Ankündigung in der Temeswarer Zeitung vor der Feier.17 Die Feier, die auf dem Domplatz ihren Anfang nahm, hatte einen gemeinsamen Teil, bei dem Vertreter der Öffentlichkeit sowie der jeweiligen Konfessionen sprachen, bei der auch die rumänische Königshymne gesungen wurde und eine Prozession stattfand. Im Anschluss an diese Prozession besuchten die jeweiligen Nationalitäten diejenigen Teile der Friedhöfe, wo sich die Gräber „ihrer Toten“ befanden: Also zogen die Deutschen Temeswars zum besagten reichsdeutschen Kriegerdenkmal. Im Anschluss an diesen Feiertag, der sich in den nächsten Jahren stets so abspielen sollte, lobte der Stadtpräfekt ausdrücklich den Verlauf und die „an den Tag gelegte Manifestation.“18 Diese Art des Gedenkens – eine gemeinsame Feier, die von „oben“, von den rumänischen Behörden angeordnet und auch befolgt wurde, sowie die geduldete Separation des Gedenkens ist symptomatisch für das Totengedenken in ethnisch gemischten Städten und Dörfern aus Rumänien. Das Totengedenken zum einen der Staatsnation und zum anderen der Minderheiten ist gekennzeichnet durch das Zusammentreffen von Obrigkeit und lokalen Ordnungen im Rahmen dieser Feierlichkeiten. Schwäbische Kriegerdenkmäler auf dem Lande Die Situation auf dem Lande in den überwiegend von Banater Schwaben bewohnten Dörfern gestaltete sich etwas anders als in der ethnisch, konfessionell und sozial heterogenen Großstadt. Den meisten schwäbischen Dörfern war gemein, dass sie ein eigenes Denkmal besaßen und dies nahe der römisch-katholischen Kirche oder auf dem Friedhof errichteten. Die Initiative zur Errichtung wurde meistens von der kirchlichen Gemeinde, d. h. vom Pfarrer, Gemeinderat oder von einer dort engagierten Persönlichkeit, etwa dem Lehrer, ergriffen. Es wird noch zu zeigen sein, dass die Bandbreite an Formen und Gestaltungen vielfältig war. Schon jetzt aber kann festgehalten werden, dass die Dörfer weder Kosten und Mühen sparten noch wurden die Denkmäler vor der Öffentlichkeit verborgen.
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Temeswarer Zeitung, Nr. 80, 20.5.1920, 1. Temeswarer Zeitung, Nr. 81, 22.5.1920, 2–3.
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Die relative Mehrheit der verwendeten Figuren, wenn es nicht bloße Obelisken oder Tafeln waren, wie etwa in Sanktandreas und Freidorf, stellten eine trauernde Pietà bzw. Christus dar, der einen Toten im Arm hält, wie im Fall von Lenauheim und Grabatz. Dies ist sehr typisch für mehrheitlich katholisch geprägte Gegenden und Gruppen, wie etwa auch in Bayern oder Österreich. Außerdem gab es häufig, z. B. in Warjasch und Kleinsanktpeter, Adler auf den Obelisken oder Kriegerfiguren, die auf den ersten Blick eher an reichsdeutsche, säkularisierte Kriegerdenkmäler der Zwischenkriegszeit erinnern mögen. Eindeutig heroisierende, kriegsverherrlichende Denkmäler stellten aber die Minderheit dar. Außer den aufgelisteten Namen der Gefallenen enthalten die Denkmäler Widmungen („unseren Helden …“) und Sinnstiftungen. Bei den Widmungen trifft man meistens die Formulierung „Helden“, gefolgt von „Söhnen“ an. Als Sinnstiftung ist – bis heute noch – sehr häufig zu lesen: „Zur Erinnerung“, „Ehrung“, zum „Andenken“ und „Dank“. In nicht wenigen Fällen wurde – außer einem eher endogenen „Für uns“ – das uns aus klassischen Nationalstaaten bekannte „Sie fielen fürs Vaterland“ verwendet. Dabei ist auffällig, dass nirgends, weder bei Einweihungsreden, Gedenkfeiern oder als Erläuterung auf den Denkmälern selbst, in den Akten, die die Errichtung dokumentieren, genau gesagt wurde, was mit „Vaterland“ gemeint war – Österreich-Ungarn, Rumänien, Deutschland, das Banat? Das Adjektiv „deutsch“ etwa taucht – anders als z. B. in Siebenbürgen oder in anderen Regionen mit deutscher Minderheit – kaum auf.19 Eine Verbindung und Erklärung mag der Begriff „Heimat“ geben, der bei besagten Reden, Einweihungen, Veranstaltungen usw. regelmäßig auftaucht. Das Vaterland, für das die Gefallenen in dieser nachträglichen Sinndeutung der Denkmalserrichter ausgezogen und gestorben waren, war die konkrete Heimat, das Dorf, die Gemeinschaft – sie fielen „für uns“. Die „Heimat“ widmete „ihren Söhnen“ die Erinnerungsmale als „Dank“. Bei meinen Untersuchungen des ostmitteleuropäischen Raums als singuläres Phänomen ist außerdem zu beobachten, dass mitunter nicht nur eine lateinische, quasi „neutrale“ Fassung „Pro Patria“ verwendet wurde, sondern nicht selten die rumänische Version „Pentru Patrie“, kombiniert wurde, so z. B. in Mercydorf, mit „Pentru Eroi“. Nicht wenige Denkmäler waren zweisprachig, so die neben der Kirche in Lowrin errichtete Gedenkkapelle, über deren Eingang die Inschrift „ONORAŢI EROII VOSTRI – EHRET EURE HELDEN“ zu lesen war. Aus den schriftlichen Dokumenten der Zeit geht nirgends hervor, was den Anlass zu dieser zweisprachigen Formulierung gegeben haben könnte – staatlicher Zwang, besondere Loyalitätsgefühle dieser Gemeinde zu den Rumänen oder etwa finanzielle Anregungen. Innerschwäbische Debatten diesbezüglich sind auch nirgends zu finden. Dazu passt, dass viele Denkmäler, oft gerade die mit zusätzlicher rumänischer Inschrift, den gängigen Denkmälern der Rumänen ähnelten: Der Adler auf dem typischen Obelisken breitet die Flügel ähnlich dem rumänischen Wappenvogel aus und hat, wie bei rumänischen Denkmälern, entweder eine Schlange oder ein Kreuz (kein orthodoxes) im Schnabel. 19 Beispielhaft dafür sei der Spruch auf dem Denkmal in Deutschbentschek zitiert: „Da mit der Banater Erde/ Deutsche Treue Euch verband,/ Ruht Ihr fern dem Heimatherde,/Starbet für das Vaterland.“
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Nennenswert und für die aufwendige Gestaltung bezeichnend sind Kombinationen verschiedener Motive. Das Kriegerdenkmal in Warjasch enthält besagten Adler, dazu kommen aber auf dem Obelisken diverse Reliefs mit Figurengruppen: trauernde Alte, eine Witwe mit Waisenkindern, eine den Ehemann und Vater empfangende Familie sowie eine Gruppe von Soldaten, von denen einige sterben. Dieses Denkmal bündelt unterschiedlichste Formen der Erinnerung an den Krieg: den Kriegstod, aber auch die Rückkehr, verschiedene Perspektiven der Teilnehmer, der Angehörigen und der Überlebenden. Außer dem Adler, der die Schwingen ausbreitet und eine Anspielung auf das deutsche oder rumänische Wappentier sein kann, ist keine Sinndeutung formuliert; es fehlt die Sicht der Toten selbst. Dieses Denkmal lässt gewissermaßen Raum, ohne Sinn vorzuschreiben. Eine weitere aussagekräftige Kombination stellt das Denkmal in Gertianosch dar, das eine größere Anlage auf dem kirchlichen Friedhof bildet. Das 1925 errichtete Denkmal steht auf einem Hügel, der durch freiwillige Arbeit der Ortsbevölkerung errichtet wurde. Der Hügel ist terrassenförmig angelegt. Auf den einzelnen Terrassen sind kleine Grabsteine errichtet, auf denen die Namen der Gefallenen stehen. Das Denkmal selbst besteht, wie wiederum häufig, aus einer viereckigen Säule, auf der die Widmungstafeln angebracht sind, und auf der ein lebensgroßer Soldat in trauernder Pose, den Helm und das Gewehr in der Hand, steht. Das Besondere dieser Anlage war, dass die Einwohner von Gertianosch nun fast „authentische“ Orte für ihre persönliche Trauer hatten. Die Angehörigen konnten nun am jeweiligen Grab um ihren Toten trauern, als wäre er nicht „fern der Heimat“, wie es sonst auf so vielen Denkmälern stand und in Reden und Predigten thematisiert wurde, sondern daheim. Doch es handelt sich hierbei nicht um bloße Privatgrabsteine, sondern um eine Gesamtanlage der Ortsgemeinschaft. Die Anlage wirkt trotz der Soldatenfigur und der von den Einheimischen benutzten Bezeichnung „Kriegerhain“20 nicht martialisch-kriegsverherrlichend. Das wird zum einen durch die unheroische, eher demütige und schlicht trauernde Haltung des Soldaten ausgedrückt und zum anderen durch die Inschrift, die das Denkmal den „brave[n] Brüder[n] und Mitbürger[n]“ widmet und nicht den „Helden“. Ritualisierung, weitere Feiern und Entwicklung bis zum Zweiten Weltkrieg Nicht nur die Errichtung, sondern auch die Gestaltung der Einweihungsfeierlichkeiten sowie der ritualisierten, jährlich wiederkehrenden Gedenkfeiern waren fest in der Hand der römisch-katholischen Kirche. Meist waren es kirchliche Feiertage – Himmelfahrt, Pfingsten, Allerheiligen/Allerseelen –, an denen im Rahmen einer Totenmesse die Denkmäler eingeweiht wurden. Manche Einweihungsfeier, so in Orzydorf 1927, wurde in Anwesenheit des hochpopulären Schwabenbischofs Augustin Pacha veranstaltet. Nachdem ein Denkmal errichtet worden war, war es nicht 20 Gertianosch 1785–1985. Wie es einmal war. Hg. v. Heimatortsgemeinschaft Gertianosch. Donauwörth 1985, 70–71.
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nur steingewordene Erinnerung und Trauer, die ad acta gelegt wurde, sondern Bestandteil des kirchlichen Lebens. Denkmäler, die von den Kirchen weiter entfernt, beispielsweise auf Friedhöfen, aufgestellt worden waren, wurden bei stattfindenden Prozessionen als eine „Station“ genutzt. Der Hauptschwerpunkt dieses jährlich wiederkehrenden kirchlichen Ritus bildete das Totengedenken an Allerheiligen bzw. Allerseelen. Die im Weltkrieg Gefallenen erhielten in diesem Rahmen ihren Platz in der Memorialkultur. Ähnlich kirchlich ritualisiert war der staatlicherseits angeordnete Heldengedenktag an Christi Himmelfahrt. Die Schwaben hatten an diesem nationalen wie religiösen Gedenktag „ihre“ Toten, derer sie offiziell gedenken konnten. Der Rahmen war bewusst und ausschließlich kirchlich, auch wenn die Rede, wie bei Einweihungsfeiern, Teilsätze wie „unseren Helden“, „gefallen für uns“ oder „unsere Heimat“ beinhaltete. Einen besonderen Fall im Feiertagskalender der Banater Schwaben aus Rumänien stellen die Ansiedlungsfeiern seit Anfang/Mitte der 1920er-Jahre dar, die an die Besiedlung nach den Türkenkriegen zu Beginn des 18. Jahrhunderts erinnern sollten und deren Ausgangspunkt die 1923 in Temeswar großangelegte Feier war. Grundtenor bei den offiziellen Ansprachen und Vorankündigungen war, dass die Schwaben damals wie heute – also auch im rumänischen Staat nach 1918 – sich durch Pflichtbewusstsein, Fleiß und Loyalität zur Obrigkeit ausgezeichnet hätten und noch auszeichnen. Dieses Motiv zog sich bei den weiteren Feiern in den jeweiligen schwäbischen Ortsgemeinden durch und verband sich dabei auf prägnante Weise mit den Kriegstoten bzw. dem Heldengedenken. 1924 veranstaltete die Gemeinde Bruckenau ihr 200jähriges Ansiedlungsjubiläum, beginnend mit einer Messe in der katholischen Kirche und anschließendem Zug zum örtlichen Kriegerdenkmal. Nachdem der Gesangsverein die rumänische Königshymne in deutscher Sprache vorgetragen hatte, wurde rechts und links neben dem Denkmal je eine Eiche gepflanzt. Diese sollten den Nachkommen ein Andenken an diese Feier bieten. Während die Loyalität zum Königreich Rumänien thematisiert wurde, wurden der Weltkrieg, die Kriegstoten und die Kriegsfolgen nicht angesprochen. Dagegen scheint das Denkmal wie selbstverständlich für die Gemeinschaft vor Ort eine würdige, angemessene Kulisse für Gedenkveranstaltungen, die die Tugenden der Schwaben hervorhoben, gewesen zu sein. Das belegt die Ansiedlungsfeier in einem anderen Ort, Bogarosch, im August 1924, in dem die Gemeinde eigens für die Jubiläumsfeier – zeitgleich zum zehnten Jahrestag des Kriegsbeginns – ein Kriegerdenkmal zu errichten gedachte: „Damit unser Fest ein vollkommenes sei, wird bei dieser Gedenkfeier das Andenken unserer im Weltkriege gefallenen, gestorbenen und vermissten Brüder durch ein Denkmal verewigt werden.“21 Die Helden, die im August 1914 dem „Ruf des Vaterlandes in Pflichtbewusstsein“ gefolgt waren, setzten die Traditionslinie der pflichtbewussten Schwaben der mühsamen Ansiedlungszeit fort. Das Gedenken an sie fiel mit dem Gedenken an die treuen Ahnen des 18. Jahrhunderts zusammen. Dem Krieg wurde
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Temeswarer Zeitung, Nr. 168, 29.7.1924, 4.
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der Sinn gegeben, sich „für die Heimat“, „für die Väterscholle“ eingesetzt zu haben, mit der letzten Konsequenz des Heldentodes. Bei den Jubiläumsfeiern, auch bei denjenigen, die sich in den 1930er-Jahren ereigneten, wurde zwar auf deutsche bzw. schwäbische Tugenden rekurriert, doch an keiner Stelle Antirumänisches artikuliert. Im Gegenteil, die rumänische Königshymne und das Ausbringen eines Toasts auf den König22 gehörte zum Rahmenprogramm wie Kranzniederlegung und Absingen des Liedes „Ich hatt´ einen Kameraden“ – so in Alexanderhausen 1933. Dies stellte offenbar kein Problem dar, wenn zugleich bei den Ansprachen davon die Rede war, dass die Toten zur Verteidigung der Heimat im Endeffekt auch gegen die damaligen rumänischen Soldaten gekämpft hatten und gefallen waren. Im Verlauf der 1930er-Jahre ist allerdings festzustellen, dass neue Denkmäler nicht mehr in unmittelbarer Nähe der Kirche errichtet wurden und dass das überwiegend religiös-kirchliche Formen-, Sprach- und Deutungsarsenal begann, von germanisch-heldischen Denkmalstypen abgelöst zu werden. Doch die Kirche ging bei den ritualisierten Feiern und Einweihungen neuer Denkmäler nie völlig ihrer Präsenz, ja letztendlich Deutungshoheit verlustig. Auch waren bestehende Denkmäler Kulisse für nationale Veranstaltungen – etwa am „Gautag der Deutschen Volkspartei“ 1936 in Lowrin. Allerdings schlossen sich bei dieser Feier mit 1.500 Teilnehmern, darunter Deutsche aus ganz Rumänien und überregional bekannte Politiker wie Rudolf Brandsch, Blut-und-Boden-Rhetorik, Sieg-Heil-Rufe und die rumänische Königshymne ebenfalls nicht aus.23 Reaktion der Rumänen Zur naheliegenden Frage, wie die rumänische Seite auf diese Art des Weltkriegs- und Totengedenkens, der Sinngebung und kirchlichen wie politischen Sinnstiftung reagierte, lässt sich sagen, dass bereits bei der genannten ersten Weltkriegsgedenkfeier in Temeswar der rumänische Staat ein Maß an Duldung für die jeweiligen konfessionellen und ethnischen Gruppen des Banats aufgezeigt hatte, das für die nächsten Jahre bestimmend bleiben sollte. In den Dörfern sah es im weiteren Verlauf der Jahre so aus, dass die Erlaubnis zur Errichtung der Denkmäler beim Präfekten in Temeswar erbeten wurde und, zumindest der Aktenlage nach, nirgends abschlägig beurteilt wurde.24 Ferner war die offizielle Seite, ein Vertreter des rumänischen Staates, meist bei den Einweihungen vertreten, der gleichzeitig den Adressaten darstellte, an den die Huldigungen für den König gerichtet wurden. Bei der Errichtung von Denkmälern auf zentralen Plätzen war es wichtig, dass diese gleichzeitig Bezeichnungen wie „Parcul Unirii“ [Park der Einheit] erhielten,25 sodass sie an die Angliederung des Banats an Rumänien erinnerten. Ebenfalls wirkte es sich zur 22 Temeswarer Zeitung, Nr. 126, 7.6.1933, 4. 23 Temeswarer Zeitung, Nr. 245, 27.10.1936, 4–5. 24 Temeswarer Stadtarchiv (StA Temeswar), Fond. Prefectura judeţului Timiş Torontal, 63/1937, 30. In diesem Fall der römisch-katholische Pfarrer von Dolatz im Jahr 1937. 25 StA Temeswar, Fond. Prefectura judeṭului Timiṣ Torontal, 50/1921, 64.
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Zufriedenheit der rumänischen Seite aus, dass die Totengedenkfeiern am offiziell angeordneten, rumänischen Heldengedenktag vollzogen wurden.26 ZWISCHENFAZIT Fasst man die Ergebnisse für die Denkmäler der Banater Schwaben zusammen, so kann man Folgendes sagen: Die Kriegerdenkmäler waren überwiegend kirchlich initiiert und religiös geprägt. Statt politischer Aussagen stand religiöser Trost im Vordergrund. Die Denkmäler halfen den Mitgliedern der Dorfgemeinschaft, ihre Toten zu betrauern, wobei die Toten als „Helden“ aufgewertet wurden, die „für die Heimat“ gestorben waren. Die Begriffe „Helden“ und „Heimat“ wiederum richteten sich nicht gegen die vormaligen Gegner der Kriegszeit bzw. gegen „Nichtdeutsche“, also hier die Rumänen. Im Gegenteil, die Denkmäler enthielten gar rumänische Zweitwidmungen, die Loyalität zum neuen Staat bzw. Königshaus wurde nicht vernachlässigt. Ein wichtiger Grund war, dass die Kirche, die sich mit der neuen Situation arrangiert hatte, den Totenkult verwaltete. „Für die Heimat“ wurde oft auch gelesen als „für uns“. Das lässt die These zu, dass die Denkmäler nicht der Außenabgrenzung – gegen die Sieger, gegen die neuen Herren, gegen das System von Trianon – dienten, sondern nach innen, auf die Dorfgemeinschaft hin gerichtet waren: Die Toten starben für die Heimat und diese solle sich ihrer würdig erweisen. Die den Erinnerungskult leitende Kirche half also, mittels der Denkmäler ein schwäbisches Lokal- bzw. Regionalgefühl zu stärken. Das – aber ebenso die gelungene Verarbeitung des Krieges – haben auch die Ansiedlungsfeiern gezeigt, bei denen die Kriegerdenkmäler und das Totengedenken eine Rolle spielten. Die Gefallenen des Krieges standen nun in einer Reihe mit den zu verehrenden Ahnen der Ansiedlungszeit. Sie waren nunmehr historisiert, sie rückten – mit den Formulierungen Jan Assmanns – vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis. Die Kriegsverarbeitung mag, zumindest offiziell, als geglückt zu betrachten sein. Der Appell, der Lerneffekt und Handlungsauftrag waren auch hier nach innen gerichtet: Die Zeitgenossen der schwäbischen Gemeinschaft sollten sich der Ahnen (inklusive der Weltkriegstoten) würdig erweisen und ebenso – dabei nicht zuletzt staatstreu – handeln. Die an den Denkmälern artikulierte Loyalität zum neuen Staat und das „SichAbfinden“ mit der Nachkriegssituation mag nicht nur ein schwäbisches Phänomen gewesen sein. Sie hatten eine vornationale, kirchlich geprägte Gruppeneinstellung, zudem das Bewusstsein keine Alternative zu haben, was jeglichen Revanchismus ausschloss, und sie wiesen ein traditionelles Auskommen mit den Nachbarn auf. Ein weiterer Grund für dieses Zusammenspiel ist das Verhalten der offiziellen rumänischen Seite. Sie lies die Denkmäler offenbar problemlos zu und bot darüber hinaus den nicht-rumänischen Bevölkerungsgruppen eine Art Versöhnungsangebot: Die Formulierung „Alle waren Helden“ (was gewiss auch zuvörderst an die Rumänen in der k. u. k.-Armee gerichtet war) mag eine ungeheuer starke Geste gewesen 26 StA Temeswar, Fond. Prefectura judeṭului Timiṣ Torontal, 50/1920, 22–23.
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sein, die den Nichtrumänen half, eine eigene Nische des Selbstwertgefühls und der positiven Identität einzurichten, die das Fundament des rumänischen Staates nicht untergrub. Die Kriegerdenkmäler der Schwaben gaben der Nachkriegsgesellschaft vor allem im religiösen Sinne Halt und Orientierung. Man beobachtet einen Rückzug in regionale bzw. lokale Räume, wenn von „Heimat“ im Zusammenhang mit der Kriegsverarbeitung gesprochen wurde. Zugleich aber war es Teil des von der „Schwabenkirche“ Augustin Pachas geführten Erstarkens des Eigenbewusstseins der Schwaben, was die Lücke der Vorkriegsmagyarisierung füllte. Die Rumänen förderten durch ihre Duldungspolitik dieses schwäbische Eigenbewusstsein, den „Abschied von Ungarn“ und die Eingliederung in das neue Rumänien. Die Schwaben nahmen das Integrationsangebot – „Alle waren Helden“, rumänische Inschriften auf den Denkmälern, Treue zum Staat – an und fügten sich mit ihrem Totenkult in den gesamt-rumänischen ein (ein gemeinsamer Feiertag), ohne darin aufzugehen. Man kann also nicht sagen, dass Mosses These von der „Verlängerung des Krieges im Frieden“ bei den Schwaben zutrifft. Die Denkmäler waren ein Beitrag, den Krieg erfolgreich zu verarbeiten und ihm, wenn das überhaupt möglich ist, einen Sinn zu geben, der nicht den nächsten Krieg heraufbeschwor, sondern als Appell an Fleiß, Einsatzbereitschaft und Loyalität für das Hier und Jetzt zu sehen war. Dagegen passen Kosellecks Thesen: Anhand der Kriegerdenkmäler kann man ablesen, welcher Stand von Säkularisierung, Demokratisierung und Nationalisierung bei den Schwaben vorlag.27 Die schwäbischen Kriegerdenkmäler im Banat stellen also einen Fall dar, bei dem die katholische Kirche einen religiösen Kult verwaltete und damit zugleich den Beginn einer gruppenbezogenen, quasi-nationalen Artikulation lenkte. Die schwäbischen Denkmäler bewirkten gelungene Kriegsverarbeitung und waren ein innerschwäbisches Mittel, die jeweilige Gemeinde zusammenzuhalten, ohne nach außen aggressiv aufzutreten. Vielmehr waren sie der gelungene Versuch, die Liebe zur Heimat und zur lokalen Einheit zu leiten und bei Ausdifferenzierung der dörflichen Einheit diese Situation durch Appell zu „Rückkehr zur Ahnenfrömmigkeit und -tugend“ zu bewahren. EIN VERGLEICH MIT SIEBENBÜRGEN Über Kriegerdenkmäler und Totenkult bei den Siebenbürger Sachsen ist von mir an anderen Stellen ausführlich geschrieben worden.28 Hier sei ein Fallbeispiel ausge27 Allerdings greift Kosellecks Idee eine Linearität oder Progression nicht. Denn die Schwaben waren – ablesbar anhand der Denkmäler – nicht unbedingt stärker säkularisiert, demokratisiert oder nationalisiert als fünfzig oder hundert Jahre zuvor – so wie Koselleck dies für Frankreich oder Deutschland herausgearbeitet hat. Sie waren vielleicht religiöser als vor dem Krieg und die Nationalisierung gestaltete sich doch deutlich anders als in den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts. 28 Zwischen Nationalismus und übernationaler Identität. Kriegerdenkmäler von Minderheiten nach dem Ersten Weltkrieg am Beispiel Siebenbürgens. In: Patriotismus – Nationalbewußt-
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breitet, das maßgeblich ist, weil es Typisches für Siebenbürgen, aber auch deutliche Unterschiede zum Banat darlegt – das Doppeldenkmal in Kerz. Bei den Siebenbürger Sachsen kamen zwei Typen von Kriegerdenkmälern vor, teilweise – so wie in Kerz – in Kombination. Den ersten Typ stellten, vergleichbar mit dem Banat, Gedenktafeln für die Gefallenen aus der Gemeinde in oder an Kirchen sowie Denkmäler vor den Kirchen oder auf den Friedhöfen dar. Auffallend im Vergleich zum Banat ist, dass die sächsischen Denkmäler deutlich schlichter waren, aus konfessionellen Gründen Pietà-Motive fehlten und vielmehr biblische Zitate verwendet wurden. Allerdings kamen Symbole wie das Eiserne Kreuz oder vergleichbare Rhetorik zum Einsatz, ohne die Rumänen direkt anzureden. Rumänische „Übersetzungen“ oder Inschriften fehlten auf den sächsischen Denkmälern völlig. So auch in der 1000 Einwohner starken sächsischen Gemeinde Kerz zwischen Hermannstadt und Fogarasch, wo die evangelische Gemeinde 1923/24 ihren Weltkriegstoten ein Denkmal errichtete.29 Das Denkmal wurde innerhalb der Kerzer Abteiruine an der inneren Nordwand errichtet, im unüberdachten Vorraum der eigentlichen Kirche, durch den jeder Kirchenbesucher hindurch zu gehen hatte. Auf einem Sockel, der aus Steinen des Klostergebäudes zusammengestellt war, wurde ein Steinblock mit den eingravierten Namen der Gefallenen gesetzt. Auf der Seite, die dem Weg zur Kirchentür zugewandt war, stand die Inschrift: „Sie gingen zu sterben, um zu erwerben/ Freiheit und Ehren, den Feind zu wehren./ Sie sind gefallen und geben uns allen/ zu danken, zu denken, in Gott zu versenken./ Dem Andenken der Kriegstoten: ihre Sachsengemeinde Kerz 1924.“ Der Krieg, in den die Söhne der Gemeinde gezogen waren, wurde somit als Verteidigungskrieg gesehen. Andererseits wird gemahnt, nachzudenken und Trost bei Gott zu suchen. Direkt an der Wand wurden eine Bank und ein Tisch aufgestellt, ebenfalls aus Materialien der Abteiruine. Darüber wurde eine Tafel mit dem Spruch „Sei getreu!“ angebracht. Welche Treue gemeint war, ist nicht gesagt. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Zitatfragment des sehr häufig verwendeten Jesus-Ausspruchs „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“. Diese Denkmalanlage der Gemeinde, die man in ihrer Schlichtheit, in ihrem religiösen Grundgehalt sowie in der Lokalbezogenheit (ortstypisches Material, Ort innerhalb der Mauern, Schwerpunkt
sein – europäische Identität, Beiträge zu einem Gespräch in der Villa Vigoni, Mitteilungen 2004 VIII, 4 Sonderheft,Villa Vigoni/Como 2004, 131–150; Kriegerdenkmäler von Minderheiten und das Verhältnis zum Staat an Beispielen aus Siebenbürgen und Lettland der Zwischenkriegszeit. In: Jahrbuch für Deutsche und Osteuropäische Volkskunde. Hg. v. Werner Mezger/ Michael Prosser/Hans-Werner Retterath, Bd. 47. Marburg 2005, 57–82; German First World War Memorials in Transylvania. In: Central Europe, Bd. 4, Nr. 2, 2006. Hg. v. Robert Pynsent, 123–130; Kontinuität des Ersten Weltkrieges im Frieden? Kriegerdenkmäler und Heldenkult bei den Siebenbürger Sachsen nach 1918. In: Der Einfluss von Faschismus und Nationalsozialismus auf Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa. Hg. v. Mariana Hausleitner/Harald Roth. München 2006, 53–72; „Treue zur Heimat und zu dem Staat, von dessen Grenzen unsere Heimat umschlossen ist“ – Doppelte Loyalität bei den Siebenbürger Sachsen. In: Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmitteleuropa 1918–1941. Hg. v. Peter Haslinger/Joachim v. Puttkamer. München 2007, 59–184. 29 Gemeindearchiv Kerz, Geschäftsakten Z. 63/1923.
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Deutsche Soldatengräber und Kriegerdenkmal der Kriegsgräberfürsorge in Kerz/Cârţa, Siebenbürgen. Fotosammlung Bernhard Böttcher
auf den Toten der Gemeinde) als typisch für Siebenbürger Sachsen bewerten kann, wurde feierlich am 15.7.1924 durch den Sachsenbischof Teutsch eingeweiht.30 Die zweite Art der Kriegerdenkmäler auf siebenbürgischem Boden verdankt sich der Tatsache, dass die Region der Südkarpaten Kriegsschauplatz war und zahlreiche reichsdeutsche Gefallene zu bestatten bzw. ihre Gräber zu versorgen waren. Dies nahm seit 1919 der in Kassel beheimatete Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als Aufgabe wahr. Für Siebenbürgen kam nun die Besonderheit hinzu, dass es aus Kriegszeiten eine von der Hermannstädterin Auguste Schnell gegründete sächsische Kriegsgräberfürsorge gab, die sich nach Kriegsende und dem Übergang Siebenbürgens an Rumänien als Zweig der Rumänischen Kriegsgräberfürsorge (Cultul Eroilor) behaupten konnte. Auguste Schnell sorgte für die reichsdeutschen Gräber, unterhielt zahlreiche Kontakte, trieb Gelder und andere Unterstützung aus Deutschland ein und partizipierte zugleich am offiziellen rumänischen Totenkult – etwa dem rumänischen Heldengedenktag. Bezeichnend für das sächsische Selbstbewusstsein war der Umgang mit den Gräbern der reichsdeutschen Gefallenen: Diese wurden auf sächsische Gemeindefriedhöfe umgebettet und gleichzeitig ihre Pflege von nahegelegenen sächsischen Gemeinden übernommen, wodurch sich sogenannte Friedhofspatenschaften bildeten. Die Rumänen waren zu den Einweihungsfeiern eingeladen und in die Planung 30
Zell, Georg G.: Kerz und die Kerzer Abtei, München 1997, 178.
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eingebunden. In der Korrespondenz an verantwortliche rumänische Stellen schrieb Auguste Schnell: „Steht doch unsere ganze Arbeit hierbei im Dienste des Größten, was Menschenherzen bewegt: der heiligen Dankbarkeit für Pflichterfüllung bis in den Tod und der Hebung des Ansehens unseres wunderschönen Vaterlandes!“31 Jede Seite kümmerte sich um seine Toten, wobei es vielsagend ist, dass die Rumänen keine Unterschiede in der Behandlung reichsdeutscher und sächsischer Toten machten. Für die Sachsen bedeutete dies, dass die reichsdeutschen Gräber auf ihren Gemeindefriedhöfen wie die Gräber eigener Gefallener gepflegt und betrachtet wurden, ja, in der Rhetorik von Auguste Schnell „an Sohnes statt“ angenommen wurden, da beide „Brüder eines Stammes“ seien. Dies wird in der Errichtung der Denkmalskombination in Kerz höchst anschaulich, als 1928 knapp 90 reichsdeutsche Gefallene exhumiert und in die Abteiruine Kerz an die innere Südwand, gegenüber des bestehenden Gemeindedenkmals umgebettet wurden. An der Wand wurde ein noch aus der Kriegszeit stammendes Standbild eines „Roland“ als Zeichen „deutscher Treue“ aufgestellt. Zu beiden Seiten wurden Tafeln mit Sprüchen angebracht: auf der einen ein Jesaja-Zitat „Das Gras verdorrt, die Blume welkt,/ aber das Wort Gottes bleibt ewig bestehen“, auf der anderen ein Zitat von Ernst Moritz Arndt „Euer Gedächtnis ist heilig beim Volke./ Wir beten an der Stätte, wo ihr fürs Vaterland fielet.“ Während das Gemeindedenkmal von der Gemeinde Kerz geschaffen und auch bezahlt worden war, war der Soldatenfriedhof samt Rolandstatue und Spruchtafeln ein Werk der Kriegsgräberfürsorge. Beide Denkmäler verwuchsen zu einem. Die dort ruhenden reichsdeutschen Soldaten „ersetzten“ die gefallenen Kerzer, die nicht in ihrer Heimatgemeinde bestattet waren. Auguste Schnell sprach schon vor Fertigstellung davon, dass die Anlage nicht nur ein „Symbol der Christlichkeit“, sondern auch ein „Zeugnis deutscher Kultur und Treue“ sei. Diese Anlage besaß also die besten Voraussetzungen, eine deutschnationale Stätte zu werden, die die kulturhistorische Verbundenheit und Waffenbrüderschaft der Sachsen und Reichsdeutschen versinnbildlichte, und die dabei durch die Klostermauern vor fremden Blicken geschützt war. Auf eine komplexe Entwicklung weist auch die Einweihungsfeier am 30.9. 1928 hin, zu der neben dem Sachsenbischof Teutsch, der das Denkmal nach einem Gottesdienst weihte, und Auguste Schnell als Repräsentantin der sächsischen Kriegsgräberfürsorge auch Vertreter der reichsdeutschen und der rumänischen Kriegsgräberfürsorge sowie der deutsche Konsul aus Kronstadt eingeladen waren. Während Bischof Teutsch den Kriegstod als Mahnung für die Lebenden interpretierte, ebenso tapfer zu sein, Mattheit und Kleinmut abzulegen und in Treue zu sich selbst und zur Gesamtheit zu arbeiten,32 deutete Auguste Schnell die Anlage in der jahrhundertealten Abteiruine als konsequente Fortführung der sächsischen Tradition, Art und gar Mission. Sie appellierte, das Heldentum der Gefallenen zu ehren. Das Denkmal und die Gräber innerhalb der Ruine lehrten, 31 Staatsarchiv Hermannstadt, Inv. 245, Nr. 145, 90. 32 „Seit alten Tagen steht als Aufgabe hier vor uns, in Treue gegen sich selbst die deutsche Art zu wahren, die Du, o Herr, uns als Gabe übergeben hast, sie zu bewähren in ernster Arbeit für uns und jene, die mit uns den Boden teilen, und in freudiger Hingabe unser Bestes für Volk und Vaterland zu geben.“ Kirchliche Blätter, Nr. 40, 1928, 4.10.1928, 409.
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daß schon vor 800 Jahren ein an Zahl geringes, aber arbeitshartes, ordnungsgewohntes und vor allem opferwilliges Geschlecht seiner Umgebung den Stempel seines Wesens aufgedrückt und die inmitten der Wildnis geschaffene Kultur trotz Sturm und Drang und Not und Tod, die ihm überreichlich zugemessen waren, all die Jahrhunderte hindurch gewahrt und gemehrt hat in treuer Pflichterfüllung gegen sich selbst, seinem Gott, sein Volk und sein Vaterland!33
Die Vertreter der rumänischen Kriegsgräberfürsorge erinnerten an die Kämpfe 1916, an die damalige Tapferkeit der Deutschen und Rumänen. Für den Soldaten, so Oberst Vişan, sei der „Heldentod bei Freund und Feind als die letzte Konsequenz höchster militärischer Tugend und treuester Pflichterfüllung“ zu sehen. Aus diesem Grunde beuge er sich vor den Toten. Major Popescu aus Bukarest drückte aus, wie sehr es ihn mit Freude erfülle, dass die Bewilligung, die das Bukarester Zentralkomitee erteilt hatte, „auf so fruchtbaren Boden gefallen“ sei und „ein so schönes Werk geschaffen“ habe. Auch er halte es für die „schönste Menschenpflicht, die letzte Ruhestätte derer, die für ihr Vaterland gestorben seien, in Ehren zu halten und zu pflegen.“ Weiter betonte er, dass der Tod alle Gegensätze tilge und „wie sehr die rumänische Armee heute ihrer heldenmütigen deutschen Gegner aus dem Kriege gedenke“.34 Die beiden Redner, die auf Rumänisch sprachen, drückten die Gemeinsamkeit deutscher und rumänischer Totenehrung aus: Die Soldaten auf beiden Seiten der Front seien heldenhaft und tapfer gewesen und ehrenhaft für ihr Vaterland gefallen. Bischof Teutsch hielt beim anschließenden Festessen eine Tischrede, bei der er ein „Hoch“ auf den rumänischen König Michael aussprach und verdeutlichte, dass die Menschen sich „nicht bekriegen, sondern einander verstehen und in edlem Wettbewerb miteinander wetteifern“ sollten. Der deutsche Konsul brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass „ihr Tod nicht vergebens sei, daß ein Völkerfrühling die Menschen versöhnen werde“. 35 Die Einweihung dieses Denkmals verdeutlicht mehrerlei: Zum einen die Duldung der rumänischen Seite, überhaupt solch eine Art von Denkmälern mit bewusst deutschem Formenrepertoire und der Präsenz reichsdeutscher Stellen zuzulassen, denn bei solchen Denkmalskombinationen handelte es sich nicht mehr um kircheninterne Gemeindegräber. Ferner erhielt bei der Feier jede Seite das Wort – und hatte neben einer eigenen Positionierung auf die jeweils andere Position Rücksicht zu nehmen. Frau Schnell hielt sich angesichts ihrer ansonsten deutschnationalen Einstellung zurück, auch wenn man sich zu ihren kulturhierarchischen Wendungen (Kultur in die Wildnis bringen) seinen Teil denken konnte, und sie außer dem Dank an die rumänische Kriegsgräberfürsorge für die Bewilligung keine positive Stellungnahme zum jetzigen Staat ausdrückte. Die Formulierungen des Bischofs, der doch deutlich von eigener „Arterhaltung“ sprach, enthalten solche Wendungen – Pflichterfüllung, Heimattreue, Einsatz für das Ganze – die auch für die Rumänen verständlich und akzeptierbar waren. Das verbindende Scharnier war der Appell an den Einsatz für das Ganze, für den Staat, auch für diejenigen, die den Boden mit den Sachsen teilten – also auch für die Rumänen. Die reichsdeutsche Seite verhielt sich sehr zurückhaltend, die Metapher „Pflichterfüllung“ trat keinem zu nahe, 33 Ebd., 409. 34 Kriegsgräberfürsorge – Mitteilungen, Nr.12, Dezember 1928, 188. 35 Ebd.
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Zweisprachige Gedenktafel an der Friedhofskapelle der Gemeinde Lowrin/Lovrin, Banat. Fotosammlung Bernhard Böttcher
diente als Erklärungsgrund dafür, weshalb überhaupt deutsche Soldaten in den Karpaten standen, und wurde den rumänischen Soldaten auch nicht abgesprochen. Die rumänischen Redner machen deutlich, dass alle Soldaten des Weltkriegs, auf beiden Seiten der Front tapfere Helden waren. Das geht über die sächsische Deutung von Heldentum/Pflichterfüllung hinaus. Denn die Formulierungen seitens der Rumänen, dass nicht nur der Tod alle gleichmache und alle gleich Helden waren, sondern gerade dass beide Kriegsparteien, Deutsche und Rumänen, heutzutage gemeinsam, friedlich und fast freundschaftlich die Gefallenen ehrten, zogen gewissermaßen einen Schlussstrich unter die Frontstellung des Krieges. Auch durch das Hoch auf den rumänischen König als Herrn über Siebenbürgen wurde zudem der gegenwärtige Zustand bzw. das Ergebnis des Krieges als gegeben und unumstößlich bestimmt. Zugleich machte die rumänische Seite freundlich, aber bestimmt deutlich, dass die Ermöglichung eines solchen Denkmals und einer solchen Gedenkveranstaltung letztendlich von ihrem Einverständnis abhing. Auf die Sachsen – Bischof Teutsch, die sächsische Kriegsgräberfürsorge, die sächsischen Gefallenen und die sächsisch-
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deutsche Brüderschaft – wurde interessanterweise gar kein Bezug genommen. Die Rumänen suchten zum einen offenbar eher das gute Einvernehmen mit dem Deutschen Reich, zum anderen sahen sie die sächsischen Formulierungen von „Pflichterfüllung“ und Loyalität als so selbstverständlich, wie die Tatsache, dass die sächsische Kriegsgräberfürsorge nur ein Zweig der rumänischen war. Das verbindende Grundelement, das den Sachsen all dies ermöglichte und zwar auf solch eine Art, revanchistische Spitzen wegzulassen, war die religiös-versöhnende Sprache: „Im Tode sind alle gleich“ und die Tatsache, dass Rumänen die gefallenen Sachsen und Deutschen als Helden anerkannten („alle waren tapfer“), da sie treu für ihre (jeweilige) Heimat gekämpft hatten. Die Rumänen schlossen daraus, dass bei den Sachsen auch heute Treue zu erwarten sei. Wenn vor Vertretern der sächsischen Kriegsgräberfürsorge die „deutsche Art“ oder die Kriegskameradschaft mit Deutschland betont wurden, war dies Ausdruck der nationalen Selbstbehauptung und eine politische Manifestation nach innen, dass man nämlich als Volksgruppe nicht vergessen dürfe, wer man sei und woher man komme. Das „Heranrücken“ an Deutschland sollte Selbstvergewisserung liefern, aber nicht Rumänien kritisieren. Die Errichtung der Kriegerdenkmäler der Sachsen dienten nicht primär der Integration in den neuen Staat Rumänien, waren aber auch nicht als nationalistische, revanchistische Opposition gegen das Land gedacht. Sie dienten dem Versuch der Kriegsverarbeitung, der Suche und der Selbstfindung. Vergleich mit dem Banat Vergleicht man nun das Banat mit Siebenbürgen, so fällt leicht ins Auge, dass bei beiden trotz Differenz in der Konfession der Totenkult deutlich kirchlich geprägt war und es kein zentrales Denkmal, sondern einen lokalbezogenen Totenkult gab. Die gemeinsam zelebrierte und ritualisierte Trauer half, die dörfliche Gemeinschaft zu stärken. Dass in beiden Fällen so oft von „Heimat“ die Rede war, lässt auf das Bedürfnis schließen, nicht nur dem Krieg und dem Kriegstod Sinn zu verleihen, sondern auch die neue Situation zu erörtern und sich selbst zu verorten. Das spiegelt sich in der vielsagenden und vielschichtigen Verwendung der Ausdrücke „Heimat“, „für uns“ usw. wider. Die religiöse Deutung bildete den Rahmen für Denkmalsgestaltung und Weltkriegsdeutung, obwohl sich nicht-kirchliche Deutungen entwickelten. Innerhalb dieses Rahmens spielten sich auch die Vorsichtsmaßnahmen und Kompromisse gegenüber der neuen Titularnation bzw. dem Siegerstaat ab, wobei das Verhältnis zu den rumänischen Nachbarn auf lokaler Ebene wohl als unbelastet und das Miteinander als eingeübt und traditionell gelten kann. Die artikulierte Loyalität gegenüber dem neuen Staat lässt sich in beiden Fällen durch den wegfallenden Magyarisierungsdruck der Vorkriegszeit erklären, was zusätzlich durch die Art und Weise der Rumänen erleichtert wurde. Die Deutschen im Banat und in Siebenbürgen nutzten die ihnen ermöglichten Freiräume und pflegten ihr Eigenbewusstsein, während sie im Gegenzug auf Revanchismus verzichteten. Dieses Integrationsangebot fiel Rumänien leichter als anderen „Siegerstaaten“ nach 1918 – die Tschechoslowakei, Polen, die baltischen Staaten – die ihren Minderheiten und
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deren Gefallenen nur in Ausnahmefällen einen Heldenstatus zusagten. Im Unterschied zu diesen neu entstandenen Nationalstaaten existierte Rumänien schon viele Jahrzehnte vor dem Weltkrieg als Staat, weshalb weniger Legitimierungsbedarf für seine Entstehung und Existenz durch den Krieg bestand. Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Banat und Siebenbürgen liegt darin, dass bei den Siebenbürger Sachsen ein deutlich stärkeres Selbstbewusstsein als Sachsen vorlag und die Rolle der Evangelischen Landeskirche A. B. gut eingespielt war. Diese Traditionsstränge und das Selbstbewusstsein erleichterten die Positionierung der „Heimat Siebenbürgen“ als Bezugspunkt der Kriegerdenkmäler und der Sinnstiftung. Ein Erwachen bzw. ein wie unter einem Schwabenbischof geschaffenes Identitätsbewusstsein, das auch gepflegt werden musste, war gar nicht nötig, da bereits vorhanden und durch die Selbstbehauptung seit dem Ausgleich 1867 bzw. 1876 geschärft. Nach dem Wegfall des Magyarisierungsdrucks musste in Siebenbürgen kein Vakuum gefüllt werden. Da Siebenbürgen 1916 Schlachtfeld war, kommt zu dem Gedenken an die eigenen Toten auch das Gedenken an die reichsdeutschen Gefallenen hinzu, organisiert durch die reichsdeutsche wie sächsische Kriegsgräberfürsorge. Sorgte schon die Befreiung 1916 durch deutsche Truppen für einen sächsisch-deutschen Solidarisierungsschub, so war die Erinnerung daran nach 1918 ein wichtiger Baustein in der Identität der Sachsen. „Gefallen für uns“, „Schutz der Heimat“, „Deutsche Treue“, „Deutsche Brüder“ waren keine Floskeln, sondern artikulierten tatsächliche, ganz konkrete Erfahrungen, die man mit den gefallenen deutschen Soldaten verband und die die Erinnerungen an den Krieg wieder wachriefen. Durch die Pflege reichsdeutscher Gräber und ihre Aufnahme auf sächsische Friedhöfe „an Sohnes statt“ stellte das Zusammenrücken der sächsischen und der reichsdeutschen Kriegsgräberfürsorge, und damit des Gedenkens, das entscheidende Element des sächsischen Kriegsgedenkens dar. Gerade durch die zusammengelegten Denkmäler wurden die speziellen Kriegserfahrungen der Sachsen in Verbindung mit dem traditionellen Eigenbewusstsein verarbeitet, ohne dass dabei „Deutschtum“ übertrieben wurde oder zur Revanche aufgerufen wurde. Die Erinnerung an den Krieg war konkreter, aber der Krieg war nicht, wie im Verliererstaat Deutschland, mit der Perspektive eines neuen Krieges verlängert. Dafür sorgten die Rolle der evangelischen Landeskirche und die praktizierte Einvernehmlichkeit mit der rumänischen Seite. Dies wiederum wurde dadurch erleichtert, dass die Rumänen sogar bei solch martialischen Denkmälern wie dem in Kerz ihre – in diesem Fall fast wörtlich „entwaffnende“ – Formel „Alle waren Helden“ anwendete. SCHLUSSBETRACHTUNG: BEDEUTUNG DER KRIEGERDENKMÄLER UND DES GEDENKENS Man kann bei allen Unterschieden, bedingt durch konfessionelle, soziale und historische Gründe sowie durch unterschiedliche Kriegserfahrungen, deutliche Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in der Art und dem Zweck des Gefallenengedenkens erkennen: Der Rückgriff auf religiöse Elemente bzw. die Deutungshoheit
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der jeweiligen Kirche, ferner auf „Heimat“ als Bezugspunkt und Aufwertung der gefallenen Mitbürger bzw. lokalen Gruppenmitglieder als Helden. All dies erfolgte ohne nennenswerte Staatskritik, Aggressivität, Revanchismus oder alldeutschen Nationalismus gegen das neue Rumänien. Der Krieg war offenbar verarbeitet, auch wenn die Erinnerung daran wach und präsent war. Die Sachsen und Schwaben fanden sich mit der Situation ab – aber und gerade auch mit der ihnen eingeräumten Rolle und Nische. Religiöser Trost, der nicht zuletzt am Kriegerdenkmal zele briert wurde, war die erfolgreiche Methode. Dazu kam die gemeinsame Erfahrung der Herkunft, des Ungarndeutschtums, das vor 1918 einen ausgeprägten Magyarisierungsdruck erfahren hatte. Das Verhalten der Rumänen gegenüber den Erinnerungspraktiken der Deutschen an den Krieg und seinen Opfern erleichterte es der deutschen Minderheit im Lande, sich mit ihrer Lage abzufinden. Siebenbürger Sachsen und Schwaben konnten ihre Traditionen und Erfahrungen, in einer multiethnischen Region und Heimat zu leben, im neuen Staat fortführen und dies auch am Totenkult artikulieren. Die Art der Sinngebung, die „Formel“, die dies im Sinne von Verarbeitung und positiver Stabilisierung gelingen ließ, kann man als Anerkennen aller als Helden bzw. als „Trauern und trauern lassen“ benennen. Vor Interpretationen, wofür die Toten nun gestorben seien, kam der Raum, an dem die Angehörigen wie die Dorfgemeinschaft und Gruppe trauern konnten, ob es sich um ein konkretes Denkmal, um Ersatzgräber oder auch im übertragenen Sinne um den kirchlichen Kalender handelte. Von daher kann man die Denkmäler im Sinne Pierre Noras36 als „Erinnerungsorte“ bezeichnen, als identitätsstiftende Räume sowohl im persönlichen Gedenken als auch im kollektiven Gedächtnis einer Gruppe. Selbst dieses „wofür“ – die Heimat, die Gemeinschaft – war konkret erfahrbar und nachvollziehbar und ließ sich von den Trauernden mit persönlicher Trauer füllen, was den Krieg und den Verlust verarbeiten half. Bei einer Erörterung dieser Formel des Gelingens, das Anerkennen als Helden und die Trauer, fällt zunächst einmal auf, dass es keine gemeinsame Trauer gab – kein Denkmal für alle Kriegsopfer derjenigen, die im neuen Rumänien lebten. Zwar gab es einen staatlichen Heldengedenktag, wie etwa bei den Feiern in Temeswar, doch konnte jeder nach dem offiziellen Teil seiner Wege, d. h. zu seinem Friedhof gehen. Abgesehen also von diesem Feiertagstermin handelte es sich in Rumänien um keine verordnete Staatstrauer, der sich die Nichtangehörigen der Titularnation beugen mussten. Dass dies ein positiver Ansatz war, ist leicht nachvollziehbar. Geschickt war es ebenfalls, vieles offen zu lassen. Es wurde bei der Bezeichnung „Opfer“ nicht definiert,37 ob es sich um „passive“, vom Krieg dahingeraffte Opfer handelte, oder um „aktive“ Freiwillige. Vorrangig konnten die jeweils Trauernden und Erinnernden die Toten als Verlust beklagen. Es ist jedoch auch klar und deutlich geworden, dass die Rumänen bei ihrer Anwendung der Formel „Alle waren Helden“ keinesfalls sich auf die Ebene der Min36 37
Nora, Pierre: Das Zeitalter des Gedenkens. In: Erinnerungsorte Frankreichs. Hg. v. dems., Mün chen 2005, 543–578, 575. Koselleck, Reinhart: Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte. In: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Berlin 2010, 254–268, 259–260.
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derheiten begaben. Nicht sie übernahmen deutsche Inschriften, sondern die Banater Schwaben rumänische, nicht sie übernahmen deutsche Gedenktermine, sondern die Minderheiten die offiziellen rumänischen. Es war unausgesprochen klar, wer das Sagen hatte. Zwar wurde keiner zum Verlierer erklärt, aber es gab dennoch – trotz der benannten Gleichheit als Helden – eine Hierarchie der Gewinner. Es handelte sich eindeutig nicht um eine Versöhnung auf Augenhöhe, wie sie Koselleck am Beispiel des deutsch-französischen Verhältnisses über den Gräbern von Verdun als Ergebnis des Krieges herausgestellt hat.38 Dies ist sicherlich schnell ersichtlich, da es sich bei Deutschland und Frankreich ja um zwei gleichwertige Nationalstaaten handelt und nicht um einen Staat mit multiethnischer Gemengelage. Aber die Rumänen ließen die Deutschen, im Rahmen des Duldbaren und als Gruppe respektiert, ihre Denkmäler bauen. Die Rumänen konnten dies gestatten und beispielsweise bei Einweihungsfeiern oder dem Heldengedenktag dabei sein mit der Begründung, gemeinsam in der Trauer zu sein. Zwar waren die Erfahrungen des Krieges, die Trauer der einzelnen als „Primärerfahrungen“ nicht übertragbar,39 da Trauer nicht teilbar ist,40 aber, so Koselleck, in der Gemeinsamkeit der Trauer „findet sich zusammen, was nur scheinbar getrennt ist: die Vielzahl der persönlichen Erinnerungen, gegründet in ebenso vielfältigen Erfahrungen, sowie unser aller Geschichte, die das ermöglicht hat.“41 Diese Art der Trauer um die Gefallenen, die keine Vereinheitlichung darstellte, erlaubte nun, ja beförderte und bewirkte viel mehr, so merkwürdig sich das anhören mag, eine Regionalisierung, Lokalisierung, ja Individualisierung von Trauer, die nichts forderte und die Politisierung, Nationalisierung und Ideologisierung einzudämmen diente. An dieser Stelle sei Norbert Elias‘ Bemerkung über angemessenes Kriegsgedenken zitiert, die er als Jude zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs formuliert hat: „Wir trauern heute um diese Toten – ich ganz besonders um die meinen und andere um die ihren. Sie sind nicht vergessen.“42 Elias lässt die anderen, immerhin die Täter, die Besiegten, um ihre Toten trauern. Er thematisiert an dieser Stelle nicht das Verhältnis „Sieger – Besiegte“ oder „Opfer – Täter“, sondern die Trauer und die Individualität des Umgangs mit Verlust,43 sodass moralische Forderungen in den Hintergrund rücken. Das offizielle Gedächtnis mit all seinen Gefahren der Politisierung wird entschärft und dem persönlichen Erinnern und Trauern wird Raum gegeben. So etwa erfolgte es im Banat und in Siebenbürgen. Dass dies nicht selbstverständlich war, zeigen andere Fälle deutscher Minderheiten in nach 1918 entstandenen Staaten – etwa in der Tschechoslowakei und in 38 39 40 41 42 43
Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, 30. Koselleck, Reinhart: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses. In: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin 2010, 241–253, 243. Ebd., 248. Koselleck, Der 8. Mai, 265. Elias, Norbert: Humana conditio. Beobachtung zur Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eines Kriegsendes (8. Mai 1985). Frankfurt/Main 1985, 55. Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart 2010, 151.
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Lettland, wo Denkmäler der Deutschen in der Zwischenkriegszeit für Zündstoff sorgten und gar in die Luft gesprengt wurden. Einmal mehr werden die vielschichtigen Erinnerungslandschaften und vielfältigen Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas deutlich, die sich von jenen Westeuropas unterscheiden, wie jüngst noch Christoph Cornelißen resümierte.44 Dass aus diesem reichhaltigen Erinnerungsfundus zu schöpfen ist, dass aus dem Fall Banat und Siebenbürgen im Rumänien der Zwischenkriegszeit in Hinsicht des Weltkriegsgedenkens und Verarbeitens zu lernen ist, ist der Ertrag dieser Untersuchung.
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Cornelißen, Christoph: Die Nationalität von Erinnerungskulturen als ein gesamteuropäisches Phänomen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H. 1/2 (2011), 5–16, 12–13.
DIE UNGARISCHE ZEITUNGSLANDSCHAFT 1914–1920 Mária Rózsa Ziel dieser Abhandlung ist eine Zusammenfassung der in Ungarn zwischen 1914 und 1920 ausschließlich in ungarischer Sprache täglich erschienenen politischen Tageszeitungen, wobei von dieser Überblicksdarstellung die damals beliebten illustrierten Familienblätter, Zeitschriften (darunter auch die belletristischen) sowie die fremdsprachigen Periodika im Allgemeinen ausgenommen sind.1 Die politische Presse dieser Zeit wurde nur teilweise zum Gegenstand einer systematischen Erforschung: Der letzte Band der von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen, bis heute unvollendet gebliebenen Pressegeschichte A magyar sajtó története [Geschichte der ungarischen Presse] ist 1985 erschienen und reicht bis ins Jahr 1892.2 Mit der darauffolgenden Epoche befasste sich Géza Buzinkay in mehreren Studien bzw. Buchabschnitten, die ich als grundlegende Quelle für meine Zusammenfassung verwendet habe. Darüber hinaus veröffentlichte György Kemény 1942 eine Bibliographie der ungarischen Presse von 1911 bis 1920, die viele gut brauchbare statistische Angaben enthält.3 Einführend kann festgestellt werden, dass in den auf 1880 folgenden drei Jahrzehnten die Entwicklung der ungarischen Presse innerhalb geregelter gesetzlicher Verhältnisse verlief. Demgemäß wuchs die Anzahl der Presseprodukte sowohl in der Hauptstadt als auch in den größeren Provinzstädten. In der Provinzpresse stellte Géza Buzinkay Identitätsprobleme fest, denn sie sollte einerseits einen regionalen Leserkreis für sich erobern bzw. Informationen für ihre Leser vor Ort sammeln, und andererseits war sie gezwungen, sich im Konkurrenzkampf mit der hauptstädtischen Presse zu bewähren.4 Seit den 1890er-Jahren übten die unabhängigen Zeitungen den größten Einfluss auf die Öffentlichkeit. Die populärsten unabhängigen Blätter waren liberal eingestellt. An erster Stelle stand Pesti Hírlap [Pester Zeitung] (1878–1944), mit Hauptmitarbeiter Kálmán Mikszáth (1847–1910), neben Mór Jókai dem populärsten
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Einen Schwerpunkt auf diese Blätter setzt in seiner großen, auf Deutsch erschienenen Studie Géza Buzinkay: Die ungarische politische Presse. In: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, VIII/2, Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, 2. Teilband: Die Presse als Faktor der politischen Mobilisierung. Hg. v. Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch. Wien 2006, 1895– 1976. A magyar sajtó története [Geschichte der ungarischen Presse] 1867–1892, II. Hg. v. Domokos Kosáry und Béla G. Németh. Budapest 1985. Magyarország időszaki sajtója [Ungarns Presse]. Hg. v. György Kemény. Budapest 1942, XL. 4 Buzinkay, Géza: Magyar hírlaptörténet [Ungarische Pressegeschichte]. Budapest 2008, 90, 98.
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Schriftsteller Ungarns. Ihre Auflagenzahl betrug manchmal 250.000.5 Über die Einstellung der Pesti Hírlap zum Weltkrieg schreibt Buzinkay, dass sie im Gegensatz zu der sozialdemokratischen Presse den Krieg als Anliegen der ungarischen Nation betrachtet habe und sich dafür einsetzte, dass bis zum letzten Blutstropfen gekämpft werden müsse. Für diese Ansichten hatte die Zeitung übrigens 1919 während der Räterepublik Retorsionen erleiden müssen.6 Pesti Hírlap schrieb über die begeisternde Wirkung der Mobilisierung und den Krieg hielt sie für eine „notwendige Operation“, die „eine giftige Seuche aus Europas internationalem Blutkreislauf entfernen solle“.7 Pesti Hírlaps Rivalin hieß Budapesti Hírlap [Budapester Zeitung] (1881– 1939), die sich 1881 von der Pester Zeitung abgespalten hatte und deren Auflagenzahl zeitweise die der Pesti Hírlap übertraf. Sie war das Organ des oppositionellen nationalen Widerstandes, der auch den Fortbestand der Doppelmonarchie in Frage stellte.8 Eigentümer und Chefredakteur war Jenő Rákosi (1842–1929), der während des Ersten Weltkrieges das Privileg erhielt, ohne Kriegszensur für andere Organe gesperrte Informationen zu bekommen. Ein weiteres unabhängiges Blatt war Pesti Napló [Pester Tageblatt] (1850– 1939), die älteste Tageszeitung Ungarns, deren Auflagenzahl im Jahr 1913 70.000 betrug. Sie übte einen besonderen Einfluss auf die gesellschaftliche Elite und das liberale Großbürgertum aus, das mit verschiedenen gemäßigt oppositionellen Gruppierungen sympathisierte. Von 1901 bis 1917 war József Surányi Eigentümer und Chefredakteur der Zeitung, der zudem Schriftsteller und Inhaber einer Gummifabrik war. 1917 erwarb Baron Lajos Hatvany das Eigentumsrecht an der Zeitung. Seitdem wurde der Kulturrubrik noch mehr Wichtigkeit zugemessen, und die bürgerlich radikalen und pazifistischen Ansichten des Barons spiegelten sich in der Zeitung wider. Nach der Räterepublik ging sie mit Einwilligung des emigrierten Hatvany in den Besitz des Est-Zeitungskonzerns über.9 Die aus der Pesti Napló hervorgegangene Tageszeitung Budapesti Napló [Budapester Tageblatt] (1896–1918) war ein hervorragend redigiertes, interessantes und vielseitiges Blatt, das vor allem in liberalen Intellektuellenkreisen und bei der Budapester Mittelschicht gelesen wurde. Die Auflagenzahl der ständig mit finanziellen Problemen kämpfenden Zeitung betrug jedoch nur etwa 20.000.10 1903 gründete der Publizist Ödön Gajári, ein langjähriger Anhänger des Ministerpräsidenten István Graf Tisza, die Zeitung Az Újság [Die Zeitung] (1903–1925). Während Tiszas zweiter Ministerpräsidentschaft (vom 13. Juni 1913 an bis zu seinem Tod) trat Ungarn in den Ersten Weltkrieg ein. Tisza, Mitglied der Arbeiterpartei, die aus den Mitgliedern der früheren Freiheitlichen Partei entstand, war überzeugter Anhänger des Dualismus und wurde am 31. Oktober 1918, am Tage der sogenannten „Asternrevolution“, in seiner Villa erschossen. Danach wurde eine 5 6 7 8 9 10
Buzinkay, Die ungarische politische Presse, 1957–1958. Ebd., 1959. Zitiert nach: Dezsényi, Béla/Nemes, György: A magyar sajtó 250 éve [250 Jahre ungarische Presse]. Budapest 1954, 268. Buzinkay, Die ungarische politische Presse, 1959. Ebd., 1960–1961. Ebd., 1961.
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bürgerlich-demokratische Regierung mit dem Ministerpräsidenten Mihály Károlyi gebildet. Eine besondere Gruppe innerhalb der politischen Zeitungen bildeten die parteipolitischen Periodika. Zu den katholischen Zeitungen gehörte Alkotmány. Politikai és közgazdasági napilap [Verfassung. Politisches und ökonomisches Tagblatt] (1895–1919). Alkotmány war das Organ der Katholischen Volkspartei, die 1913 in etwa 15.000 Exemplaren erschien. Redakteur der Zeitung war Béla Turi. Ziel der konservativen Herausgeber war der Kampf gegen Erneuerungsbestrebungen innerhalb der katholischen Kirche und somit gegen die sich in Westeuropa verbreitenden liberalen Ideen. In Alkotmány wurde des Öfteren das Wort gegen kirchenpolitische Reformen, die Einführung der Zivilehe sowie die staatliche Matrikenführung ergriffen.11 Ihre Fortsetzung hieß: Nemzeti Újság. Keresztény politikai napilap [Nationalzeitung. Christliches politisches Tagblatt] (1919–1944). Der Redakteur beider Zeitungen war Ferenc Bonitz. 1902 wurde vom Landesverband Katholischer Organisationen die Zeitung Új Lap [Neues Blatt] gegründet, die in der Redaktion von Ödön Gyürky bis 1944 bestand. Mit diesem Organ zielte man auf eine Steigerung der Popularität nach dem Beispiel der Boulevardpresse und dadurch auf die effektivere Verbreitung erzieherischer Grundsätze. Das Blatt kostete einen Kreuzer und erschien in 80.000 Exemplaren. Das radikale Blatt Világ [Welt] (1910–1926), eine Gründung der Freimaurer, vertrat einen europäischen Geist und war militant antiklerikal. 1913 übernahm Lajos Purjesz (1880–1925) die Redaktion. 1914 wurde Világ zum offiziellen Parteiorgan der Bürgerlichen Radikalen Partei (Polgári Radikális Párt).12 Am Anfang des Krieges war die Haltung des Blattes ziemlich unsicher in seiner Kriegsfeindlichkeit. Oszkár Jászi (1875–1957), ein maßgebender Mitarbeiter der Zeitung, setzte sich bald für das allgemeine Wahlrecht in Ungarn ein und argumentierte für eine demokratische Grundbesitzpolitik und für die Gleichberechtigung der Nationalitäten. Von 1915/16 wurde Világ immer kriegsfeindlicher, wobei zu den meistbesprochenen Themen die Erörterung der Möglichkeiten einer demokratischen Umgestaltung Ungarns sowie ganz Mitteleuropas gehörte. Ihr Mitteleuropa-Gedanke basierte auf einem demokratischen Deutschland und einem föderalistischen Österreich-Ungarn, die Schutz gegen Russland bzw. die Großmächte bieten könnten. Ab 1917 unterstützte Világ die Friedenspolitik von Mihály Károlyi. Während der Räterepublik verstummte das Blatt, nach 1919 verlor Világ an Radikalität und 1920 emigrierten viele führende Mitarbeiter der Zeitung.13 Die Unabhängigkeitspartei – damals in Opposition – gab das Blatt Magyarország [Ungarn] (1893–1944) heraus, die erste Abendzeitung Ungarns. Nach 1910 verlor sie an radikalen Ansichten und Formulierungen – die Angriffe auf nationale Minderheiten wie Juden und Deutsche betrafen, die Aristokratie, aber auch Stel11 12 13
Ebd., 1965. Ebd., 1967–1968. Litván, György: Vorwort zu Világ. Repertórium (1910. március 30.–1926. április 30.) [Világ. Repertorium 30. März 1910–30. April 1926]. Hg. v. Gyöngyvér Czére. Budapest 1984, Vorwort X–XVIII.
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lungnahmen gegen den Ausgleich – und folgte Mihály Károlyis Linkstrend. Ihre Auflagenzahl konnte die 50.000 nicht überschreiten. 1919 wurde das Blatt vom Est-Konzern außerordentlich konstengünstig aufgekauft.14 Die seit 1877 und bis heute erscheinende Népszava [Volksstimme] war das Presseorgan der Sozialdemokratischen Partei und diente dadurch den Interessen bzw. der Erziehung der Arbeiter.15 Die Zeitung erschien zuerst dreimal wöchentlich und erst ab 1905 wurde sie zu einer Tageszeitung. 1903 erreichte sie eine Auflage von 90.000 Exemplaren. Die unter der Leitung Albert Graf Apponyis stehende Partei der Gemäßigten Opposition gründete die Zeitung Magyar Hírlap [Ungarische Zeitung] (1891– 1938). Die bald zu einem unabhängigen Organ umgestaltete Zeitung war eher das Sprachrohr freiberuflicher Intellektueller, demgemäß war ihr Lesepublikum relativ klein (Aufagenzahl 20.000), aber doch einflussreich. Autor von Leitartikeln war der hochgeschätzte Journalist, Literaturkritiker, Dichter und Schriftsteller „Ignotus“ (d. i. Hugó Veigelsberg, 1869–1949), einer der Begründer und von 1908 bis 1929 Chefredakteur der herausragenden ungarischen Zeitschrift Nyugat [Westen].16 Als einen Höhepunkt des ungarischen Pressegeschäfts betrachtet Buzinkay die Gründung der Zeitung Az Est [Der Abend] (1910–1938). Es handelte sich dabei um ein anspruchsvolles Boulevardblatt, das in einer wohlorganisierten Reklamekampagne vorangekündigt wurde. Der Eigentümer und Redakteur Andor Miklós (1880–1933) gründete stufenweise einen beachtlichen Zeitungskonzern, indem er neben Verlag und Druckerei nach und nach andere Zeitungen (Magyarország, Pesti Napló) aufkaufte. Für das Blatt war eine anspruchsvolle äußere Gestaltung kennzeichnend und es verfügte über ein ausgedehntes Reporter- und Korrespondentennetz. Im Mittelpunkt dieser in der breiten Öffentlichkeit beliebten Zeitung standen die interessantesten Tagesneuigkeiten und Sensationen; die Politik wurde in den Hintergrund gedrängt. Neben Börsennachrichten verfügte das Blatt erstmals über einen ganzseitigen Sportteil. Die Redaktion bemühte sich um die Zusammenarbeit bedeutender Schriftsteller und Dichter. Lajos Mikes (1872–1930), der für den Literaturteil zuständige Redakteur, unterstützte zudem junge dichterische Talente und Schriftsteller. Die Zeitung hatte großen Erfolg, und bereits im Gründungsjahr wurde sie täglich in 80.000 Exemplaren gedruckt. Mitte des Ersten Weltkrieges erreichte die Auflagenzahl an manchen Tagen eine halbe Million.17 Zwar schloss sich zu Kriegsbeginn Az Est der Mehrheit der ungarischen Presse an, die die Kriegserklärung begrüßte, nach 1916 jedoch begann ihr Glaube an den Sieg zu wanken, und im August 1916 berichtete man in der Zeitung häufig über das Elend im Land.18 Im Jahr 1918, nach der „Asternrevolution“, stand Az Est wie die Mehrheit der bürgerlichen Presseorgane auf der Seite von Mihály Károlyi. Nach der Räterepublik
14 15 16 17 18
Buzinkay, Die ungarische politische Presse, 1966. Ebd., 1966–1967. Ebd., 1969. Ebd., 1968–1970. Dezsényi/Nemes, A magyar sajtó 250 éve, 270.
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positionierte sich die Zeitung zwischen „klugem Konservativismus“ und „vernünftigem Liberalismus“.19 Unter den Provinzstädten waren Pressburg (Bratislava/Pozsony), Klausenburg (Cluj-Napoca/Kolozsvár), Großwardein (Nagyvárad/Oradea), Temeswar (Temesvár/Timişoara) und Arad Pressezentren. Ihre politischen Tageszeitungen waren in Pressburg Nyugatmagyarországi Híradó [Westungarisches Nachrichtenblatt],20 in Klausenburg Kolozsvári Hírlap [Kolozsvárer Nachrichtenblatt] (1908–1919), in Großwardein Nagyváradi Napló [Tageblatt von Nagyvárad] (1898–1934) und Nagyvárad (1870–1934), in Temeswar Délmagyarországi Közlöny [Südungarischer Anzeiger]21 und Temesvári Hírlap [Temesvarer Nachrichtenblatt] (1903–1939) und in Arad Aradi Híradó [Arader Nachrichtenblatt] (1894–1918) sowie Aradi Közlöny [Arader Anzeiger] (1885–1935). Die meisten wurden noch vor dem Ende des Krieges aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt, manche existierten in den Nachfolgestaaten eine Zeit lang weiter. Nach der Trennung von Ungarn erschienen sogar ungarischsprachige Neugründungen in den Nachfolgestaaten wie Aradi Friss Újság [Arader Frischzeitung] (1919–1922) in Arad, Keleti Újság [Ostzeitung] (1918–1944) und Új Világ [Neue Welt] (1919–1920) in Klausenburg.22 In Budapest entwickelte sich ab Ende der 1880er-Jahre eine neue Elite, das Großbürgertum mit seinen besonderen Kulturansprüchen und seinem eigenen Geschmack, das aus Eliten hervorging, die früher eine deutsche Bildung besaßen und größtenteils deutscher Muttersprache waren. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vollzog sich aber seine Magyarisierung, und dadurch etablierte es die Nachfrage nach ungarischen Periodika. Zu dieser Zeit erschien eine neue Gattung innerhalb der Presse, die billige, unterhaltende und somit für jedermann erreichbare Boulevardpresse. Ihre erste Vertreterin war die Ende 1896 ins Leben gerufene Friss Újság [Frischzeitung] (1896–1944). Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erreichte sie Auflagen von täglich 170–180.000 Exemplaren.23 Eine Neuerung im Zusammenhang mit der Boulevardpresse bestand darin, dass man sie nicht abonnieren konnte, da sie auf der Straße verkauft wurde. Weitere Boulevardblätter waren noch die von Sándor Braun redigierte A Nap [Der Tag] (1904–1922), die vom Verlagskonzern von Jenő Rákosi herausgegebene Esti Újság [Abendzeitung] (1896–1917) sowie 8 Órai Újság [Acht Uhr Zeitung] (1915–1944). Das neue Pressegesetz trat während der Tisza-Regierung am 11. April 1914 in Kraft. Es schrieb eine Berichtigungs- und Wiedergutmachungspflicht sowie für den Fall eines Krieges eine Kriegszensur vor. Die Zeitungen wurden zum Mittel der Kriegspropaganda. Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 6. August 1914, reisten die Kriegsberichterstatter der größten ungarischen Zeitungen (Az Est, 19
Vásárhelyi, Miklós: Vorwort. In: Az Est-Lapok. 1920–1939. Repertórium [Die Est-Blätter. Repertorium]. Hg. v. Ernő Pesti. Budapest 1982, III–IV, IX. 20 Nyugatmagyarországi Híradó erschien seit 1888 und wurde 1919 in Pozsonyi Híradó [Pozsonyer Nachrichtenblatt] umbenannt. 21 Délmagyarországi Közlöny war die Fortsetzung der ab 1871 und bis 1918 erschienenen Délmagyarországi Lapok. 22 Magyarország időszaki sajtója [Ungarns Presse]. Hg. v. György Kemény. Budapest 1942, XL. 23 Buzinkay, Magyar hírlaptörténet, 107.
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Az Újság, A Nap, Budapest, Esti Újság, Magyarország, Világ, Pesti Hírlap und Pesti Napló) nach Wien und wurden von dort an die Front geschickt. Kriegsberichterstatter waren bedeutende Persönlichkeiten des ungarischen Kulturlebens, wie beispielsweise der namhafte Schriftsteller und Dramatiker Ferenc Molnár (1878– 1952) von der Zeitung Az Est. Nach den anfänglichen optimistischen Tönen der Berichterstatter sank infolge der immer größer werdenden Verluste, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten sowie der Niederlagen auch ihr Optimismus, und die allgemeine Stimmung wurde immer verzweifelter. Es gab schon Massendemonstrationen und Streiks. Infolge des Papiermangels wurden auch Beschränkungen für die Presse eingeführt. In den Kriegswirren hielten Druckereien und Verlage die Pflichtexemplargesetze nicht ein, sodass in vielen Bibliotheken die Kriegsjahrgänge der Zeitungen oft lückenhaft sind. Der für die Mehrheit der Periodika charakteristische stark nationalistische Ton wurde leiser, der Glaube an den Sieg der ungarischen Waffen begann ab 1916 zu schwinden und der Friedenswille kam auch in der Presse immer öfter zum Ausdruck. So beispielsweise in einem Kommentar des Pesti Hírlap vom 1. April 1917: „Wir wollen es vor allem mit einer Regierung zu tun haben, die das Vertrauen des ganzen russischen Volkes genießt und mit der wir einen anständigen Frieden schließen können.“ In dem durch die russische Belagerung von der Umgebung völlig abgeschnittene Przemysl in Galizien, wo die ungarischen Soldaten der 23. k. u. k. HonvedInfanteriedivision weder Post noch Zeitungen erhalten konnten, wurde die Tábori Újság [Lagerzeitung] vom 4. Oktober 1914 bis 22. März 1915 zu ihrer Information und Unterhaltung herausgegeben. Dieses Blatt bewahrte die charakteristischen Züge einer Zeitung, sie erschien täglich und in Folioformat. Während der Kriegsjahre erschienen an den verschiedenen Fronten insgesamt 67 verschiedene Lagerzeitungen.24 Dieser Pressetyp mit seiner wegen der Kriegsumstände oft unregelmäßigen Erscheinungsweise ist zwischen der Gattung Zeitung und Flugblatt zu verorten. Die Presse begleitete die sich beschleunigenden Ereignisse der letzten Kriegsjahre und bekam schließlich ihre Folgen unmittelbar zu spüren. Die Nachricht von der Oktoberrevolution nahm die bürgerliche Presse Ungarns erwartungsvoll auf, die diesbezüglichen Hoffnungen wuchsen besonders nach dem Friedensvorschlag der Sowjetregierung.25 8 Órai Újság äußerte den Friedenswunsch folgendermaßen: „Aus den fürchterlichen Wehen von Russland soll die Erlösung der Welt geboren werden […]“ (17. November 1917). Béla Turi, Redakteur von Alkotmány, schrieb: „Die uns am nähesten interessierende Frage ist, welcher von Kerensky und Lenin mehr Hoffnung für den Frieden bietet […]“ (15. November 1917). Az Est sah in Russland ein Vorbild: „150 Millionen Russen gaben das Beispiel dafür, dass sie keinen Krieg führen sollen, wenn sie es nicht wollen. Großer Mut, großes Heldentum ist, während des Kriegs den Krieg zu führen. Noch heldenhafter, noch ehrenhafter 24 25
Lukács, József: A magyar katonai hírlapok és folyóiratok bibliográfiája II. Rákóczi Ferenctől napjainkig (1705–1940) [Bibliographie der ungarischen Kriegszeitungen und Zeitschriften von Ferenc Rákóczi II. bis zu unseren Tagen]. Budapest 1942, 17–19. Dezsényi/Nemes, A magyar sajtó, 276.
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ist es aber, aus dem Krieg Frieden zu machen.“ (1. Dezember 1917) 1918 schrieb Az Est: „Wenn wir mit den Bolschewiks den Frieden abgeschlossen haben, sollten sie uns in Frieden lassen! Die mächtige Zeit, die die leidende Menschheit in ihren Schutz nahm, wird die Bolschewiks von sich abschütteln […]“ (29. Januar 1918). Pesti Hírlap nannte die Bolschewiks „Abenteurer“ (26. Februar 1918). Im Oktober-November 1918 war die Auflösung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn schon eine Tatsache, am 6. November wurde Ungarn zu einer Volksrepublik, Karl I. (Karl IV. als König von Ungarn) dankte als Kaiser von Österreich ab. Auf dem Gebiet des zerfallenen Reiches entstanden Nationalstaaten. Der Ministerpräsident Mihály Graf Károlyi übergab die Macht an den Revolutionären Regierenden Rat, der aus der Kommunistischen und der mit ihr verbündeten Sozialdemokratischen Partei bestand und der am 21. März 1919 die Räterepublik proklamierte. Während der 133 Tage dauernden Räterepublik (22. März – 2. August 1919) wurden u. a. Alkotmány, Budapesti Hírlap, Magyarország, Kis Újság und Új Lap verboten, Világs Titel wurde auf Fáklya [Die Fackel] geändert.26 Für die Lenkung der Presse war Volkskommissar György Lukács zuständig. Vom 4. August bis zum 28. September 1919 erschienen keine Presseprodukte. Inzwischen wurde die territoriale Integrität Ungarns von rumänischen und tschechoslowakischen Truppen bedroht. Anfang August 1919 trat der Revolutionäre Regierende Rat zurück und am 1. März 1920 wählte die provisorische Nationalversammlung Konteradmiral Miklós Horthy zum Reichsverweser. Ungarn wurde somit wieder zum Königreich, jedoch ohne König. Der Friedensvertrag wurde am 4. Juni 1920 im Schloss Trianon unterzeichnet, demzufolge Ungarn zwei Drittel seines Gebiets verlor. Die Auswirkungen des Krieges auf die Presse waren tiefgreifend: Zwischen 1911 und 1920 sank die Anzahl der politischen Tages- und Wochenzeitungen um 62,3 Prozent.27 Ein Vergleich der Presselandschaft vor dem Krieg mit jener danach veranschaulicht diese Tendenz: 1911 erschienen in Ungarn 816 Zeitungen, 1920 nur noch 305.28 EXKURS: DIE LEITARTIKEL DES PESTER LLOYD ZUM THEMA KRIEG UND FRIEDEN 1917–1920 Neben dem Überblick über ungarischsprachige Zeitungen soll im Folgenden die größte deutschsprachige Zeitung Ungarns, der Pester Lloyd (1854–1945), in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Dabei wird zeitlich auf die letzten Kriegsjahre fokussiert, besonders auf die Einstellung des Blattes zum Krieg nach 1916 sowie zu den Friedensverhandlungen und zu dem für Ungarn besonders ungünstigen Friedensschluss. Die Tatsache, dass der Pester Lloyd als eine der wichtigsten Zeitungen Ungarns deutschsprachig war, sei nach Buzinkay nicht als paradox zu deuten, bedürfe jedoch näherer Erläuterungen. Er sieht die Zeitung als ein gediegenes, maßgebliches 26 Magyarország időszaki sajtója, XXXI. 27 Buzinkay, Die ungarische politische Presse, 1976. 28 Magyarország időszaki sajtója, VII.
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Orientierungsorgan sowohl für die ungarische Elite als auch für das Ausland, wohin sie kultur- und wirtschaftsbezogene Nachrichten über Ungarn lieferte. Allerdings werde der Pester Lloyd in ungarischen Pressegeschichten nur randläufig erwähnt.29 Chefredakteur des Pester Lloyd während der Kriegsjahre war der Schriftsteller, Journalist, Redakteur und Mitglied des Magnatenhauses József Vészi (1858–1940). Der sowohl über eigene Berichterstatter als auch über amtliche Meldungen des Ungarischen Nachrichtenbüros berichtende und um einen objektiven Ton bemühte Pester Lloyd schenkte dem Sieg der Oktoberrevolution in Russland besondere Aufmerksamkeit: Aus dem gärenden Chaos Rußlands dringt eine Kunde in die Welt, die das Hundertmillionenreich in einer schweren, entscheidenden Stunde zeigt. Die Bolschewiki haben in der Hauptstadt die Macht an sich gerissen; dort haben sie die Armee in ihrer Hand, auf sie stützt sich ihr revolutionäres Komitee, das die Regierung gefangen gesetzt hat und vor dem Kerenski sich nur durch die Flucht retten konnte; aber Befehle des Komitees fliegen ins Land, die den gestürzten Diktator in Bann erklären und jeden, der ihm weiterhilft, zum Staatsverbrecher stempeln. So wird verfügt im Namen der Arbeiter- und Soldatenrevolution, die in Petersburg Siegerin ist. Siegerin ohne Blutvergießen, nach einem unblutigen Staatsstreich.30
Der Verfasser des Leitartikels vom 11. November 1917 analysiert den Friedensvorschlag der neuen sowjetischen Regierung in vergleichender Betrachtung der im Vorfeld unterbreiteten, vom Autor als heuchlerisch bezeichneten Friedensbemühungen der Entente und bringt schließlich seine Bedenken bezüglich der Stabilität der neuen Regierung in St. Petersburg zum Ausdruck: Die Hauptwaffe aber, über die die neuen Herren gegen ihre gewiß sehr zahlreichen und erbitterten inneren Feinde verfügen, besteht nicht aus Truppen und Kanonen, sondern aus den schlagkräftigen Losungsworten ihrer Friedenspolitik. […] Dieser Erkennnis entspricht die erste Handlung der neuen Regierung, von der uns eine Depesche der wieder einmal einem neuen Auftraggeber botmäßigen Petersburger Telegraphenagentur Kunde gibt. Was man aus dieser Depesche erfährt, ist im Wesentlichen Folgendes: Der allrussiche Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte, der in ähnlicher Weise der parlamentarische Schild Lenins ist, wie das nun gesprengte Vorparlament der Kerenskis sein sollte, hat die Grundzüge eines Friedensvorschlages angenommen, das heißt, er hat anscheinend im Einvernehmen mit der Regierung einen Resolutionsantrag betreffend die praktische Durchführung der Friedenspolitik angenommen, den Lenin und sein Kabinett für ihre ersten Schritte in der Friedensfrage sich zu eigen machen werden. Dieser Friedensvorschlag ist aber höchst bemerkenswert. Er überrascht nicht so sehr durch den Inhalt und die Einzelheiten des empfohlenen Friedensprogramms. […] Der demokratische und gerechte Friede, den der Sowjet und seine Regierung schließen möchten, ist vielmehr ein alter Bekannter, dem wir schon wiederholt ins Antlitz geschaut und dem die Mittelmächte schon mehr als einmal mit williger Freundlichkeit begegnet sind. Das hat der Sowjet auch gefühlt und sich darum bemüht, die Ideen des annexionslosen Friedens diesmal wenigstens mit einem konkreteren Inhalt, als bisher von revolutionären Friedensstiftern versucht ward, zu erfüllen. Und hierin allerdings ist es ihm gelungen, eine Originalität zu erweisen, die nicht nach unserem Geschmack ist und die wir keineswegs als friedensförderlich erachten können. Bisher hat man beim annexionslosen Frieden an solche Gebiete gedacht, die von feindlichen Truppen erobert und besetzt sind. Der Sowjet verfehlt aber darunter auch Gebiete, die sich seit jeher im Besitze eines Staates befanden, und hat den kühnen Gedanken, alte Besitzrechte 29 Buzinkay, Magyar hírlaptörténet, 71. 30 Rußlands entscheidende Stunde. In: Pester Lloyd Nr. 277, 9.11.1917, 1. Leitartikel wurden ohne Angabe des Autors abgedruckt.
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einer gründlichen Revision zu unterziehen und von dem Ergebnis von Volksabstimmungen abhängig zu machen, die sofort wahrzunehmen wären, wenn in einem Lande irgendwer irgendwie das Verlangen danach aussprechen würde. Man sieht, hier ist auf verblüffende Weise das niedergeworfene Selbstbestimmungsrecht der Nationen in einem Sinne, der ihm seit jeher besonders gern von der Entente verliehen wird, in den Begriff des annexionslosen Friedens hineingeschmuggelt. Der Sowjet selbst muß die Empfindung gehabt haben, daß er mit diesem Verfahren und dieser Anregung weit über das Ziel hinausschießt und dem Zwecke, dem er dienen wollte, Abbruch tut. Wenn es in dem Beschlusse des Kongresses heißt, ‚daß die erwähnten Bedingungen nicht als endgültig bezeichnet werden sollen‘, so meinen wir, daß sich diese Einschränkung vor allem auf jene Übertreibungen und gefährlichen Unklarheiten bezieht oder beziehen müßte, gegen die bei aller ehrlichen Bereitschaft zu einem gerechten und vernünftigen Frieden die Mittelmächte zweifellos ganz entschieden sich auflehnen würden. […] Die Entente hat mittlerweile, wenn sie unter einem augenblicklichen Druck ihrer friedensdurstiger Völker von Zeit zu Zeit Friedensbereitschaft vorheuchelte, den Weg mit so viel Voraussetzungen und Vorausbedingungen künstlich verlegt, daß ihre Entschlossenheit, ihn nicht zu betreten, daran erkannt werden mußte. Nichts von alledem im Friedensvorschlag des Sowjet: Er redet von Besprechungen und Mitteilungen, von Konferenzen und Bevollmächtigten, von allem, was in Wirklichkeit die einzige Voraussetzung und Vorverbindung ist, die es braucht, um zum Frieden zu gelangen. Schon dafür wird die Welt den Männern dankbar sein, die jetzt in Petersburg über das Schicksal des Friedens beraten. Schon dafür, obwohl zugleich die Vorsicht mahnen wird, abzuwarten, ob die Regierung, hinter der der Sowjet steht, lange genug am Ruder sein wird, um den von ihm beschlossenen Vorschlag in einer für Verhandlungen brauchbaren Form den kriegführenden Regierungen zu übermitteln und den weiteren Verlauf der Dinge im Geiste dieses Vorschlages zu leiten.
Nach den Berichten über die Friedensvorschläge von russischer Seite begrüßte der Pester Lloyd die Friedenskonferenz in Brest-Litowsk.31 Als der Waffenstillstand zwischen Russland und den Vierbundmächten schließlich zustande kam, schlug der Pester Lloyd nicht nur optimistische, sondern auch anerkennende Töne an: Der Waffenstillstand zwischen Oesterreich-Ungarn, Deutschland, der Türkei und Bulgarien und dem russischen Reiche ist eine geschichtliche Tatsache geworden. […] Das Schriftstück, das in Brest-Litowsk zwischen den Heeresleitungen des russischen Volkes und der Vierbundstaaten vereinbart wurde, ist von einem Geiste menschlichen Empfindens und gemeinsamen Kulturgewissens durchweht, wie er seit dem Beginn des schreckensvollen Völkerringens aus den Beziehungen der beiden feindseligen Parteien verschwunden war. Seit dem Dezember 1916 haben die Mittelmächte diesen Geist der Völkerverständigung und Menschenliebe in der europäischen Völkerfamilie wiederzuerwecken getrachtet. Das russische Volk war das erste, das sich dem Rufe nach Wiederkehr des Friedens empfänglich zeigte. […] Die Bolschewikiregierung, die den Mut gehabt hat, allen Druckmitteln Englands zu trotzen und dem Friedenswunsche des russischen Volkes rücksichtslos zum Durchbruch zu helfen, hat mit dem Abschluß des Waffenstillstandes von Brest-Litowsk einen großen Erfolg davongetragen. […] Der Friede und die russische Friedensregierung stützen sich gegenseitig.32
Anfang 1918 lassen sich optimistisch anmutende Titel im Blatt finden, wie: „Der Verständigungsfrieden wird siegen“, doch die Ereignisse gestalten Ungarns Schicksal anders. Im Sinne des zwischen Weißrussland und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zustande gekommenen Friedensvertrags zu Brest-Litowsk zog 31 Der russische Friedensvorschlag. In: Pester Lloyd Nr. 279, 11.11.1917, 1. 32 Der Waffenstillstand zwischen Rußland und den Vierbundmächten. In: Pester Lloyd Nr. 309, 17.12.1917, 1.
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Russland seine Truppen aus den von ihm besetzten Gebieten zurück und nahm die neue deutsche Grenze an. Damit wurde Russlands Teilnahme am Ersten Weltkrieg abgeschlossen und die Bolschewiki-Regierung aus den weiteren Friedensverhandlungen ausgeschlossen. Am 20. März 1919 erhielt die ungarische Regierung die Dokumente des Friedensvertrags, die sogenannte Vix-Note (benannt nach dem mit ihrer Übergabe beauftragten französischen Oberstleutnant), doch die Bedingungen wurden als unannehmbar beurteilt. In diesem Zusammenhang wurde die Bildung einer neuen Regierung zusammen mit der Kommunistischen Partei beschlossen, und am 21. März gelangte eine Proletarierdiktatur an die Macht. Der Pester Lloyd konnte, so wie andere ungarischen Periodika, während der Räterepublik auch nicht erscheinen, eine Zeitlang gab die nach Wien emigrierte Redaktion dort eine Ersatzausgabe heraus.33 Nachdem die ab dem 4. August 1919 eingestellte Zeitung am 28. September 1919 wieder erschien, wurde in einer redaktionellen Mitteilung eine Erklärung von pressegeschichtlicher Bedeutung abgedruckt: Nach längerer Unterbrechung seines Erscheinens tritt der Pester Lloyd wieder vor seine Leser. Am 22. März sind die Staatsgewalten in die Hände des umstürzenden Bolschewismus übergegangen. Das Morgenblatt des Pester Lloyd vom 22. März (Nummer 68 dieses Blattes) war nicht mehr von der Pester Lloyd-Gesellschaft und von den leitenden Funktionären der Redaktion gezeichnet. Die Räteregierung hatte die bürgerliche Presse, damit auch unser Blatt, rechtsbeugend in Besitz genommen und den so enteigneten Apparat gewalttätig in den Dienst der kommunistischen Bestrebungen gestellt. Länger als vier Monate dauerte dieser verwerfliche Gesinnungsschmuggel. Am 5. August konnte die Pester-Lloyd-Gesellschaft endlich wieder rechtsgemäß von ihrem Blatte Besitz ergreifen. Inzwischen hatte jedoch der Bolschewismus die materiellen und die technischen Grundlagen der ungarischen Zeitungsbetriebe so sehr zerrüttet, daß ein Wiedererscheinen der Blätter, also auch des Pester Lloyd, bis zum heutigen Tage hinausgeschoben werden mußte. Was in der Zeit vom 22. März bis zum 5. August unter dem Zeitungskopfe Pester Lloyd in Budapest erschienen ist, hat, wie das in wiederholten Budapester und Wiener Kundgebungen der Pester-Lloyd-Gesellschaft und des Chefredakteurs festgestellt wurde, natürlich mit dem Wesen und Inhalte unseres Blattes nichts gemein, usurpiert nur den Namen des Pester Lloyd, ohne auch nur im entferntesten mit dessen Gesinnung und Bestrebungen irgendwie identisch zu sein. Indem wir diese Feststellung einer gemeinhin bekannten und selbstverständlichen Tatsache, die übrigens auch in diesen Spalten schon am 5. August, im ersten Aufdämmern geordneter Zustände, berufenen Ausdruck gefunden hat, wiederholen, verweisen wir noch darauf, daß die gegebene Lage es noch nicht gestattet, unser Blatt, wie früher, morgens und abends, das heißt täglich zweimal erscheinen zu lassen. Der Pester Lloyd wird bis zur hoffentlich bald erfolgenden Sicherung der völligen Erscheinungsmöglichkeiten der ungarischen Presse vorläufig nur als Morgenblatt herausgegeben. In diesem leider noch beschränkten Umfange, jedoch in unverminderter Prinzipienfestigkeit und Arbeitsfreude, wird unser Blatt, seiner ehrenvollen Tradition getreu, die Fahne des national gerichteten liberalen Bürgertums hochhalten und dem Ideal, das uns in dieser schweren Zeit entscheidend be herrscht, zustreben: der ehesten Gesundung des heißgeliebten ungarischen Vaterlandes. Die Pester Lloyd-Gesellschaft: Baron Adolf Lohner, Präsident; Die Redaktion der Pester Lloyd: Josef Vészi, Chefredakteur.34
Die zu den Friedensverhandlungen nach Paris am 7. Januar 1920 angekommene ungarische Delegation unter Leitung des Grafen Albert Apponyi wurde ins Vor33 Magyarország időszaki sajtója, XXXII. 34 Erklärung. In: Pester Lloyd Nr. 182, 28.09.1919, 1.
Die ungarische Zeitungslandschaft 1914–1920
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stadthotel Château de Madrid in Neuilly interniert und stand dort unter Bewachung, sodass sie an der Friedenskonferenz eigentlich nicht teilnehmen konnte. Am 10. Januar 1920 zitierte der Pester Lloyd Clemenceaus Organ L’Homme Libre, in dem über die bevorstehenden Friedensverhandlungen mit Ungarn Folgendes stand: Die Haltung der Magyaren wird der gerechten Strafe nicht entgehen. Die Ereignisse von 1914 liegen noch zu nahe, als daß Ungarn eine andere Behandlung erwarten dürfe als jene, die Deutschland, Oesterreich und Bulgarien zuteilgeworden ist. Die Entente muß die Verpflichtungen erfüllen, die sie gegenüber Rumänien, Serbien und Oesterreich auf sich genommen hat. Die Grundlinien des Vertrages werden nicht geändert werden und es hängt einzig von der ungarischen Diplomatie ab, ob sie ihn annehmen oder ablehnen will. Nach dem Vertrag wird Ungarn nur etwa acht Millionen Einwohner zählen.35
In seinen Kommentaren sprach der Pester Lloyd im schärfsten Ton von einem „Vernichtungsfrieden“: Jetzt hat sich jedes ungarische Herz zu panzern mit dem Erz des unbeugsamen Lebenswillens, jetzt haben sich die ungarischen Hände einander entgegenzustrecken zur festen Bruderkette, die schützend sich schart um das im Unglück noch heißer geliebte Vaterland. Ein Mißgeschick, grausamer, als daß menschliche Sprache es in Worte zu fassen vermöchte, haben die Mächtigen der Welt in der Maßlosigkeit ihres Siegerdünkels über Ungarn verhängt. Der Friedensvertrag, der unseren Abgesandten heute im roten Saale am Quai d’Orsay überreicht wurde, ist ein Instrument der Vernichtung. Vom lebendigen Leibe Ungarns reißt er die wertvollsten Stücke ab, mehr als zwei Drittel des von der Natur zum Einheitsstaate geschaffenen Gebiets, auf dem das Königreich Ungarn seit tausend Jahren bestand, spricht er den Nachbarvölkern zu, und nur den kümmerlichen Rest, der nach dieser Metzgerarbeit übrig bleibt, darf die Nation für sich behalten, die Jahrhunderte hindurch ein Schutzdeich des Westens und seiner Zivilisation gegen den Einbruch kulturfeindlicher Horden gewesen ist, und die an Bildung und Gesittung, an fruchtbarer Kraft zur Hervorbringung geistiger Werte die jetzt aus den Trümmern Ungarns so reich bedachten Völker weitaus überragt.36
Einen Tag später, am 18. Januar 1920, hob der Pester Lloyd mit der Wiederaufnahme des Bildes vom verstümmelten Körper die katastrophalen Folgen der territorialen Verschiebungen auf die Wirtschaft Ungarns hervor.37 Am 20. Januar 1920 reagierten verschiedene Organisationen, darunter kaufmännische Verbände und die Pester Israelitische Gemeinde, auf die Ereignisse der letzten Tage und drückten ihre Anteilnahme am Schicksal Ungarns aus. Einige Tage davor, am 16. Januar, war die ungarische Delegation zur Darstellung ihres Standpunktes aufgefordert worden, jedoch erst nach Abschluss der Friedensverhandlungen, sodass Graf Albert Apponyi eine Rede hielt, die keinen Einfluss auf die neuen, bereits entschiedenen Grenzziehungen mehr nehmen konnte. Am 5. Juni 1920 wurde über die Unterzeichnung des Friedensvertrags am 4. Juni in Trianon berichtet.38 Daraufhin erschien im Pester Lloyd ein verzweifelter Aufruf „An die Völker der Welt!“, der eine Reihe von Eigen- und Fremdbildern aktiviert. Wie auch in den bereits zitierten Kommentaren, fallen diese Bilder durch die schlagkräftige Metaphorik des „gegen die Gesetze der Natur“ verstümmelten 35 36 37 38
Pester Lloyd Nr. 9, 10.01.1920, 2. Der Vernichtungsfriede. In: Pester Lloyd Nr. 15, 17.01.1920, 1. Ungarns Schicksalstunden. In: Pester Lloyd Nr. 16, 18.01.1920, 1. Der ungarische Friedensvertrag – unterzeichnet. In: Pester Lloyd Nr. 134, 5.06.1920, 1.
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Mária Rózsa
Körpers auf. Zudem wird die Teilnahme am Krieg durch das Narrativ der Zustände zu Kriegsbeginn neu gedeutet. Bezeichnenderweise findet sich hier erneut eine Abwandlung des in Mittel- und Südosteuropa bekannten stereotypen Eigenbildes vom Schutzwall gegen die „Barbarei“ des Ostens, heraufbeschworen im Kontext der Undankbarkeit der Entente für das von Ungarn im Verlauf der Jahrhunderte bereitgestellte Schild „gegen den Einbruch kulturfeindlicher Horden“/„gegen die barbarischen Angriffe des Ostens“ und zum Schutz der europäischen Zivilisation. Im Verlaufe der Friedensverhandlungen hatten wir im Interesse der Unversehrtheit unseres Gebietes eine ganze Reihe von unwiderlegbaren geschichtlichen, wirtschaftlichen, geographischen und kulturellen Argumenten der Friedenskonferenz unterbreitet. Wir wollen die Regierungen der Ententestaaten überzeugen, daß die Verstümmelung des tausendjährigen Ungarn, die Sprengung seiner geographischen und wirtschaftlichen Einheit, die Unterwerfung von dreieinhalb Millionen Ungarn unter Völkerschaften tieferer Kultur […] ein Attentat gegen die Gesetze der Natur sei. […] Der Friedensvertrag hat den Körper Ungarns zerstückelt. Zwei Drittteile unseres Landes wurden dem hungrigen Eifer unserer Feinde als Beute hingeworfen. Dreiundeinhalb Millionen Ungarn wurden dem ungarischen Staate entrissen und der Unterdrückung und der Brutalität unserer Feinde preisgegeben. Statt des polyglott genannten Ungarn wurden drei andere vielsprachige Staaten erschaffen, in denen mehr fremde Nationen leben als bisher im ungarischen Staate und das Verhältnis der staatsbildenden Nation zu den anderen um vieles ungünstiger ist. Der Friedensvertrag schnitt unsere wirtschaftliche Kraft entzwei. Er beraubte uns der Bedingungen der Entwicklung und des Fortschritts, des Salzes Siebenbürgens, seiner Kohlen und Erze, seines Holzes und seiner Erdgase, der Steinkohle, der Zuckerfabriken und Bergwerke Oberungarns, des Kanaans Südungarns, des Banats und der Bácska. Dieser Friedensvertrag ließ das tausendjährige Ungarn, das sich im Besitze aller Bedingungen der Entwicklung befunden hat, zu einem kleinen Bauernstaate zusammenschrumpfen. Er lieferte ihn auf wirtschaftlichem Gebiete der Willkür seiner Nachbarn aus und beraubte ihn der Stätten seiner Kultur, selbst seiner Universitäten. Dieser Friedensvertrag hat die ungarische Rasse, die dieses Land vor tausend Jahren genommen und mit seinem Blute durch Hunderte von Jahren gegen Türken und Tataren die westliche Kultur geschützt hat, zum Tode verurteilt. So wurden wir bestraft für den Weltkrieg, an dessen Heraufbeschwörung wir mangels der vollen staatlichen Unabhängigkeit nicht einmal teilhaben konnten und in den wir angesichts der drohenden russischen Invasion, vom Friede der Selbsterhaltung geführt, hineingejagt worden sind. Das ist der Dank der Staaten des Westens dafür, daß das Ungartum sie und die europäische Zivilisation gegen die barbarischen Angriffe des Ostens geschützt hat. Nie und nimmer wird die ungarische Nation diesen Frieden unterfertigen. Die ungarische Regierung und die Nationalversammlung […] mag ihn unterschreiben und mag ihn anerkennen, wir, die wir das Leben der niedergetretenen Munizipien auf das freigebliebene Gebiet hinübergerettet und uns als Ablegatenversammlung der besetzten Munizipien auf das Mandat unserer in Knechtschaft schmachtenden Brüder gestützt, in Budapest auf alter gesetzlichen Grundlage konstituiert haben, wir, die wir zwei Drittel des Landes und den wahren Willen seiner Völkerschaften vertreten, wir rufen mit allen unseren Gedanken und allen unseren Gefühlen unser Veto den Völkern der Welt zu, unser Veto gegen diesen Frieden, der den Keim neuer Zwistigkeiten und neuer Eruption in sich trägt.
Am 9. Juni wurde Ungarns Lage erörtert, wie sie von der Nationalversammlung und den führenden Politikern wahrgenommen wurde. Die Wichtigkeit der unverzüglichen Wiederherstellung der inneren Ordnung wurde im Blatt vom 10. Juni 1920 betont. Die hochemotionalen Berichte des sonst objektiven Pester Lloyd sind im Zusammenhang mit dem Schockzustand des Jahres 1920 zu erklären.
KRIEGSWAHRNEHMUNG IM FEUILLETONTEIL DES PESTER LLOYD IM ERSTEN HALBJAHR DES ERSTEN WELTKRIEGS Zsuzsa Bognár EINFÜHRUNG Der Pester Lloyd ist die langlebigste und bedeutendste deutschsprachige Zeitung Ungarns. Dass die Zeitung seit 1854, wenn auch mit Unterbrechungen, bis heute besteht, berechtigt zur Verwendung der Präsensform; allerdings muss hinzugefügt werden, dass der heutige Pester Lloyd bei Weitem nicht das Niveau und Prestige hat, deren er sich in seiner klassischen Periode bis 1944, 90 Jahre lang, erfreute. Seit 2009 existiert nur noch eine Online-Ausgabe der Zeitung. Der Anbeginn des Ersten Weltkriegs verursachte – wie in der Presse weltweit – auch im Pester Lloyd bisher nie erfahrene inhaltliche und strukturelle Veränderungen. Um deren Tragweite im Diskurs über die Kriegswahrnehmung aufzeigen zu können, scheint es notwendig, in der Zeit zurückzugehen und auch die Vorkriegszeit in Bezug auf die Kriegsvorahnung in die Untersuchung mit einzubeziehen. In einem ersten Schritt erfolgt eine kurze Einführung in die Geschichte des Blattes und daran anknüpfend eine kurze Vorstellung seiner politischen Einstellung sowie seines geistig-kulturellen Profils. Nachfolgend wird der Feuilletonteil der ersten sechs Kriegsmonate von Ende Juli 1914 bis Mitte Januar 1915 behandelt. Die Fokussierung auf diese Rubrik als Träger von Literatur und Kultur in diesen Jahren kann darauf zurückgeführt werden, dass die früheren kulturellen Teile der Zeitung durch die Vorrangstellung der Kriegsgeschehnisse bereits Ende Juli an Wichtigkeit verlieren und von den politischen Tagesaktualitäten verdrängt werden. Bei der Erschließung des Feuilletonteils haben sich zwei Herangehensweisen als produktiv erwiesen. Erstens eine sukzessiv-chronologische Anordnung der verschiedenen Textsorten, welche die verschiedenen Etappen der Kriegswahrnehmung von den ersten Zeugnissen der spontanen Kriegseuphorie bis zur kulturphilosophischen Vertiefung der Kriegsthematik nachvollziehbar machen. Zweitens eine diskursanalytische Untersuchung des Textkorpus, welche die wichtigsten Themenfelder, die von der Kriegswahrnehmung initiiert werden, ideologiekritisch beleuchtet und gleichzeitig nach den Gründen der vorbehaltlosen Kriegsbejahung fragt. Indessen werden auch diejenigen Mitarbeiter kurz vorgestellt, denen bei der medialen Beeinflussung der Leser höchstwahrscheinlich eine große Bedeutung zukam. Durch häufige Veröffentlichungen im Pester Lloyd dieser Zeit konnten sie ihre eigene Meinung stärker zur Geltung bringen.
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Zsuzsa Bognár
DER PESTER LLOYD – ENTSTEHUNG UND CHARAKTER Als Zeichen der Konsolidierung nach der Niederlage von 1848/49 wurde der Pester Lloyd im Jahr 1854 im Rahmen der von jüdischen Kaufleuten gegründeten Pester Lloyd-Gesellschaft ins Leben gerufen. Die Tageszeitung hatte ursprünglich die Aufgabe, Börsennachrichten zu vermitteln und dadurch die Entwicklung der ungarischen Wirtschaft voranzutreiben. Seit dem Ausgleich 1867, als die Redaktion von der legendären Gestalt der ungarischen Presse, Max Falk, übernommen wurde, galt der Pester Lloyd als das wichtigste halboffizielle Zeitungsorgan der ungarischen Regierung. Das Zielpublikum war das gebildete Großbürgertum der Hauptstadt. Die Zeitung verpflichtete sich der Verbreitung der liberalen Ökonomie und der ungarischen Kultur sowie der Vertretung der offiziellen ungarischen politischen Interessen im Ausland. Da die hinter ihm stehende finanzielle Basis viel größer war als die hinter den ungarischsprachigen Tageszeitungen, konnte sich der Pester Lloyd beim bürgerlichen Lesepublikum sehr erfolgreich durchsetzen. Er erschien in Ungarn in der größten Auflagenhöhe, wurde mit der neuesten Drucktechnik hergestellt und enthielt jeden Tag so viele Druckzeilen wie ein Buch von 100 Seiten, allerdings im Format der New York Times. Mit einer Morgen- und einer Abendausgabe erschien der Pester Lloyd zweimal am Tag. Im Gegensatz zu seinen ungarischen Rivalen, welche sich Auslandsinformationen oft nur aus zweiter Hand besorgen konnten, konnte sich der Pester Lloyd ausländische Berichterstatter leisten. Nach dem Tod von Max Falk war zwischen 1906 und 1913 Sigmund Singer sein Hauptredakteur, der vorher ständiger Mitarbeiter des Blattes gewesen war. Danach wurde die Zeitung von einer der wichtigsten Persönlichkeiten der ungarischen liberalen Presse, Josef Vészi, übernommen. Was den Aufbau des Pester Lloyd betrifft, wies die erste Seite gleich zwei Schwerpunkte auf: Oben befand sich der Leitartikel, der meistens eine Zusammenfassung und Bewertung der letzten innenpolitischen Ereignisse darstellte, und darunter war das Feuilleton untergebracht. Die Berichte zum Thema Außenpolitik fand man auf der nächsten Seite, doch darüber hinaus es gab auch weitere kulturelle Sparten. In den 1910er-Jahren existierte beispielsweise eine kulturelle Rubrik für Novitäten in Theatern, Kabaretts und im Opernhaus sowie eine weitere für Rezensionen und Buchkritiken, die Neuerscheinungen verschiedensten Inhalts behandelten. Für den breiten geistigen Horizont des Pester Lloyd war charakteristisch, dass dabei philosophische, populärwissenschaftliche und kulturtheoretische Bücher gleichermaßen rezipiert wurden. Alles, was dem Zeitgeist entsprach, fand Eingang in die Seiten des Blattes, wie auch das Wort „Zeitgeist“ selbst, ein Modewort dieser Jahre. Der kulturelle Teil wurde zwischen 1900 und 1913 vom konservativen Theaterkritiker Max Rothauser redigiert, der zu jener Zeit ein zwar populärer, jedoch mittelmäßiger Lustspielautor und Operettendichter war. Als Verfechter eines ästhetischen Konservativismus konnte der führende Kritiker des Pester Lloyd das Lesepublikum dennoch mit zum Teil erst nachträglich kanonisierten Größen der Weltliteratur in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach 1900 bekannt machen. Dies
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zeugt von der Offenheit und dem hohen Qualitätssinn des Blattes.1 Man kann sogar behaupten, dass in Friedenszeiten politische Einstellung und kultureller Horizont der verschiedenen Publizisten des Blattes überhaupt nicht harmonisiert werden mussten. In politischer Hinsicht war die unbedingte Loyalität zur Habsburger-Dynastie maßgebend. Die Berufung auf die Sonderstellung Ungarns innerhalb der Monarchie schien die feste Grundlage gewesen zu sein, von wo aus allerlei Unabhängigkeitsbestrebungen in der Gegenwart für illegitim erklärt wurden. Sowohl in Leitartikeln als auch in Kommentaren kam die konfliktvermeidende Grundattitüde des Pester Lloyd klar zum Ausdruck. Das Blatt gab die politischen Debatten der Zeit ausschließlich durch regelmäßige Veröffentlichung von Wortgefechten aus dem Abgeordnetenhaus wieder. Solche Parlamentsreden füllten beinahe jeden ersten Leitartikel der Morgenausgabe. DIE MEDIALE WAHRNEHMUNG DER TAGESPOLITISCHEN SITUATION VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kann man die politischen Äußerungen als objektiv bezeichnen; man lässt sich bis im Frühsommer 1914 nie zu chauvinistischen Äußerungen gegenüber anderen Ländern hinreißen. Trotzdem sind in Darstellungen und Kommentaren von tagespolitischen Ereignissen bereits in der ersten Jahreshälfte Spannungen im Verhältnis der Habsburgermonarchie zu anderen Großmächten sowie die mangelnde Stabilität der durch den Ausgleich erkämpften Position Ungarns spürbar. Der verschärfte Ton politischer Kontroversen macht sich aber immer nur in Zitaten und nie in Meinungsäußerungen eigener Publizisten bemerkbar. So wird im Februar 1912 ein merkwürdiger Aufsatz des sehr populären Schriftstellers Franz Herczeg, der an der Seite der Regierungspartei auch Mitglied des Abgeordnetenhauses war, unter dem unheilverkündenden Titel Ungarns Feinde im Auslande als zweiter Leitartikel ohne Kommentar veröffentlicht. Zwar stellt sich bald heraus, dass der Verfasser mit den „Feinden“ expressis verbis einen voreingenommenen englischen Schriftsteller meint, der über Ungarn falsche Gerüchte verbreitet haben soll. Des Weiteren führt der Autor aus, dass Ungarn auch innerhalb seiner Grenzen Feinde habe, und skizziert daraufhin die Grundzüge der aktuellen ungarischen Politik, wobei die Hegemonieansprüche Ungarns den Nachbarländern gegenüber und die Legitimierung der historischen Gewalt zur Sprache kommen. Seitdem die ungarische Politik am Werke ist, die Grundlagen der nationalen Existenz zu vertiefen und zu befestigen, ist sie notwendigerweise mit den Interessen und Ambitionen anderer Rassen in Konflikt geraten, und es sind ihr notwendigerweise Feinde erstanden innerhalb und außerhalb der Grenzen der österreichisch-ungarischen Monarchie. Diese Politik kann sich heute von der Tatsache nicht emanzipieren, daß die Ungarn durch Eroberung die Herren des Kessels der Karpathen wurden. Wer aus dem Leben der Menschheit alle Gewalt ausschließen und die Herrschaft irgendwelcher höherer Moralgesetze an ihre Stelle 1
Vgl. Bognár, Zsuzsa: Irodalomkritikai gondolkodás a Pester Lloydban (1900–1914) [Literaturkritisches Denken im Pester Lloyd]. Budapest 2001.
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Zsuzsa Bognár setzen will, der mag in der vor einem Jahrtausend vollzogenen Eroberung ein Unrecht erblicken und leicht zu dem Schlusse gelangen, daß die ganze Existenz des ungarischen Staates eine fortlaufende Kette von Rechtswidrigkeiten sei.2
Herczeg zeichnet für die Politik einen „dreifachen Endzweck“ als Folge dieser geschichtlich bedingten ungarischen Situation – „die Verteidigung der nationalen Autonomie, der staatlichen Einheit und des freien Weges ans Meer“3 –, und erläutert gleichzeitig die damit verbundenen Konfliktquellen: Das zähe Festhalten an unserer Autonomie hat uns mit einigen österreichischen Zentralisten in Konflikt gebracht, die aus der Tatsache, daß Ungarn einst höchst klugerweise das österreichische Herrscherhaus auf den ungarischen Königsthron berufen hat, den Schluß ziehen, daß nicht die Dynastie allein, sondern auch Österreich Rechte über Ungarn erlangt habe. Die staatliche Einheit ist naturgemäß für jene partikularistischen Interessen abträglich, die unter den im Lande seßhaften fremden Nationalitäten einzelne Verfechter finden. Das Prinzip des freien Weges ans Meer endlich hat das sogenannte kroatische Problem ins Leben gerufen.4
Ende Mai 1913 wird der Tisza-Putsch zur Niederwerfung der jahrzehntelangen Obstruktion im Abgeordnetenhaus mit Ruhe hingenommen und Graf István Tisza gleich als talentierter und vielversprechender Staatsmann begrüßt. Ende Dezember wird dann als Leitartikel eine Rede von ihm veröffentlicht, welche gegen die Verbreitung des Wahlrechts gehalten wurde, und zwar gerade unter Berufung auf die Gefahr, die eine Teilnahme der Nationalitäten an der ungarischen Politik mit sich bringen könnte.5 Ausnahmsweise meldet sich diesmal die Redaktion zu Wort. Unter dem Leitartikel steht ein kurzer Kommentar, in dem diese mitteilt, dass der Pester Lloyd die Rede „mit Rücksicht auf die Persönlichkeit des Schriftstellers mit der größten Bereitwilligkeit“ veröffentliche, die Anschauungen von Tisza mit denen der Redaktion jedoch „nicht kongruent sind“.6 Die zweite Jahreshälfte vergeht im Zeichen der verschiedensten militärischen Aktivitäten. Sehr lange verfolgt der Nachrichtendienst die Verhandlungen mit Österreich über die Durchsetzung einer Wehrreform. Der Pester Lloyd veröffentlicht wochenlang zahlreiche Berichterstattungen über verschiedene Schauplätze eines großen Manövers, welches die Zuversichtlichkeit der Heereskräfte aufzeigen sollte. Anfang Oktober 1913 beginnt die Mobilisierung in den Balkanstaaten, und von nun an kann man dank der ausgezeichneten finanziellen Möglichkeiten des Pester Lloyd die Ereignisse des Balkankrieges Tag für Tag verfolgen, wobei auch die aufwendigen Karten zur Veranschaulichung der verschiedenen Kampfplätze in der Zeitung nicht ausbleiben. Der Gedanke an einen europäischen Krieg taucht zwar manchmal auf, löst aber noch lange keine großen Befürchtungen aus. Im August erwägt man die Chancen der österreich-ungarischen Flotte im Falle eines eventuellen Krieges zwischen 2 3 4 5 6
Herzeg, Franz: Ungarns Feinde im Auslande. In: Pester Lloyd, Morgenblatt [im Weiteren: M.], 39, 15.2.1912, 2. Ebd. Ebd. Tisza, Stefan: Das allgemeine Wahlrecht und die Dynastie. In: Pester Lloyd, M., Nr. 307, 29.12.2.1912, 1–3. Ebd., 1.
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Deutschland und England. Der Verfasser des Artikels kommt zur Schlussfolgerung, dass die Monarchie um die überschaubare Länge ihrer Meeresküste nicht besorgt sein müsse: Es sei doch offensichtlich, dass diese Flotte nur der Verteidigung diene.7 Anfang Dezember beginnt man erstmals ernsthaft an die Gefahr eines Krieges zu denken. Anlass dazu gibt die Einreichung eines Gesetzentwurfes, welcher bei einem konkreten Kriegsfall Ausnahmeverfügungen treffen sollte. Der Verfasser des Leitartikels scheint auch diesmal mit den zu erwartenden Maßnahmen völlig einverstanden zu sein, und sein Hauptargument ist die unerlässliche Berücksichtigung der Doppelstaatlichkeit: Erbaut wird freilich niemand von der Notwendigkeit sein, auch im zwanzigsten Jahrhundert noch den Staat für den Kriegsfall auf solche Art wappnen zu müssen. Aber so wie der Krieg selbst ein ungebetener Gast ist, ebenso ist auch die Nötigung, an seine Möglichkeit zu denken und sich darauf vorzubereiten, eine Pflicht, die, so unwillkommen sie auch sei, rechtzeitig und in gewissenhafter Weise erfüllt werden muß. Die Pflicht ist vielfach potenziert in einem Doppelstaate, der ethnisch so mannigfaltig ist wie die österreichisch-ungarische Monarchie.8
Anhand der oben besprochenen Zeitungsbeiträge kann man feststellen, dass der politische Teil des Pester Lloyd zunächst danach trachtet, den aktuellen Anforderungen des Tages zu entsprechen. Das ständige Lavieren zwischen der Vertretung der dynastischen und der spezifisch ungarischen Interessen lässt perspektivische Überlegungen nicht zu. Demnach kann man im politischen Teil des Blattes von keiner richtigen Kriegsvorahnung sprechen. In dieser Hinsicht scheint der kulturelle Teil sogar in höherem Maß imstande zu sein, auf die eigene Zeit sensibel zu reagieren. Hierfür bietet die Publizistik von Felix Salten, dem Wiener Berichterstatter der Zeitung, ein treffendes Beispiel.9 Im November 1912 erscheint von ihm unter dem Titel Schwere Tage ein längerer Text, in dem er hinter die diplomatischen Kulissen blickt und schließlich Zusammenhänge herstellt, wie sie in den politischen Rubriken des Pester Lloyd nicht anzutreffen sind. Salten beginnt das Feuilleton mit dem Balkankrieg. Allerdings bespricht er ihn nicht objektiv-kommentierend, wie die Autoren der anderen Rubriken des Pester Lloyd, sondern offenbart sein Entsetzen, beurteilt vorwurfsvoll und legt seine schlimmen Vorahnungen dar. Bei der Erwägung der Rolle und Bedeutung der europäischen Kultur in diesem Krieg verfällt er zunächst einer gängigen kulturanthropologischen Simplifizierung. Er behauptet, es sei kulturell bedingt, dass die Balkanvölker „die alte Rauflust vergangener Zeiten“ an den Tag legten, weshalb 7 8 9
Österreich-Ungarn und England. In: Pester Lloyd, M., Nr. 180, 1.08.1912, 2. Budapest, der 30. November. Pester Lloyd, M., 284, 1.12.1912, 2. Der Schriftsteller und Literaturkritiker Felix Salten (1869–1945) war von ungarischer Abstammung, aber er lebte zunehmend in Wien. Er gehörte zur Wiener Moderne, war in der zeitgenössischen Kunst bewandert und er selbst hat mehrere historische Novellen und Zeitromane geschrieben, zudem auch in mehreren Zeitungen und Zeitschriften Feuilletons veröffentlicht. Im Pester Lloyd ist er als Wiener Berichterstatter der Nachfolger des legendären Kunstkritikers Ludwig Hevesi, der sich 1910 das Leben genommen hatte. Mehr über seine Tätigkeit beim Pester Lloyd siehe Bognár, Pester Lloydban, 126–133.
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„sie auch so nervenlos und frisch in den Krieg“ gingen.10 Dass ihnen gegenüber die Europäer über sensible Nerven verfügen, steigert nach Salten ihr Ansehen keineswegs.11 Im Gegenteil, er macht dem Europäer gerade deshalb bittere Vorwürfe, weil seine zivilisatorische Fortschrittlichkeit die Entwicklung der Kriegstechnik vorangetrieben hat: Der moderne europäische Mensch hat diesem modernen Krieg die furchtbaren Waffen geschmiedet und geschärft. Er hat die entsetzliche Wirkung seiner Waffen mitangesehen, im Krieg der Japaner gegen die Russen. Er sieht sie jetzt wieder mit an, im Krieg der Balkanvölker gegen die Türken. Harmlose Rauferei war alles, was die Menschen in vergangenen Jahrhunderten Krieg genannt haben, wenn es mit diesem Morden verglichen wird, das mit allem Komfort der neuzeitlichen Technik ausgestattet ist.12
Die Widersprüchlichkeiten des Beitrags implizieren weitere Kontradiktionen, und schließlich führt die temporale Logik des Textes den Leser in die Zukunft, welche nur noch Schlimmeres ahnen ließe. Dass Saltens Essay 1912 im Pester Lloyd erscheinen konnte, ist ein weiterer Beweis für die damalige Offenheit der Redaktion. MEDIALER WANDEL IN DEN ERSTEN KRIEGSMONATEN Der Kriegsausbruch bewirkt von einem Tag auf den anderen eine Reduzierung der Themen und publizistischen Textsorten. In der untersuchten Periode ist von nichts anderem die Rede als – direkt oder indirekt – vom Krieg. An Tagen mit schicksalwendenden Ereignissen – seien sie von politischer oder militärisch-strategischer Wichtigkeit – werden alle anderen Interessen unterminiert, sodass öfters auf das gewohnte Feuilleton verzichtet wurde. Die früheren anspruchsvollen kulturellen Rubriken zu Literaturkritik sowie Rezensionen verschwinden. Der seit Monaten gebrachte englische Fortsetzungsroman von David Christie Murray, Der Fall Brangwyn, wird noch beendet, auf ihn folgt aber kein neuer. Auch die Sonntagsund Feiertagsbeilagen werden eingestellt, deren Aufgabe es war, die Novitäten der ungarischen Moderne in deutscher Übersetzung zu vermitteln. Überhaupt wird Belletristik kaum veröffentlicht: Ab und zu kann man Gedichte, ausnahmslos Kriegsdichtung, lesen, bis Mitte November erscheint jedoch keine Kurzprosa mit literarischem Anspruch.13 Die wenigen literarischen Texte werden alle im Feuilletonteil untergebracht, wodurch er zum Sammelbecken für jedes Schrifttum wird, das nicht zur Politik, Wirtschaft und den offiziellen Kriegsberichten gehört. Er beherbergt einerseits subjektive Kriegsberichterstattungen, Kriegstagebücher, fiktive Briefe, welche als literarische Randerscheinungen betrachtet werden können, andererseits aber – in größerer Anzahl – Aufsätze, welche eine Phänomenologie des Krieges entwerfen. Dabei kann man verschiedene Sichtweisen voneinander unterscheiden: eine historische, welche die Kriege der Vergangenheit unter die Lupe nimmt, eine 10 Salten, Felix: Schwere Tage. In: Pester Lloyd, M., 272, 17.11.1912, 1. 11 Ebd. Wie es ausgedrückt wird: „Der europäische Mensch aber hat Nerven. Er hat Erkenntnisse und hat in seinen Erkenntnissen die stärksten Hemmungen.“ 12 Ebd. 13 Die erste Novelle ist Die Zinnsoldaten von Karl Lovik am 19. November M. 291, 1914.
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gegenwartsbezogene, welche die aktuell-konkrete Kriegssituation analysiert, und schließlich eine zeitenthobene, welche eine Metaphysik des Krieges zu erstellen versucht. Die letzten beiden berühren sich im Themenkomplex moderner Krieg bzw. der Krieg der Moderne, in dem der Weltkrieg in Zusammenhang mit der Modernisierung betrachtet wird. Die Intention ist ohne Ausnahme eine gemeinsame: die Legitimierung der Kriegswilligkeit der Zentralmächte. Die allgemeine Kriegsbegeisterung findet in der Presse ihren Nachhall. Der Enthusiasmus der Bevölkerung wird in der Forschung damit erklärt, dass der Krieg eine Zeit lang als Lösungsversprechen für die Probleme der Modernisierung angesehen wurde.14 In diesem Sinne erschien er für den Einzelnen als Chance, seine kollektive Identität zu finden. Diese letzte These geht auch aus der Publizistik des Pester Lloyd hervor. Das zweite Feuilleton nach der Kriegsproklamation gegen Serbien berichtet von der seelischen Verwandlung der Menschen in der ungarischen Hauptstadt: „Ein Wunder haben wir erlebt an der eigenen Seele und wir verkünden das Wunder dem ganzen Lande, das es auch erlebt hat“15 – schreibt der früher gewöhnlich rational argumentierende Ernst Lorsy.16 Was den links orientierten Literaturkritiker mit Interesse für soziologische Fragestellungen Anfang August am meisten fasziniert, ist das große Erlebnis der Gemeinsamkeit: „[…] daß wir als Glied einer Kette fühlen, daß wir mitgehen, mitstreiten, mitjubeln, mitsingen, daß wir Masse sein können, dies erfüllt uns alle mit einer kaum geahnten Genugtuung“.17 Der freiwillige Verzicht auf abgrenzende Eigenheiten, die Bereitschaft zum Aufgehen in der Masse führen zur Aufwertung des alltäglichen kleinen Menschen, des namenlosen Helden auf dem Schlachtfeld, des Weiteren zur Beachtung von Kollektivleistungen, welche bisher als belanglos hingenommen wurden. Sicherlich ist es kein Zufall, dass das erste vom Kriegsthema abweichende Feuilleton nach dem Ausbruch des Krieges gerade den Bauern zum Gegenstand wählt, ihn in dem Titel sogar mit dem Possessivpronomen „unser“ anspricht und dadurch gleich eine imaginäre Gemeinschaft zwischen dem bürgerlich-intellektuellen Lesepublikum und der zahlenmäßig stärksten Volksschicht zu stiften versucht.18 Auch kein Zufall ist, dass der Bauer dabei nicht unter soziologischem, sondern psychisch-anthropologischem Aspekt in den Vordergrund gerückt wird: als ein nüchtern und praktisch denkender Menschentyp mit untrügbarem Spürsinn. Im August wird das Volk der kollektive Held der Feuilletons und das lang ersehnte Aufeinandertreffen von Menschen und Nationen als die erste Wohltat des 14 Vgl. Koch, Lars: Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Würzburg 2006. 15 Lorsy, Ernst: Das Volk von Budapest. In: Pester Lloyd. M., 182, 2.08.1914, 1. 16 Ernst Lorsy (1889–1961) gehörte zu dem Freundeskreis um Lukács, war Mitglied des Sonntagskreises, nach dem Fall der ungarischen Räterepublik emigrierte er nach Wien, später ging er nach Berlin und nach der Machtübernahme Hitlers nach Paris, wo er als Sekretär des berühmten ungarischen Politikers, früheren Ministerpräsidenten Mihály Károlyi tätig war. Schließlich ließ er sich in den USA nieder. Mehr zu ihm siehe Bognár, Pester Lloydban, 103–106. und 538–539. 17 Lorsy, Das Volk von Budapest, 3. 18 Gerő, Ödön: Unser Bauer. In: Pester Lloyd, M., 181, 30.06.1914, 1–2.
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Krieges gefeiert.19 Von der Redaktion wird als eigener Kriegsberichterstatter des Pester Lloyd der begabte Novellist Ludwig Biró angestellt, von dem die erste Serie des Kriegsschrifttums unter dem Titel Tagebuch aus dem Kriegsquartier stammt.20 Birós erster Kriegseindruck ist höchst positiv: Zuerst berichtet er davon, wie begeistert und herzlich die ungarischen Soldatenzüge, welche an die Front rollen, von der ländlichen Bevölkerung auch in nicht-ungarischen Gebieten begrüßt werden.21 Der Krieg scheint nach dieser Darstellung in seiner Anfangsphase sogar die Nationalitätenkonflikte aufgehoben zu haben, die noch in der unmittelbaren Vorkriegszeit zu den heikelsten Problemen der ungarischen Staatsführung gehörten, wie das Textbeispiel des ungarischen Schriftstellers Franz Herczeg illustrierte. Etwa drei Wochen später allerdings ist der gewissenhafte Berichterstatter von der Eintracht der zu der ungarischen Krone gehörenden Völker nicht mehr so hingerissen: Worin aber ruht die wirkliche Kraft des Ungarntums? Durch slovakische Dörfer, durch ruthenische und polnische Dörfer saust das Auto. Hier wird ein heiteres, dort ein ermutigendes Wort nachgerufen. Aber in diesen Kundgebungen fehlt der Schwung des Selbstbewußtseins, des Kraftgefühls. Führen wir durch ungarische Dörfer, wie schwungvolle und zuversichtliche Gebärden würden uns begrüßen, welch freies Ausbreiten der Arme, welches Leuchten der Augen, welches Jubeln der Stimme und Dröhnen des ‚Éljen!‘.22
Die Stärkung des Selbstbewusstseins durch Bekundung der eigenen Überlegenheit erfolgt im August und im September nicht nur in Berichterstattungen über Kriegsschauplätze, sondern auch durch das Heraufbeschwören bedeutender Kriegssiege der Vergangenheit. Eine durchaus adäquate Analogie bietet dazu der deutsch-französische Krieg von 1870–1871, dessen siegreiche Schlachten von Fachkundigen mit Vorliebe nacherzählt werden.23 Ab Mitte September erscheinen in der Zeitung Feuilletons, welche über die konkreten Tagesereignisse hinausgehen und eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg anstreben. Diesen Ansatz vertreten die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Romain Rolland und Gerhart Hauptmann über die Zerstörung der klassischen europäischen Kulturschätze durch den Krieg und die ungarischen Kommentare dazu. Im Oktober und November vermehrt sich die Anzahl der Artikel, zum Teil regelrechte Studien, die in Bezug auf den Weltkrieg einen kulturanthropologischen, psychologischen oder philosophischen Aspekt zur Geltung bringen. Im Nachfolgenden werden diese in gesonderte Kriegsdiskurse hineinmündenden Texte besprochen, und schließlich wird der eigentlichen – ziemlich schmalen – Kriegsliteratur im Pester Lloyd ein Unterkapitel gewidmet.
19 Vgl. auch: Hettling, Manfred: Politische Bürgerlichkeit: der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und in der Schweiz von 1860 bis 1918. Göttingen 1999, 244–251. 20 Der erste Artikel heißt noch: Aufbruch nach dem Kriegsquartier. In: Pester Lloyd, M., 187, 7.08.1914, 2–3. 21 Biró, Ludwig: Tagebuch aus dem Kriegsquartier. In: Pester Lloyd, M., 200, 20.08.1914, 1–2. 22 Ders., Tagebuch aus dem Kriegsquartier. In: Pester Lloyd, M., 277, 16.09.1914, 1. 23 Strasser, Josef: Die Belagerung von Paris. In: Pester Lloyd, M., 235, 24.09.1914, 1–2.
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KULTURANTHROPOLOGISCH AUSGERICHTETE AUFSÄTZE Unter kulturanthropologischer Ausrichtung wird hier die publizistische Praxis verstanden, traditionelle nationale Stereotype aufzugreifen und auf deren Grundlage der Kriegsideologie entsprechend weitere Hetero- und Autostereotypen zu konstruieren. Wie es die Stereotypenforschung formuliert, enthalten solche Völkerbilder mit wenigen Ausnahmen Wertzuschreibungen und sind auch emotional konnotiert.24 Im Feuilletonteil des Pester Lloyd kann man den kulturanthropologischen Diskurs als eine Neuigkeit bewerten. Wurden früher in Bezug auf das Ausland stets Einzelleistungen gewürdigt, entstehen jetzt serienmäßig Nationenbilder, welche mit oppositionellen Wertzuschreibungen einhergehen. Vielmehr geschieht dies, obwohl es dem bei der Vorstellung des Blattes hervorgehobenen Prinzip der kulturellen Offenheit grundlegend widerspricht. In Übereinstimmung mit diesem Prinzip dominierten das Feuilleton bis zum Kriegsausbruch solche Gegenüberstellungen wie alt und neu bzw. traditionell und modern. Die nationale Zugehörigkeit spielte dabei keine Rolle: Maeterlinck, André Gide, Paul Claudel, Oscar Wilde und G. B. Shaw, nicht zu sprechen von Tolstoi und Gorki, wurden als Vorbilder für die moderne ungarische Gegenwartsliteratur hingestellt. Der Wettlauf der Nationen nimmt seinen Anfang unmittelbar vor dem Ausbruch des Weltkrieges. Am 24. Juli erscheint der Aufsatz Vom deutschen Schliff mit dem vielversprechenden Untertitel Freundnachbarliche Betrachtungen, in dem der „gewaltige Aufstieg des Deutschen Reiches“ in jeder Hinsicht, sogar bis zur festgestellten Modernisierung der Lebensführung hochgepriesen wird.25 Ein besonderes Lob gebührt dabei der deutschen „Eleganz“, dem deutschen „Dandytum“, das – wie es heißt – sogar die „Beschämung der Gallomanen“ auslösen könnte.26 Die Aufmerksamkeit erregt weniger die Gegenüberstellung des deutschen Lebensstils mit dem französischen, sondern vielmehr die übertriebene Huldigung der Kultiviertheit des zeitgenössischen deutschen Bürgers. Früher galt Deutschland traditionellerweise als Rivale und nicht als Freund der Monarchie; dementsprechend wurde seine Überlegenheit im Pester Lloyd gewöhnlich mit Bitterkeit und nicht mit hoher Begeisterung zur Kenntnis genommen.27 Nun jedoch ist alles anders: Infolge des politischen Bündnisses sind die früheren Vorbehalte gegen Deutschland anscheinend nicht mehr der Rede wert. Die Zugehörigkeit Ungarns zur Monarchie erscheint als eine Selbstverständlichkeit, die nicht thematisiert zu werden braucht,
24 Vgl. Stereotypen, Vorurteile, Völkerbilder in Ost und West in Wissenschaft und Unterricht. Eine Bibliographie, Teil 2. Hg. v. Johannes Hoffmann. Wiesbaden 2008, XII. 25 Serlo: Vom deutschen Schliff. Freundnachbarliche Betrachtungen. In: Pester Lloyd, M., 24.06.1914, 2–3. 26 Ebd. 27 Felix Salten sieht z. B. im Besuch des Zeppelins in Wien in erster Linie die Beschämung Österreichs durch das viel entwickeltere Deutschland. Vgl. Salten, Felix: Zeppelin-Betrachtungen. In: Pester Lloyd, 15.06.1913, 1–2.
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einzig Franz Joseph taucht manchmal als König von Ungarn einsam, in heroischer Pose auf; über eventuelle Nationalitätenkonflikte spricht jedoch keiner mehr. Jede Sympathie gilt Deutschland; um seinen Vorrang nachzuweisen, werden von den verschiedensten Feuilletonisten zahlreiche Vergleiche mit anderen – ausschließlich feindlichen – Ländern angestellt. Die Rivalen sind, nach dem Häufigkeitsgrad geordnet, Frankreich, England und an letzter Stelle Russland. Diese kulturanthropologisch ausgerichteten Aufsätze stammen von Schriftstellern und Publizisten: bedeutenden, wie dem Wiener Dramatiker und Übersetzer Alfred Polgár und dem ungarischen Schriftsteller und Essayisten Ludwig Hatvany, weniger bekannten wie dem Banater Erzähler und Publizisten Otto Alscher, dem bereits zitierten Ernst Lorsy und dem fast völlig vergessenen ungarischen Journalisten Zoltán Szász. Die anspruchsvollsten Texte wurden von Hatvany geschrieben. Seine Begeisterung für die deutsche Kultur war keine vorübergehende Mode: Zweisprachig aufgewachsen, verbrachte er eine lange Zeit in Deutschland; bei Ausbruch des Weltkrieges hielt er sich bereits seit drei Jahren in Berlin auf.28 Somit vollzog sich die Herausbildung und Festigung seiner kulturellen Identität im Spannungsfeld der deutschen und ungarischen Kultur und Literatur. Dennoch scheint es merkwürdig, wenn er in diesen Schriften – gerade in Anbetracht seiner weltbürgerlichen Haltung – der französischen Kultur gegenüber mehrmals die Vorrangstellung der deutschen forciert. Bereits Mitte August übt Hatvany scharfe Kritik an der Neigung der Franzosen, sich vor anderen Kulturen zu verschließen, wofür er als Beweis unter anderem ihr Unverständnis gegenüber Goethes Faust anführt. In dieser Hinsicht hätten die Deutschen vorbildhaften Charakter, da ihre Aufnahmebereitschaft von einer neuen, zeitgemäßen Kulturauffassung zeugt: „Heute heißt sie, sowie es uns Deutschlands Beispiel zeigt, ein allgemeines Verstehen und individuelles Verarbeiten.“29 Immerhin verwendet er in dieser Argumentation einerseits ein bekanntes Heterostereotyp von der exklusiven Absonderung der Franzosen von anderen Nationen, andererseits entwirft er aber ein neues, sogenanntes vermutetes Autostereotyp von
28 Ludwig Hatvany (1880–1961) ist in der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung zunächst als großzügiger Mäzen und Förderer der Ungarischen Moderne bekannt. Weniger bekannt und kaum gewürdigt ist sein eigenes Schrifttum, obwohl er bereits kurz nach der Jahrhundertwende mit einer Vielfalt von publizistischen, literaturgeschichtlichen und schriftstellerischen Arbeiten hervortrat, wobei etwa die Hälfte von diesen zunächst in deutscher Sprache erschien. Er gehörte zu derjenigen Generation der hochgebildeten jüdischen Intellektuellen, die es sich dank der erfolgreichen wirtschaftlich-finanziellen Karriere der Väter leisten konnten, sich ihren geistigen Interessen völlig hinzugeben. Er ist in einer der reichsten Familien Ungarns geboren und besuchte die Universität in Freiburg, wo er klassische Philologie studierte. Seine ersten Buchpublikationen, Die Wissenschaft des Nicht-Wissenswerten vom Jahre 1908 und der Essayband Ich und die Bücher vom Jahre 1910, haben in Deutschland ein recht reges Interesse ausgelöst. Um diese Zeit veröffentlichte er Belletristisches, Feuilletons und auch Kritiken in der Neuen Rundschau. Wegen seiner Teilnahme an der Ungarischen Räterepublik musste er emigrieren, er lebte abwechselnd in Wien, Berlin, Paris und Budapest. 1938 emigrierte er erneut und 1947 kehrte er aus England nach Ungarn zurück. 29 Hatvany, Ludwig: Das Fremde in Paris. In: Pester Lloyd, M., 195, 15.08.1914, 2–3.
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der Offenheit des Deutschen bei der Begegnung mit dem anderen,30 das sich bis heute hält. Hatvanys zweiter, längerer Essay ist in der gleichen Kritik an dem starren Aristokratismus der Franzosen verwurzelt. Angefangen mit dem Bereich der Architektur bis zu dem des Schulsystems veranschaulicht er dabei mit Hilfe von zahlreichen Beispielen aus Kunst und Kultur seine These: Frankreich ist […] trotz der bürgerlichen Revolution und trotz der republikanischen Staatsform nie das Land des Bürgertums geworden […] Der bürgerliche Wohlstand, der sein Hab und Gut militärisch bewacht, – der Paradoxist würde sagen, das ganze militaristisch bürgerlichmoderne Deutschland ist die eigentliche Erfüllung der Französischen Revolution.31
Dass diese Auffassung von der bürgerlich-revolutionären Gesinnung der Deutschen in Ungarn bereits eingebürgert war, beweist der Umstand, dass die radikalen ungarischen Denker, Soziologen und Philosophen, etwa Karl Mannheim und Georg Lukács, in den 1910er-Jahren als Zielort für ihre Suche nach Erfahrungen in WestEuropa vielmehr Berlin als Wien oder Paris wählten. Auf einer ähnlich zweipoligen Konstruktion basiert der Aufsatz von Ernst Lorsy. Im Vergleich zu den Essays von Hatvany verschiebt sich jedoch der kulturanthropologische Diskurs in Richtung der Kriegspropaganda; Deutschlands Gegenpol ist diesmal England. Mit vorgetäuschtem Mitleid stellt Lorsy die einmarschierende Jugend Englands dar, die jetzt infolge der Machtbestrebungen ihres Landes vermutlich ihrer hohen Selbstschätzung beraubt wird: Sie werden ihrer Person weniger Wichtigkeit beimessen, da sie sich ernstlich und dauernd untergeordnet und diszipliniert werden fühlen müssen. […] Den Söhnen eines Herrenvolkes steht das Schwere bevor […], Mann für Mann den Vorzug der glänzend isolierenden Selbstbestimmung den damit unverträglichen Interessen ihres Landes opfern zu müssen.32
Diese Charakterdarstellung der englischen Jugend ist höchst ironisch, und die rhetorische Wirkung durch den Hinweis auf das Autostereotyp von den Engländern als „Herrenvolk“ wird umso mehr intensiviert. Auch die kritisierten Charakterzüge sind nicht zufällig gewählt: Gehorsamsdenken und Diszipliniertheit sind gleichsam Autostereotypen, sie gelten jedoch nicht für die Engländer, sondern für die Deutschen, demzufolge fällt der implizite Vergleich zugunsten Letzterer aus. Das letzte zweipolige Feuilleton stammt von Alfred Polgár. In seinem literarisch anmutenden Essay von der Landkarte als sinntragende Entität geht es über längere Passagen harmlos zu, bis er schließlich das Bild eines „riesengroßen, hoffnungslosen“ Landes umreißt, mit dem unmissverständlich Russland gemeint ist, das mit seinen wenigen Eisenbahnlinien auf der Landkarte wie „das windungsarme Gehirn eines vorzeitlichen Riesengeschöpfes“ „neben hochorganisierten Gehirnen“ aussehe.33
30 31 32 33
Vgl. Anm. 25. Hatvany, Ludwig: Deutschland und die Französische Revolution. In: Pester Lloyd, M., 224, 13.9.1914, 1–2. Lorsy, Ernst: Aufbruch zur Fuchsjagd. In: Pester Lloyd, M., 206, 26.08.1914, 3. Polgár, Alfred: Die Landkarte. In: Pester Lloyd, M., 217, 6.09.1914, 1.
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An diesem Punkt führt das der Anatomie entliehene Bild den ahnungslosen Leser zur Tagespolitik, und der Text entpuppt sich auf einen Schlag als treuer Diener der Kriegsideologie: Und dieses Gehirn diktiert der Welt. Dieser Primitivität gehorchen die Komplizierten. Dieser Plumpheit hofieren die Feinen. Dieser Anachronismus modelt die Gegenwart. Daß er einst nicht auch unsere Zukunft bestimme, deshalb führen wir den Krieg. Dem opfern wir unsere Gegenwart.34
In diesem Zusammenhang sollen im Folgenden zwei Aufsätze besprochen werden, die Vergleiche zwischen nun verfeindeten Völkern ziehen und sich dabei – wie gewohnt – tradierter nationaler Stereotypen bedienen. Ihre Konstruktion, in quasiwissenschaftlicher Eigenlogik vorgetragen, erinnert an Methoden der Völkerpsychologie, welche sich nach der Jahrhundertwende auf den Spuren der Psychologie etablierte und als eine neue Disziplin galt. Otto Alscher untersucht in seinem Aufsatz Die Kunst zu sterben das Verhältnis der Russen, Franzosen und Deutschen zum Tod, das er aus ihrem Willen zum Leben und zum Sieg ableitet. Im Falle der Russen hält er die Schicksalsergebenheit für typisch, sodass er die russische Nation im Schnellverfahren herunterstuft. Im Fall der Franzosen und Deutschen hebt er die Faszination des Sieges hervor und arbeitet in einem nächsten Schritt den Unterschied zwischen den beiden heraus, den er dann in den Kriegsdiskurs einbindet. Mithilfe des Heterostereotyps von den Franzosen als Hedonisten schafft er es schließlich, die Deutschen als überlegen einzustufen: Es ist ein großer psychologischer Unterschied zwischen der germanischen Rasse und der südlichen Romanischen. Der Franzose betrachtet die Kunst zu leben als die größere, der Deutsche aber die, sterben zu können. Und darum ist er im Kampfe der Furchtbarere, der Siegende und wird es auch diesmal sein.35
In mancher Hinsicht verfährt Zoltán Szász ähnlich, wenn er sich Mitte November auf die Suche nach dem „Geheimnis der deutschen Kraft“ macht.36 Gleich einem autodidaktischen Psychologen gilt bei ihm zunächst als Maßstab für die Einordnung der Nationen die Entwicklungsstufe des Bewusstseins ihrer Bürger. Auf dieser Grundlage grenzt er auch als Erstes die Russen aufgrund ihres „unentwickelten Bewusstseins“ von den westlichen Verbündeten ab, die über ein „entwickeltes bürgerliches Bewusstsein“ verfügen. Ähnlich wie auch Alscher, stellt er bei den Engländern und Franzosen eine zu ihrem Nachteil sich auswirkende „epikuräische Lebensauffassung“ fest, sodass auch diesmal die Deutschen infolge ihrer staatsbürgerlichen Tugenden am Ende die Sieger bleiben: Die deutsche Leistung, die deutsche Ausrüstung, die deutsche Organisation würden an sich nicht genügen, wenn nicht die seelische Zusammensetzung des einzelnen Deutschen, dieses eigenartige Gemisch aus Bildung und Naivität, Klugheit und Beschränktheit ihn zum guten Staatsbürger, zum guten Soldaten machte […] Der Deutsche ist aber der geborene Staatsbürger und, was dasselbe bedeutet, der geborene Soldat.37 34 35 36 37
Ebd. Alscher, Otto: Die Kunst zu sterben. In: Pester Lloyd, M., 233, 22.09.1914, 2. Szász, Zoltán: Das Geheimis der deutschen Kraft. In: Pester Lloyd, M., 289, 17.11.1914, 2. Ebd.
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Das Paradoxon, dass aufgrund dieser Charakterisierung der „Durchschnittsdeutsche“ eher für den Krieg als den Frieden geeignet wäre, wird von Zoltán Szász stillschweigend übersehen. EXKURS: DER BRIEFWECHSEL ZWISCHEN ROMAIN ROLLAND UND GERHART HAUPTMANN – UND DESSEN KOMMENTARE In der ungarischen Presse ist es allein der Pester Lloyd, der dem offenen Briefwechsel der beiden berühmten literarischen Persönlichkeiten beträchtlichen Raum widmet. In den moderne Positionen repräsentierenden Zeitschriften, wie beispielsweise der kriegsfeindlichen, soziologisch orientierten Huszadik Század oder in der eher neutralen literarischen Nyugat, findet man keine Spur dieser Debatte, obwohl beide Zeitschriften regelmäßig auch ausländische Beiträge in ungarischer Übersetzung veröffentlichen. Der Pester Lloyd bringt nicht nur die Briefe im Original, sondern auch deren Echo aus der Feder der bereits erwähnten Mitarbeiter Karl Lovik und Ludwig Hatvany. Wie bekannt, bildet den konkreten Anlass zu dieser Polemik zwischen Romain Rolland und Gerhart Hauptmann der Angriff der deutschen Armee gegen das neutrale Belgien, bei dem auch viele wertvolle Kunstdenkmäler des Landes vernichtet wurden. Die Verwüstungen in Löwen veranlassten den französischen pazifistischen Schriftsteller, einen Verehrer der deutschen Kultur, in einem offenen Brief „die geistige Elite Deutschlands“ aufzufordern, „gegen ein Verbrechen zu protestieren, das auf sie zurückfällt“.38 Schon zu Beginn grenzt sich Rolland von dem weit verbreiteten Heterostereotyp ab, die Germanen seien ein barbarisches Volk, das schon bei Tacitus vorgekommen war, aber erst in der Dante-Zeit in ganz Europa Fuß fasste, was seitdem jedoch als der häufigste Vorwurf gegen die Deutschen galt.39 Er beschuldigt nicht die Deutschen generell, sondern die aggressive preußische Politik, pocht außerdem auf das große gemeinsame kulturelle Erbe der europäischen Nationen, und als Warnung formuliert er dann den folgenden provokativen Satz: „Tötet die Menschen, aber achtet die Kunstwerke!“40 In seiner Antwort klammert sich Haupmann an diesen Satz, wenn er sich nach der energischen Zurückweisung der Anklagen gegen die deutsche Regierung und das Heer weigert, Kunstwerke vorbehaltlos zu verteidigen und die Sinnlosigkeit einer solchen Position unter Kriegsverhältnissen betont: Krieg ist Krieg. Sie mögen sich über den Krieg beklagen, aber nicht über Dinge wundern, die von diesem Elementarereignis unzertrennlich sind. Gewiß ist es schlimm, wenn im Durcheinander des Kampfes ein unersetzlicher Rubens zugrunde gerichtet wird, aber – Rubens in 38 Ohne Kommentar bringt das Blatt den folgenden Briefwechsel zwischen Romain Rolland und Gerhart Hauptmann. Das Original erschien am 29.08.1914 im Journal de Genève. In: Pester Lloyd, M., 226, 15.09.1914, 1. 39 Beller, Manfred: Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie. Göttingen 2006, 53. 40 wie Anm. 39.
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Zsuzsa Bognár Ehren! – ich gehöre zu jenen, denen die zerschossene Brust eines Menschenbruders einen weit tieferen Schmerz abnötigt.41
Man hätte Hauptmann guten Gewissens zustimmen können, wenn er des Weiteren nicht von der „heldenmütigen“ deutschen Armee geschwärmt hätte, „die durch die Gerechtigkeit ihrer Sache unüberwindlich ist“.42 Hauptmann ist davon überzeugt, dass die Nachrichten von den Verwüstungen der deutschen Armee in Belgien nur Produkte der „französischen Lügenpresse“ seien, und vertritt die Meinung, dass die Belgier von Frankreich und England missbraucht worden seien. Er zeigt sich also nicht bereit, die Kluft zwischen den feindlichen Nationen zu überbrücken, nicht einmal als Vertreter der gemeinsamen europäischen Kultur. Dieselbe Unversöhnlichkeit kennzeichnet den Kommentar des ungarischen Prosaisten Karl Lovik, welcher bereits zwei Tage später im Pester Lloyd gedruckt wurde.43 Lovik hält den Brief Rollands für eine geschickte Leistung der Rhetorik – und in diesem Sinne für eine typisch französische –, die mit der Realität kaum etwas zu tun hat. Anschließend nimmt sein Kommentar eine überraschende Wendung, indem er die Neutralität Belgiens sozusagen als geschichtliche „Untauglichkeit“, den Militarismus der Deutschen und Ungarn jedoch als geschichtliche Opferbereitschaft interpretiert und die Rückständigkeit des eigenen Landes diesem Opferwillen zuschreibt. Der Wohlstand Belgiens münde in Trägheit, und die reiche Kultur als Folge des Wohlstands hält er für ein historisches Unrecht – wobei das darauf folgende Selbstmitleid gerade als etwas typisch Ungarisches bezeichnet werden kann: „Das sind nicht gleiche Chancen. Auch wir lieben die Künste […], aber unsere Museen blieben klein, nicht weil wir Hunnen sind, sondern weil wir kein Geld dafür hatten, weil wir nicht an unserer Armee für Museen sparen konnten.“44 Um das deutsche Heer zu rechtfertigen, zieht er eine Parallele zwischen der Zerstörung Löwens und der Inbrandsetzung der ungarischen Stadt Losonc 1849 durch die Russen. Der Leser würde erwarten, dass nun um Losonc ein Trauerlied angestimmt würde, doch Lovik beginnt erstaunlicherweise an dieser Stelle, sich auf die historische Fachwelt berufend, diese Aktion der russischen Soldaten als Abwehrmechanismus zu erklären. Im Gegensatz zu ihm mahnt Ludwig Hatvany zu Nüchternheit und Sachlichkeit. Den Anlass zu seinem Essay Kriegsphilosophie gaben außer der RollandHauptmann-Debatte berühmte deutsche Gelehrte – der Historiker Karl Gotthard Lamprecht, der Psychologe Wilhelm Wundt und der Philosoph Rudolf Christoph Eucken –, die sich mit Beginn des Krieges als Vertreter des deutschen Geistes der 41 Ebd. Das Original erschien am 10. September 1914 (Nr. 460) in der Vossischen Zeitung. 42 Ebd. 43 Karl Lovik (1874–1915) war Publizist, Prosaschriftsteller, Freimaurer, Pferdeexperte. Er studierte Jura, war bis zu seinem Tod Mitarbeiter der Wochenzeitung A Hét, schrieb mehrere Zeitromane, von der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung wurden jedoch in erster Linie seine Novellen über die bürgerliche Welt der Jahrhundertwende hoch geschätzt. Daneben schrieb er in mehreren Fachzeitschriften über Pferde und übersetzte eifrig russische Literatur (Puschkin, Lermontov, Tschechow) ins Ungarische. 44 Lovik, Karl: Romain Rolland contra Gerhart Hauptmann. In: Pester Lloyd, M., 228, 17.09.1914, 2.
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Reihe nach zur Tagespolitik äußerten und dabei den Krieg als Kulturmission des eigenen Volkes hinstellten. Hatvany scheut vor der rationalen Erklärung durch die Gelehrten zurück: Die Zeit und die Stunde haben nur das Unmenschliche menschlich, nicht aber das Unmögliche möglich gemacht. Mit Worten, Gefühlen und Ideen aus dem Frieden lassen sich keine Gefühle, Ideen und Taten des Krieges rechtfertigen. Die Begriffe: Ethik und Kultur dürfen nicht mehr in dem gestrigen friedlichen Sinne gebraucht werden. In der Überraschung des jäh ausgebrochenen Krieges musste die sicherste Logik zusammenfallen, die bestgefügten Systeme aus den Fugen springen, und der eigene Gedanke verkrüppelt, niedergedrückt durch die große Idee, von der die Menge erfüllt war.45
Hier zeigt sich aber auch, dass sich die Ablehnung der bildungsbürgerlichen Affirmation des Weltkrieges in erster Linie gegen die bildungsbürgerliche Praxis, nicht aber den Krieg selbst richtet. Unter anthropologischem Gesichtspunkt hat Hatvany völlig recht: Jene Barbarei, der sich Franzosen und Deutsche gegenseitig beschuldigen, sie ist weder die Eigenheit des Deutschen noch die des Franzosen, oder gar die des armen Wallonen, sondern gleichviel, ob ein Deutscher, ein Franzose, oder ein Wallone, sie ist die einzig mögliche Eigenheit des Menschen – jedes Menschen! –, der mit einer Mordwaffe in der Hand in die entmenschlichende Kriegsnot des Angriffs oder der Abwehr gedrängt wird.46
Andererseits ist jedoch Hatvany – gleich vielen bedeutenden Intellektuellen seiner Zeit – davon überzeugt, dass der Krieg dazu da ist, um die heutige, veraltete Kulturform abzulösen. Demnach hypostasiert er ihn als eine unausweichliche Etappe der historischen Entwicklung: „Der Krieg ist nichts anderes als die vorübergehende Krisenzeit der vollkommenen Unordnung zwischen zwei Weltordnungen, der Gesetzlosigkeit zwischen zwei Gesetzen, der Entmenschlichung zwischen zwei Menschlichkeiten.“47 Hatvany lässt seinen Essay in Bezug auf die Zukunftsaussichten offen. Er gesteht schließlich ein, dass die Wege und Ziele dieses Krieges unbekannt seien, und behauptet, dass einzig und allein die Tatsache der Veränderungsbedürftigkeit dieser Welt sicher sei. Der „Sinn“ und „der zureichende Grund“ könnten aber erst nachträglich rekonstruiert werden. KULTURPHILOSOPHISCH AUSGERICHTETE AUFSÄTZE Kulturphilosophische Ausrichtung wird hier im weitesten Sinne verstanden: Es geht dabei in diesem Kapitel sowohl um geschichtsphilosophische als auch um psychologische Überlegungen. Der Unterschied zur vorigen Textgruppe besteht im Wesentlichen darin, dass der kulturphilosophische Diskurs – sei es mit Einbeziehung oder Ignorierung der konkreten Kriegsereignisse – danach strebt, eine Art Phänomenologie des modernen Krieges zu entwerfen. Die Autoren wollen dabei 45 46 47
Hatvany, Ludwig: Kriegsphilosophie. In: Pester Lloyd, M., 238, 27.09.1914, 2. Ebd. Ebd.
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nur selten unparteiisch bleiben, ihre Aufsätze gehen jedoch über die Grenzen der üblichen Legitimationsstrategie hinaus. Der Jurist und Publizist Illés Pollák hält, wie auch Hatvany, den Krieg selbst für eine geschichtsphilosophische Notwendigkeit der Entwicklung, nur sind bei ihm – im Gegensatz zu Hatvany – das vorangehende und nachfolgende Stadium nicht gleich: „Der Krieg ist die Stufe zu einer neuen Terrasse geworden, auf welcher der Friede nun neue, erhöhte Kulturen bauen kann.“48 Für Pollák erscheint der Krieg sogar dem Frieden überlegen, insofern jener all das verwirklichen könne, wozu der Frieden nicht imstande gewesen sei: „die Ordnung, die Organisation, die Disziplin“.49 Eine solche Idealisierung des Krieges war um diese Zeit – wie bereits gezeigt wurde – weit verbreitet. Was unter kulturphilosophischer Perspektive besonders auffällt, ist, dass zu den „wohltuenden“ Wirkungen des Krieges auch seine vermeintliche Wesens- oder Wahrheitsverbundenheit öfters noch hinzugezählt wird. Karl Lovik, der im Allgemeinen die Gewalttätigkeit verurteilt, entdeckt im gegebenen Krieg als einer Gemeinschaft stiftenden Instanz „eine Form der Wahrheit, und die furchtbare Kraft dieser Wahrheit zeigt sich [für Lovik] gerade darin, dass sie sogar in dieser blutigen Gestalt rein und stolz auf eigenen Füßen stehen bleibt“.50 Wird nach Lovik durch den Krieg das lang vermisste sittlich-moralische Ideal der Verbrüderlichung der ungarischen Nation wiederhergestellt, soll nach Hatvany der Krieg für die Kunst fruchtbringend sein, insofern der Künstler gerade jetzt zu neuen wesenhaften Erkenntnissen kommen kann. Er meint, erst diese schaurigen Kriegszeiten offenbarten, dass die Werte der Friedenszeit, welche von den Maßstäben der bürgerlichen Welt bestimmt wurden, auf die sich seine Generation „seelisch“ „eingerichtet“ hat, nicht der Realität entsprechen. Die Erschütterung der etablierten Ideen durch den Krieg muss nach ihm endlich dazu führen, „[…] unser widerstrebendes Denken und Fühlen produktiv-folgsam nach dem Reellen zu richten und uns vom glatten Irrweg in die holprige Spur der Wahrheit zu zwingen“.51 Beide Autoren, sowohl Lovik als auch Hatvany, stimmen in dem Punkt überein, dass sie die Wirklichkeit der Vorkriegsgesellschaft für eine Täuschung halten, sich von den Auswirkungen des Krieges diesbezüglich eine tiefgehende Veränderung erhoffen und deshalb auch keine Opfer scheuen. Ihre Vorliebe für paradoxe Formulierungen („rein in dieser blutigen Gestalt“, „glatter Irrweg“, „holprige Spur der Wahrheit“) deutet auf die Orientierungslosigkeit hin, die sich hinter solchen Vorstellungen verbirgt. Eine kleinere Gruppe von Feuilletons fokussiert die seelischen Aspekte des Völkerkrieges im Besonderen, wie auch jedes Krieges im Allgemeinen. All diese pseudowissenschaftlichen Beiträge erweisen sich als recht heterogen, sie reichen von dilettantischen Spekulationen bis hin zu psychoanalytischen Grundkenntnissen. Für den ersten Fall bietet der Aufsatz des österreichischen Schriftstellers und Kritikers Rudolf Lothar ein Beispiel. Er betont mit Emphase: „Nicht die Körper 48 49 50 51
Pollák, Illés: Kriegskultur. In: Pester Lloyd, M., 231, 20.09.1914, 3. Ebd. Lovik, Karl: Geschichte. In: Pester Lloyd, M., 231, 6.08.1914, 2. Hatvany, Ludwig: Krieg und Kunst. In: Pester Lloyd, M., 212, 1.09.1914, 2.
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entscheiden die Schlachten, sondern die Seelen. Jede Schlacht ist eine Mutprobe, eine Seelenprobe. Und so stehen sich nicht Millionenheere von Körpern heute gegenüber, sondern Millionenheere von Gedanken.“52 Der bekannte ungarische Philosoph Bernhard Alexander argumentiert hingegen auf der Grundlage psychoanalytischen Wissens.53 Er meint, in Krisensituationen gewinne der stärkere Einfluss des Unterbewusstseins die Oberhand, trotzdem bleibe der Einzelne seelisch nicht völlig wehrlos, wenn er fähig sei, sich selbstvergessen der Gemeinschaft anzuschließen: In Zeiten der Not, wie die unsere, besteht die Adaptationskraft des Einzelnen in der völligen Hingabe an das Ganze […] In diesem Zustande des Einswerdens [mit dem Ganzen] verliert auch der Tod seine Schrecken.54
Abgesehen von diesem Aufsatz äußert sich Alexander im Pester Lloyd mehrmals zum Thema Kriegspsychologie.55 Wie aus dem vorigen Zitat – und dem ganzen Lebenswerk überhaupt – hervorgeht, stand für ihn die Förderung der eigenen, nationalen Kultur an erster Stelle; diesem Ziel untergeordnet, erscheint ihm in der Zeit der Internationalisierung der Kultur auch der Krieg selbst als eine wahre Kulturmission.56 Zuletzt soll auf den Beitrag des Dichters und Übersetzers Eugen Mohácsi eingegangen werden. Mit einem beinahe wissenschaftlichen Eifer untersucht er die Frage: „Was fühlt man in der Schlacht?“ Seinen Aufsatz gestaltet er durch die einleitende Aufstellung von Hypothesen als Experiment: Ist es ein Wirbel von Impressionen, der einen bestürmt? Ein Orkan von Gefühlen, ein Meer von Gedanken? Wird man von unaussprechlich großartigen Affekten gepeitscht? Erinnert man sich blitzartig seines ganzen verflossenen Lebens (eines Flusses von langem Lauf, wie plötzlich eingedeicht mit seinen Wassermassen), – wie es bei Menschen sein soll, die in einer tödlichen Gefahr geschwebt haben? […] Oder ist die Schlacht ein Massenerlebnis, ein kollektives Seelenereignis?57
Die Antwort darauf gewinnt er auf empirischem Wege, durch Befragung seines Freundes, der selbst am Krieg teilnahm: Man erlebt in der Schlacht nichts. Wer sich die Dinge seelisch nahe treten lässt, ist verloren. Die Augen sehen, die Ohren hören, aber das sind Sinneswahrnehmungen, die sich zu Urteilen verdichten müssen, zu Gefühlen darf es nicht kommen. Das ist kein Zynismus, sondern nur die Abwesenheit jedweden Gefühls.58 52 Lothar, Ludwig: Zur Psychologie des Mutes. In: Pester Lloyd, M., 221, 10.9.1914, 2. 53 Bernhard Alexander (1850–1927) war Philosoph, Ästhet, Theaterkritiker und Übersetzer von philosophischen Klassikern. Er studierte an mehreren europäischen Universitäten Philosophie, Literatur und Naturwissenschaften, war der erste Professor für Philosophie an der Budapester Universität, wurde auch zum Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Nach der ungarischen Räterepublik 1919 wurde er aus ungeklärten Gründen denunziert, deshalb verließ er Ungarn für mehrere Jahre. Seine größten Verdienste liegen in der Übersetzung und Verbreitung der Klassiker der Philosophie in Ungarn sowie der Entwicklung der ungarischen philosophischen Kultur. 54 Alexander, Bernhard: Zur Psychologie des Krieges. In: Pester Lloyd, M., 287, 15.11.1914, 2. 55 Ders., Der Haß. In Pester Lloyd, M., 294, 22.11.1914, 1–3. 56 Ders., Kulturglauben. In: Pester Lloyd, M., 273, 1.11.1914, 1–2. 57 Mohácsi, Eugen: In der Schlacht. In: Pester Lloyd, M., 216, 5.09.1914, 2. 58 Ebd.
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Gesandt im Juni 1915 aus Frankreich an Elise Welte nach Seelbach, Schwarzwald. Postkartensammlung des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen
Was von diesem authentischen Zeugen behauptet wird, ist nichts weniger als die Widerlegung aller früheren Vorstellungen von der Gemeinschaft stiftenden Kraft des Krieges – sowie von der seelischen Bestärkung durch eine Gemeinschaft überhaupt. In der Schlacht sei man allein auf sich angewiesen, so die ernüchternden Erfahrungen eines Kriegsteilnehmers, deshalb erscheine nur die äußerste Konzentration als lebensrettend. Berücksichtigt werden muss bei Mohácsi auch der metaphorisch dichte Text, der seinen Schreibstil prägt. Es handelt sich dabei um ein Markenzeichen des einzigen ungarischen Dichters, der in diesen Monaten im Pester Lloyd ästhetisch wertvolle Gedichte veröffentlichte. KRIEGSDICHTUNG Nach Peter Sprengel sei der religiöse Aufschwung zu Kriegsbeginn auch für die literarische Produktion dieser Monate maßgebend. Er spricht von einer „extreme[n] Häufigkeit, mit der religiöse Wendungen, Bilder und Motive in deutschen Kriegsgedichten jener Zeit auftauchen“ und macht dafür „die eigentümliche ideologische Konstellation des August 1914: die Verknüpfung ethischer Ideale mit dem Vorgang der deutschen Mobilmachung“ verantwortlich.59 59
Sprengel, Peter: Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne. Berlin 1993, 248.
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Für den Feuilletonteil des Pester Llyod hat dieses Phänomen wenig Relevanz. Wie bereits einleitend festgestellt wurde, wird literarischen Texten in dieser Periode nur sehr wenig Platz eingeräumt, und wenn überhaupt, wird Kriegslyrik bevorzugt, für die jedoch eine gesteigerte Religiosität nicht charakteristisch ist. Etablierte Prosaschriftsteller wie Ludwig Biró und Karl Lovik scheinen die Kriegsaktualität vorzuziehen: Biró geht an die Front und schickt von dort seine Kriegsberichte an die Redaktion, die sehr lebendige, öfters pointierte Dialoge enthalten, aber, an den Erwartungshorizont der Leser angepasst, der Realität verpflichtet sind. Lovik schreibt in erster Linie politische Feuilletons und essayistische Studien, in denen seine Kriegsverbundenheit und seine Sympathie für Deutschland zum Ausdruck kommen. An literarischer Prosa liegen von ihm nur zwei Kriegsmärchen vor, Die Zinnsoldaten und Die wunderbaren Stiefel.60 Dabei handelt es sich um keine von ihm verfassten Texte, sondern um Übersetzungen aus dem Ungarischen, da sie ursprünglich für die Zeitschrift A Hét verfasst wurden, für die Lovik als Hausschriftsteller galt. Anfang September werden im Feuilletonteil auf einmal mehrere Gedichte unter dem Titel Kriegspoesie veröffentlicht, bei denen offensichtlich nicht der ästhetische Wert, sondern der mobilisatorische Kampfgeist im Vordergrund steht, was symptomatisch für die Dichtkunst der Zeit ist. Zur Erklärung wird der anonyme Kommentar als Begleittext veröffentlicht: „Die deutschen Zeitungen bringen Tag um Tag Kriegslieder, in denen flammende Vaterlandsliebe, Kriegsbegeisterung, heldenmütige Entschlossenheit, aber auch Schätze von Humor und Witz zu finden sind.“61 Das Schema des Volkslieds nachahmend, müssen die „burschikosen“ Kriegslieder nicht einmal ihren Dichter bekannt geben; dem symbolischen Repräsentanten einer Volksgruppe kann durch seine Titelposition mehr Wichtigkeit zukommen, wie in der folgenden Strophe, aus der zwei typische Zeilen zitiert werden: H. Sch.: Knecht Rupprecht, der Bayer „[…] Die bösen Franzosen blecken die Zungen Und wollen verhöhnen die deutschen Jungen.“62
Offensichtlich werden in diesen Kriegsliedern nationale Stereotype nach dem gleichen Muster der gegensätzlichen Wertzuschreibungen konstruiert, wie es in Aufsätzen mit anthropologischer Ausrichtung der Fall war. Typisch ist auch, dass dabei das lyrische Ich zugunsten der „eigenen“ Soldatengemeinschaft mit dem Ziel zurücktritt, die Vortrefflichkeit des eigenen Volkes durch die Abwertung des Feindes zu demonstrieren. Im folgenden Schlachtlied wiederholt sich die Beleidigung des Feindes durch die refrainartigen Verse in jeder Strophe:
60 Lovik, Karl: Die wunderbaren Stiefel. In: Pester Lloyd, M., 296, 24.11.1914, 1–2. 61 Kriegspoesie. In: Pester Lloyd, M., 215, 4.09.1914, 1. 62 Ebd.
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1. Strophe: 4. Strophe:
E. F. Malkowsky: Kosaken! „Es waren, die Feigheit im Nacken, Des Zaren Stolz: die Kosaken!“ „Wir stemmen den Fuß in den Nacken Dem Zaren und seinen Kosaken!“63
Mit dem Attribut „Schönste in dieser überreichen Ernte deutscher Gelegenheitsgedichte“64 werden auch einige Texte mit höherem ästhetischem Anspruch veröffentlicht, wie beispielsweise die Gedichte Deutschlands Fahnenlied von Richard Dehmel und O mein Vaterland! von Gerhart Hauptmann. Der einzige ungarische Lyriker, der in den ersten Kriegsmonaten seine Gedichte im Pester Lloyd publiziert, ist Eugen Mohácsi.65 Im Vergleich zu den bereits erwähnten „burschikosen“ Kriegsliedern erheben diese Texte einen höheren ästhetischen Anspruch, wie das folgende, am 30. August veröffentlichte Gedicht veranschaulicht: Heute Abend Die Sonne ist hinter der Burg verschwunden – (Vier Tage kämpfen sie oben!) Die Silhouetten: Wie Ränder von Wunden. (Vier Tage kämpfen sie oben!) Es ist wie sonst. Die Mädchen lachen, (Vier Tage kämpfen sie oben!) Man spricht, wie sonst, so allerhand Sachen, (Vier Tage kämpfen sie oben!) Die Stimmen schwirren, Propeller schrillen, (Sie kämpfen, sie kämpfen mit Gottes Willen –) Zigeuner fideln, ein krächzend Gewimmer. Über der Burg ein letzter Lilaschimmer. (Sie kämpfen noch immer, Sie kämpfen noch immer!)66
Das Gedicht besteht aus kurzen Zeilen mit zweisilbigen Kreuzreimen, wobei jede zweite Zeile refrainartig wiederholt wird. Sinneswahrnehmungen und narrative Fragmente, die dem Alltag entnommen sind, werden von der ständig wiederkehrenden Erzählerstimme unterbrochen, die den endlos erscheinenden Kampf vergegenwärtigt. Dabei entsteht der Eindruck, dass der Krieg und das Leben sich zuerst 63 Ebd, 2. 64 Ebd. 65 Eugen Mohácsi (1886–1944) verbrachte seine Jugend in Wien, kam 1896 nach Budapest, wo er das Abitur ablegte und mit dem Jurastudium begann. Er setzte seine Studien teilweise in Berlin fort, 1907 verbrachte er ein Semester in Paris. Er promovierte in Jura, und ab 1908 war er Mitarbeiter verschiedener ungarischer und deutscher Zeitungen, z. B. seit 1914 der Wiener Zeitung Neue Freie Presse. Er veröffentlichte Gedichte, Novellen und Theaterkritiken auch in anderen deutschen Blättern. Mohácsi hatte organisatorisches Talent, 1942 war er Vizepräsident des ungarischen Pen Clubs. In seinem Werk sind alle literarischen Gattungen vertreten, doch die große Leistung vollbrachte er auf dem Gebiet der Kulturvermittlung. Von ihm stammen die niveauvollsten Übersetzungen bekannter klassischer Dramen der ungarischen Literatur. 66 Mohácsi, Eugen: Heute Abend. In: Pester Lloyd, M., 210, 30.08.1914, 1.
Kriegswahrnehmung im Feuilletonteil des Pester Lloyd
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vermischen, bis alles Friedliche vom nicht enden wollenden Kampf verschlungen wird. Im Gegensatz zu populären Kriegsliedern nimmt dieses Stimmungsgedicht keinen konkreten Bezug zum Kriegsalltag, Mohácsi abstrahiert die Konfliktsituation auf das sich verändernde Verhältnis zwischen den Bereichen des Friedlichen (Mädchen lachen, Zigeuner fideln) und des Kriegerischen (Analogie MenschenWunden). Ähnlich verhält es sich im Gedicht Die Heizer der „Zenta“,67 wo auch keine Freund-Feind-Szenarien im Mittelpunkt stehen, sondern die Anstrengungen und Befürchtungen auf der eigenen Seite. Die Widerstand leistenden Heizer auf dem Schiff Zenta finden schließlich ihren Tod im Meer. Mohácsi zeichnet weder Bilder vom anderen noch erfolgt eine Schuldzuweisung. Seine Gedichte vermitteln in erster Linie Eindrücke und Gefühle. Dies kommt in einem seiner expressionistisch anmutenden Prosatexte sehr prägnant zum Ausdruck, welcher den Monolog eines anonymen, aufgewühlten Ich enthält: Nicht als ob hier jemand Angst hätte! Aber was in den Straßen noch flutet, in den Fabriken noch dröhnt, sich in den Wohnungen bei Tageslicht und Lampenschein noch abspielt, ist nur ein Scheinleben! Ich werde diesen Gedanken nicht los: Die Menschen, die hier in überspannter Hast tätig sein wollen, sind wie Marionetten, die an beinahe unsichtbaren Fäden von ganz unsichtbaren Händen hin- und wiedergezerrt werden. Der Riese Krieg hat seine schauerliche große Hand auch nach dieser Stadt ausgestreckt, der Krieg, unser Herr!68
Wie diesem Vergleich des ausgelieferten, sinnlos herumirrenden Menschen der Kriegszeit mit willenlosen Marionetten zu entnehmen ist, gehört Mohácsi zu den wenigen im Pester Lloyd präsenten Autoren von Kriegslyrik, die dem Krieg nicht huldigen. Seine Texte vermitteln keine Kriegsbegeisterung, sondern entlarven die Bedrohung des Lebens durch den Krieg, den er ohne höhere Sinnzuweisungen in beklemmenden Stimmungsbildern darstellt. FAZIT Der Beginn des Ersten Weltkriegs ging auch im Pester Lloyd mit diskursiven Radikalisierungen einher. Anhand dieser wichtigsten deutschsprachigen ungarischen Tageszeitung in den ersten Kriegsmonaten wird sowohl die Palette an Texten sichtbar, die den Krieg aushandeln, sowie die Akzeptanz des Kriegsausbruchs im Feuilletonteil des Pester Lloyd. Dabei können mehrere Gründe dafür aufgezählt werden: das bildungsbürgerliche Denken der Zeit, chauvinistische Vorurteile, die hier als kulturanthropologische Einstellungen bezeichnet wurden, sowie geschichtsphilosophische Hoffnungsprojektionen und psychologische Vorstellungen – welche als kulturphilosophische Tendenzen aufgefasst wurden. Offensichtlich kann man weder die einzelnen Ausrichtungen klar voneinander trennen, noch sind sie mit Begriffen wie Konservativismus und Moderne korreliert. Illés Pollák und Bernhard Alexander repräsentieren in der Auswahl die renommierte Schicht des Bildungsbürgertums und können mit ihren Aufsätzen zur 67 68
Mohácsi, Eugen: Die Heizer der „Zenta“. In: Pester Lloyd, M., 213, 2.09.1914, 1. Ders., Das Auge des Krieges. In: Pester Lloyd, M., 229, 18.09.1914, 1.
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Gruppe der kriegsbegeisterten Kulturphilosophen hinzugezählt werden. Ludwig Hatvany und Ernst Lorsy gehören mit ihren ästhetischen Präferenzen zur ungarischen Moderne; aber während man in den Schriften des Kriegsbejahers Lorsy kulturanthropologischen Hochmut erkennen kann, ist die Kriegsbejahung Hatvanys das Resultat seiner geschichtsphilosophischen Vorstellungen. Interessant ist auch der Fall von Karl Lovik: Seine Ausbildung zeigt ihn als Bildungsbürger, während er durch sein Werk zur ungarischen Vormoderne gezählt wird. Seine kriegsaffirmativen Feuilletons können schließlich einer kulturanthropologisch bedingten Voreingenommenheit zugeschrieben werden. Die Vorbereitung auf die bildungsbürgerliche Laufbahn ist auch bei Mohácsi zu erkennen, der um diese Zeit jedoch zur Moderne gehört; gleichzeitig ist er, wie bereits gesagt, der Einzige, der der Faszination des Krieges nicht zu erliegen scheint. Die Vielfalt dieser geistigen Biographien bestätigt die Annahme, dass Kriegsbejahung – mit wenigen Ausnahmen – in den Reihen der intellektuellen Elite stark repräsentiert ist und nicht als ein Merkmal der Gegenmoderne oder Moderne auftritt.69
69
Vgl. Koch, Lars: Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Würzburg 2006.
PFLICHT UND GEWISSEN Die Belgrader Nachrichten – eine andere Soldatenzeitung im Ersten Weltkrieg Franz Heinz Der 1903 in Sarajewo geborene, aus siebenbürgischer Wurzel stammende Künstler Hans Fronius war Augenzeuge des am 28. Juni 1914 verübten Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand. An der Seite seines als Sanitätsrat und Stadtphysikus in Sarajewo ansässigen Vaters erlebte der Elfjährige aus unmittelbarer Nähe die tödlichen Schüsse auf den Thronfolger und seine Gemahlin. Die Schüsse habe ich noch im Ohr, nicht weil sie so laut waren, im Gegenteil, sie klangen so – hell und leer. Ich sehe so gut wie nichts, aber dann plötzlich erblicke ich – es ist das letzte Bild dieses Tages – das Auto auf der Brücke… Ich sehe Potiorek, den Statthalter, gestikulierend im Wagen stehen und wie die Köpfe, Körper des Paares im Fond versinken. Erst später höre ich… Beide sind tot.1
Das dramatische und folgenschwere Ereignis hat Hans Fronius sein ganzes Leben hindurch begleitet. Nur zwei Jahre vorher bewegte ein anderes tragisches Ereignis die Welt: Der als unsinkbar geltende Luxusdampfer Titanic kollidierte im nördlichen Atlantik mit einem Eisberg und ging unter. Der nahezu blinde Fortschrittsglaube der westlichen Welt war erschüttert. Lernte die Welt damals einsehen, dass technisch nicht alles machbar ist, so musste sie nach Sarajewo erfahren, wie das scheinbar Festgefügte aus dem Lot geriet. Die vermeintliche Stabilität auf dem europäischen Kontinent zerbrach und hinterließ auf dem Gebiet der alten Donaumonarchie ein halbes Dutzend neu gegründeter Länder, die sich auf ihre Weise als Nationalstaaten verstanden, obwohl sie das nicht waren. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges zeigte die Europakarte in ihrem Kerngebiet ein vom Deutschen Reich und Österreich-Ungarn gebildetes politisches und wirtschaftliches Machtzentrum. Mit zusammengenommen mehr als eintausendeinhundert Quadratkilometern Oberfläche verfügten die beiden Monarchien, nach Russland, nicht nur über die größte kontinentale Ausdehnung, sondern auch über eine leistungsfähige Industrie und eine umfassende kulturelle Ausstrahlung. Trotz vieler zersetzenden Tendenzen und äußeren Bedrohungen schien ein Zerfall undenkbar, und so mussten die Mitteleuropa radikal verändernden Kriegsfolgen als tiefgreifender national- und gesellschaftspolitischer Einschnitt empfunden werden. Achtzigjährig noch hat Hans Fronius das Attentat von Sarajewo in einem Grafischen Zyklus von 32 Blättern aufgearbeitet. Im einleitenden Essay von Johann Christoph Allmayer-Beck wird Sarajewo als ein prägendes Ereignis im Leben Hans 1
Fronius, Hans: Das Attentat von Sarajewo. Graz, Wien, Köln 1988, 18.
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Fronius‘ hervorgehoben. Der Künstler starb am 21. März 1988, kurz nach der Übergabe seiner Sarajewo-Blätter an den Verlag Styria.2 Der aus Orschowa stammende und von der Donaumonarchie nachhaltig geprägte Otto Alscher dürfte vom Ersten Weltkrieg und dessen welthistorischen Auswirkungen nicht weniger betroffen und in gleicher Weise überfordert gewesen sein. Bei Kriegsausbruch vierunddreißigjährig und an verschiedenen Kriegsschauplätzen eingesetzt, wurde er 1916 zur Redaktion der Besatzerzeitung Belgrader Nachrichten abkommandiert, deren Aufgabe es war, Zuversicht zu verbreiten und Österreich-Ungarn als Garant für eine bessere Neuordnung auf dem Balkan darzustellen. Beides musste an einer Realität scheitern, die gegensätzlicher nicht sein konnte. Ein Sieg der Mittelmächte wurde zusehends unwahrscheinlicher, und die meisten der in der Doppelmonarchie lebenden Nationalitäten strebten eine Eigenstaatlichkeit an. Für die heutige Bewertung der Zeitung und ihrer kriegsverpflichteten Redakteure wird somit darauf zu achten sein, wie viel den Redakteuren an individueller Äußerung möglich war und in welchem Maße davon Gebrauch gemacht worden ist. Eine kritische Durchsicht besonders der Ausgaben von 1917 und 1918 lässt nicht nur die Professionalität der Redakteure erkennen, sondern ebenso – wenn auch eher im Kleingedruckten – ihre Fähigkeit zum eigenen Urteil. Das mochte halb geduldet, aber auch halb erwünscht gewesen sein, denn die Zeitung suchte offensichtlich den Dialog mit dem Gegner, und dazu war Einschüchterung wenig geeignet. Ein gutes Jahr nach dem Ausbruch des Krieges, im Oktober 1915 haben österreichisch-ungarische und deutsche Verbände Belgrad gestürmt und erobert. Im selben Jahr noch erschien im Auftrag der Militärverwaltung in Belgrad die Zeitung Belgrader Nachrichten, der unter dem Titel Beogradske Novine eine Ausgabe in serbischer Sprache sowie die ungarische Ausgabe Belgràdi Hirek folgten. Im Unterschied zu den vielen anderen Soldatenzeitungen im Ersten Weltkrieg wollten die Belgrader Nachrichten in erster Linie nicht eine Frontzeitung sein, sondern zumindest in gleicher Weise ein Blatt für die Bewohner des besetzten Landes und der angrenzenden Gebiete. Unterschwellig bereitete es auf die Veränderungen vor, die nach einem für die Mittelmächte erfolgreichen Kriegsende angedacht waren. In einer solchen Neuordnung auf dem Balkan war eine stärkere Bindung Serbiens an die österreichisch-ungarische Monarchie primär, was, neben den vorzunehmenden politischen und administrativen Maßnahmen, eine intensive kulturelle Annäherung erforderte. Den Belgrader Nachrichten könnte hier eine Übergangsfunktion mit Annäherungstendenz zugedacht worden sein. Neben den Meldungen von den Kriegsschauplätzen auf der ersten Seite brachte die Zeitung im inneren Teil größere Beiträge zur serbischen Kultur und Literatur, vorzugsweise von einheimischen Autoren geschrieben, sowie volkskundliche Beiträge und Leseproben aus dem zeitgenössischen Schrifttum der Balkanvölker. In den Beiträgen wurde Sachlichkeit und Sachkenntnis angestrebt, wobei die gegenseitige kulturelle Durchdringung besondere Beachtung fand. Die verbreitete und keineswegs unbegründete Feindseligkeit der Serben sollte von einer Vision befruchtender Gegenseitigkeit entkräftet werden.
2
Fronius, Hans: Das Attentat von Sarajevo. Köln 1988.
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Größere Beiträge dazu erschienen im Feuilleton auf der ersten Zeitungsseite sowie auf der zweiten Seite unterm Strich. Positionierung und Aufmachung lassen die Bedeutung erkennen, die diesen Artikeln zugemessen wurde. Ergänzt sind sie von einer Vielzahl kleiner, in verschiedenen Rubriken untergebrachten Nachrichten und feuilletonistischen Arbeiten, die stimmungsvolle Szenen und Begebenheiten aus dem Belgrader Alltag aufgreifen und kommentieren. Diese mitunter glossierten Notizen, meist nicht länger als eine Schreibmaschinenseite, forderten den Autoren in der unter Kriegsrecht stehenden serbischen Hauptstadt eine sensible Beobachtungsgabe ab sowie das entsprechende Taktgefühl in der publizistischen Darstellung. Die Namen der kriegsverpflichteten Redakteure liegen zwar vor, doch sind wir bis heute nicht in der Lage, die einzelnen, nur mit einem Autorenzeichen gekennzeichneten Beiträge dem jeweiligen Autor zuordnen zu können. Ausnahme bilden die Artikel von Otto Alscher, dessen Signum (=) uns bekannt ist. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftige Nachforschungen die noch ungeklärte Autorenfrage aufhellen. Als Mitglieder der deutschen Redaktion der Belgrader Nachrichten nennt Otto Alscher neben sich selbst die Journalisten Erich Krünes, Josef Stolzing-Cerny und Otto Hauser. Die Druckerei unterstand Karl Neumann, während für die politische Orientierung Oberst Kerchnawe zuständig war. Chefredakteur der Zeitung war Hauptmann Franz Xaver Kappus, aus Temeswar stammend und der Nachwelt vor allem als Empfänger von Rilkes Briefen an einen jungen Dichter im Gedächtnis geblieben. Ab März 1916 erschien die deutsche Ausgabe täglich. Die neue Beilage Avala – mit kulturpolitischen Beiträgen zur Region – wertete die Zeitung auf und unterstrich ihr Anliegen, den zivilen Leser zu erreichen. Abgesehen von den Heeresberichten auf der Titelseite, die in Schlagzeilen die militärischen Erfolge der Mittelmächte und ihrer Verbündeten meldeten, sind die Themen der Zeitung regional ausgerichtet und bleiben im Ton moderat. Eine gelegentlich durchschimmernde Überheblichkeit wird von selbstkritischen Einschätzungen zur Lage sowie von der Fragwürdigkeit des zivilisatorischen Vorsprungs dem Balkan gegenüber ausgeglichen. Man ist bemüht, dem unterworfenen Gegner nicht die Würde zu nehmen und seinen Stolz nicht vorsätzlich zu verletzen. In den rund 200 feuilletonistischen Beiträgen, die 1917–1918 in den Belgrader Nachrichten erschienen sind, findet sich kaum Triumphales, und nur zwischendurch werden mit einem halben Lächeln Wien und Budapest gegenüber der bescheideneren serbischen Hauptstadt hochgespielt. Belgrad zählte damals rund 45.000 Einwohner und nahm sich gegenüber Budapest mit einer halben Million Einwohner und dem anderthalb Millionen Bürger zählenden Wien nicht nur statistisch eher provinziell aus. Zudem mögen die erheblichen Kriegszerstörungen, die Unterversorgung der Bevölkerung sowie die nur eingeschränkt handlungsfähige Stadtverwaltung das Negativbild der noch jungen Residenz verstärkt haben. Jahrhunderte hindurch umkämpft und in osmanischem Besitz, fiel Belgrad eine Hauptstadtfunktion erst 1842 zu, wobei die Türken bis 1867 eine Besatzung in der Festung unterhielten. Die Belgrader Nachrichten spiegeln den Alltag dieser am Schnittpunkt zum Orient befindlichen und mitteleuropäisch orientierten Stadt wider. Vor allem in den feuilletonistischen Beiträgen kommen ihre Widersprüchlichkeit und Eigenart, ihr
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Stolz und ihre Zukunftsgläubigkeit zum Vorschein. Unter den dargestellten Bevölkerungsschichten sind es nicht zuletzt die einfachen Menschen auf der Straße, die den Besatzern gegenüber zurückhaltend bleiben und die in ihrer Originalität den Berichten Farbe geben und Unmittelbarkeit bescheinigen. Für die im Vielvölkerreich der Habsburger aufgewachsenen und herangebildeten Redakteure waren nationalitätenpolitische Verwerfungen so ungewöhnlich nicht. Otto Alscher, dem allein etwa die Hälfte der in den Belgrader Nachrichten erschienenen feuilletonistischen Beiträge nachzuweisen sind, dürfte ebenso wenig wie Franz Xaver Kappus von der Verstörung der Belgrader Serben befremdet gewesen sein. Im ungarischen Grenzstädtchen Orschowa zu Hause, waren die Serben für Alscher keine Feinde, sondern Nachbarn wie andere auch. Sie waren Teil seiner Heimat, Sprache und Lebensart waren ihm vertraut, und sie gehörten zum Kundenkreis seines Vaters, der in Orschowa ein Fotoatelier betrieb. Der Grenzlandbürger Alscher konnte sich im besetzten Belgrad nicht verleugnen. Er wollte sich Stadt und Land anteilnehmend nähern, obwohl die Rolle des Okkupanten das vordergründig verhinderte. Er erkannte und achtete die stumme Verzweiflung der Besiegten und es war ihm bewusst, wie interpretierbar die so genannten großen Taten sind, und dass sie nicht nur erfochten, sondern immer auch erlitten werden. Er räumt dem Pathos keinen Platz ein. Seine Beiträge berichten von den moralischen und materiellen Zerstörungen des Krieges, vom bitteren Sterben der Soldaten. Sie stellen die Frage nach der Rechtfertigung der Opfer. Es befremdet, dass Alscher zwei Jahrzehnte später manches anders vermittelt wissen wollte. In der Südostdeutschen Tageszeitung. Ausgabe Banat vom 17. Oktober 1941 bezeichnete er die Gründung der Belgrader Nachrichten als eine Aktion des nationalistischen Alldeutschen Verbandes, mit dem Ziel, „[…] auf das serbische Volk selbst beruhigend einzuwirken, dann aber den großdeutschen Gedanken […] einzuführen.“ Allerdings konnte „[…] nicht offen damit operiert werden […]“, räumt Alscher ein. Nur zwei Redakteure hätten diesbezüglich „direkte Betrauung“ erhalten: Alscher selbst und Josef Stolzing-Cerny – ein späterer Schriftleiter des Zentralorgans der NSDAP Völkischer Beobachter. Die Überprüfung dieser Darstellung ist bisher nicht vorgenommen worden, doch ist eine Ausrichtung der österreichischen Militärverwaltung in Belgrad auf alldeutsche Ziele kaum vorstellbar. In den Belgrader Nachrichten, einschließlich der Beiträge Otto Alschers, fehlen inhaltliche Merkmale, die auf eine solche Zuordnung hinweisen könnten. Auch Alschers literarisches Werk lässt bis tief in die 1930er-Jahre eine solche nicht zu. Es ist von sozialkritischen Themen durchsetzt, die ihn eher der linken Szene zuweisen. Alschers wohl erfolgreichstes Buch ist der Zigeunerroman Gogan und das Tier,3 in dem zwar genetischen Merkmalen eine verhaltensbestimmende Funktion zugesprochen wird, die indessen in keinen Zusammenhang mit der rassistischen Auslese gebracht werden kann. Seine viel beachteten Tier- und Jagdgeschichten aber entziehen sich einer solchen Auslegung erst recht. Sehen wir seine Buchveröffentlichungen in den 1930er- und frühen 1940er3
Alscher, Otto: Gogan und das Tier. Berlin 1912, 2. Auflage. Erschienen auch im Bukarester Kriterion Verlag 1970.
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Jahren durch, fällt kein Titel auf, der ernsthaft in die Nähe und schon gar nicht in den Dienst einer rassistischen Ideologie gestellt werden könnte. Allenfalls in der zunehmend gleichgeschalteten Publizistik im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs ist Otto Alscher – wie viele Banater Journalisten dieser Jahre – als Mitläufer zu verzeichnen. An allen Fronten wurde gesiegt und in alle kulturellen und administrativen Bereiche der Deutschen Volksgruppe in Rumänien hat die Volksdeutsche Mittelstelle in Berlin hineinregiert. Alscher, ein zunehmend verarmender und aufs literarische Abstellgleis ausrangierter Sechziger, fand als Kulturwart einen wohl eher zugewiesenen als erstrebten Tätigkeitsbereich, der weder besonderes Ansehen brachte noch die Existenz verbesserte. Zwei Jahre später suchte er Zuflucht in seinem Waldhaus bei Orschowa. Es wurde im Mai 1942, schuldenbelastet, von der Agrarbank versteigert. Alscher sah sich zur Rückkehr ins Elternhaus genötigt, wo er das wenig geliebte Fotoatelier des Vaters übernahm. 1944, nach dem Seitenwechsel Rumäniens im Zweiten Weltkrieg, wurde er als politischer Häftling festgesetzt. Er starb am 30. Dezember im Lager Târgu Jiu. Es wird nachträglich kaum zu klären sein, was den alternden Otto Alscher der Deutschen Volksgruppe in Rumänien und der von ihr propagierten Ideologie zugetrieben haben mag. Erlag er den Werbebemühungen der Volksgruppenführung zur Vereinnahmung der deutschen Intelligenz oder war es doch die Anfälligkeit für ein dem Dritten Reich angenähertes Gedankengut, das ihn ideologisch einreihte? Beides wird in der Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk des Autors zu berücksichtigen sein, und jedes ist nur bedingt anlastbar. Im literarischen Gesamtwerk ist der Anteil völkisch durchsetzter Arbeiten gering. Sie wären zu übersehen, hätte es Alscher unterlassen, die schwarze Uniform der Deutschen Mannschaft anzulegen und gelegentlich öffentlich alldeutsch zu tönen. Zwanzig Jahre danach schrieb man selbst im sozialistischen Rumänien seine Internierung dem revolutionären Übereifer der ersten Stunde nach dem Umsturz vom 23. August 1944 zu. Sein elendes Sterben als politischer Häftling im Lager von Târgu Jiu schloss allerdings zunächst jede Auseinandersetzung mit seinem literarischen Werk aus. Erst 1967 hat der Bukarester Jugendverlag unter dem Titel Zwischenspiel im Mondschein einen Band mit Tiergeschichten von Otto Alscher herausgebracht, ein Jahr später legte der Literaturverlag Bukarest den Band Die Straße der Menschen und andere Erzählungen vor, der eine Auswahl gesellschaftskritischer Texte des Autors umfasst. In seinem Vorwort zu Zwischenspiel im Mondschein wirft der Bukarester Germanist Heinz Stǎnescu die Frage auf, warum Alscher „bei uns noch so wenig bekannt ist?“ Trifft „uns nicht auch die Schuld“, fragt er, „vor den Schwierigkeiten einer wissenschaftlichen Einschätzung seines eigenwilligen, mitunter widerspruchsvoll gestalteten Werks bisher zurückgeschreckt zu sein?“4 Die eigentlichen Gründe für diese Zurückhaltung bleiben hier ungenannt. In seiner Darstellung von Alschers Leben und Werk schält Stǎnescu Ereignisse und Veröffentlichungen heraus, die einen betont linkslastigen Alscher vorstellen sollen, 4
Alscher, Otto: Zwischenspiel im Mondschein. Tiergeschichten. Vorwort und Auswahl von Heinz Stǎ nescu. Bukarest 1967, 5.
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weniger Vorteilhaftes ausblenden und seine Internierung in Târgu Jiu unerwähnt lassen. Nur so schien es möglich, Alscher im sozialistischen Rumänien wieder zu veröffentlichen, und es ist bis heute strittig, ob das wegen der bewusst falschen oder doch einseitigen gesellschaftspolitischen Zuordnung des Autors nicht besser unterblieben wäre. In der kommunistischen Diktatur der sechziger Jahre war es in Rumänien üblich, Vorkriegsautoren und ihre Werke wie von der Partei vorgegeben zu interpretieren, auch wenn, wie bei Alscher, bedenkenlos an der Wahrheit vorbei interpretiert wurde. Die ideologisch vorselektierte Veröffentlichung aus dem Gesamtwerk wurde von den Verlagen mit der Selbstrechtfertigung hingenommen, andernfalls ganzen Lesergenerationen eine Vielzahl von Autoren vorenthalten zu müssen. Dass verfälschtes Wissen nicht wirklich bildet, störte die Partei nicht. Im Vordergrund jeder Bewertung stand immer die Ideologie. Als Folge der beiden Bukarester Ausgaben war immerhin eine gewisse Entkrampfung des Themas Alscher zu spüren. Die deutschsprachige Presse aus Rumänien rezensierte die Neuerscheinungen positiv und wagte darüber hinaus zunehmend Recherchen zur Person und zum Nachlass des Schriftstellers, die schließlich, kurz vor der Überflutung Orschowas 1970, zur Bergung von etwa eintausend ungeordneten Manuskriptseiten und Belegen führten.5 Zu diesen gehörten Zeitungsausschnitte aus den Belgrader Nachrichten, die den Ausgangspunkt für das 1975 im Bukarester Verlag Kriterion erschienene Belgrader Tagebuch bildeten.6 Im Nachwort wird auf die offensichtliche Unvollständigkeit der veröffentlichten Texte hingewiesen, doch konnten die in diesem Zusammenhang notwendigen Recherchen damals von Bukarest aus nicht vorgenommen werden. Erst 2006, nach einer Durchsicht der in der Wiener Nationalbibliothek vorliegenden Kollektion der Belgrader Nachrichten war es möglich, im IKGS Verlag (München) die ergänzte Sammlung der Kriterion-Ausgabe herauszubringen.7 Sie darf als vollständig gelten und umfasst neben sämtlichen feuilletonistischen Beiträgen Otto Alschers in den Belgrader Nachrichten auch die der anderen Redakteure. Ausgesondert sind lediglich thematische Wiederholungen sowie einige weniger relevante Texte. Damit liegt ein ebenso informatives wie spannungsgeladenes Buch vor, das auf über 300 Seiten authentische Einblicke in die serbische Hauptstadt Belgrad in den Kriegsjahren 1917–18 vermittelt. Das in deutscher, ungarischer und serbischer Sprache ausgelieferte Blatt wurde in Serbien, Kroatien, Syrmien, in der Batschka, der Schwäbischen Türkei und im Banat vertrieben, was auf das besondere Interesse des Herausgebers schließen lässt, möglichst viele zu erreichen und für die eigenen politischen Vorstellungen zu gewinnen. (Hier könnte eine Durchsicht des in der Wiener Nationalbibliothek aufbewahrten Konvoluts Oberst Kerchnawe aufschlussreich sein.) Es ist anzunehmen, dass die Zeitung dazu beitragen sollte, die multinationale Bevölkerung des Donau5 6 7
Heinz, Franz: Tausend Seiten Alscher. Ein Nachlass und sein Anspruch auf das öffentliche Interesse. In: Neue Literatur 12 (1975), 96–98. Belgrader Tagebuch: Feuilletons aus dem besetzten Serbien, 1917–1918/Otto Alscher. Hg. v. Franz Heinz. Bukarest 1975. Belgrader Tagebuch 1917–1918: feuilletonistische Beiträge aus der österreichischen Besatzerzeitung „Belgrader Nachrichten“ / Otto Alscher u. a.. Hg. v. Franz Heinz. München 2006.
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raumes auf Nachkriegsveränderungen im Sinne der einstweiligen Sieger einzustimmen. Behördlich äußerte man sich in recht unterschiedlichen Tonlagen dazu. Im Dezember 1915, als die erste Nummer der serbischen Ausgabe erschien, vermerkt die deutsche Schwesterzeitung: Jedes Abirren von dem gebräuchlichen Tone, oder ein Widerspruch mit unserer nur zu oft parteiischen Meinung – wie wird das bemängelt und kommentiert! In vielen, vielen Dingen belehrte uns der Krieg – dieser große und gewaltige Reformator –, dass wir uns in so manche Änderung schicken müssen.
Im gleichen Artikel wird auf „eiserne Notwendigkeiten, die der Krieg geschaffen hat“ hingewiesen, aber auch auf die „Möglichkeit, die zerschnittenen Bande wieder anzuknüpfen“. Weniger konziliant ist die einige Wochen später, am 9. Januar 1916 in den Belgrader Nachrichten veröffentlichte Proklamation des Militärgeneralgouverneurs Feldmarschallleutnant Graf von Salis-Seewis, in der es lapidar heißt, dass die Soldaten des Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn die Herren im Lande sind und das auch bleiben werden. Als solche hätten sie den Serben ein Tor zur mitteleuropäischen Kultur geöffnet. Diese Prämissen mussten die publizistischen Erfolge der Redaktion relativieren und ihre Bemühungen verwässern, unvoreingenommene Situationen und Stimmungen zu registrieren, zur Selbstfindung der Serben in einer dramatisch veränderten Konstellation beizutragen und zugleich den deutschen und ungarischen Mitbürgern Eigenart und Substanz des serbischen Volkes verständlich zu machen. Aus heutiger Sicht mögen einzelne Beiträge oberflächlich und überholt wirken – sie belegen indessen ein Bemühen zur Annäherung an den besiegten Gegner, das in dieser Intensität im Ersten Weltkrieg kaum Vergleichbares finden dürfte. Wir begegnen in den Beiträgen der Realität der Zeit und des Ortes, und er ist mit Menschen aller Kategorien bevölkert: mit Gastwirten, Kutschern und Händlern, Popen, Musikanten, Witwen, Beamten, Invaliden und Schuhputzern. Gesellschaftliche Gegensätze und politische Ratlosigkeit werden geschildert, die Not des Alltags und – zunehmend – die Sehnsucht nach Frieden. „Aber sobald die Dämmerung auf die Stadt sinkt,“ schreibt Otto Alscher am 26. September 1917, […] werden stolze Gesichter demütig, gleichgültige sorgenvoll. Und die Augen verraten den Schmerz, den der herb verschlossene Mund verschweigt […] Leid verbindet, sagt man. Leid macht auch die Menschen einander gleich. So kommt es, dass sich abends in den schweigsamen Gassen die Menschen so ähnlich sind wie Geschwister. (S. 33)
Und der mit er. zeichnende Autor erlebt als Zaungast den traditionellen Slava-Tag der Serben. „Es ist etwas Schönes um die Treue, mit der ein Volk auch unter schweren Verhältnissen an seinen Traditionen hängt und sie, aufopfernd, pflegt. Ein solches Volk hat eine Zukunft vor sich…“ Dennoch dürfte die unmittelbare Auswirkung der Belgrader Nachrichten nicht nur bei den Serben gering gewesen sein. Auf eine Friedensordnung ausgerichtet, die von einem Sieg der Mittelmächte ausging, musste jede Vorstellung einer Neuordnung bei den Südslawen verständlicherweise zumindest auf Zurückhaltung stoßen, aber auch bei den deutschen und ungarischen Lesern mag es nur wenig gelungen
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sein, wirklichkeitsnahe Vorstellungen einer neuen Gemeinsamkeit zu vermitteln. Im dritten und vierten Kriegsjahr war der erhoffte schnelle Sieg nur noch Legende und hatte einer beängstigenden Wirklichkeit weichen müssen. Die Redakteure in Belgrad, der Missionierung im Feindesland überdrüssig, wenden sich zunehmend den sehr gewöhnlichen Dingen des Alltags zu. Sie schreiben über die Unterversorgung des Landes, über die Besinnlichkeit des Herbstes und auch über die unübersehbar zunehmende Kriegsmüdigkeit. Unter dem Titel Kunstgemüse spöttelt Alscher unter dem Pseudonym er. in seinem am 22. Juni 1918 erschienenen Beitrag über die Umwandlung des königlichen Gartens in mit Kohl bepflanzte Gemüseterrassen. „Dieser ostelbische Kohl“, lästert er, […] vom künstlerisch gezogenen Buchsbaum umrahmt, das bringt einem, beileibe nicht jedem, erst so recht… sagen wir den Aushungerungsplan zu bewusster, hochbewusster Bewusstheit. Und der rokokoumsäumte Kohl, der in den Rabattenfeldern sitzt wie ein Kriegsmillionär […] wird zum Symbol, zum Sinnbild der Zeit.8
Den im Krieg plötzlich reich Gewordenen werden Invaliden und Flüchtlinge gegenübergestellt. Die Sorge um die Zeit danach geht um. Franz Xaver Kappus veröffentlicht am 15. September 1918 eine Rezension über den Roman Zirkus Mensch von Aage Madelung, in dem das utopische Gespenst eines „Freistaates Mittland“ entworfen wird, „wo der Einzelne aufgehört hat, Individuum zu sein,… wo der Bürger Licht, Wärme, Lebensmittel und geistige Nahrung aus der einen Quelle des gemeinsamen Haushaltes bezieht, wo die Zeitungen vom Staate für den Staat arbeiten… und das Utilitätsprinzip allein regiert.“9 Kappus warnt vor einem in „Tyrannei“ ausartenden Scheinsozialismus und will das Buch nicht in den Bereich des Phantastischen aussondern. Es „entstand […] aus dem Geist unserer Zeit, denn alle ihre Merkmale durchweben seine Seiten“. Am 21. September 1918 ist der Beitrag Abend von N-r. erschienen, in dem wir lesen: „Alles stimmt zur Wehmut, und dir ist, sie quölle gleichsam von der Erde auf… Die Sonne sinkt hinab. Heimgehen. Es ist Zeit. Auch für dich.“ Deutlicher ist der Redakteur Sch. in dem am 25. September 1918 in den Belgrader Nachrichten abgedruckten Artikel Golden schimmernder Herbst… Er schildert einen sonnigen Herbsttag, der „in heißen Düften verblutet […]“. Das stille Reifen der Früchte kann nicht das Leid der Welt verdrängen. Nahe dem Herzen eines großen, einst so blühenden und lachenden Landes blutet eine brennende Wunde, gebiert Eiter und Qual seit Jahr und Tag. Dort rast der Pulsschlag wütender Schlacht, in furchtbarer Vernichtung, alle Flur, Dorf und Stadt zerhämmernd… Ozeane von Vernichtung brüllen gegeneinander, in gewaltigen Wellen zuckender Menschenleiber, glühender Eisenmassen, Gase und fürchterlicher Explosionen prallen sie zusammen,… rottet blindwütig die Arbeit von Jahrhunderten in Stunden aus. Was bleibt? – Ein Feld zuckender Sterbender, verkohlte Trümmer.10
8 9 10
Belgrader Tagebuch, 2006, 281. Ebd., 300. Ebd., 306.
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Postkarte von Otto Alscher an seine Mutter Marie Alscher in Orschowa/Orşova, Banat. Auf der Vorderseite Foto von Otto Alscher. Mit Zensurund Poststempel vom 15.07.1915. Fotosammlung Franz Heinz
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Das Opfer der Soldaten? – „Wer dankt’s ihnen? Morgen sind sie in Atome zerfetzt, ihre Namen wie welkes Laub verweht. – Sie sind jung und stark und hoffnungsfroh hinausgezogen, nun sind sie grässliche Totenfratzen oder Greise des Lebens geworden.“11 Otto Alscher setzt sich im Spätsommer 1918 in seinen Beiträgen mit dem Verhältnis des Menschen zur Natur auseinander, wobei er vor einer die Natur entfremdenden „Überkultur“ warnt. Er begegnet allerdings nicht nur der Ausgewogenheit in sich ruhender Landschaften, sondern stößt überall auf Spuren, die der Krieg hinterlassen hat. „Alle Straßen, die nach Belgrad führen, sind voll von Zeichen des Kampfes […], dem Avala zu, sieht man unzählige Patronenhülsen, zerfahren, zertreten und vom Straßenstaub verkrustet. Als hätte man die Straße einst geschottert damit, so viele sind es.“ Auf seinen Wanderungen stößt er auf der Höhe des Dorfes Kumodraz auf einen schmucklosen Soldatenfriedhof, und unweit davon auf eine eingefriedete Grabstelle mit der Aufschrift: „Hier ruhen zwei unbekannte serbische Kameraden.“ Frische Waldblumen sind aufs Grab gelegt. Als letzten Beitrag veröffentlicht Alscher am 6. Oktober 1918 den Dokumentarbericht Die Sturmtage von Belgrad, in dem er die Eroberung der serbischen Hauptstadt im Spätsommer 1915 beschreibt. Am Vorabend des Zusammenbruchs der Mittelmächte – Österreich-Ungarn nimmt bereits im Oktober die Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten an – bringt Alscher noch einmal den Sieg von 1915 in Erinnerung. Mit Achtung vor dem Gegner. Den dennoch durchschimmernden Patriotismus ihm nachträglich ankreiden zu wollen, wäre nicht angemessen gegenüber einer Generation, für die über Nacht die Welt eine andere geworden war. Das Unvorstellbare, das in Sarajewo den elfjährigen Hans Fronius erschütterte – ereignete sich nun in kontinentalem Ausmaß. Otto Alscher gehörte zu den Verlierern, und es ist bekannt, dass die so genannten guten Verlierer eher selten sind. Dennoch wird den uniformierten Publizisten von damals nicht Uneinsichtigkeit nachzureden sein. „Es ist friedlich“, schreibt Hugo Greinz am 25. August 1918 in den Belgrader Nachrichten, „plötzlich wieder ganz unheroisch. Eine Landschaft wie diese kann nicht auf die Dauer heroisch sein… Das einzig Drohende, das einzig Heroische war nur der Mensch.“ Die letzte Ausgabe der Belgrader Nachrichten ist Sonntag, den 27. Oktober erschienen. Im „Schlusswort“ der Redaktion auf der Titelseite wird auf die Bedeutung der Zeitung hingewiesen, „die über den Rang einer Kriegszeitung weit hinausging“. Der Verfasser des „Schlussworts“ – er zeichnet mit X – spricht von der „Morgenröte einer neuen Zeit“, von der er allerdings nur zu sagen weiß, dass ihr noch vieles im Wege steht. Als zutreffend dürfen wir heute seine Annahme werten, dass spätere Generationen „rückschauend unsere Zeit zu erfassen suchen werden“, und dann „in den Studienräumen und Bibliotheken […] mancher Wissbegierige die vergilbten Folianten der Belgrader Nachrichten auf seinem Pult wälzen und mit wachen Sinnen in ihre Spalten hineinhorchen […]“ wird. Wir tun das mit Gewinn.
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Ebd.
PARALLELEN: BANATER REGIONALLITERATUR UND LITERATUR IM DEUTSCHEN SPRACHRAUM Literarische Beiträge in den Kriegsjahrgängen der Temeswarer Zeitschrift Von der Heide (1914–1918) Walter Engel ALLGEMEINE CHARAKTERISTIK DER MONATSSCHRIFT VON DER HEIDE Nach nahezu anderthalb Jahrhunderten deutschsprachiger Pressegeschichte in der Banater Hauptstadt Temeswar – bereits 1771 waren die Temesvarer Nachrichten erschienen – gründete Viktor Orendi-Hommenau (1870–1954) mit der Zeitschrift Von der Heide (1909–1919, 1922–1927, 1937) die erste Illustrierte Monatsschrift für Kultur und Leben der Banater Deutschen. Sie setzte sich konsequent für die Förderung des deutschen literarischen und kulturellen Lebens im noch ungeteilten Banat ein, machte die Leserschaft mit der Literatur des deutschen Sprachraums bekannt, vor allem mit jener Österreichs, und wies auf bedeutende Autoren der Weltliteratur hin. Von der Heide bezog Autoren anderer deutscher Siedlungsgebiete des südosteuropäischen Raums, genau genommen der Doppelmonarchie, in ihr Programm mit ein: Siebenbürgen, die Bukowina, die Zips. Autoren aus Böhmen und Pressburg gehörten zum Mitarbeiterkreis der Heide. Auch die Kultur und Literatur der anderen Nationalitäten, mit denen die Banater Schwaben in enger Nachbarschaft lebten – die der Rumänen, Ungarn und Serben –, fanden in der Zeitschrift Beachtung. Orendi-Hommenau wollte mit der Heide eigentlich ein belletristisches Blatt herausgeben. Doch schon der Untertitel Monatsschrift für Kultur und Leben deutet auf ein vielseitiges Profil hin. Neben der Veröffentlichung einheimischer deutscher Autoren und der literarischen Bildung seiner Leserschaft, ja auch in Verbindung mit dem dauerhaft prägenden literarischen Schwerpunkt der Heide, verfolgte der Herausgeber ein vielfach begründetes kulturpolitisches Anliegen, das über den gesamten Erscheinungszeitraum eine programmatische Konstante bleiben sollte: die Bewahrung und Pflege der deutschen Sprache und Kultur im südosteuropäischen Raum. Die Zeitschrift wandte sich energisch gegen die Bedrohung der kulturellen Identität der Deutschen im damaligen Ungarn. In diesem Bereich engagierte sich die Heide zuweilen mit äußerster polemischer Heftigkeit. In der Rubrik Vom Deutschtum in Ungarn setzte sie sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg offen und kämpferisch für die Rechte der deutschen Bevölkerung ein: „Auf Wunsch zahlreicher Leser unserer Heide eröffnen wir im Nachstehenden eine Rubrik in diesen Blättern, die sich ausschließlich mit der Not und den Kämpfen des Deutschtums in
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Ungarn beschäftigen wird“.1 Viktor Orendi-Hommenau wollte sich erklärtermaßen aus der Tagespolitik heraus halten, bezog jedoch kompromisslos und draufgängerisch wiederholt Stellung in der Nationalitätenfrage. Dies brachte ihm Presseprozesse, Geld- und Gefängnisstrafen ein. So wurde er 1909 eines Artikels wegen, in dem er die Tüchtigkeit der Deutschen in Ungarn zu sehr gelobt hatte, zu zwei Monaten Gefängnis und 400 Kronen Geldstrafe verurteilt, wie Hellmut Orendi in einer biographischen Skizze (Typoskript, unveröffentlicht) festgehalten hat. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges soll Orendi-Hommenau zu insgesamt zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden sein.2 Über die Auflage der Zeitschrift gibt es keine schriftliche Überlieferung. Hellmut Orendi, der Sohn des Herausgebers, teilte dem Verfasser dieses Beitrags in einem Gespräch 1975 in Bukarest mit, dass es die Zeitschrift nach einer Startauflage von 200 Exemplaren auf 3000 gebracht habe. Belege dafür hatte er nicht. Er erklärte im Gespräch: „Ich bin als Junge oft tagelang mit dem Fiaker durch Temeswar gefahren und habe von den Abonnenten die Bezugsgelder für die Heide kassiert. Nach dem Krieg [Erster Weltkrieg, W. E.] hat die Auflage 1000 Exemplare nicht mehr überschritten.“ Über die Verbreitung der Zeitschrift nach dem Ersten Weltkrieg informiert eine redaktionelle Mitteilung. Genannt werden „Orte, wo die Heide in mehreren Stücken regelmäßig bezogen wird.“3 Es sind 170 Ortschaften, mehrheitlich Banater Städte und Großgemeinden, 23 siebenbürgische Orte und 20 im Ausland. Ins Ausland ging die Zeitschrift u. a. nach Karlsruhe, Stuttgart, Leipzig, Wien, Graz, Linz, Zürich, Pantschowa, Preßburg, Storoshinetz, New York, Philadelphia. In der Zeitschriftenrubrik Briefkasten bestätigte Orendi-Hommenau den Empfang von Bezugsgeldern oder Geldspenden. Darunter im 6. Heft 1916 auch aus Philadelphia, wo um die Anschrift des Absenders gebeten wurde, „[…] da wir in Philadelphia mehrere Leser haben.“ Der Herausgeber versäumte es nicht, die „Presseurteile“ über die Heide nachzudrucken, sodass sich der heutige Leser ein ungefähres Bild über die Wirkung der Zeitschrift machen kann. Im zeitgeschichtlich bedingten Kontext widmete sich die Zeitschrift einer Vielzahl von historischen, volkskundlichen und kulturgeschichtlichen Themen der Banater Schwaben und anderer deutscher Siedlungsgruppen. Mancher dieser Beiträge, vor allem im volkskundlichen und kulturellen Bereich, hat seine ursprüngliche Bedeutsamkeit beibehalten oder durch den großen zeitlichen Abstand von einem Jahrhundert für den heutigen Forscher gar an kulturhistorischem Informationswert gewonnen.4 Die historisch-politischen Wandlungen und Umbrüche im südosteuropäischen Raum im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts mit ihren tiefgreifenden Auswirkungen auf das gesellschaftlich-kulturelle Leben der Banater Deutschen haben der Temeswarer Monatsschrift Von der Heide (1909–1927) ihren Stempel aufgedrückt. 1 2 3 4
Von der Heide (VdH) 12 (1912), 22. StĂnescu, Heinz: Marksteine. Temeswar 1974, 113–115. VdH 8–9 (1924), 16. Vgl. Von der Heide. Anthologie einer Zeitschrift. Hg. v. Walter Engel. Bukarest 1978. In diesem Zusammenhang die einführende Studie S. 11–71.
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So lassen sich im Erscheinungszeitraum der Heide drei größere Phasen mit unterschiedlichen inhaltlichen und kulturpolitischen Schwerpunkten abgrenzen, wobei der Erste Weltkrieg mit seinen Folgen eine entscheidende Rolle spielte: I. 1909–1914: Die erste Phase war vom konsequenten Kampf gegen die von der Budapester Regierung forcierte Assimilation der Banater Schwaben gekennzeichnet, was sich selbstverständlich nicht nur in der Rubrik Vom Deutschtum in Ungarn spiegelte, sondern auch in der Thematik und Tendenz zahlreicher literarischer und publizistischer Beiträge. In Gedichten und Prosatexten wird vor allem die Muttersprache gepriesen und zu ihrer Erhaltung aufgerufen. Orendi-Hommenau will mit seiner Zeitschrift zur Einheit der „Karpatendeutschen“ beitragen. II. 1914–1919: In den Kriegsjahrgängen, auf die ich noch ausführlicher eingehen werde, trat die Nationalitätenfrage in den Hintergrund. Die in Deutschland und Österreich plötzlich aufflammende Kriegsbegeisterung und patriotisch-nationale Überhitzung fand sofort Eingang in die Spalten der Zeitschrift Von der Heide und dominierte thematisch sowie weltanschaulich die darin veröffentlichte Literatur und die publizistischen Beiträge. Erst im zweiten und dritten Kriegsjahr erfolgte eine allmähliche Ernüchterung und Hinwendung zu einer realistischen Darstellung des alles zerstörenden Krieges und des traumatisierenden Kriegserlebnisses. III. 1922–1927: Nach einer nicht angekündigten dreijährigen Unterbrechung brachte Orendi-Hommenau 1922 die Zeitschrift erneut heraus, unter grundlegend veränderten machtpolitischen Voraussetzungen: Ein großer Teil des Banats gehörte nun zu Rumänien. Eine historisch gewachsene Landschaft war zergliedert worden, sodass auch Viktor Orendi-Hommenaus Traum von der Gemeinschaft der „Karpatendeutschen“ ausgeträumt war. Der Begriff „Donauschwaben“ war noch nicht in Umlauf. Aus dem tagespolitischen Kampf gelobte der Heide-Herausgeber wieder einmal sich herauszuhalten. In der letzten Erscheinungsphase der Monatsschrift, nach der Angliederung an Rumänien, ist eine intensivere Vermittlung rumänischer Literatur und Kultur erkennbar, der sich der Herausgeber allerdings schon in der Vorkriegszeit angenommen hatte. TENDENZ ZUR HEIMATDICHTUNG. DISTANZ ZUR MODERNE Von den ursprünglichen literarischen und kulturellen Zielsetzungen wich OrendiHommenau indessen nicht ab. Belletristik war und blieb der dominante Bereich in der Zeitschrift. Die Literaturauffassung des Heide-Herausgebers wurde ganz deutlich von der in Deutschland und Österreich weit verbreiteten und populären Heimatdichtung geprägt. Man denke beispielsweise an Ludwig Ganghofer und Peter Rosegger, doch
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auch an namhafte Lyriker der Zeit wie Detlev von Liliencron oder Richard Dehmel, die bis heute literarischen Rang verdienen. Diese Dichtung kam wohl dem Großteil der Heide-Leserschaft entgegen. Die Heimatdichtung pflegte den Kult des Bodenständigen, die Verbindung der Dichtung mit der „Heimatscholle“, idealisierte lehrhaft Bauerntum und Dorfleben, wich unbequemen Fragen und aller Kritik aus.5 Eine Parallele zu diesem Phänomen im „binnendeutschen“ Literaturgeschehen lässt sich in der Heide-Literatur vor dem Ersten Weltkrieg feststellen. Darauf beschränkt sich allerdings die literarische Simultaneität der Peripherie mit dem Zentrum. Auch die aus deutschen Siedlungsgebieten außerhalb des Banats in der Heide publizierten Texte tendieren zur Heimatdichtung, „[…] die selbst da, wo sie sich nicht konservativ bodenständig gibt, wo sie vielmehr so frische und ironische Werke hervorbringt wie bei Ludwig Thoma, kein selbstständiger Beitrag zur Moderne ist, sondern ältere Traditionen fortsetzt.“6 Von anderen gleichzeitigen Entwicklungslinien der Literatur, dem Expressionismus etwa, sind kaum Einflüsse spürbar. Hin und wieder polemisiert die Heide gegen erneuernde literarische Richtungen der Zeit, retrospektiv auch gegen den Naturalismus: Wie ferne liegen uns die Zeiten, da der Naturalismus in der Kunst siegte! Erst heute kommt man so recht zum Bewusstsein, wie unlyrisch, undramatisch, endlich wie unkünstlerisch er gewesen. Dass er zur Dichtung eines historischen Stoffes nicht ausreicht, war das persönlichkeitstragische Erlebnis Gerhart Hauptmanns, dass die Lyrik, die erstarkte, ohne Wirkung und Folge blieb, konnte auch die Revolution der Lyrik, verkündet von Arno Holz, nicht ändern.7
Dies ist ganz im Sinne von Friedrich Lienhard (1865–1929), dem Wortführer der deutschen Heimatkunstbewegung und Herausgeber der Zeitschrift Deutsche Heimat, aus dessen Schriften die Heide den Aufsatz Deutsche Größe publiziert hat.8 Bezeichnend für Orendi-Hommenaus ablehnende Haltung der literarischen Moderne gegenüber ist folgender Kommentar: Es ist eine wunderliche Sache um die Poesie. Da werden dutzendweise Gedichtbücher und Liedersammlungen zu allen Preisen und für alle Gemütsstimmungen berechnet, angekündigt, nimmt man jedoch ein Buch zur Hand, so findet man allerlei halsbrecherische Redewendungen darin, ellenlange Wortbildungen von ungewöhnlichem Kaliber, Punkte, Gedankenstriche und Ausrufezeichen, recht viele Ohs und Ahs und einigemale auch die Worte ‚Dust‘ und ‚Glast‘ oder ähnlich klingende Ausdrücke, deren sich ein sogenannter Moderner bedienen muss, um den Olymp zu erklimmen …9
Namen von Expressionisten kommen gelegentlich in Aufsätzen über die aktuelle deutsche Literatur vor. So werden beispielsweise Karl Otten und Walter Hasenclever, zwei Expressionisten von Format, im Beitrag Lyrische Gesänge von Josef 5 6 7 8 9
Vgl. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 1969, 5. Auflage, 316–317.; Altvater, Friedrich: Wesen und Form der deutschen Dorfgeschichte im 19. Jahrhundert. Berlin 1930, 14. Handbuch der deutschen Erzählung. Hg. v. Karl Konrad Polheim. Düsseldorf 1981, 384. Fritsch, Alfred (Graz): Über den Dichter Alfons Petzold. In: VdH 5 (1915), 11. VdH 10 (1916), 217–218. Alfred von Wurmb. Ein deutschösterreichischer Dichter. In: VdH 4 (1912), 13.
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Ratislav (Wien) genannt. Von Hasenclever wird darin das tiefempfundene Gedicht Du veröffentlicht.10 Das kulturelle Selbstverständnis und damit die literarische Erwartungshaltung bei den Banater Schwaben, bei ihren Landsleuten in der Batschka oder in der Schwäbischen Türkei waren aus anderen Quellen gespeist. Als spezifisch für die einheimische Literatur in der Heide kann die Einwanderer- und AnsiedlungsThematik gelten, die ihren Niederschlag neben historischen Reminiszenzen in der emotionalen Bindung an die schwer erworbene Heimat findet, in der bäuerlichen Lebenswelt, und auch in der Bewahrung der eigenen Sprache und des Brauchtums. Hinzu kommen als thematische Aspekte die Puszta-Romantik und das Zigeunerdasein. Von den Autoren der Zeitschrift seien hier nur einige genannt, die hier häufiger publiziert haben und/oder relevant sind für die banatdeutsche Regionalliteratur. Lyrik: Else Alscher, Josef Gabriel d. Ä., Peter Gänger (Neubeschenowa), Josef Gabriel d. J., Marie Eugenie delle Grazie (1864–1931, geb. in Weißkirchen im Banat, Dramatikerin, Romanautorin), Stephan von Hartenstein (Setschan, serb. Banat), Peter Jung, Franz Xaver Kappus, Bruno Kremling (Ungarisch-Weißkirchen), Stephan Milow (geb. in Orschowa), Arpad Mühle (auch Linné, Temeswar), Viktor Orendi-Hommenau, Nikolaus Schmidt, Jörg von der Schwalm; Prosa: Otto und Else Alscher, Peter Gänger, Stephan von Hartenstein, Franz Xaver Kappus, Adam Müller-Guttenbrunn, Viktor Orendi-Hommenau, Jörg von der Schwalm. VORBOTEN DES ERSTEN WELTKRIEGS Abgesehen vom sich verschärfenden Nationalitätenkonflikt in Ungarn sowie von der Mühsal des Lebens und dem unglücklichen Schicksal empfindsamer Seelen vermittelte die Heide-Literatur vorwiegend ein harmonisches Lebensgefühl und sprach einer natürlich-idyllischen Lebensweise das Wort. Dies sollte sich mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs blitzartig ändern. Vorboten der Weltkatastrophe zeigten sich allerdings in der Heide, wenn auch selten, schon einige Jahre vor Kriegsbeginn. Als die pazifistische Bewegung sich am Anfang des 20. Jahrhunderts in ganz Europa Gehör verschaffte, veröffentlichte die Heide einen heute noch lesenswerten Aufsatz von Bertha von Suttner (1843– 1914): Zur Friedensbewegung. Für die Monatsschrift Von der Heide geschrieben, mit dem Vermerk „Wien, Ende November 1910“.11 Die österreichische Friedensnobelpreisträgerin, ihr Buch Die Waffen nieder fällt einem unwillkürlich ein, schätzt die Wirkung der pazifistischen Bewegung, für deren Ziele sie sich leidenschaftlich einsetzt, durchaus realistisch ein: Auf Verleugnung der Friedensmöglichkeit, auf Geringschätzung des Lebens, auf Zwang zum Töten ist bisher die ganze militärisch organisierte Gesellschaftsordnung aufgebaut […] Sehen wir uns doch ein wenig in der Welt um, ob die Ereignisse und Aspekte wirklich dazu berechtigen, von dem positiven Ergebnisse des Pazifismus und von seiner fortschreitenden Entwicklung zu reden. Kaum überstandene Kriegsgefahr, Misstrauen, Drohungen, Säbelgeras10 11
VdH 1 (1911), 9. VdH 1 (1911), hier 5–6.
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Walter Engel sel, Pressehetzen, fieberhaftes Flottenbauen und Rüsten überall; in England, Deutschland und Frankreich erscheinen Romane, in welchen der Zukunftsüberfall des Nachbars als etwas ganz selbstverständlich Bevorstehendes geschildert wird mit der Absicht, dadurch zu noch heftigerem Rüsten anzuspornen.12
Bertha von Suttner kommt zum einleuchtenden, geradezu prophetischen Schluss: „Denn ebenso unausdenkbar wie die glücklichen, segensreichen Folgen des Weltfriedens, ebenso unausdenkbar furchtbar wären die Folgen des noch immer drohenden, von manchen Verblendeten herbeigewünschten Weltkriegs.“13 Einzelne Heide-Artikel wiesen Anfang 1914 voraus auf den nahenden Kriegsausbruch. Emil Fischer (Bukarest) schrieb in seinem pangermanisch eingefärbten Artikel Slaven und Germanen von der „großen Abrechnung“, die kommen werde, von den „Einflusssphären“ der Großmächte.14 Krieg oder Frieden war die große Frage der Zeit, an der die Heide nicht vorbeigehen konnte. Eine eindeutige Haltung in dieser Auseinandersetzung hatte sie aber vor Kriegsbeginn nicht. Gleichwohl zeigte sich im publizistischen Teil der Zeitschrift ein Unbehagen an den Zeitverhältnissen, der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung, ohne dass Krieg oder Revolution gefordert wurde, wie dies unter anderen Vorzeichen und mit anderen Zielsetzungen von der literarischen Moderne im wilhelminischen Deutschland geschah. Im Absagebrief an die Philister, einem der schärfsten zeitkritischen Aufsätze Viktor Orendi-Hommenaus, geht er mit der spießbürgerlichen Denkweise und materiellen Lebenseinstellung seiner Zeitgenossen in den Vorkriegsjahren hart ins Gericht: Aber Gott segne Euch […] Ihr habt Weise und Denker geschaffen, die sich mit Grausen aus Eurem Bettlerschmutz erhoben und sich dem Licht der Reinheit zugewandt haben. Ihr habt den Kot und die Verknöcherung zur Wiege der Freiheit gestaltet und ein jeder kriechende Wurm Eures verpesteten Sumpfes ist noch zum Bannerträger eines Morgenrots geworden! Und doch, ich hasse Euch! Ihr habt aus der Welt das Heiligtum der Liebe verbannt und einen Geldschrank an seine Stelle gesetzt, Ihr habt das leibliche Wohlergehen dem allumfassenden Mitleid und der Menschenliebe vorgezogen, und Ihr stellt eine prächtige Speise hoch über das Luft- und Schaumgebilde der Begeisterung und des Erbarmens […] Ihr habt recht, Ihr seid Biedermänner, Ihr edlen Krämer […]15
Damit scheint der Heide-Herausgeber den Nerv des Zeitgeistes getroffen zu haben. Sein Artikel wurde, nach Angaben der Zeitschrift, in zweiundzwanzig deutschen Blättern nachgedruckt. Ein sprachkritischer Vergleich mit expressionistischen Manifesten dürfte lohnend sein. Parallelen zu den Schlagworten vieler Vertreter der literarischen Moderne im Vorkriegsdeutschland sind offenkundig. In ihrer Studie zum Thema Die Dichter und der Krieg16 weisen Thomas Anz und Joseph Vogl auf die „Kritik der Vorkriegswelt“ bei deutschen Autoren hin, auf „das gemeinsame Unbehagen in der Friedensluft 12 13 14 15 16
Ebd., 5. Ebd., 6. VdH 3 (1914), hier 14. VdH 8 (1911), hier 17. Anz, Thomas/Vogl, Joseph: Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914–1918. München 1982.
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(Max Scheler)“, das sie „auf einige charakteristische Begriffe brachten: Nützlichkeits-Weltanschauung (Lienhard), Schein-, Schwatz- und Luxuswesen (Gundolf), liberal-individualistische Bummelei und Komfort (Thomas Mann), Erwerbs- und Genussgier (Scheler).“17 „Der Hass auf die Kultur und Gesellschaft des Kaiserreichs mündete in den Hass auf den mit ihr verbundenen Frieden“, so Anz und Vogl, die „von den psychohistorischen Voraussetzungen der allgemeinen Kriegsbegeisterung“18 sprechen und aus dem Tagebuch von Georg Heym (1910) zitieren: Dieser Friede ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte, Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllten denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollen.19
LITERARISCHE UND PUBLIZISTISCHE TEXTE IN DEN KRIEGSJAHRGÄNGEN DER HEIDE So weit ging die Kritik an den Zuständen in der Doppelmonarchie nicht, zumindest nicht an deren Peripherie. Von der Heide propagierte eher Kaisertreue, natürlich zu den Habsburgern, und stimmte 1914 aus dieser Haltung in die Kriegsbegeisterung mit ein, wobei sie unter dem Schirm ihres Enthusiasmus das deutsche Kaiserreich miteinbezog. Es galt im Schutz des „Burgfriedens“, den der deutsche Kaiser in seinem Sinne proklamiert hatte – „Ich kenne nur noch Deutsche“ – , die ethnischen Konflikte im damaligen Ungarn ruhen zu lassen, oder gar die überhitzte nationale deutsche Aufbruchstimmung für die originären Zielsetzungen der Zeitschrift zu nutzen. Jedenfalls marschierte die Temeswarer Monatsschrift mit ihren literarischen und publizistischen Beiträgen im Gleichschritt mit den Publikationen in Deutschland und Österreich, ihre Autoren befanden sich dabei in bester Gesellschaft, nämlich mit herausragenden Dichterpersönlichkeiten des deutschen Sprachraums: Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Richard Dehmel, Friedrich Gundolf, Ernst Toller, Stefan George, Alfred Döblin u. v. a. Zunächst beherrschten allerdings Nachdrucke aus deutschen und österreichischen Publikationen die literarischen Spalten der Heide. Die Autoren am südöstlichen Rand der Monarchie waren offensichtlich vom Feuerschein des „Großen Krieges“ doch überrascht worden. Sie hielten sich – bis auf wenige Ausnahmen, darunter der Heide-Herausgeber – mit kriegerischen Sympathie-Bekundungen auffallend zurück. Mit der Juli-Ausgabe 1914 kündigt sich in der Heide die Kriegsliteratur an. Auf der ersten Seite erscheint das großformatige Foto von Erzherzog Franz Ferdinand und Sophie von Hohenberg mit Trauerrand. Eröffnet wird der Textteil mit
17 18 19
Ebd., 229. Anz/Vogl, Die Dichter und der Krieg., 228. Ebd.
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Orendi-Hommenaus Gedicht Franz Ferdinand20 anlässlich des Attentats von Sarajevo, mit der Eingangsstrophe: Wer ahnt die bange Kunde? Ihr Schein ist blutig rot. Es fliegt von Mund zu Munde: Franz Ferdinand ist tot!
Und in Vorahnung des Krieges, vielleicht noch nicht des Zusammenbruchs der Donaumonarchie: Die Krone sollt ihn schmücken. Nun liegt er starr und bleich. Zerbrochen ist in Stücken Sein stolzes Kaiserreich.
Im Nachrichtenteil erscheint ein Kurzbericht über den Hergang des Attentats und der Hinweis auf die Foto-Quelle mit einem Nadelstich gegen Ungarn: „Ein Bild, das in Ungarn kaum bekannt sein dürfte und das wir aus Kreisen, die dem Hof nahe stehen, erhalten haben.“21 In der folgenden Ausgabe, der ersten eigentlichen Kriegsnummer der Heide: Bismarck-Foto auf Seite eins, Abb. Eisernes Kreuz, Kriegsgedichte, Eröffnung der ab nun ständigen Rubrik Unser Kriegskalender. Mit dem Artikel Deutsche Art. Und was wir daraus lernen sollen22 schließt sich OrendiHommenau dem Geist der Zeit in deutschen Landen an und greift die aufgeheizte nationale Stimmung auf: Wir leben historische Zeiten und wahrhaft große Tage. Vor unseren Augen spielt sich das gewaltigste Völkerringen ab, das die Weltgeschichte kennt, und unsere Enkel werden dereinst von unseren Kämpfen und Siegen mit ehrfürchtigem Schauer berichten. Millionenheere und gigantische Massen von Streitern stehen einander gegenüber und fordern das Schicksal zur blutigen Entscheidung auf. Eisen und Schwert, Kanonendonner und Geschützfeuer haben das Wort, und über Tausenden von Leichen und verstümmelten Kriegern, durch Pulverdampf und Schlachtgebrüll hindurch, ringt sich der Weg zur Freiheit. Wie ein Fels im Meere steht in diesem gewaltigen Völkerringen, ehern und überragend, das deutsche Volk da, das mächtige Deutsche Reich, mit Kaiser Wilhelm an der Spitze, das trotz Tod und Feind, die es von allen Seiten bedrohen […],von Ruhm zu Ruhm dahin eilt.23
Der Heide-Herausgeber steigert seine Tendenz-Schrift bis zu Geibels stolzem Wort: Es soll an deutschem Wesen Dereinst die Welt genesen.
Als Fazit verknüpft Orendi-Hommenau die Zeitereignisse mit dem nationalitätenpolitischen Programm seiner Zeitschrift: Für uns Deutsche in den Karpatenländern […], die wir von gleichem Stamme und von gleicher Art sind, ergibt sich mit zwingender Naturnotwendigkeit die Forderung, dass wir mehr denn jemals ein Recht darauf haben, unser deutsches Volkstum in seiner schönen Reinheit
20 21 22 23
VdH 7 (1914), 2. Ebd., 25. VdH 8–9 (1914), 17–18. Ebd., 17. Hervorhebungen von Orendi-Hommenau.
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zu bewahren und es unseren Kindern und Kindeskindern als schönstes und heiligstes Erbe zu überliefern.24
Es ist die Sprache der Zeit. Überhöhtes Nationalempfinden, geradezu rauschhafte Opferbereitschaft ergreifen auch die deutschen Dichter der Moderne: „Die Worte Deutschland, Vaterland, Krieg haben magische Kraft. Wenn wir sie aussprechen, verflüchtigen sie sich nicht, sie schweben in der Luft, kreisen um sich selbst, zünden sich in uns.“25 So Ernst Toller, einer der namhaften Expressionisten. Er hatte sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet, wie zahlreiche Dichter und Künstler seiner Generation. Selbst Ältere hielt es nicht mehr zu Hause, wie etwa Richard Dehmel, der 51-jährig freiwillig in den Krieg zog, ebenso der bis heute geschätzte Autor von Tiergeschichten Hermann Löns, der mit achtundvierzig an die Front ging und wenige Wochen später fiel. Eine längere Aufzählung ersparen wir uns hier. Die meist nach 1880 geborenen Heide-Autoren – aus dem Banat, der Batschka, der Schwäbischen Türkei oder aus anderen Siedlungsgebieten der Monarchie – verhielten sich nicht anders. Franz Xaver Kappus (Temeswar 1883–1966 Westberlin), Otto Alscher (Perlaß an der Theiß 1880–1944 Târgu Jiu), Stephan von Hartenstein (Setschan im serbischen Banat 1891-?), Bruno Kremling (Deutsch-Weißkirchen 1889–1962 Heidelberg), Peter Gänger (Neubeschenowa 1885–1976 Wien), Heinrich Kipper (Czernowitz 1875–1959 Hollabrunn/Österreich) u. a. waren unterschiedlich in das Kriegsgeschehen involviert, einige von ihnen wurden schwer verwundet. Den in der Heide bereits vor dem Krieg präsenten Dichtern und Schriftstellern brauchte Orendi-Hommenau also keine national-ideologischen Vorgaben zu machen. Sie waren als Offiziere oder Freiwillige dabei. Sein nationales Bekenntnis und die damit verknüpften Erwartungen sind, aus meiner Sicht, jenseits der Kriegseuphorie als Befreiungsschlag vom Magyarisierungsdruck der Vorkriegsjahre zu deuten und aus den Zeitverhältnissen zu verstehen. ENTHUSIASTISCHE KRIEGSHYMNEN UND VERZWEIFELTE KLAGELIEDER Die Lyrik war in der Temeswarer Zeitschrift, genau wie im deutschen Sprachraum, zunächst dominant in der Spiegelung der Kriegsatmosphäre und des Frontgeschehens sowie dessen tragischen Auswirkungen auf die Menschen, auf den Einzelnen, die Familien und die Gemeinschaft. Geschichten und Erzählungen folgten später. Für die Kriegslyrik der Heide, ihre Themen und Motive, ihre formalen und sprachlichen Charakteristika, nicht zuletzt für die sich wandelnde Grundhaltung zum Kriegsgeschehen scheinen mir die Gedichte Orendi-Hommenaus exemplarisch zu sein. Er publizierte kontinuierlich im Stil der aus der deutschen und österreichischen Presse übernommenen Lyrik. Im Grunde war es die Fortsetzung der Heimatdichtung aus aktuellem Anlass und mit anderen Mitteln, die nun auch von 24 Ebd., 18. Hervorhebungen von Orendi-Hommenau. 25 Toller, Ernst: Eine Jugend in Deutschland (1933). In: Gesammelte Werke. Hg. v. Wolfgang Frühwald/ J. M. Spalek, Bd. 4. München-Wien 1978, 53.
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den Vorkriegs-Autoren der Heide aus dem deutschen Sprachraum, den Zeitereignissen entsprechend, gepflegt wurde. Kampfbereitschaft und Siegesgewissheit, Ehre, Heldentum und Heldentod, Lobpreisung des Kaisertums und Verachtung der Feinde, nationaler Aufbruch in große Zeiten: Das sind beherrschende thematische Schwerpunkte der Heide-Lyrik in den ersten beiden Kriegsjahren. Sie werden bis Kriegsende mit unterschiedlicher Färbung und Intensität präsent sein. Die eigentliche Heimatdichtung verschwindet zunächst fast gänzlich, gewinnt jedoch ab 1916 wieder zunehmend an Terrain, in dem Maße, in dem die Siegesgewissheit schwindet und die verheerenden, zerstörerischen Folgen des Kriegsgeschehens schmerzhaft ins Bewusstsein treten. Ästhetische Erneuerung, intensivere sprachliche Bildkraft, mit einem Wort eine innovative poetische Gestaltungsform und Substanz geht dieser Lyrik weitgehend ab. Sie greift eher zurück auf epigonale Gedichtformen und auf traditionelle lyrische Sprachmittel. Anzutreffen sind das einfache Lied und die Ballade, doch auch Ode und Elegie, zuweilen das Sonett, selten freie Rhythmen. Man kann von appellativer Lyrik sprechen, die aufrütteln und überzeugen will, aus heutiger Sicht würde man instrumentalisieren oder gar manipulieren sagen. Ob dies zuträfe, muss offen bleiben. Jedenfalls bedient sich die Kriegslyrik überwiegend der volkstümlichen Formen, die sich rhythmisch und vom Reim her an das schlichte Volkslied anlehnen, das von der Romantik, über die Dichtung der Befreiungskriege und den Vormärz, bis hin zum poetischen Realismus und zur Neuromantik als Grundmuster dominierte. Überhaupt kam dem Liedhaften eine Sonderstellung zu, dem Kriegslied, Reiterlied oder Marschlied. Das ging so weit, dass Orendi-Hommenau auch die Musiknoten zu einigen spontan für die Heide vertonten Gedichten publizierte. Zwei Kriegslieder26 von Orendi-Hommenau eröffnen den Reigen dieses Genres: I. „Der Sieg ist unser“ und II. „Es reitet ´gen Osten“. Siegesgewissheit scheint erste Dichterpflicht zu sein. Denn, so heißt es im ersten Gedicht, das „deutsche Volk“ werde bedrängt von „Horden“ und „Räubern“, doch siegen werde der „germanische Recke“. Eine Strophe als Beispiel: Wie donnernde Wogen Kommt Deutschland gezogen Und bringt die Feinde zur Strecke, Hoch aufrecht steht der germanische Recke: Der Sieg ist unser! (Unterstreichungen stets aus der „Heide“ übernommen. W. E.)
Neben der Überbetonung des Nationalen und Heldischen vermittelt das zweite Gedicht bei Kriegsbeginn eher verdrängte Phänomene – Trennungsschmerz und Tod: Es rannen die Tränen, die Stunde verlief, Weit draußen im Felde der Bräutigam schlief. Es kreisten die Raben wohl um sein Gebein Ach Mägdlein, ach Mägdlein, wie bist Du allein! (8. September 1914)
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VdH 8–9 (1914), 5.
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Im selben Heft bringt Orendi-Hommenau auch Gedichte von Mitarbeitern aus dem deutschen Sprachraum, eingestreut zwischen Prosa-Beiträge. Von Ludwig Finckh (Gaienhofen, Bodensee) Wie herrlich27, mit für uns heute unbegreiflichen Tönen: ein Loblied auf das Blutvergießen; von Max Bewer (Dresden) Blutschuld28, eine Gegenüberstellung der bösen, „blutigen“ Feinde Deutschlands mit dem deutschen Kaiser, der „von Blut so rein“; und schließlich von Grete von Urbanitzky (österreichische Erzählerin, Übersetzerin und Journalistin, 1893–1974) ein Gedicht, das dem „sieggewohnten deutschen Geist“29 gewidmet ist. Einen ersten pathetischen, nicht künstlerischen Höhepunkt erreicht Viktor Oren di-Hommenau mit seinem Text Michel hau´drein!30 Siegeshoffnung strahlt das hymnische Kriegsgedicht Wir Zurückgebliebenen des jungen siebenbürgischen Dichters Heinrich Zillich aus. Die letzten Verse des dreistrophigen Textes: Wir hoffen in die hallende Welt! Es funkeln so deutlich die Sterne. Wir hören, dass hell unser Schlachtruf gellt! Wir sichten: – in der Ferne: Blühenden Sieg!!31
Patriotischen Inhalts ist desgleichen die Gedichtfolge Kriegslieder (zwölf Gedichte) der von Orendi-Hommenau geschätzten siebenbürgisch-deutschen Autorin Regine Ziegler. Eines der Gedichte ist „Einem gefallenen sächsischen Kriegsfreiwilligen“32 gewidmet. Überraschend erscheint im Kontext der frühen Kriegslyrik ein Mundartgedicht von Jörg von der Schwalm (Georg Schwalm, Pantschowa, 1848–1921) mit dem Titel Früher Tod33, das verhalten die Tapferkeit der „Reiter“ besingt, aber mit dem Refrain „Um ze sterwe, ze sterwe“ [„Um zu sterben, zu sterben“] von der ersten Strophe an das Leid benennt, das der grausame Krieg über die Jugend bringt. Ein Gedicht, das so gar nicht in die Anfangseuphorie der kriegsbegeisterten Presse passen will. Offenkundig war die Skepsis gegenüber dem Kriegsgeschehen zu der Zeit eher in der Mundart vermittelbar als im Hochdeutschen. Die erste Strophe sei zitiert: Es reide die Reider in Reih un Glied, Die ganze Schwadron de Säwel zieht. Die Säwel blitze im Marjerotschein, Die Reider die reide iwer Stock un Stein Um ze sterwe, um ze sterwe.
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Ebd., 6. Ebd., 8. Ebd., 10. VdH 1 (1915), 1. VdH 9 (1915), 205. VdH 10 (1915), 229. VdH 8–9 (1914), 18.
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Eine formale Analyse oder Interpretation erübrigt sich, wie bei der Mehrzahl der Kriegsgedichte in der Heide. So sprechen die Titel mehrerer, auf einer Zeitschriftenseite gruppierten Gedichte34 für sich: Mein Kriegsfreiwilliger (anonym); Ich reite ins Feld zu den Jungen (Heinrich Eggerslüß), Drei Kriegslieder: Sieg, Kampfruf, Das Wort Ehre (von Linné [d. i. Arpad Mühle], Temeswar). Von den großen deutschen Autoren der Zeit ist u. a. Gerhart Hauptmann mit zwei Gedichten in der Heide vertreten. Der schlesische Dichter hatte bekanntlich 1912 den Nobelpreis erhalten und gehörte mit Thomas Mann zu den Wortführern der deutschen Intelligenz, bis zum Ende der Weimarer Republik. Sein Reiterlied35 erscheint mit Illustration auf der ersten Seite der Zeitschrift. Ein zweites Gedicht von Gerhart Hauptmann in der Heide: Komm, wir wollen sterben gehn.36 Das Reiterlied dürfte sich großer Popularität erfreut haben. Orendi-Hommenau hat es dem „Boten aus dem Riesengebirge“ (Schlesien!) entnommen. In der ausgezeichneten Anthologie Die Dichter und der Krieg37 wird vermerkt, dass das Gedicht zuerst am 9. August 1914 im Berliner Tageblatt erschienen ist. Zugeeignet war es „Fritz von Unruh, dem Dichter und Ulanen“, der 1914 als Kriegsfreiwilliger ebenfalls ein kämpferisches Reiterlied geschrieben hatte. Hauptmanns Reiterlied ist nicht zu den Perlen deutscher Dichtung zu zählen. Es dürfte jedoch eine Art Vorbildfunktion für die Kriegsdichtung erfüllt haben, denn die kämpferische Stimmung, eine Reihe pathetisch überhöhter Begriffe, die Gegenüberstellung Deutschlands und seiner Feinde, all dies finden wir in einer Unzahl von Gedichten der beiden ersten Kriegs-Jahrgänge der Heide, wenn auch zumeist in flachen Variationen. Eigenständigkeit und dichterischer Rang ist jedoch dem Reiterlied von Rudolf Alexander Schröder38 zuzugestehen. Die Daheimgebliebenen werden in die psychologische Kriegführung mehrfach einbezogen. Beispiel: Es wäre ja alles nicht so schwer, Wenn nur die brennende Scham nicht wär´ Sie gehen für dich in die Kugeln hinein, Du liest es abends beim Kerzenschein.39
Immer deutlicher findet die brutale Realität des Frontgeschehens ihren dichterischen Niederschlag. Schwermut, Heimweh und Totenklage bestimmen die Gefühlswelt der Soldaten, die zur Feder greifen und zumeist in einfachen Versen über ihr Fronterlebnis schreiben, jedenfalls authentischer als mancher selbst ernannter Dichter aus dem Hinterland. Man könnte von einer Frontlyrik als Variante der Kriegslyrik sprechen. Wir werden dem Phänomen auch in der Prosa begegnen.
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VdH 10 (1914), 9. VdH 11–12 (1914), 1. VdH 5 (1915), 119. Anz/Vogl, Dichter und Krieg, 28–29. VdH 9 (1915), 205; ebenfalls: Anz/Vogl, Dichter und Krieg, 36. Die aus den Hamburger Nachrichten übernommenen Verse von Andreas Frahm erscheinen in VdH 11–12 (1914), 4.
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Von dem Gefreiten Paul Ernst Köhler, gefallen im Oktober 1914 in Nordfrankreich, brachte die Heide mehrere Gedichte, darunter Auf dem Marsch.40 Zitat erste Strophe: Der Eichwald rauscht uns einen Marschgesang: Es schmettert drin von Sieg und Wiederkehr. Nur manchmal summt’s von Totenglockenklang, und der es fühlt, dem wird die Seele schwer.
Ein schwermütiges, volkstümliches Soldatenlied41, in dem nichts von Kriegsbegeisterung zu verspüren ist, aus dem nur Trauer und Leid spricht, druckt die Heide aus dem Schwäbischen Merkur nach. Ein württembergischer Oberleutnant hat das Lied „im Felde erlauscht“ und aufgeschrieben. Die Heide-Redaktion teilt mit, dass dieses Lied „auch in unseren südungarischen Schwaben-Gemeinden gesungen wird und auch in Temeswar bekannt“ sei. Frontgedichte erschienen in der Heide auch in Mundart, so vom Czernowitzer Heinrich Kipper, der schwer verwundet wurde und ein Bein verlor. Er war neben Josef Gabriel und Georg Schwalm einer der bedeutendsten Mundartdichter in Oren di-Hommenaus Zeitschrift. Im Gedicht Mei zwei Stern42 thematisiert Kipper den ewigen Traum des Soldaten von Daheim. Immer häufiger erscheinen Erinnerungsgedichte an Gefallene, gleichsam lyrische Nachrufe. Kritik am massenhaften Dichten über den Krieg, an der Heuchelei und an der Phrasenhaftigkeit stellt sich ein, so im Gedicht Der Überallesschreiber. (Zeichen der Zeit)43 von Franz Keim (Brunn bei Wien): Jetzt kommt Weltkrieg – höchst gefährlich! Und da sagt ihm sein Verstand, Großer Lump, jetzt zeig dich herrlich, Schreib‘ für Gott und Vaterland!
Eine allmähliche Abkehr von der Kriegsthematik macht sich Ende 1916/Anfang 1917 bemerkbar. Landschaft und Liebe, Heimat und Lebensphilosophisches melden sich zurück als unerschöpfliche lyrische Themen. Der Frieden wird herbeigesehnt. Späte Einsicht bei Viktor Orendi-Hommenau in Friedensbitte44: Mütter weinen, Frauen beten, Väter zucken jäh empor. Und, von rauhem Fuß zertreten, Welkt der Schönheit Blumenflor. Vorwärtsstürmen, plündern, morden, Heißt der böse Klang der Zeit, und in tausend Blutakkorden Tobt der schwere Völkerstreit… Lieber Herrgott, mach ein Ende, Lass den Krieg vorübergehn, 40 41 42 43 44
VdH 11–12 (1914), 24. VdH 1 (1915), 24. VdH 3 (1915), 68. VdH 6 (1915), hier 144. VdH 10 (1916), hier 215.
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Walter Engel Ach, wann naht die Schicksalswende, Die den Frieden lässt erstehn.
Neben den aus heutiger Sicht nicht unumstrittenen Texten von Gerhart Hauptmann und Rudolf Alexander Schröder haben Gedichte von Richard Dehmel, Hermann Hesse und Ina Seidel einigen Heide-Ausgaben der Kriegsjahre einen gewissen Glanz verliehen. Die Mehrheit der einheimischen Lyriker kam über das Mittelmaß der massenhaften Kriegsdichtung allerdings nicht hinaus. KRIEGSERZÄHLUNGEN VON OTTO ALSCHER UND FRANZ XAVER KAPPUS Von den Prosaschriftstellern ragen in der Banater Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie eingangs erwähnt, Otto Alscher, Franz Xaver Kappus und Adam Müller-Guttenbrunn heraus. Allesamt Mitarbeiter der Heide. Sie hatten vor Kriegsausbruch bereits in deutschen oder österreichischen Verlagen Bücher veröffentlicht. Franz Xaver Kappus war weniger durch seine Militär-Humoresken als durch Rilkes an ihn gerichteten Briefe an einen jungen Dichter bekannt geworden. Otto Alscher galt inzwischen als einer der besten Erzähler von Tier- und Jagdgeschichten sowie Verfasser von exotischen Romanen in der neueren deutschen Literatur und Adam Müller-Guttenbrunn hatte sich in Wien als Publizist, Theatermann und Romancier längst einen Namen gemacht. Bei Kriegsausbruch war Adam Müller-Guttenbrunn zweiundsechzig Jahre alt und warb in Reden und Essays für das österreichische Kaiserhaus und für den Fortbestand der Donaumonarchie. Die deutsch-österreichische Einheit lag ihm am Herzen, im Krieg und mit Blick auf die Nachkriegszeit. Dafür setzte er sich auch in dem von der Heide nachgedruckten Aufsatz Kriegstagebuch eines Daheimgebliebenen45 entschieden ein. Müller-Guttenbrunn wandte sich vehement gegen die Verdrängung der deutschen Sprache und Kultur im Banat. Im Alter schrieb er nun an seinen mit dem Banat und Österreich verbundenen letzten historischen Heimatromanen, aus denen die Heide Auszüge veröffentlichte, so aus den Büchern Barmherziger Kaiser46 und aus Joseph der Deutsche47. Adam MüllerGuttenbrunn hat zweifelsohne über viele Jahre das Niveau der Heide-Prosa positiv mitbestimmt. Die Kriegs-Prosa der Heide weist vielfach thematische Parallelen zur detailliert erörterten Lyrik auf und ist weitgehend in traditionellen Erzählformen gehalten. So widmen wir uns hier den in der Heide von Otto Alscher und Franz Xaver Kappus publizierten Texten. Ein Alscher-Foto zeigt den Schriftsteller und Journalisten Ende 1915 in Uniform. Redaktionelle Notiz: „Gegenwärtig zeichnet Alscher als Eigentümer beim Budapester Tagblatt und dient in Karansebesch [ein Banater Bergstädtchen, etwa 45 VdH 7–8 (1916), 166–168. Zu Adam Müller-Guttenbrunn während des Ersten Weltkriegs siehe auch den Beitrag von Olivia Spiridon in diesem Band. 46 VdH 2 (1917), 30–33. 47 VdH 10–12 (1917), 210–211.
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Von der Heide. Illustrierte Monatszeitschrift für Kultur und Leben. Organ der Karpathendeutschen, Temeswar, erste Seite des November-Dezember-Heftes 1914. Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen
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100 km südöstlich von Temeswar, W. E.], wo er dem Militärspital zugeordnet ist.“48 1917/1918 wird er als Journalist bei der österreichischen Besatzerzeitung Belgrader Nachrichten in Serbien eingesetzt, deren Redaktionsleiter Franz Xaver Kappus war. Seine dort veröffentlichten feuilletonistischen Beiträge brachte Franz Heinz gesammelt in dem stattlichen Band Belgrader Tagebuch49 heraus. Alscher stimmte nicht ein in das weit verbreitete Kriegspathos der Zeit, auch nicht zu Kriegsbeginn. Im Gegenteil, mit expressionistischer Wucht und Ausdruckskraft beschreibt er in dem Essay Der Mann von heute50 die inneren Wunden, die der Krieg schlägt, die persönlichkeitsverändernde Wirkung des Schreckens und Grauens auf den Menschen, den das Erlebte nicht mehr loslässt. Zwei Textstellen seien daraus zitiert: Und doch, die wir in diesem schweren Kampf schon länger als ein Jahr durch die grauenhafteste Verwüstung, durch tausendfachen Tod, durch schwere Entbehrung geschritten sind, wir haben auch zu verachten gelernt, kennen nur Härte. Wir haben ein leises Lächeln gewonnen, halb bitter, halb schmerzlich, ein mitleidiges Lächeln über uns, über unsere früheren Lebensumstände und all die Notwendigkeiten, ohne die wir nicht leben zu können glaubten […] So ist das kurze aufbäumende Empfinden in uns geblieben, als wir das erste Mal deutlich den von unserer Kugel getroffenen Feind, das Gesicht verzerrend, niederstürzen sahen. Oder das Handgemenge, die klappenden Schläge, das knirschende Zerbrechen von Schädelknochen, das wilde Schreien, Stöhnen, Keuchen, die in die Ohren schlagenden Schüsse dicht um uns […] und nachher das stumpfe Dasitzen und Staunen über das blutige Bajonett und das Nicht-sichErinnern-Können und das Toben in und um uns […] So viel wir gesehen, so viel wir erlebt, es lebt doch alles in traumhaften Bildern in uns. Es ist, als wären wir vom Übermaße verwirrt, als wären diese Greuel (!) die große Not des Jahrhunderts zu groß für unser Erfassen und unser Fühlen […]
Eine Entsprechung findet dieser Essay in Alschers dramatischer Fronterzählung Der Krieger und der Frühling51. Das Geschehen ist in intensive Naturbilder eingefügt, wie dies auch in anderen Prosatexten des Erzählers Otto Alscher, in seinen Tier- und Jagdgeschichten häufig anzutreffen ist. Zwei Erzählebenen durchdringen sich und wechseln sich kontrastierend ab, das friedliche Naturbild und das den Menschen verstörende Kriegserlebnis: In der Talniederung vorne stand schon hoch das Gras auf den Hängen. Aus den Wiesen stieg unsichtbar ein Trillern auf, und auf einem Busch sah man deutlich eine Goldammer, die aus voller Kehle sang. Der Vogelsang erregte ihn. Etwas wie Ärger überkam ihn, dass dieser Vogel sang, während die Kugeln über das Tal hinpfiffen, Menschen hieben und drüben auf der Lauer lagen, um sich den Tod zu senden. Und plötzlich, während er in das frühlingshelle Tal hinaus sah, kam es ihm quälend zu Bewusstsein, dass es schier unendliche Zeit war, seit er durch Mühe und Todschritt, seit Brand, Verwüstung und tausendfacher Mord täglich um ihn war, dass er blutbesprengte Sommerwiesen, buntes Herbstlaub, dessen Röte aus schweren dicken Tropfen bestand, und rubinrot ge48 49
50 51
VdH 12 (1915), 303. Alscher, Otto: Belgrader Tagebuch 1917–1918. Feuilletonistische Beiträge aus der österreichischen Besatzerzeitung Belgrader Nachrichten. Hg. v. Franz Heinz. München 2006. Siehe auch den Beitrag von Franz Heinz in diesem Band: Pflicht und Gewissen. Die Belgrader Nachrichten – Eine andere Soldatenzeitung im Ersten Weltkrieg. VdH 12 (1915), 277–278. VdH 5 (1916), 109–110.
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färbten Schnee gesehen. Und es kam unsichtbar ein Trillern auf, und auf einem Busch sah man deutlich eine Goldammer, die aus voller Kehle sang. Der Vogelsang erregte ihn. Etwas wie Ärger überkam ihn, dass dieser Vogel sang, als müsste immer nur Schnee rings sein, Frost und Eis, die das Sterben noch starrer machten.
Franz Xaver Kappus hat seine in der Heide publizierte Erzählung Mutter Erde52 auch in seinen 1916 im Stuttgarter Julius Hoffmann Verlag erschienenen Band Blut und Eisen. Kriegsnovellen aufgenommen. Es war Kappus‘ erstes Buch nach einer lebensgefährlichen Verwundung an der Ostfront. Bis dahin hatte er sich des MilitärThemas in Humoresken und Satiren angenommen, denn er kannte diesen Bereich aus eigenem Erleben und hatte eine Neigung zur Ironie und Situationskomik. Seine militärische Ausbildungszeit in der Kadettenschule in Temeswar und anschließend auf der Militärakademie in der Wiener Neustadt bot ihm dafür genügend Stoff. In seinem 1921 verfassten, im Marbacher Literaturarchiv aufbewahrten autobiographischen Bericht Im Spiegel. Ein Lebensausschnitt zwischen Leier und Schwert kommt sein ironisches Talent deutlich zum Ausdruck. Darin ist über seine Teilnahme im Ersten Weltkrieg nachzulesen: Ich witterte Blut und den Hauptmannsstern – und diesmal witterte ich gut. Beim Regiment kriegte ich eine Kompanie, ein Batallion – und kriegte vor Iwan Gorod einen Lungenschuss, der mir das Leben rettete. Der Schuss machte mich auch zum Kriegsgewinner: im Reservespital betörte ich die Schwester Alexandra, die im zivilen Leben Alexandra von Malachowska hieß und heute meine Frau ist. Ihr Urahne väterlicherseits war Landmarschall von Polen, ihr Stammbaum mütterlicherseits geht bis auf den Maler Hans Holbein zurück. Eine Geschichte also, die mir auch gepasst hätte, wenn die Schwester weniger hübsch und gescheit gewesen wäre. Mit dem Lungenknacks, der sich gut und der Frau, die sich noch besser machte, ausgestattet, nahm mein Leben darauf wieder papierene Formen an.53
Die Erzählung Mutter Erde ist sprachlich und kompositorisch durchgestaltet, voller Spannung und Symbolik. Der Sappeur Peter Tamas gräbt einen unterirdischen Minengang in Richtung Feindeslinie. Die Todesgefahr ist greifbar nahe, und das vordergründige Geschehen, vergleichbar mit Alschers Erzählweise, eng mit der Bewusstseinsebene verwoben: „Unten in der dicken Finsternis hält er sekundenlang den Atem an. Die Stille umhüllt ihn wie ein Mantel und da fühlt er erst, dass der leuchtende Tag draußen, aus dem er gekommen ist, durchfurcht war von der Melodie des Kampfes.“54 Der Minengang des Feindes stößt auf den von Peter Tamas. Die totale Ruhe wird plötzlich gestört. Der Soldat „[…] lauscht da und dort mit angehaltenem Atem hinein in das Fleisch der Erde und liegt dann mäuschenstill […]“.55 Da muss er wieder an die fruchtbare Erde der Heimat denken, bevor es zur Begegnung mit dem Feind im Minengang und zum dramatischen Kampf auf Leben und Tod kommt, in dessen Beschreibung sich die Motive Erde, Heimat und Krieg durchdringen und verdichten: 52 53 54 55
VdH 9 (1916), 185–186. Adel, Kurt: Franz Xaver Kappus (1883–1966). Österreichischer Offizier und deutscher Schriftsteller. Frankfurt a. M. u. a. 2006, 28–29. VdH 9 (1916), 185. Ebd., 186.
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Walter Engel Zwei Leiber wälzen und wühlen sich tief in den Grund. Brust an Brust stürmen zwei Herzen gegeneinander, sinnlos und wild, schlagen Menschenzähne in menschliches Fleisch. Und die Laterne erlischt… Aber der Kampf geht weiter. Zwei Leben mengen ihr Blut mit der Erde, von der alles Leben kommt, um der Erde willen, die ihre Heimat ist. Mitternacht ist längst vorüber. Peter Tamas klimmt aus der Tiefe des Minenganges in den Schützengraben. Wieder sieht er zum Himmel – gerade zieht ein Stern seine goldene Bahn: Fällt ein Stern vom Himmel,/ Stirbt ein Soldat als Held […]56
Unerhörte Begebenheiten sind auch für die anderen Erzählungen des Bändchens Blut und Eisen kennzeichnend. Das Kriegserlebnis und die Todesnähe blieben auch auf Kappus‘ Lyrik nicht ohne Wirkung. Sie wird spürbar in den von der Heide publizierten Gedichten Leben und Tod.57 Zur sarkastisch-ironischen Erzählweise findet Franz Xaver Kappus bald nach dem Krieg zurück. In der Geschichte Der Gasangriff58 macht er sich über die ahnungslosen und verspießerten Daheimgebliebenen lustig, die sich den Krieg als Spiel oder als Kuriosum vorstellen. Abschließend kann festgestellt werden, dass sich die Literatur in den Kriegsjahrgängen der Zeitschrift Von der Heide, vor allem die Lyrik, weitgehend im Gleichklang befand mit jener in der binnendeutschen Presse der Zeit. Einige Aspekte der Synthese von Thomas Anz und Joseph Vogl zum Thema Die Dichter und der Krieg, bezogen auf die Literatur des deutschen Sprachraums, treffen geradezu ohne Abstriche auch auf die deutschsprachige Kriegslyrik des südosteuropäischen Raums zu: Die wichtigste literarische Form dieser heroischen Aufrichtung [gemeint ist der Erste Weltkrieg, W.E] war die Lyrik… Jede Tageszeitung, jedes Periodikum, enthielt […] eingestreute Poeme über das Kriegsgeschehen. In der Regel schnell gereimte Verse über aktuelle Schlachten und Siege, über Kriegsgerät, Kanonen und Schlachtschiffe, Hasstiraden gegen die Feinde und Hymnisches auf Kaiser, Generäle und Soldaten. Ein dichtendes Volk der Deutschen wurde aktiv, und sein Drang zur kriegerisch-lyrischen Artikulation reichte bis hin zu Abzählversen und Witzsprüchen.59
Dass die von Teilen der deutschen Moderne aus dem Krieg erhoffte Revolutionierung des Ästhetischen und Künstlerischen, die Erneuerung literarischer Formen nicht stattgefunden hat, sondern dass „die kriegslyrische Praxis in den meisten Fällen mit einem Rückfall in epigonale Formen einherging“,60 gilt gleichermaßen für die Kriegslyrik der Heide. In der Prosa haben lediglich die auch im deutschen Sprachraum bekannten Autoren Franz Xaver Kappus und Otto Alscher neue Akzente gesetzt, auf Augenhöhe mit der binnendeutschen Prosa der Zeit. Diese Erzählungen sollten bis heute ihren literarischen Rang behalten.
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Ebd., 187. VdH 2 (1922), 2. VdH 10–12 (1918), 10–12. Anz/Vogl, Dichter und Krieg, 233. Ebd., 235.
DAS KRIEGSTAGEBUCH VON ROBERT JÁNOSI ENGEL Einblicke in das großbürgerlich-jüdische Milieu aus dem Süden der Habsburgermonarchie Péter Varga An einem sonnigen Nachmittag im Juli 1991 besuchte ich auf Empfehlung und auch aus Höflichkeit eine 81 Jahre alte jüdische Frau in Manhattan, NYC. Sie hieß Rózsi Stein. Wir plauderten bei Tee und Gebäck über oral history, über die Bestände der Bibliothek der Columbia University, und über ihre Erinnerungen an die Kindheit im südungarischen Pécs/Fünfkirchen. Den flüchtigen Besuch behielt ich lange in Erinnerung. Etwa fünfzehn Jahre später erhielt ich eine E-Mail von einem unbekannten Herrn aus Deutschland, der mich im Zusammenhang mit meinen Publikationen über die jüdisch-deutsche Kulturgeschichte Ungarns im Internet gefunden hatte. Christof Baiersdorf, dessen Vorfahren jüdische Industrielle in Siebenbürgen waren und der sich ganz der Erforschung der Geschichte seiner Familie widmete, beschäftigte sich in diesem Zusammenhang seit vielen Jahren auch mit Adolf Engel und seinen Nachkommen. Er machte mich eines Tages auf das Kriegstagebuch des Robert Jánosi Engel aufmerksam, des Ehemanns seiner entfernten Verwandten Erna Erdösi-Baiersdorf. Als ich zur folgenden Studie die ersten Vorbereitungen traf und die Geschichte des Tagebuches sowie den Text selbst näher kennenlernte, stellte ich verblüfft fest, dass die in den Aufzeichnungen stets als „meine geliebte Ró zsika“ erwähnte fünfjährige Tochter von Robert Jánosi Engel identisch mit der in New York besuchten alten Frau ist. Rózsi Stein ist 2000 in New York gestorben, sie liegt heute in Pécs neben den Überresten ihres Vaters in der Krypta der innerstädtischen katholischen Pfarrkirche (Ghasi-Kassim-Moschee). Mit dieser Studie möchte ich ihrer Person und unserer Begegnung gedenken. Christof Baiersdorf lebt heute in Düsseldorf, ihm danke ich herzlich, dass er mir den Text für diese Studie zur Verfügung stellte. Knapp hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges scheint die Aufarbeitung und wissenschaftliche Reflexion der Ereignisse immer noch nicht abgeschlossen zu sein. Vor allem in der Zwischenkriegszeit wurden im Zuge einer monolithischen nationalen Identitätsfindung, die auf das Abschleifen von Differenz abzielte, historische Ereignisse von den einzelnen Nachfolgestaaten der Monarchie retrospektiv neu codiert und konstruiert. Mit dem Aussterben der letzten Zeitzeugen verblasst das kommunikative Gedächtnis: Die ungeformte, beliebige und unorganisierte Form der alltäglichen Kommunikation wird im institutionalisierten Rahmen,
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Péter Varga
in „Formen der objektivierten Kultur“ (J. Assmann), in der histoire (Halbwachs) tradiert, in Texten, Bildern, Riten, Bauwerken und Denkmälern. Neben dem offiziellen Kanon von Texten der kollektiven Erinnerung tauchen jedoch immer wieder neue, auf dem Dachboden oder im Nachlass eines Großvaters aufgefundene private Aufzeichnungen, Tagebücher und Notizen auf, die zwar die historischen Fixpunkte nicht mehr revidieren, die Horizontlinie der zusammengetragenen Texte jedoch erweitern und einzelne Momente in den Vordergrund rücken und erleuchten. Aus diesem Gesichtspunkt ist auch das in dieser Studie behandelte Kriegstagebuch von Robert Jánosi Engel von Bedeutung – es zeigt die Kriegshandlungen aus einem ganz persönlichen Blickwinkel, von dem aus sachlich berichtet wird, was geschehen ist, und gleichzeitig auf subjektiver Ebene reflektiert wird, wie er das alles erlebte. Als Folge des kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels der 1980er-Jahre ist ein rasanter Anstieg der Forschungen und Fallstudien über persönliche Erinnerungstexte zu beobachten. Diese Einzelstudien haben die als bereits abgeschlossen betrachteten großen historischen Narrative, wenn auch nicht völlig umgeschrieben, doch ins Wanken gebracht und zu einer konstruktivistischen Wende in den Geschichtswissenschaften geführt. Wesentliche Impulse erhielt diese Wende ebenfalls durch die methodischen Ansätze der Alltags- und Mikrogeschichte, sowie der historischen Anthropologie. Die Hinwendung der Forschungsperspektive zur persönlichen Ebene des Erlebens historischer Ereignisse setzt voraus, dass, im Gegensatz zu den quantifizierenden historischen Makroanalysen, durch eine mikroanalytische Vorgehensweise die individuelle Erfahrung der Geschehnisse in den Fokus gestellt wird.1 Statt der Fragestellungen einer systemorientierten und höchst statischen Historiographie wird durch die Hervorhebung der subjektiven Erfahrungswelt „eine Vielzahl neuartiger Methoden hervorgebracht, wie beispielsweise die von Ute Daniel als Bindestrichgeschichten bezeichneten Mikrogeschichte und Alltagsgeschichte“, die sich durch ein hohes Maß an Selbstreferenzialität auszeichnen.2 Das Interesse dieser Forschungen gilt in erster Linie dem einzelnen Menschen und seiner Lebenswelt und setzt eine Vorgehensweise voraus, die „die subjektive Seite der Erfahrung und Wahrnehmung in den Vordergrund rückt und sich entschieden auf das Handeln und Denken von konkreten Menschen konzentriert“.3 In dieser Hinsicht lassen sich die verschiedensten theoretischen Ansätze von Raumkonzeptionen auch auf die Mechanismen von Gedächtniskonstruktionen ausbreiten, da Erinnerungstexte performative und dynamische Konstrukte der Erfahrungswirklichkeit darstellen. Das „konstruktivistische Credo“4 bedeutet vor allem, dass die Geschichte als eine vergangene Realität an sich nicht existiert, sondern jeweils aus der aktuellen Gegenwart und durch 1 2 3 4
Richers, Julia: Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2009, 31. Ebd. Dülmen, Richard van: Historische Anthropologie. Entwicklungen, Probleme, Aufgaben. Köln, Weimar, Wien 2000, 2. Zit. nach Richers, Jüdisches Budapest, 32. Uhl, Heidemarie: Gedächtnis – Konstruktion kollektiver Vergangenheit im sozialen Raum. In:
Das Kriegstagebuch von Robert Jánosi Engel
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Robert Jánosi Engel, 1906 in Fünfkirchen/Pécs
die Perspektive der sich Erinnernden wahrgenommen werden kann. Eine weitere Prämisse der Historiographie ist in Anlehnung an Hayden White die Narrativität, dass nämlich Geschichtsschreibung zugleich Erzählung ist, daher also rhetorischen und performativen Strukturen unterworfen ist. Des Weiteren gelten Erinnerungsprodukte im Sinne des linguistic turn als Texte, die als persönliches Narrativ der mémoire oder als kollektive Erinnerung der histoire ausgeformt werden. Im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Wende der 1980er-Jahre gibt es auch in der Gedächtnisforschung „Ansätze einer kritischen Analyse und Dekonstruktion der identitätspolitisch aufgeladenen gesellschaftlichen Deutungsmuster über die Vergangenheit“.5 Im Sinne von Lyotard geht es dabei um jenes „postmoderne Wis-
5
„Czernowitz bei Sadagora“. Identitäten und kulturelles Gedächtnis im mitteleuropäischen Raum. Iaşi, Konstanz 2006, 15–32, hier 21. Uhl, Konstruktion kollektiver Vergangenheit, 20.
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Péter Varga
sen“ – posthistoire, das durch den Wechsel im Gedächtnisparadigma das wissenschaftliche Interesse erneut und verstärkt an die Vergangenheit richtet und daraus „Indikatoren für das Normen- und Wertesystem eines Kollektivs legitimiert“.6 Robert Jánosi Engels Kriegstagebuch gewährleistet gerade den Blick von unten auf sein Lebensumfeld und die darin vorkommenden Akteure sowie auf Befindlichkeiten, die makroanalytischen Herangehensweisen entgehen, sodass die Zielsetzung folgender Studie nicht die Rekonstruktion der Kriegsereignisse im Spiegel des Tagebuchs verfolgt, sondern die Erforschung der Frage, wie das Leben von Robert Jánosi Engel durch den Krieg verändert wird, bzw. wie er die Teilnahme am Krieg in sein persönliches Leben, in seine „Lebenswelt“ integriert. Im Sinne der „Lebenswelt“-Konzepte geht es „um die Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt Einzelner in Bezug auf ihre unmittelbare Umwelt, sowie – im Umkehrschluss – die Wirkung äußerer Lebensumstände auf die Handlungs- und Deutungsmuster von Individuen“.7 Nach diesem Konzept wird auch Engels Lebenswelt nicht als eine „holistische, in sich geschlossene Einheit aufgefasst, sondern als etwas Offenes, das gekennzeichnet ist durch ein Wechselverhältnis von Strukturen und kultureller Praxis des Akteurs, durch Interaktion und Kommunikation“.8 Durch die Selbstreferenz in der Schilderung von Kriegsereignissen des Ersten Weltkrieges tritt die persönliche, subjektive Perspektive in den Vordergrund, sodass sich die Akzente im narrativen Haushalt der Erinnerung an Krieg von einer heroisierend ausgerichteten Erinnerungskultur auf das persönliche Erfahren der Ereignisse verschieben. Gattungsmäßig sind Engels autobiographische Aufzeichnungen am ehesten dem Reisebericht zuzuordnen, der zu Beginn des Ersten Weltkrieges als Berichterstattung über die Front einen ungeheuer großen Aufschwung erfuhr. Diese Berichte dienten in erster Linie nicht nur der Dokumentierung von Tatsachen, sondern sollten der breiteren Öffentlichkeit zur Aufarbeitung eines schockierenden Krieges verhelfen.9 Der Krieg wurde vor allem als Flucht ins Unbekannte, als Erfahrung des Fremden und Begegnung mit den eigenen Grenzen auf diese Weise ein Beitrag zur eigenen Identitätsbildung. Auffallend ist in den Kriegs-Reiseberichten die Suche nach einer Legitimierung des Krieges bzw. der eigenen Teilnahme sowie der Eifer einer Sinngebung für den ganzen Krieg. Die Teilnahme des jüdischen Offiziers der k. u. k. Armee Robert Jánosi Engel am Krieg war kein Einzelfall. 1914 begrüßte die Mehrheit der Juden ÖsterreichUngarns den Krieg mit patriotischer Begeisterung, ähnlich wie viele ihrer nicht-jüdischen Landsleute. Tausende von emanzipierten jüdischen Bürgern der Monarchie sahen in der Beteiligung am Krieg ein Zeichen ihrer Treue und Loyalität zu ihren 6 7 8 9
Ebd, 16. Richers, Julia: Jüdisches Budapest, 41. Richers fasst die verschiedenen „Lebenswelt“-Konzepte im Kapitel ihres Buches Die „Lebenswelt“ und ihre Koordinaten zusammen (41–48). Haumann, Heiko: Geschichte, Lebenswelt, Sinn, 49. Zitiert nach Richers, Julia: Jüdisches Budapest, 42. Köstlin, Konrad: Krieg als Reise. In: Reise-Fieber. Hg. v. Margit Berwing/Ders.. Regensburg 1984. Zitiert nach Terepszemle. Utazások a Monarchia német nyelvü publicisztikájában [Ortsbesichtigung. Erkundungen in die deutschsprachige Publizistik der Monarchie]. Hg. v. Miklós Fenyves/Rita Iványi-Szabó/Magdolna Orosz/Ildikó Tóth. Budapest 2010, 39.
Das Kriegstagebuch von Robert Jánosi Engel
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Heimatländern sowie ihrer Anerkennung als gleichrangige Staatsbürger, wie das die Studien von Marsha L. Rozenblit und David Rechter nachweisen.10 Rozenblit legt weniger auf die Beschreibung der Situation des ungarischen Judentums Wert, sondern rückt die Identität der Juden in der multikulturellen und multiethnischen Monarchie in den Mittelpunkt der Betrachtung, die als eine multipolare Identität auf drei Ebenen beschrieben wird: Juden konnten patriotisch-loyal zum dynastisch definierten Staat sein, sich kulturell der jeweils dominierenden Gruppe (Deutsche, Ungarn, Tschechen usw.) verbunden fühlen, und sich doch als separate ethnisch-religiöse Gemeinschaft sehen. Letzteres galt natürlich je nach den Ausgangsbedingungen für weitestgehend assimilierte Juden der Mittelschicht in Wien mehr als etwa für orthodoxe Juden in Galizien – im Großen und Ganzen dürfte Rozenblits Modell dieser (den Betroffenen meist wohl unbewussten!) „dreifachen Identität“ zutreffen. Damit unterschieden sich die Juden Österreich-Ungarns von ihren Glaubensgenossen in den meisten anderen europäischen Staaten, wo das im 19. Jahrhundert entstandene nationalstaatliche Modell eine ganz andere Form der Identifizierung mit dem Staat und damit auch mit dem tonangebenden Staatsvolk forderte. In Österreich-Ungarn hingegen erlebten die Juden vor 1914 weitgehende Toleranz, trotz des seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmenden Antisemitismus.11
Robert Jánosi Engel ist als Vertreter des emanzipierten jüdischen Großbürgertums zu sehen. Er gehörte zur dritten Generation der bereits 1886 von Kaiser Franz Joseph geadelten Magnatenfamilie der Stadt Pécs/Fünfkirchen. Er wurde am 3. August 1883 als zweiter Sohn des namhaften Wagner-Forschers József (Joseph) Jánosi Engel12 in Pécs/Fünfkirchen geboren. Der Großvater Adolf Engel, als armer jüdischer Trödler nach Fünfkirchen gezogen, war später Gründer zahlreicher Firmen und war in den Branchen Holzhandel, Straßen- und Schienenbau sowie Kohlenbergwerk vertreten. Als einer der größten Arbeitgeber spielte er eine maßgebende Rolle in der Industrialisierung und dem wirtschaftlichen Aufschwung des Komitats Baranya und der Region. Seine Bedeutung und sein Bekanntheitsgrad überschritten sogar die Landesgrenzen. Für sein soziales Engagement bekannt, führte er für seine Angestellten den Wochenlohn und verschiedene Leistungen im Gesundheitswesen ein. Er und seine Söhne waren aber nicht nur wirtschaftlich erfolgreich, sondern waren auch Förderer der Fünfkirchner städtischen Kultur und der jüdischen Gemeinde. In seiner 1887 auf Deutsch geschriebenen Autobiographie fasste er die Errungenschaften seines Lebens und die wichtigsten Anweisungen an seine Söhne zusammen:
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Rozenblit, Marsha L.: Reconstructing a National Identity: The Jews of Habsburg Austria During World War. Oxford, New York 2001. – Rechter, David: The Jews of Vienna and the First World War. London, Portland 2001. 11 http://david.juden.at/buchbesprechungen/50–54/Main%20frame_Buch51_Weltkrieg.htm (5.4.2012). 12 Als Achtzehnjähriger schrieb er einen Aufsatz unter dem Titel Richard Wagners Judentum in der Musik, eine Abwehr. Im Jahr 1933, im Alter von 82 Jahren, veröffentlichte er ein umfassendes Werk, Das Antisemitentum in der Musik, in dem er sich noch einmal intensiv mit Wagner auseinandersetzte. Unter dem Pseudonym J. E. de Sinoja sind auch einige Dramen von ihm bekannt wie z. B. Die Marranen (1900), Im Beichtstuhl (1902), Der Kabbalist (1909), Der Kaufmann von Rom oder Shylocks Urgestalt (1925).
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Péter Varga Dem Alter nahe, welches in den Psalmen unseres königlichen Sängers als die Grenze des gewöhnlichen menschlichen Lebens bezeichnet wird, dessen Dauer die göttliche Gnade nur in seltenen Fällen darüber hinaus erstreckt, fühle ich mich gedrängt, in den folgenden Euch gewidmeten Blättern einen kurzen Abriss meiner Lebensgeschichte zu geben. Euch zu zeigen, was ich als Staatsbürger, Familienvater, Kaufmann, Industrieller und Oeconom geleistet, damit Ihr daraus Belehrung schöpfen und aus den vorkommenden wichtigeren Ereignissen meines Lebens Euch die Nutzanwendung für Euer eigenes Leben ableiten könnet.13
Aus seinen Erinnerungen kristallisiert sich eine gebildete, wohltätige und tief in ihrer jüdischen Identität verankerte Persönlichkeit heraus, die auch an seine neun Kinder und Enkelkinder vererbt wurde. Der Enkel Robert – Kind seines dritten Sohnes – schlug eine ähnliche Laufbahn wie der Vater und Großvater ein: Er und sein älterer Bruder Richard, der nach Richard Wagner benannt worden war, setzten mit großem Eifer die Traditionen des Familienunternehmens fort. Von ihm ist bekannt, dass er wichtige Positionen in zahlreichen Gremien der Lokalpolitik und des Bankwesens bekleidete und auch literarisch tätig war. Bekannt ist ein von ihm 1914 veröffentlichter Aufsatz über Baron József Eötvös, aus seinem Kriegstagebuch geht jedoch hervor, dass er zu dem Zeitpunkt bereits mehrere Schriften verfasst hatte. Er heiratete zweimal, aus der ersten Ehe mit Marianna Krausz stammt seine einzige Tochter Rózsika und die zweite Ehe mit Erna Erdösi-Baiersdorf blieb kinderlos. Während Robert Jánosi Engel am 29. Juli 1943 eines natürlichen Todes in Pécs starb, konnte der um ein Jahr ältere Bruder Richard den Verfolgungen, der Deportation und Vernichtung des ungarischen Judentums nicht entkommen und starb im Sommer 1944 in Mauthausen in Folge eines Hungerstreiks, in den er aus Protest gegen die schlechte Behandlung der Gefangenen trat. Robert Jánosi Engels Kriegstagebuch umfasst 367 handschriftliche Seiten und wird heute im Bakhmeteff Archive der Columbia University, New York aufbewahrt, vermutlich durch die Vermittlung seiner Tochter Rózsi Stein, die selbst Bibliothekarin an der Universität war.14 Die berichtete Zeit des Tagebuchs umfasst die Zeit vom 28.03.1915 bis zum 30.03.1917, insgesamt zwei Jahre und zwei Tage. Die Eintragungen berichten meist von Ereignissen des jeweiligen Datums, manchmal aber auch rückblickend und zusammenfassend, je nachdem, wie der Autor Zeit und Möglichkeit zum Schreiben hatte. Laut Andeutungen im Tagebuch ist das vorliegende Exemplar jedoch bereits eine Abschrift der ursprünglich in Schnellschrift niedergeschriebenen ersten Fassung, die vom Autor von Zeit zu Zeit in ein Heft transkribiert wurde. Das Schnellschrift-Original ist nicht mehr auffindbar. Der Textkorpus ist sprachlich-stilistisch mindestens auf drei Ebenen einzuordnen, eine trockene, offizielle Berichterstattung, eine gedankliche Ebene von Erwägungen und Interpretationen der äußeren Ereignisse sowie eine emotionale, innere Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit. Die Berichte über militärische Angele13 14
Engel, Adolf: Mein Leben. Pécs 1887 (Privatdruck), 1. Baiersdorf, Christof: A jánosi Engel családról. Adatok és kérdőjelek, III. rész. A harmadik nemzedék, az unokák. [Über die Familie Jánosi Engel. Angaben und Fragezeichen, Teil 3: Die dritte Generation, die Enkelkinder]. Pécsi Szemle [Fünfkirchner Rundschau], Winter 2009, 74.
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genheiten werden im Telegrafenstil, oft mit Abkürzungen, in militärischem Slang oder Fachausdrücken protokollartig verfasst mit der dazu gehörenden Baedeker-artigen Landschaftsbeschreibung. Diese werden aber immer wieder mit Erzählungen über die eigenen Familienverhältnisse, die vermisste Tochter, den Bruder und die Cousins erweitert, aber auch mit Reflexionen der eigenen Gefühle und mit Überlegungen im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen ergänzt. Die Eintragungen können in zwei große Gruppen eingeordnet werden: Der erste Teil umfasst die Zeit vom 28. März 1915, von der Einbeziehung Robert Engels als Reserveoffizier in das Militärkommando von Pécs, bis zum Ende der Russlandoffensive im August 1916, der zweite Teil behandelt die Kriegsereignisse an der rumänischen Front in Siebenbürgen bis zu seiner Entlassung im Februar und seiner Heimkehr Ende März 1917. Im Anhang gibt es einen Nachtrag aus dem Jahr 1937, der im Gegensatz zu den Kriegsjahren in einem höchst pessimistischen und verbitterten Ton geschrieben wurde. Der gesamte Text vermittelt dem Leser ein authentisches Bild nicht nur vom Alltag des Krieges, sondern auch vom Privat- und Gefühlsleben einer interessanten Persönlichkeit in einem breiten Beziehungsgeflecht. Robert Jánosi Engel beginnt sein Tagebuch mit einer Eintragung vom 28. März 1915 mit den Worten „In Gottes Namen! Mein Kriegstagebuch“, und fährt fort: „[…] an einem Sonntagvormittag um zehn Uhr saß ich in der Kantine der Militärkaserne von Pécs, als ich in die Bataillonskanzlei bestellt wurde. Hier wurde mir die Anordnung Nr. 68649 des Kriegsministeriums vorgezeigt, in Folge derer ich sofort nach Sátoralja-Újhely fahren muss.“15 (Typoskript, S. 2) Noch am gleichen Tag begannen die Vorbereitungen für die lange und ungewisse „Reise“. Merkwürdig sind die Angelegenheiten, die zu erledigen waren, denn diese stellen die aktuelle Lebenssituation des Verfassers dar: die Anfertigung eines Testaments, das mit früheren Tagebüchern und Gedichtsammlungen beim Notar deponiert wurde; eine letzte Unterredung mit der Mutter der einzigen Tochter, schließlich die Unterschrift eines „vom religiösen Ritus erforderlichen Dokuments“. (Typoskript, S. 2) Um welche Religion es sich handelt, wird noch nicht weiter erläutert, aus späteren Einträgen geht jedoch die Bedeutsamkeit jüdischer religiöser Gesetze, der Halacha, für den Verfasser hervor. Auch darauf wird hingewiesen, dass er zu dieser Zeit bereits von seiner ersten Frau geschieden war, weshalb eine Vereinbarung über die Erziehung der Tochter, die vermutlich beim Großvater lebte, notwendig war. Wie wichtig ihm die früheren literarischen Erträge und sein Tagebuch waren, zeigt, dass er diese mitsamt seinem Testament in Sicherheit brachte. Nach diesen Erledigungen übernahm er die Reisedokumente, wählte einen Offiziersknecht aus und begann mit dem Packen. Mit Rührung schildert er den letzten gemeinsamen Nachmittag mit der geliebten Tochter, den Besuch am Grab der Mutter, das Abschiedsessen im engsten Familienkreis: „Nach dem Abendessen begleitete ich meine teure Rózsa zur Wohnung meiner Großeltern und nahm von ihr mit unsäglichem Schmerz Abschied.“ (Typoskript, S. 2)
15 Zitate aus dem Kriegstagebuch werden dem von der Handschrift verfertigten Typoskript entnommen, mit freundlicher Genehmigung von Christof Baiersdorf.
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Die nächsten Tage vergingen mit der beinahe einwöchigen Fahrt zur Meldestelle im nord-ostungarischen Zemplénoroszi (Ruské – Ortsteil von Stakčín, Slowakei), wo er als Leutnant in das I. Arbeitskommando des 38. k. u. k. Infanterieregiments unter der Kommandantur von Oberleutnant Fleischl eingeordnet wurde. Seine Aufgabe war, die Aktivitäten der Arbeitskompanie mit den zivilen Arbeitskräften zu koordinieren. Dazu gehörten die Versorgung mit Lebensmitteln, die Auszahlung der Besoldung, die Buchhaltung und selbstverständlich die logistischen Aufgaben im Zusammenhang mit dem technischen Ausbau der Frontlinie. Engels Einbeziehung erfolgte im Rahmen jener groß angelegten Mobilisierung, die nach den großen Verlusten der Mittelmächte an der Ostfront im Winter 1914–15 vorgenommen wurde. Die zweite Heeresgliederung der russischen Armee eroberte in kurzer Zeit fast das ganze Territorium Galiziens und stand vor den Bergpässen der Karpaten und der ungarischen Tiefebene. Der Vormarsch der russischen Truppen konnte nur durch die extreme Wetterlage im Winter verhindert bzw. verlangsamt werden. Die Strategie des österreich-ungarischen Armeeoberkommandos unter der Leitung des Generalstabschefs Conrad von Hötzendorf war die Konzentrierung der militärischen Kräfte an diesem Frontabschnitt, um der russischen Armee sowohl zahlenmäßig als auch was die Kriegsausrüstung betrifft überlegen zu sein. Eine Schwachstelle an der Südwestfront der russischen Armee war die Gegend von Gorlice bei Tarnów, wo Generalstabschef Conrad eine konventionelle Durchbruchsschlacht plante, die auch von Falkenhayn, dem Chef der deutschen Obersten Heeresleitung, befürwortet wurde. Zur Unterstützung der k. u. k. Armee entsandte er die 10. Armee unter der Leitung von Mackensen, der zugleich als Oberbefehlshaber für die ganze Offensive beauftragt wurde. Die sogenannte Schlacht von GorliceTarnów am 2. Mai 1915 bedeutete einen entscheidenden Wendepunkt im Verlauf des Krieges an der Ostfront und gehörte zu den wichtigsten siegreichen Manövern.16 Auf die Anwesenheit deutscher Offiziere deutet auch Roberts Eintragung am gleichen Tag hin – es war ein Sonntag –, in der er über die Berichterstattung zu den verrichteten Arbeiten an einen gewissen „deutschen Oberleutnant“ schreibt. Die im Tagebuch beschriebenen Aktivitäten von Robert Engel stehen offensichtlich in direktem Zusammenhang mit der Planung des Durchbruchs bei Gorlice und der darauffolgenden Gegenoffensive zur Zurückdrängung der russischen Armee. Es ging dabei vorrangig um Straßenwerk (Kolonnenweg) sowie den Ausbau von Schießgräben und Stacheldrahtverhau. Die im Tagebuch oft erwähnten ungarischen Ortschaften (Zemplénoroszi, Homonna, Takcsány, Kálnarosztoka, Végaszó, u. a.) liegen heute in der Umgebung der slowakischen Siedlung Stakčín, etwa 150 km Luftlinie von Gorlice entfernt, vom Durchbruch wurde jedoch kein Wort aufgezeichnet. Erst durch den Besuch des Majors von Hermann am 5. Mai erfuhren sie „vom glänzenden Vormarsch unserer Truppen in West-Galizien“ (Typoskript, S. 6). Am 13. Mai reitet er zum ersten Mal bis zur Grenze nach Galizien und zwei Tage später erreicht das ganze Bataillon die ersten galizischen Siedlungen 16
Vgl. Galántai, József: Az elsö világháború. [Der Erste Weltkrieg] Budapest 1988, 255–259. In der Bezugnahme auf die Kriegsereignisse stütze ich mich hauptsächlich auf diese Monographie.
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Cisna und Habkowce, wo es die darauffolgenden drei Wochen verbringt und wo Engel mit Entsetzen über die zerstörten Dörfer schreibt: […] in strömendem Regen erreichten wir die Grenze. Servus Ungarn! Durch Cisna kamen wir nach Habkowce […]. Als wir durch die Hauptstraße von Cisna marschierten, war ich von dem sich uns erschließenden Bild der Zerstörung wahrlich erschüttert: versengte Häuser hundert und hundert Meter lang! Entsetzliches, unvergessliches Bild! (Typoskript, S. 7)
Möglicherweise war dieser Anblick von verwüsteten galizischen Ortschaften die erste Begegnung des großbürgerlich erzogenen und gebildeten jungen Industriemagnaten mit der grausamen Realität des Krieges. Immer wieder verleiht er seinem empfindlichen humanistischen Wertgefühl Ausdruck und insbesondere entrüsten ihn die zerstörten Synagogen. Als sie am Sonntag, den 6. Juni 1915 von Habkowce in Richtung Lemberg weiterzogen, besuchte er den dortigen jüdischen Tempel, „dessen Thoraschrank und Vorbeterpult von den Russen völlig zerstört, die Bänke niedergebrannt wurden“. (Typoskript, S. 9) Am 11. Juni ging er am frühen Morgen in die Synagoge von Starasol, die „von den Kanonen querdurch zerschossen wurde“. Das Tagebuch legt von der Interaktion Engels mit der Zivilbevölkerung Zeugnis ab. Gleichzeitig mit der emotionalen Reaktion auf die Bilder der Zerstörung zeigt er sich in Disziplinfragen die zivilen Arbeitskräfte betreffend konsequent und unbiegsam. Als er einmal die Angst der zivilen Straßenarbeiter vor dem Kanonenschuss verspürte, drohte er denjenigen, die fliehen wollten, mit Erschießen. „Das wirkte“ – vermerkte er im Nachhinein, am 6. April 1915. (Typoskript, S. 3) Am 3. Mai berichtete er von einem schweren Verbrechen eines Zivilisten, den er sofort verhaften ließ. „Noch in der Nacht verlor er den Verstand und schnitt sich die Kehle durch, er musste ins Spital gebracht werden, wo er am Dienstag, den 4. Mai verstarb.“ (Typoskript, S. 6) Bei konsequenter Strenge im Umgang mit seinen Untergeordneten richtet er seine Aufmerksamkeit auf die Schönheit der Natur. Naturbeschreibungen kommen häufig vor: „[…] am 3. Mai [1915] sind wir um 6 Uhr in der Früh von Kálnarosztoka aufgebrochen, marschierten durch einen frischknusprig blühenden, wunderschönen Buchenwald und erreichten um 10 Uhr Végaszó.“ [Kolbasov, Slowakei] (Typoskript, S. 6) An anderer Stelle heißt es: „Unterwegs nach Turynka aßen wir in einem wunderschönen Eichenwald zu Mittag.“ (10. Juli 1915, S. 13) An einer Stelle wird sein Verhalten gegenüber Kriegsgefangenen sichtbar, als er den in Gefangenschaft geratenen russischen Offizieren Konserven zukommen ließ. (20. Mai 1915) Die Eintragung vom Freitag, dem 25. Juni 1915 schildert den Einzug in Lemberg, den Engel als glückliches Ereignis detailliert beschreibt und dabei die Begeisterung der Bevölkerung über die Rückkehr der k. u. k. Armee und ihre Loyalität der Habsburgermonarchie gegenüber besonders hervorhebt: Seit meinem Einzug in den Krieg ist dieser der schönste, eindrucksvollste und am meisten beeindruckende Tag – am Frühmorgen fuhren wir mit dem Wagen nach Lemberg, wo wir um 8 Uhr ankamen. Was ich gestern bei den armen, zurückmarschierenden Juden sah, war hier noch ausgeprägter. Glücklich lachende und zuwinkende Frauen grüßten auf den Straßen jeden Offizier, in der Stadt herrscht große Freude und ungeheures Leben, dieses Ausmaß von Freude zeugt von der Unterdrückung durch die Russen. Am Vormittag machten wir einen Umgang in der Stadt, am Nachmittag erledigte ich einige Einkäufe – meistens russische Produkte. – Zum
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Péter Varga Kaffeetrinken ging ich in das elegante ‚Café Avenue‘, wo auch der angejubelte Conrad von Hötzendorf anwesend war. Am Abend ging ich ins Stadttheater (Miejski Teatr), in dem die neue Epoche mit der polnischen Oper „Halt“ eröffnet wurde – zuvor sang man „Gott erhalte“ mit polnischem Text. (Typoskript, S. 11)
Einen großen Anteil seiner Eintragungen nehmen die oft akribischen Beschreibungen von persönlichen Bedürfnissen ein: Haar- und Bartschneiden, Körperpflege und die Umstände in den Quartieren, wie zum Beispiel: „In der Wohnung des griechisch-orthodoxen Pfarrers bekamen wir ein schönes Zimmer […]“ (29. April 1915) oder: „Wir kamen gegen 7 Uhr abends an, und erhielten im katholischen Pfarrhaus ein gutes Quartier, ich konnte wieder auf einem Divan schlafen. Es gab auch ein Klavier im Zimmer, auf dem ich brillieren konnte.“ (9. Juni 1915) „Gegen 10 Uhr erreichten wir Rakowa, wo wir uns im wunderschönen, zwar von den Russen stark zerstörten Schloss des Ritters von Koztowiecki einquartierten. […] Am Abend genoss ich den Blick auf den wunderschönen Park – während des Krieges wohnte ich bisher noch nie an einem so schönen Ort.“ (12. Juni 1915) „Am Abend nahmen wir unser Abendessen im Park des Schlosses, einer unserer Zigeuner spielte ungarische Lieder, ich dachte an mein Zuhause, und…“ (19. Juni 1915) „Auch hier [in Nowe Selo, nördlich von Lemberg – P. V.] wurden wir in einem Pfarrhaus untergebracht, dessen Besitzer angeblich durch Kopfschuss hingerichtet wurde, weil er mit den Russen hielt.“ (26. Juni 1915) „Zu Mittag aß ich im Hotel Georg zu Lemberg, ich genoss besonders die Sauberkeit und Bequemlichkeit.“ (2. Juli 1915) „Am 3. [Juli 1915], Samstagmorgen zog unser Bataillon um 5000 Schritte nach Norden, wir nahmen unser Quartier in einem netten Forsthaus ein.“ Einen besonderen Schwerpunkt im Tagebuch repräsentieren die Erinnerungen an die – in der jüdischen Tradition besonders wichtigen – Todestage der nächsten Angehörigen sowie an andere Ereignisse und Gedenktage der Familie. Fast an jedem Tag gibt es Anlass zum Gedenken und zum Kaddisch-Gebet. Ereignisreiche Tage heben sich im Alltagstrott hervor, wie beispielsweise der 18. August 1915, der Geburtstag der verstorbenen Mutter und gleichzeitig die Geburtstagsfeier des Kaisers: „Ich nahm an dem Feldgottesdienst teil, danach defilierten die dortigen Truppen vor Generalmajor Obauer. Dann erteilte ich der Mannschaft Geld und Apanage aus dem freudigen Anlass des heutigen Tages – um Mittag nahm ich am Division-Festmahl mit Sekt teil, an dem Obermajor Obauer eine Laudatio an Seine Exzellenz hielt.“ (Typoskript, S. 17) Anniversarien, Gedenktage und Jahrestage nehmen in der jüdischen Erinnerungskultur, dem zikhor, einen zentralen Stellenwert ein. Am wichtigsten erscheinen selbstverständlich der eigene Geburtstag (3. August), der Geburtstag der geliebten Tochter Rózsika (am 14. Juni 1915 wurde sie fünf Jahre alt), dann die Geburts- und Todestage der engeren Verwandten, vor allem der Mutter (29. Juni), der Großeltern (5. Juli: Todestag der Großmutter), wobei jeder Todestag auch nach dem jüdischen Kalender gezählt wird. Am 31. Juli 1915 erinnert er sich liebevoll an den Bruder Richard, der 34 geworden ist, und wünscht sich, den nächsten Geburtstag zu Hause in Frieden zu verbringen. Des Öfteren werden auch Schlüsselereignisse der eigenen Biografie genannt, wie die Heirat mit der Mutter von Rózsika, die Trennung, die zweite Ehe der geschiedenen Frau am 9. Mai 1915. Zur identitätsstiftenden Erinne-
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rung gehören auch Episoden des jüdischen Lebens, am 15. August 1916 erinnert er sich beispielsweise an das 20-jährige Jubiläum seiner Bar Mitzwa, das jüdische Ritual vom Erwachsenwerden im Alter von 13 Jahren. Nicht unerwähnt bleiben aber auch die Stationen des beruflichen Werdegangs: „23. September 1915: der erste Tag von Sukkot! Heute vor zehn Jahren war der unvergessliche Tag, an dem mein Name mit dem Doktortitel ergänzt wurde: am 23. September 1905 wurde ich an der Budapester Universität zum Doktoren geweiht.“ (Typoskript, S. 21) Genannt werden auch historische Ereignisse wie das Attentat von Sarajevo, aber auffallend ist auch das minutiöse Aufzeichnen der Zeit seit seiner Einberufung in den Kriegsdienst. Am häufigsten kreisen seine Gedanken jedoch um die geliebte Tochter Rózsika (Röschen), sodass sie im Tagebuch ständig präsent ist. Er freut sich über jedes Lebenszeichen und jeden Brief von ihr. Einige Beispiele: „Am Abend schrieb ich außer den offiziellen Briefen auch an meine teure Rózsa“ (23. April 1915); „Erhielt Brief von meiner teuren Rózsa“ (24. April 1915); „Montag, der 14. Juni [1915]: wunderschöner Tag, der Geburtstag von meiner Rózsika, heute ist sie fünf Jahre alt! Mit welchem Gedanken ich gestern einschlief, mit dem gleichen bin ich heute aufgewacht: an Dich dachte ich, mein liebes Kind. Schon früher sorgte ich für dein Geburtstagsgeschenk – du sollst Freude daran haben“; „Der Tag begann mit großer Freude. Von meinem Engel Rózsika erhielt ich ein kleines Handarbeit-Geschenk“ (4. Juli 1915); „Am Nachmittag kam Post, mit vielen Briefen, unter denen auch einer mit dem Bild von meinem Engel Rózsika, ich erfreute mich maßlos darüber. Möge mich unser Gott, zu dem du täglich betest, zu dir zurückführen“ (29. Juli 1915); „In Anbetracht des zu erwartenden längeren Aufenthaltes in Zabriki, hängte ich das Foto meiner lieben Rózsika, des betenden Engels über mein Klappbett aus, ein wahrer Genuss“ (20.–21. Oktober 1915). Besonders ausführlich berichtet Robert Engel über seinen ersten Besuch zu Hause Ende Oktober 1915. Außer den obligatorischen Besuchen verbrachte er die meiste Zeit mit seiner Tochter. Mit Rührung schreibt er über das Wiedersehen, über ihre Fertigkeiten bei Turnübungen und Handarbeit, über ihr aufmerksames Zuhören beim Theaterbesuch und vom schmerzlichen Abschiednehmen. Robert Engel konvertierte kurz vor seinem Tod aus heute unbekannten Gründen zum katholischen Glauben. Das während des Ersten Weltkriegs geführte Tagebuch zeugt noch von seiner inneren Verbundenheit mit der jüdischen Tradition. Er legte hohen Wert auf die Einhaltung der jüdischen Gesetze, der Halacha, und versuchte, wo nur möglich, die jüdischen Feiertage würdig zu gestalten, ob es sich um eine „private“ Liturgie in stiller Einsamkeit oder um eine Feier im engen Kreis von mindestens zehn jüdischen Soldaten handelte, die er für den notwendigen Minjen zum Gebet einladen konnte. Im September 1915 erlebte er noch auf ungarischem Gebiet, in Sátoraljaújhely, seinen ersten Kriegs-Pesach mit Synagogenbesuch und Seder-Abend in einem koscheren Restaurant der Stadt. Die großen Herbstfeste wie Rosh Hashana und Jom Kippur feierte er bereits in Brody, der Geburtsstadt Joseph Roths, deren jüdischen Charakter er in der kurzen Schilderung der Ortschaft hervorhebt. In einer der vielen Synagogen verbrachte er mehrere Stunden mit Gebet und Gottesdienst. Besonders beeindruckte ihn die singende Art der Liturgie im Schtetl Beresteczko mit ihren chassidisch-orthodoxen Juden, die erste Stadt auf
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damals russischem Boden hinter der Grenze von Galizien. An einer anderen Stelle, am 2. Januar 1916, vermerkt er jedoch mit leichter Verachtung die konservative Religiosität der ortsansässigen Bauarbeiter, die ihm unterstellt worden waren: „Zwei von ihnen wollten nicht einmal essen, sie verlangten koschere Speisen – sancta simplicitas!“ (Typoskript, S. 34) Auch während der darauffolgenden Monate und Jahre seines Kriegsdienstes versuchte er, jüdische Feste und Gedenktage in irgendeiner Form zu feiern. Im Herbst 1916, bereits an der rumänischen Front, berichtet er in einer Notiz vom 27. September 1916 vom abermals wiederkehrenden jüdischen Neujahrsfest mit rührenden Worten: „[…] um sechs Uhr hielt ich in Anwesenheit von elf Glaubensgenossen den Neujahrsgottesdienst; ich betete vor, dann ermutigte ich mit ein paar Worten die Anwesenden zur Ausdauer. An der Spitze des 1550 Meter hohen Berges Dealul Negru beteten wir darum, dass das angehende Jahr 5677 den ersehnten Frieden für die ganze Menschheit bringen möge.“ (Typoskript, S. 70) Dass er selbst die Anleitung des Feldgottesdienstes übernahm, zeugt nicht nur von seiner Religiosität, sondern auch von der gründlichen Kenntnis der jüdischen Liturgie. Im letzten Satz der Eintragung merkte er an, dass er zum Anlass des jüdischen Festes alle Soldaten seiner Einheit mit Zigaretten und Obst beschenkte – auch diese Geste ist als ein Zeichen der Mitzwe, der jüdischen Wohltätigkeit, zu deuten. Bald darauf folgte das Fest des Jom Kippur, was gleichermaßen würdig begangen wurde. Am Vorabend zelebrierten sie mit den obligatorischen zehn Teilnehmern den Kol Nidre Abend, am Tag darauf wurde nochmals in Gemeinschaft mit den jüdischen Soldaten für den Frieden und die Erlösung der Menschheit von der Grausamkeit des Krieges gebetet. Seine Religiosität lebt Engel auch in privaten Räumen aus: „Ich war vor allem Kind meiner Religion. […] am Nachmittag hielt ich einen Solo-Gottesdienst. Bis abends um sechs hielt ich anständig das Fasten – schon zum 22sten Mal – dann aß ich zu Abend, mit gutem Appetit. Ich dachte viel an den Jom Kippur vor einem Jahr im jetzigen russischen Brody.“ (7. Oktober 1916, Typoskript, S. 71) Zur privaten religiösen Praxis gehört das regelmäßige Beten sowie das Studium der Bibel, wie eine Eintragung vom 7. Juni 1915 verdeutlicht: „Von unserem andächtigen Kaplan bat ich um eine Bibel, abends las ich im Buch Hiob.“ (Typoskript, S. 9) Engel blieb während seines Kriegseinsatzes stets gut informiert und war Mitarbeiter verschiedener Blätter. Er ließ sich die Neue Freie Presse und die Fünfkirchner ungarische Zeitung Pécsi Napló nachschicken, um den Kontakt zur zivilen Welt nicht zu verlieren. Aus diesen Zeitungen erfuhr er zum Beispiel vom Schicksal seines Neffen Paul, der sich in russischer Kriegsgefangenschaft befand. Er war schriftstellerisch tätig, wobei es sich meistens um regelmäßige Berichterstattungen an jüdische Zeitschriften handelte (z. B. Múlt és jövö, Egyenlöség), in denen er von seiner Kriegserfahrung als Jude schrieb. Am 11. Oktober 1915 erwähnt er die Zusendung eines Textes an die Zeitschrift Egyenlöség über die Feier des jüdischen Neujahres Rosh Hashana an der Front und berichtet wenige Wochen darauf vom Erhalt des gedruckten Artikels. Mehrmals erwähnt er, dass er verschiedene Texte für diverse Zeitschriften verfasst, wie zum Beispiel ein Gedicht unter dem Titel An Italien, in dem er auf den absehbaren Eintritt Italiens in den Krieg Bezug nimmt und das er von einem Professor Kurcz, einem Reserveoberleutnant, durchse-
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hen ließ: „Seit Tagen beschäftigt mich das Schreiben des Gedichtes Italien, in dem ich meine in den letzten Tagen angestauten Gedanken offenbarte.“ (28. Mai 1915) Wahrscheinlich war er nach dem Besuch der zurückeroberten Stadt Przemysl so beeindruckt, dass ein Aufsatz mit dem gleichen Titel entstand, wie eine Notiz vom 17. Juni 1915 belegt. Neben dem Schreiben genoss er es, in seiner Freizeit zu lesen. Mehrmals erwähnt er, wie gerne er Goethes Faust in die Hand nahm. Am 26. Dezember 1915 notierte er feierlich, mit welchem Genuss er Faust I zu Ende gelesen hatte. Einmal klagte er von einem mehrere Tage andauernden Darmkatharr, der ihm Anlass bot, Norman Angells Buch The Great Illusion in ungarischer Übersetzung zu lesen. Das damals populäre, gegen den Krieg verfasste Buch des späteren Friedens-Nobelpreisträgers (1933) wurde in der 8. Nummer der renommierten Literaturzeitschrift Nyugat von Melchior Lengyel rezensiert. Unter anderem schreibt er von Angell: „Zum humanen und klugen Standpunkt steht jener Herr am nächsten, der behauptet: wir sind in einer furchtbaren Gefahr, unsere Dummheit, unsere Erziehung, unsere Weltanschauung schüttete ungeheuer viel Schlimmes in unseren Hals.“17 Zur Freizeitgestaltung gehörten auch das Schachspielen und aktive Musizieren, er spielte bei Gelegenheit Klavier, und andere Offiziere hatten ihre Musikinstrumente auch dabei. Insgesamt bietet das Kriegstagebuch ein überzeugendes Beispiel für die Fortsetzung jenes Ethos des großbürgerlichen Geschäftsmanns, das vom Großvater Adolf Engel als Maßstab gesetzt wurde. Dieses Ethos kommt im Kriegstagebuch in alltäglichen Details zum Ausdruck: Die präzise Abrechnung und Auszahlung des Solds und die an den Tag gelegte Seriosität bei Anschaffungen von Materialien machen Gewohnheiten des zu Hause erfolgreichen Handelsmannes sichtbar. Ferner fallen das Selbstbewusstsein des Bürgers und sein Gerechtigkeitsgefühl im Umgang mit untergeordneten Soldaten auf. Der umfangreiche Briefwechsel mit Familienangehörigen, die Korrespondenz mit lokalen und nationalen jüdischen Presseorganen, das tägliche Lesepensum und die überlieferten Kommentare am Rande seiner Lektüre zeugen von einem gebildeten und trotzdem bescheidenen Großbürger. Robert Engel hat sich als selbstbewusster und gebildeter Citoyen nicht nur als Jude wahrgenommen,18 sondern sich inmitten der Grausamkeiten des Krieges als Humanist verhalten. Er war ein großformatiger Europäer, wobei er gleichzeitig seiner ungarisch-jüdischen Herkunft treu blieb. 17
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Lengyel, Menyhért: Norman Angell: Rossz üzlet a háború. [The Great Illusion, 1910] http:// epa.oszk.hu/00000/00022/00172/05527.htm (17. 04. 2012). 1910 veröffentlichte der britische Pazifist Norman Angell sein in kurzer Zeit in 22 Sprachen übersetztes Buch Die große Illusion, in dem er erklärte, der Krieg sei ökonomisch unsinnig und werde deshalb aus der Mode kommen. Schweitzer, Gábor/ Baiersdorf, Christof: Egy pécsi zsidó nagypolgár feljegyzései. Jánosi Engel Róbert Hadinaplója (1915–1917) [Das Kriegstagebuch von Róbert Jánosi Engel]. In: „A szívnek van két rekesze“. Tanulmánykötet Prof. Dr. Schweitzer József tiszteletére, 90. születésnapja alkalmából [„Das Herz hat zwei Kammern. Studien zu Ehren von Prof. Dr. József Schweitzer zu seinem 90. Geburtstag]. Hg. v. Kornélia Koltai. Budapest 2012, 505–521, hier 520.
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Péter Varga
Das Kriegstagebuch präsentiert das Beispiel eines nicht-institutionalisierten Gedächtnisses, und gerade in der beliebigen und unorganisierten Form der Erinnerung liegt sein genuiner Charakter. Als privates Zeugnis von Zeitgeschehen informiert es über Identitäten und Zugehörigkeiten, aber auch über individuell zugeschnittene Prioritäten und Zielsetzungen, sodass es aus dem Kriegsalltag heraus ein einzigartiges und doch beispielhaftes Lebensumfeld jener Zeit rekonstruiert.
SPIEGEL UND SELBSTGESPRÄCH Die Kriegstagebücher des Siebenbürgers Otto Folberth (1896–1991) Horst Schuller Der aus der siebenbürgischen Kleinstadt Mediasch/Mediaş (Rumänien) stammende, im österreichischen Salzburg im 96. Lebensjahr verstorbene Otto Folberth ist breiten Kreisen als Herausgeber einer sechsbändigen Werkausgabe der Schriften von Stephan Ludwig Roth bekannt, einer bedeutenden Symbolgestalt des siebenbürgischen Vormärz, einer Persönlichkeit von europäischem Rang. Kein Geringerer als Theodor Heuss,1 der deutsche Bundeskanzler, würdigte und unterstützte diese Roth-Forschungen. Folberth veröffentlichte außerdem eine Fülle essayistisch-publizistischer Aufsätze, die nicht nur die spezielle Roth-Forschung betreffen, sondern in so unterschiedliche Bereiche wie Regionalgeschichte, bildende Kunst, Theologie, Politik, Ethnologie und Anthropo-Geografie führen. Nach Universitätsstudien (Germanistik, Französisch, Theologie, Philosophie) in Budapest, Berlin, Heidelberg und Klausenburg/Cluj sowie einem Semester an der École Roumaine en France in Paris unterrichtete er am Mediascher Gymnasium und beteiligte sich am kulturellen und literarischen Leben mit Beiträgen für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (Ziel, Klingsor), mit deutsch-magyarisch-rumänischen Kontaktveranstaltungen, durch Vorträge, Lesungen, die Förderung eines lokalen Bühnenvereins und durch die Einrichtung der Deutschen Buchgilde in Rumänien. 1922 wurde er an der Klausenburger Universität zum Dr. phil. promoviert. Die Vielfalt der Beschäftigungen entsprach der Vielfalt der Forderungen und Herausforderungen des Tages, denen er sich, mit dem Risiko der Verzettelung, weder in der siebenbürgischen Heimat noch später in der Emigration nach 1947 verschloss. In Sekundärquellen zu Folberths Person und vielseitigem Wirken2 wird er je nach Zusammenhang als Dr. phil., [Gymnasial-] Professor, Schulrektor, Pädagoge, Publizist, Schriftsteller, Roth-Forscher,3 Privatgelehrter, Historiker, Kul tur1 2 3
Folberth, Otto: Erinnerungen an Altbundespräsident Dr. Theodor Heuss †. In: Siebenbürgische Zeitung 1, 15.01.1964, 1–2. Schriftsteller-Lexikon der Siebenbürger Deutschen. Bio-bibliographisches Handbuch für Wissenschaft, Dichtung und Publizistik. Begründet von Joseph Trausch, fortgesetzt von Friedrich Schuller und Hermann A. Hienz, Bd. VI, D-G. Köln, Weimar, Wien 1998, 93–99. Bei Herman Roth, den Folberth als Mitarbeiter des Kronstädter „Ziel“ und aus Begegnungen während der Studienzeit in Berlin kennen, als Herausgeber einer Lyrik-Anthologie im Programm der Buchgilde schätzen gelernt hatte, heißt es in seinem von Humor geprägten Brief vom 10. Februar 1947 an Heinrich Zillich (1898–1988) über die siebenbürgischen Freunde, darunter auch über Otto Folberth und dessen notorisches Dauer-Forschungsthema: „Was wir Freunde hier machen? Folberth Otto, jetzt nur noch Schwiegersohn [von Lederfabrikant Samuel Karres], in der eigenen Familie noch immer etwas boshaft mit dem Namen Stefan Ludwig
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historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter (des Österreichischen Forschungsinstituts für Wirtschaft und Politik), Institutsleiter, Chefredakteur, ehrenamtlicher Sekretär (der österreichischen Sektion der Forschungsgruppe für Flüchtlingsfragen), Kulturreferent, korrespondierendes Mitglied der südostdeutschen historischen Kommission usw. geführt. Weniger bekannt als seine Herausgebertätigkeit ist heute außerhalb der Fachkreise sein belletristisches Werk: ein Gedichtband (Sterne im Tag) im Selbstverlag und mehrere von Erlebnissen an der Front des Ersten Weltkriegs angeregte, wiederholt nachgedruckte Erzählungen (Genezareth, Ein Musketier in Siebenbürgen, Der Meierhof von Urlow, Die Garde sowie 1 Geschütz, 16 Pferde, 20 Mann. Geschichte einer siebenbürgischen Kameradschaft). Diese Kriegs-Prosa steht, literaturhistorisch positioniert, in Rumänien im thematischen und generationsbedingten Kontext4 von Veröffentlichungen der deutschsprachigen Siebenbürger Schriftsteller Erwin Wittstock, Erwin Neustädter, Heinrich Zillich, Bernhard Capesius bzw. der Banater Otto Alscher, Zoltan Franyó und Franz Xaver Kappus. NICHT PUBLIZIERTE TEXTE UND TAGEBÜCHER VON FOLBERTH Erst 2013 wurde der den Zweiten Weltkrieg und die Flüchtlings- und VertriebenenProblematik in den Nachkriegsjahren thematisierende Roman Das Stundenglas (1953) veröffentlicht, für den der Verfasser 1955 den Preis des Südostdeutschen Kulturwerkes München erhielt.5 Unveröffentlicht blieben die Tagebuchnotizen Folberths, die er ab Juni 1911 (als Vierzehnjähriger) festzuhalten begann und erst im hohen Alter (im März 1990) abschloss.6 Es handelt sich um einen Textkorpus von insgesamt 58 Heften. Im Schülermilieu des humanistischen Gymnasiums war das Anlegen von Tagebüchern und Schreiben von Gedichten keine Seltenheit. Folberth las Freundinnen
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Folberth charakterisiert.“ Zitiert wurde nach einer maschinenschriftlichen Kopie des Briefes, die sich im Nachlass von Karl Kurt Klein (im Archiv des Siebenbürgen-Instituts in Gundelsheim/Neckar) befindet. Anfang August 1947 verließ Folberth Rumänien, da er nach dem II. Weltkrieg mehrere Male für kurze Zeit und dann sechs Monate lang im Lager von Caracal aus politischen Gründen inhaftiert worden war und weitere Repressalien fürchten musste. Schuller Anger, Horst: Kontakt und Wirkung. Literarische Tendenzen in der siebenbürgischen Kulturzeitschrift „Klingsor“. Siehe besonders das Kapitel Geschichten und Geschichte, 92–96; Thullner, Barbara: Otto Folberth. In: Die rumäniendeutsche Literatur in den Jahren 1918–1944. Hg. v. Stefan Sienerth/Joachim Wittstock. Bukarest 1992, 233–237. Eine Kostprobe unter dem Titel Ein Buch über Flucht, Deportation und Verfolgung Deutscher aus Rumänien war bereits in der Kronstädter Zeitschrift Karpatenrundschau erschienen (Kronstadt/Braşov), Nr. 35, 2.09 2010, III. Der Roman Das Stundenglas (mit einem Nachwort und Anmerkungen von Horst Schuller) erschien im Schiller Verlag Bonn-Hermannstadt, 2013. Bearbeitete Tagebuchaufzeichnungen über Kindheitserlebnisse der Söhne von Folberth sind wie folgt erschienen: Geschichten von Peter und Paul. In: Kalender des Siebenbürgischen Volksfreundes. Hermannstadt: Krafft & Drotleff A. G. 1931; Neue Geschichten von Peter und Paul. In: Kalender des Siebenbürgischen Volksfreundes. Hermannstadt: Krafft & Drotleff A. G. 1933.
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Gedichte und Tagebuchaufzeichnungen vor und erhielt Einblick in deren Tagebücher. Für den Beginn und vor allem für die durchgehaltene Weiterführung dieser Beschäftigung mag zusätzlich auch stolze Geschlechtertradition eine Rolle gespielt haben. Aus dem Tagebuch des berühmten Vorfahren Michael Conrad von Heydendorff (des Älteren) wurde abends im Familienkreis vorgelesen. Samuel Conrad, der 1690 als deutscher Reichsritter in den Adelsstand erhoben wurde, der Urvater derer von Heydendorff, war der Großvater des berühmten siebenbürgischen Gubernators Samuel von Brukenthal. Es war Otto Folberth im Alter ein besonderes Anliegen, auch die Handschrift von Michael Conrad Heydendorff dem Jüngeren, ein bedeutendes Generations- und Zeitdokument, in Buchform herauszubringen.7 Dreizehn (im Schnitt 27 Seiten umfassende, die Zeitspanne 1914 bis 1919 widerspiegelnde) Hefte von Folberths Tagebuchaufzeichnungen, mit denen wir uns näher befassen wollen, stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit Folberths privaten und militärischen Erfahrungen an der südgalizischen Front im Stellungskrieg gegen die Truppen des russischen Zars. Folberth hätte sich, wie man aus den Tagebüchern erfährt, gern wie ein erfahrungshungriger und abenteuernder Parzival an unterschiedlichen, auch durchaus dramatischeren Frontabschnitten gesehen, wie zum Beispiel in Italien. Diese von Folberth so genannten Kriegstagebücher, noch nicht genutzte Quellen über die Front im Osten und Südosten,8 haben einen hohen Stellenwert als 7
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Heydendorff, Michael Conrad von: Unter fünf Kaisern. Tagebuch von 1786–1856 zur siebenbürgisch-österreichischen Geschichte. Herausgegeben, bearbeitet, mit einem Vorwort und Anmerkungen versehen von Otto Folberth und Udo Wolfgang Acker. München 1978. (=Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerkes. Reihe C: Erinnerungen und Quellen. Herausgegeben von Anton Schwob, Band 6). Die fünf österreichischen Kaiser waren: Joseph II., Leopold II., Franz II. (ab 1806 Franz I.), Ferdinand I., Franz Joseph I. Den literarischen Quellen in rumänischer (Ioan Missir, Camil Petrescu) und deutscher (Gustav Sack, Hans Carossa) Sprache ging Ovid S. Crohmălniceanu nach. Vgl. den Aufsatz Berichte deutscher und rumänischer Schriftsteller von der rumänischen Front im Ersten Weltkrieg. In: Rumänisch-deutsche Interferenzen. Akten des Bukarester Kolloquiums über Literatur- und Geistesbeziehungen zwischen Rumänien und dem deutschen Sprachraum vom 13.–15. Oktober 1985. Hg. v. Klaus Heitmann. Heidelberg 1986, 129–146. Diese Quellenhinweise können mit Veröffentlichungen in deutscher Sprache bzw. in deutscher Übersetzung ergänzt werden: Isac, Emil: Ein rumänischer Soldat. In: Ungarische Kriegs-Novellen und Skizzen. Herausgegeben und übertragen von Stefan J. Klein, Heilbronn 1915; Franyó, Zoltán: Bruder Feind. Wien 1916. [Ungarische Fassung: A kárpáti harcakról. Budapest 1915]; Rebreanu, Liviu: Itzig Strul, der Deserteur. Ins Deutsche übertragen von Konrad Richter. In: Kronstädter Zeitung Nr. 35, 36, 37, 38, (1929). Unter dem Titel Itzig Strul, Deserteur wurde Rebreanus Erzählung (ohne Angabe des Übersetzers) in der Zeitschrift Rumänische Rundschau Nr. 2, 1958 veröffentlicht. Die gleiche Erzählung erschien in anderen Übersetzungen auch in den Bänden Alltägliche Geschichten. Aus dem Rumänischen von Egon Weigl. Bukarest: Espla 1960; Die Waage der Gerechtigkeit. Aus dem Rumänischen übertragen von Lieselotte Losano und Egon Weigl. Leipzig: Reclam jun. 1963 und 1977; Der Tod der Möwe. Rumänische Erzählungen des kritischen Realismus. Ins Deutsche übertragen von Ludwig Zenker. Hg. von J. P. Molin. Nachwort und biographische Notizen von Irina Weigl. Berlin: Der Morgen 1963; Die schwarze Truhe und andere rumänische Erzählungen. Auswahl und Redaktion Edith Horowitz-Silbermann und Michael Rehs. Übersetzung von Itzig Struhl, Deserteur
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subjektive Zeitzeugnisse, aber vor allem auch als aufschlussreiche Selbstzeugnisse für den intellektuellen Werdegang des Autors Folberth, selbst wenn es in Intention und Realisation keine ausschließlich literarischen Aufzeichnungen, sondern Tagebücher synkretischen, gemischten Inhalts sind. Wenn wir uns hier nun auf literarische Ansätze beschränken und kriegspolitisch-militärisch-ideologisch-philosophisch-religiöse Themen ausklammern wollen, lassen sich im Tagebuch folgende Inhalte und Formen finden: mal flüchtig, mal konzentriert fest gehaltene Leseeindrücke, dann anregende, d. h. Bestätigung oder Widerspruch herausfordernde Zitate, Merksätze, Protokolle klärender Gespräche mit Kameraden, aber auch mit ukrainischen, polnischen und ungarischen Zivilpersonen, weiter Gedichtentwürfe, anschauliche Landschaftsschilderungen, Reportagen, Berichte, Charakterskizzen, Gedankensplitter, Briefe an Eltern und Freunde. Außerdem sammelte Folberth im Tagebuch, fasziniert von präzisen Fachsprachen bzw. formelhaften Wendungen, so genannte „Urkunden des Krieges“, d. h. nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich interessante Zeitungsartikel, die das jeweilige Schlachtgeschehen kommentierten, offizielle Kundmachungen, Tagesbefehle, aber auch Soldatenbriefe, Soldatenlieder9, anonyme Wandsprüche10. Immer wieder finden sich sowohl von eigener Anschauung, von persönlichen Fremdheitserlebnissen als auch von entsprechender Lektüre genährte physiognomische Vergleiche, die sich, manchmal auch nur als Schattenriss, auf Landschaften, Charaktere11, Stadtpsychen, Menschengruppen, Truppenteile, Völkerschaften und deren Verhaltensweisen beziehen. Als Kind einer historisch gewachsenen plurikulturellen Region war ihm das Phänomen der Differenz der Normalfall. Die Vielvölkerarmee der k. und k. Doppelmonarchie war Spiegel dieser Verhältnisse und die Verlängerung dieser Normalität. Freilich war Folberth sich darüber im Klaren, dass nicht alle Völkerschaften politisch in gleichem Maße zur doppelten Loyalität, nämlich einerseits zum gemeinsamen Staat und andererseits zur eigenen Nation bereit waren. In der Beurteilung von Differenz versuchte Folberth, das Philo- und Anti-Schema, das von subjektiver Sympathie oder Antipathie gefärbte Muster bewusst zu durchbrechen und das Bezeichnende kollektiver Mentalitäten von der Analyse des widervon Egon Weigl. Tübingen und Basel: Horst Erdmann Verlag 1970; Rebreanu, Liviu: Der Wald der Gehenkten. Aus dem Rumänischen von Erast Carabăţ. [Era Cara?] Czernowitz: Der Tag 1932; Ders.: Der Wald der Gehenkten. Roman. Aus dem Rumänischen von Valentin Lupescu. Berlin/Bukarest: Volk und Welt/Meridiane, 1966; Rosenkranz, Moses: Kindheit. Fragment einer Autobiographie. (=Texte aus der Bukowina, Bd. 9) Hg. v. George Guţu unter Mitarbeit von Doris Rosenkranz mit einem Essay von Mathias Huff. Aachen 2001; Hajdú, FarkasZoltán: Tür nach Osten. Aufzeichnungen und Geschichten. München 2008; Reich, Carl: Wie der Krieg auch zu uns kam. Tagebuch 1916. Kerzer Chronik, Schriften, Briefe. Mit zwölf Illustrationen (=Kerzer Hefte). Hg. von Friedrich Schuster. Hermanstadt/Sibiu 2011. 9 Vgl. Das Lied von den Orden mit dem Refrain „Von vorne kommt der Kugelregen,/Nur hinten ist der Ordens-Segen“. In: Zweites Kriegstagebuch, 19. November 1915, 10. 10 „Fühlst du vor Bomben dich nicht firm, im Vorraum steht ein Regenschirm!“ In: Zweites Kriegs tagebuch. 24. Dezember 1915, 11. 11 Otto Folberth notierte: „[Um] an diesen kleinen Arbeiten verschiedenster Art, besonders aber an kurzen Charakterzeichnungen das Leben und die Menschen mit offenen Augen sehen zu lernen. Ich denke dabei an eine Art geistiger Anatomie“. In: Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 27. August 1919, 25.
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sprüchlichen Einzelfalls abzuleiten. Er wusste um die Fragwürdigkeit vorschneller imagologischer Verallgemeinerungen. Bestätigung holte er sich auch aus der Lektüre von Schopenhauers Über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, aus dessen Schrift er zitierte: […] nicht in der Weltgeschichte […] ist Plan und Ganzheit, sondern im Leben des Einzelnen. Die Völker existieren ja bloß in Abstrakta: die Einzelnen sind das Reale. Daher ist die Weltgeschichte ohne direkte metaphysische Bedeutung, sie ist eigentlich bloß eine zufällige Konfiguration. [Siebentes Kriegstagebuch, 25. Oktober 1917, Seite 6]
Zwei Jahre später fällt die sinngleiche Äußerung noch konkreter aus: „Man fällt moralische Urteile über Völker, über soziale Klassen und dürfte es doch eigentlich nur über Einzelne tun.“ [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 13. September 1919, Seite 3] Aus dieser Einsicht wie auch aus arbeitsökonomischen Gründen, d. h. durch die während der Kriegeshandlungen nicht kontinuierlich möglichen Schreibprozesse erklärt sich eine bestimmte Vorliebe Folberths für die operative Form der knappen Charakterzeichnung. Indem er diese Entscheidung reflektiert, fließen Überlegungen ein über die Historizität des beschreibenden Betrachters und über Dauerhaftigkeit und Veränderung in der Entwicklung von Identitäten: Ist das Glück des Menschen nicht immer nur von kurzer Dauer? Denn was lange dauert, also uns gewohnt und alltäglich geworden ist, kann man das als Glück bezeichnen? Es muss immer neu für uns, unbekannt und jungfräulich sein, und muss uns überfallen wie ein Sturmwind, wie das erste, ungeahnte Frühlingsgewitter den dürstenden Wald – das große Glück. Deshalb sind die sehnsüchtigen, suchenden Menschen dem Wechsel unterworfen, dem Wandern und Abschiednehmen, Bauen und Niederreißen und man wundere sich nicht, wenn sich einer einmal gelegentlich in sein Gegenteil verwandelt. Gibt es nicht viele, die aus fleißigen Menschen faule, aus ehrlichen unehrliche, aus pedantischen unordentliche geworden sind? Gibt es nicht – gefährliche, aber fürwahr nicht zu verachtende – Leute, die ihre Farbe wie ein Chamäleon wechseln? Ich meine nicht diejenigen, die ihren Mantel nach dem Winde hängen, sondern die das Kleid tragen können, das sie wollen und was sie verdecken und verwandeln ist doch immer nur eins. Ich lobe mir, die diese Grundfarbe haben und hatten – und aus reichem, farbigem Grunde schöpfen. [Siebentes Kriegstagebuch, 5. Oktober 1917, 3]
Einen größeren Raum (als später in den eher gefestigten Jahren nach dem Krieg) nehmen anfangs kritische Bilanzen und Selbstvergewisserungen zu (ethnischen, politischen, sozialen, ethischen, musischen, erotischen) Identitätskomponenten, zu eigenen Charakterschwächen und -stärken ein. Diese selbsterzieherischen Betrachtungen helfen dem Autor, Schwerpunkte und Prioritäten für seine Zukunftspläne und die spätere Berufsausrichtung zu klären. Anfangs schwankte Folberth – der sich für Naturwissenschaften, Messverfahren, Kartenlesen, Fotografie, Ballons, Radiotelegraphie, Naphtaheizung, Flugzeuge, Erfindungen aller Art interessierte – noch zwischen einem technischen und philologisch-pädagogischen Beruf. Selbstverständlich schlägt das Kriegserlebnis sich nicht nur parallel, sondern auch als Nachklang zum unmittelbaren Zeitgeschehen in den Tagebüchern aus der Periode zwischen 1914 bis 1919 nieder. Begegnungen mit Generationskollegen und Freunden, die an anderer oder an der gleichen Front gekämpft haben, Rückblicke und Einschätzungen beschäftigen Folberth weiter, sie werden fremdperspektivisch auch in den Tagebüchern nach dem Krieg aufgezeichnet. Während seiner Studien-
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zeit in Berlin sucht er, private Vermittlung nutzend, zum Beispiel den deutschen General von Falkenhayn auf, um sich in einem Gespräch über die Schlacht und den Sieg von Hermannstadt aus erster Hand zu dokumentieren. In Friedenszeiten, aber dann wieder Jahrzehnte später, in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, den Folberth als Kriegsberichterstatter in der rumänischen Armee erlebte, suchte er neugierig einige östliche Schauplätze aus dem Ersten Weltkrieg wieder auf. Über den rumänischen Theißfeldzug gegen die Räterepublik in Budapest, an dem Freunde von Folberth, er selbst aber nicht mehr beteiligt war, schrieb er mit großem Zeitabstand ausführlich erst nach dem II. Weltkrieg. FUNKTION DER TAGEBÜCHER AUS AUTORPERSPEKTIVE Dank dieser Tagebücher12 lassen sich erwartungsgemäß biographische Details aus Folberths Lebensweg genauer rekonstruieren, und anhand der enthaltenen literarischen Proben (es handelt sich um Gedichte, Beobachtungen, Beschreibungen, erzählende Passagen, Charakterisierungen, Entwürfe) lassen sich auch Folberths Reflektionen und gestalterische Mühen auf dem schöpferischen Weg vom Rohstoff zum künstlerisch gültigen Text besser einschätzen. Die belletristischen Zeugnisse, für die es Werkstatt-Notate sowie Vorformen in den hier zu untersuchenden Tagebüchern gibt, wurden erst in der Zwischenkriegszeit veröffentlicht. Wollte man eine Textanthologie mit literaturnahen Beispielen aus diesen Tagebüchern zusammenstellen, ließen sich folgende Themenbereiche überlegen: Regionale Lebensformen, Typen und Charakterköpfe (Oberleutnant von Bágya, Der Bursche János, Der liebende Ungar, Hauptmann Müller, Der Professor, Das Mädchen Iliena, Herr Rosenauer, Großvater), Mentalitäten und Kollektivphysio gnomien (Deutsche, Juden, Polen, Rumänen, Russen, Tschechen, Ukrainer, Ungarn), Kriegsbilder und Kriegsstimmungen, Natur- und Städte-Landschaften, Sprachdokumente des Kriegs, Liebesbegegnungen, Sehnsucht nach Frieden und Beständigkeit (Hütten und Türme). In einer Tagebuchnotiz vom 11. Mai 1980, also im Alter von 83 Jahren, nennt Folberth den pragmatischen Grund für sein Notieren: Er schreibe auf, „[…] um wichtigste Gedächtnisstützen zum Nachschlagen zu besitzen.“ In jungen Jahren fallen die Begründungen und Zielsetzungen ausführlicher, rhetorischer und mit mehr innerer Beteiligung aus. Versuchen wir nun, Schritt für Schritt, Folberths Äußerungen über die zugedachte Aufgabe seiner Tagebuchaufzeichnungen in chronologischer Folge zu überblicken und auf die Schreibumstände (wie Ort, Zeit, Veranlassung, Häufigkeit) und 12 Sie sind nun im Folberth-Nachlass zugänglich, aufbewahrt im Archiv des Siebenbürgen-Instituts in Gundelsheim/Neckar und in einer über Internet einsehbaren digitalen Kopie des Sohnes Paul Joachim Folberth, der die Hefte als „Bände“ bezeichnet, wobei Band 00 die „[…] Ersten Anmerkungen“, 1911–1915, des Schülers Folberth enthält. Vgl. den von Horst Schuller eingeleiteten Abdruck aus Otto Folberths Kriegstagebüchern. In: Spiegelungen, H. 3, Jg. 7(61) (2012), 279–294.
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die Funktion der Notate (als Gedächtnisstütze, Erlebnisprotokoll, Erfahrungsspeicher, Formulierungsvorrat, auferlegte Selbstdisziplinierung, Schreibübung) für den Autor einzugehen. Nach einer Gedenkfeier vor Stephan Ludwig Roths Grabstein am 11. Mai 1912 im Schülergarten notierte der beteiligte Gymnasialschüler Folberth: Äußerlich zeugen überhaupt nur die schmutzigen Schuhe und das Eichenzweiglein auf meiner Kappe, das ich mir von der Girlande gepflückt, davon, dass ich heute irgendwo gewesen bin, etwas erlebt habe. Aber innerlich erlebe ich auch jetzt noch. Denn die Erinnerung und Ehrung dieses großen Sachsen, dem ich durch Franz Oberths Werk13 bedeutend näher getreten bin, ergreift einen doch ein wenig. Sind wir Stephan Ludwig Roth würdig? Fürwahr nein. Aber wir wollen es werden. Auf diesen Mann will ich bauen. Mit den Aufzeichnungen seiner Ehrung durch den Coetus Mediensis will ich mein Tagebuch beginnen. [Erste Aufzeichnungen, 11. Mai 1912, 5]
Das klingt nach entschiedenem Auftakt und Versprechen. Und in der Tat ist es nicht bloß ein pathetisches, sondern ein prophetisches Versprechen, hat doch Folberth sich mit der Vorbildfigur St. L. Roth (1796–1849) ein Leben lang beschäftigt. Im gleichen Heft finden sich außerdem noch Aufzeichnungen über Fußwanderungen (in die heimatliche Landschaft nach Birthälm/Biertan und Schäßburg/ Sighişoara), über Berg-Ausflüge auf die Negoi- und Prejba- Spitzen sowie über die Schulreise in die damalige Landeshauptstadt Budapest sowie zu den Sehenswürdigkeiten (wie Eishöhle oder die Fünf Seen) im Tatragebirge. Aber es ist eigentlich noch kein Heft mit täglichen Eintragungen, kein Tagebuch im strengen Sinne des Wortes. Ein solches wird am ersten Tag des neuen Jahres 1913, also so zu sagen im zweiten Anlauf gestartet. Ich wünsche mir, dass ich in Zukunft mehr Stoff und mehr Lust habe zu schreiben als heute, denn dieses ist nur Formsache. […] Ich muss einmal beginnen. Schon sehr oft habe ich ein Tagebuch vermisst und deshalb habe ich schon lange den Gedanken gehabt, mir eins anzulegen. Ich wusste aber nie, mit welcher Aufzeichnung ich beginnen sollte, mit welchem inneren Erlebnis oder mit welcher inneren Entwicklung. Da ist es doch am einfachsten, ich fange mit was Äußerlichem, mit dem 1. Januar 1913 an. Dieses Tagebuch richte ich mir aus mehrfachem Grund ein. Vor allen Dingen soll es mir mein bester Freund oder die Widerspiegelung meines eigenen Ichs sein. Ich soll mir […] mein Herz ausschütten können, ob aus Freude, ob aus Leid, ich soll mir hier Fragen, die nur mich etwas angehen, vorwerfen [aufwerfen] und erwägen können. Vielleicht entsteht manchmal auch eine kleine Novelle oder ein Gedicht, das weiß ich aber alles selbst noch nicht. Und schließlich werden diese Aufzeichnungen auch der Entwicklung meines Stiles zugute kommen, der noch an vielen Stellen hapert. Vor allen Dingen möchte ich viel rascher und leichter schreiben können als jetzt. Welchem von diesen Zielen ich am meisten näher kommen werde, werde ich ja, wenn ich fleißig bin, bald schauen. Im übrigen habe ich mir keineswegs vorgenommen, jeden Tag Aufzeichnungen zu machen. Ich schreibe nur dann, wenn ich ein Bedürfnis danach habe. [Erste Aufzeichnungen, 1. Januar 1913, 10]
Diesem Bedürfnis folgte er zum Beispiel am 5. April 1914, als er im Mediascher Wochenblatt – es war seine erste Publikation überhaupt – eine Besprechung zur 13 Der auch schriftstellerisch tätige Lehrer und Pfarrer Franz Oberth (1828–1908) brachte 1896 die erste ausführliche Biographie von St. L. Roth heraus, die in einer populären Buchreihe erschien.
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Aufführung Die verlorene Braut (des „Bauerndichters“ Johann Fronius) veröffentlicht hatte. Selbstbewusst verzeichnete er diesen, seiner Meinung nach gelungenen, „[…] ersten Versuch, die öffentliche Meinung zu beherrschen […]“ [Erste Aufzeichnungen, 5. April 1914, 21]. Der ereignisreiche Sommer 1914 bringt Matura, Griechenlandfahrt und kurze Ferien bis zum Kriegsausbruch. Auf der Griechenlandfahrt hört er zum ersten Mal in Gesprächen mit Prof. Hans Hermann Gedichte von Rainer Maria Rilke, den er zunächst für eine Poetin hält. Reise und Gespräche schlagen sich in Gedichten nieder: Mein Tagebuch habe ich dennoch nie vergessen. Auf der Hellasfahrt allein habe ich im Ganzen ca. 90 Seiten Brieftaschenformat geschrieben. Und um einiges daraus im Schnellen zu übertragen, führe ich diese drei kleinen Gedichte an, die ich so während dem Reisen ersonnen habe. Sie sollten eigentlich zu Hause noch eine Umdichtung erfahren, die Ereignisse jedoch ließen es nicht dazu kommen. [Erste Aufzeichnungen, 31. Juli 1914, 23]
An Folberths 18. Geburtstag erfolgte die allgemeine Mobilmachung. „Der König hat gerufen –ich folge willig und gern“ [Erste Aufzeichnungen, 31. Juli 1914, 22]. Am 2. Juni 1915 befand Folberth sich in Hammersdorf/Guşteriţa bei Hermannstadt zur Ausbildung als Artillerie-Unteroffizier. Hier begann er ein neues Heft, dem er als Selbstermahnung gegen Ungeduld ein Zitat aus König Oedipus von Sophokles als Motto voranstellte: „Verachte nicht gelebte Jahre! Sie sind alles, was uns bleibt.“ Die unmittelbare Frage an dieses neue Heftchen drängt sich mir auf: werde ich dich endlich einmal dazu benützen können, wozu ich dich gekauft, von dem ich solange geträumt, werde ich in dir schöne und grausame, ungewöhnliche Augenblicke festhalten können, meinen Krieg? Werde ich das? Wirst du wie dein Vorgänger das Blatt meiner Seele werden? [1] Ich habe das Gefühl, dass es um jede Minute schade ist, die ich hier verbringe. Ich habe das Gefühl, dass ich so unendlich viel schon versäumt habe und immer mehr und mehr versäume, mein Leben besteht aus einer einzigen großen Sehnsucht – endlich einmal hinaus zu kommen an die Front, an den belebtesten, heiß umstrittensten Frontabschnitt, in den größten Kugelregen. [Erstes Kriegstagebuch, 2. Juni 1915, 2]
Am 11. August des gleichen Jahres rückt er pflichtgemäß als Einjährig-Freiwilliger ein, zwei Wochen später sieht er die ersten Toten an der Front und notiert: „In der Nähe des Todes lernt man erst das Leben werten […]“ [Erstes Kriegstagebuch, 28. August 1915, 1]. Über die Funktion des Tagebuchs heißt es: Und wenn ich die ersten Blätter dieses Tagebuches lese, mit seinem regen Phantasiespiel und seinen Reflexionen über die Zeit, so muss ich nur sagen, dass ich doch auch so, in den einfachen Schilderungen einen Almanach über ein Stück Leben schreibe. [Erstes Kriegsagebuch, 12. September 1915, 18]
Zu diesem Leben an der Ostfront des Stellungskriegs gehört der Anblick zerstörter Siedlungen, gehören zusammengeschossene Kirchen, eine zurückgebliebene Alte mit einem vorläufig geretteten Kalb am Strick, Stroh auf den Parketten des herrenlosen Herrenhauses, Klavierspiel im Nebenraum des Stabsquartiers, aber auch ein opulentes Mittagessen mit Weinsuppe, Schweinefleisch und Mehlspeise. Und abends gibt es für die Offiziere gebratene Hühner und Champagner. Folberth ist von der Gefräßigkeit mancher Offiziere angewidert, findet die Bezeichnung „Frontschwein“ für dergleichen Militärs als berechtigt und versucht, im Programm seiner auf allgemeine Enthaltsamkeit gerichteten Selbsterziehung mit vegetarischer Kost
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und Fasten auszukommen. Eine weniger üppig verpflegte Mannschaft schleppt Honig in Essschalen und Tränkeimern aus einem Imkerhäuschen heran oder buddelt Kartoffeln aus. Den Krieg – für Folberth wie für viele Zeitgenossen14 in Europa, ein zunächst nicht in Frage gestelltes Grenzerlebnis, ein Umwerter aller Werte, eine Gelegenheit zu männlicher Bewährung und zu gesteigerter Lebensintensität – verstand Folberth als eine unumgängliche Stufe und keineswegs als letzten Sinn seiner CharakterEntwicklung. Weltanschaulich dichtungsphilosophisch stand Folberth anfangs, wie die meisten seiner Generationsgenossen, ganz unter dem gedanklichen und sprachlichen Einfluss von Friedrich Nietzsche, den berühmte Leser (wie Gottfried Benn) und moderne Exegeten (wie Domenico Losurdo) als „das größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte“ bzw. als „aristokratischen Rebell“ bezeichnet haben.15 Von der Kriegspropaganda begünstigte nationalistische, kriegsaffirmative Hasstiraden, „eine der hässlichsten Gefühlsäußerungen unserer Presse“ waren ihm zuwider und eines „gebildeten objektiven Kulturmenschen“ [Erstes Kriegstagebuch, 11. November 1915] nicht würdig.16 Der Dienst in der österreichisch-ungarischen Armee, einem Völkergemisch an sich, führte an den Frontabschnitten zu Begegnungen mit bewunderten, skeptischen, aber auch korrupten Vorgesetzten, mit verbündeten deutschen Truppen, mit türkischen Kameraden. Relativ geborgen fühlte sich Folberth, der junge Fähnrich, Kadett, Leutnant und spätere Oberleutnant in Reserve, inmitten seiner Mannschaft, denn „ich weiß, dass jeder tut, was in seiner Kraft ist. Ich habe Sachsen, Ungarn und sogar einen Juden in der Mannschaft, aber das Zusammenleben und -arbeiten derselben ist mustergültig“ [Erstes Kriegstagebuch, 12. September 1915, 19]. Die behauptete Solidarität ist hier nicht ein gängiger Topos von Frontliteratur, sondern spezifische Realität friedlicher pluriethnischer Erfahrung. Das genau wiedergegebene Weihnachtsmenü für Offiziere ist „fast wie zu Hause am Heiligen Abend: Kaltes Schweinefleisch, Schnitten, Butter, Sulze, Ma14 Diese Einstellung gleicht jener der Generationsgenossen. Martin Freud (1889–1967), der älteste Sohn von Sigmund Freud, charakterlich als Hasardeur bezeichnet, schreibt an seinen Vater, als der Erste Weltkrieg beginnt: „Ich freue mich übrigens, seit ich Soldat bin, aufs erste Gefecht wie auf eine spannende Hochtour (in den Alpen).“ Vier Jahre später ist er ernüchtert. Jetzt heißt es: „Mitgemacht habe ich wieder Fürchterliches, sowohl an Gefahr als ganz besonders an Mühsal und Strapazen.“ Zitiert nach Nitzschke, Bernd: Lieben muss gelernt werden. Rezension zu Sigmund Freud: Unterdeß halten wir zusammen. Hg. v. Michael Schröter. Berlin 2010. In: DIE ZEIT, 27. Mai 2010, Nr. 22, 56. In Freuds Briefen an seine erwachsenen Kinder kann man jetzt nachlesen, wie der Erforscher der Kindheit seine Familie zusammenhalten wollte. 15 Vgl. Lohmann, Hans-Martin: Branntwein und Christentum. Diese Studie setzt Maßstäbe: Domenico Losurdo deutet den Philosophen Friedrich Nietzsche neu. In: DIE ZEIT 27, 1.07.2010, 48. 16 Umso mehr begrüßte Folberth den von Dr. K.[arl] H.[och] gezeichneten sachlichen Leitartikel Volksbewusstsein und Humanität im Siebenbürgisch Deutschen Tageblatt Nr. 12775, 6.11.1915, 1. In der gleichen Tageszeitung, in der übrigens auch Diskussionen über das „Mitteleuropa“Konzept geführt wurden, fehlte freilich auch die wenig rühmliche „Sächsische Kriegsdichtung“ von Josef Lehrer, Schuster Dutz u. a. nicht. Vgl. die Ausgaben vom 6. und 18. November 1915, 9.
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jonäse, Tee, Torte usw.“ [Zweites Kriegstagebuch, 24. Dezember 1915, 12] Leibliche Bedürfnisse der Hochrangigen werden überversorgt. In der österreichischen Kantine erhält man „alle denkbaren Luxus-Artikel – ‚Adria‘- und andere Schnitten, kandierte Früchte, Weine etc., etc. […] Das kürzlich in Lemberg angeschaffte Grammophon spielt Stille Nacht, heilige Nacht.“ [Zweites Kriegstagebuch, 26. Dezember 1915, 13] Aber es gibt freilich auch Kummer: Meinen Kameraden und Vorgesetzten erscheine ich wie ein Kind mit jeder Frage und mit jeder Bemerkung, und wenn ihnen mein Tagebuch einmal in die Hände fallen würde, so würden sie mich komplett für einen Narren erklären. Klein, der beim Train meine Briefe gelesen hat, soll dem Hauptmann geschrieben haben, dass ich viel Phantasie habe und der Krieg mich aufrege. O, du feiger Hund, du Trainschmarotzer, ja, dir bin ich schon lange ein Dorn im Auge. […] Schuller nennt mich „Täubchen“. Ja, diese Leute haben eben sowenig Naivität sich erhalten können, dass ihnen das Naiv-Natürliche an mir sofort auffällt. Ich muss an Goethe denken. Der hat noch als Greis kindliche Freude und kindliches Lachen im Antlitz getragen. Brauche ich einen andern Trost? [Erstes Kriegstagebuch, 16. Oktober. 1915, 27]
Trost und Muße findet Folberth in der Einsamkeit des jeweiligen Beobachtungsstandes, den er sich stets wohnlich einrichtet und ausbaut. Dort kann er relativ ungestört und unbelächelt Tagebuch führen, Nachträge hinzufügen, Gedichte schreiben oder seinen Nietzsche oder Goethe lesen. Aber noch schätzt er seine eigenen literarischen Produkte nur als „Stückwerk“ ein und denkt über Selbstzensur beim Niederschreiben seiner Aufzeichnungen nach. Jetzt ist es eigentlich nicht mehr wahr, aber um eine Zeit könnte ich wirklich schreiben, was ich im Kriege alles zugleich vorstelle – Zugskommandant, Gruppenadjutant, Beobachter, Jäger, Baumeister, Menagemeister, Hausfrau und Dichter. Alles war ich in einer Person. Und trotzdem konnte ich es dem Hauptmann nicht recht machen, dabei kennt er das Gefährlichste in mir noch gar nicht – den Dichter. Ich lasse das keinen Menschen merken und spiele viel Theater. Dass ich es tun muss ist wohl ein Spiegel meiner Umgebung, dass ich es kann und immer gekonnt habe – mein großer Schmerz. Wenn ich nur die Gewissheit hätte, dass mein Tagebuch nicht von jemandem entdeckt werde – ich glaube, ich könnte die Dinge und meinen Krieg noch anders erzählen. [Erstes Kriegstagebuch, 16 November 1915, 35]
Äußere Zensur war bei anderen Anlässen notwendig. Nach einem Besuch des deutschen Kaisers an der Front, mit feierlicher Ansprache und der Verteilung von 40 preußischen Kriegsverdienstmedaillen wurde den Truppen deutlich gemacht, dass niemand jetzt schon an den Frieden denken solle. Im Tagebuch notiert Folberth: „Darauf erhielten wir den telefonischen Befehl, dass von der Ansprache bei der Inspizierung nichts in Briefen weiter gegeben werden dürfe.“ [Zweites Kriegstagebuch, 7. Dezember 1915, 4] Dem zweiten Kriegestagebuch, in dem er sich vornimmt, alles, was „pro memoria tradi dignum“ festzuhalten, stellt Folberth ebenfalls ein Motto voran. Diesmal kein geborgtes, sondern ein selbst formuliertes: Sei das Blatt meiner Seele Und die Schrift meines Blutes. Vom Krieg – hilf mir, Den inneren zu führen.“ [Zweites Kriegstagebuch, 24. November 1915, 1]
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Der innere Krieg meint die Anstrengungen der Charakterbildung, aber auch das Ringen um den adäquaten künstlerischen Ausdruck seiner Wahrnehmungen: „Ich sehe und sauge die Sonne mir satt mit Farben und Stimmungen, und ich spüre, es muss heraus, ich muss schaffen – aber dichten kann ich nicht, vielleicht könnte ich malen“ [Zweites Kriegstagebuch, 24. November 1915, 1]. Die gewünschte Intermedialität, der spielerische Übergang von einem Medium der Kunst zum anderen, blieb eine Wunschvorstellung. Denn Malen und Zeichnen konnte Folberth noch viel weniger, weil er, wie an anderer Stelle später zu lesen ist, farbenblind war. Mein Standpunkt zum Zeichnen: Ich habe etwas Talent dazu (gewiss von der Mutter geerbt), aber gar keine Geduld zur Ausführung einer Arbeit. Ich werde dabei geistig nicht genügend gefesselt, empfinde Langeweile, beeile mich und laufe schließlich davon … Und zum Malen: Ich bin für grün und rot farbenblind. Und so ein Stümper in der Beurteilung aller Bilder, in denen nicht Linien, sondern Farben das Wort führen. [Achtes Kriegstagebuch, 30. März 1918, 16]
Dafür fotografierte er eifrig statische Motive (Landschaften, Burgen, Personengruppen) und sammelte die Aufnahmen zu Hause als Kriegsandenken. Nicht jeder Tag brachte besondere Erlebnisse oder Aufregungen. Dennoch bemühte sich Folberth, im Unterschied zu seinen Schülergewohnheiten, jetzt in Übung zu bleiben. „Es gibt Tage, da muss ich etwas in dies Tagebuch schreiben und wenn es, wie heute, nur ein schöner Sonnenaufgang wäre.“ [Zweites Kriegstagebuch, 29. Januar 1916, 19] Die Zeitspanne von April bis Oktober 1916, die im dritten Kriegstagebuch verzeichnet und kommentiert wird, bringt nach anfänglicher „Ereignislosigkeit auf der höchsten Potenz“ [Drittes Kriegstagebuch, 24. April 1916, 1] einschneidende Erlebnisse: zunächst in Form von Briefnachrichten vom Tod des jüngsten Bruders (Kurt) in Mediasch, von der Flucht der Familie in Richtung Banat (nach Nagykikinda) vor der rumänischen Siebenbürgen-Offensive. Dann kommt es zu Bewegungen an der galizischen Front, mit zeitweiligem Rückzug (dem Verlust seines selbst eingerichteten Beobachtungsstandes) und dann Gegenangriff. Nach Tagen mit Gefechten, Sperrfeuer (das die eigenen Infanteristen trifft), Böllerkrachen, Brückensprengen, brennenden Dörfern, schrecklichen Szenen auf Kote 34817 ist ihm nicht nach Schreiben zumute. Dann versuche ich irgendwie […] zu lesen. Aber es geht schwer. Ebenso wie ich jetzt nicht schreiben, sondern nur beschreiben kann, kann ich auch nicht lesen. Ach was, in Taten feiert mein Geist Triumphe! Ich kann nicht schreiben, ich könnte höchstens beschreiben, und das liebe ich nicht. [Drittes Kriegstagebuch, 18. August 1916, 21]
Am Ende dieser Tagebuchaufzeichnung wird für diesen Zeitpunkt die vita activa über die vita contemplativa gestellt. Ist das nicht die Stunde der Philosophen? […] Die Zeit hat mich zu rasch zum handelnden Manne gemacht. Die Stunde der Philosophen, auf Wiedersehen! Nun ist auch mein drittes Kriegsheft voll geschrieben. Unvergessliche Tage sind hier aufgezeichnet und das Erleben mei-
17 „Was im weiteren Verlaufe des Gefechtes aber geschieht, kann ich nicht beschreiben. Es ist bald so ein Durcheinander, dass ich das Feuer öfter einstelle, weil die Situation völlig unerkennbar ist.“ Drittes Kriegstagebuch, 1. Oktober 1916, 29.
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Horst Schuller ner ganzen Seele. So wird es mir ein Freund, den ich nicht mehr missen will. [Drittes Kriegstagebuch, 10. Oktober 1916, 32]
Zehn Tage später leitete Folberth sein viertes Kriegstagebuch mit einem Jubelruf ein: „Meine Hütte steht, ein Heim, wie ich es selten bis jetzt hatte. An diesem Tage, der mir reich ist an innerer Freude und Erlebnissen, beginne ich mit dem vierten Heft meines Kriegsgeschehens.“ Diese Waldhütte erlaubt ihm, sich im Beobachtungsstand eine selbst von den Telefonisten nicht gestörte Privatsphäre zu schaffen, die er für seine Lektüren und Aufzeichnungen braucht. [Viertes Kriegstagebuch, 20. Oktober 1916, 1] Wie auch im Falle der anderen Hütten oder Türme (wie er seine Beobachtungsstände symbolisch überhöht) gibt es genaue Beschreibungen über Grundriss und Inneneinrichtung.18 Die Wände des Unterstandes sind mit mühsam zusammengetragenen Brettern verdielt, und aus zwei Heiligenbildern der Kirche habe ich mir – man staune – ein schließbares Fenster machen lassen. Die Inneneinrichtung ist wieder aus Birkenholz hergestellt und zwar ganz ähnlich wie auf Kote 348. Nur ist der Raum hier bedeutend größer, also hat Derner auch ein nettes Tischchen und einen tadellosen Großvaterstuhl zimmern können, aus Birken und aus der Kirchenkiste. Gleich links über mir befindet sich ein Bücherregal, und ich habe mir schon einige Bücher herauf gebracht. Leider, leider ist mein Zarathustra nicht mehr darunter. Was fängt der Russe damit an? Und weil ich jetzt ein unbeschreibliches Bedürfnis nach Luxus, nach Bequemlichkeit und überhaupt nach Feinheiten aller Art habe, habe ich in Brzezany zur Vervollkommnung der Einrichtung einen Papierkorb gekauft und eine geblümte, farbige Tischdecke. So kann ich mir manchmal einbilden, ich säße in einem Salon. Auf meinem Bett, das mit Holzwolle gut angefüllt ist, liegt ein Heiligenkissen mit silbernen Ornamenten, vielleicht vom Betstuhl des russischen Popen. [Viertes Kriegstagebuch, 20. Oktober 1916, 1]
Im Rückblick auf die Sommerkämpfe empfindet er diese als eine Bewährungsprobe, die ihn aus seinem Träumer- und Türmer-Dasein gerissen und vor konkrete Aufgaben gestellt habe, selbst wenn er in dieser Zeit nichts geschrieben hat. […] nichts, aber auch gar nichts. Es kommt mir in den Sinn, wie vollauf zufrieden ich während der Zeit der Kämpfe mit meinem Schicksal war. Ich erlebte endlich einmal, nachdem ich mich so lange gesehnt hatte, dass ich mein ganzes Sein und Denken restlos in den Dienst der großen Sache, das heißt des siegreichen Kampfes stellte. Ich war wie verwandelt. Meine Schweigsamkeit war ganz von mir gewichen, ja, ich konnte plaudern, Witze machen, ich konnte viel essen und rauchen, die Grübeleien und stolzen Bekenntnisse waren wie verflogen, ich spürte den Alb fremder Ungerechtigkeit nicht mehr auf mir ruhen, ich sah nirgends mehr ein Fragezeichen vor mir liegen. Des Lebens Rätsel schien in diesen Tagen mir gelöst zu sein. Ich hatte damals auf welthistorische Fragen eine Antwort gefunden. Aber ich wäre nie im Stande gewesen, ein 18 Im Falle dieser dritten Hütte hat sich in Folberths Tagebuch auch ein launiges Gelegenheitsgedicht des väterlichen Freundes Hans Leicht erhalten, der über Planung und Ausführung in 282 Knittelversen reimt. (Im Fünften Kriegstagebuch, im Eintrag vom 11. Februar 1917, 4–5, findet sich ein anderes unbekanntes Gelegenheitsgedicht von Hans Leicht, das den militärischen Aufklärern gewidmet ist). Der Rechtsanwalt Dr. Hans Leicht (1886–1937), in literarischen Kreisen als Übersetzer aus der ungarischen Literatur bekannt, hatte einen entscheidenden Einfluss auf die berufliche Orientierung und Selbstfindung von Otto Folberth. In der Zeit der ungarischen Räterepublik war Leicht Unterstaatssekretär im Volkskommissariat für die nationalen Minderheiten. Folberth, Otto: Tragik eines musischen Menschen. Hans Leicht. [Mit Gedichtproben] In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, H. 4 (1962), 200–224.
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Kunstwerk zu schaffen. Überhaupt etwas für die Zukunft zu schaffen, sagen wir ein Gedicht zur Erinnerung an diese Schlacht [bei Brzezany] oder auch nur eine Photographie eines seltenen, unvergesslichen Bildes, ja nicht einmal eine neben mir einschlagende Kugel oder ein Granatsprengstück fühlte ich mich versucht, als Erinnerung für spätere Zeiten aufzubewahren. Ich gehörte vollkommen, mit den letzten Atömchen meiner Seele der Gegenwart an. Was noch kommen werde war mir ganz gleich. Ich kannte keine Scheu und Sehnen mehr, keinen weltfernen Schmerz und auch kein großes Glück. Ich war anders als ein Mann der Tat. Träumerführer – Turmheld. [Viertes Kriegstagebuch, 28. Oktober 1916, 12–13] Der Krieg ist nicht schön, sondern entsetzlich. […] schön habe ich den Krieg nicht empfunden, sondern immer wenn ich ihn wirklich erlebte, das heißt wenn der Tod ganz nahe an mir stand, gemein, sehr gemein. [Viertes Kriegstagebuch, 2. November 1916, 14]
Nach fünfzehn Monaten Krieg wurde Folberth mit dem Signum laudis ausgezeichnet; weitere Auszeichnungen sollten folgen. Weihnachten 1916 verbrachte er seinen Urlaub bei den Eltern in Mediasch. Am Bahnhof war eine Haubitze postiert, sein Zimmer hatte ein deutscher Oberleutnant besetzt, in der Schule hatte sich das Etappenkommando einquartiert, schwere Lastwagen erschütterten die Gassen. Er fühlte sich fremd in der Heimatstadt. Abends wenn wir vor dem Tisch sitzen, lese ich ihnen gewöhnlich aus dem Tagebuch vor. Fremden Leuten verstehe ich meine Heldentaten nicht zu erzählen. Ich bin daher hier auch gar nicht bekannt und es weiß niemand, was ich getan habe. [Viertes Kriegstagebuch, Am Weihnachtsabend 1916, 21]
Im Frühjahr 1917 findet sich ein längerer Monolog im Tagebuch, in dem die Kompensations- und Ersatzfunktion dieser Aufzeichnungen bedacht wird. Folberth reflektiert darüber, zu welchem Zwecke ich eigentlich diese Aufzeichnungen mache. Es sind Selbstgespräche, die aus dem Bedürfnis entstehen, den sich drängenden Gedanken Ausdruck zu geben und dadurch fortgesetzt innere Spannung zu entladen – und aus dem Mangel einer anderen Gestaltung als der schriftlichen. Ich bin mindestens die Hälfte meines Kriegslebens in wirklicher Einsamkeit, das heißt ich kann während dieser Zeit kein gebildetes oder gebildeteres Gespräch führen, wie es vielleicht unter Offizieren möglich wäre, denn ich bin nur mit der Aufklärungspatrouille, also mit Bauern zusammen im Unterstand. So kommt es, dass ich Gedanken, von denen ich mich im Laufe eines Gespräches gerne befreit hätte, hier aufgezeichnet finde – und die Tagebücher, in denen ich mich in kameradschaftlichem Kreise bewege, auf diesen Blättern viel enger bemessen sehe als die übrigen. Ich konnte mich niemandem mitteilen außer mir. So wurden diese Blätter Zeugen meiner Einsamkeit. [Fünftes Kriegstagebuch, 22. April 1917, 17]
Diese Gedanken werden auch am Schluss des betreffenden Heftes wiederholt: Ich schließe dieses Fünfte Heft meines Kriegstagebuches hiermit ab. Es umfasst wieder eine lange Zeit hoher Einsamkeit auf stillen Beobachtungsstellen und nur am Ende einige Wochen rastloser, dienstlicher, wohl energischer, aber auch außergewöhnlicher Tätigkeit als Erster Offizier. [Fünftes Kriegstagebuch, 13. Juli 1917, 28]
Im Juli wird der Stellungskrieg von einem Vormarsch gegen die Russen abgelöst. Der Marsch führt Folberth an aufgelassenen russischen Stellungen vorbei, die seinen verwöhnten Vorstellungen von „Bequemlichkeit“ nun gar nicht entsprechen. Er meint, daraus negative Volkseigenheiten ablesen zu können. Weniger hochmütig, ja mit allen Verwundeten solidarisch gesinnt, fallen die Aufzeichnungen nach Gefechten bei Polnisch Mielnik aus, die Szenen mit Symbolkraft enthalten:
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Horst Schuller Über das ganze freie Gelände verstreut galoppierende Stäbe, vorgehende entwickelte und geschlossene Infanteriemassen, fahrende Batterien und von weither hie und da noch bellende Granatschüsse. Vor uns brennt Podhajice. Verwundete gehen zurück und Truppen gefangener Russen. […] Ein Russe und ein österreichischer Jäger verwundet und aufeinander gestützt, taumeln dem Hilfsplatz zu. [Sechstes Kriegstagebuch, 23. Juli 1917, 34]
Ende Juli wird die Stadt Skala erobert und verteidigt. Quartiersuche, Requirierungen, der Tod von Folberths Burschen, die Einrichtung des neuen Beobachtungsstandes in einer romantischen Burgruine bzw. einer Jägerhütte im Wald bringen einen beschleunigten Rhythmus in das Frontleben. Folberth notiert: Mein Tagebuch kann mit den Ereignissen nicht Schritt halten, es sei denn, dass ich den ganzen Tag Aufzeichnungen machen würde, wozu mir jedoch die Ruhe fehlt und ich – wie immer, wenn es heißt, weg mit der Sentimentalität – den Zweck dieser Blätter nicht recht einsehe. [Sechstes Tagebuch, 30. Juli 1917, 8]
In nachholender Beschreibung und Erzählung liefert Folberth gerade über diese Frontlinie in Skala die anschaulichsten und berührendsten Bilder, er zeichnet Szenen voller Betroffenheit: die mitverschuldete Zerstörung der ehemals so gepflegten Apotheke, die ihm schönstes Quartier geboten hat; Requirierungsmaßnahmen, bei denen er sich als Missetäter und Vernichter von Vermögen fühlt; das Einschießen der Batterie, bei dem russische Soldaten getötet werden. „Ein leises Beben geht durch meinen Körper, sie tun mir herzlich leid, gerade heute. Doch gilt ja auch für mich dasselbe ‚und der Tod ist Gebot, das versteht sich nun einmal‘ (Faust).“ [Sechstes Kriegstagebuch, 1. August 1917, 9] Aber in der Wahrnehmung bleibt ein Gefühl der Erbärmlichkeit. Über die psychische Belastung der Kämpfer, die sich selbst verteidigen und den Feind vernichten müssen, hatte Folberth schon bald nach Fronteinsatz notiert: Es kommt mir in den Sinn, dass ich über die seelische Verfassung der Menschen beim Schießen und Morden eigentlich noch gar nicht geschrieben habe. […] Zuerst vom Beobachter. Er entscheidet, wann geschossen werden soll, er lenkt die Schüsse auf das Ziel, er mordet eigentlich. Aber noch nie ist mir einer begegnet, der aus Hass oder aus Blutdurst das Handwerk betrieben hätte. Mit einem fast wissenschaftlichen Interesse – oder wenn man will, mit Erregung – lenkt er seine Schüsse auf das Ziel, beurteilt die taktischen Ereignisse, rechnet, rechnet, rechnet. Er empfindet auch Freude über seine Erfolge, aber nicht über die blutigen, sondern über die wissenschaftlichen und taktischen. Im Gegenteil, ich glaube keiner ist unter uns, der nicht lieber durch Sperrfeuer so und so viel Russen gefangen nehmen möchte, als sie in den Gräben zu zerschmettern. Aber manchmal geht die Rechnung nicht anders. Und die Rechnung, das objektive Erwägen, die Handlungsweise, die jedem inneren Verantwortungsgefühl Genüge leistet, muss entscheiden. Ich kann mir keinen Beobachtungsoffizier vorstellen, den die blutigen Verluste des Gegners derart berühren oder drücken, dass er sich einer Schuld bewusst wird. Weiß er doch, wie viel eigenes Blut er dadurch gerettet hat. Auch das ist eine Rechnung. Einmal leicht, einmal schwer. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass er den Ereignissen, die über Gut und Blut seines Volkes entscheiden, kühl und fremd gegenüber stehen müsste. Wie viel Feuer, Selbst-Initiative, Hineinverbeißen in die Wogen des Kampfes muss man von einem Beobachter verlangen. Aber dort, wo beim Platzen der Granaten, beim Zerreißen der Menschenleiber der Feind ihn als Mörder sieht, dort ist er ähnlich beteiligt wie der Feldherr, der über seiner Karte gebeugt rechnet und rechnet und die Massen auf die Schlachtbank führt. Will ich mich über einen Dorn hinübersetzen? Ja, beide, alle sind sie Mörder. Aber sie morden nicht des Blutes wegen, sie fechten um ihre Erfolge. Sie kämpfen um ihr Volk. Leider müssen auch viele um ihren Staat kämpfen.
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Sie morden nicht aus persönlichen Motiven. Man nennt sie Krieger. [Zweites Kriegstagebuch, 10. Dezember 1915, 5]
Im Rückblick auf das verstrichene Dreivierteljahr 1917 und die durchlebten Etappen stellt Folberth fest: Der Frühling 1917 wird entschieden zu meinen schönen Erinnerungen zählen. Ich lebte damals sehr enthaltsam, war viel in Gesellschaft guter Bücher, war sonst stets allein und fühlte mich sehr wohl. Ich wurde dabei übermütig, dass ich geradezu fürchtete, ein Ikarus zu werden. […] Ich sprang hinein […], aber nicht in das volle Leben, sondern in eine üble Gesellschaftlichkeit, die wieder die Hauptschuld an meinem neuen Untergang war. Schwäche und Zügellosigkeit in steter Nähe des Todes ergriff mich bald ganz, und ich wurde ein Spielball meiner niedrigsten Launen […], ich fühlte mich elend und übersättigt. Umsonst ist der Geist willig, das Fleisch bleibt schwach. Ich kann mich [des Rauchens] schlecht enthalten und beherrschen, ich bin zügellos. [Sechstes Kriegstagebuch, 24. August 1917, 14]
Über das Verhältnis zwischen subjektivem Erlebnis und objektiver Zeitchronik in den Tagebuchaufzeichnungen heißt es, dass die kleinen persönlichen Erlebnisse in seinem Tagebuch stets den ersten Platz einnähmen. Und in der Tat muss ich sagen, dass mich diese [kleinen persönlichen Ereignisse] und meine Selbsterziehung im Krieg vor allem beschäftigt haben. Die vielen untergeordneten militärischen Ereignisse […] haben mich im Allgemeinen selten berührt. Nichtsdestoweniger nehme ich am großen Gang unserer Kriegsgeschichte soviel, auch inneren Anteil, wie aus den täglichen Heeresnachrichten unserer beiden Generalstäbe zu schöpfen möglich ist. Ich will daher, wo es wichtig und nicht störend erscheint, diesen Sonnenkäfer- und Einsiedlergeschichten den welthistorischen Hintergrund zurückgeben, von dem sie ja in ihrer übermütigen Freiheit aufgeflattert sind. [Sechstes Kriegstagebuch, 30. August 1917, 16]
Folberth, der zu Hause im Urlaub über sein Leben an der Front erzählen muss, ist sich dessen bewusst, dass die Kriegserlebnisse sehr ungleich im Gedächtnis abgespeichert und publikumsabhängig wieder heraufbeschworen werden, dass also die Erinnerung an diese Zeit, auch wenn sie niedergeschrieben wird, nur selektiv und mangelhaft sein kann. Was seiner Meinung nach in der Regel bleibt, sind Bilder der Unterhaltung, des Effektes und unzähliger andere Vor- und Nachurteile. […] Mir wenigstens geht es so auf Urlaub, wenn schon, so erzähle ich nur Außergewöhnliches aus dem Krieg und bin gerade deshalb unklar, denn die Basis des Beschreibens, die Kenntnisse des Alltäglichen, fehlt auf diese Weise dem Zuhörer. [Siebentes Kriegstagebuch, 29. September 1917, 1]
Zahlreich sind in Wochen intensiven Lesens die Zitate etwa aus der Lektüre von Nietzsche, Goethe (Faust, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Wahlverwandtschaften) und Schopenhauer, meist sind es prägnant formulierte Erkenntnisse, aphoristisch verkürzte Lebensweisheiten, oft auch Bekräftigungen eigener Gedanken. „So trage ich“, schreibt Folberth, „Goldkörnchen zu Goldkörnchen. Es ist wohl die bescheidenste Art der Tagebuchführung, aber immer möglich, auch wenn man noch so viel zu tun hat oder – selbst einmal auf sich warten will.“ [Siebentes Kriegstagebuch, 25. Oktober 1917, 6] Aufschlussreich sind Folberths Notate über die Prinzipien autodidaktischen Lernens und über den selbst aufgestellten Zeitplan. Als Leutnant bereitet er sich auf ein Universitätsstudium in Budapest vor. Er hat inzwischen wieder einen neuen
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Beobachtungsstand in einem stillen Waldwinkel bezogen: dreimal zwei Wände aus gespaltenen Eichenstämmen, Ziegelofen, Bett, Tischchen vor dem Fenster, „an der Wand ein Bücherregal mit exzellenten Schätzen […], was ist ein Sanatorium gegen solchen Aufenthalt?“ [Siebentes Kriegstagebuch, 1. November 1917, 7] Als „wahrer Autodidakt“ befolgt er die Prinzipien der Schulordnung, das heißt, wenn ein Gegenstand ihn ermüdet, wendet er sich einem anderen und einer anderen Herangehensweise zu, Hauptsache: die geistige Aufmerksamkeit flaut nicht ab. Und nun meine Tagesordnung in der Eichenbaumbude. In der Früh, wenn es nicht mehr windig ist, turnen, baden, flotteren im Freien (System Müller), sonst in der Bude bei offenem Fenster. Ich strenge mich dabei gewöhnlich so an, dass mir eine besondere Bewegung am Tag nicht mehr nötig ist. Dann reinigt mein Bursche das Zimmer, während ich mal ‚nach den Russen gucke‘. Hie und da gibt es dort einen neuen Graben, Wesentliches aber nicht zu beobachten. Gewöhnlich um 8 Uhr beginnt meine Arbeit. Ungarische Sprachwissenschaft (für ungarische Literatur habe ich noch keine Bücher), dann 1–2 Stunden ‚französisch‘ nach Toussaint–Langenscheidt. Ich lerne schon seit Anfang Oktober und es macht mir viel Freude. Schließlich in den schönsten Stunden des Vormittages: Philosophie. Jetzt lese ich Schopenhauer, auf den mich Nietzsche verwiesen hat, mit vielem Genuss. Nach dem Mittagessen, das ich natürlich auch allein und infolgedessen diätetisch einnehme, erledige ich, was der Tag mir bringt, um zur Zeit meiner geistigen Aufnahmefähigkeit Muße zum sich allmählich steigernden Denken zu haben. Doch gehört der Nachmittag meistens der Schönliteratur oder verschiedenen bunten Einfällen. Der Abend findet mich dann wieder mit ungarischen Büchern, Romanen und Romanzen, aus denen ich mir eine zeitlang laut vorlese, um die Aussprache zu üben. So fliege ich wie ein Honig sammelnder Käfer von Blüte zu Blüte des Tages. Und könnte auch noch ein Nachtfalter werden, aber mein Öllämpchen brennt gar zu traurig und düster. [Siebentes Kriegstagebuch, 2. November, 1917, 8]
Nach diesen Vorbereitungen hat er sich im Februar 1918 in Budapest für das II. Semester inskribieren können. Die Auflösungserscheinungen an der galizischen Front, Waffenstillstandsabkommen, Rückfluten der Kriegsgefangenen, Auflösung der Kaiserlich Deutschen Südarmee, Sonderfriedens-Verhandlungen, Ausrufung der Republik Ukraine, Bandenkriege, Überfälle terroristischer Bolschewiki-Horden, all das verlangte von der österreichisch-ungarischen Armee, die nun im Osten eine ukrainisch-russische Grenze und wichtige Warentransporte nach Westen zu verteidigen hatte, Mobilität. Das achte Kriegstagebuch von Folberth, das der Verfasser auch das Büchlein von Kameniez-Podolsky genannt hat, hält anschaulich Familienszenen geflüchteter polnischer Gutsbesitzer, Straßenbilder mit Soldaten verschiedener Herkunft, Jahrmarktstreiben, missglückte Abende mit Theaterfarcen und Bällen fest. Folberth bezieht als Beobachter Stellung im Turm einer alten Türkenfestung, aber für Literarisches fehlt die Muße. Er denkt sich zwar bei den Patrouillengängen immer wieder Gedichte aus. „Wie könnte ich sie aber im Rausch der Erlebnisse niederschreiben?“ [Achtes Kriegstagebuch, 11. März 1918, 10] „In der Stadt ist noch ungelöste Situation. Wir wissen nicht, wem wir Freund und Feind sind. Eigentlich müssen wir mit der ukrainischen Miliz, die jetzt im Entstehen begriffen ist, Hand in Hand arbeiten: Aber auch hier entstehen Reibungen.“ [Achtes Kriegstagebuch, 11. März 1918, 8] Die in Bewegung geratene Front, das Ende der Kampfhandlungen, das Ausbrechen von Bürgerkriegen, die Auswirkungen der russischen Revolution, die Aufgaben des Zivilschutzes führen ihn mit neuen Figurenkonstellationen zusammen. Er
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besucht mehrere Städte (Hotin, Cherson, Odessa, Kiew, Lemberg, Czernowitz) und kommt bei seinen „Studien des Ostens“ [Neuntes Kriegstagebuch, 3. Juni 1918, 9] zur Ablehnung mitteleuropäischer Vorurteile und zur Verteidigung der Vielfalt menschlicher Existenzformen, zur Verteidigung der Differenz als Normalität, wie er sie im Osten findet und schon in seiner siebenbürgischen Heimat erlebt hatte. Der Mannigfaltigkeit der Natur an Erscheinungsformen entspricht die Mannigfaltigkeit unserer eigenen Lebensmöglichkeiten. Das ist der Gewinn des Reisenden: zu sehen, wie vielfältige Wege zum selben Zweck zusammenlaufen. Und dass es sich nicht um die Wege, sondern um ihre Bewältigung handelt. Es gibt nicht zwei Städte, in denen die Bäcker aus Mehl und Wasser gleichen Teig und gleiche Formen backen werden. [Neuntes Kriegstagebuch, 6. Juni 1918, 11]
Am meisten scheinen ihn von den Heterobildern die Polen zu interessieren, das Schicksal der von Bauernrevolten verjagten Gutsbesitzerfamilien. Er versucht Erklärungen zu finden für das bedingungslose Vertrauen, für die ihm entgegen gebrachte Freundlichkeit, für die emanzipierte Rolle polnischer Frauen. Folberth berichtet über kultivierte Teeabende mit Klavierspiel und Tanz. „Warum ich das alles aufschreibe? Weil diese kleinen Geschichten bezeichnend, ja überaus bezeichnend sind für die Polen.“ [Achtes Kriegstagebuch, 14. März 1918, 11] Die Sympathie für das Polnische bewirkt, dass er diese Sprache zu erlernen beginnt, ein Wörterbuch anschafft und sich die wichtigsten Redewendungen beibringt. Ich war heute im Dom Polszki, wo sich auch eine Bibliothek befindet. Obwohl sie keinen großen Umfang hat, besitzt sie doch eine polnische, russische, französische, englische, deutsche, italienische, ja schwedische Abteilung. Die ersten drei Sprachen sprechen die gebildeten Polen zumeist fließend, die übrigen bald mehr, bald weniger gut. Dies allein wäre mir schon ein Grund, sie zu schätzen. Ich bedauere sehr, die französische Sprache noch nicht zu beherrschen. Sie würde mir hier zu vielen interessanten Gesprächen den Weg öffnen. [Achtes Kriegstagebuch, 21. März 1918, 14]
Die Klagen über mangelnde Muße und Konzentrationsfähigkeit bei der gegebenen Umgebung, Beschäftigung und Lebensführung häufen sich: Obwohl es uns hier sehr gut geht und man sich, besonders militärisch, eine bessere Lage ohne Vorgesetzte, ohne Befehle, ohne Dienst gar nicht denken kann, fülle ich meine Tage doch nicht so aus, wie ich gerne möchte. Der Grund dafür ist, dass wir Offiziere alle zusammen in einem Haus wohnen und indem wir uns den ganzen Tag miteinander berühren, einem dem anderen die kostbarsten, freien Stunden stört oder raubt und so der persönliche Wille von dem allgemeinen Interesse stets in Banden geschlagen wird. [Achtes Kriegstagebuch, 20. März 1918, S.13] Die kontinuierliche Gesellschaftlichkeit also, für die ich nun einmal nicht geboren bin, lässt mich meine Tage nicht so leben, wie ich gerne möchte. Und obwohl ich ihre Sitten annehme, das Plaudern, viel Essen, Rauchen, vermag ich noch immer nicht in diesem Rausche irgendeinen Ersatz für das Glück zu finden, das ich in meinem Leben schon glaube gefunden zu haben. [Achtes Kriegstagebuch, 20. März 1918, S.14] Ich habe jetzt bei weitem nicht mehr die Intentionen im militärischen Dienst wie früher, ja ich kann ruhig von mir behaupten, dass ich indolent bin. Ich finde es auch für ziemlich begreiflich. Denn auch bisher hat mich – ausgenommen die Rekrutenzeit – nur das Kriegerische, Außergewöhnliche interessiert. Das ist nun, seit wir in Kameniez sind, ganz weggefallen und an seine Stelle ein geregelter Garnisonsdienst getreten. Der ist mir aber so langweilig, dass ich mich mit allen möglichen Kunstgriffen um die wenigen Stunden drücke, die ich abzuhalten habe. Nur
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Horst Schuller kein Amt, keine Pflicht, keine dummen Abhaltungen von der Erfüllung meiner Wünsche, kein Diebstahl meiner kostbaren Zeit, das ist jetzt mein Losungswort. [Achtes Kriegstagebuch, 11. April 1918, 18] Ich setzte mich gestern nieder mit dem Vorsatz ein Gedicht zu schreiben oder ich sperrte mich vielmehr mit diesem Vorsatz in meinen Turm ein. Es sieht danach aus. Ich erinnere mich nicht, etwas annähernd Jämmerliches schon geschrieben zu haben. Zur ewigen Warnung sei es hier in seiner ganzen Pracht an den Nagel gehängt: Ich reit’ durch fremde Lande Ich grüß’ von Ort zu Ort, Durch vieler Flüsse Sande Führ ich mein Rösslein fort […] [Achtes Kriegstagebuch, 29. April 1918, 22] Der Dichter verschleiert die Dinge, der Denker entschleiert sie. Beide lehren uns mit ungewohnten, verklärten Augen sehen. Daher die häufige optische Täuschung über ihr Wesen. Ich erlebe hier einen neuen Teil meines Johannestraumes. Daher nahm ich mir vor, auch wiederum ein brauchbares Gedicht für irgendeinen Monolog zu schreiben. Es ist mir nicht gelungen. [Neuntes Kriegstagebuch, 28. Mai 1918, 3]
Folberth befürchtet, dass er bald seine letzten Gedichte schreiben werde. Im Sommer 1918 kommt der Batteriekommandant Folberth als Besatzer an die rumänische Front. Im Juni notiert er: „Für mich und meine Bücher keine Zeit. Ich bin infolgedessen oft ungeduldig und trage stilles Heimweh nach etwas Verlorenem in der Seele.“ [Neuntes Kriegstagebuch, 22. Juni 1918, 26] Auch hier beklagt er wieder die Unmöglichkeit, sich zurückziehen zu können. Mehr noch als das kontinentale Klima, Ausflüge, Geselligkeiten, Paraden setzt ihm das Fehlen der produktiven Einsamkeit zu: „[…] diese herrlichste aller Gesundheiten und Glückstiefen […]“ Er fühle sich „[…] krank und unzufrieden, launisch und langweilig, traurig, sehnsüchtig […]“ [Neuntes Kriegstagebuch, 8. August 1918, 28] Gespräche mit der Zivilbevölkerung, hauptsächlich mit Damen der Gesellschaft, verlaufen auf Deutsch oder Französisch. Doch in Begegnungen mit Bauern erinnert Folberth sich der in seiner Kindheit gehörten rumänischen Sprach-Brocken: Zur Dauerhaftigkeit des Unterbewusstseins. – Ich nehme jetzt zum ersten Male rumänische Wörterbücher und Sprachlehren in die Hand. Und da geschieht es, dass mir Worte unterkommen, deren ich mich plötzlich wieder erinnere: vor zehn Jahren, als ich ein kleiner Bub war, mögen die Großeltern sie dem Gesinde zugerufen haben. Da ich damals kaum rumänisch sprach, können diese Worte nur durch das Ohr in mein Unterbewusstsein gedrungen sein. Bis heute haben sie dort geschlummert. [Neuntes Kriegstagebuch, 19. August 1918, 29]
Im Herbst 1918 verabschiedet er sich vom deutsch besetzten Bukarest (der „Hauptstadt von Deutsch-Rumänien“), um seinen Urlaub und Studienurlaub anzutreten. Das Tagebuch schließt trocken: „Da dieses Heft keine Seiten mehr umfasst und ich kein neues kriege, bleibt mir nichts anders übrig, als meine Gedanken so gut wie möglich aufzuheben.“ [Neuntes Kriegstagebuch, 6. September 1918, 31] Im Herbst 1918 stellt er eine ihn einschließende Typologie von Autoren auf, die er danach bestimmt, ob sie Tagebuchschreiber sind oder nicht: Es sind gewöhnlich düstere, leidenschaftliche oder aus einem anderen Grund mit sich ungeeinte Menschen, die stets unterbrochenes, aber heftiges, genialisches Schaffen, pflegen. Zum Beispiel Hebbel, was ich daraus ersehe, dass er keine Tagebücher schreiben konnte. Die gegenteiligen Menschen sind nämlich die der Tagebücher, des alltäglichen Schaffens, des ununterbrochenen Wertens und Denkens und Dichtens, des stündlichen Wiegens und Wägens und
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Wagens, zum Beispiel Nietzsche, Goethe. Auch ich zähle zu den Menschen, die täglich ihre Tapferkeit oder doch ihren Übermut anbringen wollen, sonst wird ihr Reichtum zu schwer und drückt sie nieder. [Zehntes Kriegstagebuch, 17. September 1918, S.1]
Ein Vorzug des Tagebuchschreibens liegt nach Folberth u. a. darin, dass durch Notieren und auch ins Reine schreiben der Blick des Verfassers immer wieder Verbesserungen vornehmen kann. „Gewöhnlich ist das, was nur eine Niederschrift erlebt hat, zu einfach und unverständlich. Der Verfasser muss seinen Gedanken einmal auch als Leser, als neuer unwissender Leser gegenüber stehen und soll dann mit dem Bleistifte nicht sparen.“ [Zehntes Kriegstagebuch, 24. September 1918, 2] Interessiert, aber ablehnend reagiert Folberth auf die neuen Links-Ideologien der Nachkriegs- und Bürgerkriegszeit. Die Ablehnung betrifft die soziale Umsetzung dieser Ideologien, deren illusionären Ansatz er an der russischen Front, an Folgen der russischen Revolution und in den Tagen der ungarischen Räterepublik erlebt hat und zu durchschauen meint: Für mich ist dieser Anblick empörend. Zu sehen, wie dem Volk unablässig von einer goldenen Zukunft, vom höchsten Glück, vom Ende der Qualen und Nöte ins Ohr trompetet wird, als ob die Zukunft überhaupt jemals besser werden könnte als die Vergangenheit war. Es ist ein Verbrechen, den Massen glückliche und gerechte Zustände bis zu einer Grenze zu versprechen, bis wohin nur Phantasie, nie Wirklichkeiten reichen können. Es ist das Verbrechen des Sozialismus. Mit solch lüsternen Gedanken bringt er unendlich mehr Unglück auf die Welt, als er durch tatsächliche Verbesserung der Lebensmöglichkeiten Einzelner wieder abträgt. [Zehntes Kriegstagebuch, 25. Oktober 1918, 7] Vorteil des Kommunismus: Es ist eine alte Sache, wer wenig besitzt, hat viel, weil ihm allein die Möglichkeit gegeben ist, noch alles zu erreichen. Denn darüber besteht wohl kein Meinungsunterschied, dass der Reichtum nur solange beglückt, solange er noch nicht da ist. Also der Erwerb des Reichtums ist anziehend wie alles Sehnen, Wachsen, Werden. Erst was noch nicht da ist, hebt und spannt Geist und Gemüt. Der Besitz drückt. An allem Teil zu haben, ohne es zu besitzen, welche Weisheit liegt in dieser Idee des Kommunismus! [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 26. August 1919, 24–25]
Allein und krank während des Studienurlaubs in Budapest, dankbar für die Treue seines Offiziersburschen in der Not, ist er demokratischen Perspektiven durchaus zugänglich: Mein Zustand will sich nicht bessern. Ich habe noch täglich des Morgens und Abends hohes Fieber. Das ist nicht sehr erfreulich, wenn man von den vielen Todesfällen der spanischen Grippe liest. Ich liege mutterseelenallein im Krankenzimmer und habe diesmal nicht einmal eine Büchergesellschaft um mich versammelt. So habe ich mein Wissen in den wichtigsten Fächern überdacht und meinen Krieg und meine Reisen und mein Dichten und Leben. Ich habe dazu ungefähr vier Tage gebraucht. Nun knüpfe ich oft mit meinem Burschen, der mich täglich besucht, Gespräche an. Es fehlt mir die Kraft, – nämlich der Hand und im Bleistift – um mich hier eingehender über ihn auszulassen. Ich möchte nur so viel schon jetzt festnageln, dass, wenn ich mich einmal vollends zur demokratischen Regierungsweise bekennen sollte, an meiner Wandlung nicht wenig Schuld eben mein Diener (namens Gelányi Arpád) haben wird. [Zehntes Kriegstagebuch, 30. Oktober 1918, 8]
Folberth weiß die Chance zu schätzen, die ihm sein Aufenthalt in Budapest bietet. Zunächst wechselt er aus dem Stadium des Autodidakten zum richtigen Literatur-
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und Sprachstudenten, der von den Dokumentationsmöglichkeiten in der Bibliothek des Eötvös-Kollegiums begeistert ist: Da die Universität noch gesperrt, ich aber schon vollkommen wiederhergestellt bin, kann ich mich jetzt den ganzen Tag über in diesem schönen Eötvös-Kollegium herumtreiben. Ich kann dieses Glück nicht hoch genug einschätzen, ja ich weiß nicht, wie ich das Schöne und das Allzuviele, das sich mir hier auf die bequemste und zudringlichste Art empfiehlt, fassen soll, und gerate darüber nicht nur ein einziges Mal am Tag in eine – so weit dies möglich ist – glückliche Verzweiflung. Meinen Zustand wird nur der begreifen, der die dürstende, leidenschaftliche, aber nicht befriedigte Sehnsucht nach Büchern, nach den besten und wahrsten Büchern, am eigenen Leib gespürt hat. Denn als ein Solcher bin ich plötzlich in ein – ich nenne es am besten: Königreich getaumelt, wo sich mir die herrlichsten, stets nur erträumten Schätze an allen Ecken und Enden anpreisen und ich vor lauter Blendung nun nicht weiß, wohin ich zuerst greifen soll. Ich strenge mich an, das System meiner Bildung oder richtiger: Entwicklung durch Fehlgriffe nicht zu stören, aber der unaufhaltsame Drang des Wissen-Wollens, was sich wissen lässt, wird mir wohl sicherlich einige mutwillige Seitensprünge nicht ersparen. [Zehntes Kriegstagebuch, 12. November 1918, 10] Unsere Bibliothek besitzt auch sehr wertvolle historische Bände. Und da finde ich unvermutet in der geschichtlichen Abteilung eine Siebenbürgische Quartalschrift, sechs Jahrgänge stark und entdecke in ihr eine literarische Zeitschrift aus dem Ende des 18. Jahrhunderts. Ich staune über den schönen, geschmackvollen Stil ihrer oft sehr interessanten und mit bestem Bemühen der Wissenschaft dienenden Beiträge. Es könnte mancher davon ohne Schande in einer unserer Zeitschriften bestehen. Auch finde ich darin die Biographie eines meiner Ahnen, des Generalmajors Daniel Conrad von Heydendorff. [Zehntes Kriegstagebuch, 13. November 1918, 10]
Eine andere, literarischer Konzentration eher abträgliche Herausforderung in Budapest war politisch-journalistischer Natur: Es ging darum, neue Formen für die Vertreterorganisationen der Deutschen in Ungarn und Rumänien zu finden und die Vorstellungen und Wünsche der „ostdeutschen“ Hochschüler wirksam zu artikulieren: Ich verfasse heute einen Aufruf an alle siebenbürgisch-sächsischen Hochschüler, den wir durch die Presse verbreiten wollen. Auch hierbei sehe ich, dass mir der Stil des Politikers durchaus nicht liegt – ich brauche zur Verfassung einer administrativen oder politischen Schrift stets mehr Zeit als zur Niederschrift eines Gedichtes. [Zehntes Kriegstagebuch, 26. November 1918, 13] Meine Nerven waren nie so in Anspruch genommen wie in diesen Tagen. Besonders bringt die doppelte Beschäftigung und auch innere Ergriffenheit (durch Wissenschaft und Politik) eine gewisse Gespanntheit und Abgespanntheit in mein subjektives Wohlbefinden. Meine Sehnsucht weist einzig und allein in die Richtung der Kunst und Wissenschaft, doch unabweisbare Pflichten rufen mich zu völkischer, politischer, ja vielleicht noch journalistischer Arbeit, nebenbei müssen die Gesetze der Hausordnung befolgt werden (pünktliches Besuchen der Lehrstunden, der Mahlzeiten, frühes Aufstehen), ja wir müssen sogar ungefähr wöchentlich einmal nächtliche Hauswache halten, die in allen Häusern Budapests zum Schutz gegen etwaige Übergriffe des Gesindels eingeführt ist – ich bin eben damit beschäftigt – und während man von hundert anderen Teufeln des Alltags gequält wird, leuchtet keinen Augenblick lang die Sonne durch die graue, schmutzige Nebelwolke der Großstadt, sondern diese senkt sich mit ihrer ganzen Schwere und Traurigkeit auf das Gemüt; was aber das Schlimmste ist, mir ist von der spanischen Grippe etwas in den Lungen zurückgeblieben und ich bin von jener Krankheit noch nicht genesen. [Zehntes Kriegstagebuch, 3. Dezember 1918, 14]
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BIOGRAPHIE UND LITERATUR IM GRENZJAHR 1919 Anhand der Tagebücher ließen sich biographische Stationen des Zivillebens und relevante Momente literarischer Beschäftigungen verfolgen, die nicht im Schriftstellerlexikon verzeichnet worden sind. Im Januar 1919 verließ Folberth Budapest, wo er schon während des Krieges an der „Studienfront“ inskribieren durfte. Er wird erst wieder im September 1919 zurückkehren, um die noch notwendigen Prüfungen abzulegen, damit er dann ab 1920 in Deutschland seine Studien fortsetzen darf. In diesen langen Ferien löste er seine Feldbibliothek auf, ordnete seine Aufzeichnungen, akzeptierte das strenge Urteil des dichtenden Gymnasialprofessors Julius Draser über sein lang gehegtes lyrisches Drama Johannes der Träumer, ein literarisches Hauptprojekt, das ihn alle Kriegsjahre über beschäftigt hatte. Und er versuchte nun letzten Endes, diesen Stoff in einer Novelle zu behandeln. Viele Möglichkeiten standen dem Kriegsheimkehrer jetzt offen. Das strenge, ja verkrampfte Verhältnis zwischen Willensentscheidungen und Triebkräften sah Folberth nun dialektischer als in seiner Frontzeit. Er plante einen Roman über die leicht überspannte Liebesbeziehung zu seiner Freundin Vera, vielleicht auch eine satirische Novelle über die Macht der neuen Bürokratie. Sein poetisches Credo war im Wandel begriffen: die ästhetische Kategorie der Disharmonie, des Hässlichen, wie es ihm auch in den Galizien-Bildern des bewunderten Hans Eder aufschien, wurde akzeptiert. Das Schwergewicht innerhalb der von ihm gepflegten Gattungen verlagerte sich auf die Prosa. In einem Mediascher Weingartenhäuschen, wo er nach einem fest strukturierten Tagesablauf lebte und schrieb, hatte er sich, wie so oft in den Beobachtungsständen an der Front, wieder eine Einsiedelei eingerichtet. Er sammelte journalistische Erfahrung, ein Artikel aus der Mediascher Zeitung wurde in Czernowitz nachgedruckt. Folberth fand den Kontakt zu den neu gegründeten Kulturzeitschriften in Siebenbürgen. Verfolgen wir nun im Lesefluss ohne weiteren Kommentar die wichtigsten Etappen und Überlegungen des Grenz-Jahres 1919 anhand der ausgewählten Tagebucheintragungen: Wir nennen es aus mehreren Gründen ein Grenzjahr, erstens weil in der Zeit von Folberths „Studienfront“ und in der Zeit der Vorfriedens- und Friedenskonferenzen sein Stand sich vom Reserveleutnant zum Zivilisten und damit auch sein Kriegstagebuch zum Tagebuch wandelte; zweitens weil er sich (bei Passbehörden und Zensur) auf eine Zäsur, den Grenzübertritt in ein anderes Land vorbereitete und drittens weil er neue Schreiberfahrungen (reimlose Gedichte, Gelegenheitstexte, journalistische Beiträge, satirische Haltungen) erprobte. Das nachstehende Gedicht stammt noch aus Pest. Ich hatte es in den zwei letzten Tagen geschrieben und beim Tee einer kleinen, sehr lustigen Gesellschaft vorgelesen. Nun setze ich es an den Schluss dieses Heftes: Es soll ein Lied an die Freude werden. Ich sage dies als Entschuldigung für den fehlenden Titel. Denn als es geschrieben war, wagte ich es nicht mehr so zu nennen. Noch rollt der Donner der Geschichte, Noch weht in unsere heißen Sehnsüchte Der kalte Nord … Wozu ist dies Geschlecht verdammt? Wozu sind wir verflucht, verbannt?
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Horst Schuller Wozu geboren – ausgestoßen? Wer hat das Recht des nackten, bloßen, Durchlittenen Lebens letztes Fünklein Freude Uns zu entreißen gleich schamloser Beute? […] Erwache Jugend! brich das Eis Der rauen Zeiten in uns und zerreiß Die letzten Fesseln grausamen Erlebens! Es glimmt die Asche in uns nicht vergebens, Es wartet günst’gen Wind in uns die Glut. Noch wird einst Feuer zu Feuer und Blut zu Blut! Wir glauben an die Wiederkehr der Freude, Wir feiern sie in unserm Kreise heute, Wir grüßen sie mit jedem neuen Tag! [Zehntes Kriegstagebuch, 13. Januar 1919, 25] Kriegstagebuch nenne ich auch dieses Heft. Denn obwohl die Entente-Mächte angeblich in der nächsten Zeit vor eine Vorfriedenskonferenz treten wollen, ist der Weltkrieg noch nicht beendet. Und was mich persönlich betrifft, so habe ich schon einmal auf den bloßen Tausch des Kriegsschauplatzes aufmerksam gemacht: ich fahre nun nicht mehr an die Geschütz-, sondern an die Studienfront. Äußerlich unterscheidet sich dieses Heftchen von seinen Vorgängern, dass es mit gotischen Buchstaben [Sütterlinschrift] geschrieben wird. Ich habe diese Schrift vom ästhetischen Standpunkt immer höher geschätzt als die lateinische, die ich aber aus praktischen Gründen und um ja nicht in der Welt für einen Theologen gehalten zu werden, mehrere Jahre beibehielt. Es ist möglich, dass ich sie aus denselben Gründen auch später noch oft benützen werde. Aber auf Blättern, auf denen ich mich selbst suche und zeichne, scheint mir die deutsche Schrift entsprechender zu sein. Sie ist klar, scharf, spitz – das brauche ich. Ich bin vor einigen Tagen aus Hermannstadt, wo wir Hochschülerversammlung hatten, zurückgekehrt. Hermannstadt ist der Mittelpunkt der sächsischen Literaten. Ich habe dort meine besten Freunde, von denen aber einige im Krieg gefallen sind. Ich habe mich fünf Tage dort aufgehalten und habe täglich Gespräche geführt, die es verdienen, dass man ihretwillen unter die Leute geht. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch, 22. Januar 1919, 1] Noch ein Gedicht von Goethe, das in mein Kriegstagebuch gehört: ‚Soldatentrost. Nein! hier hat es keine Not: Schwarze Mädchen, weißes Brot! Morgen in ein ander Städtchen: Schwarzes Brot und weiße Mädchen!’ Vor fünf Jahren stellte ich meine Feldbibliothek zusammen. Ich konnte mir damals keine größeren Bücher oder Werke mitnehmen, infolgedessen schnitt ich die Seiten oder Gedichte, die ich draußen am besten zu verwerten gedachte aus den Bänden einzeln aus und nun bildeten sie nur ein kleines Päckchen. Es waren hauptsächlich Körner und Goethe in dieser kleinen Sammlung vertreten und fast alle Gedichte bezogen sich auf den Krieg. Ich habe sie die ganze Zeit über bei mir getragen, ich muss aber aufrichtig gestehen, dass ich sie sehr selten zur Hand nahm. Ich lebte eben nicht den Krieg Körners, ja nicht einmal Liliencrons, sondern eben meinen. Heute nun habe ich sie wieder in ihre Stammbände eingereiht. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 30. Januar 1919, 4] Ich bin jetzt vollauf mit der Durchsicht meiner Tagebücher beschäftigt. Ich ordne den Stoff, der in ihnen aufgestapelt ist, in mehrere Häufchen. Schöpfungsgedanken ringen mit einander – und ich ringe mit der Fülle. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 5. Februar 1919, 4] Ich habe schon seit längerem versäumt übersichtlich und skizzenhaft die Zeitereignisse, wie sie mich umrauschen und berühren, auf diese Blätter zu werfen, am meisten wohl aus dem Grunde,
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da ich seit einigen Monaten wirklich abseits des Weltgetriebes stehe und sich seit dieser Zeit in unser Siebenbürgerwinkel eine größere, also ausländische Zeitung nicht verirrt hat. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 18. März 1919, 10] Ich war in den letzten zwei Tagen in Hermannstadt. Es ist dort eine neue literarische Zeitschrift Ostland in Entstehung begriffen, in der ich auch einiges veröffentlichen möchte, um endlich einmal aus mir herauszutreten. Doch habe ich keine besonders guten Eindrücke davon empfangen. Es werden mehr Kultur- als Kunsthefte sein, und so wird durch die umfangreiche und verschiedenartige Umgebung, durch das schwere Angehänge, das Niveau des künstlerischen Teiles gewiss heruntergedrückt werden. Dazu werden sie etwas konventionellen Modergeschmack haben, zumal im Kunstteile des ersten Heftes nur bekannte Namen vertreten sein sollen, um eine vornehme Wirkung hervorzurufen. So wird es also mit dem Veröffentlichen wieder nichts sein. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 13. April 1919, 15] Ich will alles übers Knie brechen. Dies ist mein großer schriftstellerischer Fehler. In ganz engem Kreis junger Freunde besprechen wir zweimal wöchentlich naturwissenschaftliche Fragen. Dort erfahre ich und verstehe ich zum ersten Male das System der Milchstraße oder der Milchstraßen. Man lächelt in solchen Augenblicken über die eigene Winzigkeit. Das kann vielleicht eine Bedeutung haben: es ist möglich, dass man sich nämlich wirklich freut, in seiner Erbärmlichkeit nicht Mittelpunkt der Welt sein zu müssen. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 18. April 1919, 18] Es fällt mir wieder ungemein auf, wie wenig mich Geschäftsarbeiten, Arbeiten der Indus trie und Handel befriedigen können. Sie enthalten nämlich – für mich wenigstens – so viele tote Punkte, das heißt Punkte, an denen man selbst nicht vorwärts gekommen ist, an denen man innerlich nicht bereichert worden ist, an denen man von der Rohheit und Dummheit der Menschen so sehr abhängig ist, an denen man also selbst zu einem Nichts, zu einer Null oder wenigstens zu einem Werkzeug herabsinkt, dass ich diesen außerpersönlichen, entseelten, entwürdeten Zustand ohne nagende Verzweiflung nicht ertragen könnte. Das Verhängnisvollste an dieser Tätigkeit ist nämlich, dass dabei der Geist entflieht – mir ist kein einziger Gedanke eingefallen in solcher Umgebung, wo man meinen sollte, dass man die Welt am Werke offen und nahe vor sich habe. Die Erklärung dafür ist vielleicht die, dass Industrie, Handel, Politik usw., also Zivilisation, eben nur Oberfläche, und zwar eine leicht veränderliche, vielbedingte, abhängige, bunte aber nicht tiefe, eben oberflächliche Oberfläche ist. Und wer die große Natur sucht oder ihren Geist, der kann eben an Tagesgewimmel wenig lernen, der muss in das Werden der Jahrhunderte oder der Jahrtausende blicken. Was mir aber das Geschäftsleben am meisten lächerlich macht und verleidet, ist, dass man dabei ein zu schlechtes Geschäft macht. Man erhält nichts, man bereichert sich nicht, man sammelt im besten Falle lumpiges Geld. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 17. April 1919, 18] Man muss wirklich bekennen, dass die Bildungsstufe unseres Völkchens eine erstaunlich hohe ist. Ich treffe hier ohne große Entdeckungsreisen auffallend häufig Menschen, mit denen man über exzellente Dinge sprechen kann. So wäre es also doch der Mühe wert, die Sachsen zu Lesern seiner Schriften zu wählen: wenig, aber gut und aufnahmefähig. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 24. April 1919, 16] Was habe ich an meinem Artikel in der Mediascher Zeitung gelernt? – Dass ich des leichten, oberflächlichen, gemeinverständlichen Zeitungsstiles vollkommen entbehre. Sobald ich irgendein Feld bearbeite, wird es ein Ackern daraus. Und da ich auch im Ackern noch keine Erfahrung habe, sind meine Furchen bald tief, bald seicht, bald grad, bald krumm, also: unregelmäßig, unübersichtlich, unverständlich. Sobald man sich bewusst ist, tief in etwas einzudringen, muss jedes Bestreben nach rascher Erledigung der Arbeit niedergerungen werden, es muss tüchtige Arbeit geleistet werden. Ich sollte mir in Zukunft, bevor ich etwas schreibe, das Kapitel Die Macht des Wortes in Engels ausgezeichneter Deutscher Stilkunst durchlesen!
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Horst Schuller Gestern sagte mir Vera ein Wort, das mir schon einmal jemand und zwar Hans Leicht gesagt hat: um wirklich zu wirken, darf man nicht wirken wollen. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 28. April 1919, 23] Gestern Hochzeit bei L. [?]. Ich hielt eine sächsische Ansprache. Man sagt mir nun schon, ich sei zum Theologen geboren. Doch das Beste vom Abend: die herrlich schönen Gestalten der Binderischen und Folberthischen Familie. Zum mindesten äußerlich: ein bewundernswertes Geschlecht. Ich kann mich an den schön geformten Köpfen, an den ausnahmslos hohen Stirnen nicht satt genug sehen! Mädchen und Frauen kann man geradezu bildschön bezeichnen. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 2. Mai 1919, 23] Ich bin voll schöpferischer Stoffe. Ich könnte mir täglich Gedichte ausdenken. Es fehlt bei mir also nur an der Gabe der Gestaltung – oder nur dem Mut dazu? So viel habe ich an mir erfahren, dass ich im Schaffen sehr schnell mutlos werde. [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 3. Mai 1919, 23] Für die neu gegründete literarische Zeitschrift Ostland hatte ich einige Gedichte nach Hermannstadt eingesandt. Nun sind sie mir mit der Bemerkung zurückgestellt worden, dass die Schriftleitung mit fortgeschritteneren Arbeiten vorläufig gut versehen sei, doch hofft sie sicher in Bälde meiner Sachen annehmen zu können. Sehr liebenswürdig! [Band 11, 1919, Vera – Erster Teil = Elftes Kriegstagebuch 22. Mai 1919, 27] Ich fahre auf einen halben Tag nach Kronstadt. Spreche beim Ziel vor. Gemäldeausstellung Hans Eder. Das Bild Der Verwundete, Der Cholerakranke. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 2. Juni 1919, 2] In der wärmendsten Nachmittagssonne ein kleiner Spaziergang mit Vera in den Grewelnwald. Heiter-ruhige Stimmung. Sie tut unendlich wohl. Im Walde sitzen wir auf einem gebogenen, schaukelnden Ast und Vera liest laut Gedichte aus der Sammlung sächsischer Dichter Jenseits der Wälder.19 Ich finde unsere sächsische Dichtung diesmal wunderbar ins Herz rieselnd, formschön, ja vollkommen. Nur etwas schmerzt mich, den Dichterjünger: wir haben viele, unzählige, jedoch nur Jugenddichter hervorgebracht. Ihre Leier ist in späteren Jahren beinahe ausnahmslos verstummt. Und so gibt es keine Persönlichkeit, die durch Kampf eines ganzen Dichterlebens verklärt, uns leuchtet und führt – nur im ersten Frühlingsschein flatternde Schmetterlinge, die, ach, bald die Sonne versengt. Wir würgen hier an schweren Brocken. Und ersticken daran. Unser Schicksal. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 18. Juni 1919, 9] Im Ziel sind die ersten Gedichte von mir erschienen. Und zwar: Liebe mich nur der Liebe wegen … und Abend. Das zweite findet mehr Anerkennung als das erste. [Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 20. Juni 1919, 9] Ich fahre nach Kronstadt – in einer elenden Stimmung. Siebenbürgen reift der Ernte entgegen. Auf allen Wiesen, Weg- und Waldrainen wird duftendes Heu gemacht. Im Ziel sehe ich wie meine Gedichte – leider mit Druckfehlern – gedruckt werden. Sie sagen, ich solle noch mehr davon einsenden. Im übrigen werden mir die Zielleiter immer unsympathischer, doch gehen mich schließlich ihre Lokalaffären nichts an. Die Gemäldeausstellung Ernst Honigberger bietet mir bedeutend weniger Interessantes als die Eders. Wenige Stücke, darunter zwei Mädchenbildnisse, sind gut, viele Bilder aber sind absolut tot und schlecht. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 27 und 28. Juni 1919, 10–11] Während ich dieses schreibe, taucht mir der Plan auf, in einem Roman die Folgen einer seelisch so überbürdeten, überfeinen, überempfindlichen, stürmischen Liebe zu beschreiben wie die un-
19 Anthologie siebenbürgisch deutscher Dichtung. In: Festschrift der Hermannstädter Oberschule zur Fünfzigjahrfeier. Hg. v. Dr. Richard CSAKI. Hermannstadt 1915.
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sere ist, in dem die beiden Liebenden im Zuviel der Seele, Liebe, Sturm und Feuer verbrennen und untergehen. Heute also trägt uns hinreißende, überschäumende Freude über Sonnenwege und Waldschatten, in denen wir bald lagern müssen, denn wir haben uns schon heißrot gelaufen. In Wahrheit können wir uns aber kaum noch enthalten, uns zu umschlingen und nun, nun hängen wir an einander, als wären wir für Ewigkeiten unzertrennlich. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 29. Juni 1919, S, 11] Ich bin also in mein Frühlingshäuschen im Tavolattischen Weingarten gezogen. Habe, wie ich es aus dem Feld gewohnt bin, meine Habseligkeiten herbeigeschleppt, einige Bilder aus dem Türmer an die Wände gehängt und sitze nun in einem Liegestuhl unter den zwei schattigen Kastanienbäumen, die das Häuschen von der einen Seite beinahe ganz einhüllen. Auf der andern Seite aber, die sich an den Berg lehnt, ist es von Wilden-Wein-Ranken grün überwachsen und wird mir nun so eher ein Sommer- als ein Frühlingshäuschen sein. Meinetwegen, die Hauptsache bleibt: ein neuer Beobachtungsstand soll es mir sein. Wechsel der Natur. – Dadurch, dass wir einen Ort, an den uns eine lebhafte Erinnerung knüpft, erneut aufsuchen, frischen wir unsere Erinnerung nicht auf, sondern trüben sie, denn wir können kein Bild in demselben Lichte, denselben Farben und in derselben inneren Stimmung ein zweites Mal sehen. Sondern wir empfangen von diesen Orten ein zweites, neues Bild. Je öfters das geschieht, desto mehr versinkt in der Erinnerung das erste, einzige. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 2. Juli 1919, S, 13] Geht das Leben in der Gefolgschaft der Kunst, oder die Kunst in der des Lebens? Unser modernes Leben beweist das Letztere. Herr Tavolatto, der gesunde, robuste Italiener, sagt heute, als von jungen Talenten die Rede war: ‚Menschen mit einer solchen Begabung können nicht normal sein, sie sind krank. Alle Künstler sind verrückt!‘ Und er hat recht. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 3. Juli 1919, S, 13] Nun lebe ich einen halben Monat auf dem Lande, in meinem versteckten Einsiedlerhäuschen – sorgenfrei, pflichtlos, nur mit inneren Aufgaben, gottvoll. Zwar sind es nicht Hochtage jener Einsamkeit, die ich den Sommermonaten meines Kriegslebens gekostet, denn ich habe die Hochtage der Zweisamkeit in zu naher, beinahe noch körperlicher Erinnerung. Dafür sind dies aber Tage des Schaffens, Schaffenwollens und Schaffenmüssens und werden es auch hoffentlich bleiben. Ich stehe gewöhnlich früh auf, mache einige Übungen im Morgennebel oder in der Morgensonne wasche und frottiere mich, räume das Zimmer auf und beginne oft zugleich mit den Arbeitern im Weinberge meine Arbeit, was Arbeit? – mein Gedankenspiel, was Gedankenspiel? – meinen Gedankenernst, was Ernst? – meine Freude, meinen Tanz, meinen Tag. Die starken Stunden des Vormittages werden diesem Schaffen gewidmet, damit ist aber auch genug – dann muss ich mich andern Bildern zukehren. Dies ist die Aufgabe der zweiten Hälfte des Tages: mich vom Werke abzukehren, zu zerstreuen. Ich hüte dabei sorgsam darauf, dass sich kein zweiter bedeutender Zweck meinem Leben unterschiebe. Denn ich weiß, dass jetzt die Stunde für meinen Johannes gekommen ist. Drei Jahre habe ich darauf gewartet, bewusst und freiwillig und freudig gewartet, nun fühle ich, dass sie da ist. Nun muss ich beweisen, dass ich kein leerer Träumer bin. In ungefähr zehn Tagen habe ich, nachdem mir Ideen und Stoff und Stimmung seit langem klar waren, den genauen Plan zu meinem Drama Johannes, der Türmer ausgearbeitet. Der Gang der Handlung, die Bilder, die Charaktere, alles steht mir jetzt klar vor der Seele und ich brauche also nur, was ich in mir trage, aus mir herauszustellen. Freilich ist das keine leichte Arbeit, es ist überhaupt erst die Arbeit an sich. Denn was bisher war, nennt man besser Geburt. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 16. Juli 1919, S, 15] Ich war gestern bei Draser, zu dem ich Vertrauen habe, und legte ihm den genau ausgearbeiteten Plan des Johannes vor, und er sagte mir: ‚Es ist alles recht schön, was Sie da haben, aber – es ist kein Drama. Sie arbeiten noch vollkommen subjektiv aus sich heraus, während das Drama den versteckten, den objektiven Dichter fordert, der aus dem Charakter seiner Gestalten heraus arbeitet. Sie tragen ihre Gedanken in die Menschen hinein und müssten als Dramatiker
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Horst Schuller von ihrem Standpunkte aus das Leben sehen. Auf der Bühne muss man einen Gedanken durch Handlung ausdrücken, nicht durch Worte. Usw., u. s. f.‘ Er hat in allem vollkommen Recht. Es ist mir ja nichts Neues, was ich da höre. Nur bildete ich mir ein, ich könnte diese Hindernisse, diese ungünstigen Vorbedingungen meines Charakters zum Bau eines Dramas aus dem Wege schaffen, bewältigen. Öfters schon erhoben sie ihre züngelnden, Unheil verkündenden Schlangenhäupter und weckten in mir den Zweifler. Aber gerade gleichzeitig damit auch den Mutigen, den Tollkühnen, den Draufgänger. Leichtsinnig gürtete ich mich mit dem dramatischen Schwerte, leicht verführt von einem alten, lieben Traum, leicht entflammt durch die Gefahr der Schlangenhäupter, tollkühn versuchte ich mit ihm Schwertstreiche auszuführen. Nun weiß ich, dass ich nicht den Arm dazu habe. Es ist die erste große Enttäuschung, die ich als Dichter an mir erlebe. Ich gehöre zu den unglücklichen Menschen, die mehr wollen als sie können. Wozu die großen Schwerter, die man nicht schwingen kann? Mit kleinen, gewandten Degen erreicht man mehr. Nun habe ich einen Monat vergebens gearbeitet – (und was für einen Monat! dies ist der Schmerz) – doch lieber einen Monat als ein Jahr. Natürlich muss ich meinen Traum und Stoff irgendwie loskriegen. Und nachdem die Geburt schon vollzogen ist und wider Erwarten statt einem sich dramatisch gebärdeten Jungen, einer mit stiller, sanfter Seele das Licht der Welt erblickte, wird es sich darum handeln, mit beherztem Entschlusse die Erziehung des Jungen den neuen Tatsachen anzupassen. Die bereitgelegten Windeln entsprechen nicht. Neue herbei! Dies könnte der erste Kunstgriff meiner Kunst werden. Frühmorgens das Gedicht Bad im Sommer geschrieben. Dann Verlassenheit verbessert. Schließlich den Hauptteil von Du und ich verfasst. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 22 Juli 1919, S, 16] Mein Träumen und Dichten nimmt mich jetzt so vollkommen ein, dass ich nicht die Ruhe habe, ein Buch zu lesen, zu Ende zu lesen. Es ist als ob es in meinen Adern fiebern und mein Kopf keinen andern Gedanken duldet, als nur gerade die an meine Krankheit (?!). (Kunst) Der Zustand ist für mich tatsächlich nicht so beglückend und bereichernd – obwohl er notwendig und sich selbst gebietend eingetreten ist – als der der starken geistigen Aufnahme. Hierbei wertet und schwertet mein Verstand noch mehr als bei dem Abgeben, Von-sich-geben. Ein Zeichen der Jugend, der Unreife – denke ich. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 23 Juli 1919, S, 16] Ich habe mich mit Graphologie noch nicht befasst, aber es ist mir klar, dass der Wille des Menschen in seiner Schrift deutlich zum Ausdruck kommt. Ich habe an mir zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass ich beim ersten Aufsetzen entdeckter, gebannter Gedanken mich gewöhnlich sehr schüchterner Schriftzüge bediene, bis mir durch öfteres Durchlesen die Richtigkeit eines Satzes vollkommen bewusst geworden ist; nun erst, bei einer späteren Niederschrift, besitze ich die Kraft zu spitzen, stolzen Stichen. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 24. Juli 1919, S, 16] Ich erfahre, dass mein Artikel aus der Mediascher Zeitung Wie entsteht die Volksmeinung? in einem Czernowitzer Blatt abgedruckt worden sein soll. Na, und drei andere Tageblätter tragen mir ihre Spalten an. Auch zu meinen Gedichten im Ziel werde ich beglückwünscht. Kurz und gut – man steckt in einem kleinen Völkchen bald Ruhm auf! Sommerparkfest der Modernen Bücherei. Aufmachung und Stimmung erinnert an die häusliche, gemütliche Kunst- und Musikpflege der Wiener im vorigen Jahrhundert. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 27. Juli 1919, S, 18] Ich arbeite nun schon viele Tage an meinem Johannes, der wahrscheinlich eine Novelle wird. Es handelt sich also hier um die Gestaltung eines großen inneren Erlebnisses, um Ordnen und Verknüpfen zum Teil schon geschriebener Stimmungen und Gedanken, also um eine dichterisch gewiss reizvolle Aufgabe. Und doch muss ich gestehen, dass ich mich dabei lange nicht in dem Lustzustande befinde, der mich erfüllt, wenn ich auf frischer Fährte nach neuem Erkenntnis-Wild pirsche. Das helle, aufjauchzende, übersprudelnde Glück der Erkenntnis – dies
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erkenne ich eben jetzt – kann von keinem andern Glücke des Geistes erreicht werden. Die Philosophen, sobald sie Priester der Erkenntnis sind, haben fürwahr keinen schlechten Geschmack bewiesen. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 15. August, 1919, S, 22] Ich habe richtig geahnt, dass, sobald man schöpferisch arbeiten will, man fremde Werke und Gedanken sich möglichst weit vom Leib halten soll. Die Lektüre eines bedeutenden Buches schon kann uns empfindlich stören. Denn wir müssen in solchen Zeiten die Welt durchaus mit eigenen Augen sehen. Nun verstehe ich den Ratschlag Nietzsches, wenig zu lesen. Die Dichter können infolgedessen tatsächlich nicht die gelehrtesten Männer sein. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 22. August, 1919, S, 23] Die erste Forderung, die wir vor einem Kunstwerk erheben, ist, dass es gut, nicht dass es neu sei. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 23. August, 1919, 23] Ich habe einen großen Unsinn begangen. Mitten im Schaffen, nachdem ich das erste Kapitel der Novelle Johannes geschrieben habe, nahm ich – um auszuruhen – Goethe in die Hand und Nietzsche und eine moderne Zeitschrift. Als Warnung gegen ähnliche Missgriffe in der Zukunft, setze ich hierher gleichwie an einen Pranger, dass mich diese fremden Bücher für eine Spanne Zeit vollkommen aus meinem Gedankengeleise gedrängt haben. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 24. August 1919, 24] Es ist köstlich, so nahe an der Natur zu leben wie ich in diesem Sommer. Die Nähe wird nämlich besonders dadurch vollkommen, dass ich allein das Häuschen unter dem Weinberg im Walde und Wiesental bewohne und so am ehesten noch mit der Natur Zwiegespräche, Zwiegefühle pflege. Wie wunderbar ist es doch, gleich nach einem vorüberrauschenden Regen, während die Bäume noch tropfen und die Wiesen perlen, aber die Sonne schon scheint, sein Tischchen herauszustellen und in dieser prächtigen Luft zu arbeiten. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 25. August 1919, 24] Es geht nicht. Ich werde in diesem Sommer meinen Johannes nicht niederschreiben können. Mein sorgenfreier Aufenthalt im grünen Sommerhäuschen schien mir zwar verlockende Gelegenheit dazu zu bieten und ich hatte mich auch innerlich reif dafür gehalten. So ging ich die Arbeit frischen Mutes an. Die Idee des Dramas musste ich bald in Erkenntnis meiner Unfähigkeiten aufgeben. Möglich, sagte ich mir, dass zum Teil auch der Stoff die erzählende Form fordert. Ich schrieb und schrieb. Ungefähr 27 Bogenseiten kleckste ich zusammen, endlich wurde die Reibung, die dabei überwunden werden musste, zu groß und ich gab es auf, unter solchem Druck weiterzuarbeiten. Ich weiß es nun: ich bin für ein Werk, auch nur ein Werkchen größeren Stiles durchaus unreif. Vor allem mangelt mir noch jede schriftstellerische Erfahrung und so könnte es mir blühen, dass ich die tiefsten Erlebnisse meiner Jugend verzapfe und mich dadurch ihrer beraube. Wie weitwirkend diese aber sein können, beweist mir zur Genüge der Faust. Was mir Not tut, ist, denke ich, folgendes in der Zeit, in der mich noch ein starkes Bedürfnis beherrscht, Eindrücke aufzunehmen, das Glück der seelischen Empfängnis nicht durch den Vorsatz zu einem Werke, das mich zu andauerndem Geben verpflichtet, zu stören; in dieser Zeit den großen Druck der angestauten Erlebnisse auf die Weise freizukriegen, dass ich nur die leichteren, unbedeutenderen von ihnen gestalte, die mir noch immer genügend zu tun geben werden; an diesen unschädlichen, unverantwortlicheren Versuchen meinen Stil zu bilden; und endlich an diesen kleinen Arbeiten verschiedenster Art, besonders aber an kurzen Charakterzeichnungen das Leben und die Menschen mit offenen Augen sehen zu lernen. Ich denke dabei an eine Art geistiger Anatomie. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 27. August 1919, 25] Ich wohne noch immer im herrlichen Weingarten. Ich kann mich von meinem stillen Sommerhäuschen nicht trennen, besonders wenn ich überlege, dass ich mich wohl in kurzer Zeit in Großstadtmauern befinden werde. Es ist hier draußen wundervoll, zu schön manchmal, selbst zum Dichten. Jetzt z. B. während die scheidende Sonne durch die breite leuchtende Krone der
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Horst Schuller Kastanienbäume bricht, die wie zwei ernste Hüter vor meinem Häuschen stehen, bringe ich nur mit einiger Überwindung diese Zeilen aufs Papier, eigentlich treibt es mich wiederum wie gestern über die dämmerstillen Wiesen, durch dunkle Waldgänge zu schreiten, ohne zu denken, ohne zu dichten, nur um zu träumen. Erst dadurch, scheint es mir, nimmt man eine Landschaft in ihrer Fülle, ihrer Gänze auf, wenn man sie zuweilen betrachtet ohne etwas Bestimmtes in ihr zu suchen, ohne dabei einen Gedanken zu verfolgen. Zauberschöne Bilder habe ich hier Tag für Tag in meine Seele getragen. Ich pflege früh aufzustehen, gewöhnlich ist das Waldtal zu dieser Zeit noch von dichtem Nebel bedeckt, von den Bäumen tropft der Tau als regnete es, und der Himmel über mir ist nebelgrau. Bis ich mich wasche und das Zimmer aufräume, ist die Nebeldecke über mir dünner und dünner geworden, bald sehe ich einen blauen Himmelsstreifen und dann leuchtet in einigen Augenblicken auch schon die Sonne durch. Bis ich mich an mein Tischchen mit der bunten Decke vor das Häuschen gesetzt habe, glänzt und gleißt es um und um. Dazu flötet vom Waldrand eine Drossel. Diese Morgenschönheit führt dann meine Feder. Einmal tat sie es zur eigenen Ehre: Morgen. In weißem Nebeltraume liegt das Tal Und strömt mir zu, den feuchten Hauch der Nacht, Da klingt’s – Ein Specht klopft an, Der Morgen spricht zum Tag: ‚Herein!‘ Es hüpft herbei … Spielt – schielt, und blitzt und sitzt Endlich auf einer Höh. Der Nebel fließt, Da bricht’s in Lichtermeeren herein Und – jubelnd bete ich die Sonne an. Dann schreit ich weiter … Von den Bäumen tropft es – Gold. In meiner Seele morgenstillen See, Füllt schwer und reich der Märchengrund. Wohin senk’ ich die Schätze nun des Tags? Der Vormittag gehört gewöhnlich ganz meinen Gedanken und ich bin unzufrieden, wenn ich ihn mit einem Buche oder sonst einem Menschen teilen muss. An warmen Nachmittagen nehme ich Sonnenbad im Liegestuhl, mache Stimmbildungsübungen und lerne Französisch. Sobald sich aber die Sonne neigt, wunderrote Strahlen durch die Bäume schickt, wenn der Tag stiller wird und die Erde dazu einladet, dass man sinnend über sie schreite, halte ich es um meine Klause herum nicht mehr aus, sondern schreite, laufe über die Wiesen und stürze mich dann auch wohl in einen noch sonnenwarmen Heuhaufen. Verschiedene Einfälle und Träume gehen mir dann durch den Kopf, nur ein Traum ist auf diesen Wegen mein ständiger Begleiter und nicht nur auf diesen: der Traum von Vera. [Band 12, 1919, Vera – Zweiter Teil = Zwölftes Tagebuch, 5. September 1919, 27–28] [Motto des 13. Tagebuchs]: ‚Wohl – weine, lache! Bebe, jauchze! Nur reiße, Saite, reiße nicht!‘ [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 10. September 1919, 1] Der Kulturgrad eines Staates lässt sich darnach beurteilen, in wie weit seine Verwaltung vereinfacht werden konnte. Der komplizierteste Staat ist nämlich derjenige, der noch in den Kinderschuhen steckt, das enfant terrible der Staaten! In einer kurzen Novelle die lächerlichschwerfällig-misstrauische Verwaltung eines eben gegründeten Staates zu verspotten, z. B. in Rumänien die Schwierigkeit der Beschaffung eines Passes. [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 11. September 1919, 1]
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Es wird schwer aufzuzählen sein – und vielleicht nie berechnet werden können – wie vielerlei Eigenschaften ein Dichter haben muss. Ich will im Augenblick nur den einen notwendigen Gegensatz, den er in sich vereinigen muss, andeuten: starke Eigenart und geschmeidige Anpassungsfähigkeit. Das erste ist klar wozu. Das zweite um in seinen Gestalten und ihren notwendigen Gegensätzen sich verlieren zu können, untergehen zu können. [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 12. September 1919, 2] Wieder in Herrmanstadt um alle Schriftsachen zensurieren zu lassen, die ich nach Deutschland mitnehmen will. [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 17. September 1919, 4] Alles wiederholt sich. Es ist, als ob selbst die neuesten Kunstgattungen immer schon einmal da gewesen wären. Ausgesprochenen Realismus hat es zum Beispiel schon im frühesten Mittelalter gegeben. In Meier Helmbrecht, der ältsten Dorfnovelle (1236) kann man lesen: ‚Hie wil ich sagen, waz mir geschah Daz ich mit meinen Augen sach.‘ Die Lustspieldichter unserer Zeit könnten einen neuen Typus auf die Bühne bringen: den Kriegsgewinnler. Ich habe ihn noch nie dargestellt gesehen. [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 13. Oktober 1919, 11–12] Ich las heute von einem Wohnturm von Augenstein bei Basel, einer mittelalterlichen Sehenswürdigkeit. Er ist vielleicht ein Beweis dafür, dass es auch in Wirklichkeit einen Turm gibt, wie ich mir ihn für meinen Johannes geträumt habe. Es ist eine Eigenmächtigkeit oder auch nur eine Bequemlichkeit der Dichter und Schriftsteller, wenn sie in ihren Werken Einzelschicksale (Schicksale einzelner Menschen) mit den großen Schicksalen der Staaten und Völker verknüpfen, als könnte nie der Fall eintreten, dass zum Beispiel zwei Menschen ihre glücklichste Zeit erleben, gerade während ihr Volk untergeht. Die Wahrheit aber lehrt, dass solche Fälle sehr oft vorkommen. Und es liegt gerade in ihnen etwas, das erschüttern kann. [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 14. Oktober 1919, 12] Ich gestehe es: Ich hatte mich im Krieg wahrhaftigen Bußübungen unterzogen. Ich tat es in einem Zustand, in dem der Körper bei den vielen Fährlichkeiten, die ihn umgaben, auf Schritt und Tritt seinen Schutz, seine Pflege, ungestüm seine Anerkennung forderte und in einem Alter, dem höchste Seligkeit ist, den freien, losgelösten, ewigen Geist siegen zu sehen. Es spielte sich mithin kein leichtes Stück Kampf in meinem Inneren ab, und oft genug habe ich als einzigen Erfolg davongetragen: ein grausiges Schlachtfeld zu sein. Doch trug ich damals gerne solche Leiden, die das Glück einzelne Siege des Geistes, des Willens umso strahlender erscheinen ließen. Und ich habe zu solchen Zeiten wirklich höchste Lebenswonnen empfunden. Später, das heißt nach meiner Rückkehr aus dem Feld, ließ ich von diesen Willensübungen ab. Ich kann als Ursache dieser Wandlung gegenwärtig weder einen absichtlichen neuen Willensentschluss noch aber allein einen von mir unabhängig wirkenden Trieb gelten lassen. Es ist wohl am richtigsten, wenn ich sage, ich überließ mich bei Bewusstsein und mit Übereinstimmung meines Willens einem natürlichen Triebe. Jedenfalls sah ich bald ein, dass man auch auf diese Weise ohne erniedrigende Gefühle im Leibe leben könne und bald lehrte mich meine Liebe zu Vera, dass es auch andere und ebenso hoch zu schätzende Glückswonnen auf der Erde gebe wie die Siege über sich selbst, ja ich begann zu fühlen, dass dies neue Leben sich vom vorigen, in dem doch gar zu oft die rauen Winde und Stürme des Willens wehten, Blümlein knickten, Gärten verwüsteten, dadurch vorteilhaft unterscheide, dass es das Reich einer zarten, anmutigenden Unschuld sei. Diese aber erschien mir mehr und mehr als der leichte, lichte Zaubermantel, der jeder hohen Kunst um die Schulter flattert. Vielleicht ahnte ich es schon, noch wusste ich aber nicht klar und bestimmt, dass ich damit den Weg meines Heiles betreten hatte. Wer mich dessen belehrt hat? Nun – heute habe ich es
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Horst Schuller erfahren, als ich die Predigt Von der Liebe las, des gewaltigen Meister Eckehart aus dem 13. Jahrhundert! Ich kann von dem herrlichen Schriftstück, das E. Engel in seine Sammlung Deutsche Meisterprosa aufgenommen hat, natürlich nur einige Merksätze abschreiben: ‚Gib acht! Alle Übung in Bußwerken ist neben andern Ursachen darum erfunden worden […], weil der Leib und das Fleisch sich jederzeit dem Geist entgegenstellen: der Leib ist ihm gar oft zu stark, geradezu ein Krieg herrscht allerwegen zwischen ihnen, ein ewiger Streit. […] Um nun dem Leib etwas Abbruch zu tun in diesem Streite, damit er nicht über den Geist siege, darum legt man ihm den Zaum der Bußübungen an und drückt ihn nieder, damit sich der Geist seiner erwehren könne. Nun tut das also, um ihn gefangen zu legen; willst du ihn tausendfach besser fangen und mit Ketten belasten, so lege ihn an den Zaum der Liebe.‘ [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 3. November 1919, 15–16] Ich lese bei Kasimir Edschmid, einem Verfechter des dichterischen Expressionismus: ‚Nur die Unproduktiven eilen mit Theorie der Sache voraus!‘ [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 23. November 1919, 21] Ich sitze in einem warmen Kaffeehaus, nachdem ich die ersten Schritte für meine Abreise getan habe. Ich trinke einen schwarzen Kaffee, rauche eine Zigarette, inzwischen lese ich in der Zeitung die Vollstreckung des Todesurteils an 14 kommunistischen Terroristen. Das ist unsere Zeit! [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 18. Dezember 1919, 27] Die Geschichte rollt, die Zeit läuft, wir fliehen, fliehen vor ihr her. Dies Gefühl packt mich, wenn statt der erhofften Ruhe nach irgend einer Leistung, statt dem harmonischen Ausklang einer gespannten Epoche, statt der Besinnung, die ich so sehr liebe, stürmisch eine neue Tat, ein neuer Wille, ein neues Muss Muskeln, Nerven, Gehirn fordert. Ich bedauere unendlich, dass mir auch diesmal die Besinnung, mein eigentliches Element, nicht vergönnt ist. Ich muss wieder weiter. So bleibt, was mich am meisten schmerzt, unausgeführt, mein Gedicht von der Stadt mit den schwebenden Brücken, das Gedicht im Kloster und die Zeichnung einiger Gestalten aus diesen Räumen, zum Beispiel den Dichter, das Gedicht Studium, die ich alle in den letzten Wochen in mir wälzte, ohne mir zu erlauben, sie als derzeit gleichberechtigte Gedanken neben die Prüfungsvorschriften zu stellen. [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 19. Dezember 1919, 27]
KONSTANTE BILDER UND MOTIVE Wie diese und andere Beispiele zeigen mögen, wurden Folberths Tagebücher in personifizierenden oder instrumentalisierenden Appellen als vertraulicher Partner angesprochen. Als durchgehende Denkfigur findet man bei Folberth die Gliederung nach Gegensatzpaaren, welche inhaltlich politischen Charakter haben (wie Aristokratie versus Demokratie, Individuum – Masse), existentielle Konnotationen aufweisen (Frieden – Krieg, äußerer Krieg – innerer Krieg, Leben – Tod, Nähe – Fremde, Weite – Enge, Identität – Alterität) oder intellektuelle Befindlichkeiten und Spannungen (Kunst – Leben, Träumer – Täter, Geist – Zivilisation) benennen. In seinen literarischen Beschäftigungen gab es Konstanten. Konstant blieb in allen Kriegsjahren die literarische Erhöhung des jeweiligen Beobachtungsstandes an der Front zur „Hütte“, ja zum symbolgeladenen „Turm“ als einem Refugium für friedliche Geistestaten. Der Beobachter, ein „Türmer“ des Überblicks, wurde zum philosophisch gestimmten „Seher“ und „Träumer“ (als Folberth seine Flugstunden er-
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folgreich beendete, bezeichnete er diese Kunstgestalt des Sehers auch als „Ikarus“). In diese Bilder fließt auch der Folberth nicht ganz fremde Hang zur Selbstinszenierung ein. Dieses Projekt, Johannes der Träumer, nach Tagebuch-Mitteilungen zu schließen, ursprünglich eine jugendstilhafte Allegorie, ein lyrisches Drama, wurde nach dem Krieg, wie wir schon erwähnten, fallen gelassen bzw. mit intermedialen Strategien aus einer Gattung in eine andere zu überführen versucht. Auch Folberths Auffassung von Lyrik, wie sie sich in zum Teil preziösen Tagebuch-Gedichten über die Einsamkeit der „Winterwüsteneien“, über Melancholie, Liebessehnsucht, Verlorenheit usw. niedergeschlagen hatte, veränderte sich, öffnete sich expressionistischer Bildsprache und Diktion. Aufschlussreich und bekenntnishaft für diesen Wendepunkt nach dem Krieg ist die letzte hier zitierte Aufzeichnung von Ende Dezember 1919: Morgen werde ich meine Reise nach Berlin fortsetzen und zum ersten Mal in meinem Leben die deutsche Erde betreten. Die ersten 24 Jahre meines Lebens habe ich also in Ländern zugebracht, in denen die deutsche Zunge mehr oder weniger selten erklingt, in denen sie eigentlich nur geduldet ist. So kann es leicht geschehen, dass mit dem schmeichelnden, anheimelnden Zauber des endlich erreichten Mutterlandes auch eine tiefe Beeinflussung, Befruchtung meines Geistes durch die dort eingeatmeten Gedanken Hand in Hand gehen werden. Deshalb halte ich es für angebracht, so etwas wie ein künstlerisches Bekenntnis, kurz und schmucklos, an das Ende eines Lebensabschnittes zu setzen, in dem ich bei dem vollkommenen Mangel eines so genannten literarischen Lebens, in der Hauptsache stets auf mich selbst angewiesen war. Ich bin der Meinung, dass die mächtigen seelischen Erlebnisse des Krieges in den nächsten Jahren unbedingt künstlerischen Ausdruck erfahren müssen und dass sich die Künstler mit diesem ungeheuren Stoffe so lange herumschlagen werden, bis er endlich in einem Werke Ewigkeitswert erhalten hat. So lange wird sie die Schuld drücken, dann erst werden sie aufatmen. Ich glaube nicht, dass die Sing-Sang-Poesie dabei eine große Rolle spielen wird. Ich glaube nicht an die Zukunft des Reimes. Wir wollen heute nicht mehr bezaubert oder gerührt werden, wir, die wir bis zur Verzweiflung, bis zum Wahnsinn erschüttert worden sind. Wir lächeln über die gemessene Melodie kunstvoller Verse, wir, deren Trommelfelle durch alle Disharmonien zwischen Himmel und Hölle, Tier und Mensch, erzitterten. Wir glauben nur mehr an ein Aufbrechen der Gefühle, an ein Aufblitzen der Gedanken – was dazwischen liegt, ist wertlose Fülle, ist Pappe. Deshalb werden wir mehr stammeln als dichten. Unsere Werke werden eher Gefühle sein als Töne, eher Gedanken als Meinungen. Ich denke, es muss eine Zeit einer neuen Prosakunst anbrechen. Es wird ihre Art sein, nur Wesentliches zu zeichnen und auf diesem Wege versuchen, die Wahrheit zu verfolgen, zu ertappen. Nachtragen muss ich, dass ich selbst an dichterischen Versuchen nichts als einen schmalen Band Gedichte mit mir führe. [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 27. Dezember 1919, 31–32]
KURZES RESÜMEE Fassen wir zusammen. Otto Folberth schrieb (ab 1915) als Augenzeuge über Erlebnisse an der russischen und (ab 1918) an der rumänischen Front wie auch über die Bürgerkriegs-Zustände während der Räterepublik in Ungarn. Aus Fremdperspektive, in Erzählungen von befreundeten Kriegern an der italienischen Front finden sich auch Informationen über die völkerrechtswidrige Behandlung der Kriegsgefangenen an dieser Front.
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Folberth war sich der Schwierigkeiten und Risiken für Zeithistoriker bewusst, einen objektiven, alle Frontabschnitte berücksichtigenden Standpunkt beim Schreiben einer Geschichte des Weltkriegs zu finden. Nicht weniger verantwortungsbewusst und gegen Instrumentalisierungen der Kriegsthematik gewappnet, hatten seiner Meinung nach auch die Dichter und Schriftsteller zu sein: Achtung Dichter des Krieges! Legt jedes Wort, das ihr unter die Menge schickt, auf die Goldwaage als ob ihr mit Gift zutun hättet! Ihr sprecht über die gefährlichste, vieldeutigste, traurigste, hinreißendste, erschütterndste Sache. Mit solchen Dingen darf man nicht spielen. Andererseits kann euch niemand das Recht nehmen, darüber die Wahrheit zu sagen. [Band 13, Studium in Budapest – September bis Dezember 1919 = Dreizehntes Tagebuch, 2. Dezember 1919, 21]
Die Front im Osten und Südosten Europas hatte ihre Besonderheiten. Diese bestanden dort u. a. darin, dass in Südgalizien über längere Zeitabschnitte ein Stellungskrieg und kein Bewegungskrieg geführt wurde und dass die russische Oktoberrevolution (1917) zu Auflösungserscheinungen im russischen Heer und schließlich zum Waffenstillstand und Sonderfrieden führte. Das Besondere bestand auch in der Begegnung im eigenen Heer, im Heer der Russen und in der Zivilbevölkerung mit zahlreichen ethnischen Minderheiten, die Folberth immer wieder miteinander verglich. Für den Verfasser der Tagebücher ergaben sich bei stockenden Kampfhandlungen Pausen, die Folberth das Lesen und Schreiben ermöglichten. Eine weitere Besonderheit bestand darin, dass die deutschen Niederlagen an der Westfront und die Versprechungen der Bündnispolitik zur kampflosen Räumung zuvor eroberter Feindgebiete und zum Frontwechsel siebenbürgischer Verbände führte. Folberths Perspektive auf die Ereignisse war davon bestimmt, dass er anfangs Teil der siegreichen k. und k. Armee war, zu Kriegsende zu den Verlierern gehörte, durch den Anschluss Siebenbürgens an Rumänien wieder in eine Siegerarmee übernommen wurde, mit der er sich aber nicht über Nacht identifizieren konnte. In seinem Gewissenskonflikt bewahrte ihn schließlich das Theologiestudium davor, in die rumänische Armee einberufen und im Namen des Staatspatriotismus gegen die Frontgefährten von gestern eingesetzt zu werden. Noch im November 1919 wurde er gegen Gage Mitglied einer Miliz-Sicherungs-Abteilung der Stadt Budapest und als Oberleutnant der Reserve Führer eines Offizierschwarms. Folberth betonte den subjektiven Charakter seiner Aufzeichnungen. Es geht um „mein Ich“, „meine Seele“, „meinen Krieg“. Das Tagebuch wird, wie wir in den zitierten Äußerungen sehen konnten, zum Freund, dann zum Zeugen der Einsamkeit personifiziert oder in zunehmendem Maße in seiner Funktion als Instrument (Spiegel, Schrift „meines“ Blutes, Blatt meiner Seele, Speicher, Almanach, Dialogersatz) definiert. In Folberths Kriegstagebüchern, die er so bezeichnet, weil sie in der Zeit des Kriegs (aber nicht ausschließlich zu Kriegsthemen) geschrieben wurden, nimmt die Literatur und die Information über Literarisches einen wichtigen, aber nicht den alleinigen Platz ein. Sie erscheint in Formen der Rezeption und der Eigenschöpfung. Als Formen der Rezeption nennen wir Lektüre, Literatur-Studien, Zitate aus bestimmten Büchern und Zeitschriften, die als Mottos, Merksätze oder Kommentare zu einem bestimmten Thema dienen. Diese Lesefrüchte stammen aus deutsch-
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Auszug aus dem Kriegstagebuch von Otto Folberth, 1915. Bildarchiv des Siebenbürgen-Instituts an der Universität Heidelberg, Gundelsheim/Neckar
sprachigen Quellen, aber nicht nur aus der deutschen Literatur. Auffallend ist Folberths Interesse für die russische Literatur (Iwan Turgenjew, Nikolai Gogol, Lew Tolstoi, Alexej Tolstoi, Maxim Gorki, Alexandr Kuprin), also für die Literatur des Feindes und für soziologische Sach-Literatur (von Paul Rohrbach) über die Russen. Als er sich für das Philologie-Studium in Budapest vorbereitete, las er ungarische (Jókai Mór) und französische Autoren (Rousseau, Lamartine, Balzac, Zola). Aufschluss über bestimmte Vorlieben bieten, selbst wenn Zitate oder Exzerpte fehlen, auch die gelegentlich aufgezählten Autoren und Titel seiner Feldbibliothek, die er durch Sendungen von zu Hause, wohl auch durch Ankäufe (einschließlich aus Feldbuchhandlungen in Bahnhöfen) und Funde (z. B. eine kostbare Erstausgabe von Goethe-Gedichten, 1828) versorgte. Auch hier kommen dichterphilosophische (Nietzsche, Schopenhauer), naturwissenschaftliche (Haeckel), religiöse
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(Bibel, Meister Eckhart), soziologisch-politische (Oswald, Stirner, Chamberlain), geschichtliche (Johannes Tröster, Georg Daniel Teutsch, Kurt Stegemann von Prinzwald) Titel neben den anspruchsvoll belletristischen (Walthari-Lied, Goethe, Kleist, Körner, Eichendorff, Hebbel, Gerhart Hauptmann, Rilke, Edschmid) oder unterhaltsamen Erfolgsautoren (Otto Ernst, Agnes Günther) zu stehen. Es fällt auf, dass die damals aktuelle kriegsaffirmative Lyrik (in der Presse und in Anthologien) ihn nicht zu Nachahmungen verführt. Durch ein Gastspiel der Hermannstädter deutschen Bühne sieht und kommentiert er in Mediasch innerhalb von wenigen Wochen (im Mai und Juni 1919) Einakter aus dem Anatol-Zyklus von Schnitzler, die Stücke Die versunkene Glocke von Gerhart Hauptmann, Gespenster von Ibsen, Medea, Des Meeres und der Liebe Wellen von Grillparzer, Vater von Strindberg, Jugend von Max Halbe, Therese Raquin von Zola, Weibsteufel von Max Schönherr, Iphigenie von Goethe. Zu den Mittlern von Literatur gehörten auch Zeitungen und Zeitschriften. Folberth bezog an der Front im Abonnement die Neue Freie Presse, das Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt, las in illustrierten Velhagen & Klasing-Monatsheften, blätterte im Pester Lloyd, wurde mit Gedichten und später mit Kulturbriefen (aus Berlin) in den siebenbürgischen Zeitschriften Das Ziel /Das Neue Ziel und (mit einem Gedicht) auch im Ostland gedruckt. Seine eigene dichterische Produktion in den Tagebüchern befindet sich, wie zu erwarten war, noch in einer Rohform. Sie ist fragmentarisch, geschmacklich und sprachlich noch unsicher, eklektisch, fremdgeprägt. (Es finden sich u .a. Anklänge an Heine, Wilhelm Müller, Nietzsche, Busch, Morgenstern, Rilke). Mit verwunderlicher Unbefangenheit setzt er stilbrüchige Diminutiva oder Reime (wie etwa „Abend“ auf „rabend“) ein und häuft das empfindliche Epitheton „golden“ oder die Metapher „Gold“ bis zur Inflation. Einen besonderen Ehrgeiz wendete der Autor auf bemühte Wortneuschöpfungen. VON NOTIZEN ZUR GEPRÄGTEN FORM Welche Veränderungen erfahren nun diese Rohformen im späteren poetischen Werk? Keine grundsätzlichen. Mehrere Gedichte aus den Tagebüchern, die auch in Zeitschriften erschienen waren (Den Lesenden, Verlassenheit, Leid, Herbstritt, Morgen, Meeresgruß, Entsagung, Du und ich, Einsamkeit) werden später nur leicht verbessert in den Band Sterne im Tag20 aufgenommen. Es lassen sich u. a. im Detail rhythmische Korrekturen, der Austausch einzelner Wörter und eine gewachsene Vorliebe für Stabreim feststellen. Das Lieblingswort ist „rauschen“, die bevorzugte Fortbewegung bleibt das stilisierte „Schreiten“ bzw. „Reiten“. Häufig herangezogene symbolische Realien aus galizischer Erfahrung sind „Steppe“, „Steppenwind“, „Heide“. Neben gelungenen poetischen Komposita (wie „Dämmerwiesen“, „Fenstersaum“, „Himmelsstaub“, „Tropfenspiegel“) stehen auch allzu kühne Drei20
Folberth, Otto: Sterne im Tag, 1927. Dieses Buch wurde im Auftrag des Verfassers in der Markusdruckerei, Schäßburg, in fünfzig nummerierten Exemplaren hergestellt. Die Ausstattung besorgte Hermann Lani. Mit einer Widmung: Für Gertrud [die Gattin des Autors].
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Wort-Zusammensetzungen wie „Sommersonnenglänzen“, „Wintertakelwerk“, „allzuhalserhobenes (Schreien)“. Zu den Rezensenten des Gedicht-Bandes gehörte auch der Österreicher Otto Basil, der zu dem Schluss gelangte: „Trotzdem halte ich Folberth für keinen Lyriker.“21 Dieses Diktum über seinen Debütband scheint Folberths Entscheidung, sich zunehmend der erzählenden Prosa zuzuwenden, mitbestimmt zu haben. Zwar erschien kein weiterer Gedichtband von Folberth, aber aus dem Vorhandenen und aus mittlerweile in der Kulturpresse veröffentlichten Gedichten wählten die Herausgeber mehrere Texte für die anspruchsvolle Anthologie Herz der Heimat (1935, 1937)22 aus. Dazu gehörte auch jenes zwischen Lob der Geborgenheit und Fluch der Beschränkung gespannte Lied auf Siebenbürgen.23 Folberths Gedicht erlangte Berühmtheit und paradigmatische Bedeutung und gilt als das Gedicht, das dem widersprüchlichen „Generationsgefühl […] wohl den überzeugendsten Ausdruck verliehen“24 hat. Als Prosa-Beispiel für den Vergleich zwischen Tagebuchnotiz und gedruckter Erzählung, derer sich mehrere finden lassen, wählen wir zum Schluss die Geschichte einer siebenbürgischen Kameradschaft, wie es im Untertitel zum sperrigen Haupttitel 1 Geschütz, 16 Pferde, 20 Mann heißt.25 Im Kriegsgebiet Galiziens kam im September 1915 der mit Folberth befreundete Kadett Lingner auf einem Erkundungsgang unter nicht ganz geklärten Umständen auf der Tarnopoler Straße ums Leben. Folberth schrieb dem Freund das Dulce et decorum est pro patria mori auf sein Kreuz aus Birkenholz. Zwei Monate nach Lingners Tod wurde dem Gefallenen die Große Silbermedaille verliehen. In der fiktionalisierten Geschichte, für deren abgewandelten, literarisierten Inhalt sich der Artillerie-Kadett „Johannes [!] Falk“ verbürgt, ist der von allen aus der Mannschaft wegen seiner Tatkraft bewunderte und verehrte, das Adelsprädikat tragende ungarische Oberleutnant von Gerö das Opfer. Der Kadett Johannes denkt über Gerö in symbolischen, folkloristisch geprägten Bildern: „Das Grün der Tanne leuchtet aus ihnen [den Augen], und der Tanne Geradheit, der Tanne Harz, der Tanne steiler, senkrechter Entschluss. Sie [die Tannen] müssen die Hüter seines tapferen Herzens sein.“26 Die Mannschaft wird in der Erzählung einem extensiven Transsylvanisierungsprozess unterworfen: neben Ungarn und Sachsen werden jetzt auch Rumänen (Bucur von der Bedienungsmannschaft, Toncian der Koch) und Zigeuner (Duma) ausdrücklich genannt. Magyarische Ruf- und Scheltworte, rumänische Stoßgebete 21 Vgl. die Rezension in der Zeitschrift Klingsor 9 (1927), 357. 22 Herz der Heimat. Hg. v. der Deutschen Buchgilde in Rumänien. Hermannstadt 1935, 42–43; Herz der Heimat. Deutsche Lyrik aus Siebenbürgen. Hg. v. Herman Roth. München 1937, 10–11. 23 Der Erstdruck dieses Gedichts erfolgte in der Zeitschrift Klingsor 9 (1930), 332. 24 Vgl. Sienerth, Stefan: Ausklang. Anthologie siebenbürgisch-deutscher Lyrik der Zwischenkriegszeit. Cluj-Napoca 1982, 29. Besagtes Lied auf Siebenbürgen wurde auch in Sienerths Anthologie aufgenommen, 120–121. 25 Folberth, Otto: 1 Geschütz, 16 Pferde, 20 Mann. Geschichte einer siebenbürgischen Kameradschaft. Böhmisch-Leipa 1940. 26 Ebd., 12.
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werden im Originalton als Authentizitätssignale zitiert. Wer im Erscheinungsjahr 1940 allerdings aus diesem Figurenensemble vom Autor verschwiegen wurde oder verschwiegen werden musste, ist der 1915 im Tagebuch noch genannte siebenbürgische Jude. Man vergleiche nun die Szenen mit der Auffindung des Toten in zwei unterschiedlichen (drei Jahre auseinander liegenden) Tagebuchaufzeichnungen und dann mit der Schilderung in der viele Jahre später verfassten Erzählung: I. (1915) […] zwanzig Schritt rückwärts im rechten Straßengraben, unter einem Baum, [liegt] unser armer Lingner. […] Unseren lieben Toten, der durch einen Stich in die Brust ermordet worden ist, legen wir in ein Zeltblatt zwischen zwei Stangen, heben diese rechts und links auf je einen Sattel und schreiten zu Fuß den traurigen Weg zurück. […] Der Mond geht auf, als wir dort eintreffen. […] Der Hauptmann sprach mit gedämpfter Stimme, dann betete er ein Vaterunser. Morgen soll er auf dem Friedhof von Szierna auf Befehl der Division begraben werden. [Zweites Kriegstagebuch, 17. September 1915, 21] II. (1918) Die sonnenlichten Morgenstunden opfere ich aber noch eigenen Zwecken: hinauszufahren zur Stelle, wo mein Batteriekamerad Lingner am 17. September 1915 einige km vor Tarnopol auf einem Patrouillenritt gefallen ist, und die ich noch ganz genau im Gedächtnis behalten habe. Die große gerade Heeresstraße ist nach dem gestrigen Regen rein und samtweich und führt hügelauf, hügelab durch die betauten Wiesen und Saaten. Und ich finde die Stelle tatsächlich wieder, obwohl sich die Merkmale, die ich mir damals einprägte, als wir ihn einholten, verändert haben. Es sind seitdem neue Kriegszüge über diese weiten, offenen Felder gebraust und haben das Wäldchen und zwischen beiden in der Mitte den Baum, unter dem wir ihn tot und ausgeraubt fanden, geköpft, aber ihre Stämme und Stümpfe finde ich noch. In dem Straßengraben, in dem er lag, pflücke ich jetzt eine rote Mohnblume und will sie zu seinem Gedenken bewahren, bis der Wind sie mir zerreißt. Die Schützengräben, die sich damals hier hinzogen, durchfurchen auch jetzt die reinen, leuchtenden Felder, nur sind sie jetzt von Blumen überwuchert. In der Straßenlauerstellung, an der Lingner auf einige Schritte niedergestreckt wurde, sehe ich eben ein wiesenfarbiges Wiesel laufen. Und alle diese neuen Farben, dieses neue Leben des alten wohlverborgenen und behüteten Bildes erschüttern mich auf das heftigste. [Neuntes Kriegstagebuch, 2. Juli 1918, S.20] III. (1940) Doch dann springt Falk aus dem Sattel und kniet schon mit entblößtem Haupt und gefalteten Händen an der Seite seines Herrn und Freundes. Blitzschnell hat er begriffen, dass hier schon längst alles vorbei und vollbracht ist. Der Tote liegt auf dem Rücken im Schützengraben. Er liegt da mit angezogenen Knien und in die Luft greifenden Händen, als habe er sich im letzten Augenblick noch jemandes erwehrt. Seine Augen, seine feuchten Tannenaugen sind jetzt wie grünes, kaltes Glas. Seine Kinnlade hängt weit geöffnet herunter. Ameisen krabbeln über seine Stirne. Aus einer Brustwunde, die von einem Stich herrühren könnte, so groß ist sie, ist Blut in seine Kartentasche geronnen mitteninne zwischen das Zelluloidfenster und das blank gescheuerte Lederblatt. Die Tarnopoler Karte trägt einen großen roten Fleck.27
Die Unterschiede in Struktur und Absicht zwischen einer sachlichen militärsprachigen Tagebuch-Notiz und ihrer funktionalen Verschiebung zu einer bewegenden Gestaltung liegen hier auf der Hand. Im Tagebuch (1915) werden Daten und Fakten im Ton eines knappen technischen Berichtes vermerkt, in dem (zweiten) Erinne27
Ebd., 70.
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rungseintrag (1918) macht sich schon eine Detailanreicherung bemerkbar, zu den heraufbeschworenen Fakten kommen Stimmungs-Requisiten (wie roter Mohn, ein Wiesel) und Landschaftselemente hinzu. In dieser authentischen Erlebnisperspektive werden starke und glaubwürdige Gefühle geweckt, aber der Tote selbst wird, wie auch im Ersteintrag, aus subjektiver Betroffenheit, traditioneller Scheu und Pietät nicht vorgeführt. In der Jahrzehnte später verfassten Erzählung über das objektivierte Erlebnis werden Figuren umbesetzt, äußere Elemente und Realien frei umgeordnet, ergänzt, veranschaulicht und auf Handlung mit dramatischer Wirkung, auf ein Ziel, auf eine Botschaft hin ausgerichtet. Das vor Entsetzen verzerrte Gesicht wird mit allen drastischen Einzelheiten gezeigt. Der Held hat auch im Tod, so scheint Folberths neuer Standpunkt zu sein, das Menschenrecht auf sein eigenes Antlitz. Die zum ersten Mal detailliert beschriebene Körperhaltung suggeriert vermutbare Szenen und mögliche Gründe für die Tötung. Die allgemeine Schlussbotschaft mag lauten: Ein Lob der Tapferkeit, der Völker verbindenden und Völker verteidigenden Solidarität. Die Mannschaft, die Masse aber wird von Individuen gebildet. Die Einzelschicksale der Toten sollten in der Erinnerung der Überlebenden nicht vergessen werden. Doch welche Mittel stiften Gedächtnis? Die Antwort auf diese Frage klingt am Ende etwas kunstskeptisch und materialgläubig. Der neunzehnjährige Kadett, die schneidige Kunstfigur mit den sprechenden Namen Johannes Falk, vertritt die Ansicht, dass die Schützenlöcher auf dem zerfetzten Schlachtfeld in der Reihe der Denkmäler „[…] wahrer, aufschlussreicher, überzeugender als alle Berichte, Erzählungen und Tagebücher des Kriegs“28 seien. Teilt der Autor diese sich aufs Greifbare beschränkende Aussage seiner Figur? Wir dürfen annehmen, dass Otto Folberth, der mit seinen ästhetischen Mitteln gerade dabei ist, ein künstlerisches, ein durch Lektüre immer wieder erreichbares und abrufbares Denk-Mal aufzurichten, mit jener herausfordernden Behauptung des Fähnrichs, unterschwellig eher den inneren Widerspruch der Leser gegen solche Anzweifelung, gegen solche Anzweifelung der Macht des Wortes herausfordern wollte. Was Folberth, wie die wiederholten Nachdrucke dieses Textes zeigen, auch gelungen zu sein scheint. Titel oder Anfangszeilen der Gedichte und Mottos von Otto Folberth in den Tagebuch-Aufzeichnungen von 1911 bis 1919 Erste Aufzeichnungen, 11. Juli 1911: Singe, o Muse, die Schönheit des alten, edlen Schäßburg! Erste Aufzeichnungen, 4. März 1913: Wenn alles schlecht ist. Erste Aufzeichnungen, 9. Mai 1913: Wo am Ende der Stadt, wo Schein der letzten Gaslatern. Erste Aufzeichnungen, 15. Mai 1913: Det Fräjohr kaom, der Sannescheng. [An Mausi] Erste Aufzeichnungen, 18. Juni 1913: Salzburg: Bregenz am Bodensee. Erste Aufzeichnungen, 2. Oktober 1913: Gedanken nach einer durchwachten Nacht. Erste Aufzeichnungen, 19. November 1913: An Mausi. (Als ich ihr am Namenstage ein Buch überreichte); Die Welt ist so schön. Erste Aufzeichnungen, 3. Mai 1914: Weit verschlungen, o, die Wege eines Wanderers. 28
Ebd., 77.
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Erstes Kriegstagebuch, 6. Juni 1915: Liebes Mädchen, ich bitte Dich; Meeresgruß. Erstes Kriegstagebuch, 24 und 25. September 1915: O Herbstsonnenglanz im fernen Land. Erstes Kriegstagebuch, 29. September 1915: Stille liegt über dem alten Park. Erstes Kriegstagebuch, 28. Oktober 1915: Waldspruch. Erstes Kriegstagebuch, 15. November 1915: Du Leben im kahlen Walde. Zweites Kriegstagebuch, 24. November 1915: Sei das Blatt meiner Seele. [Motto] Zweites Kriegstagebuch, 17. Dezember 1915: Stimmungsbild aus Galizien. Zweites Kriegstagebuch, 24. Dezember 1915: Endlose weiße Winterwüstenei. Zweites Kriegstagebuch, 14. Februar 1916: Verlassenheit. Zweites Kriegstagebuch, 8. März 1916: Auf der Straße, in der Stellung. Zweites Kriegstagebuch, 14. März 1916: Ein leises, langes Säuseln. Drittes Kriegstagebuch, 16. Mai 1916: Sie schreiben mir, dass unten Frühling sei. Drittes Kriegstagebuch, 17. Juni 1916: Im Maien standen wir. Drittes Kriegstagebuch, 30. Juli 1916: Türmers Morgenlied. Viertes Kriegstagebuch, 20. November 1916: Auf der Lysonia Nase. Viertes Kriegstagebuch, 14. Dezember 1916: Kam einst ein einsamer Knabe vom Krieg. Fünftes Kriegstagebuch, 17. Juni 1917: Sonnensonntagsgruß. Siebentes Kriegstagebuch, 15. Oktober 1917: Mein Rapp nun wacker greife aus. Siebentes Kriegstagebuch, 1. Januar 1918: Das soll mich aber nicht verdrießen. Siebentes Kriegstagebuch, 12. Februar 1918: O Mädchen hört, wie ich diesmal heimgekehrt. Achtes Kriegstagebuch, 29. April 1918: Ich reit’ durch fremde Lande. Neuntes Kriegstagebuch, 21. Mai 1918: Stets neu mich erinnere. [Motto] Neuntes Kriegstagebuch, 25. Mai 1918: Abendstimmung. Zehntes Kriegstagebuch, 17. September 1918: Noch rollt der Donner der Geschichte. [Motto] Zehntes Kriegstagebuch, 13. Januar 1919: Noch rollt der Donner der Geschichte. [=„Lied an die Freude“] Elftes Kriegstagebuch, 22. Januar 1919: Erwache Jugend! Brich das Eis. [Motto] Elftes Kriegstagebuch, 3. April 1919: Sturm und Liebe. Elftes Kriegstagebuch, 15. April 1919: Leuchtender Morgen, schreite empor. Elftes Kriegstagebuch, 22. Mai 1919: Die Sonne lacht, die Sonne lockt. Zwölftes Tagebuch, 26. Mai 1919: Mein Volk des Kriegs! Brennt auch die Wunde. [Motto] Zwölftes Tagebuch , 4. Juli 1919: Willkommen. Zwölftes Tagebuch, 22. Juli 1919: Bad im Sommer; Verlassenheit; Du und ich. Zwölftes Tagebuch, 16. August 1919: Frage. (Die Sommersscheitelsonne brennt auf heiße Hänge). Zwölftes Tagebuch, 5. September 1919: Morgen. (Im weißen Nebeltraume liegt das Tal). Zwölftes Tagebuch, 20. Juni 1919: Lieb mich nur der Liebe wegen; Abend. Dreizehntes Tagebuch, 10. September 1919: Wohl – weine, lache! Bebe, jauchze! [Motto]. Dreizehntes Tagebuch, 11. September 1919: Leid. (Ob wir zaudern, ob wir wagen). Dreizehntes Tagebuch, 19. Dezember 1919: Gedicht von der Stadt mit den schwebenden Brücken; Im Kloster; Studium. Dreizehntes Tagebuch, 25. Dezember 1919: Gruß an Wehra.[!]
LEUTNANT PEPI ZIEHT IN DEN KRIEG Bericht über einen Roman Walter Klier DIE ERSTEN VERSUCHE Als junger Schriftsteller will man möglichst bald einmal einen Roman fertigbringen, mit dem sich auch prunken lässt. Man hat dazu (in Ermangelung von Lebens- und Schreiberfahrung) jede Menge angelesene Muster im Kopf. Als mein Großvater 1974 starb, mit 86 Jahren, behielt ich aus seinem Nachlass ein Kuvert mit Fotografien aus dem ersten Weltkrieg, mehr oder weniger vergilbte und verblasste Abzüge von damals – dazu auch noch die Päckchen mit seiner Korrespondenz 1914–1918, die ich aber ungelesen in einer meiner Schubladen verstaute. In jenen 1970er-Jahren war (bei mir zumindest) der französische Nouveau Roman das Angesagteste, das Neueste, das Modernste überhaupt, und so versuchte ich einen Roman in der Manier etwa von Claude Simon zu schreiben, indem ich anfing, die Fotografien zu beschreiben, diese milchige Gräue, die alles darauf Abgebildete überzieht, die müden, ausgemergelten Uniformierten, die man da sehen kann, den deprimierend weitläufigen Schnee im russischen Winter, den Lehm und Schlamm der Schützengräben, die roh gezimmerten Verschläge und Baracken, in denen da gehaust wurde, und etliches mehr. Ich kam damit, wie es so schön heißt, auf keinen grünen Zweig. Ich glaube, es kam nicht einmal so weit, dass ich die handschriftlichen Manuskriptblätter in die Maschine tippte. Viele Jahre später fragte mich Michael Rutschky, ob ich nicht für die Zeitschrift Alltag, die er damals herausgab, einen Text schreiben wolle. Das Thema des Heftes lautete Wo bitte geht’s zum Krieg?, und ich erinnerte mich der erwähnten Päckchen mit Briefen und Postkarten, die mein Großvater, vom Kriegsanfang im August 1914 weg, nach Hause geschrieben hatte. Mit großer Mühe entzifferte ich die ersten paar, und baute einen Text daraus, der ausschließlich den ursprünglichen Wortlaut wiedergab: 2. Aug. 1914. Lieber Papa! Nach 1 St Verspätung in Innsbruck überall in Tirol mit Begeisterung aufgenommen. In Kitzbühel das Frl. Traunsteiner getroffen. Im übrigen eine kolossale Gaudi. Ich fahre mit Hittmair. Die Leute hatten solche Begeisterung, daß sie uns die Hände küßten. Unsere Armee hat guten Geist. Heute ein Prachttag. So etwas wie die Sauferei heute Nacht habe ich nicht leicht mitgemacht. Bis Wien werden wir mit 2 St Verspätung ankommen. Mir geht es ausgezeichnet. Bis jetzt ist der Krieg ganz lustig. Dein Sohn Pepi
Das war der Anfang, der jetzt auf Seite 126 der Druckfassung des fertigen Romans steht.
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Wieder einige Jahre später fing ich an, einen Roman über meine Familiengeschichte zu schreiben, unter dem Titel Die Fatalisten; später hieß er dann Die Österreicher. Ein Jahrhundertroman. Das fand der Verleger etwas zu großspurig, obwohl es nur eine Beschreibung des Inhalts darstellte. Die Fatalisten sollten als assoziatives Geflecht funktionieren, mit all den Geschichten und Geschichtchen, die in der Familie kursierten, immer wieder oder zumindest ein besonderes Mal erzählt wurden. Das ging dann so los: Wenn im protestantischen Teil meiner Verwandtschaft jemand ein Kind bekam, reiste Tante Stephanie aus Wien an, um es zu taufen. Dieser jemand war gewöhnlich eine meiner zwei Kusinen, denen in ihrer Jugend ein Gynäkologe, ich glaube, es war sogar ein und derselbe, mit ernster Miene erklärt hatte, daß sie bedauerlicherweise nie Kinder würden bekommen können. Am Ende hatten sie es mitsammen auf ungefähr sieben oder acht gebracht. Tante Stephanie war Pastorin, und später stieg sie in der protestantischen Hierarchie noch höher auf, gerade nicht zum Bischof (oder sagt man Bischöfin? – einem Katholiken, selbst einem agnostischen, kommt das schwer über die Lippen), jedenfalls war sie die Pressechefin der Evangelischen Kirche in Österreich und vertrat die Sache ihres Herrn in der Sendung Das Wort zum Sonntagabend, wenn nach der interkonfessionellen Quotenregelung die Protestanten dran waren. In meiner Kindheit hieß das evangelisch, was weniger anstößig klang als protestantisch. Tante Stephanie hatte eine Dauerwelle von ähnlich solider Machart wie Margaret Thatcher und war immer sehr weißlich geschminkt, und ihr blondes Haar war von der Sorte, die so lange blond bleibt, bis sie auf einmal weiß geworden ist, ohne daß man irgendwelches Grau jemals an ihr wahrgenommen hätte. Aber vielleicht war das eine Frage raffinierter Tönungen. Mein Onkel Bernhard nannte Tante Stephanie gesprächsweise nur ‚den lieben Gott‘. In unserer Familie war es sonst mit der Frömmigkeit nicht weit her, vom Urgroßvater Prochaska einmal abgesehen. Als die Urgroßmutter Sagmeister gegen Ende ihres Lebens sehr krank darniederlag und ein Pfarrer gerufen wurde, mehr aus einem Reflex des comme-il-faut als aus empfundener Notwendigkeit, wollte dieser ihr die Beichte abnehmen. Zuerst versuchte sie sich mit – ‚Was soll ich alte Frau denn schon groß angestellt haben?‘ herauszuwinden –, als der Geistliche aber auf einer Beichte bestand, beendete sie die Diskussion mit der Feststellung: ‚Das war in unserer Familie nie üblich.‘
DIE EIGENTLICHE ARBEIT Nun schien es mir allerdings unerlässlich, mich schließlich doch näher mit der Korrespondenz meines Großvaters zu beschäftigen, denn wie man weiß, dünnt die mündliche Überlieferung bei einem zeitlichen Abstand von achtzig oder neunzig Jahren, was etwa drei Generationen entspricht, stark aus oder versiegt völlig: Gäbe es nichts Aufgeschriebenes, wüssten wir buchstäblich nichts über die ferneren Vorfahren, und bei den meisten Leuten ist das ja auch so. Die Briefe und Postkarten von 1914–1918 sind zum allergrößten Teil in der damals üblichen Kurrentschrift geschrieben. Pepi hatte eine ziemlich schöne Handschrift, die gleichwohl ziemlich schwer zu lesen ist. Die in der Kurrentschrift ohnehin sehr ähnlichen Buchstaben e, n, u, m usw. sind bei ihm ununterscheidbar. Das Lesen gestaltete sich demgemäß vor allem am Anfang äußerst mühsam und ich ging rasch dazu über, das Gelesene
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gleich in den Computer zu tippen. Ich las und tippte und faltete Briefe auseinander und legte sie wieder zusammen und las und tippte, und ich hörte nicht mehr auf, bis ich beim Letzten angelangt war: 31. X. 18 Ich habe am 18. d. M. eine Art Schwammvergiftung durchgemacht. Es gab hier in der Stellung einen Tag nichts zu essen und so aßen wir getrocknete Schwämme. Mir wurde gleich sehr schlecht, bekam Brechdurchfall und große Schmerzen. Erst nach einem neuerlichen Erbrechen wurde es besser. Ich bin immer noch schwach. Seit gestern bin ich wieder Abschnittskmdt., da der Hauptmann mit Grippe ins Spital abging. Ich studiere recht fleißig. Hier herrscht erbärmliche Kälte -20°-18°. Fortwährend müssen wir heizen. Herrliches Wetter. Vom Feind ziemlich unbelästigt. Ich habe eine Aktie zu 600 K zur Kommanditgesellschaft Herold gezeichnet. Wenn zu Dir die Aufforderung zur Einzahlung der Summe kommt, so bitte ich dies zu besorgen. Wir leben jetzt elend. Gestern Abend erfuhren wir von der Räumung Venetiens. Ich bin über all diese Vorgänge ganz niedergeschmettert. Wenns so weiter geht, werden wir bald zu Hause sein. Von Anna habe ich einige Briefe erhalten, in denen sie etwas einlenkt.
Da waren bereits zwei Dinge klar: Ich würde auch die erhaltenen Tagebucheinträge, die die Zeit vom Herbst 1914 bis Herbst 1915 umfassen, noch abschreiben müssen (das erledigte dann eine in solchen Dingen erfahrene Bekannte) – und beim Bau des Romans würde kein Stein auf dem anderen bleiben. Mit den Tagebüchern aus der Zeit vor 1914, die meine Mutter nach dem Tod ihres Vaters gerettet und aufbewahrt hatte (gegen den Protest der Witwe Prochaska, meiner Großmutter: „Das sind private Papiere. So etwas liest man nicht!“), ergab sich nun bereits ein Konvolut von vielen hundert Seiten. Nach anfänglichen Versuchen, um die dokumentarischen Teile herum einen erzählenden Rahmen zu bauen, teils auch den Ersten Weltkrieg gewissermaßen durch die Augen meines Großvaters gesehen nachzuerzählen, ging ich dazu über, die alten Dokumente als Herz- und Hauptstück zu nehmen, so chronologisch, wie sie eben vorlagen, und den Rahmen auf wenige erklärende oder überleitende Textpassagen zu beschränken. Bestärkt hatte mich darin so manches aus der Lektüre der Jahre, etwa Hans Magnus Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie, der – für mich beispielgebend – ganz ausdrücklich als Roman bezeichnet war; später etwa auch die Bücher von Walter Kempowski und Gerhard Henschels Die Liebenden. Das einschlägige Beispiel aus der anfangs erwähnten Tradition, Claude Simons Les Géorgiques, spielte nun eher eine Hintergrundmusik, blieb aber klarerweise bedeutend durch die Art und Weise, wie hier Historisches literarisiert und in die lebendige Gegenwart eingeschmolzen wird. In einem anderen Roman, Histoire, beschreibt Simon die Ansichtskarten und Fotos aus jener Zeit um 1914, und da entschied ich mich letztlich dazu, sie in meinem Fall, so wie sie waren, nämlich als Bilder, als eine Art Kommentarteil oder ergänzendes Fotoalbum dem schließlich vollendeten Buch hintanzustellen. Pepi hatte bereits seit 1905 selber eine Kamera und fotografierte auch in der Kriegszeit unablässig, so weit es möglich war. Deshalb stand mir eine große Auswahl an Bilddokumenten zur Verfügung, die einen unmittelbaren Bezug zum Text hatten.
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Wiewohl fast ausschließlich aus vorhandenen Dokumenten montiert, also durchaus mit dem Anspruch historischer Genauigkeit auftretend, war das Werk für mich durchaus immer als Roman zu verstehen, nicht nur deshalb, weil ein Anmerkungsapparat das ganze zur Unhandlichkeit aufgebläht hätte. Denn als ich mit der Feldpost und den Tagebüchern zu Ende gekommen war, wusste ich, dass hier nicht nur im allgemeineren Sinn etwas Romanhaftes, die Schilderung bewegter Lebensläufe, vorlag, sondern dass sich darin noch ein Roman im engeren Sinne verbarg. BRIEFE UND TAGEBÜCHER Ein wesentliches Element des fertigen Textes ist das Neben-, ja Ineinander verschiedener Textsorten, in erster Linie, wie gesagt, Brief (bzw. Postkarte) und Tagebuch. Da es hier eine Reihe von inhaltlichen Überschneidungen gab, wurde in der Regel vorsichtig redigiert, um Wiederholungen möglichst zu eliminieren. In der Darstellung einzelner Episoden ergibt sich aus dem Wechsel der Textsorte immer wieder auch ein interessanter Wechsel in Tempo und Fokus der Beschreibung. Als Beispiel ein Ausschnitt aus dem Winter 1914/15: [Meyers Konversationslexikon 1888, http://susi.e-technik.uni-ulm.de:8080/meyers/servlet/suche] K. hat (1881) 29,584 Einw. verschiedener Nationalität und Religion, und in keiner siebenbürgischen Stadt findet man ein so buntes Straßenbild wie hier: neben den Städtern sächsische Bauern, Szekler, Ungarn, Rumänen, Griechen, Armenier und Zigeuner in ihren eigentümlichen Trachten. Handel und Gewerbe sind ungemein lebhaft. K., in merkantiler und industrieller Beziehung der wichtigste Ort Siebenbürgens. K. liegt an der Ungarischen Staatsbahnlinie Klausenburg-Predeal sehr malerisch in einer romantischen, von hohen Bergen eingeschlossenen Thalschlucht des Schulergebirges, die sich nur gegen die im NW. längs des Weidenbachs bis an die Aluta erstreckende Kronstädter Ebene (das Burzenland) öffnet. Vor dieser Thalmündung erhebt sich der Schloßberg mit der Citadelle, unmittelbar über der Stadt im S. der steile Kapellenberg (die Zinne) mit prachtvoller Rundschau. Die innere Stadt liegt eingezwängt in der Hauptschlucht, die Vorstädte: die terrassenförmig den Bergkessel aufsteigende bulgarische oder walachische Vorstadt, die Altstadt (Brasso) und die ob ihrer vielen Gärten so benannte Vorstadt Blumenau (Bolonya), in kleinen Nebenschluchten. Bitte beachten Sie, dass diese Information aus dem Jahre 1888 stammt. Sie könnte inzwischen veraltet sein. (27. 12. 1914 telegr.) heinrych prochaska insbruck glasmalerejstrasze 6= zs brasso 1. +6688 22 26 12/27 grosse sylberne tapferkejtsmedaille erhalten nychts veroeffentlichen bis brief komt mit gruss dein glueck seliger sohn pepi+ [Anm. H.P.] Erhalten Sonntag 7h früh Brassó 30/XII „Lieber Papa! Heute ist Dein lb. Weihnachtsgeschenk angekommen Danke Dir und der Tante Marie für ihre lb. Zeilen aus ganzem Herzen Wünsche Euch allen ein glückliches Neues Jahr. Von Hr. Oberstlt. Simacek bekam ich seine Photographie mit Glückwunsch. Gestern war ich in den Karpathen. Heute abd werde ich Dein Paket aufmachen. Freue mich schon darauf. Bisher 3 Sendungen angekommen. Hier warmes schneeloses Wetter. Mit Gruß und Kuß Dein dankbarer Pepi 1915
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[Tagebuch] 8. Jänner 1915 Ich war wiederum oben auf der Pojana mit meinen Skischülern 4 Stunden auf Skiern herumpromeniert. Um 5 Uhr erst eingerückt. Wenn ich dann abends mit meiner Eispartnerin Frau von Denyeres tanze, so bildet das Publikum ehrfurchtsvoll um uns einen Zuschauerring. Es geht mit meiner Eisschülerin mit Riesenschritten vorwärts. Es wurde mir erzählt, daß man mich in der Stadt folgendermaßen beschrieben habe: Der neue Eiskunstläufer hat einen schwarzen Bart und zwei Tapferkeitsmedaillen. Andere Leute sagen, ich sei ein Russe! Abends las ich in meinem Hotel Krone Zeitungen. Das Eis war schlecht. Es wird wärmer. [Tagebuch] 9. Jänner 1915 Vormittag auf die Pojana ausgerückt. Wir marschierten wieder durch den Grabenweg und suchten im Walde jene geheimen Plätzchen auf, wo sich noch kleine Schneeflecken befanden. (3 cm hohe Schneedecke.) Im Nu ist der wenige Schnee zusammengebügelt. Ich übe selbst Christiania habe noch daran zu lernen. Ich rücke sehr früh ein, weil ich der Frau Oberstleutnant Simacek versprochen hatte, auf das Eis zu kommen. Ich legte mich, daheim angekommen, lieber nieder und ging erst abends auf den Eislaufplatz. [Tagebuch] 14. Jänner 1915 Das erstemal im Ragado-Tale. Es war einfach zum Bauchwälzen, wie meine Leute im Schnee herumkugelten, als wir am Marsche dorthin einen kleinen Steilhang passieren mußten. Wie die Schneemänner mit Schnee beladen krabbelten sie immer wieder heraus. Es schneite den ganzen Tag fort. Ich übte dann für mich. Es schadete mir auch gar nicht, daß ich mich wieder ein wenig im Springen vervollkommnet habe. Auf einen neuen Sprung bin ich draufgekommen. [Tagebuch] 15. Jänner 1915 Es wird nun alle Abende für mich am Eislaufplatze ein Raum abgesperrt. Ich bleibe den Verlockungen der Damen gegenüber standhaft und übe für mich allein. [Tagebuch] 19. Jänner 1915 Der Vormittag wird meist unsinnig vertrödelt. Unser Oberleutnant versucht alles möglichst ungeschickt und schwerfällig anzupacken. Ich treffe die letzten Vorbereitungen für meinen morgigen Abmarsch auf den Schuler. Ich muß auch in diesen sauren Apfel hineinbeißen. Abends war ich zum Leutnant Reiber zu einer Wurstpartie eingeladen. Ich ging dann ins Kaffeehaus und saß mit dem Leutnant Simonis beisammen, der morgen mit einer Marschkompagnie ins Feld abgehen soll. 20. I. 1915 [Stempel] Schuler Schutzhaus 1590 m Lieber Papa! Habe von Dir bis jetzt zwei Nachrichten erhalten. Seit zehn Tagen nichts mehr; Pakete alle erhalten. Den Waffenrock ließ ich mir deshalb schicken, weil ich jüngst in einige vornehme Familien eingeführt wurde und meine Bluse eben nicht für alles herhalten kann. Seit heute bin ich mit 40 Mann im Urwald in einer schönen Schutzhütte. Ein alter Förster und dessen Frau betreuen mich. Mein Körper stärkt sich und gesundet von Tag zu Tag. Von meinen Kreuzschmerzen, die mir schon große Sorge machten, ist fast nichts mehr da. Einen kolossalen Rucksack voll guter Eßsachen habe ich heute heraufgetragen. Den ganzen Tag auf den Skiern, abends immer ein Mords Appetit. Ich veresse das ganze Geld. Was sagst Du zur plötzlichen Versetzung unseres Regimentes nach Prag? Am 23. d. M. kommt ein neuer Skikurs, bei dem ich unterrichte. Ich allein vom ganzen Regimente bleibe hier. Sowohl wegen dieses Umstandes wie auch wegen meines schönen Dienstes werde ich von allen beneidet. Ich bekomme von vielen Innsbruckern Karten, in denen aber von meiner Auszeichnung nichts erwähnt ist. Stand denn nichts in der Zeitung? Hier siehst Du auch mein Zimmer. Wild gibt es keines. Ich bin tagelang nach Neuschnee im Wald gegangen und nicht einmal eine Spur gesehen. Der vierfache Mil-
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Walter Klier lionär v. Denyeres, der Gatte meiner schönen Eispartnerin, führt mich nächste Woche in den Jagdklub hier ein. Bis 10. II. oder eher noch länger bleibe ich hier. Es geht mir geradezu herrlich. Viele Küsse und Grüße an alle [Tagebuch] 21. Jänner Den ganzen Tag nebelig. Vormittag um 8 Uhr erst ausgerückt. Ich schlief schon bedeutend besser. Um 6 Uhr früh kommt der Diener und macht Feuer. Wenn es in meiner Kammer hübsch warm geworden ist, dann krieche ich schön langsam heraus. Dobrescu bringt mir eine große Schale Milch von der Frau Wirtin und den Tee aus der Mannschaftsküche. Ich teile vor dem Ausrücken die Mannschaft in drei Gruppen ein je nach ihren Fortschritten. Ich habe das Glück, recht tüchtige Chargen zu haben. Nachmittag wird auf die Untere Wiese ausgerückt. [Tagebuch] 23. Jänner In der Frühe sah ich in ein Wolkenmeer, wir hatten -30 °C und marschierten im guten Schnee aufwärts. Ich ging sogleich auf den Nordhang des Schuler hinauf und bewunderte hier einige mit Rauhreif überzogene Bäume. Dahinter hoben sich der schwarze Wald, die tief unten im Tale liegenden Wälder sehr schön ab. Es war ein Märchenwald. Vom Grün und vom Holz nichts zu sehen, nur Eiskristalle. Die Sonne war noch nicht heraußen. Ich stieg bis zum Sattel hinauf und da war auch die Sonne herausgekommen. Wie da auf einmal Leben hineinkam in den Hochwald, tausendmal so schön wurden die kleinen Bäumchen, und erst als ich den Blick hinüberwarf auf den Bucec [Bucegi]! So, als ob man vor einer Märchenlandschaft stehen würde. Die steilen Nordhänge mir zugekehrt, im Schatten liegend und fern zu seinen Füßen eine zarte, eine leichte Nebeldecke. Droben in der Luft kämpfen noch Sonne und Wolken um die Herrschaft. Zehn Schritte vor mir aber war ein kleines verzweigtes Bäumchen, so schön wie keines im ganzen Walde. Auch dieses nahm ich noch auf meine Photoplatte hinauf. Der Blick in die Tiefe zur Rechten ins Tömöstal, in dem die letzten Züge aufwärtskeuchten, erinnerte mich an einen ebensolchen Wald in den Alpen, etwa so wie im Wipptal. Geradezu imposant aber war der Blick auf die steilen Osthänge des Schuler; nur Eis und Schnee, von der schönen Morgensonne bestrahlt, die uns hier leider so selten zu Teil wurde. Angenehme Temperatur ermöglichte mir den Aufenthalt ziemlich lange. Drüben die Hänge des Königssteins und die vielen kleinen Ausläufer desselben. Dies müßten schöne Skifelder sein. Die Burzen-Ebene war noch immer im Nebel. Oberhalb der Dörfer teilte er sich aber verhältnismäßig sehr rasch und schön. Wie es hätte keine Landkarte zeigen können, sah ich die Ortschaft in der großen Ebene aus dem Wolkenmeer herauslugen. Auch Eisenbahnzüge konnte man erkennen. Weiter hinaus glitt der Blick wohl gegen 150 km über Hügel und große Wälder auf fern liegenden Bergketten, welche die Morgensonne in ein zartes Rot hüllte. Ich fuhr ab und sah mir die neuangekommene Mannschaft des Infanterieregimentes 51 an. Doch ich sah von ihr nichts als nur von Zeit zu Zeit einen menschenähnlichen Körper aus dem Pulverschnee herausschauen. Zu Mittag die schon lange nicht mehr gesehenen Omeletten. Nachmittag ein kleines Schläfchen und dann wiederum auf die Obere Übungswiese hinauf. Eine alte ehrwürdige Fichte zog mich derart an, daß ich sie aufgenommen habe. Ihre Äste hingen tief herunter, schnee- und eisbeladen, und hinter ihr in der Tiefe hoben sich die von der Sonne beschienenen Felder der Pojana ab und der schöngewölbte Rücken des Zeidner. Kaum war die Aufnahme gemacht, als schon wiederum der lästige Nebel einsetzte. Ich rückte um 5 Uhr ein und daheim erwarteten mich die anderen Kameraden, der Leutnant Radon und seine Frau. Sie brachten mir eine Überraschung mit. Es war uns vom Militärkommando aus ein Skilehrer geschickt worden. Ich glaubte anfangs, er mache Spaß, und machte nicht das erstaunte Gesicht, wie die Frau Leutnant es erwartet hatte. Erst später klärte mich mein Kamerad auf. Es handelt sich tatsächlich um einen Skilehrer. Sowohl auf sein Äußeres wie auf seine Skikenntnisse bin ich sehr gespannt. Er kostet täglich 10 Kronen und hat derartige Einnahmen neben den Einkünften wie ein Hofrat. Wir dagegen trauen uns nicht, ein Paar Skiriemen zu kaufen und
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Dumitru Dobrescu, Adjutant von Leutnant Pepi, eine der wichtigen Nebenfiguren im Roman von Walter Klier. Das Foto wurde von der Urenkelin von Dumitru Dobrescu, Măriuca Dogariu aus Rosenau/Râşnov, Siebenbürgen, zur Verfügung gestellt. darben an den notwendigsten Nahrungsmitteln. Das ist wiederum so recht militärisch. Mein Humor wurde dadurch ziemlich herabgedrückt. Abends sang ich ein wenig zur Laute, ging dann um 10 Uhr schlafen. [Tagebuch] 24. Jänner In der Frühe gab es gleich eine Überraschung, als der Koch Petroleum anstatt Rum in den Tee geschüttet hatte. Der Marsch wurde somit ohne Frühstück angetreten. Es ist ein echtes Kriegswetter. Sturm haben wir bereits ordentlich um uns herum. Mein Bart hatte ein wunderbares Aussehen. Er war mit Eis und Schnee überzogen. Wir marschierten zur Unteren Wiese. [Mein Blick haftete an unserem neuen Skilehrer. Er probierte einen kleinen Bergrücken, wobei es ihn überschlug. Unten an der kleinen Wiese, wo diejenigen laufen, die erst vor drei Tagen gekommen sind, diejenigen, die noch nie einen Ski an den Beinen gehabt haben, dort versuchte auch er hinunter zu fahren, es überschlug ihn aber jämmerlich. Es empörte mich, wie so ein Lump sich dem Staat als Skilehrer antragen und von ihm jeden Tag 10 Kronen auszahlen lassen kann.
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K. u. k. Hochgebirgskompagnie Nr. 22 im Mai 1918 Dabei kann er nicht ungarisch und nicht rumänisch. Wir verstehen ihn ja nicht einmal, er ist ja ein Berliner.] Brassó, 26. 1. 1915 Lieber Papa, den Eislaufrock und Waffenrock richtig erhalten. Desgleichen Deinen lb. Brief vom 17.1. Schreibe mir, ob Du meinen Brief (Karte) vom Schuler erhalten hast. Schicke mir wichtige Ausschnitte vom Anzeiger! Ich bleibe noch bis Mitte Feber hier. Den Waffenrock lasse ich mir hier richten. Hier ist warmes Wetter, es regnet in Strömen. Die Fotografie aus Przemysl freute mich riesig. Sie kann nur mit Aeroplan gekommen sein und hat für uns großen Wert. Brief folgt. Dein Sohn Pepi. Auch die Sport Zigaretten sind angekommen.1
DAS FRÄULEIN ANNA UND DER HERR DOBRESCU Der Roman, wie das seit Tolstoi oder Stendhal sich auch so gehört, handelt vom Krieg und von der Liebe. Und mit der Liebe hatte es hier seine eigene Bewandtnis. Es gab da in den Briefen – und im Tagebuch, hier teilweise sorgsam, wenn auch nicht unwiderruflich unleserlich gemacht, ein Fräulein Anna, das zunächst gelegentlich erwähnungsweise auftauchte, dann öfter und auf diese gewisse Art, die einen immer sicherer macht, dass dies keine belanglose Damenbekanntschaft ist – und schließlich spitzt sich die Geschichte dramatisch zu, mit Verlobung mitten im
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Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Das Tagebuch des Josef Prochaska. Roman. Hohenems 2009, 196–202.
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Krieg, bald darauf folgendem Bruch und sich bis zum Kriegsende hinschleppenden weiteren Verhandlungen. Dann brechen die Aufzeichnungen ab. In meiner Familie wusste niemand mehr etwas von Pepis erster Verlobung – das heißt meine Mutter, die als einzige aus dieser Generation noch lebt, wusste nichts mehr oder sie hatte nie etwas davon gewusst, weil von der besonderen Neben- oder vielmehr Ursprungsbedingung der lebenslangen Freundschaft ihres Vaters mit dem deutschen Professor im Familienkreis nicht gesprochen wurde. Was war aus dem Fräulein Anna geworden? War sie an gebrochenem Herzen gestorben oder ohne Mann alt und grau geworden? Oder hatte sie glücklich doch noch einen protestantischen Gatten gefunden? Schließlich musste es nach 1918 schwer gewesen sein, überhaupt einen Mann zu finden. Man will doch nun, knapp vor dem Ende des Romans noch wissen, was aus der Heldin später noch geworden ist. Ich wusste über sie nicht mehr, als den Andeutungen und Nebenbemerkungen Pepis zu entnehmen war. Dazu gehörte immerhin der Wohnort. Vielleicht wäre dort jemand aus ihrer Verwandtschaft noch zu finden. Mithilfe eines Briefes an die dortige Lokalredaktion gelang es mir tatsächlich, einige Verwandte des natürlich längst verstorbenen Fräuleins Anna ausfindig zu machen, schließlich sogar ihre Tochter … Damit sind wir in der Chronologie der Ereignisse etwa bei der Veröffentlichung des Romans angelangt, der 2009 in dem kleinen österreichischen Limbus Verlag erschien und eine Reihe sehr freundlicher Kritiken erhielt. Auch die Buchverkäufe waren zufriedenstellend. Doch wie bei einem solchen Buch kaum anders zu erwarten, fing die Geschichte nun an, sich gewissermaßen selbst weiterzuschreiben. Eine der wichtigsten Nebenrollen im Buch hat Dumitru Dobrescu aus Rosenau/Râşnov bei Kronstadt, der fast während der gesamten Kriegszeit der Offiziersbursche meines Großvaters gewesen war. Ich hatte mit Hilfe einer des Rumänischen mächtigen Bekannten von Bekannten einen Brief an das Gemeindeamt von Râşnov gesandt, allerdings keine Antwort bekommen und das ganze dann auf sich beruhen lassen. Etwa ein Jahr nach Erscheinen des Buchs bekam ich Post aus Tübingen. Nicht nur lud mich Olivia Spiridon vom Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde zu einer Lesung nach Tübingen ein, darüber hinaus erklärte sie sich bereit, mit ihrer Sprach- und allgemeinen Landeskompetenz bei der Suche nach Herrn Dobrescu bzw. allfälligen Nachkommen behilflich zu sein. Nach wenigen Monaten kam folgende E-Mail bei mir an: Lieber Herr Klier, die Suche hat ein gutes Ende genommen: Die Nachkommen von Dumitru Dobrescu aus Râşnov (Rosenau) konnten ausfindig gemacht werden. Es handelt sich um die Urenkel von Dumitru Dobrescu: Maria und Dan Dogariu. Ihre Mutter, Maria Urzica, besitzt noch Fotos (und wahrscheinlich auch anderes Material) von ihrem Großvater. Da man in der Familie über Deutschkenntnisse verfügt, können Sie sie auch direkt auf Deutsch anschreiben. Bei der Suche war besonders ein Herr Vasile Sofran behilflich. Seine Frau ist zwar eine geborene Dobrescu (so bin ich über eine andere Dobrescu-Familie auf ihn gekommen). Sein Schwiegervater konnte aber nicht Ihr Dobrescu gewesen sein, denn er war nicht im Krieg.
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Walter Klier Glücklicherweise hat sich Herr Safran an einen Mann erinnert, der schon vor langer Zeit gestorben ist und der ebenfalls Dumitru Dobrescu hieß. Der hatte eine Handverletzung. Daher hat er bei der Familie nachgefragt, ob die Handverletzung aus dem Krieg stamme. Seine Vermutung hat sich bestätigt und so hat er den Richtigen gefunden.
So verwandelt sich Leben in Literatur und Literatur wiederum in Leben …
BEDEUTUNG DES ATTENTATS VON SARAJEVO FÜR AUTORINNEN UND AUTOREN AUS DEM EHEMALIGEN JUGOSLAWIEN Eine Umfrage der Zeitschrift Beton International Alida Bremer Entgegen allen ungünstigen realpolitischen, ideologischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, in denen die Länder Südosteuropas stecken, gibt es unzählige Initiativen und Projekte, die auf Begegnungen ausgerichtet sind und die engen nationalen Rahmen durch ständige Grenzüberschreitungen unterwandern – in der Hoffnung auf bessere und gerechtere Gesellschaften. Diese Durchlässigkeit bezieht sich natürlich nicht nur auf die Grenzen dieser Länder untereinander, sondern auch auf die Grenzen zwischen ihnen und anderen europäischen Ländern. BETON INTERNATIONAL1 ist Produkt einer derartigen Initiative. Nicht auf der Suche nach einem Konsens, sondern auf der Suche nach Mehrstimmigkeit entschlossen wir uns – mein serbischer Kollege Saša Ilić und ich –, die erste Nummer von BETON INTERNATIONAL einem in Südosteuropa hochumstrittenen, hochsymbolischen und hochaktuellen Thema zu widmen: dem Attentat von Sarajevo. Wir waren uns einig, dass kritische Stimmen aus Südosteuropa in anderen europäischen Ländern wenig vernommen werden bzw. dass sie häufig in bestimmte Muster gepresst werden, wobei die Autorinnen und Autoren aus diesem unruhigen Gebiet unserer Meinung nach viel zu sagen hätten, was auch für andere Europäer von Interesse sein könnte. Zugleich wird in den europäischen Diskursen die balkanische Komplexität überbetont, so als wären die gesellschaftlichen Prozesse in diesem Gebiet etwas vollständig Fremdes und Exotisches – und nicht etwas durch und durch Europäisches, wenn auch die Entwicklungen nicht immer synchron mit denen in anderen – vor allem den wohlhabenderen – Ländern Europas verlaufen. Wir wollten etwas unternehmen, damit es zu einem verstärkten Austausch zwischen Autorinnen und Autoren gesellschaftskritischer Orientierung kommt – in einem Europa, das zumindest beim Austausch von Gedanken ein Europa ohne Grenzen sein sollte. Ironischerweise entpuppen sich die scheinbar rückständigen Südosteuropäer bisweilen als eine Art negativer europäischer Avantgarde. Das Attentat von Sarajevo aus dem Jahr 1914 war ein Ausdruck lokal brodelnder machtpolitischer, militärischer, klerikaler, sozialdemokratischer, modernistischer, revolutionärer und 1
Beton International. Zeitung für Literatur und Gesellschaft. Redaktion: Alida Bremer und Saša Ilić. Ausgabe 11.03.2014 zur Leipziger Buchmesse 2014. Herausgeber: Verein RK LINKS aus Belgrad/Serbien und Verein KURS aus Split/Kroatien. 1. Jg., Nr. 1.
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revolutionär-romantischer, sozial- und national-emanzipatorischer und nationalistischer Ideen und Kräfte sowie des Bestrebens nach einer neuen geopolitischen Ordnung. Von träumenden Gymnasiasten und gewaltverherrlichenden Dichtern über fortschrittliche Denker bis hin zu Reaktionären, von hungrigen Bauern und Arbeitern bis hin zu hinterlistigen Geheimpolizisten und dem gestärkten und siegessicheren Militärapparat – alles, was man in Südosteuropa vor dem Attentat auf allen Seiten antreffen konnte, war auch im restlichen Europa vorhanden. Dass sich am blutigen Ereignis in Sarajevo der Erste Weltkrieg entzünden konnte, ist ein Zeichen dafür, dass in Südosteuropa bestimmte Kräfteverschiebungen genauso wirksam waren wie in den anderen Teilen Europas. Die verächtliche Bezeichnung des Balkans als ewiges Pulverfass ist unserer Meinung nach eine Projektion. Die Balkanregion ist eigentlich eine durch und durch europäische Region, mit dem restlichen Europa untrennbar verbunden. Sogar die Kriege im ehemaligen Jugoslawien der Neunziger – im Zuge des Zusammenbruchs des Sozialismus ausgelöst – lagen nicht derart außerhalb des europäischen geistigen Horizonts, wie man sie gemeinhin darstellt. Aufgebaut auf bestimmten – schon wieder allgemein europäischen – Widersprüchlichkeiten, war das Land besonders anfällig, als die großen Blöcke verschwanden und das Korsett der sozialistischen Staatsordnung entfiel. Auch der Gedanke, dass vermeintlich „reine“ Nationen bzw. Staatsgebilde, in denen alle Vertreter eines Volkes zusammenleben, einzig mögliche Träger einer stabilen staatlichen Ordnung sein können, ist ein gefährlicher und anachronistischer, aber durchaus europäischer Gedanke. Dieser schien in den Neunzigern im restlichen Europa zwar tatsächlich überwunden zu sein, doch in den letzten Jahren stellt man sich zunehmend die Frage, ob hier nicht der Schein trog. Die Geschehnisse in den Neunzigern auf dem Balkan wirken angesichts der aktuellen Stärkung xenophober Tendenzen in vielen Teilen Europas nicht mehr so exklusiv. Aber warum nicht hoffen, dass hundert Jahre nach dem Attentat von Sarajevo aus dieser Stadt ein ganz neues Signal kommen kann: dass eine friedliche Welt möglich ist, dass zwischen Menschen, die zufällig aus verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften stammen, eine produktive Zusammenarbeit sowie Toleranz und gegenseitiger Respekt möglich sind – und dass die Allianz zwischen einheimischen und ausländischen Profiteuren entlarvt werden muss, damit es zu einer gerechteren Verteilung der Ressourcen, der Arbeit und der Gewinne kommt? Zumindest in unserer Zeitung BETON INTERNATIONAL ist es möglich, dass der Text des Enkels von Ivan Kranjčević, einem Mitglied der Verschwörergruppe aus Sarajevo, die 1914 das Attentat verübt hat, neben dem eines Verwandten der ermordeten Sophie Gräfin Chotek von Chotkowa und Wognin, Herzogin von Hohenberg veröffentlicht wird. Und dass Texte serbischer, kroatischer, bosnischer (bosnischmuslimischer), montenegrinischer, slowenischer, mazedonischer und kosovarischer AutorInnen neben welchen aus Österreich und Ungarn stehen, wobei nicht die Herkunft der Autoren, sondern nur ihre Phantasie und ihre Gedanken zählen. Daraus einige Auszüge:
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IM PRINZIP … Ivana Šojat-Kuči2 In einer utopischen Sichtweise könnte die Geschichtswissenschaft angesichts der Tatsache, dass sie über konkrete Angaben verfügt, die uns ausgehend von einem bestimmten Punkt auf der Zeitachse bis zum heutigen Chaos führen, und angesichts dessen, dass wir meistens über Ursachen und Folgen Bescheid wissen, die zu einer Bombe, einer Invasion, einem Umsturz, einer Diktatur oder einem Pogrom geführt haben, ohne Weiteres eine exakte Wissenschaft sein. Die historische Exaktheit wäre nomenklatorisch fast durchführbar, wären da nicht ein paar „Kleinigkeiten“. Die Geschichtsschreibung ließ sich schon immer sehr leicht manipulieren. Man ist geneigt, die Geschichte als eine Tatsache anzunehmen, in Abhängigkeit von dem Staat, in dem man geboren wurde, und vom Volk, dessen Schoß man sozusagen entsprungen ist. Die Geschichte nimmt stets und unweigerlich menschliche Eigenschaften an, die Eigenschaften eines kleinen menschlichen Lebewesens, das zu Eitelkeit, Hochmut und Mythologisierung neigt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ein und dasselbe Ereignis in naher oder ferner Vergangenheit mit mehreren Interpretationen belegt werden kann: Die Tragödie der einen ist stets der wohlverdiente Triumph der anderen. Das gilt auch für das Attentat von Sarajevo, durchgeführt von Gavrilo Princip mit einer Pistole in der zitternden Hand, nachdem der bereits zur Zielscheibe gewordene Thronfolger von seinem Automobil aus die von Nedeljko Čabrinović geworfene Bombe abwehren konnte. Indem Princip den Erzherzog Franz Ferdinand und seine schwangere Gemahlin Sophie tötete, wurde Princip mit einem Schlag zum Terroristen und zum Helden zugleich, zum Schuft und Freiheitskämpfer. Was wäre wenn … „Wenn dieser Dummkopf nicht gewesen wäre, würden wir hier in Osijek heute in einer Miniaturversion von Wien leben“, sagte vor einigen Tagen eine Freundin zu mir. Auf dem Hauptplatz. Wir hatten uns zufällig getroffen. Sie war richtig zornig, in Rage. Nachdem ich ihr gesagt hatte, dass ich über das Attentat von Sarajevo schreiben würde. Und sie war nicht die Einzige. „Ach, wir Slawen sind ja geradezu dafür geschaffen, anderen zu dienen“, winkte ein Bekannter ab. Nach einigen Bieren. Im Theater-Kaffeehaus. Ich wollte ihm sagen, dass diese Schlussfolgerung ironischerweise aus der Etymologie unserer gemeinsamen Bezeichnung herrührt: Die Slawen leiten sich vom lateinischen Begriff für „Sklaven“ ab. Aber ich fiel ihm nicht ins Wort. Er hatte auch gar nicht zu mir gesprochen, sondern schüttete mit seinem alkoholdurchtränkten Redeschwall einen Freund am Nebentisch zu, dessen Augen glänzten. Wohl angesichts der Of2
Geboren 1971 in Osijek, Kroatien. Mehrere Gedicht- und Essaybände sowie Kurzgeschichten. Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen. 2009 erschien ihr Roman Unterstadt (Originaltitel), der sich mit dem Schicksal der Deutschen in Osijek im 20. Jahrhundert befasst.
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fenbarung. „Es wäre besser gewesen, wenn uns die aus Wien und Budapest weiterhin beherrscht hätten, anstatt zuzulassen, dass die von dort drüben fünfzig Jahre lang auf uns herumtrampeln“, fuhr er fort und machte eine Kopfbewegung in Richtung Osten, womit er die Grenze zu Serbien meinte. Vom Einzelnen zum Ideologischen ist es kein großer Schritt. So wie der Einzelne gerne alle anderen für seine eigenen Niederlagen beschuldigt, so begrüßen Ideologien gerne Umstürze, mit denen sie in Wahrheit gar nichts zu tun haben. Der Kommunismus (besser gesagt: Sozialismus), in dem ich aufgewachsen bin, begrüßte vieles: die Utopie, die er angeblich auf spektakuläre Weise verkörperte, die Französische Revolution, mit der die „Verdammten dieser Erde“ die Sache in die Hand genommen hätten, die Oktoberrevolution, die angeblich die Mutter aller weiteren Ereignisse in Jugoslawien war. Was Gavrilo Princip anbelangt, war er für die Schüler des sozialistischen Bildungssystems geradezu ein Partisan, jemand, der „durchs Gebirge, durch die Steppen“ zog und gegen alles Böse ankämpfte. Für die jugoslawischen Schüler war es gar nicht einfach, gewisse historische Figuren in ihren zeitlichen Kontext einzubetten, zuweilen auch in den geographischen. Ein klassisches Schulbeispiel für diese Verwirrung stellt die Französische Revolution dar, die laut den Lehrbüchern einen großartigen Aufstand gegen die Tyrannei der klerikal-feudalen Kräfte des Bösen darstellte, einen Ausdruck des Volkswillens und der Volksmassen, einen Kampf für Gerechtigkeit und Gleichheit. Deshalb wollte wohl keinem Kind einleuchten, warum der moralische Riese Marat in seiner Badewanne von einer Verrückten umgebracht worden war. Denn in den Lehrbüchern verschwand die Guillotine bereits irgendwo bei Marie Antoinette und ihrer geschmacklosen Aussage: „Dann esst doch Kuchen.“ Nachdem sie darüber in Kenntnis gesetzt worden war, dass das Volk kein Brot zu essen hatte. Die Enthauptung des modisch aufgeklärten, aber für soziale Probleme ganz und gar unempfänglichen Königspaars war also gerechtfertigt. Alles Weitere schien in einen Nebel gehüllt zu sein, und es war ein Leichtes, den Terror unter den Teppich zu kehren. So wurde Robespierre in den Lehrbüchern stillschweigend der Titel des ersten Partisans samt der jugoslawischen Staatsbürgerschaft verliehen. Nach ihm kam eine Lawine von eingebürgerten Söhnen der jugoslawischen Brüderlichkeit aus allerlei Völkern und Völkerschaften: Marx, Engels, Lenin und Stalin, von dem wir uns jedoch nach Titos „Nein“ mit Ekel lossagten. Sporadisch fanden sich auch Mao, Gaddafi, Gandhi, Nasser und Nehru im Familienalbum ein. Die Wachstumskurve der sozialistischen Familie entsprach dem Rhythmus revolutionärer Strömungen, und die Familienmitglieder streckten ihre Arme auch nach weit entfernten historischen Figuren aus, etwa nach Matija Gubec vom Bauernaufstand oder nach Giordano Bruno. Gavrilo Princip blieb im Familienporträt jedenfalls stets in der Nähe der Elternfiguren. Groß und wagemutig, ein Mann, der den Wunsch aller Unterdrückten und Erniedrigten erhört und sich mit einer Pistole in der Hand gegen die große Doppelmonarchie erhebt.
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Über die Miljacka In Jugoslawien musste jede Schulexkursion eine Botschaft vermitteln. Nichts durfte damals sinnlos sein. Alle Wege führten über die Pfade der Revolution und dienten dem Gedenken an selbige. In der achten Schulklasse unternahmen wir eine Reise nach Dubrovnik, mit einem Zwischenstopp in Sarajevo. Dort machten wir Halt an der Miljacka, die sich im Vergleich mit der Donau oder der Drau wie ein Bach ausnahm. Wir blieben neben den Fußabdrücken Princips stehen und lasen die in kyrillischer Schrift verfasste Aufschrift: „Von diesem Platz aus brachte Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 mit seinen Schüssen den Volksprotest gegen die Tyrannei und das Jahrhunderte währende Freiheitsstreben unserer Völker zum Ausdruck.“ Ironischerweise fragte ich mich in diesem Augenblick bloß, wie der Besagte auch nur im Traum daran denken konnte, über die Miljacka zu flüchten. „Zum Glück hat er sich nicht das Bein gebrochen, als er auf diese Steine da aufprallte“, entfuhr es mir unwillkürlich. Meine Frau Klassenvorstand und Französischlehrerin erblasste daraufhin. Möglicherweise hatte sie insgeheim dasselbe gedacht wie ich. Möglicherweise war es so, aber damals presste sie ganz leise hervor: „Manchmal ist es klüger, sich auf die Zunge zu beißen.“ Ich aber dachte nur an die Tschechin, eine ältere Dame, die ich im Sommer zuvor in Zadar dabei beobachtet hatte, wie sie im knietiefen Wasser versuchte, schwimmen zu lernen. Sie hatte geschrien, und immer wieder hatte es so ausgesehen, als ginge sie unter. Ich stellte mir Gavrilo an ihrer Stelle vor und schüttelte mich vor Lachen. Dabei gab es eigentlich gar nichts zu lachen. Der Heilige Vid nach dem Julianischen Kalender Mein Urgroßvater Petar Šojat hatte zu seinem Namenstag am Heiligen Peter und Paul, dem 29. Juni 1908, ein eiskaltes Bier getrunken und war einige Tage später an galoppierender Schwindsucht gestorben. Er war Gendarmeriekommandant in Bosanski Brod gewesen und damit ein winziges Rädchen bei der Annexion Bosniens durch das große Reich Österreich-Ungarn. Exakt 364 Tage später sollte sich der famose Vidovdan „ereignen“ und damit der Zusammenbruch eines Reiches, das noch 364 Tage zuvor eine neue Expansionsphase eingeläutet hatte, seinen Lauf nehmen. Der Vidovdan wird bei den Serben in der Kirche und im Volk als Gedenktag der Schlacht auf dem Amselfeld begangen. Dabei wird des Fürsten Lazar Hrebljanović gedacht und all jener, die für ihren Glauben und ihr Vaterland fielen. Erzherzog Franz Ferdinand, dem es nicht beschieden war, Kaiser zu werden, entschloss sich, ausgerechnet am Vidovdan nach Bosnien zu fahren, auf das es Serbien auch schon damals abgesehen hatte. Ziel seiner Reise war es, Militärmanövern der kaiserlichen Armee beizuwohnen, die bei den Völkern des künftigen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen sehr verhasst war. Zu seinem Unglück warten nicht immer alle darauf, dass ihre Karten aufgehen – manche legen sich das Spiel von vornherein zurecht, weil nach dem „Zirkus“ ohnehin alles nur eine Sache der Dialektik und der Demagogie ist. Das wusste auch der Offizier Dragutin Dimitrijević Apis, Chef des serbischen Militärgeheimdienstes und graue Eminenz hinter der Terror-
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organisation „Schwarze Hand“. Sie wurde am 10. Juni 1910 offiziell gegründet, war jedoch auch schon in den Jahren davor recht aktiv dabei, politische Gegner zur Strecke zu bringen, so etwa den serbischen König Aleksandar Obrenović, der durch einen Fenstersturz von der politischen Szene entfernt worden war, was der Dynastie Karađorđević eine theatralische Wiederkehr ermöglichte. Dieselbe „Schwarze Hand“ hatte sich ebenso ritterlich auf die schmächtigen Schultern der neugegründeten Organisation „Mlada Bosna“ gelegt, als diese „beschloss“, die Gelegenheit am Schopf zu ergreifen und die imperiale Wiener Linie abzuschneiden. Daraufhin betraten die Glorreichen Sieben die Bühne: Mehmed Mehmedbašić, Vasa und Nedeljko Čabrinović (der Bombenwerfer, dessen Bombe vom Automobil abgewendet werden konnte), Cvjetko Popović, Danilo Ilić, Trifko Grabež und Gavrilo Princip. Der vor Gericht zitierte Gavrilo, der sich am Tatort zunächst mit Zyankali und dann noch mit einem Kopfschuss das Leben zu nehmen versuchte, brachte geradezu zerknirscht hervor: „Wir haben unser Volk geliebt.“ Auch das ist ein historischer Satz, eine dringend nötige Phrase für die Medien, wie wir heute sagen würden. Es ist nämlich notwendig, einen letzten Satz zu haben. Vor dem Tod oder vor dem Antritt einer Lagerhaft. Wegen der Ideologie natürlich, wegen all dem, womit die Ideologie zusätzlich ausgebaut wird. Denn nach einem solchen Satz, der in alle Ewigkeit erhalten bleibt, wird das Schicksal desjenigen, der ihn ausgesprochen hat, unwichtig. Es wird unwichtig, was er getan hat. Opferforschung Gavrilo liebte sein Volk, zusammen mit sechs seiner Kampfgefährten. Ganz genauso, wie auch jene vierzig Millionen Opfer des Ersten Weltkrieges im Zeitraum vom 28. Juli 1914 bis zum 11. November 1918 ihr Volk liebten. Da Gavrilo für die Todesstrafe zu jung war, wurde er von der Gerichtsbarkeit des verhassten Reichs, die seiner verrückten Jugend Nachsicht zollte, zu zwanzig Jahren Kerkerhaft verurteilt. Er starb am 28. April 1918 an Tuberkulose in Theresienstadt, einem Gefängnis, das vermutlich in Vergessenheit geraten wäre, wenn nicht zwanzig Jahre später andere, die ebenfalls ihr Volk geliebt haben, versucht hätten, ebendort planmäßig Juden auszurotten. […] Im Zusammenhang mit dem Attentat von Sarajevo ist das, was am meisten zu faszinieren vermag, die Funktion dieses Ereignisses im weitverzweigten, an sozialistischer Mythologie reichen untergegangenen Staat. Gavrilo Princip spielte etwa fünfzig Jahre lang im Wald der Halbgötter und Volkshelden die Rolle eines Neil Armstrong: Er war der erste Mensch, der einen kleinen, aber zugleich so großen Schritt auf dem schwerelosen, von Gleichheit durchdrungenen Planeten Jugoslawien gemacht hatte, mit einem Bosnischen Eintopf vor dem Bauch, direkt vor seinem Bauchnabel. Was wäre gewesen, wenn das Attentat nicht stattgefunden hätte, wenn es danebengegangen wäre, wenn der Thronfolger aufgrund von Gastritis seine Visite in Sarajevo auf einen anderen, weniger symbolträchtigen Tag verschoben hätte? Wäre die geopolitische Karte Europas dem Berliner Abkommen entsprechend gleich geblieben? Wäre der Begriff „Weltkrieg“ heute unbekannt? Die Dinge bedingen
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einander, ziehen einander nach sich, Bestrebungen flauen nicht ab, Demagogen finden stets neue Nebelfelder, entfachen Nationen und nationale Gefühle, während die armen Leute im Müll herumstöbern und andere Schuldige für ihre eigenen Verfehlungen und Systemkatastrophen identifizieren. Schlussendlich manifestieren sich Ideologien, die hochfliegenden Ideen entspringen, als mangelhafte Geschöpfe – wie eine fordernde gealterte Geliebte, die fremde Kinder angreift und dabei ihre eigenen auffrisst. Aus dem Kroatischen von Mascha Dabić
DIE DUNKLE SEITE DES MARS 1914–2014: Der Erste Weltkrieg aus kroatischer Perspektive Filip Hameršak3 Diese Tage sind einige von uns in Kroatien mit den Gedenkveranstaltungen zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs befasst, und wenn wir uns mit Kollegen aus anderen europäischen Ländern abstimmen, wird uns bewusst, dass es keine einheitliche Perspektive auf dieses unglückliche Ereignis gibt. Die Perspektiven werden nicht nur durch den Verlauf nationaler Grenzen bestimmt, sondern unterscheiden sich auch durch ihre Methodik. Historiker, Publizisten, Literaturwissenschaftler und Politiker waren in den vergangenen Jahrzehnten uneins in der Deutung der Ursachen und Folgen des Krieges: darin, ob man einen Schuldigen ausmachen kann, aber auch darin, auf welchen Bereich wir uns konzentrieren sollten – diese oder jene Kampfarena, Politik, Wirtschaft oder Kultur, Taktik oder Technik, die Elite oder „gewöhnliche“ Menschen. Ein Konsens scheint weder möglich noch erwünscht, würde er doch einen Grad an Homogenität voraussetzen, der unvereinbar ist mit der Freiheit der Wissenschaft. So birgt das Jubiläum 2014 die Gefahr einer Neubelebung alter Zwistigkeiten in sich, aber auch die Chance, unterschiedliche Sichtweisen endlich einmal in Ruhe zu diskutieren, und sei es nur aus Pietät gegenüber den Opfern auf allen Seiten. Doch wenn die Rede von nationalen Perspektiven ist, sollte man auch diese nicht als homogene Einheiten betrachten. Einer der gemeinsamen Nenner für kroatische Bürger ist, dass der Erste Weltkrieg für sie ein vergessener Krieg ist, wie jüngst der Historiker Višeslav Aralica lakonisch bemerkte. Der Zweite Weltkrieg, der auf heutigem kroatischem Staatsgebiet 1941 begann und 1945 endete, wurde nicht als eine Fortsetzung des Krieges von 1914 bis 1918 gesehen. Noch viel mehr 3
Geboren 1975 in Zagreb / Kroatien. Er studierte Jura, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zagreb. 2013 promovierte er mit einer Arbeit über kroatische Autobiographien und den Ersten Weltkrieg, die vor Kurzem unter dem Titel Tamna strana Marsa (Die dunkle Seite des Mars) erschien. Er ist Mitglied der Regierungskommission der Republik Kroatien zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs.
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gilt das für den Krieg um die kroatische Unabhängigkeit in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre. Diese beiden letzten Kriege sind in der kroatischen öffentlichen Erinnerung ungleich gegenwärtiger als der Erste Weltkrieg, nicht nur weil Betroffene noch leben oder weil sie größere Zerstörung hinterlassen haben, sondern weil mit ihnen Erinnerungsrituale verbunden sind, die vom Staat unterstützt werden. Im Gegensatz dazu wurden hinsichtlich der kroatischen Beteiligung am Ersten Weltkrieg weniger der Verlauf des Krieges und seine direkten Folgen für Soldaten und Zivilisten hervorgehoben, sondern der Zerfall Österreich-Ungarns und der Beitritt kroatischer Territorien zum neuen jugoslawischen Staat, zusammen mit dem ehemaligen Kriegsgegner, dem Königreich Serbien. Die offiziellen Erinnerungsrituale sowohl des royalen als auch des kommunistischen Jugoslawiens stützten sich auf die Erfahrungen der serbischen Armee und taten sich schwer damit, dass ein großer Teil der Bevölkerung des nun gemeinsamen Staates vier Jahre lang auf Seiten des „Aggressors“ gekämpft hatte. Geschichtswissenschaft, Publizistik und Literatur der ehemals zu Habsburg gehörenden Teile Jugoslawiens zeichneten sich dadurch aus, dass sie Tatsachen verschwiegen oder nur von einer Seite beleuchteten, wobei der Zwang zur Waffe und die Auflehnung von Kroaten, Serben, Slowenen und anderen Südslawen in den österreichisch-ungarischen Verbänden überbetont wurden. Doch auch hier gab es einige Unterschiede. Da Soldaten aus den Ländern der Habsburgermonarchie, die ethnisch Slowenen waren, nicht in serbische Kriegsgebiete geschickt wurden, sondern vorwiegend in Russland und Italien kämpften, was Slowenien nach 1947 einen Gebietszuwachs bescherte (das Isonzo-Tal, das für zwölf blutige Schlachten berühmt ist), war das Thema in Slowenien etwas weniger problembehaftet. Im Gegensatz dazu erinnerten auf dem Gebiet der ehemaligen jugoslawischen Republiken Kroatien und Bosnien und Herzegowina nur noch die infrastrukturellen Einrichtungen (Kasernen, Befestigungen usw.), die von allen nach 1918 begründeten Regimen weitergenutzt wurden, an die Zugehörigkeit zur Habsburgermonarchie. Hinzu kam, dass die österreichisch-ungarischen Soldaten aus den Gebieten des heutigen Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina im Gegensatz zu ihren slowenischen Kameraden gleich 1914 nach Serbien geschickt wurden, wo sie 1915 zum Teil an der Besetzung des Landes teilnahmen. Das Gebiet des alten Kroatiens und Slawoniens (das sich größtenteils mit den nördlichen Gebieten des heutigen Kroatiens deckt) nahm außerdem eine staatsrechtliche Sonderstellung ein, die auch für die dort stationierten ungarischen Honvéd- und österreichischen Landwehrverbände galt – das Recht auf kroatische Amtssprache, eigene Flagge, eigenen Eid und Ähnliches. Die Verbände dieser „Heimwehr“ waren deshalb einzigartig und sie kennzeichneten – wenn auch nur symbolisch – innerhalb des engen Rahmens, den der „Ausgleich“ von 1867 und 1868 vorgab, den Beginn einer modernen Nationalarmee. Als 1941 im Rahmen des Achsenbündnisses der Unabhängige Staat Kroatien gegründet wurde, vertraute man den Aufbau und die Organisation der regulären Armee ehemaligen österreichisch-ungarischen Offizieren an, die den Traditionen des vorangegangenen Krieges folgten und sogar die Bezeichnung „Heimwehr“
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verwendeten. Die Verbände der kroatischen Parallelarmee Ustaša, analog zur SS, waren wegen ihrer Kampfbereitschaft und Brutalität gegenüber Zivilisten weitaus bekannter. Auf jeden Fall trug diese persönliche und symbolische Kontinuität nicht dazu bei, die alte „Heimwehr“ und die österreichisch-ungarischen Kampfverbände zu einem beliebten Forschungsgegenstand nach 1945 zu machen. Und eine Kuriosität hatte vielleicht entscheidenden Einfluss – bis zu seinem Tod im Jahr 1980 stand an der Spitze der jugoslawischen kommunistischen Partei der Kroate Josip Broz Tito, der 1914 als Offizier der Heimwehrverbände ebenfalls an den Kämpfen in Serbien teilgenommen hatte. Doch diese Angabe wurde in seinen Biographien systematisch ausgelassen. Grund dafür waren Animositäten der serbischen Bevölkerung gegenüber der „Schwabenarmee“, ausgelöst durch die Repressalien der Besatzungsverwaltung im Ersten Weltkrieg. Da Tito in Jugoslawien Objekt eines Personenkults war, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Thematik von Südslawen als mehr oder weniger loyalen Soldaten in den österreichisch-ungarischen Streitkräften als Wespennest galt, in das zu stechen zwar nicht verboten, aber auch nicht opportun war. Auf jeden Fall wurden bis 1990 nur wenige wissenschaftliche Arbeiten publiziert, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigten, und auch bei den übersetzten Werken sah es nicht besser aus. Abgesehen davon, dass mehr oder weniger prohabsburgisch orientierte Parteien und Personen nicht bearbeitet wurden, wie etwa die Generäle Svetozar Boroević und Stjepan Sarkotić, die an der Spitze Österreich-Ungarns standen, wurden auch Standardthemen gemieden, also solche, die frei waren von Ideologie, etwa die Rekonstruktion des allgemeinen Militärsystems, die Analyse der Kriegsentwicklung einzelner Einheiten oder die Dokumentation von Soldatenfriedhöfen sowie menschlichen und materiellen Verlusten. Schätzungen zufolge kamen 1914 bis 1918 zwischen 80.000 und 120.000 Menschen aus dem heutigen kroatischen Staatsgebiet ums Leben, von denen viele in der heutigen Ukra ine begraben liegen. Nach 1990 besserte sich die Forschungslage allmählich. Die Arbeit der Wissenschaftler konzentrierte sich zunächst auf die Untersuchung der prohabsburgischen Eliten, nicht zuletzt deshalb, weil Jugoslawien ebenso wie einst Österreich-Ungarn zerfiel und sich die Frage stellte, ob Jugoslawien nicht ein misslungenes Staatsexperiment war (in diesem Licht neigen einige Wissenschaftler dazu, die Habsburgermonarchie mit der Europäischen Union zu vergleichen, positiv zwar, aber auch besorgt um deren Zukunft). Erst allmählich, vor allem nach 2000, beschäftigen sich Forscher im Einklang mit den neuesten methodologischen Trends in den Sozialund Kulturwissenschaften auch mit anderen Aspekten des Krieges. Doch auch wenn sich Wissenschaftler viele Jahrzehnte lang nur zögerlich äußerten, war die literarische Tätigkeit der Veteranen wesentlich ausgeprägter. Die sichtbarste Spur hinterließen die Novellen und Dramen des berühmten Schriftstellers Miroslav Krleža, die auch ins Deutsche übersetzt wurden und die die Ereignisse 1914 bis 1918 mit einer deutlichen antihabsburgischen und pazifistischen Botschaft versahen, dazu mit einer scharfen Kritik an der institutionalisierten Religion aus der Perspektive eines zerstreuten Intellektuellen, aber auch aus der eines ungebildeten, unpolitischen Bauern. Wegen ihrer künstlerischen Kraft, aber auch wegen
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des gesellschaftlichen Kontextes, wurden die Werke Krležas zum Synonym für die kroatische Perspektive. Im Gegensatz dazu blieben an die vierzig veröffentlichte autobiographische Bücher im weiter gefassten kroatischen Korpus, deren Autoren direkt am Krieg teilgenommen hatten (niedere Dienstgrade, Unteroffiziere, gewöhnliche Soldaten) bis vor Kurzem nahezu völlig unerforscht, auch wenn sie eine ausgezeichnete Basis für eine Herangehensweise „von unten“ bieten, wie sie beispielsweise bereits von J. Keegan, E. Leed, R. Holmes, W. Wette, O. Luthar, L. W. Smith und F. Rousseau angewendet wurde. Schaut man sich die Texte dieser 40 Autoren an, von denen die interessantesten in den 1930er-Jahren veröffentlicht wurden (auf Deutsch sind nur die Erinnerungen des Berufsoffiziers Pero Blašković und des Österreichers Georg von Trapp, der in der dalmatinischen Stadt Zadar geboren und im Film Meine Lieder – Meine Träume porträtiert wurde, zugänglich), kann man feststellen, dass sich diese scheinbar homogene kroatische Perspektive in Wirklichkeit in eine Vielzahl persönlicher Standpunkte verzweigt. Einige dieser Einblicke bestätigen Krležas Beobachtungen, andere stehen im Gegensatz zu ihnen. So waren zwar nur wenige Kriegsteilnehmer mit der Stellung Kroatiens in der Monarchie zufrieden, es gab jedoch auch nur wenige, die sich eine Abspaltung oder gar eine Vereinigung mit den Serben wünschten. Die meisten Soldaten konnten nicht einmal lesen und schreiben und hatten nur verschwommene Vorstellungen, wobei die Ergebenheit gegenüber Franz Joseph dominierte. Im Verlauf des Krieges wurde bei vielen der Begriff der Ehre – obwohl sich die Propaganda verstärkte – vom Begriff Eigeninteresse verdrängt, sei es auf nationaler (eine unabhängige kroatische Republik) oder auf persönlicher Ebene (bedingungslose Rückkehr nach Hause). Ähnliche Veränderungen kann man in den Autobiographien auch auf anderen Gebieten verfolgen – es veränderte sich nicht nur die Motivation der Soldaten, sondern auch ihr Verhältnis zu den Kameraden, dem Feind, Stress, Zivilisten, Sexualität, Religion oder Alkohol. Kurz gesagt, die Arbeit in Kroatien hat erst begonnen, und wir können hoffen, dass die diesjährige 100-Jahr-Feier zu systematischen Projekten führen wird oder zumindest den Trend des Vergessens umkehren wird. Aus dem Kroatischen von Blanka Stipetić
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HELD ODER TERRORIST Erinnerungen an meinen Großvater Ivan Kranjčević, beteiligt am Attentat von Sarajevo Davor Korić4 Es war ein Herbsttag vor 20 Jahren, als ich voller Angst eine Transportmaschine der UNPROFOR bestieg, die mich nach Ancona bringen sollte. Ich würde keine Schützengräben ausheben müssen und nicht von einem Heckenschützen oder einer Granate aus den umliegenden Bergen getroffen werden. Ich würde nicht zum Krüppel werden, wovor ich am meisten Angst hatte, wenn ich wie eine ungeschützte Tontaube auf der Straße unterwegs war und über mir ein Pfeifen oder in der Ferne eine Detonation hörte. Ich würde Dragana und die Kinder wiedersehen, die schon seit Jahren in Münster lebten. Die Briefe, die ich ihr geschrieben hatte, damit sie wusste, dass ich am Leben war und was in Sarajevo passierte, sollten in Deutschland veröffentlicht und das Buch dann auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt werden, das Buch, das mich aus der Gefangenschaft im Höllenkessel von Sarajevo befreite. An diesem Tag flüchtete ich wie in einem Actionfilm in die Freiheit! In der Tasche meines Parkas, in dem ich anderthalb Jahre Belagerung meiner Heimatstadt verbracht hatte, ertastete ich, nur um mich zu vergewissern, dass sie da war, neben meinem Reisepass und der UNPROFOR-Karte die Taschenuhr meines Großvaters Ivan Kranjčević. Ich hatte nur wenige Dinge in meinen Koffer gepackt: ein paar Familienfotos und Videokassetten mit meinen Sendungen und dem verbotenen Film Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution, in dem ich als 19-Jähriger die Hauptrolle – den jungen Schriftsteller Bora Ćosić – gespielt hatte, dazu Opas Orden der Einheit und Brüderlichkeit, den ein silberner Kranz und eine Erinnerungsplakette der Stadt Sarajevo schmückten, außerdem zwei Ausgaben seines Buches Uspomene jednog učesnika u sarajevskom atentatu (Erinnerungen eines Beteiligten am Attentat von Sarajevo), erschienen 1954 und 1964 mit einer Widmung an mich und meine Mutter Miroslava, seine einzige Tochter aus der Ehe mit der früh verstorbenen Christine Jandl, und dann noch sein Testament, das an mich gerichtet war, einen Brief des Nobelpreisträgers Ivo Andrić und einige Dokumente, die Zeugnisse unseres Lebens sind. Alles andere, was unsere Existenz hätte bezeugen können, war in den Wirren des Krieges verschwunden. In Köln, wo ich heute lebe und arbeite, habe ich außer diesen wenigen kostbaren Dingen nur nebelhafte Erinnerungen. Opa Ivan starb im Schlaf, in seinem Messingbett, auf dem er nach dem Mittagessen gewöhnlich ein Nickerchen machte. Ich war erst siebzehn Jahre alt, ein Alter, das junge Menschen vor der Erkenntnis schützt, dass wir sterblich sind. Ich 4
Geboren 1951 in Sarajevo. Schauspieler, Theaterkritiker, Dramaturg und Journalist. Hauptrolle im Film Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution nach dem Roman von Bora Ćosić (1970). Seine Briefe aus dem belagerten Sarajevo sind 1993 unter dem Titel „…und Sarajevo muß für alles zahlen“ im Fibre Verlag erschienen. Seit 1995 als Moderator und Redakteur beim WDR Köln in der Redaktion Radio Forum des Programms Funkhaus Europa beschäftigt.
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erinnere mich, wie ich ihm ein weißes Hemd anzog, festliche Hosen und Schuhe, ich war mir nicht bewusst, dass ich ihn nie wieder sehen würde, dass ich nie wieder in sein Zimmer gehen und mit ihm reden könnte. Erst später spürte ich die Leere und Trauer, weil er nicht mehr da war, und vermisste seine Fürsorge und Liebe, die ich beim Erwachsenwerden gebraucht hätte, weil ich meinen Vater Muhamed nie kennengelernt hatte. Wenn er sich über meine Streiche ärgerte, sagte Opa Ivan immer, es sei schade, dass er mir nicht seine Erfahrung vererben könne, weil jeder für sich selbst erfahren müsse, dass man nicht mit dem Kopf durch die Wand kann und dass wir uns verbrennen, wenn wir die Hand ins Feuer halten. 1914, als er wegen seiner Beteiligung am Attentat auf den österreichischen Thronfolger Ferdinand und wegen revolutionärer Umtriebe in der Bewegung Junges Bosnien zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, da war er gerade mal zwei Jahre älter als ich an jenem Tag, als sein Herz aufhörte zu schlagen. Bald wird der Junitag hundert Jahre her sein, an dem sein Schulfreund Gavrilo Princip auf der Uferpromenade bei der Brücke „Latinska ćuprija“ mit einem Revolver Ferdinand erschoss und statt des verhassten österreichisch-ungarischen Gouverneurs Potiorek die Herzogin Sophie traf. An diesem Tag irrte mein Großvater durch die Stadt und wartete. Seine Aufgabe war es, nach dem Attentat die Waffen seiner Freunde Cvjetko Popović und Vaso Čubrilović verschwinden zu lassen. Unmittelbar vor dem Sankt-Veits-Tag war Princip ihm aus dem Weg gegangen. Später erklärte er, er habe sich gewünscht, dass mein Großvater als Kroate auch einer der Attentäter sei, doch Danilo Ilić, der Organisator des Attentats, habe bereits heimlich die sechs Bomben und vier Revolver verteilt gehabt, sodass für meinen Großvater nichts mehr übrig geblieben sei. Trifko Grabež und der Moslem Muhamed Mehmedbašić hätten die Waffen bereits erhalten gehabt. Mit Gavrilo hatte sich mein Großvater im Gymnasium angefreundet, als er einmal bestätigte, Gavrilo sei krank gewesen und hätte deshalb die Hausaufgaben nicht machen können. Darüber hatte Princip sich gefreut, weil er neu in der Klasse gewesen war und weil ein Kroate ihm zur Seite gesprungen war und nicht seine serbischen Freunde, die ihn nur auslachten, wenn er in Schwierigkeiten geriet. Mit Princip und Nedeljko Čabrinović, der die erste Bombe auf den Wagen des Thronfolgers geworfen hatte, verbrachte mein Großvater ein Jahr seiner Haft in Theresienstadt, er war angekettet, weshalb er später sein ganzes Leben lang an Rheuma litt und sich nur mit Mühe bewegen konnte. Selbst jetzt, durch den trügerischen Nebel der Erinnerung, sehe ich ihn in seinem massiven Holzstuhl sitzen, als wäre er mit imaginären Ketten aus Theresienstadt daran festgekettet, an diesen Stuhl mit den breiten Armlehnen, der bei jeder Bewegung knarrt, er liest oder legt geduldig Patiencen. Immer überkommt mich eine Welle der Traurigkeit, wenn ich daran denke, dass er sich beim Lesen anstrengen musste, weil er als Kind beim Spielen auf einen Stock gefallen war und sein linkes Auge verloren hatte. Aber auch einäugig und noch so jung war er bereit gewesen, das Attentat zu verüben und sein Leben zu opfern. Wenn ich ihn mit kindlicher Neugier löcherte, erzählte mein Großvater mir oft, die Jugend damals sei ungeduldig und voller Tatendrang gewesen. Auch er gehörte dazu und organisierte mit den anderen Demonstrationen, weshalb er aus
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dem Gymnasium geworfen wurde und dann das Lehrerseminar in Kastav bei Rijeka besuchte. Ich erinnere mich, dass er behauptete, die Jugend sei in der ganzen Monarchie in einer solchen Stimmung gewesen, dass es in jedem anderen Ort zu dem Attentat hätte kommen können, zum Beispiel in Split. Inspiriert von den revolutionären Ideen russischer Schriftsteller, von Mazzini und Piemont, war die Jugend aufgeheizt, in einem psychischen Ausnahmezustand. Ein persönliches Opfer Bogdan Žerajićs, das Attentat auf den damaligen Gouverneur von Bosnien und Herzegowina General Varešanin 1910, erhob das Attentat als effektivstes Mittel politischen Kampfes zum Kult. Voller Elan und Naivität wollten die jungen Leute dem leidgeplagten Volk helfen. Sie glaubten, wenn sie ihr Leben opferten, könnten sie sich von der Besatzungsmacht und der Tyrannei befreien und einen Bund der südslawischen Völker schmieden. Die Jungbosnier träumten von einem Staat der Südslawen, mit Rede- und Gedankenfreiheit und der Trennung von Religion und Staat. Princip erklärte im Gerichtsprozess, er fühle sich weder als Serbe noch als Kroate, sondern als Jugoslawe, so wie die meisten anderen, denen wegen Hochverrats in Sarajevo der Prozess gemacht wurde. Die Jugend ist sich bewusst, dass Freiheit Opfer fordert. Nur wer bereit ist, sich zu opfern, hat Erfolg. Die Jugend träumt nicht vom Sieg, von persönlichem Glück und einem besseren Leben, nein, ungeduldig wartet sie auf den richtigen Moment und die Gelegenheit, sich zu opfern. Das Opfer ist das Ziel, denn die Schönheit von Erfolg und Sieg wird nicht derjenige genießen, der sein Leben auf dem Opfertisch des Vaterlandes gegeben hat. Wer das versteht, der versteht, wie und warum es zum Attentat von Sarajevo gekommen ist.
Das schreibt Opa Ivan in seinem Buch. Gavrilo Princip schrieb im Militärgefängnis in Sarajevo: Die Zeit, sie schleicht/Es gibt nichts Neues/Das Heute dem Gestern gleicht/Morgen nur Gleiches/Doch Recht hatte früher/Žerajić der graue Falke/Wer leben will, der sterbe/Wer sterben will, der lebe.
Aus der Ferne vergangener Zeiten dringen die Verse des Gedichts Meine Maxime von Luka Jukić zu mir, das Vlado Jokanović, Schauspieler des Nationaltheaters in Sarajevo am Grab meines Großvaters rezitierte: Es tut mir leid um meine Leute/Um meine Familie/Es tut mir leid um meine schöne/Heimat/ Es tut mir leid um die Hoffnungen/Der jungen Jahre/Es tut mir leid um meine Liebste/Die so weinte/Es tut mir leid um mich selbst/Doch was soll’s?/Für Volk und Freiheit/Geb‘ ich alles!
Am 8. Juni 1912 verübte Luka Jukić ein Attentat auf den kroatischen Ban Cuvaj. Damit begeisterte er die Jugend und bestätigte sie in ihrer revolutionären Stimmung. Ivo Andrić, der 1911 als Vorsitzender einer geheimen Vereinigung serbischer und kroatischer Oberschüler kurz auf der Szene der Jungbosnier auftauchte, notierte an diesem Tag: Heute hat Jukić ein Attentat auf Cuvaj verübt. Wie schön, dass die unsichtbaren Fäden von Tat und Auflehnung sich spannen. Voller Freude sehe ich große Taten nahen. Mein Leben vergeht ohne Bescheidenheit und Güte. Aber ich mag die Guten. Leben sollen die, die auf den Bürgersteigen sterben, ohnmächtig vor Wut und Pulver, krank von der gemeinsamen Schande. Die
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Bedeutung des Attentats von Sarajevo für Autorinnen und Autoren sollen leben, die zurückgezogen und schweigsam in dunklen Zimmern den Aufstand vorbereiten und immer neue Ränke schmieden. Ich bin das nicht. Doch sie sollen leben.
In dem Brief an meinen Großvater aus dem Jahr 1965 bietet Ivo Andrić seinem Namensvetter finanzielle Unterstützung an, damit er ans Meer fahren und sich auskurieren kann: Lieber Ivo! Ich bin so frei und schicke Dir diese Kleinigkeit. So viel kann ich erübrigen, also erübrige ich es. Und Dich bitte ich, diese kleine Aufmerksamkeit eines alten Schulfreundes anzunehmen, wie auch ich es von Dir annehmen würde. Mit herzlichen Grüßen und allen guten Wünschen, Dein Ivo.
Diese Geste freute Opa Ivan, doch das Geld lehnte er ab. Er konnte seinen Holzstuhl nicht mehr verlassen. Er war auch nicht mehr in der Lage, in den Schulferien mit mir zum Bahnhof zu gehen und nach Brist ans Meer zu fahren. Auch wenn Opa Ivan überzeugter Antikleriker war, war er doch als Katholik auf die Welt gekommen und konnte deshalb nicht zusammen mit den anderen Mitgliedern der Bewegung Junges Bosnien in einem Grab beerdigt werden, denn die Kapelle der Helden des Sankt-Veits-Tages, die 1939 erbaut wurde, steht auf dem alten orthodoxen Friedhof im Stadtteil Koševo. Zur Zeit des Kommunismus sprach man davon, ein Grabmal für alle zusammen zu errichten, im Stadtpark gegenüber dem früheren Kaufhaus „Sarajka“ in der Nähe des Kultcafés „Parkuša“, doch das ist nie geschehen, und heute befindet sich an dieser Stelle ein Grabmal für die Märtyrer des letzten Krieges. Eine kleine Straße im neuen Teil der Stadt war lange nach ihm benannt. Dann war das hölzerne atheistische Zeichen auf seinem Grab zerfallen, und da ich mir bewusst war, dass er sich nie zu seinen Freunden, den Jungbosniern, gesellen würde und dass die jugoslawische Idee unwiederbringlich verloren war, ließ ich einen Grabstein aus Marmor anfertigen, damit man weiß, wo er begraben liegt, dieser Revolutionär, Abenteurer und Träumer, dieser Mann, der bis zum Ende seines Lebens ein aufrechter Jugoslawe gewesen ist. An jedem Sankt-Veits-Tag zog Opa Ivan sich festlich an und nahm mich mit, um mit seinen alten Freunden, Jungbosniern, die überlebt hatten, Gavrilo, Ne deljko und den anderen Attentätern die Ehre zu erweisen. Danach saßen sie auf der anderen Straßenseite im tiefen Schatten einer Kneipe mit karierten Tischdecken, unterhielten sich und tranken Bier aus großen Krügen, während unter den Füßen weiße Kieselsteine knirschten. Und ich war stolz, während ich auf dem Schoß meines stattlichen Großvaters saß, der so viel Autorität in der Stimme hatte und sich so aufrecht hielt. Cvjetko Popović, sein bester Freund, ein immer lächelnder, freundlicher und warmherziger Mann voller positiver Energie, dessen runde Brillengläser ich als Junge bewunderte, kam häufig zu Besuch. Dann saßen sie lange zusammen, aßen eine Kleinigkeit und nippten dazu an ihren Schnäpsen. Sie erinnerten sich an Details aus ihrer Jugend und verfolgten aufmerksam alles, was über das Attentat von Sarajevo geschrieben wurde, um alle Ungenauigkeiten und falschen Zeugnisse richtigzustellen. Beide behaupteten, über das Attentat von Sarajevo sei ein Berg Bücher und ein Meer an Ungenauigkeiten und falschen Interpretationen geschrieben worden. Ich sehe sie vor mir, diese beiden Revolutionäre, wie sie mit jugendlichem Ei-
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fer um jedes Körnchen Wahrheit kämpfen, während Ivans zweite Frau Oma Fanika, Tochter des österreichisch-ungarischen Ingenieurs Nacovski, der vor dem Ersten Weltkrieg die Eisenbahn in Bosnien und Herzegowina gebaut hatte, wie in einem Vaudeville ins Zimmer kommt und Postkarten bringt, die jedes Jahr am SanktVeits-Tag aus Österreich eintrafen, Postkarten mit Bildern von österreichischen Soldatenfriedhöfen, auf deren Rückseite neben dem Namen „Ivan Kranjčević“ und der Adresse in Großbuchstaben das deutsche Wort „Mörder“ geschrieben stand. Als ich zu Anfang des neuen Jahrtausends in der Kölner Uniklinik lag und auf meine tägliche Dosis Cisplatin und Übelkeit wartete, versank ich in Gedanken über mein Schicksal als Heimatloser. Den Fernseher anzumachen hatte ich keine Lust. Am Abend wollte ich vielleicht ein Spiel meiner Lieblingsmannschaft Borussia Dortmund anschauen, damit mein Zimmernachbar Herr Krause nicht wieder sagte, ich hätte ganz umsonst sechs Mark ausgegeben. Das Telefon klingelte. Dragana war dran, ich solle sofort den Fernseher anmachen. Den ganzen Tag sahen Herr Krause und ich die Bilder des ungeheuerlichen terroristischen Verbrechens, schauten ungläubig zu, wie sich in New York die Flugzeuge in die Wolkenkratzer bohrten. Bevor er am nächsten Tag entlassen wurde, gab mir Herr Krause als ordentlicher Deutscher drei Mark, und ich fragte mich, ob die Kriege jemals aufhören würden, der Terrorismus und das Morden. Ich fragte mich, wie auch Dostojewski sich gefragt hatte: Was ist das Verbrechen und was ist die Strafe? Ich fragte mich, ob Opa Ivan ein Terrorist gewesen war oder ein Held. Ein Jahrhundert ist das Attentat bald her, ein Ereignis, das Sarajevo für immer einen Platz auf der Weltkarte der Geschichte beschert hat und in dem viele die Ursache der ersten europäischen Tragödie des vergangenen Jahrhunderts sehen, eines Jahrhunderts der Attentate, Kriege, der Lager und des Holocausts. Die einen werden behaupten, dass die Attentäter von Sarajevo, damals junge Männer, die gerade mal etwas Flaum auf der Oberlippe hatten, Helden waren, die anderen werden sie als serbische Söldner bezeichnen. Und wenn ich das Grab meines Großvaters besuche, werde ich mir der schmerzlichen Tatsache bewusst sein, dass die jugoslawische Idee, für die er und seine Freunde, die Jungbosnier, sich geopfert hatten, damit es folgende Generationen besser haben würden, am Ende des letzten Jahrhunderts begraben wurde. Im unglücklichen Land Bosnien und Herzegowina, in dem ich niemanden mehr habe außer ein paar alten Freunden und Bekannten, dem endgültig geteilten Land zwischen Westen und Osten, kann man manchmal, wenn man in den Straßen Sarajevos oder Mostars genau hinschaut, den Schatten der Berliner Mauer sehen. Aus dem Bosnischen von Blanka Stipetić
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DIE KLEINE TASCHENBIBLIOTHEK DES ATTENTÄTERS Selvedin Avdić5 Wenn es um Bücher gehe, verstehe er keinen Spaß, sagte Gavrilo Princip zu seinem Arzt Dr. Morris Pappenheim, als er in Zimmer 33 der geschlossenen Abteilung des Krankenhauses in Theresienstadt lag: Ständig in Bibliotheken, allein und einsam … Bücher sind mein Leben. Deshalb ist es jetzt ohne Lesen so schwer … . Ne deljko Čabrinović stellte für seine Kollegen, andere Druckereilehrlinge, eine Liste mit Büchern zusammen, die sie lesen müssten, „um in den Worten der Popen Wahrheit und Lüge unterscheiden zu können“. Diese Liste umfasst 26 Titel und ist bis heute erhalten, darunter auch: Prvi maj 1907 (Der erste Mai 1907); Program i organizacija socijaldemokratske stranke u Hrvatskoj (Programm und Organisation der sozialdemokratischen Partei in Kroatien); Das kommunistische Manifest; Proleterijat i klasna borba (Proletariat und Klassenkampf); Kako buržoazija nova pljačka radnike (Wie die neue Bourgeoisie die Arbeiter ausbeutet); Ispovijed pape Aleksandra II Bordžije (Die Bekenntnisse des Papstes Alexander II. Borgia)… Danilo Ilić übersetzte buchstäblich bis zum Tag des Attentats Bücher. In der letzten Nacht beendete er die Übersetzung eines Buches von Oscar Wilde. Er übersetzte auch Kierkegaard, Strindberg, Ibsen, Edgar Allan Poe, … Jeder Jungbosnier wollte Dichter werden. Princip hatte zwar nur wenig Talent, schrieb aber beharrlich, um besser zu werden. Bei zwei Gelegenheiten zeigte er Freunden seine Verse, das ist belegt. Beim ersten Mal las er Dragutin Mras ein Gedicht vor, das von Rosen handelte, die am Meeresgrund für das geliebte Mädchen blühen. Mras gefiel das Gedicht nicht. Beim anderen Mal erzählte Princip Ivo Andrić von seinen Gedichten. Er versprach, sie ihm zu zeigen, was er aber nie tat. Als Andrić ihn danach fragte, antwortete er, er habe sie vernichtet. Der einzige vollständig erhaltene lyrische Text Princips stammt aus dem Jahr 1911 und steht im Gästebuch der Bergsteigerhütte auf dem Berg Bjelašnica. 1911 war auch das Jahr, das Princip gegenüber Dr. Pappenheim als kritisches Jahr in seinem Leben beschrieb. Damals entwickelten sich seine „Ideale über das Leben“ und er schloss sich der Organisation „Junges Bosnien“ an. In diesem Jahr verliebte er sich auch. Seine letzten Zeilen schrieb er einige Tage vor seinem Tod an eine Wand, er schrieb über Schatten, vor denen die feine Gesellschaft bei Hofe sich fürchtete. Die Bücher aus der Taschenbibliothek des Attentäters fand ich verteilt auf den Seiten des zweibändigen Buches Sarajevo 1914 (Prosveta, Beograd, 1978) von Vladimir Dedijer. Soweit mir bekannt ist, sind diese Bücher bis jetzt nie an einem Ort zusammengestellt worden. 5
Geboren 1969 in Zenica. Chef-Redakteur des Online-Magazins Žurnal. Er schreibt Erzählungen und Romane. Über seinem Roman Sedam strahova (Sieben Ängste; Titel der engl. Übersetzung Seven Terrors) schrieb unlängst ein „The Guardian“-Kritiker: „this remarkable debut illuminating the Bosnian war is like nothing I’ve ever read before“.
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Ein Buch aus der Bibliothek hallte, auswendig gelernt, jahrelang im Kopf eines Attentäters wider. Es ist immer gefährlich, wenn ein Buch im Kopf nachhallt. Leider kommt das auch heutzutage häufig vor. In die Taschenbibliothek des Attentäters sortierte ich folgende Bücher ein: Arthur Conan Doyle: Die Abenteuer des Sherlock Holmes Gavrilo Princip las gerne Abenteuerromane, Alexandre Dumas, Walter Scott und besonders die Abenteuer von Sherlock Holmes. Bestimmt hat er diese Passage gelesen, in der Watson seinen Freund beschreibt: „Dieser Mangel an Mitteilsamkeit hatte den über das allgemein Menschliche hinausgehenden Eindruck, den er auf mich machte, noch gesteigert, und er erschien mir manchmal als einsamer Fels im Meer, als Verstandesmensch ohne Herz, ebenso bar menschlicher Sympathie wie hervorragend durch seine Intelligenz.“ Nikolaj Černiševski: Was getan werden muss Nedeljko Čabrinović war 14 Jahre alt, als er das Buch Was getan werden muss las. Sein Vater Vaso erwischte ihn bei der Lektüre, gab ihm eine Ohrfeige und schraubte die Glühbirne aus der Fassung. Černiševski hatte den Roman 1862 im Gefängnis geschrieben, während er auf sein Verfahren wegen der Anklage auf revolutionäre Umtriebe wartete. Er schrieb über die Bildung einer gerechteren Gesellschaft durch Familienbetriebe. Als er das Manuskript beendet hatte, wurde er verurteilt und nach Sibirien deportiert. Guy De Maupassant: Mont-Oriol Als Major Vasić von der „Narodna odbrana“ („Landwehr“) Čabrinović im Park traf und in dessen Tasche dieses Buch sah, war er sehr enttäuscht. Er bevorzugte serbische Volksdichtung und schenkte Čabrinović eine Sammlung mit Heldenliedern, eine gebundene Ausgabe, die wie für einen Soldaten gemacht war, weil sie in der Brusttasche seines Hemdes eine Kugel abfangen und dem Mann das Leben retten konnte. Trifko Grabež und Gavrilo Princip wollten Čabrinović nicht mitnehmen, als sie Voja Tankosić, ein Mitglied der „Schwarzen Hand“, besuchten, weil Nedeljko ständig lächelte („das ist mein ganz normaler Gesichtsausdruck“, verteidigte er sich vergeblich). Der arrogante Komita Tankosić mochte keine lächelnden Menschen. Er glaubte, dass sie hinter der freundlichen Miene etwas versteckten. In Gesellschaft von Fanatikern fühlte er sich wohl. Den Jungbosniern schenkte er Pistolen und Bomben und gab ihnen Taschengeld für die Reise.
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Jules Payot: Die Erziehung des Willens Die Erziehung des Willens las Čabrinović 1912 im Gefängnis in Trebinje, wo er drei Tage verbrachte, weil man ihn verdächtigte, Streiks der Druckereiarbeiter organisiert, Maschinen zerstört und Streikbrecher angegriffen zu haben. Ob nun wegen der Erziehung des Willens oder weil Čabrinović stärker geworden war, auf jeden Fall wurde er von da an nie wieder von seinem Vater geschlagen. Nedeljko wurde erwachsen und Herr seines eigenen Lebens. Und seines Todes natürlich, wie das eben so ist. Im Prozess sagte er: „Ich will meinem Vater nicht die Schuld geben, aber wäre die Pädagogik besser gewesen, würde ich nicht auf dieser Bank hier sitzen.“ William Morris: Kunde von Nirgendwo Ein Exemplar mit den Unterschriften von Princip und Čabrinović ist erhalten. Sie lasen es 1912 und kennzeichneten Stellen, die ihnen besonders gefielen. Princip unterstrich: „weil wir Zentralisierung vermeiden“, und Čabrinović: „… über das fehlende Interesse der Arbeiter in der kommunistischen Gesellschaft“. Svetozar Marković: Srpske obmane (Serbische Täuschungen) Die Jungbosnier teilten Markovićs Haltung, man könne die Gesellschaft durch das Wirken moralisch starker Einzelner mit sozialem Bewusstsein verändern, ihr Beispiel könne dazu beitragen, einen neuen, besseren Typ Mensch hervorzubringen. Vladimir Gaćinović versuchte, in Paris Trotzki davon zu überzeugen, dass alle Jungbosnier ein moralisches und bescheidenes Leben anstrebten, dass sie alle der Reihe nach revolutionäre Asketen und Puritaner seien. Er versuchte Trotzki zu überzeugen, in seiner Organisation herrsche das Prinzip ausnahmsloser Abstinenz von der Liebe. Im Fall von Princip stimmte das. Im Gefängnis gestand er Dr. Pappenheim, dass er nie eine sexuelle Beziehung gehabt hatte. Er trug einen Gefängniskittel aus grobem Stoff und ohne Knöpfe. Mit seiner gesunden Hand versuchte er, ihn vorne zuzuhalten. Oscar Wilde: Der glückliche Prinz Einmal traf Princip Čabrinovićs Schwester Vukosava bei der Lektüre des Schundromans Die Geheimnisse des Hofes von Konstantinopel an. Er kritisierte ihren literarischen Geschmack und brachte ihr Geschichten von Oscar Wilde mit. Jahre später beschrieb Vukosava Princip als zurückhaltenden Knaben, manchmal geistreich, sogar sarkastisch, mit tiefliegenden Augen, schönen Zähnen und sehr hoher Stirn. Leo Pfeffer, Richter in Sarajevo, sah ihn kurz nach der Verhaftung und beschrieb ihn so:
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„Der junge Mann war klein, schwächlich, mit langem, gelblich bleichem Gesicht, man konnte sich nur schwer vorstellen, wie er, so klein wie er war, so still und bescheiden, sich zu einem solchen Attentat hatte entschließen können.“ Milutin Uskoković: Došljaci (Die Zugezogenen) Neben Wilde borgte Princip Vukosava auch Uskokovićs Roman Došljaci. Warum hätte Uskoković der jungen Frau gefallen sollen? Wäre ein Gedichtband vielleicht passender gewesen? Milutin Uskoković sprang am 15. Oktober 1915 in den Fluss Toplica und ertrank. Seine Freunde sahen den Grund im „Untergang des Vaterlands“. Oscar Wilde: Kunst als Kritik Danilo Ilić übersetzte dieses Buch im Jahr 1913, zu einer Zeit, als er intensiv mit den Vorbereitungen des Attentats beschäftigt war. Kurz vor der Tat überlegte er es sich anders. Bis zum letzten Tag versuchte er, Princip und Grabež zu überzeugen, den Plan vom Attentat aufzugeben. Seine Versuche waren, wie wir wissen, vergeblich. Sima Pandurović: Dani i noći (Tage und Nächte) An Pandurovićs Poesie schätzte Princip am meisten den Pessimismus. Jovan Skerlić schrieb, zu der Zeit habe Pessimismus die ganze serbische Literatur „überflutet“: „Nie wurden so viele Friedhöfe besungen, nie schien das Nirvana ein so strahlendes Ideal wie in diesen düsteren, traurigen Zeiten.“ Henrik Ibsen: Catilina Henrik Ibsen sah im permanenten Aufstand das oberste Gesetz des Lebens: Und ist das Leben nicht steter Kampf feindlicher Mächte in unserer Seele Und ist nicht dieser Kampf das einzige Leben dieser gleichen Seele? Friedrich Schiller: Wilhelm Tell Dieses Stück las Bogdan Žerajić wie ein Besessener, während er das Attentat auf General Marijan Varešanin vorbereitete. Er gab fünf Schüsse auf den Gouverneur ab, mit dem sechsten tötete er sich selbst. In seiner Hosentasche fand die Polizei ein Notizbuch voller Zitate aus Wilhelm Tell. Im Gefängnis behauptete Princip, er habe bereits 1912 an Žerajićs Grab Rache geschworen. In der Nacht vor dem Attentat klaute er Blumen von anderen Gräbern und legte sie auf Žerajićs Grab. Peter Kropotkin: Die Französische Revolution Bei Žerajić fand die Polizei neben seinem Notizbuch eine Anstecknadel, die der Inspektor in seinem Bericht so beschrieb:
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„… sie besteht aus einem roten kreisförmigen Stück Karton mit einem Durchmesser von 10 cm und einem ebenfalls roten erhöhten Rand und zeigt das Porträt eines Mannes mit Haaren und ohne Bart; sein Gesicht ist schrecklich schief, der Mund geöffnet und das Haar zerzaust.“ Dem Leichnam Bogdan Žerajićs ließ die Polizei den Kopf abtrennen und beerdigte den Rest auf dem Teil des Sarajevoer Friedhofs, der Selbstmördern und Obdachlosen vorbehalten war. Sein Kopf wurde im Kriminalmuseum ausgestellt. Zu der Zeit war die Theorie des Kriminologen Lombroso populär, nach der Kriminelle einen speziellen Schädeldefekt aufweisen, und die Polizei glaubte, Žerajićs Kopf könnte der Wissenschaft nützen und die Öffentlichkeit interessieren. Nach dem Fall der Habsburgermonarchie wurde auch der Kopf in Žerajićs Grab gelegt. Sergej Stepnjak: Podzemna Rusija (Russischer Untergrund) Kritiker heben an Podzemna Rusija gewöhnlich die Wärme und Zuneigung hervor, mit der Stepnjak von seinen Freunden und Mitkämpfern spricht. Grabež und Princip waren bis zum letzten Tag der Meinung, Čabrinović sei nicht dazu fähig, das Attentat auszuführen. Grabež hielt ihn für leichtgläubig; er neige dazu, „in jedem Menschen einen Freund zu sehen“. Gegenüber Dr. Pappenheim beschrieb Princip ihn als „Wortklauber“ von geringer Intelligenz. Danilo Ilić sagte einmal, Čabrinović habe die Bombe nur geworfen, um das Vertrauen seiner Freunde zurückzugewinnen. In der Nacht vor dem Attentat las Nedeljko Čabrinović zum wiederholten Mal Podzemna Rusija. Am Morgen steckte er das Buch neben den Bomben in seine Tasche und ging zur verabredeten Stelle an der Miljacka. Jasija Torunda: Kada se zemljaci sretnu i druge priče (Wenn sich Landsleute treffen und andere Geschichten) An den Rändern dieses Buches notierte Princip: „Was dein Feind nicht wissen darf, das verrate keinem Freund. Wenn ich über das Geheimnis schweige, wird es zu meinem Sklaven. Wenn ich es verrate, werde ich zu seinem Sklaven.“ Leonid Andrejev: Priča o sedam obješenih (Die Geschichte von den sieben Gehängten) Andrejev schreibt über die Hinrichtung von zwei Kriminellen und fünf politischen Häftlingen, wie sie mit dem Tod umgehen, was sie durchleben und was sie kurz vor der Hinrichtung empfinden. Bevor Danilo Ilić hingerichtet wurde, schrieb er drei Briefe an seine Mutter. In zwei Briefen bittet er sie um neue Kleidung, was er im dritten schreibt, werden wir nie erfahren. Die Ermittler fanden ihn im Haus von Ilićs Mutter und zerrissen ihn. Er wurde zusammen mit Miška Jovanović und Veljko Čubrilović am 3. Februar 1915 gehängt. Der Henker Alois Seyfried erzählte später in Interviews, sie seien an der Hinrichtungsstätte ungewöhnlich ruhig gewesen. Er wisse nicht mehr genau, welcher von den dreien zu ihm gesagt habe:
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„Ich bitte Sie nur, mich nicht lange zu quälen.“ Der Henker habe geantwortet: „Keine Sorge, ich bin sehr erfahren in meinem Beruf, es wird nicht mal eine Sekunde dauern.“ Peter Kropotkin: Zapisi revolucionara (Aufzeichnungen eines Revolutionärs) In der Nacht vor dem Attentat saß Princip in Gesellschaft bis nachts um elf in der Kneipe. Aus der Kneipe ging er dann auf den Friedhof an Žerajićs Grab, streifte danach durch die Stadt und ging schließlich nach Hause. Weil er nicht müde war, verbrachte er den Rest der Nacht mit diesem Buch. Kropotkin war einer der Lieblingsautoren der Jungbosnier. In seinem Buch Anarchismus und Moral schreibt er: „Zum Teufel mit dem ‚blauen Blut‘, das sich das Recht nimmt, Menschen, die sich nahe stehen und vertrauen, gegeneinander auszuspielen! Wir wollen es nicht und werden es bei jeder Gelegenheit vernichten.“ Milan Rakić: Pjesme (Gedichte) In schweren Zeiten, und es gab selten andere, verkaufte Princip seine Bücher, um sich Lebensmittel kaufen zu können. Rakićs Gedichtband verkaufte er jedoch nie. Sein Lieblingsgedicht war „Na Gazimestanu“ (Auf dem Gazimestan), und darin die Strophe: Auch heute in der letzten Schlacht Ohne den verblassten alten Glanz, Werd ich für dich mein Leben geben, Vaterland, Im Wissen, was ich gebe und warum ich gebe.
Im Gefängnis von Theresienstadt wurde Princip von der Tuberkulose aufgefressen. Auf seiner Brust eiterten Wunden und sein rechtes Ellbogengelenk war so porös, dass man Ober- und Unterarm mit Silberdraht verbunden hatte. Er starb am 28. April 1918 um 18.30 Uhr. Petar Petrović Njegoš: Gorski vijenac (Der Bergkranz) Ein Buch, das sie alle beherrschte. Der Bergkranz ist das wichtigste Buch in dieser Bibliothek. Es konnte nicht gestohlen, verbrannt oder zerstört werden. Gavrilo Princip kannte es auswendig. Princip wuchs in einem Haus auf, das unterhalb des Dorfes Crni Potok stand, wo 1875 die Aufständischen ihr größtes Lager hatten. Später eroberten es die Türken und töteten 150 Aufständische. Als der dreizehnjährige Princip zum ersten Mal nach Sarajevo kam, floh er aus einem Gasthaus, weil ihn die Kleidung, die die Moslems damals trugen, erschreckte. Er schrie: „Türken!“ und rannte hinaus. Es dauerte lange, bis er seine Angst abgelegt hatte. Während er sich eingewöhnte, lernte er den Bergkranz auswendig.
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Bedeutung des Attentats von Sarajevo für Autorinnen und Autoren Ja, der Wolf hat auf das Schaf sein Anrecht So wie der Tyrann auf schwache Menschen; Doch Tyrannen in den Nacken treten Sie zu zwingen zu des Rechts Erkenntnis, Ist des Menschen heiligste Verpflichtung! Ein natürliches Recht auf Mord. Tja …
Aus der Bibliothek können wir auf ihren Besitzer schließen. Zu welchem Zweck wurde die Taschenbibliothek des Attentäters, wie ich sie nenne, zusammengestellt? In ihr sind, so will Dedijer uns glauben lassen, die wichtigsten Bücher der Attentäter enthalten. Bücher, die man in ihren Zimmern fand, die sie in Gesprächen erwähnten, an die sich ihre Freunde erinnern, in denen sie ganze Sätze unterstrichen und an deren Ränder sie Bemerkungen notierten. Doch es wäre unseriös, in der kleinen Bibliothek den Auslöser für Mord und Selbstmord zu sehen. Sie ist bescheiden, beinhaltet gerade mal 20 Titel. Sie würde in einen Rucksack passen und man könnte sie im Laufe eines Sommers lesen. Die Jungbosnier lasen viel, das wird vielerorts bezeugt, es können also nicht alle Titel sein. Wo sind die anderen Bücher? Es scheint, als hätten diese Bücher das Schicksal ihrer Besitzer geteilt. Jeder setzte sie, wie auch mit ihren Besitzern geschehen, für seine Zwecke ein, wie es ihm gerade gefiel – Tankosić, Apis, Pašić, die österreichischen Ermittler, Generäle und Politiker, Nationalisten, Romantiker, ein bisschen hier, ein bisschen dort … Am Ende waren sie verschwunden oder zu etwas geworden, was sie nie gewesen sind. Wie viele solcher Bücher gab es tatsächlich und wie sähe die Taschenbibliothek des Attentäters mit ihnen aus? Wo sind Princips lyrische Gedichte über Rosen am Meeresgrund, die er Ivo Andrić versprochen hatte? Das interessiert mich. Aus dem Bosnischen von Blanka Stipetić
AUTORENVERZEICHNIS Dr. habil. Zsuzsa Bognár, Lehrstuhl für Germanistik an der Katholischen Péter-Pázmány-Universität, Budapest Dr. Bernhard Böttcher, Oberstudienrat am Gymnasium Theodorianum Paderborn und Lehrbeauftragter für Geschichtsdidaktik an der Universität Paderborn Dr. Alida Bremer, Autorin, Übersetzerin, Literaturwissenschaftlerin, lebt in Münster Dr. Romaniṭa Constantinescu, Romanisches Seminar, Universität Heidelberg und Philologische Fakultät, Universität Bukarest Dr. Walter Engel, Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Literaturkritiker, 1988–2006 Direktor des Gerhart- Hauptmann-Hauses in Düsseldorf Franz Heinz, freischaffender Schriftsteller, Publizist und Chefredakteur mehrerer Zeitschriften, lebt in Düsseldorf Prof. Dr. Bernd Hüppauf, New York University, Professor emeritus Prof. Dr. Reinhard Johler, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für donau schwäbische Geschichte und Landeskunde Dr. Florian Keisinger, Historiker, arbeitet für ein Industrieunternehmen Walter Klier, Autor, Maler, lebt in Innsbruck
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Autorenverzeichnis
Filip Krčmar, M. A., Historisches Archiv (Istorijski arhiv), Zrenjanin Dr. habil. Zsolt K. Lengyel, geschäftsführender Direktor des Hungaricum – Ungarischen Instituts der Universität Regensburg Deniza Petrova, M. A., Friedrich-Meinecke-Institut an der Freien Universität Berlin, Doktorandin im Fachbereich Neuere und Neueste Geschichte, Arbeitsbereich Prof. Dr. Oliver Janz Dr. Mária Rózsa, Pressehistorikerin, 1985–2012 Mitarbeiterin an der Széchényi-Nationalbibliothek, Budapest Prof. Dr. Horst Schuller, Universität Lucian Blaga, Sibiu/Hermannstadt, Professor emeritus Dr. Olivia Spiridon, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen Dr. habil Péter Varga, Zentrum für Deutschsprachig-Jüdische Kultur Mitteleuropas am Germanistischen Institut, Eötvös Loránd Universität, Budapest; Christliche Universität Partium, Oradea/Großwardein/Nagyvárad
PERSONENREGISTER A Adanir, Fikret 85 Aderca, Felix 132 Alexander, Bernhard 247, 248, 252 Alkan, Necmettin 86 Allmayer-Beck, Johann Christoph 253 Alscher, Else 267 Alscher, Otto 23, 190, 240, 242, 254, 255, 256, 257, 258, 258, 259, 261, 262, 271, 276, 278, 279, 280, 296 Amann, Klaus 13, 55 Andrejev, Leonid 361, 362 Andrić, Ivo 33, 109, 110, 353, 355, 356, 358, 364 Angell, Norman 293 Angelova, Penka 41 Angelow, Jürgen 13 Antonescu, Ion 127, 131 Anz, Thomas 15, 268, 280 Apáthy, István 141, 147, 148 Apponyi, Albert Graf 222, 228, 229 Áprily, Lajos 146, 152, 153, 162 Aralica, Višeslav 349 Armstrong, Neil 348 Ascherson, Neil 31 Ashplant, Timothy G. 97 Assmann, Aleida 97 Assmann, Jan 97, 206, 282 Avdić, Selvedin 23, 358 B Bab, Julius 60, 177 Bächtold, Hanns 61, 71, 76 Baiersdorf, Christof 281, 286, 287, 293 Balassa, József (Josef) 61, 62, 63 Balaton, Petra 142, 143 Balogh, Arthur 167, 168 Balzac, Honoré de 327 Bánffy, Miklós Graf 144, 159, 164 Barasch, Marco 135 Barberowski, Jörg 84 Barbusse, Henri 52 Bárd, Oszkár 146 Bárdi, Nándor 143, 148, 151, 152, 164, 165 Bartalis, János 146, 149
Bartok, Béla 64 Basil, Otto 329 Becher, Peter 69 Bedecean, Mihaela 14 Beer, Mathias 12 Beke, Ödon 66 Benedek, Elek 152, 153 Benn, Gottfried 303 Berde, Mária 146, 161 Bereczky, Carol 14 Berger, Peter L. 29 Bergmann, Karl 74 Bermann, Richard A. (d. i. Arnold Höllriegel) 56 Bethlen, Gabriel Fürst 160 Bethlen, Miklós 168 Bewer, Max 273 Beyrau, Dietrich 12, 84 Bienert, Michael 34 Biringer, Gyula 56 Biró, Ludwig 238, 249 Bismarck, Otto von 26, 180, 270 Blaskovich, Franz 192 Blašković, Pero 352 Bocşan, Nicolae 14 Boehm, Fritz 73 Bogdanović, Bogdan 33 Bognár, Zsuzsa 6, 22, 231, 232, 235, 237 Boia, Lucian 14, 131, 132 Bojić, Milutin 109, 110, 111, 112, 113, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122 Bolovan, Ioan 14 Bonitz, Ferenc 221 Bonnier, Charles 60 Boroević, Svetozar 351 Böttcher, Bernhard 6, 22, 197, 209, 212 Boyce, David George 90 Brandsch, Rudolf 187, 205 Braun, Sándor 223 Brecht, Bertolt 140 Bremer, Alida 7, 23, 343 Brenner, Peter J. 20 Brey, Thomas 81 Britz, Nikolaus 174 Brophy, John 72, 77, 78
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Personenregister
Broucek, Peter 55 Brukenthal, Samuel von 297 Bunnbauer, Ulf 83 Bruno, Giordano 346 Busch, Wilhelm 328 Buzinkay, Géza 219, 220, 222, 223, 225, 226 C Čabrinović, Nedeljko 345, 348, 354, 358, 359, 360, 362 Čabrinović, Vukosava (Vasa) 348, 360 Caler, Lenny 128 Călinescu, George 127, 130 Capesius, Bernhard 296 Carabăţ, Erast 298 Caragiale, Ion Luca 133 Carl, Horst 10, 77 Carossa, Hans 50, 51, 297, Ceauşescu, Nicolae 128 Černiševski, Nikolaj 359 Chamberlain, Houston Stewart 328 Chiari, Bernhard 28 Ćipiko, Ivo 110 Clark, Christopher 12 Claudel, Paul 239 Clauss, Martin 197, 198 Cojocaru, Gheorghe 14 Coleridge, Samuel Taylor 37 Collonges, Julien 57 Commenda, Hans 62 Comte, Auguste 43 Constantinescu, Romaniţa 5, 22, 125, 126 Corbea-Hoişie, Andrei 95, 97 Cornelißen, Christoph 53, 217 Corso, Raffaele 71 Ćosić, Bora 353 Ćosić, Dobrica 109 Crampton, Richard 94 Creveld, Martin van 38 Crnjanski, Miloš 115, 120 Crohmălniceanu, Ovid S. 14, 297 Csáky, Moritz 97 Csiki, Ernő 63 Čubrilović, Vaso 354 Čubrilović, Veljko 362 Cuvaj, Slavko Ban 356 Cuza, Alexandru C. 136 Czére, Gyöngyvér 221 D Dabić, Mascha 349 Daniel, Ute 282 Dauzat, Albert 71, 72, 73
Dawson, Graham 97 De Simonis, Paolo 72 Déchelette, François 72 Dedijer, Vladimir 358, 364 Dehmel, Richard 250, 266, 269, 271, 276 Dei, Fabio 72 Delcourt, René 72, 85 Deletant, Dennis 95 Detering, Nicolas 15, 57 Dezsény, Béla 220, 222, 224 Dille, Denis 64 Dillinger, L. E. (1916) 59 Dimitrijević Apis, Dragutin 347 Diner, Dan 84 Diplich, Hans 174 Döblin, Alfred 269 Dogo, Marco 95 Dornik, Wolfram 13 Doyle, Arthur Conan 359 Dózsa, Endre 142 Draser, Julius 315,319 Dreisziger, Nanor F. 94 Dučić, Jovan 110,113,114 Dudaş, Vasile 14 Dumas, Alexandre 359 Džambo, Jozo (Josef) 15, 55 E Eckert, Brita 57 Eder, Hans 315, 318 Edschmid, Kasimir 324 ,328 Eggerslüß, Heinrich 274 Egry, Gábor 143,144,147,152,164,165 Ehlers, Klaas-Hinrich 78 Eichendorff, Joseph von 328 Eisenstadt, Schmuel Noah 94 Eisfeld, Alfred 12 Eksteins, Modris 16 Elias, Norbert 216 Endre, Ady 115,145 Engel, Adolf 281, 285, 286, 293 Engel, Eduard 317 Engel, Robert Jánosi 23, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 291, 293 Engel, Walter 14, 23, 264 Engels, Friedrich 346 Enzensberger, Hans Magnus 335 Eötvös, József 286, 314, 366 Erdösi-Baiersdorf, Erna 281, 286 Erll, Astrid 97 Ernst, Otto 328 Etiennes, François 198 Eucken, Rudolf Christoph 58, 244
Personenregister F Falk, Johannes 331, 329 Falk, Max 232 Falkenhayn, Erich von 288, 300 Feist, Sigmund 70 Fejérváry, Baron G. J. v. 63 Felszeghy, Ediltrud 62 Ferdinand I., römisch-deutscher Kaiser, ungarischer König 297, 354 Filipović, Dragoljub 110 Fischer, Emil 268 Fischer, Michael 15, 57, 74 Flacke, Monika 198 Flasch, Kurt 15, 67 Foerster, Wolfgang 59 Folberth, Otto 23, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 315, 318, 324, 325, 326, 328, 329, 331 Folberth, Paul Joachim 300 Foligno, Cesare 68 Frajnd, Marta 109, 114 Franyó, Zoltán 146, 296, 297 Franz II., römisch-deutscher Kaiser, ungarischer König 297 Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich 253, 269, 270, 345, 347 Franz Joseph I, österreichischer Kaiser, ungarischer König 180, 240, 285, 297, 352 Fraser, Edward 72 Frech, Fritz 31 Freud, Sigmund 303 Friedell, Egon 78, 79 Fries, Helmut 15 Fronius, Hans 253, 254, 262 Fronius, Johann 302 Fuchs, Dávid R. 66 Fussell, Paul 27, 29 G Gabe, Dora 96 Gaćinović, Vladimir 360 Gaddafi, Muammar al 346 Gahlen, Gundula 13, 28, 50 Gajári, Ödön 220 Gandhi, Mohandas Karamchand 346 Gänger, Peter 267, 271 Ganghofer, Ludwig 265 Garde, Paul 81 Gauthier, Théophile 37 Geehr, Richard 174 Geml, Josef 187 George, Stefan 269
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Georgiev, Edin 97 Georgiev, Georgi 96, 97, 106 Gerdes, Aibe-Marlene 15, 57, 74 Geyer, Michael 47 Gheran, Niculae (Nicolae) 128, 130, 131, 132, 134 Gibbons, John 72 Gide, André 239 Giesen, Bernd 94 Goethe, Johann Wolfgang 25, 37, 52, 240, 293, 304, 309, 313, 316, 321, 327, 328 Goga, Octavian 136 Gogol, Nikolai 327 Goldsworthy, Vesna 81 Golubović, Miroslav 114 Gorki, Maxim 238, 327 Götze, Alfred 69, 76 Grabež, Trifko 348, 354, 359, 361 Greifelt, Rolf 77 Greinz, Hugo 262 Grazie, Marie Eugenie delle 267 Grillparzer, Franz 328 Groß, Gerhard P. 28 Gubec, Matija 346 Gulácsy, Irén 149, 160 Guliger (Goliger), Silvius Iancu (d. i. George Silviu) 127 Gumbrecht, Hans Ulrich 68 Gundolf, Friedrich 269 Günther, Agnes 328 Guttenbrunn → Müller-Guttenbrunn, Adam Gyürky, Ödön 221 H Haeckel, Ernst 327 Hajek, Leo 63 Halbe, Max 328 Hall, Richard 94 Hameršak, Filip 23, 349 Hanak, Harry 95 Hank, Sabine 11, 60 Hartenstein, Stephan von 267, 271 Harth, Dietrich 97 Hasenclever, Walter 266, 267 Haslinger, Peter 208 Hatvany, Ludwig (Lajos) 220, 240, 241, 243, 244, 245, 246, 252 Hauptmann, Gerhart 238, 243, 244, 250, 266, 269, 274, 276, 328 Hauser, Otto 182, 255 Hausleitner, Mariana 95, 189, 208 Hausmann, Guido 12 Hebbel, Christian Friedrich 312, 327
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Personenregister
Hebel, Johann Peter 184, 185 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 38 Heine, Heinrich 37, 328 Heinz, Franz 22, 258, 278 Heitmann, Klaus 14, 297 Helmedach, Andreas 18, 83 Henning auf Schönhoff, Ulrich von 99, 102 Henschel, Gerhard 335 Herczeg, Franz 233, 234, 238 Herder, Johann Gottfried 38, 40, 49 Hering, Rainer 72, 183, 191 Herm, Gerhard 41 Hermann, Hans 302 Hertz, Friedrich 60 Hesse, Hermann 276 Hettling, Manfred 59, 238 Heuss, Theodor 295 Heydendorff (der Ältere), Michael Conrad von 297 Heydendorff (der Jüngere), Michael Conrad von 297 Heynen, Walter 76 Hiddemann, Herbert 77 Hiller von Gaertringen, Julia 10, 74 Hirschfeld, Gerhard 10, 29, 57, 59, 177 Hnatjuk, Volodymyr 63 Hochbruck, Wolfgang 10 Hochgeschwender, Michael 84 Hochstetter, Gustav 73 Hoen, Maximilian Ritter von 55 Hoffmann, Julius 279 Hoffmann-Krayer, Eduard 71 Höhr, Adolf 57 Hois, Eva-Maria 64 Holec, Roman 53 Höllriegel, Arnold (d.i. Bermann, Richard A.) 56 Holmes, Richard 352 Hölscher, Tonio 97 Holzer, Anton 13, 29, 46, 47 Hönich, Paul Konrad (auch: Honich, Hoenich) 125, 126, 127, 140 Höpken, Wolfgang 84, 85, 93, 94 Horn, Eva 48 Horn, Paul 74 Horne, John 10 Horowitz-Silbermann, Edith 126, 297 Horváth, Franz Sz. 152, 163 Hösch, Edgar 38, 84 Hötzendorf, Conrad von 288, 290 Hrebljanović, Lazar Fürst 347 Hübner, Arthur 77 Hugo, Victor 37
Hunger, Willy 67, 72 Hüppauf, Bernd 9, 13, 16, 17, 19, 21, 24, 57, 177 Hurch, Bernhard 68 Huß, Richard 58 I Ibsen, Henrik 328, 358, 361 Ilić, Danilo 348, 354, 358, 361, 362 Ilić, Saša 23, 343 Imme, Theodor 73 Iorga, Nicolae 128 Iser, Wolfgang 20 J Jakovljević, Stevan 114 Jandl, Christine 353 Janjetović, Zoran 13 Janz, Oliver 12, 366 Jászi, Oszkár 148, 221 Jauss, Hans Robert 185 Jaworski, Rudolf 95, 97 Jeismann, Michael 59, 199 Jelić, Milosav 110 Johler, Reinhard 12, 21, 66, 70, 71, 72 Jókai, Mór 220, 327 Jokanović, Vlado 355 Josef Gabriel der Ältere 267, 275 Josef Gabriel der Jüngere 267 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser, ungarischer König 182, 184, 297 Jovanović, Miška 362 Jovkov, Jordan 96, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106 Jukić, Luka 355 Jung, Peter 267 Jungbauer, Gustav 62 Juraschitz, Norbert 12 Jureit, Ulrike 216 K Kádár, Imre 146, 152 Kaindl, Raimund Friedrich 182, 183 Kant, Immanuel 39 Kántor, Lajos 156, 158, 159, 161, 164, 167 Kappus, Franz Xaver 255, 256, 260, 267, 271, 276, 278, 279, 280, 296 Karađjorđjević, Königsfamilie in Serbien, im Königreich der Serben, Kroaten und Slovenen und im Königreich Jugoslawien 114 Karl II, König von Rumänien 129, 132 Károlyi, Mihály 221, 222, 225, 237
Personenregister Karres, Samuel 295 Kaser, Karl 18, 19 Keegan, John 27, 352 Keisinger, Florian 21, 82, 83, 86, 87, 89 Kemény, György 219, 223 Kemény, János Baron 158 Kempowski, Walter 335 Kennan, George F. 25, 26, 46, 48, 49 Kierkegaard, Søren 358 Kipper, Heinrich 271, 275 Király, Béla K. 94, 154, 163, 62 Kisch, Egon Erwin 55 Klein, Karl Kurt 167, 296, 304 Kleist, Heinrich von 328 Klier, Walter 23, 50 Klinkhammer, Lutz 53 Klusen, Ernst 61 Kodály, Zoltán 64 Köhler, Paul Ernst 275 Koliopoulos, John S. 85 Korff, Gottfried 12, 61 Korić, Davor 23 Körner, Carl Theodor 316, 328 Korte, Barbara 10, 11 Korte, Hermann 15, 16 Kortüm, Hans-Henning 10, 77 Kós, Károly (Karl) 144, 145, 146, 150, 151, 152, 153, 154, 160, 163, 167 Koselleck, Reinhart 197, 198, 199, 207, 215, 216 Kosor, Josip 110 Kranjčević, Ivan 344, 353, 357 Kraus, Karl 9, 46, 56 Krausz, Marianna 286 Krčmar, Filip 22 Kremling, Bruno 173, 174, 182, 267, 271 Kretzschmar, Robert 72 Kristóf, György 167 Krleža, Miroslav 46, 52, 351, 352 Kropotkin, Peter 361, 363 Krummeich, Gerd 10, 177 Krünes, Erich 255 Kruse, Volker 33 Kuncz, Aladár 159, 161, 162 Kunos, Ignácz 66, 67 Kuprin, Alexandr 327
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L Lach, Robert 64, 65 Laclau, Ernesto 40 Lamartine, Alphonse de 327 Lamprecht, Karl Gotthard 244 Lange, Britta 65 Langewiesche, Dieter 10, 12, 77, 84 Lani, Hermann 328 Larsen, Karl 60 Lascăr, Sebastian 129 Leed, Eric J. 27, 352 Leicht, Hans 306, 318 Lengauer, Hubert 13, 55 Lenger, Friedrich 10, 77 Lengyel, Melchior 293 Lengyel, Zsolt K. 22, 142, 143, 144, 146, 147, 148, 149, 151, 152, 153, 154, 156, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 168, 169 Lenin, Wladimir Iljitsch 224, 226, 346 Leu, Valeriu 14 Lienhard, Friedrich 266, 269 Ligeti, Ernő 146, 147, 149, 168 Liliencron, Detlev von 266, 316 Litván, György 221 Liulevicius, Vejas Gabriel 13, 29 Löns, Hermann 271 Lorsy, Ernst 237, 240, 241, 252 Losano, Lieselotte 126, 297 Losurdo, Domenico 303 Lothar, Rudolf 246 Lovik, Karl 236, 243, 244, 246, 249, 252 Lovinescu, Eugen 125 Lučić, Predrag 109, 111, 114, 115 Luckmann, Thomas 29 Lukács, György (Georg) 225, 237, 241 Lukan, Walter 15, 177 Lunceanu, Remus 135 Luschan, Felix von 66 Luthar, Otto 352 M Mackensen, August von 187, 288 Madelung, Aage 260 Maeterlinck, Maurice 239 Magris, Claudio 34 Makkai, Sándor 146 Maner, Hans- Christian 95 Mann, Heinrich 9 Mann, Thomas 269, 274 Mannheim, Karl 241 Manojlović, Olga 109, 114 Manojlović, Todor 115 Mao Zedong 346
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Personenregister
Marchetti, Christian 12, 63, 66, 72 Marie Antoinette, Königin von Frankreich und Navarra 346 Markel, Michael 15 Marković, Svetozar 360 Marquard, Odo 199 Marx, Karl 28, 29, 346 März, Peter 10 Maupassant, Guy de 359 Maußer, Otto 73, 76 May, Karl 37 Mayer, Mathias 16, 17 Mazzini, Giuseppe 355 McCarthy, Justin 87 Mehmedbašić, Mehmed 348 Mehmedbašić, Muhammed 354 Meier, John 58, 59, 61, 70, 71, 74, 76, 78 Meister Eckehart 324, 328 Michael I., König von Rumänien 211 Mick, Christoph 48 Mikes, Lajos 222 Miklós, Andor 222 Milisavac, Živan 115, 117, 118, 119 Milleker, Felix 58, 174 Miller, August 76, 78 Milow, Stephan 267 Missir, Ioan 297 Mitterbauer, Helga 13 Mogk, Eugen 60, 70 Mohácsi, Eugen 247, 248, 250, 251, 252 Molnár, Ferenc (Franz) 55, 56, 224 Molter, Károly 149, 150, 152, 155, 161 Mommsen, Theodor 182 Mommsen, Wolfgang J. 15, 67 Morgenstern, Christian 328 Móricz, Zsigmond 145, 163 Morris, William 360 Moser, Ulrich 176 Mosse, George L. 16, 199, 207 Mouffe, Chantal 28, 40, 42, 45 Mras, Dragutin 358 Mühle, Arpad 267, 274 Munkácsi, Bernát 66 Murray, David Christie 236 Musil, Robert 55 Müller, Hans-Harald 57 Müller, Wilhelm 328 Müller-Guttenbrunn, Adam 22, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 267, 276 Müller-Luckner, Elisabeth 15, 67
N Nagler, Jörg 12 Nasser, Gamal Abdel 346 Nehru, Jawaharlal 346 Nemes, György 220, 222, 224 Neumann, Karl 255 Neustädter, Erwin 296 Neutatz, Dietmar 12 Nietzsche, Friedrich 33, 303, 304, 309, 310, 313, 321, 327, 328 Njegoš, Petar Petrović 363 Nora, Pierre 215 Nyírõ, József 146, 152 O Oberth, Franz 301 Obrenović, Aleksandar, König von Serbien 348 Olosz, Lajos 146, 154, 155 Olt, Reinhard 76 Orendi, Hellmut 264 Orendi-Hommenau, Viktor 263, 264, 265, 266, 267, 268, 270, 271, 272, 273, 274, 275 Osterhammel, Jürgen 41 Osterrieder, Markus 11 Ostrowski, Elisabeth von 59 Otten, Karl 266 Ovenden, Richard 57 P Paál, Árpád 151, 164 Pacha, Augustin, Bischof des Bistums Temeswar 203, 207 Pahl, Magnus 28 Paletschek, Sylvia 10 Pandurović, Sima 361 Pappenheim, Morris Dr. 358, 360, 362 Pašić, Nikola 364 Patridge, Eric 72, 77, 78 Paumgartner, Bernhard 64 Payot, Jules 360 Perry, Duncan M. 85 Pesek, Jiri 53 Petrescu, Camil 297 Petrova, Deniza 21 Petrović, Rastko 115 Peyfuss, Max Demeter 15, 177 Pfeffer, Leo 360 Piper, Ernst 11 Pniower, Otto 59 Poe, Edgar Allan 358 Poirot, Albert 57 Polgár, Alfred 240, 241
Personenregister Polívka, Jiří 63 Pollák, Illés 246, 252 Pöch, Rudolf 64, 65, 66 Popović, Bogdan 110, 112, 113 Popović, Cvjetko 348, 354, 356 Potiorek, Oskar 253, 354 Princip, Gavrilo 345, 346, 347, 348, 354, 355, 358, 359, 360, 361, 362, 363, 364 Prosser, Michael 208 Purjesz, Lajos 221 Puttkamer, Joachim von 208 Pynsent, Robert 208 R Rakić, Milan 363 Rákóczi, György II. 160, 224 Rákosi, Jenő 220, 223 Ranke, Leopold von 185 Raphael, Freddy 12 Ratislav, Josef 266, 267 Ratzel, Friedrich 42 Rauchensteiner, Manfred 11, 13 Rauh, Cornelia 12 Raulff, Ulrich 57 Rebreanu, Liviu 22, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 137, 138, 139, 140, 297, 298 Rechter, David 285 Rehs, Michael 126, 297 Reményik, Sándor (d. i. Végvári) 146, 149, 154, 155, 156, 157, 158, 164 Renz, Irina 10, 29, 57, 59, 177 Retterath, Hans-Werner 208 Richter, Elise 69 Richter, Konrad 126, 297 Rilke, Rainer Maria 255, 276, 302, 328 Ritz, Szilvia 13 Robespierre, Maximilien de 346 Roda-Roda, Alexander 55 Rohrbach, Paul 327 Rolland, Romain 243, 244, 328 Roper, Michael 97 Rosegger, Peter 265 Rosenberger, Bernhard 10 Rostovzeff, Mikhael 31 Roth, Harald 18, 208 Roth, Herman 295, 329 Roth, Joseph 34, 291 Roth, Stephan Ludwig 295, 301 Rothauser, Max 232 Rother, Rainer 41, 48 Rousseau, F. 351 Rousseau, Jean-Jacques 327
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Rozenblit, Marsha L. 285 Rózsa, Maria 22 Rutschky, Michael 333 S Sack, Gustav 297 Sadoveanu, Mihail 128, 132 Said, Kurban 33, 39, 48, 51 Sainéan, Lazare 71, 72 Salis-Seewis, Johann Graf von 259 Salten, Felix 235, 236, 239 Sarkotić, Stjepan 351 Scharrer, Adam 52 Scheer, Monique 12, 66, 72 Scheler, Max 269 Schild, Georg 12, 71 Schiller, Friedrich 361, 39 Schindling, Anton 12, 71 Schlager, Claudia 12, 70 Schmidt, Nikolaus 267 Schmitt, Carl 40 Schmoll, Patrick 70 Schneider, Peter-Paul 9 Schneider, Ralf 11 Schneider, Uwe 9, 15 Schnell, Auguste 209, 210, 211 Schönherr, Max 328 Schopenhauer, Arthur 299, 309, 310, 327 Schuchardt, Hugo 68 Schuhmacher, Klaus 9 Schuller, Horst 23, 126, 295, 296, 299, 300 Schumann, Andreas 9, 15 Schuster Dutz 303 Schwalm, Jörg von der (d. i. Georg Schwalm) 267, 273, 275 Schweitzer, Jérome 57 Schwentker, Wolfgang 53 Schwicker, Heinrich 182 Scott, Walter 359 Sebastian, Mihail 133 Şeicaru, Pamfil 128 Seyfried, Alois 362 Shaw, George Bernard 239 Sieger, Robert 171 Sienerth, Stefan 13, 296, 329 Sil-Vara (d.i. Geza Silberer) 58 Simon, Claude 333, 335 Simon, Hermann 11, 60 Singer, Sigmund 232 Sipos, Domokos 146 Skerlić, Jovan 110, 111, 115, 361 Smith, L. W. 352 Šojat-Kuči, Ivana 23
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Personenregister
Šojat, Petar 347 Sombart, Werner 37 Sommer, Monika 95, 97 Sophie Gräfin Chotek von Chotkowa und Wognin, Herzogin von Hohenberg 269, 344, 345, 354 Sophokles 302 Spann, Gustav 67 Spencer, Herbert 43 Spilker, Rolf 47 Spiridon, Olivia 24, 276, 341 Spitzer, Leo 68, 69 Sprengel, Peter 248 Stalin, Josef 346 Stănescu, Heinz 257, 264 Stegemann von Prinzwald, Kurt 328 Stein, Oliver 13, 50 Stein, Rózsi 281, 286 Steinacker, Edmund 183, 187, 192 Steiner, Rudolf 11 Stelescu, Mihail 128 Stendhal 340 Stepnjak, Sergej 362 Steriadi, Jean Alexandru 135 Sternberg, Claudia 12 Sternfeld, Richard 59 Stipetić, Blanka 352, 357, 364 Stirner, Max 328 Stolzing-Cerny, Josef 255, 256 Stone, Norman 29 Störtkuhl, Beate 13 Strindberg, August 328, 358 Stüben, Jens 13 Sundhaussen, Holm 94 Surányi, József 220 Sütő-Nagy, László 145 Suttner, Bertha von 267, 268 Szász, Zoltán 240, 242, 243 Szentimrei, Jenő 141, 146, 149, 151 Szombati-Szabó, István 146 T Tabéry, Géza 149, 161 Tamas, Peter 279, 280 Tămaş, Oana Mihaela 14 Tankosić, Voja 359, 364 Tardel, Hermann 76 Tavaszy, Sándor 146, 168 Teleki, Ernő Graf 165, 166 Teleki, Pál Graf 166 Teutsch, Georg Daniel 209, 210, 211, 212, 328 Thiermeyer, Thomas 10 Thoma, Ludwig 266
Tisza, István Graf 220, 223, 234 Tito, Josip Broz 346, 351 Todorova, Maria 18, 30, 34, 35, 38, 44, 81, 82, 83 Toldt, Carl 65 Toller, Ernst 269, 271 Tolstoi, Alexej 239, 340 Tolstoi, Lew 327 Tonn, Horst 12 Tonţa, Walter 14 Torunda, Jasija 362 Trapp, Georg von 352 Troebst, Stefan 83 Tröster, Johannes 328 Trotzki, Leo 360 Turgenjew, Iwan 327 Turi, Béla 221, 224 Twelker, Uli 18 U Ujević, Tin 110 Ulrich, Bernd 11, 47, 60 Urbanitzky, Grete von 273 Uskoković, Milutin 361 V Vákár, Arthur P. 141 Valjavec, Fritz 36 Varešanin, Marijan Freiherr 355, 361 Varga, Péter 23 Vargas Llosa, Mario 45 Vásárhelyi, Miklós 223 Vasiljev, Dušan 109, 110, 115, 116, 117, 118, 119, 121, 123 Vasiljev, Spasoje 115, 119 Veichtlbauer, Judith 41 Veigelsberg, Hugó 222 Vészi, József 226, 228, 232 Victoroff, Tatiana 57 Vikar, Béla 66 Vinaver, Stanislav 110, 115 Vogl, Joseph 15, 268, 269, 274, 280 Vojislav Ilić der Jüngere 114, 172 Vondung, Klaus 16 W Wachtler, Günther 43 Wagner, Richard 18, 19, 35, 44, 285, 286 Walleczek-Fritz, Julia 13 Weber, Claudia 94 Wedrac, Stefan 13 Weger, Tobias 13 Weigel, Hans 15, 177
Personenregister Weigl, Egon 126, 127, 137, 297, 298 Weigl, Irina 126, 297 Weinkopf, Eduard 62 Weischedel, Wilhelm 39 Weithmann, Michael 84 Weresch, Hans 174, 175, 182 Werfel, Franz 55 Wesle, Carl 77 Wette, W. 352 White, Hayden 283 Wilde, Oscar 239, 358, 360, 361 Will, Alexander 12 Wilson, Woodrow 149 Winkle, Ralph 61 Winter, Jay 10, 97 Wischermann, Clemens 97
Witkop, Philipp 59 Wittstock, Erwin 296 Wolf, Larry 28 Wundt, Wilhelm 244 Z Zágoni, István 151 Zelea-Codreanu, Corneliu 128, 129 Zell, Georg G. 209 Zenker, Ludwig 126, 297 Žerajić, Bogdan 355 Zillich, Heinrich 273, 295, 296 Zimmermann,Wolfgang 72 Zola, Émile 327, 328 Zweig, Arnold 52
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s c h r i f t e n r e i h e d e s i n s t i t u t s f ü r d o n au s c h wä b i s c h e geschichte und l andeskunde
Franz Steiner Verlag
ISSN 1611–2083
8.
Horst Förster / Horst Fassel (Hg.) Kulturdialog und akzeptierte Vielfalt? Rumänien und rumänische Sprachgebiete nach 1918 1999. 288 S., geb. ISBN 978-3-515-08295-2 9. Andrea Kühne Entstehung, Aufbau und Funktion der Flüchtlingsverwaltung in Württemberg-Hohenzollern 1945–1952 Flüchtlingspolitik im Spannungsfeld deutscher und französischer Interessen 1999. 271 S., geb. ISBN 978-3-515-08296-9 10. Hans-Heinrich Rieser Das rumänische Banat: Eine multikulturelle Region im Umbruch Geographische Transformationsforschungen am Beispiel der jüngeren Kulturlandschaftsentwicklungen in Südwestrumänien 2001. 549 S., geb. ISBN 978-3-515-08297-6 11. Karl-Peter Krauss Deutsche Auswanderer in Ungarn Ansiedlung in der Herrschaft Bóly im 18. Jahrhundert 2003. 469 S. mit 4 Farb- und 101 s/w-Abb., geb. ISBN 978-3-515-08221-1 12. Hans Gehl Wörterbuch der donauschwäbischen Landwirtschaft (Donauschwäbische Fachwortschätze, Teil 3) 2003. 664 S. mit 7 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-08264-8 13. Márta Fata (Hg.) Das Ungarnbild der deutschen Historiographie 2004. 335 S., geb. ISBN 978-3-515-08428-4 14. Hans Gehl Wörterbuch der donauschwäbischen Lebensformen
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18.
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(Donauschwäbische Fachwortschätze, Teil 4) 2005. 716 S. mit 38 Abb. und 8 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-08671-4 Karl-Peter Krauss (Hg.) Agrarreformen und ethnodemographische Veränderungen Südosteuropa vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart 2009. 340 S. mit 20 Abb. und 8 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09263-0 Márta Fata (Hg.) Migration im Gedächtnis Auswanderung und Ansiedlung im 18. Jahrhundert in der Identitätsbildung der Donauschwaben 2013. 233 S. mit 2 Tab. und 18 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10329-9 Gábor Gonda / Norbert Spannenberger (Hg.) Minderheitenpolitik im „unsichtbaren Entscheidungszentrum“ Der „Nachlass László Fritz“ und die Deutschen in Ungarn 1934–1945 2014. 317 S., geb. ISBN 978-3-515-10377-0 Mariana Hausleitner Die Donauschwaben 1868–1948 Ihre Rolle im rumänischen und serbischen Banat 2014. 417 S. mit 3 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-10686-3 Karl-Peter Krauss Normsetzung und Normverletzung Alltägliche Lebenswelten im Königreich Ungarn vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 2015. 309 S. mit 20 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10941-3 Karl-Peter Krauss Quellen zu den Lebenswelten deutscher Migranten im Königreich Ungarn im 18. und frühen 19. Jahrhundert 2015. 707 S. mit 28 Abb. und 4 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-10971-0
Textfronten verweisen auf den Krieg als Diskurs, als Auseinandersetzung zwischen Vorstellungen, Sinngebungen und Konstruktionen des Ersten Weltkriegs. Dieser Band bietet Einblicke in die Zeit des Ersten Weltkriegs im südöstlichen Europa, einer – im Vergleich zum Westen – weit weniger erforschten Großregion, und bündelt anhand von Überblicksdarstellungen und beispielhaften Nahaufnahmen Innenperspektiven aus Bulgarien, Kroatien, Rumänien, Serbien, Ungarn, aber auch Reflexionen dieser Regionen und ihrer spezifischen Konfliktordnung aus mittel- und westeuropäischem Blickwinkel. Textualität im weitesten Sinne
des Wortes als sekundäre Modellierung der Wirklichkeit steht im Mittelpunkt dieses Bandes. Hinzu kommt die interdisziplinäre Herangehensweise: Historiker, Ethnologen und Literaturwissenschaftler setzen Schwerpunkte auf Konstruktion und Reorganisation von Identität, Wahrnehmung von Zugehörigkeitsräumen, auf die Problematik von Minderheiten im Spannungsverhältnis zum Nationalstaat und auf Kriegserfahrung, wie sie in fiktionalen, essayistischen und journalistischen Texten sowie in Kriegstagebüchern, Lehrwerken oder Inschriften auf Denkmälern vermittelt wurde.
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ISBN 978-3-515-11194-2